Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und
Herren, die Sitzung ist eröffnet.
({0})
Die Welt trauert um König Hussein von Jordanien,
der am 7. Februar dieses Jahres einem schweren Leiden
erlag. Die geostrategische Lage seines Königreichs und
die Geschichte des Nahen Ostens hatten König Hussein
eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung des dramatischen und gefährlichen Nahostkonflikts zwischen Israel
und seinen arabischen Nachbarn zugewiesen. Er, der als
16jähriger die Ermordung seines Großvaters König Abdullah auf den Stufen der Al-Aksa-Moschee erlebte, hat
mit einer bewunderungswürdigen, verantwortungsvollen
Politik seinen Staat durch die Verwicklungen der Politik
in dieser Region gesteuert. Der 1994 zwischen Israel
und Jordanien geschlossene Friedensvertrag setzte einen
vorläufigen Schlußpunkt unter die Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Staaten.
Seine Politik des Ausgleichs und der Mäßigung ließ
König Hussein eine Vermittlerrolle im arabischisraelischen Konflikt und auch in der arabischen Welt
gewinnen. Der von Hussein ausgesprochene Verzicht
auf das Westjordanland schuf die Voraussetzungen für
eine bis heute umkämpfte und noch nicht ganz erreichte
Befriedung der Palästinenser. Freilich war die Politik
des kleinen und auf Hilfsleistungen angewiesenen Staates zwischen großen und erdölreichen Nachbarn immer
zugleich eine Gratwanderung. Jeder militärische Konflikt im Nahen Osten drohte Jordanien zwischen zwei
Mühlsteine geraten zu lassen. Der Fanatismus, der aus
dem Nahostkonflikt entstanden war, führte zu mindestens 30 Attentaten auf König Hussein.
Als dienstältester Staatsmann der Welt, der seinen
Thron bereits 1953 bestiegen hatte, gewann König
Hussein mit seiner zunehmend liberaleren und einer
Demokratisierung geneigteren Haltung auch die Herzen
der Bürger seines Königreiches. Die in Jordanien praktizierte Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Glaubensgemeinschaften ließ ihn auch eine
Führungsrolle im Religionsgespräch des Nahen Ostens
einnehmen.
Der Deutsche Bundestag trauert mit den Angehörigen
des verstorbenen Königs und seinem Volk. Er drückt
ihnen sein tiefempfundenes Mitgefühl aus. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
zunächst einigen Kolleginnen und Kollegen zu einem
runden Geburtstag gratulieren. Die Kollegin Adelheid
Tröscher feierte am 16. Februar ihren 60. Geburtstag.
Die Kollegin Ilse Schumann feierte am 22. Februar
ebenfalls ihren 60. Geburtstag. Der Kollege Helmut
Wieczorek ({1}) begeht heute seinen 65. Geburtstag. Ich spreche Ihnen im Namen des Hauses die
herzlichsten Glückwünsche aus.
({2})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste
vorliegenden Punkte zu erweitern:
ZP2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung: Deutsche Beteiligung an der militärischen Umsetzung eines Rambouillet-Abkommens für den KOSOVO sowie an
NATO-Operationen im Rahmen der Notfalltruppe
({3}) - Drucksache 14/397 -
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zum Internationalen Pri-
vatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse und
für Sachen - Drucksache 14/343 -
c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes über die allgemeine und die reprä-
sentative Wahlstatistik bei der Wahl zum Deutschen
Bundestag und bei der Wahl der Abgeordneten des
Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik
Deutschland - Drucksache 14/401 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Martin
Bury, Ernst Schwanhold, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({4}), Margareta Wolf ({5})
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Förderung der Luftfahrttechnologie - Drucksache 14/395 ZP3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({6})
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung der Sozialund Steuerverwaltung für den Euro ({7}) - Drucksache 14/229 ({8})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit
und Sozialordnung ({9}) - Drucksache 14/406 1490
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Weiterin ist interfraktionell vereinbart worden, den in
Verbindung mit der Beratung der ökologischen Steuerreform vorgesehenen Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu
Energiepreiserhöhungen - Tagesordnungspunkt 2c - abzusetzen.
Außerdem weise ich auf geänderte und nachträgliche
Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste hin:
Die in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages mit
Drucksache 14/272 erfolgte Überweisung nachfolgender
Vorlagen soll ergänzt bzw. geändert werden.
Erster Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunft
der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands
Weg in die Informationsgesellschaft“ gemäß Beschluß des
Deutschen Bundestages vom 7. Dezember 1995 zum Thema
Meinungsfreiheit - Meinungsvielfalt - Wettbewerb Rundfunkbegriff und Regulierungsbedarf bei den Neuen Medien - Drucksachen 13/3219, 13/6000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({10})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunft
der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands
Weg in die Informationsgesellschaft“ gemäß Beschluß des
Deutschen Bundestages vom 5. Dezember 1995 zum Thema
Neue Medien und Urheberrecht - Drucksachen 13/3219,
13/8110 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({11})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Kultur und Medien
Dritter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunft
der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands
Weg in die Informationsgesellschaft“ zum Thema Kinderund Jugendschutz im Multimediazeitalter - Drucksache
13/11001 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Kultur und Medien
Vierter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunft
der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands
Weg in die Informationsgesellschaft“ zum Thema Sicherheit
und Schutz im Netz - Drucksache 13/11002 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({13})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Kultur und Medien
Schlußbericht der Enquete-Kommission ,,Zukunft der Medien
in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ zum Thema Weg in die Informationsgesellschaft - Drucksache 13/11004 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({14})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Der in der 17. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem
Haushaltsausschuß auch gemäß § 96 GO überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse - Drucksache 14/280 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({15})
Innenausschuß
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos-
sen.
Wir setzen nunmehr die Haushaltsberatungen fort:
1. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für
das Haushaltsjahr 1999
({16})
- Drucksache 14/300 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft
- Drucksache 14/350 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({17})
Finanzausschuß
Ich erinnere daran, daß wir gestern für die heutige
Aussprache insgesamt neun Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Bundeskanzleramtes. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Selten hat eine neue Regierung in so kurzer Zeit soviel Durcheinander angerichtet und so viel Enttäuschung verursacht.
({0})
Präsident Wolfgang Thierse
Der Kölner „Express“ schrieb dieser Tage: „Wir werden regiert von Enttäuschern.“ Die Kommentatoren
konnten den Ablauf der Hunderttagefrist kaum erwarten.
Ein Urteil war verheerender als das andere.
Vielleicht steht die Auslandspresse weniger im Verdacht der Befangenheit. „Le Figaro“: „Die Anfänge
Schröders waren chaotisch.“ Die „Neue Zürcher Zeitung“: „Ernüchterung und Durchwursteln.“ Im Londoner
„Independent“ stand zu lesen: „Stellt euch eine rotgrüne
Regierung vor, haben manche Witzbolde gesagt, angeführt von Schröder, Lafontaine, Fischer inklusive - ha,
ha, ha; tja, jetzt ist es schon hundert Tage her, seit dieses
ungleiche Trio die Regierung übernommen hat, und wir
lachen noch immer“. - So der „Independent“.
({1})
Den meisten ist das Lachen inzwischen vergangen.
({2})
„Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert“ und „Aufbruch und Erneuerung“ hatte es geheißen. „Die Woche“
schrieb dieser Tage: „Manches ist schon zu Ende, bevor
es richtig begonnen hat. Mancher, der sich eben noch am
Beginn einer neuen politischen Ära wähnte, muß plötzlich feststellen, daß auch hundert Tage schon eine ganz
schöne Strecke sein können.“
Das Presseecho: katastrophal. Das Urteil der Fachwelt: vernichtend. Die Wähler: enttäuscht und auf dem
Absprung. Erst reden, dann denken, schließlich zurückrudern; große plakative Entwürfe mit der Solidität von
Seifenblasen. In der Umsetzung hektische Schnellschüsse, unausgereift und mit schwersten handwerklichen
Mängeln. Anschließend ein Rückzug auf Raten, neue
Vorschläge, bis die Verwirrung komplett ist.
Die „Frankfurter Rundschau“ - kein Unionsblatt schrieb: „In jedem Fall braucht man die neuen Minister
nur ausreden zu lassen, um sie in Konflikt mit sich selber zu bringen.“
({3})
Eine Mischung aus Substanzlosigkeit und Überheblichkeit hat Sie in zentralen politischen Handlungsfeldern
gegen die Wand fahren lassen. Der Haushalt ist Ausdruck der Ratlosigkeit, die das rotgrüne Lager erfaßt hat.
Vor Weihnachten haben Sie Wahlgeschenke verteilt,
die Ihnen in Hessen nichts genützt haben. Herr Lafontaine, jetzt konfrontieren Sie uns mit der höchsten Ausgabensteigerung. Beinahe täglich präsentieren Sie neue
Modelle, wie die selbstgerissenen Löcher gestopft werden sollen. Der Kollege Dreßler forderte laut „dpa“Meldung vom 19. Januar wörtlich: „Familien notfalls
per Steuererhöhung entlasten“. - Das ist typisch für die
Regierung.
Herr Lafontaine, jetzt lesen wir Meldungen, nach der
Wahl in Bremen werde die Mehrwertsteuer erhöht. Ich
fordere Sie auf: Schaffen Sie jetzt und nicht erst nach
der jeweils nächsten Wahl Klarheit!
({4})
Herr Kollege Wieczorek, herzlichen Glückwunsch!
Sie hätten einen besseren Haushaltsentwurf zu Ihrem
Festtag verdient. Das will ich Ihnen in Verbundenheit
sagen. Der vorliegende Entwurf ist im Kabinett am 20.
Januar verabschiedet worden. Aber Sie haben mit Ihrer
Mehrheit eine Haushaltsdebatte vor der Hessen-Wahl
mit dem Argument verhindert, der Haushalt sei noch
nicht beratungsreif. Um Himmels willen!
({5})
- Entschuldigung, so ist es im Ältestenrat von den Vertretern der SPD mitgeteilt worden. Das ist kein Quatsch,
sondern die Wahrheit. ({6})
Der Haushalt sei nicht beratungsreif, das war das Argument, mit dem eine Debatte vor der Hessen-Wahl verhindert worden ist.
Jetzt frage ich Sie: Was für einen Haushalt haben Sie
im Kabinett eigentlich verabschiedet? War es vielleicht
nur der Sprechzettel für den Regierungssprecher? Was
hat sich denn seit dem 20. Januar verändert? Ist der
Haushalt jetzt beratungsreif, und warum war er es vor
der Hessen-Wahl nicht?
Ihre Purzelbäume in der Energiesteuerdebatte haben
wenigstens noch die Karnevalisten erwärmt. Ein Modell
zu vertreten, nach dem man im Zeichen des Energiesparens um so weniger Steuern bezahlen soll, je mehr Energie man verbraucht, oder nach dem man um so mehr von
der Energiesteuer entlastet wird, je mehr man seine Personalkosten reduziert - auf deutsch heißt das ja Entlassung -, das ist, Herr Lafontaine, schon ein Stück aus
dem Tollhaus.
({7})
Von Expertenseite wird Ihr Ökosteuerkonzept unisono mit Attributen wie „mißraten“, „mißglückt“, „gescheitert“ versehen. Aber dieser Bundesregierung gilt ja
die Meinung von Experten nicht viel. Wie sonst soll
man es verstehen, wenn am gleichen Tag, an dem die
Experten im Ausschuß gehört wurden, das Gesetz im
Ausschuß unverändert durchgepeitscht wurde? So wird
doch jede Anhörung zur Farce.
({8})
Es gehört schon viel Frechheit dazu, etwas „ökologische Steuerreform“ zu nennen, was keinerlei ökologischen Lenkungseffekt, keinerlei Energieeinsparung,
sondern lediglich Wachstumsverluste und eine Belastung des Wirtschaftsstandorts erwarten läßt, ganz zu
schweigen von den sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber Rentnern, sozial Schwächeren, Familien mit Kindern und Berufspendlern, die sich steigende Strompreise, steigende Heizölpreise und steigende Benzinpreise
nicht leisten können.
({9})
Sie hatten eine durchgreifende Neuordnung der 630DM-Jobs versprochen. Herausgekommen ist eine Reformpleite ohne Ende.
({10})
Der Bundeskanzler selber hat mindestens vier persönliche Modelle entwickelt; wahrscheinlich wissen Sie, Herr
Schröder, im Moment auch nicht mehr, welches jetzt
aktuell Gültigkeit haben soll.
({11})
Nach derzeitigem Stand soll jeder 630-DM-Jobber, der
ein zusätzliches Einkommen bezieht - Rente, Unterhaltsleistungen oder Sparzinsen - grundsätzlich steuerpflichtig werden. Also bleibt die Ehegattin ohne eigenes
Einkommen steuerfrei; die Alleinstehende, die Unterhalt
bezieht, wird steuerpflichtig.
({12})
Das ist ein Programm voller Ungereimtheiten, ein Programm zur Förderung von Schwarzarbeit.
({13})
Niemand landauf, landab, keine Gewerkschaft und kein
Wirtschaftsverband ist mehr bereit, dieses Vorhaben zu
unterstützen. Aber das ist Ihnen egal: Noch haben Sie
die Mehrheit im Bundesrat und handeln nach der Devise: Augen zu und durch.
Eine große Steuerreform ist der deutschen Öffentlichkeit versprochen worden, die die Rahmenbedingungen für mehr Investitionen und Beschäftigung verbessern sollte. Das Urteil aller Experten ist verheerend. Sie
selbst haben mit Ihren hektischen Nachbesserungen an
fast jedem Tag und laufend neuen Ausnahmen und Korrekturen ja längst eingestanden, daß die ganze Aktion
schiefgegangen ist.
({14})
Ich zitiere den Sachverständigenrat. Ich tue es, solange man es noch kann. Offensichtlich will die Regierung sachverständige Beratung nicht nur bei der Reaktorsicherheitskommission gleichschalten. Bevor sich der
Finanzminister weiter daranmacht, durch Umbesetzungen mögliche Kritik von kompetenter Seite zum
Schweigen zu bringen, lese ich das vor, was der Sachverständigenrat geschrieben hat:
Die Einkommensbesteuerung umfassend zu reformieren, die Bürger spürbar zu entlasten und die öffentlichen Haushalte durch eine beherzte Konsolidierung auf Dauer wieder handlungsfähig zu machen - das sind die finanzpolitischen Projekte, die
jetzt angegangen werden müssen …
Gemessen an diesen Anforderungen greift die jetzt
vorgelegte Steuerreformkonzeption zu kurz: Die
Senkung der Steuersätze bleibt - vor allem im Bereich höherer Einkommen - zu zaghaft und ist für
den Unternehmensbereich noch unsicher, die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage trifft besonders Unternehmen, die Nettoentlastung kommt zu
spät und ist zu gering.
Diese Einschätzung wird von der ganzen Fachwelt unisono geteilt.
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft bestätigt, daß
mit einer geplanten Steuerentlastung im Jahre 2002
von gerade einmal 0,3 Prozent des geschätzten Bruttoinlandsproduktes keinerlei Impulse für Wachstum und
Beschäftigung verbunden sind. Nur eine wirkliche Konsolidierung der Staatsausgaben schafft Spielräume für
eine echte Steuerentlastung.
Ihr Steuerkonzept schafft nur in einer Hinsicht Klarheit: Die von Ihnen im Wahlkampf so heftig umworbene
Neue Mitte wird nach der Wahl wieder zu dem, was sie
für die SPD immer war und bleiben wird, nämlich die
Gruppe der sogenannten Besserverdienenden, die es
nach Belieben zu schröpfen gilt.
({15})
Der Mittelstand wird belastet, wodurch Arbeitsplätze
vernichtet werden. Die Situation wird nicht dadurch besser, daß Herr Lafontaine sagt, dies sei so gewollt.
Zu einer Konsolidierung des Haushalts durch Einschränkung der Ausgaben fehlen Ihnen die Kraft und der
Mut. Statt dessen steigern Sie die Ausgaben um fast
7 Prozent. Das ist die höchste Steigerungsrate seit Jahrzehnten und dreimal soviel, wie der Finanzplanungsrat
vorgegeben hat. Der vor der Wahl versprochene Sparkurs wird bereits durch den vorliegenden Haushalt Makulatur.
In der Gesundheitspolitik jagt ein Dementi das andere. Erst hat man ein paar Wohltaten unter das Volk
gestreut. Jetzt ist die Rationierung der Kassenleistungen
angesagt.
Herr Riester wollte erst die älteren Arbeitnehmer mit
einem ebenso gigantischen wie unbezahlbaren Frühverrentungsprogramm erfreuen, das aber nun offenbar sangund klanglos in der Versenkung verschwindet. Dafür erschreckt er die Rentner mit der Botschaft, daß er für die
jährliche Rentenanpassung nach dem Nettolohnprinzip nicht mehr geradestehen will. Rentenanpassung soll
also bei der SPD künftig nur noch nach Kassenlage erfolgen. All diese Vorhaben werden nur so nebenbei verkündet. Ich hätte Sie einmal hören mögen, was Sie gesagt hätten, wenn wir so verfahren wären.
({16})
Ihnen war doch schon die Einführung des demographischen Faktors zuviel. Wir haben ihn eingeführt, um
angesichts der steigenden Lebenserwartung die Belastung von Beitragszahlern und Leistungsempfängern behutsam neu zu justieren. Inzwischen sind Sie selbst zu
der Einsicht gekommen, daß die Rentenversicherung
ohne einen solchen Korrekturmechanismus nicht auskommen kann.
({17})
Ich bin für Nachdenken und finde es deshalb ärgerlich,
daß Sie vor Jahresende wichtige Reformschritte rückgängig gemacht haben. Jetzt dämmert Ihnen allmählich,
daß Sie genau die falsche Richtung nach dem Motto
„Erst handeln, dann denken“ eingeschlagen haben.
({18})
„Halbstarke Politik“ hat Heribert Prantl Ihre Politik in
der „Süddeutschen Zeitung“ genannt. Alleingänge in der
Energiepolitik im Zeichen der Globalisierung und des
zusammenwachsenden Europas müssen scheitern. Das
gilt für die Energiebesteuerung, die im nationalen Alleingang Arbeitsplätze vernichten wird, wie auch für den
Ausstieg aus der Kernenergie. Strom aus Tschernobyl
zu beziehen und die sicheren Reaktoren in Deutschland
abzuschalten ist doch eine infantile Rechthaberei statt
verantwortlicher Politik.
({19})
Anglo-französische Schadenersatzansprüche für den
Fall des Ausstiegs aus den Verträgen für die Wiederaufarbeitung werden mit dem Hinweis abgewehrt - so der
Jurist Trittin -, Regierungshandeln sei höhere Gewalt.
Höhere Gewalt bedeutet in der Rechtssprache ein unabwendbares Ereignis, meist eine Naturkatastrophe. Es ist
schon beachtlich, wenn Herr Trittin rotgrüne Politik mit
einer Naturkatastrophe gleichsetzt. Er muß es ja wissen.
({20})
Die Erfolge, Herr Bundeskanzler, die Ihrer Regierung
noch gutgeschrieben werden - die Debatte um die Steuerreform in diesen Tagen belegt dies -, bestehen nur
noch aus der Rücknahme eigener Vorhaben.
({21})
Aber aus dem Rotieren auf der Stelle wird noch keine
Bewegung. Fast das Beste, was man von Mitgliedern Ihrer Regierung noch sagen kann, ist, daß sie bisher nicht
weiter aufgefallen sind. Wer ist eigentlich für Wohnungsbau zuständig oder für Bildung und Forschung
oder für Frauen und Familie? Der Kulturbeauftragte, für
den man die Institution Parlamentarischer Staatssekretär
so ändern mußte, daß man Parlamentarischer Staatssekretär auch sein kann, ohne Parlamentarier zu sein, Herr
Naumann also, hat es immerhin geschafft, die Mahnmaldebatte so durcheinanderzubringen, daß nach zehn
Jahren Diskussion ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben
werden muß, ohne daß der alte schon beendet war. Und
dann wird eine schnelle Entscheidung des Bundestages
gefordert.
({22})
Jetzt hat der Kulturbeauftragte einmal den Engländern
die Leviten gelesen.
({23})
Herr Bundeskanzler, das unsägliche Gerede dieses Mannes wird Ihnen zugerechnet, und es schadet uns Deutschen.
({24})
Auch der große Koordinator Hombach wird ziemlich
entzaubert. Er beschäftigt sich mit der Finanzierung seines Eigenheims, angeblich auch in einer Arbeitsgruppe
mit seinem in London gescheiterten Kollegen Mandelson.
({25})
- Ich habe in einem Magazin gelesen, er beschäftige
sich damit stundenlang, begleitet von mehreren Anwälten. Auch die Arbeitsgruppe mit Herrn Mandelson ist
doch gegründet, und Herr Steinmeier liest jetzt die Akten. Aber wenn Herr Steinmeier wenigstens die Akten
liest, läßt das ein wenig hoffen, denn bisher hatten Sie
offenbar kaum Ihren Koalitionsvertrag gelesen. Trittin
hat recht, wenn er bei seinen Narreteien darauf verweist,
den Koalitionsvertrag auf seiner Seite zu haben.
({26})
Den Bundeskanzler interessiert es nicht. Aber wer hat
denn dieses Machwerk wenn schon nicht ausgehandelt,
dann doch zumindest unterschrieben? Als Herr Fischer
beispielsweise mit seinem Beitrag zur Nuklearstrategie
des Atlantischen Bündnisses für Furore sorgte, merkte
die SPD doch offenbar erst, daß sie genau das im Koalitionsvertrag unterschrieben hatte, was aus Fischers
Mund zu Recht soviel Entsetzen hervorrief. Pleiten,
Pech und Pannen, halbstarke Politik.
({27})
Es liegt nicht nur an der Mannschaft. Schließlich
kocht bei Rotgrün der Chef. Alles ist zur Chefsache erklärt: „Bündnis für Arbeit“, Energiekonsens, Steuerreform, 630-DM-Jobs, Aufbau Ost, EU-Präsidentschaft.
Wenn alles Chefsache ist, Herr Bundeskanzler, sind Sie
auch verantwortlich für das Chaos, den Mist und das
Durcheinander, das da entstanden ist.
({28})
Daß Sie in kurzer Zeit viele Fehler gemacht haben
und an die Wand gefahren sind, haben Sie inzwischen
selbst eingestanden: „Tempo zurücknehmen“, „mehr
nachdenken“ oder wie die Formulierungen jetzt alle heißen. Von einem neuen Anfang ist gar die Rede. Aber
das ist wirklich eine Drohung. Noch einmal so ein Anfang?
({29})
Natürlich macht, wer handelt, immer auch Fehler,
und wer neu anfängt, hat auch Anspruch auf eine gewisse Toleranz, weil man hofft, es wird sich schon richten,
was am Anfang so holprig ist und ächzt und knirscht.
Aber Sie haben schon bleibende Schäden angerichtet.
Die wirtschaftliche Lage und die Perspektiven für den
Arbeitsmarkt verschlechtern sich von Monat zu Monat.
Das ist eben nicht nur die Folge wirtschaftlicher Entwicklungen in Asien oder Südamerika, sondern das ist,
wie die Bundesbank in ihrem jüngsten Monatsbericht
bestätigt, auch Folge einer nachhaltigen Verunsicherung
bei Investoren im In- und Ausland, die durch Ihre Steuer- und Abgabenpolitik ausgelöst wird.
({30})
Ein Drittel aller Investitionen sind zum Jahresende
zurückgestellt worden, und viele prüfen, ob nicht mehr
wirtschaftliche Aktivitäten, also Arbeitsplätze, ins Ausland verlagert werden müssen. Das ist der bleibende
Schaden, den Sie verursacht haben.
Das Vertrauen unserer Partner und Nachbarn in die
Berechenbarkeit und Verläßlichkeit deutscher Politik ist
beeinträchtigt. Das wird Ihnen im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft die Aufgabe, die Agenda
2000 zum Erfolg zu bringen, nicht erleichtern. Wer
Vertrauen in die Verläßlichkeit deutscher Politik beschädigt, der handelt nicht im deutschen Interesse.
({31})
Die eigentliche Ursache des Desasters aber, das Sie in
diesen 100 Tagen angerichtet haben, sind keine Anfängerfehler. Nein, Ursache sind fundamentale Meinungsunterschiede innerhalb der SPD, zwischen dem ideologischen und pragmatischen Flügel, und innerhalb von
Rotgrün, zwischen Fundis und Realos - allenthalben
Fraktionierung, Quoten, Grüppchen. Wenn es vielleicht
noch als politische Bewegung im Zeitalter von „Infotainment“ amüsant sein mag, für verantwortliche Regierungspolitik taugt es nicht.
Überspielt wird all das in Schröderscher Manier mit
einem beispiellosen Mangel an Substanz.
({32})
Allen wohl und niemand weh - das klingt vernünftig
und ist gewiß ein schönes Faschingsmotto. Aber gestaltende Politik muß entscheiden, und wer führen will, muß
eine Vorstellung von der Richtung haben, in die er gehen will. Eine Vorstellung von dem Gelände, in dem
man sich bewegt, gehört dazu, wenn man nicht dauernd
stolpern will.
Herr Schröder, Ihr Wahlkampf rächt sich, in dem Sie
um der besseren Verkaufschancen willen auf die Klärung aller substantiellen Fragen bewußt verzichtet haben. Wer nur an die Macht kommen will, egal wie, der
pfuscht hinterher, wie beim Koalitionsvertrag geschehen.
({33})
Wessen politisches Kredo sich darin erschöpft, Kanzler
zu werden, der wirkt so erschöpft, wenn er es ist.
({34})
In der „Berliner Zeitung“ hat Brigitte Fehrle gestern
einen Leitartikel unter der Überschrift „Kanzler Leichtfuß“ geschrieben. Man müßte ihn eigentlich ganz vorlesen. Ich lese einige Sätze daraus vor:
Wenn der Bundeskanzler die Einschaltquoten der
alles verulkenden und vereinfachenden Medien
zum Maßstab für die Akzeptanz seiner Person und
seiner Politik macht, hat er etwas mißverstanden.
Schröder ist schon gewählt. Es reicht nicht mehr,
den Anschein von Kompetenz zu erzeugen, sie muß
jetzt bewiesen werden.
Es mag altmodisch klingen, aber das Amt des Bundeskanzlers verlangt auch Würde. Das bedeutet
nicht Unnahbarkeit, aber Ernsthaftigkeit.
({35})
Ein Kanzler darf Spaß haben, auch Spaß bringen,
doch er darf sich nicht zur Ulknudel der Nation
machen.
({36})
Die Ratlosigkeit, bei der Sie in Wahrheit angekommen sind, versuchen Sie mit Überheblichkeit zu überspielen. Wir brauchen die Opposition nicht, meinte Herr
Struck. Ein wenig mehr, Herr Kollege, wird es schon
sein müssen, wenn Sie an Herbert Wehner anknüpfen
wollen.
({37})
Ich sage Ihnen: Sie müssen die Opposition ernst nehmen, weil sich in der pluralistischen, offenen, demokratischen Debatte jedes Vorhaben auch der parlamentarischen Mehrheit dem Für und Wider, dem Pro und Kontra stellen und sich darin behaupten muß. Augen zu und
durch - das geht schief; das haben Sie gerade in Hessen
erfahren.
({38})
Sie haben es offenbar noch immer nicht verstanden.
Es geht nicht darum, im Bundesrat eine Mehrheit für irgendeine Form der regelmäßigen doppelten Staatsbürgerschaft zu finden. Es geht vielmehr darum, daß die
übergroße Mehrheit der Bevölkerung und die Hälfte Ihrer Anhänger Ihr unreifes, provozierendes Vorhaben
ablehnen.
({39})
Darüber kommen Sie nicht hinweg - auch nicht damit,
daß Sie in der Woche vor der Landtagswahl verfassungswidrig mit Steuermillionen Werbung gemacht haben.
({40})
Sie haben übrigens auf die Verfassung und unsere
Gesetze einen Eid geleistet. Der Zweck heiligt die Mittel
allenfalls im Rahmen der Verfassung. Wenn Sie jetzt
den armen Herrn Eichel, der am Wahlabend in der Niederlage eine anständige Figur machte,
({41})
zwingen, Ihren Steuerpfusch im Bundesrat mit einer abgewählten Mehrheit durchzusetzen, dann zeigt dies nur,
daß Sie die Wählerschaft aus Ratlosigkeit und Überheblichkeit nicht hören wollen.
({42})
Aber Hochmut - das habe ich schon vor der HessenWahl gesagt - kommt vor dem Fall. Wetten daß, Herr
Schröder?
({43})
Das Thema „doppelte Staatsangehörigkeit“ - Sie
können es drehen und wenden, wie Sie wollen - zeigt
die ganze Substanzlosigkeit Ihrer Politik. Die Integration
der auf Dauer in Deutschland lebenden ausländischen
Mitbürger ist eine der wichtigsten und schwierigsten
Zukunftsaufgaben. Eine Integration kann man nicht gegen die Bevölkerung erreichen, sondern nur mit ihr. Das
ist das Problem.
({44})
Deshalb brauchen wir ein umfassendes und ausgewogenes Integrationskonzept, das die Bevölkerung überzeugt
und keine Ängste hervorruft. Dazu haben Sie im Gegensatz zu uns überhaupt nichts vorgelegt, sondern lediglich
einen Kotau vor Ihren ideologischen Fundamentalisten
gemacht.
({45})
Dies war genauso in der Energiepolitik. Mit einer
langfristigen Politik für Energiesicherheit, Umweltschutz und Arbeitsplätze hat Ihre Politik des Löcherstopfens durch Energieverteuerung und des nationalen Alleingangs im Bereich der Kernenergie nicht das geringste zu tun. Es ist ein Mangel an Substanz und Ernsthaftigkeit, der Ihre Politik kennzeichnet.
Herr Lafontaine kämpft mit seinen antiquierten Vorstellungen von Nachfragesteuerung und Regulierung der
Märkte gegen den Rest der Welt. Der Fundi-Flügel der
Koalition treibt ideologische Sandkastenspiele, und Herr
Schröder amüsiert sich. Daraus resultiert das eigentliche
Fiasko. Sie diskreditieren jede Politik in Richtung Veränderung und Innovation in Deutschland. Stillstand und
Besitzstandsverteidigung sind das Ergebnis Ihrer Politik.
Das ist das eigentliche Fiasko.
({46})
Veränderungen in unserer gesellschaftlichen und
politischen Wirklichkeit - wer wüßte das besser als wir,
die wir 16 Jahre lang die Regierungsverantwortung getragen haben - sind schwer durchzusetzen. Wohlstand
fördert weder Solidarität noch Veränderungsbereitschaft.
Der öffentliche Gedächtnisschwund angesichts der
Kurzatmigkeit medialer Diskussionsprozesse privilegiert
eher Show statt Substanz.
Wir können in einer Welt, die sich so rasant verändert, nicht stehenbleiben. Das gilt angesichts globaler
Entwicklungen genauso wie im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen. Entfernungen schrumpfen,
und Grenzen trennen nicht mehr angesichts der Fortschritte in den Kommunikationstechnologien. Das hat
zur Folge, daß wir unsere globale Verantwortung so
ernst nehmen müssen wie den Erhalt unserer Wettbewerbsfähigkeit. Das macht die nationalen Alleingänge in
der Energiepolitik, und zwar von den Steuern bis zur
Kernenergie, so hoffnungslos halbstark, unausgegoren
und spätpubertär.
({47})
Deshalb sind Partnerschaftsfähigkeit, Verläßlichkeit,
Vertrauen, Fortschritte in der europäischen Einigung unerläßlich für unsere Zukunft. Dieser Bundesregierung ist
es in kürzester Zeit gelungen, das Vertrauen unserer europäischen Partner nachhaltig zu beschädigen. Das Ansehen, das sich Deutschland mit allen Kanzlern von
Adenauer bis Kohl in Europa und in der Welt erworben
hat, setzen Sie, Herr Bundeskanzler, mit Ihren rambohaften Sprüchen - wie in Saarbrücken - aufs Spiel.
({48})
Der Skandal, daß ausgerechnet dem deutschen Finanzminister der Euro-Start nicht wichtig genug war, um seinen Urlaub zu unterbrechen und sich nach Brüssel zu
begeben, ist in Europa noch lange nicht vergessen, Herr
Lafontaine.
({49})
Jetzt haben Sie offenbar den zuständigen EUKommissar von der Teilnahme am Treffen der Finanzminister der G 7 ausgeschlossen. So wie Sie das betreiben, wird in Europa nichts besser, sondern alles wird
noch viel schwerer. Jetzt reden Sie noch den Euro
schwach.
({50})
Was die notwendigen Fortschritte der europäischen
Einigung anbelangt, so greift der Reformansatz der
Agenda 2000 eher zu kurz. Wir brauchen mehr Subsidiarität in Europa, eine vernünftige Aufgabenteilung
zwischen der europäischen, der nationalen und der regionalen Ebene.
({51})
Das haben wir seit vielen Jahren gesagt. Wir brauchen
mehr Freiräume und weniger Bürokratie in Europa. Darauf, auf mehr Dezentralisierung, Aufgabenverlagerung,
auf eine Strukturpolitik, die nicht alles über einen Leisten schlagen will, sollte sich die Bundesregierung konzentrieren, statt in eine überall längst überwundene
Politik der Alleingänge und des nationalen Egoismus zurückzufallen.
({52})
Was wir in Europa brauchen, ist eine gemeinsame Politik, die dafür Sorge trägt, daß die Dinge, die nur gemeinsam in Europa bewältigt werden können, auch gemeinsam angegangen werden. Ich meine also die Wirtschafts- und Währungsunion, die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik und eine gemeinsame Innen- und
Rechtspolitik.
Wie dringend notwendig dieses gemeinsame Vorgehen in Europa ist, das haben uns auch die gewalttätigen
Ausschreitungen der PKK überall in Europa vor Augen
geführt. Im übrigen zeigen sich auch hier die Folgen der
Verantwortungslosigkeit des deutschen Bundeskanzlers.
Als Öcalan auf Grund eines deutschen Haftbefehls in
Italien festgehalten wurde, sagte die Bundesregierung
noch am Donnerstag abend der betreffenden Woche der
Opposition, man wolle eine internationale Lösung, am
besten mit türkischer Beteiligung. Am nächsten Morgen
scherte das Herrn Schröder im Gespräch mit dem italieDr. Wolfgang Schäuble
nischen Ministerpräsidenten einen Dreck: Nichts wie
weg damit! - Jetzt haben wir den Salat.
({53})
- Ja, so hat man sich doch verhalten.
Die Entscheidung des Bundeskanzlers, auf die Auslieferung eines Mannes zu verzichten, der auf Grund eines deutschen Haftbefehls festgehalten wurde, ist doch
nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren ergangen,
sondern sie ist nach Gutsherrenart getroffen worden.
Das ist doch der Skandal.
({54})
Jetzt wird wieder von internationalen Aktionen, von Zusammenarbeit und von sonst etwas gesprochen. Aber
warum sollten sich denn andere um die Kurden-Frage
und Öcalan kümmern, wenn die Deutschen, die Herrn
Öcalan schließlich wegen Mordverdachts zur Fahndung
ausgeschrieben hatten, nichts damit zu tun haben wollten, weil es ja Ärger geben könnte? So wird die Staatengemeinschaft noch lange im Kampf gegen Terrorismus
und Gewalt erfolglos bleiben. Das ist der Fehler des
Bundeskanzlers.
({55})
Neben gemeinsamem Handeln auf Feldern, wo wir
nur gemeinsam stark sein können, brauchen wir in Europa und in Deutschland eben auch mehr Wettbewerb
und mehr Subsidiarität. Beide Grundsätze gehören zusammen. Angesichts der dramatischen Veränderungen
in der Arbeitswelt, die durch das Zusammenwirken von
technischem Fortschritt, weltweiter Arbeitsteilung und
Mobilität - von Know-how bis zu Kapital - begründet
wird, müssen wir nicht nur Steuer- und Abgabensysteme
wettbewerbsfähig halten, sondern wir müssen auch unsere wirtschaftlichen, sozialen und vor allem unsere bürokratischen Strukturen wettbewerbsfähig halten. Wenn
Innovationstempo und Anpassungsfähigkeit entscheidend sind - das sind heute die in der Weltwirtschaft entscheidenden Wettbewerbsgesichtspunkte -, dann sind
dezentrale Lösungen dem Zentralismus immer überlegen. Deshalb brauchen wir keine europäischen Beschäftigungsprogramme, sondern wir brauchen mehr Freiräume für Wettbewerb, Ideen und Vielfalt in Europa und
in Deutschland.
({56})
Noch einmal: Die Widerstände sind groß. Auch wir
haben uns zeitweilig schwergetan. Aber seit Mitte der
90er Jahre sind wir wieder gut vorangekommen. Deshalb hatten wir 1998 steigende Wirtschaftskraft und Investitionen aus dem In- und Ausland. Wir hatten sinkende Arbeitslosigkeit und in den Ist-Zahlen gegenüber den
Ansätzen im Bundeshaushalt einen Überschuß von 10
Milliarden DM. Nicht neue Löcher, Herr Lafontaine,
wie Sie wahrheitswidrig behaupteten, haben Sie beim
Kassensturz vorgefunden, sondern einen Überschuß von
10 Milliarden DM.
({57})
- Natürlich: einen Überschuß von 10 Milliarden DM.
({58})
Den Überschuß aus 1998 haben Sie flugs in das Haushaltsjahr 1999 transferiert, um Ihren unverantwortlichen
Ausgabenanstieg so gerade noch im Rahmen der verfassungsrechtlich zulässigen Neuverschuldung zu halten anstatt daß Sie die bessere Finanzgrundlage für eine
nachhaltige Nettosteuerentlastung zugunsten von
Wachstum und Beschäftigung nutzen.
({59})
Der Erfolg unserer Reformen, die Sie zurückgenommen
haben, waren steigende Wirtschaftskraft, steigende Investitionen, abnehmende Arbeitslosigkeit.
Sie machen die erreichten Erfolge zunichte:
({60})
Erst haben Sie mit Ihrer Oppositionsstrategie im Bundesrat verzögert und blockiert, wo immer es ging, ohne
Rücksicht auf die gesamtstaatliche Verantwortung.
Dann haben Sie in einem Wahlkampf der billigen Versprechungen die schöne neue Welt ohne Anstrengungen
versprochen. Nach Ihrem Wahlsieg haben Sie die Reformansätze zerstört und statt dessen das Geld mit vollen Händen ausgegeben. Jetzt, wo es endlich gilt, die
Zahlen von Ausgaben und Einnahmen stimmig zu machen, stehen Sie mit leeren Händen da - ratlos, hilflos.
({61})
Mit dem rotgrünen Reformprojekt ist es wie mit des
Kaisers neuen Kleidern: Wer genau hinsieht, findet
nichts.
({62})
Wer auf den Pragmatiker hoffte, der bleibt genauso
enttäuscht. „Schröders neue Mitte“, schrieb die „FAZ“
am 15. Februar, „ist der Ort des Alles und des Nichts.“
Dabei ist Mitte die Voraussetzung, um Bewahren und
Erneuern in der rechten Weise zu verknüpfen. Aber
Mitte ist eben kein Ort der Beliebigkeit, sondern Mitte
heißt Orientierung, Verankerung, auch Mäßigung und
Ausgleich. Nur aus der Mitte wächst Toleranz, Liberalität, Beständigkeit und Zukunftskraft.
({63})
Deshalb braucht Mitte Werte; denn: ohne Kompaß keine
Richtung! Das ist die Mitte der Union, wo Werte Zukunft haben.
({64})
Niemals hatte eine Generation größere Chancen auf
ein Leben in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und sozialer Stabilität als die unsere. Aber die Chance der
Freiheit darf nicht durch Bürokratie und Verteilung,
durch Überförderung und Unterforderung, Unüberschaubarkeit und Anonymität verdorben werden.
Der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg,
Huber, schreibt in seinem neuen Buch „Die Kirche in
der Zeitenwende“:
Das Projekt der Freiheit läßt sich nur fortsetzen,
wenn die Menschen die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung aus Freiheit entwickeln. Ohne Werte geht
das nicht.
({65})
- Können Sie die Zeitung ein bißchen leiser umblättern,
Herr Fischer, wenn es schon sein muß?
({66})
Wem alles gleich ist, der ist zur vorrangigen Förderung von Ehe und Familie nicht in der Lage. Die Menschen brauchen Leitbilder des Zusammenlebens, auch
und gerade junge Menschen, auch und gerade in Zeiten
der Individualisierung und der Pluralität von Lebensstilen. Wer wie Sie nur auf kollektive Systeme setzt, der
wird soziale Gerechtigkeit nie erreichen,
({67})
weil er den Schatz an menschlicher Fürsorge, an Wärme, an Solidarität ungenutzt läßt,
({68})
den Schatz, der in Mitmenschlichkeit, in der Verantwortlichkeit jedes einzelnen, in der Geborgenheit in der
Familie, in Spontanität und Kreativität der kleinen Einheit, in Nähe, Vertrautheit und Einsatzbereitschaft
steckt: vom Ehrenamt über die kommunale Selbstverwaltung bis zur landsmannschaftlichen Identität.
Ihr Fehler ist, lieber auf Umverteilung und zentralistische Regelungen zu setzen als auf die Stärkung von
Eigenverantwortung und Deregulierung.
({69})
Das unvermeidliche Ergebnis einer solchen Politik heißt
dann: mehr Staat, mehr Bürokratie und damit auch mehr
Steuern und mehr Abgaben. Kein Wunder, daß von rotgrünen Politikern ständig neue Steuererhöhungsvorschläge ins Spiel gebracht werden: Erhöhung der Mineralölsteuer, Wiedereinführung der Vermögensteuer, Abschaffung des Ehegattensplittings, Beibehaltung des Solidaritätszuschlags, Erhöhung der Mehrwertsteuer - die
Phantasie kennt da keine Grenzen. Das schwächt die
Kräfte, auf die es eigentlich ankommt: die Kräfte der
Eigenverantwortung, der Subsidiarität, der freiwilligen
Solidarität.
({70})
Eine moderne, innovative, freiheitliche Gesellschaft
kann man nicht mit zentralisierter Bürokratie, mit Kartellen und Kollektiven organisieren. Ich zweifle, ob Sie
das jemals begreifen werden.
Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist: Wir setzen auf freie Entfaltung dessen, was in den Menschen
steckt.
({71})
Gerade die Leistungsbereiten, die Engagierten und die
Motivierten dürfen nicht immer wieder entmutigt werden, sondern sollen ihre Entfaltungschance bekommen.
Auch die Chance, sich am wirtschaftlichen Wettbewerb,
am Wettbewerb der Ideen und der kreativen Leistungen
zu beteiligen, gehört zur Teilhabegerechtigkeit, also die
Chance, sich beruflich auf eigene Füße zu stellen, sich
eine eigene Existenz aufzubauen, die Chance, als junger
Ingenieur oder Naturwissenschaftler etwas zu entwikkeln oder weiterzugeben, was uns alle voranbringt.
Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist, daß wir
davon überzeugt sind, daß die Menschen - jeder einzelne und alle miteinander -, wenn man sie nur läßt, wenn
man die Rahmenbedingungen richtig gestaltet, zu viel
mehr Leistung, zu viel mehr Solidarität, zu viel mehr
Phantasie und Kreativität fähig sind, viel mehr schöpferische Kräfte entwickeln als jedes zentralistische, bürokratische System.
({72})
Deswegen muß man die Kräfte der Menschen wecken,
die Menschen fordern und nicht unterfordern.
Wir wünschen den Gesprächen, die Sie so anspruchsvoll „Bündnis für Arbeit“ nennen, allen Erfolg. Aber
das Vertrauen in die großen kollektiven Einheiten im
Kartell, die hinreichend innovationsfähig seien, teilen
wir nicht. Die, die es eigentlich angeht, haben Sie außen
vor gelassen: Der Mittelstand ist nicht vertreten, die
Kommunen nicht, die Langzeitarbeitslosen nicht, die
älteren Arbeitnehmer nicht,
({73})
die Sozialhilfeempfänger nicht, die Frauen nicht und die
Familien nicht.
({74})
So wie Sie Ihr „Bündnis für Arbeit“ angelegt haben,
mit einer Vielzahl von Arbeitsgruppen und Kränzchen,
läuft das auf eine endlose Diskussion hinaus. „Ereignismanagement“ nennen Sie das - Show statt Substanz. Die
Medienwirkung ist wichtig, nicht der Inhalt - Papier ist
ja geduldig. Was wir aber brauchen, ist ein kohärentes,
in sich stimmiges Konzept für mehr Beschäftigung. Das
bedeutet mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und bei
den Tarifverhandlungen, eine Lohnpolitik, die der Beschäftigung Vorrang gibt, nicht die gesetzliche Beschränkung von Überstunden, sondern die Schaffung
flexibler Arbeitszeiten, Einführung von Arbeitszeitkonten, befristete Einstellung von Arbeitskräften, nicht die
Installation von milliardenschweren Sofortprogrammen,
um Jugendliche ohne Beschäftigung ruhigzustellen,
({75})
sondern die kritische Überprüfung des Bildungs- und
Ausbildungssystems.
({76}))
Das zeigt: Sie setzen nur darauf, Geld auszugeben. Daß
man die Menschen in ihrer Verantwortung ansprechen
muß, ist für Rotgrün und für die Linke ein zutiefst fremder Gedanke. Das ist das Problem.
({77})
Es reicht auch nicht aus, Ergebnisse zusammenzustricken, die lediglich darauf ausgerichtet sind, Arbeit
umzuverteilen, statt mehr Beschäftigung zu schaffen,
und - wenn alles nicht hilft - am Schluß die Statistik zu
manipulieren.
({78})
Vorrang erhält der Zugang zu Beschäftigung. Wenn
wir von Teilhabegerechtigkeit reden, dann muß Beschäftigung im Zentrum stehen. Es genügt eben nicht,
Menschen lediglich materiell abzusichern, ohne ihnen
die Chance zu einer Beschäftigung zu eröffnen. Wenn
nicht für jeden ein Vollzeitarbeitsplatz zur Verfügung
steht, dann lieber Teilzeitarbeit, Einfacharbeit oder Gemeinschaftsarbeit. Deshalb haben wir Vorschläge für
Kombilohnmodelle, für eine integrierte Reform von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe sowie für die Schaffung
eines Niedriglohnsektors auf den Weg gebracht. Wir
arbeiten weiter daran. Wir wollen das Ziel „Arbeit für
alle“ nicht aufgeben; das erreichen wir aber nicht mit
noch mehr zentralistischer Bürokratie und nicht mit
europäischen Beschäftigungsprogrammen, sondern mit
Deregulierung, Flexibilität und Dezentralisierung.
Der Arbeitsminister ist mit seinen Tariffonds ebenso
gescheitert wie mit der unsinnigen Hektik bei den 630DM-Verträgen. Daß für die IG Metall bei den Tarifverhandlungen in Baden-Württemberg die Verhinderung
ergebnisabhängiger Einmalzahlungen - ({79})
- Frau Rönsch, lassen Sie sich doch nicht - ({80})
- Verehrter Herr Kollege Schlauch, ich wollte meine
Freundin Hannelore Rönsch gerade bitten, sich doch
nicht von Flegeleien ärgern zu lassen.
({81})
Dann wollte ich Ihre Aufmerksamkeit für die Tatsache erbitten,
({82})
daß für die IG Metall bei den jüngsten Tarifverhandlungen die Verhinderung ergebnisabhängiger Einkommenskomponenten fast das wichtigste Ziel war. Ich finde, das läßt Böses ahnen. Wir setzen auf Vermögensbildung, Investivlohn, vielfältige Formen von Beteiligung
und Teilhabe. Wenn Arbeit im Sinne von Teilhabe in
der modernen Welt die wichtigste soziale Frage ist - ({83})
- Ich rede von der Frage - die scheint Sie, Herr Kollege,
ja nicht mehr zu interessieren, auch von der Bundesregierung hört man nichts mehr dazu -, wie man die Arbeitslosigkeit bekämpfen kann.
({84})
Wenn und weil das die wichtigste Frage ist, brauchen
wir mehr Differenzierung in der Lohn- und Einkommenspolitik und nicht weniger. Wir brauchen flexible
Übergänge und Verzahnung von Transfer und Arbeitseinkommen. Arbeit und Leistung müssen sich für jeden
lohnen, weil andernfalls bei noch so guten Sozialleistungen nur Abhängigkeit und Entmündigung die Folge
sind. Dafür arbeiten wir, und bei Ihnen sind nicht einmal
Spurenelemente davon erkennbar.
({85})
Die Ergebnisse des Schlichtungsverfahrens in der
Metallindustrie von Nordwürttemberg/Nordbaden zeigen im übrigen, wie wenig Ihr Bündnis für Arbeit, Herr
Bundeskanzler, bewirkt. Stimmt es übrigens, daß Sie
diesen Schlichter ins Spiel gebracht haben? Mit diesem
Schlichterspruch wird das Tarifvertragssystem seiner
Aufgabe, für mehr Beschäftigung zu sorgen, nicht gerecht.
({86})
Wenn das „Bündnis für Arbeit“ Sinn machen soll,
muß man darüber reden, was alle Verantwortlichen tun
und lassen können, damit wir mehr Beschäftigung erreichen. Dieser Schlichterspruch bringt nicht mehr, sondern weniger Beschäftigung. Das muß in der Debatte
über Beschäftigung gesagt werden.
({87})
Offensichtlich ist es doch so, daß in Zeiten der Globalisierung mit den hergebrachten Ritualen der Arbeitskämpfe kaum noch Waffengleichheit gegeben ist. Das
war doch auch das Problem in der Metallindustrie. Deswegen sollte die Bundesregierung eher das gesetzliche
Rahmenwerk für eine stärkere Beschäftigungsorientierung der Lohn- und Tarifpolitik überprüfen und zumindest im „Bündnis für Arbeit“ zur Vernunft rufen. Auf
alle Fälle aber sollte die Bundesregierung nicht noch
ständig zugunsten einer Seite in Arbeitskämpfen intervenieren
({88})
- ja, natürlich -: vom unsinnigen Gerede des Finanzministers, der die Gewerkschaften zum Schluck aus der
Pulle förmlich gedrängt hat, über die Eingriffe in abgeschlossene Tarifverträge zur Lohnfortzahlung bis zu der
Ankündigung, die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen wieder einschränken zu wollen.
Das alles geht in die falsche Richtung, wenn wir mehr
Beschäftigung wollen.
({89})
Nur mit mehr beschäftigungsorientierter Lohnpolitik,
auch mit mehr branchen-, regional- und betriebsspezifischer Flexibilität und mit einer Steuer- und Abgabenpolitik, die durch Sparsamkeit auf der Ausgabenseite für
dauerhafte Entlastung und damit für eine Verstärkung
von Investitionen, Wachstum und Beschäftigung sorgt,
und mit mehr Wettbewerb und Innovation werden wir
die Beschäftigungsprobleme lösen.
Bildung und Ausbildung sind die wichtigsten Zukunftsinvestitionen. In Ihrer Politik ist davon nichts erkennbar, allenfalls Phrasen.
({90})
Die zuständige Ministerin konzentriert ihre Bemühungen darauf, den Bundesländern in der Hochschulpolitik
zu verbieten, in Organisation und Finanzierung der
Hochschulen neue Wege zu gehen, als ob die alten
Trampelpfade nicht schon wirklich ausgetreten wären.
In der beruflichen Bildung halten Sie zwar den
Knüppel der Ausbildungsabgabe und Bürokratie derzeit
etwas verborgen, aber die Drohung mit diesem Unfug
bleibt bestehen. Das 2-Milliarden-DM-Sofortprogramm
für Ausbildungsplätze führt nach Auskunft der Arbeitsämter überwiegend dazu, daß Geld in Hülle und Fülle
vorhanden ist, ausbildungswillige und -fähige junge
Menschen in vielen wichtigen Zukunftsberufen aber
eher Mangelware sind.
Es führt kein Weg daran vorbei: Bildung und Ausbildung setzen auch die Leistungsbereitschaft der jungen
Menschen voraus. Um sie stärker freizulegen, müssen
Schulen und Hochschulen wieder differenzierter und
weniger anonym ausbilden und erziehen.
({91})
Das heißt Ermunterung und Ermutigung statt Demotivierung und Frustration. Die junge Generation hat das
übrigens längst begriffen, wie auch das Wahlergebnis in
Hessen zeigt. Der Lack ist schneller ab, als die meisten
dachten.
({92})
Das ist keine Frage der Mehrheitsverhältnisse im
Bundesrat, die im übrigen ambivalenter sind, als mancher Kommentator glaubt. Selbst wenn wir die Mehrheit
im Bundesrat hätten - wir haben sie nicht -, würde die
Union niemals die Blockadepolitik à la Lafontaine betreiben. Für uns kommt immer das Land vor der Partei.
({93})
Das kann ein Saarländer am besten bestätigen. Wir haben trotz unterschiedlicher parteipolitischer Verhältnisse
immer für die Saarland-Hilfe gesorgt. Sie könnten ja gar
nicht so schreien, wenn wir nicht mit Theo Waigel und
Helmut Kohl dafür gesorgt hätten.
({94})
Bei uns wird eben nicht bestraft, wer anders wählt,
wie das offenbar zum Prinzip Ihrer Kulturpolitik werden
soll, wenn ich nur an die Ankündigungen zu den Bayreuther Festspielen denke.
({95})
Für uns behält der weitere Aufbau im Osten Vorrang. Das entspricht nationaler Solidarität und gesamtstaatlicher Verantwortung. In Ihrer Politik ist davon
nichts zu finden. Ihr Beitrag zur Überwindung der Folgen von 40 Jahren Teilung und Sozialismus beschränkt
sich bisher auf die Zusammenarbeit mit der PDS.
Chefsache sollte die Angelegenheit der neuen Bundesländer werden. Mir schwante gleich nichts Gutes bei
einem Regierungschef, dem als niedersächsischem
Ministerpräsidenten jede Mark für den Aufbau im Osten
zuviel war. Noch einmal: Die Mehrheit im Bundesrat ist
nicht Ihr vorrangiges Problem. Im Bundestag haben Sie
die Mehrheit, also regieren Sie!
({96})
Aber regieren Sie nicht gegen das Volk, das geht schief.
Das hat Hessen gezeigt.
({97})
Das ist so, ob es Ihnen paßt oder nicht. Trotzige
Rechthaberei nützt auch nichts. Sie kriegen kein anderes
Volk, auch nicht mit dem Versuch, die doppelte Staatsangehörigkeit zur Regel zu machen und anstatt von
Deutschen nur noch von Inländern zu reden.
({98})
Täuschen Sie sich nicht: Auch mit dem Wahlergebnis
vom 27. September letzten Jahres ist der Wettbewerb
um die bessere Idee und das bessere Argument nicht zu
Ende. Wir stehen für Maß und Mitte, für Bewahren und
Erneuern, für Eigenverantwortung und Solidarität, für
Werte und Toleranz, für Freiheit, Recht und Sicherheit.
So leisten wir unseren Beitrag zur Zukunftsgestaltung in
der Opposition - als alternative Kritik und Kontrolle
sowie in der Regierungsverantwortung, wo immer die
Wähler uns dazu berufen.
({99})
Sie haben derzeit den Regierungsauftrag. Sie wollten
nicht alles anders, aber vieles besser machen. Nun ist
vieles schlechter geworden. Darüber hinaus sind Sie zerstritten, rat- und hilflos. Der vorgelegte HaushaltsentDr. Wolfgang Schäuble
wurf ist der Ausdruck dessen. Die Entwicklung und Perspektiven für den Arbeitsmarkt sind Menetekel. Am Tage, als die letzten Arbeitsmarktzahlen verkündet worden
sind, hat sich der bundesweite Protest der Arbeitsloseninitiativen gegen Ihre Regierung formiert, Herr Bundeskanzler. Noch hat es im Fernsehen weniger Aufmerksamkeit gefunden als zu unseren Zeiten. Das kennen wir
schon. Aber ich sage Ihnen vorher: Es wird Monat für
Monat so weitergehen, weil Sie Monat für Monat die
Erwartungen enttäuschen. Lassen Sie ab von Ihrer Mischung aus Eitelkeit und Substanzlosigkeit!
({100})
Backen Sie notfalls kleinere Brötchen, aber lassen Sie
sie nicht dauernd verbrennen. Vor allem: Kümmern Sie
sich um das wirklich Wichtige, vor allem um bessere
Rahmenbedingungen für Wachstum und für mehr Beschäftigung. Das haben Sie versprochen, daran werden
Sie gemessen, und da haben Sie bis jetzt furchtbar versagt.
({101})
Ich erteile dem Kollegen Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wir haben von meinem
Vorredner eine sehr lange Rede gehört.
({0})
Allerdings habe ich an keiner Stelle dieser Rede eine
Alternative zu unserer Politik gehört.
({1})
Wo sind denn Ihre Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zur Steuergerechtigkeit oder für Perspektiven von Jugendlichen?
Für eine Rede zum politischen Aschermittwoch sind
Sie genau eine Woche zu spät gewesen.
({2})
Da war ein anderer viel schneller, verehrter Herr Kollege Vorsitzender, und der sitzt Ihnen heute auf der Bundesratsbank schon im Nacken.
Polemisieren und polarisieren, das ist Ihre Art von
Politik. Wir wollen das Gegenteil, meine sehr verehrten
Damen und Herren.
({3})
Wir wollen Menschen und Interessen zusammenführen.
Deshalb haben wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
das „Bündnis für Arbeit“ geschaffen, und deswegen suchen wir in Konsensgesprächen nach Lösungen für die
Energiewende. Wir wollen zu einem neuen Ausgleich
kommen, der Gerechtigkeit schafft, Innovationen fördert
und alle Menschen am gesellschaftlichen Leben und
Wohlstand teilhaben läßt. Wir wollen die Menschen
wieder motivieren, an der Gestaltung der Zukunft unseres Landes teilzunehmen.
({4})
Wir wollen das Land wieder ins Gleichgewicht bringen:
sozial, wirtschaftlich und ökologisch.
Die erste rotgrüne Koalition ist knapp vier Monate im
Amt. Wir haben in dieser kurzen Zeit eine Menge geschafft - mehr als die alte Bundesregierung in vier Jahren, meine Damen und Herren.
({5})
Ich nenne Ihnen noch einmal die Stichworte; denn wer
Gutes tut, der soll auch darüber reden.
({6})
An diesem Punkt, bei der Darstellung unserer Leistungen, haben wir allerdings ein Defizit.
({7})
Deshalb nenne ich das Gute noch einmal.
Erhöhung des Kindergeldes und Senkung des Eingangssteuersatzes:
({8})
Das führt dazu, meine Damen und Herren, daß ein Arbeitnehmer, der 4 000 DM im Monat verdient und zwei
Kinder hat, in diesem Jahr um zirka 1 100 DM entlastet
wird. Dabei ist die Ökosteuer schon gegengerechnet.
Die Wiederherstellung von Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall und Kündigungsschutz:
({9})
Damit ist wieder sichergestellt, daß Arbeiter im Krankheitsfall genau wie Manager und Angestellte 100 Prozent ihres Lohnes bekommen.
Wegfall des Krankenhausnotopfers und Reduzierung
der Zuzahlung bei Medikamenten:
({10})
Dadurch sparen Patienten im Vergleich zur alten Regelung bei jedem Medikament, das ihnen verschrieben wird.
Aussetzung der Rentenkürzung: Das hat bereits zum
1. Juli 1999 eine höhere Rentenanpassung zur Folge, als
es zu Ihren Regierungszeiten geplant war.
({11})
Das „Bündnis für Arbeit“ steht, und die Energiekonsensgespräche sind aufgenommen.
Das ist schon etwas, meine Damen und Herren. Aber
wir haben noch viel Arbeit vor uns, bis das aufgeräumt
ist, was 16 Jahre lang schiefgelaufen ist.
({12})
Der Arbeit dieser Koalition fehlt nach vier Monaten
noch die glatte Routine; aber das wird schon werden.
Was wir dazu beitragen können, das werden wir tun. Die
Menschen bewerten übrigens Regierungsarbeit nicht als
Schönheitswettbewerb. Nur das Ergebnis zählt, und darauf können wir schon jetzt stolz sein.
({13})
Wir können für unseren ersten Haushalt sagen, daß
unsere Überschrift stimmt: versprochen und Wort gehalten.
({14})
Es ist ein Haushalt für mehr Wachstum und Beschäftigung, der den Rahmen für neue Arbeitsplätze und für
finanzpolitische Stabilität schafft. Es ist ein Haushalt,
der deutliche Signale setzt: Solidität und Klarheit in den
Finanzen, Deckel auf die Neuverschuldung, mehr Geld
für Innovationen und Investitionen. Das ist der rote
Faden, der unsere Politik bestimmt.
({15})
Wir fangen in diesem Haushalt damit an, ein gutes
Stück Gleichgewicht zwischen Gegenwart und Zukunft,
zwischen Wagnis und Vorsorge, zwischen Ökonomie
und Ökologie wiederherzustellen. Wir erhöhen die Investitionen für die Zukunft: für Forschung, Wissenschaft
und Entwicklung.
Dies ist ein Haushalt des Umlenkens. Er steht im Zusammenhang mit der umfangreichsten Steuerreform
seit 1949.
({16})
Wir bringen sie auf den Weg.
({17})
Ihre wichtigsten Ziele sind die Entlastung der Arbeitnehmer und Familien sowie die Stärkung der mittelständischen Wirtschaft und ökologische Innovationen. Wir
bleiben dabei: Nach der Senkung des Eingangssteuersatzes, der Anhebung des Grundfreibetrages und des Kindergeldes zum Jahresbeginn werden wir den zweiten
Teil des Steuerentlastungsgesetzes im März dieses Jahres beschließen.
({18})
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, was
wir schon immer gesagt haben: Die Familien sind von
CSU, CDU und F.D.P. sträflich vernachlässigt worden.
({19})
Es bedarf jetzt einer großen finanziellen Kraftanstrengung, um diese Fehlentwicklung zu korrigieren. Wir
werden das tun, denn es geht um die Familien und die
Kinder in unserer Gesellschaft.
Wenn jetzt die Finanzpolitiker der Opposition mit
Patentrezepten kommen, dann ist das einfach lächerlich.
Es nimmt Ihnen keiner ab, in vier Monaten das Herz für
Familien entdeckt zu haben. Sie haben 16 Jahre lang
Politik an ihnen vorbei gemacht.
({20})
Nach der Sommerpause werden wir zur Korrektur der
verfassungswidrigen Familienpolitik der Kohl-Regierung ein Familienentlastungsgesetz vorlegen.
Noch etwas: Daß eine Steuerreform nie den Beifall
von allen Seiten erhält, ist klar. Wir haben aber gezeigt,
daß wir zwischen gruppenbezogenem Lobbyismus und
wirklichen Benachteiligungen zu unterscheiden wissen.
Gerade auch auf Initiative der Koalitionsfraktionen sind
Bedenken der mittelständischen Wirtschaft aus dem
Weg geräumt worden. Wir haben bei der Teilwertabschreibung die Vorstellungen großer Teile des Handels
und des Mittelstandes aufgegriffen. Auch der Verlustrücktrag wird jetzt an den Interessen des Mittelstandes
orientiert. Wir haben in diesen Bereichen Änderungen
vorgenommen, denn sie sind wichtig im Hinblick auf die
Entwicklung unserer Wirtschaft, gerade der mittelständischen Wirtschaft. Wir sind lernfähig.
({21})
Ihre Steuerpolitik hat in den letzten Jahren zu sehr
das Prinzip der Steuergerechtigkeit verletzt. Wenn
die, die wenig verdienen, immer mehr von der Steuerlast
zu tragen haben, und die, die es könnten und müßten, die
Möglichkeit haben und nutzen, Steuern zu vermeiden,
dann entstehen auch eine Frage der Glaubwürdigkeit
und eine große Lücke im Hinblick auf Steuergerechtigkeit.
({22})
Das erste Halbjahr 1999 ist von der deutschen EURatspräsidentschaft geprägt. In dieser Zeit wird über
bedeutende Weichenstellungen zu entscheiden sein: die
Reform und Neuordnung der Finanzen und der Gemeinschaftspolitik im Rahmen der Agenda 2000, die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Die Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen verfolgen mit Nachdruck eine
Konsolidierung des EU-Haushaltes. Es geht um eine
gerechtere Lastenverteilung, eine Reform der Ausgabenpolitik und um Haushaltsdisziplin. Ziel der Bundesregierung ist es aber auch, eine Reduzierung der unverDr. Peter Struck
hältnismäßig hohen Nettozahlungen Deutschlands zu erreichen. Das unterstützen wir.
({23})
Die Konsolidierung der EU-Finanzgrundlagen ist
dringend geboten. Der Sondergipfel der EU im März in
Berlin wird ein Erfolg werden. Ein Fehlschlag würde der
Stabilität und der Stärke des Euro einen erheblichen
Schaden zufügen und Europa als Investitionsstandort
und Kapitalmarkt belasten.
Bei der Ausgabenpolitik geht es vor allem um eine
Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, um die Landwirtschaft wettbewerbsfähig und WTO-konform zu machen. Es geht uns dabei um die Zukunftsfähigkeit unserer Landwirtschaft. Wir handeln europäisch, aber wir
werden bei diesen Verhandlungen die Interessen
Deutschlands nachdrücklich vertreten. Wir werden dabei
fair gegenüber unseren Partnern bleiben; denn für nationalpopulistische Töne, wie sie aus der Union kommen,
ist kein Platz.
({24})
Das, was Edmund Stoiber vollmundig und Herr
Schäuble halbherzig in ihrem europapolitischen Positionspapier präsentieren, würde unser Land isolieren; es
würde den Zusammenschluß und die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union sabotieren und liefe darauf
hinaus, deutschen Interessen ernsthaft zu schaden und
die dringend gebotene Osterweiterung der EU zu hintertreiben.
({25})
Ihre Forderung, eine Nettoentlastung zwischen 7,5
und 14 Milliarden DM durchzusetzen, ist angesichts der
Interessenlagen bei den anderen Mitgliedstaaten und der
vorgeschriebenen Einstimmigkeit bei der Beschlußfassung weder verhandelbar noch kompromißfähig. Sie ist
einfach absurd.
({26})
Es geht Ihnen, die Sie eine solche Politik betreiben,
überhaupt nicht um die Sache. Ihnen geht es darum, im
Vorfeld der Europawahlen populistische Stimmung gegen Brüssel zu machen. Aus wahltaktischen Gründen
soll antieuropäisches Klima erzeugt werden. Wir werden
das zu verhindern wissen.
({27})
Wir werden morgen im Deutschen Bundestag eine
Entscheidung zu treffen haben, die sich aus den Ergebnissen von Rambouillet ergibt. Ich höre, daß es in der
Union Überlegungen gibt, dem Vorschlag der Bundesregierung nicht zuzustimmen.
({28})
Das wäre bezeichnend und ein schlimmes Zeichen. Sie
werden die Verantwortung dafür haben.
Nach den schrecklichen Greueln der Vergangenheit
im Kosovo sind die Aussichten auf einen Friedensvertrag, die am Ende der Verhandlungen in Rambouillet erreicht worden sind, ein hoffnungsvolles Zeichen. Wir
setzen darauf, daß die politische und militärische Entschlossenheit des Westens die Unterschriften beider
Seiten am 15. März möglich machen wird. Um die Implementierung der Vereinbarungen sicherzustellen, kann
auf eine von der NATO geführte Friedenstruppe nicht
verzichtet werden. Die Bundesregierung hat zu Recht
den unserer Verantwortung angemessenen Truppenteil
in Aussicht gestellt. Wir werden morgen über diesen
Antrag zu entscheiden haben.
Wir wissen alle, daß dieser Einsatz der bisher gefährdungsträchtigste für unsere Soldaten sein wird. Wir
schicken sie nicht leichtfertig, sondern um weiteres
Blutvergießen und weitere Massaker zu verhindern. Der
Balkan darf nicht zum Sprengsatz für Europa werden.
({29})
Ich bitte das Haus darum, dem Antrag eine breite Zustimmung zu geben, damit sich die Bundeswehr und die
Soldaten der vollen politischen Unterstützung sicher
sein können.
({30})
Wie in der Europapolitik gibt die CSU auch in der
Einbürgerungsdebatte den Ton an, mit viel Blech und
ohne jedes Piano. Dort sitzen die Strategen der gesellschaftlichen Polarisierung. Verschämt schauen manche
Christdemokraten wie Herr Rühe, Frau Süssmuth oder
Herr Blüm weg. Der CDU-Vorsitzende muß auch hier
mitspielen; dirigieren darf er schon lange nicht mehr.
({31})
Die Union habe mit ihrer Unterschriftenaktion dem Volk
aufs Maul geschaut, haben Sie beim politischen
Aschermittwoch in Passau behauptet. Was sie wirklich
getan hat, haben Vertreter der beiden christlichen Kirchen beim sozialpolitischen Aschermittwoch in Essen
auf den Punkt gebracht: Mit dieser Aktion ist unser Volk
emotionalisiert worden. Sie haben Ängste geschürt. Sie
haben einen Ungeist aus der Flasche gelassen und keine
Ahnung, wie Sie ihn wieder einfangen können.
({32})
Wir wissen allerdings: Viele, die unterschrieben haben, haben nicht das gewollt, was Sie daraus gemacht
haben. Was von Ihrer Aktion zu halten ist, hat der hessische CDU-Politiker Michel Friedman, Mitglied des
Zentralrates der Juden in Deutschland, auf den Punkt
gebracht. Er sagte: „Es ist doch der Gipfel der Heuchelei, wenn die CDU behauptet, diese Unterschriftenaktion
im Interesse der Ausländer durchzuführen.“
({33})
Es wäre kaum auszudenken, was passieren würde,
wenn zwei Wellen - Ihre Unterschriftenaktion und die
Gewalt der PKK-Anhänger - kumulieren würden: ein
Dammbruch an Ausländerfeindlichkeit zum Schaden der
übergroßen Mehrheit ausländischer Mitbürger, die hier
in Frieden leben und arbeiten.
({34})
Die Union hat in der Einbürgerungsdebatte die Gesellschaft emotionalisiert und aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie hat unwidersprochen zugelassen, daß notorische, rechtsextreme Ausländerfeinde von NPD und
DVU mit ihr paktieren.
({35})
Wir wollen das Thema Integration wieder zu einem
Thema der Mitte der Gesellschaft machen; deshalb setzen wir auch in diesem Haus auf einen Pakt mit den Besonnenen. Draußen im Lande, in den gesellschaftlichen
Gruppen, stehen die Gewerkschaften und Kirchen an
unserer Seite. Ich schließe mich dem an, was der Präses
der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Manfred Kock, dazu gesagt hat: In unserem eigenen Interesse dürfen wir es nicht zulassen, daß ein erheblicher
Teil unserer Bevölkerung auf Dauer von gleichberechtigter politischer Teilhabe ausgeschlossen wird.
({36})
Eine moderne, weltoffene Gesellschaft braucht auch ein
modernes Staatsbürgerschaftsrecht und keines aus den
Zeiten von Kaiser Wilhelm.
({37})
Verbal sprechen auch Sie - sogar Herr Stoiber - von
Integration. Aber was haben Sie denn in den letzten 16
Jahren getan? Die gespaltenen Gesellschaften, die in unseren Städten entstanden sind, sind doch die Folgen Ihrer Versäumnisse. Wer die Hand zum Mittun nicht
reicht, der darf sich nicht wundern, wenn sich die anderen in ihre Gettos bis hin zur realen Gefahr eines Fundamentalismus zurückziehen.
({38})
Wer ausländische Jugendliche wie das fünfte Rad am
Wagen behandelt, der produziert Gewalt und Aggressionen, nicht aber Verständnis und Mitverantwortung. Diesen Menschen wollen und müssen wir Teilhabe anbieten. Das ist unsere Pflicht, der wir nachkommen.
({39})
Aus der bisherigen Energiepolitik wollen wir nicht
einfach irgendwo aussteigen; vielmehr wollen wir umsteigen - weg vom Risikoträger Atom, hin zu sicheren
und umweltverträglichen Energieträgern, hin zu intelligenten Spartechniken, die den Energieverbrauch drastisch senken. Darin besteht das neue Gleichgewicht
zwischen Ökonomie und Ökologie, das unser Land
braucht.
({40})
Wir wollen endlich den Einstieg in eine sparsame, effiziente und ökologisch sinnvolle Energieversorgung.
Dazu gehört zuerst das Ende einer Energieversorgung,
die große Mengen hochgiftigen Plutoniums produziert,
eines Stoffes, der nach 24 000 Jahren gerade einmal die
Hälfte seiner tödlichen Strahlung verloren hat und erst
nach weit über 200 000 Jahren als ungefährlich gilt.
Wir werden im nächsten Jahr 8 000 Tonnen hochradioaktiven Müll haben. Er bleibt um ein vielfaches länger hochgefährlich als der Zeitraum, den wir geschichtlich überhaupt erfassen können. Wir kippen diesen Müll
unseren Nachkommen nicht vor die Tür und verurteilen
sie nicht, die Giftbombe zu bewachen; vielmehr nehmen
wir jetzt unsere Verantwortung wahr. Sie haben das immer verdrängt.
({41})
Ebenso geht es auch nicht, daß die Bundesländer im
Süden, die Atomstrom produzieren und lauthals für ihn
werben, die Beseitigung des Mülls dem Norden überlassen. Das Sankt-Florians-Prinzip der Bayern werden wir
nicht akzeptieren, sehr verehrter Herr Ministerpräsident.
({42})
Wir wollen die Nutzung der Kernenergie in
Deutschland Stück für Stück beenden. Jahreszahlen sind
dabei weniger wichtig als die Tatsache, daß das Signal
für den konsequenten Ausstieg und den Einstieg in eine
neue, sichere und verantwortbare Energieversorgung gesetzt wurde.
({43})
Unser Signal ist: Das Ob des Ausstiegs ist entscheidend,
er findet statt; das Wie und Wann werden wir sorgsam
besprechen und in Ruhe klären. Das ist der richtige Weg
zur Energiewende.
({44})
Ich sprach davon, daß das Gleichgewicht in unserem
Land wiederhergestellt werden muß. Das gilt auch für
die Förderung von Innovation, Forschung und Wissenschaft - mit einem Wort: für die Förderung von Investitionen in die Zukunft. Auch hier haben Sie die Aufgaben
sträflich vernachlässigt und am falschen Ende gespart.
Wir korrigieren das und legen zu. Schon jetzt, in diesem
Haushalt, stellen wir die Weichen neu. Wir reden nicht
bloß über Zukunft, sondern wir stocken die Mittel für
Zukunftsinvestitionen im Haushalt um über 1 Milliarde
DM auf.
({45})
Von den Haushalts-Einzelplänen für Forschung und
Bildung und für Wirtschaft und Technologie kann auch
eine Verbindungslinie zum Zukunftsthema Energie gezogen werden: Wir schaffen mit dem 100 000-DächerProgramm für Solarenergie neue Ansätze für eine sichere und umweltfreundliche Energieversorgung. Das stärkt
auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen in diesem Zukunftsmarkt.
({46})
Unsere Programme zur Stärkung der Innovationsfähigkeit vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen sind zukunftsorientiert, denn nur durch eine konsequente Modernisierung kann sich Deutschland im weltweiten Wettbewerb behaupten. Was der Staat dabei tun
kann, wird er tun. Dafür werden wir sorgen.
Wir setzen auf eine Politik des Zusammenführens,
des Ausgleichs und der Integration. Wir wollen Blockaden auflösen, Menschen aus verschiedenen Interessengruppen an einen Tisch bringen und gemeinsam nach
Lösungen suchen. Wir wollen das Land wieder ins
Gleichgewicht bringen. Dieses Vorhaben hat Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem „Bündnis für Arbeit,
Ausbildung und Beschäftigung“ angestoßen.
({47})
Bei der Bewertung dieses „Bündnisses für Arbeit“ kann
ich die Bemerkung meines Vorredners gut verstehen,
mit der er dieses herabsetzen und herunterreden möchte;
denn es war doch Ihr schwerster Fehler in der vergangenen Legislaturperiode, daß Sie 1996 diesen Versuch haben platzen lassen, weil Sie sich einseitig auf die Seite
der Arbeitgeber gestellt haben.
({48})
Wer wie der sächsische Ministerpräsident die Suche
nach Konsens als Nonsens abtut, bekommt die Realitäten rings um sich herum schlichtweg nicht mehr mit. Ein
Blick zu den Nachbarn, zu den Niederlanden, nach Irland oder Schweden, zeigt: Die positive Beschäftigungsbilanz dort ist maßgeblich das Ergebnis von Dreiecksgesprächen zwischen Regierung, Gewerkschaften
und Vertretern der Arbeitgeber. Genau dieses wollen
auch wir in Deutschland tun.
({49})
Die Alternative zu Konsens und Reform sind Stagnation
und Lethargie. Davon hatten wir in den letzten 16 Jahren
nun wahrlich mehr als genug.
({50})
Die Stagnation muß überwunden werden. Ich begrüße
es ausdrücklich, daß sich Arbeitgeberpräsident Dieter
Hundt vor der morgigen zweiten Gesprächsrunde engagiert zu der Bündnisrunde bekannt hat. Das ist eine erfreuliche Wendung, die im Herbst jedenfalls so nicht
vorauszusehen war. Ich begrüße es genauso, daß die
Gewerkschaften zum Bündnis stehen. Deshalb bin ich
zuversichtlich, daß das Bündnis ein Erfolg wird und daß
Vernunft und Verantwortung vor Egoismus gehen. Dann
mögen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren,
gefälligst in Ihrer Motzecke bleiben.
({51})
Schon nach den ersten Wochen hat sich das ZweiMilliarden-Sofortprogramm als eine echte Chance für
arbeitslose Jugendliche gezeigt.
({52})
Bereits jetzt haben die Arbeitsämter 64 000 Jugendlichen konkrete Angebote gemacht. Dieses Tempo, mit
dem hier gearbeitet wird, unterstreicht, wozu die Arbeitsverwaltung in der Lage ist. Voraussetzung ist allerdings, daß die Politik ihr den Raum zu einer aktiven Beschäftigungsförderung läßt, statt ihr nur die passive
Verwaltung der Arbeitslosigkeit zu übertragen.
({53})
Wer dieses Handeln, so wie mein Vorredner, als Ruhigstellen bezeichnet,
({54})
versündigt sich an allen jungen Männern und Frauen, die
durch dieses Programm eine Chance bekommen. Sie
sollten sich dafür schämen!
({55})
Mehr Arbeit schaffen, das Krebsübel Arbeitslosigkeit
bekämpfen - das ist nicht nur der Lackmustest für die
Regierung, die mit diesem Ziel angetreten ist, sondern
das ist auch ein Zeichen für die Modernisierung von
Wirtschaft und Gesellschaft. Jeder in unserer Gesellschaft kann seinen Teil dazu beitragen. Wir werden dafür die Rahmenbedingungen schaffen.
Wir werden Reformen erarbeiten, die fair gegenüber
allen sind, die die Leistungen erbringen müssen, und die
fair gegenüber denen sind, die auf Leistungen angewiesen sind. Das „Bündnis für Arbeit“ ist das Symbol einer
auf Dialog und Konsens ausgerichteten Neuorientierung
der Politik. Es ist aber nicht das einzige Beispiel.
Wir werden die Betroffenen in allen Bereichen besser
an den Entscheidungsfindungen beteiligen. Wir, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, haben vereinbart, uns auch
auf Bundesebene für Volksinitiativen, Volksbegehren
und Volksentscheide stark zu machen. Wir nehmen die
Menschen ernst; wir wollen mehr Mitbestimmung der
Bürger am Arbeitsplatz, im Umweltrecht und im Datenschutz. Wir stehen für eine Politik, die die Menschen
mitnimmt und die nicht über ihre Köpfe hinweg entscheidet.
({56})
Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, wir werden dem Land ein neues GleichgeDr. Peter Struck
wicht geben, das wir mit dem „Bündnis für Arbeit“, mit
der Erneuerung des Sozialstaates, mit einer Offensive
für Innovationen und mit einer ökologischen Modernisierung erreichen werden. Wir werden diesen Weg unbeirrt fortsetzen.
({57})
Für die F.D.P.Fraktion hat der Kollege Wolfgang Gerhardt das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wer die Presse in der letzten Zeit aufmerksam verfolgt hat - also nicht nur während der ersten hundert Tage der Regierung -, der
braucht nicht gläubiges Mitglied in einer der Oppositionsparteien zu sein, um klar sagen zu können: Der
Start war miserabel. Die Regierung hat nie deutlich
machen können, was sie eigentlich will; sie hat bisher
nur deutlich gemacht, was sie nicht will. Das geht in
die falsche Richtung los. Das gibt mehr Arbeitslose,
das kostet Deutschland Zeit und die junge Generation
die Zukunft.
({0})
Die Bundesregierung hat bisher gesagt, Herr Kollege
Struck, sie wolle keine Kürzungen im Sozialbereich, sie
wolle keine Einschnitte im Gesundheitswesen, sie wolle
keine Flexibilisierung am Arbeitsmarkt und sie wolle
keine Rentenreform, wie von der alten Koalition beschlossen. Aber allmählich dämmert es Herrn Riester,
daß das kein Konzept für die Zukunft sein kann. Sie
werden eine Flexibilisierung am Arbeitsmarkt brauchen,
Sie werden eine Rentenreform machen müssen, Sie
müssen Wahlmöglichkeiten im Gesundheitswesen
schaffen, Sie müssen deregulieren und flexibilisieren,
und Sie müssen eine Steuerreform mit deutlichen Steuersenkungen vorlegen, weil Sie sonst keine ökonomische Stabilität in Deutschland schaffen.
({1})
Ob es noch einige Tage dauert, bis Sie sich zu diesen
Erkenntnissen durchringen, mag dahingestellt bleiben.
Die Unglaubwürdigkeit Ihrer kompletten Wahlaussage
steht Ihnen schon heute auf die Stirn geschrieben, weil
Sie nichts von dem halten können, was Sie den Menschen versprochen haben. Sie haben die „Neue Mitte“
gröblich enttäuscht. Ihre Steuerreform richtet sich genau
auf die als Zielscheibe, die Sie im Wahlkampf als Ihre
Zielgruppe ausgemacht haben.
({2})
Das ist nicht nur ein Thema des Neigungsökonomen
aus dem Saarland, Herr Bundeskanzler, sondern das ist
auch Ihr Thema. Sie haben der „Neuen Mitte“ im Wahlkampf Jost Stollmann vorgezeigt. Er hat dann, als er die
Koalitionsvereinbarungen gesehen hat, einen Rückzieher
gemacht. Nun betreiben Sie eine Politik, die glatter
Wählerbetrug an der von Ihnen ausgerufenen „Neuen
Mitte“ ist. Das ist der Sachverhalt in der Bundesrepublik
Deutschland.
({3})
Für Sie gelten die schlichten Grundrechenarten wie
für mich auch. Wenn Sie die Rente auf dem jetzigen
Niveau halten wollen, müssen Sie entweder Steuern
oder Beiträge erhöhen. Dies hat Herrn Riester in den
letzten Tagen gedämmert. Aber den Wahlkampf haben
Sie mit den übelsten Vorwürfen, auch gegen meine Partei, die F.D.P., geführt: Wir seien drauf und dran, den
Rentnern ans Portemonnaie zu gehen. Wir waren drauf
und dran, eine neue Fairneß zwischen den Generationen
in Deutschland herzustellen, die Sie mutwillig zerstört
haben.
({4})
Sie haben im Wahlkampf angekündigt, daß es im Gesundheitswesen keine Zuzahlungen mehr geben solle.
Nachdem Sie die Regierungsverantwortung übernommen hatten, haben Sie festgestellt, daß Sie diese Wahlkampfzusage nicht halten können. Dann haben Sie eine
minimale Absenkung der Beiträge, je nach Packungsgröße um 1, 2 oder 3 DM, vorgenommen und die
Wahlmöglichkeiten in den Krankenversicherungssystemen beseitigt. Wenn Sie den Kostensteigerungen so begegnen wollen, ist das ungefähr so, als wenn Sie drei
Kanonenkugeln in einen Kochtopf legen, den Deckel
draufhalten und warten, bis es knallt. Die Kostensteigerungen im Gesundheitssystem kommen, entweder über
weitere Mehrwertsteuererhöhungen, Zuzahlungen, oder
Sie müssen die Beiträge erhöhen.
({5})
Sie mogeln sich jetzt vielleicht noch durch einige
Landtagswahlen. Aber für die zweite Hälfte dieses Jahres sage ich voraus, daß Sie vor deutlichen Beitragsoder Steuererhöhungen stehen und dies sagen müssen,
weil zwei mal zwei in Deutschland vier bleibt, auch
wenn Schröder regiert. Das müssen wir ganz deutlich
machen.
({6})
Ich muß jetzt, bevor ich mich äußere, erst einmal fragen: Gibt es einen neuen Stand bei den 630-DMVerträgen seit gestern?
({7})
Ich muß ja neue Mitarbeiter beschäftigen, damit alle
Wasserstandsmeldungen entgegengenommen werden
können!
({8})
Wenn es noch der Stand von gestern ist, dann möchte
ich Sie auffordern, mir, wenn Sie nachher reden, zu erklären, was es sozialpolitisch für einen Sinn macht, die
Ehefrau eines gutverdienenden Ehemannes nicht zur
Zahlungspflicht zu veranlassen, wohl aber die alleinerDr. Peter Struck
ziehende Mutter, die einen Job hat und sich etwas dazuverdient.
({9})
Wenn das sozialpolitisch für mich überzeugend begründet werden kann, dann spende ich Ihnen einen namhaften Betrag.
({10})
Das wird niemand können.
Nirgendwo zeigt sich besser als an diesem Beispiel,
daß die Sozialpolitik der SPD erstarrt, reguliert, kollektiv, einheitlich ist. Sie haben keine andere sozialpolitische Antwort in Deutschland als große Systeme: kollektiv abbuchen, kollektiv zuteilen. Das aber ist nicht die
Sozialpolitik der Zukunft. Dies wird an diesem kleinen
Beispiel, den 630-DM-Verträgen, auf die Hunderttausende von Menschen angewiesen sind, ganz deutlich.
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, vorher nicht Ministerpräsident gewesen wären, wenn Sie keine politische Erfahrung gehabt hätten, wenn Sie nicht wie auch
der Finanzminister die Haushalte gekannt hätten, dann
könnte man noch sagen: Na ja, der Mann muß sich in
diesem Amt erst einmal informieren. Sie aber wußten,
was 630-DM-Verträge sind, und kannten die Situation
bei der Rente. Sie kannten die Finanzierungsprobleme
im deutschen Gesundheitswesen. Sie kannten den
Attentismus in der Wirtschaft und wußten, daß eine
Steuerreform notwendig ist. Sie sind doch nicht in dieses
Amt gewählt worden, um darin erst ausgebildet zu werden. Sie mußten vorher wissen, um was es in der Bundesrepublik Deutschland geht.
({11})
Deshalb können Sie nicht von einem Tag auf den anderen die 630-DM-Verträge abzuhandeln versuchen und
dann immer neue Versionen in die Welt setzen. Es gibt
einige Millionen Menschen, die auf diese Einkommen
dringend angewiesen sind. Wir sind ihre Partner. Sie
sind ihre Gegner; Sie beeinträchtigen ihre Chancen.
({12})
Herr Kollege Struck, es kann doch niemand mehr behaupten, daß die Ökosteuer irgend etwas mit Ökologie
zu tun habe. Sie haben vorhin gesagt, Sie machten die
größte Steuerreform seit 1945. Sie betreiben das größte
Abkassieren der Bürger Deutschlands seit 1945.
({13})
Ich sage Ihnen, wo Sie abkassieren. Sie kassieren
auch bei denen ab, die Sie im Wahlkampf als Ihre
Schützlinge ausgegeben haben: Rentner und Arbeitslose
sind die Leidtragenden der Ökosteuer. Sie bezahlen dies.
Sie haben nur die vage Zusage, sie würden im Jahr 2002
steuerlich um 15 Milliarden DM entlastet, müssen aber
vorher deutlich mehr als 15 Milliarden DM an den Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland zahlen.
Die Entlastungszusage von 15 Milliarden DM durch die
Steuerreform ist ein Wählerbetrug. Das ist eine Politik,
die weder etwas mit sozial noch mit ökologisch, noch
mit gerecht, noch mit solidarisch, noch mit menschlich
zu tun hat. Das ist die Politik, von der die deutsche Sozialdemokratie als konservativste Truppe in Europa
glaubt, daß sie damit die Bundesrepublik Deutschland
beglücken wird. Sie beglückt unser Land nicht, sie wirft
es um Jahre zurück. Das zeigen Ihnen auch die öffentlichen Reaktionen.
({14})
Nehmen Sie nur die Innenpolitik, Herr Kollege
Struck.
({15})
Was habe ich dazu noch vor einigen Wochen von
Ihnen gehört? Wir brauchen die Opposition nicht, haben
Sie gesagt, wir haben allein die Mehrheit. Ich werfe
Ihnen nicht vor, daß Sie nun zu anderen Erkenntnissen
kommen mußten. Freiwillig aber ist dies nicht geschehen.
Herr Schlauch, da ich Sie sitzen sehe, sage ich Ihnen:
Klären Sie einmal in Ihrer Bundestagsfraktion ab, daß,
wenn die Sozialdemokratische Partei auf unser Optionsmodell zugeht, die Koalition in der Abstimmung
zusammenbleibt. Sie werden nicht umhinkommen, von
Ihrem Modell der Staatsangehörigkeit Abschied zu
nehmen. Wenn Sie wie wir anfangen, an die Kinder zu
denken und die doppelte Staatsangehörigkeit nicht als
Regelfall sehen, führt kein Weg an der Gesetzesinitiative des Landes Rheinland-Pfalz und an dem Gesetzesvorschlag der F.D.P.-Bundestagsfraktion vorbei,
({16})
und zwar aus folgendem Grund: Es kommt nicht nur
darauf an, zum Staatsangehörigkeitsrecht einen vernünftigen Vorschlag zu machen, sondern auch darauf,
daß es gesellschaftlich verankert wird, daß es also die
Gesellschaft akzeptiert. Das ist es, was Sie sträflichst
vernachlässigt haben.
({17})
Uns hilft doch die hehre Absicht nichts, wenn Sie ein
neues Staatsangehörigkeitsrecht vorlegen, das in Ihren
eigenen Reihen umstritten ist, auf Grund dessen Ihnen
die eigenen Wähler davonlaufen und das von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Das nutzt weder Ausländern
noch der deutschen Bevölkerung. Deshalb müssen wir
uns jetzt entscheiden. Vor allem Sie müssen sich entscheiden. Gehen Sie von Ihren Vorstellungen weg in
Richtung einer Modifizierung! Es entscheidet nicht die
Höhe des Wahlergebnisses, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, es entscheidet die Qualität des Vorschlags.
Und wir haben den qualitativ besten Vorschlag dazu
gemacht.
(Beifall bei der F.D.P.]
In der Innenpolitik können Sie sich ansonsten auf ein
recht moderates Vorgehen berufen. Aber in dem Bereich, in dem Kontinuität am meisten erforderlich ist,
und zwar in der deutschen Außen- und Europapolitik,
haben Sie einen Scherbenhaufen angerichtet, der seinesgleichen sucht. Es reicht doch nicht, daß der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland in Person, in
Kleidung, in Manieren und in Art und Weise Kontinuität
symbolisiert. Während des halben Jahres der deutschen
Ratspräsidentschaft hat Herr Trittin durch sein überhebliches Auftreten, besonders in unserem Nachbarland
Frankreich, so viel Porzellan zerschlagen, daß Sie alle
Ihre Kräfte mobilisieren müssen, um die Ratspräsidentschaft einigermaßen zum Erfolg zu führen.
({18})
In der gleichen Zeit hat der Bundesfinanzminister, der
ja glaubt, die Weisheit in dieser Welt gepachtet zu haben, seinen Kollegen unendlich lange Volkshochschulvorträge gehalten, die sie nahezu ermüdet haben und die
auf dem Petersberg dazu geführt haben, daß der amerikanische Finanzminister endlich einmal gefragt hat:
Glaubt ihr denn, am deutschen Wesen des sozialdemokratischen Finanzministers könnte die Welt genesen?
Die glatte Bauchlandung in seiner Zielzone, das Herummäkeln an der Unabhängigkeit der Bundesbank und
das Herummäkeln an der Europäischen Zentralbank, das
bringt doch unsere Nachbarländer geradezu in Verwirrung. Die Europapolitik beinhaltet doch derzeit: Give
me my money back, keine schnelle Osterweiterung,
Wechselkurszielzonen, ein bißchen Herumkritisieren an
der EZB - das ist eine ganz neue deutsche Art - und ansonsten die Erwartung, daß wir von allen profitieren und
daß das alles gut läuft.
Es gab noch keine deutsche Bundesregierung, die
eine so wenig ambitionierte Europapolitik gemacht hat
wie die unter Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({19})
Ich will Ihnen das an einem Punkt, der für meine
Partei wichtig ist, ganz emotional vorhalten.
({20})
Ich weiß, daß Sie, Herr Bundeskanzler, Herr
Schlauch, Herr Fischer und übrigens auch Herr Lafontaine, mit der deutschen Wiedervereinigung Probleme
hatten. Man kann Ihnen Ihre entsprechenden Aussagen
vorhalten, die damals von Ihnen zitierfähig vorgebracht
wurden. Aber daß ausgerechnet Sie als Bundeskanzler
und als Bundesaußenminister die Länder vertrösten, die
die Wiedervereinigung Deutschlands befördert haben,
dafür sollten Sie sich schämen. Das halten wir für unerträglich.
({21})
Sie vernachlässigen mit Ihrer Europapolitik ein Konstituens deutscher Politik, das genau zu den Grundsäulen
der Bundesrepublik Deutschland geführt hat, die uns aus
der größten Katastrophe der deutschen Geschichte herausgeführt haben. Vergessen Sie jetzt meine kritischen
Einwände zu den 630-DM-Verträgen, zu Ihren dilettantischen Versuchen, die Rente doch noch zu reformieren,
und zu Ihren Versuchen - die Sie wahrscheinlich im
Herbst machen werden - zurückgenommene Reformen
doch wieder einigermaßen nach vorne zu bringen. Das
mag unseren innenpolitischen Streitigkeiten unterliegen.
Aber die Unverläßlichkeit, die Sprunghaftigkeit und die
unhistorische Dimension Ihrer Europapolitik sind es, die
unsere Nachbarn bestürzen und mich besorgt machen.
Ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
hier auch vertreten durch den Sprecher der SPDFraktion, mag - mit kleiner innenpolitischer Münze mit uns einen Schlagabtausch über das führen, was wir
früher gemacht oder nicht gemacht haben und was Sie
jetzt machen wollen, aber noch nicht gemacht haben.
Aber im Kernpunkt der deutschen Außen-, Sicherheitsund Europapolitik zieht die Opposition nicht nur das
Florett. Für den Fall, daß Sie Ihre Politik so fortsetzen,
indem Sie keine Ambitionen auf die Osterweiterung haben, nur mit der nationalen Karte - das heißt mit der
Forderung nach Rückgabe von zuviel gezahltem Geld
und dem Vorwurf an Herrn Stoiber, er ziehe die nationale Karte, obwohl Sie sie dauernd ziehen - arbeiten
und unseren Nachbarn sagen, man wolle aus der Kernenergie aussteigen, völkerrechtliche Verträge bzw.
Euratom interessierten uns einen Dreck, Entschädigungszahlungen würden nicht geleistet, aber ansonsten
wolle man alles so haben, daß es deutschen Interessen
diene, sage ich Ihnen voraus, daß Sie am Ende mit leeren Händen dastehen werden.
Es ist nicht nur eine nationale Frage, ob Sie mit leeren Händen dastehen werden. Sie werden am Ende der
Ratspräsidentschaft internationales Vertrauen zerstört
haben, und das kann uns in der Bundesrepublik
Deutschland nicht gleichgültig sein.
({22})
Die Bildungsministerin - das haben Sie im Wahlkampf doch auch angekündigt - hat der jungen Generation erklärt: Wir sind eure Vertreter; wir sind für ein
Verbot von Studiengebühren; wir verdoppeln den Bildungsetat. Es war gestern schon Gegenstand der Aussprache, daß die Sozialdemokraten mit den Grundrechenarten ihre Schwierigkeiten haben. Auch wenn Sie es
noch so sehr umrechnen: 1 Milliarde DM stellt in diesem Jahr keine Verdoppelung dar; wenn Sie bei den
Steigerungsraten bleiben, ist das auch in vier Jahren keine Verdoppelung.
Mich interessiert nicht nur das, mich interessiert die
Glaubwürdigkeit Ihrer Aussage - Sie waren Ministerpräsident in Niedersachsen -, für ein Verbot von Studiengebühren eintreten zu wollen. In Ihrem Land ist eine
Art von Studiengebühren eingeführt worden; ob man sie
„Verwaltungskosten“ nennen kann, mag dahingestellt
bleiben. Der Gesetzentwurf zum Verbot von Studiengebühren, den Sie der jungen Generation versprochen haben - das war aus meiner Sicht völlig falsch -, wird
nicht eingebracht. Ihre Bundesbildungsministerin ringt
um ein Verwaltungsabkommen. Das hätten Sie schon in
der letzten Legislaturperiode haben können; das war der
Vorschlag von CDU/CSU und F.D.P. im Vermittlungsausschuß.
Das zeigt aber die Struktur Ihres Denkens. Sie wollen
- so denken Sie - alles flächendeckend, einheitlich und
kollektiv in Deutschland regeln.
({23})
Warum überlassen Sie den Hochschulen nicht die
Entscheidung über ihre Finanzierung? Sie könnten sich
doch dann ruhig zurücklehnen, wenn alle so denken wie
Sie: Dann werden doch die Studenten diese teuren Lehranstalten verlassen und zu den kostenfreien der SPD gehen. Nur, ich sage Ihnen: Sie haben keine junge Generation vom Schlage der 68er vor sich. Diese Generation
legt Wert auf die Qualität des Angebots; sie ist eher bereit, Gebühren zu zahlen, wenn sie dafür zeitig zum Abschluß geführt wird.
({24})
Deshalb ist Ihr Denken so falsch.
Da Sie immer nach den Alternativen fragen, nenne
ich Ihnen sie auch: Vielfalt, Wettbewerb, kürzere Studienzeiten, Autonomie der Hochschulen, Grundhaushalt,
Eigenmittelwerbung, Drittmittel, eigene Finanzierungsvorstellungen. Wir sind gegen staatlich regulierte, vom
öffentlichen Dienstrecht überwölbte Hochschulen, deren
Haushalt von einer zentralen Instanz abgesegnet wurde
und die eine einheitliche und kollektive Hochschullandschaft darstellen.
Sie haben weiterhin gefragt, welche denn unsere Vorstellungen sind. Ich will sie Ihnen nennen. In bezug auf
das Staatsangehörigkeitsrecht kennen Sie unsere Vorstellungen. Der Gesetzentwurf liegt vor. Sie werden sich
auf ihn zubewegen müssen. Ansonsten haben Sie keine
Alternative.
Weil der Bundesinnenminister immer darüber redet
und das mit dem Satz belegt „Das Boot ist voll“, haben
wir einen Gesetzentwurf zur Einwanderungsbegrenzung
in der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt. Er ist beratungsfähig. Er sieht Mechanismen vor. Ihm können
Sie so zustimmen. Es ist ein guter Entwurf.
Sie haben eine Ökosteuer vorgelegt. Wir haben in unserem Gesetzentwurf ein anderes Steuermodell vorgelegt. Schaffen Sie die Kraftfahrzeugsteuer ab, und legen
Sie das, was Sie dadurch eingenommen haben, auf die
Mineralölsteuer um. Sie können dem Gesetzentwurf zustimmen; er hat eine ökologische Lenkungswirkung: Er
läßt die Menschen selbst entscheiden, wann sie Auto
fahren. Durch ihn soll nicht einfach nur abkassiert werden.
Sie fragen nach weiteren Alternativen. Im Mai, glaube ich, Herr Bundesfinanzminister, steht eine Steuerschätzung bevor. Wir sind bereit, den Entwurf eines
Steuergesetzes einzubringen, der eine Nettoentlastung
für alle vorsieht, Investitionsimpulse setzt und die Beschäftigung anregt.
({25})
Ich schlage Ihnen vor: Stellen Sie Ihren Gesetzentwurf so lange zurück, beraten Sie lieber auf der Grundlage unseres Entwurfs! Wenn für ihn eine Mehrheit gefunden werden könnte, würde das eine wesentlich bessere Steuerpolitik für Deutschland bedeuten.
({26})
Wir können auf allen Feldern eine Alternative zu Ihrer
Politik aufzeigen. Wir sind in der Lage, in den Kernfragen deutscher Politik, ob Europapolitik, Außenpolitik
oder Sicherheitspolitik, unsere Konturen aufzuzeigen,
und sind bereit, das, wo nötig, hier gemeinsam zu beschließen.
In Fragen des Arbeitsmarktes setzen Sie auf kollektive Systeme; Sie sind gegen eine Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes, den Sie verriegeln und verrammeln
wollen. Wir dagegen können Gesetzentwürfe einbringen, die gerade eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
vorsehen. Das berühmte „Bündnis für Arbeit“ ist nicht
allein deshalb schon eine wichtige Veranstaltung, weil
es von Fernsehkameras festgehalten wird, Herr Bundeskanzler. Das „Bündnis für Arbeit“ hat nur dann einen
Sinn, wenn diejenigen, die am Tisch sitzen, in ihrem jeweiligen Bereich auch ihre Verantwortung wahrnehmen.
({27})
Die IG-Metall hat mit ihrer 6,5-Prozent-Lohnforderung - nach den entsprechenden Bemerkungen des
Finanzministers über das Ende der Bescheidenheit - ihre
Verantwortung nicht wahrgenommen, und jeder hier im
Haus weiß das. Der Schlichterspruch geht über den Produktivitätsfortschritt der deutschen Volkswirtschaft hinaus. Dieser Abschluß ist damit ein Abschluß für Arbeitsplatzbesitzer und gegen Arbeitslose.
({28})
Wenn man ein Bündnis für Arbeit will, dann muß
man diejenigen, die am Tisch sitzen, in ihren jeweiligen
Bereichen zur Verantwortung bringen. Da Sie, Herr
Bundeskanzler, mit am Tisch sitzen, ist es Ihre Aufgabe,
den Beteiligten deutlich zu machen, wie Sie die Rahmenbedingungen als verantwortlicher Bundeskanzler
setzen. Die Rahmenbedingungen eines Landes, das sich
im weltweiten Wettbewerb befindet, können nicht sein:
Ökosteuern, Mehrwertsteuererhöhung, Umschichtungen,
kleines Umverteilungsglück. Vielmehr können sie nur
lauten: deutliche Steuersenkungen, Beschäftigungsimpulse, Vertrauen in die Aktivität und Verantwortungsbereitschaft der Menschen.
({29})
Sie bieten keine vernünftigen Rahmenbedingungen, und
die Tarifvertragsparteien machen Abschlüsse, die der
Produktivität nicht gerecht werden, die Arbeitslosigkeit
eher erhöhen.
Das, was sich in diesem Frühjahr in bezug auf das,
worauf Sie Wert legen, vollzieht, zeigt es ja auch: Die
Arbeitslosenzahlen gehen nicht zurück, sondern steigen
an; Attentismus macht sich breit; wir warten zu, wir haben keine Traute. Das alles zeigt doch, daß Sie nicht wie der Kollege Struck sagt - glänzende Gesetzentwürfe
vorgelegt haben. Die erhöhte Arbeitslosigkeit ist eingetreten, weil sich in Deutschland niemand mehr im klaren
darüber ist, was Sie als Bundesregierung eigentlich
wollen.
({30})
Das haben Sie mit Ihrem Start erreicht.
Herr Bundeskanzler, Sie - und zwar Sie als Person tragen Verantwortung für die Politik. Sie verantworten
die Koalitionsvereinbarung, Sie verantworten die internationalen Belehrungsvorträge Ihres Finanzministers,
Sie verantworten den Elefanten im internationalen Porzellanladen Trittin, Sie verantworten die kümmerliche
Erhöhung des Bildungsetats,
({31})
das komplette Scheitern abgegebener Erklärungen.
Sie verantworten einen Zug von Politik, den sich eine
Mehrheit nicht erlauben kann: Es begann damit, daß der
Finanzminister leise Forderungen nach Umbesetzungen
im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vortrug. Es war doch nicht
so, daß man sich Sorgen machte, weil jemand aus Altersgründen ausschied.
({32})
Vielmehr hat dem Finanzminister dessen Position
nicht gepaßt. Er begann damit, die personelle Zusammensetzung langsam zu verändern, weil er sich über das
Herbstgutachten natürlich nicht freuen konnte.
Die Gesundheitsministerin veränderte die Zusammensetzung des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen - doch nicht, weil jemand die Pensionsgrenze erreicht hätte, sondern weil ihr das Votum zu der eingeleiteten Politik nicht gefiel. Herr Trittin löste die Reaktorsicherheitskommission auf. Die Kritik, die aus dem
Kanzleramt kam - das sei nicht mit dem Bundeskanzler
abgesprochen gewesen -, mögen sie unter sich ausmachen. Das ist nicht mein Interesse, ob das mit Ihnen abgesprochen war. Mich interessiert die Art und Weise.
Und mich interessiert, daß die Koalitionsvereinbarung
dazu führt, daß Sie im Zusammenhang mit der Wahl des
Bundespräsidenten den Grünen, damit sie an Ihrer Seite
bleiben, einen Vorschlag zur Besetzung der EU-Kommission gegönnt haben.
({33})
Eine Mehrheit kann nicht alles, und eine Mehrheit
darf nicht alles. Wer drauf und dran ist - durch Auflösung von Gremien -, sachverständige Kritiker mundtot
zu machen, der trifft auf unseren entschiedensten Widerstand im Deutschen Bundestag.
({34})
Dieser Vorgang ist bemerkenswert, weil Sie doch
immer auftreten als Verfechter der Vielfalt, der Reformen, des Fortschritts, der kritischen Stimmen. Sie betrachten sich doch geradezu als Anwalt einer kritischen
Öffentlichkeit. Ihnen hat doch sonst noch nicht einmal
das Prädikat Wissenschaftler gereicht. Nein, es mußte
ein „kritischer“ Wissenschaftler sein - so, als sei das
noch etwas besonders Bemerkenswertes. Da, wo Ihnen
jetzt Kritiker entgegentreten - die Ihnen beispielsweise
sagen, die globale Budgetierung im Gesundheitswesen
führe zu nichts -, nehmen Sie sich das nicht zu Herzen
und überlegen noch einmal, sondern schaffen die Kritiker ab. Da, wo Ihnen der Sachverständigenrat sagt, Sie
gehen einen völlig falschen Weg - in einer globalisierten Welt kann sich Deutschland nicht als Insel betrachten und nur auf Nachfrageimpulse setzen -, nehmen Sie
sich das nicht zu Herzen, sondern verändern dessen personelle Zusammensetzung. Da, wo eine Reaktorsicherheitskommission - die im übrigen, ob es sich um Kernenergiegegner oder -befürworter handelte, allein auf die
Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke verpflichtet
war - Ihnen etwas anderes sagt, als Sie meinen, lösen
Sie diese Kommission auf.
Das ist ein Stil, der in Deutschland nicht einreißen
darf. Die Opposition hat auch ein Wächteramt für die,
die nicht mit Ihrer Politik einverstanden sind, und diese
müssen wir vertreten.
({35})
Das ist auch mehr als eine Stilfrage; das ist ein Verlust
an Souveränität. Das ist absolut engstirnig, ein ganz
kleines Karo.
({36})
Aber so habe ich Sie eingeschätzt. Mich überrascht das
nicht. Das ist das Denken, das aus der alten 68er Generation kommt, die meint, sie hätte die Wahrheit gepachtet, könnte das Bildungssystem mit ihren kollektiven
Vorstellungen reformieren, könnte Gerechtigkeit in der
Welt durch staatliche Verteilungsmaßnahmen herstellen,
bräuchte nur genügend große kollektive Solidargemeinschaften und die soziale Sicherheit wäre gegeben. Das
ist nicht die Zukunft unseres Landes.
Ludwig Erhard hat 1953, als er seine revolutionären
Entscheidungen traf, in bemerkenswerter Weise im
„Bulletin“ der Bundesregierung geschrieben, damals
seien ihm viele entgegengetreten, die ihm gesagt hätten,
er könne so nicht entscheiden, er könne die Preisbindung
nicht aufheben, er könne nicht so schnell in eine freie
marktwirtschaftliche Ordnung führen. Man habe ihm
Rohstoffbilanzen und Außenhandelsbilanzen vorgelegt,
man habe ihm vorgetragen, das ginge alles so nicht.
Ludwig Erhard hat dann geschrieben, das, was man ihm
vortrage, sei „strukturell sklerotisches Denken“; denn
diese Persönlichkeiten - dazu gehört ihr Neigungsökonom aus dem Saarland - hätten niemals begriffen, daß
Menschen, denen man Entscheidungen überläßt, und vor
allem Menschen, denen man mehr vom Ertrag ihrer Leistung beläßt, volkswirtschaftlich und sozial für ein Land
durch eigene Anstrengungen mehr zustande bringen als
der Staat mit vorher bei den Menschen abkassiertem und
über seine Kanäle umverteiltem Geld.
({37})
Das ist das Denkmodell, das ich Ihnen entgegenstelle.
So einfach ist die Alternative.
Sie regieren mit der Vorstellung des Umverteilungsglücks und mit der Vorstellung von Gerechtigkeit, die
durch den Staat und große kollektive Solidargemeinschaften hergestellt werden soll. Wir glauben, daß ein
freiheitliches Land wieder wissen muß, wo die Quellen
seiner freiheitlichen Verfassung liegen. Da führt kein
Weg an eigener Verantwortungs- und Leistungsbereitschaft vorbei.
Ich meine, man soll auch seine eigene Regierungszeit
kritisch und in Verantwortung beleuchten. Daher muß
ich feststellen: Wir waren zu langsam. Wir hätten zügiger entscheiden müssen. Wir hätten schneller den Durchbruch zu Reformvorhaben schaffen müssen.
({38})
Wir waren zu zögerlich. Wir waren manchmal zu ängstlich. Aber nur couragierte Entscheidungen führen weiter. Das ist die Lehre aus langer, gemeinsamer Verantwortung, die offen ausgesprochen werden muß.
Aber diese Lehre ist für Deutschland immer noch
besser gewesen als der komplette Rückmarsch, den Sie
jetzt antreten, im übrigen als einzige sozialdemokratische Partei in Europa. Es ist ein Jammer, daß ausgerechnet Deutschland die strukturkonservativste Sozialdemokratie am Hals hat, die es in Europa gibt.
({39})
Dagegen anzugehen ist die Aufgabe der Opposition.
Ich sehe das mit großer Gelassenheit. Ich sage Ihnen
hier voraus: Sie werden nicht aus eigenen Wünschen
und selbst, wenn Sie das Parteiprogramm der SPD ändern - dazu haben Sie gar keine Kraft, Herr Bundeskanzler -, die Rückkehr antreten müssen, weil die Themen der Zeit gegen Sie gerichtet sein werden. Der Themendruck der Zeit läuft in die Richtung meiner Vorstellungen, die ich hier vorgetragen habe. Wir begegnen
uns ein zweites Mal - das sage ich Ihnen voraus -,
({40})
und zwar dann, wenn Sie die Rente reformieren und die
Gesundheitsreform wieder flexibler gestalten müssen,
wenn Sie vor Steuererhöhungen stehen und marode Systeme finanzieren müssen, die Sie nicht reformiert haben, wenn Sie im Laufe der EU-Ratspräsidentschaft erfahren, daß Sie jetzt den Kessel unter Dampf halten
müssen, und wenn Sie am Ende eine Regierungserklärung abgeben müssen, die lautet: „Wir haben einen Irrweg eingeschlagen. Ich bitte die Mitglieder des Bundestages, eine neue Regierungserklärung entgegenzunehmen. Wir haben uns jetzt zu mutiger Reformpolitik
entschlossen. Mit dem Althergebrachten geht das nicht
mehr so. Auf zu neuen Ufern!“ - Das werden Sie machen. Sie können das; das wissen wir. Aber bis dahin
haben wir zuviel Zeit verloren. Je schneller Sie es machen, desto besser für Deutschland.
Danke.
({41})
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Rezzo Schlauch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gerhardt, mich überraschen Sie und Ihre F.D.P.
nicht. In Rheinland-Pfalz sind Sie für die erleichterte
Einbürgerung - 3 000 Stimmen über den Durst in Hessen, dann schmeißen Sie sich ohne zu Zögern an die
Seite von Stoibers Sendboten, der auf übelste Weise gegen jede Form von Doppelstaatlichkeit polemisiert hat
und der Ihnen in Hessen jede Reform versagt. In Bonn
schließlich sind Sie für ein starkes Sowohl-Als-auch.
Herr Gerhardt, eine Partei, die für alles offen ist, ist für
mich nicht ganz dicht.
({0})
Ich kann Ihnen ja Ihre 5,1 Prozent gönnen. Aus meiner
Erfahrung mit 6,7 Prozent wünsche ich Ihnen viel Spaß
in Hessen!
({1})
Wir haben in Hessen verloren - das ist richtig -, und
zwar an diesem im wahrsten Sinne schwarzen Sonntag.
Wir nehmen diesen Warnschuß ernst, wir nehmen ihn
nicht auf die leichte Schulter, und wir haben die Bürgerinnen und Bürger an diesem Punkt verstanden. Wir als
Grüne sollten als allererste davon lernen; wir müssen
insgesamt lernen, unsere Arbeit in Bonn besser zu tun.
({2})
Eines werden wir mit Sicherheit nicht: Wir werden nie
so langweilig, nie so statisch und nie so rückwärtsgewandt werden wie die alte Regierung.
({3})
Herr Bundeskanzler, Sie haben neulich gesagt, Sie
seien der „Kanzler aller Autos“. Wenn Sie der „Kanzler
aller Autos“ sind, dann sind wir Grünen der ADAC. Wir
werden mithelfen, den Reformstau aufzulösen.
({4})
Meine Damen und Herren, wo gehobelt wird, da fallen Späne; das wissen wir alle. Das ist allemal besser,
als wenn die Regierungswerkstatt nur ab und zu von
dem Regierungsvorsteher besucht wird und dann geschaut wird, ob alle noch gut schlafen, der Staub des
Stillstands aber liegenbleibt.
({5})
Das war das System von Schwarzgelb. Die Regierung
Fischer und Schröder geht die Probleme an.
({6})
Wir werden - und wir haben es schon - den Staub des
Stillstands wegfegen und werden die Regierungswerkstatt wieder in Fahrt bringen.
({7})
Genießen Sie also Ihren hessischen Triumph, solange
Sie noch können. Denn eins ist sicher: Diese Regierung
ist nicht am Ende; wir fangen erst an!
({8})
Herr Schäuble, Sie lachen. Bündnis 90/Die Grünen
war nicht der einzige Verlierer der Hessenwahl. Die
Wahl hatte noch einen Verlierer, und das sind Sie, Herr
Schäuble. Am Wahlabend frohlockten Sie noch, Sie seien noch nie so stark gewesen. Das sei Ihnen an diesem
Abend gegönnt! Schaut man aber genauer hin, so haben
nicht Sie, sondern hat Stoibers Sendbote die Wahl in
Hessen gewonnen.
({9})
Die Wahl hatte ein eindeutiges Ergebnis, das wir heute
besichtigen können: Künftig gibt es bei Ihnen mehr
Stoiber und weniger Schäuble.
({10})
Herr Schäuble, wer mit Herrn Stoiber zusammen in der
ersten Reihe sitzt, der sitzt - das kann Ihnen Herr Waigel gut erzählen - sehr bald in der zweiten Reihe.
({11})
Vorbei sind die Zeiten, in denen Sie, Herr Schäuble,
in der Rolle des dialogoffenen Konservativen glänzen
konnten. Ihre Unterschriftenkampagne hat die Bevölkerung gespalten, und der Riß geht mitten durch Ihre eigenen Reihen.
({12})
Herr Schäuble weiß aus Baden-Württemberg, daß dort
die Unterschriftenlisten in den Kreisgeschäftsstellen der
CDU vergammeln. Sie haben eine Lawine losgetreten,
die donnernd zwischen Ihnen und der „Neuen Mitte“
niedergegangen ist.
({13})
Sie haben sich rechts davon gestellt, und dort sitzen Sie
fest.
({14})
Sie werden sie auch nicht zurückgewinnen, wenn Sie
die Kurdenkrawalle instrumentalisieren, wie Sie es in
der letzten Woche getan haben. Sie werden sie insbesondere nicht vor dem scheinheiligen Hintergrund zurückgewinnen, daß Ihre Regierung mit der PKK paktiert
hat und sich Abgeordnete von Ihnen mit Herrn Öcalan
haben ablichten lassen.
({15})
- Herr Lummer hat sich mit Herrn Öcalan getroffen und
mit ihm paktiert.
Wir Grünen erteilen jeglicher Form von Gewalt eine
klare Absage, und unser Rechtsstaat hat alle Mittel, um
der Gewalt Herr zu werden. Diese werden wir anwenden.
Nur ein souveräner Staat ist ein starker Staat und nicht
derjenige, der immer nach schärferen Gesetzen ruft.
({16})
Wir werden die Kluft, die in den letzten Jahren zwischen Staat und Gesellschaft entstanden ist, wieder
schließen. Wir setzen auf Gesellschaftspolitik statt auf
puren Machterhalt und pure Machtpolitik.
({17})
Gesellschaftliche Diskussionen haben wieder Platz in
diesem Parlament, und das zeigt auch die Diskussion
über die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die
Sie 16 Jahre lang verschlafen haben.
({18})
Ein Staat, der große Teile seiner Bevölkerung von der
Partizipation ausschließt, hat sich ein Problem geschaffen. Meine Damen und Herren, Sie hatten bisher vier
Jahre lang Gelegenheit, beispielsweise mit unserem
Kollegen Herrn Özdemir zu sprechen und ihn zu erleben. Ich kann nur sagen: Die Menschen, die hier geboren sind und dauerhaft hier leben, sind doch ein Gewinn
für diese Gesellschaft und dieses Parlament. Wir sollten
sie in diesem Land willkommen heißen und ihre Einbürgerung erleichtern, statt sie wegzudrücken. Vielleicht
verdrängen Sie das aber nur deshalb, weil es mehr Menschen wie Herrn Özdemir gibt
({19})
und Sie vor solchen Menschen möglicherweise Angst
haben.
({20})
Dabei ist doch die doppelte Staatsbürgerschaft Herr Gerhardt, das wissen Sie doch ganz genau - nie ein
Ziel für uns gewesen,
({21})
sondern nur eine Übergangsform. Sie war doch kein
Selbstzweck. Ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel, das Sie
wahrscheinlich kennen.
Ich komme aus Stuttgart, und dort gibt es eine Firma,
die früher Daimler-Benz hieß. Heute heißt diese Firma
Daimler-Chrysler. Ist das jetzt eine deutsche Firma, ist
es eine amerikanische Firma? In der Wirtschaft interessiert der Status dieser Firma keinen Menschen.
({22})
Was für die Wirtschaft gilt, muß doch erst recht für die
Menschen gelten. Wir werden unsere Politik für die
Menschen machen.
({23})
Jetzt frage ich Sie: Was ist für das außenpolitische
Ansehen unseres Landes besser: eine Regierung, die
nach außen immer Weltoffenheit gepredigt und im Innern nichts, aber auch gar nichts dafür getan hat, oder
eine Regierung, in der Innen- und Außenpolitik im Einklang stehen? Ich sehe es Ihnen an, Herr Gerhardt, und
merke es, wenn Sie hier reden, wie es Sie jeden Tag innerlich zerfrißt, daß nach nur 120 Tagen die ganze Welt
das F.D.P.-geführte Außenamt längst vergessen hat. Fischer ist frischer, Deutschland hat endlich wieder einen
Außenminister, der nicht nur redet, sondern auch weiß,
wovon er spricht.
({24})
Herr Schäuble, das kann man von Ihrer Fraktion leider
nicht sagen.
({25})
Herr Rühe, der ja nicht irgendwer, sondern Ihr Stellvertreter ist, sagt in der „Saarbrücker Zeitung“ vom 20.
Januar dieses Jahres: Fischer schielt auf die eigene Basis
anstatt auf die Toten im Kosovo. Das ist auf dem Hintergrund des Engagements unseres Außenministers ein
unglaublicher Vorgang, der an Schäbigkeit, Verlogenheit und Anstandslosigkeit nicht zu überbieten ist.
({26})
Ich fordere Sie auf - entweder ihn selbst oder Sie -,
sich für diese Aussage zu entschuldigen.
({27})
Zeigen Sie so, daß die CDU wieder zur außenpolitischen
Verantwortung unseres Landes steht und sich nicht davon verabschiedet. Ob Sie es wollen oder nicht - ich zitiere jetzt den geschätzten Kollegen Struck, der dies
sagte; dem ist nichts hinzuzufügen -: Fischer ist der beste Außenminister seit Willy Brandt.
({28})
- Ich weiß, daß Ihnen das weh tut.
Aber auch in einem anderen Bereich ist die Gesellschaft weiter als die Politik. Es ist der Bereich der dynamischen Beschäftigungsverhältnisse. Mit der Neuregelung der 630-DM-Jobs - das ist doch keine Frage hatten wir Schwierigkeiten. Aber diese Diskussion hat
uns gezeigt, daß diese 630-Mark-Regelung eben noch
viel zu statisch ist. Was wir nicht wollen, ist ein Entweder-Oder: Entweder keine soziale Sicherheit oder volle
Abgabenlast.
Angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen müssen wir
alles daransetzen, um Arbeitskraft zu mobilisieren. Der
Arbeitswille der Menschen darf nicht an unflexiblen
rechtlichen Lösungen scheitern. Wir stellen uns dieser
Herausforderung. Wir wollen dabei mehrere Fliegen mit
einer Klappe schlagen: Wir wollen neue Impulse für den
Arbeitsmarkt, neue Chancen für Niedrigqualifizierte und
neue Möglichkeiten für Eltern, Familie und Beruf miteinander vereinbaren. Die dynamischen Beschäftigungsverhältnisse müssen Sprungbrett in den statt Rutschbahn
aus dem Arbeitsmarkt werden.
Bislang gibt es dazu viele Modelle und viele Tabus.
Es gilt, die Modelle auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen und die Tabus zu überwinden. Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren, haben wir im Wahlkampf gesagt. Diese Leitlinie haben wir noch nicht ganz ausgefüllt. Im Bereich der dynamischen Beschäftigungsverhältnisse haben wir die Chance und stehen wir in der
Pflicht, diesen Anspruch auf der Grundlage europäischer
Arbeitskultur auch zu verwirklichen.
({29})
Noch an einem anderen Thema zeigt sich, warum die
Regierung von gestern die Opposition von heute ist. Ich
spreche von der Energiepolitik. Über Jahre haben CDU
und F.D.P. eine Energiepolitik gegen die Interessen der
Bevölkerung betrieben. Sie, Frau Merkel - ich sehe sie
gerade nicht, sie war vorhin da -, haben die Castortransporte regelrecht inszeniert, um die Gesellschaft zu spalten, um den starken Staat mit Tausenden von Polizeibeamten zu exekutieren, ohne Not und ohne Notwendigkeit.
({30})
Mit dieser Politik ist Schluß. Wir setzen auf eine neue
Energiepolitik, die nicht gegen, sondern für die und mit
der Gesellschaft betrieben wird. Die neue Bundesregierung wird die Nutzung der Atomkraft beenden. Es ist
nicht mehr die Frage, ob, sondern nur noch die Frage,
wie ausgestiegen wird. Dabei gibt es auf der Seite der
Atomindustrie, die keineswegs nur mit einer Stimme
spricht, sowohl Falken als auch Tauben. Dieser Teil des
Hauses scheint sich offensichtlich mit den Falken verbinden zu wollen. Wir sind allerdings verläßliche Partner, Herr Bundeskanzler, gemeinsam mit unserem Umweltminister Trittin.
({31})
- Ich weiß, daß es Ihnen nicht paßt, wenn wir mit den
reformwilligen Menschen in der Atomwirtschaft Konsensgespräche führen.
({32})
Wir jedenfalls wollen mit diesen reformwilligen Kräften
in der Frage der Restlaufzeiten und der Wiederaufbereitung zu akzeptablen Ergebnissen kommen. Allerdings
erwarten wir dann genauso die Unterstützung, wenn wir
an den Falken wie Ihnen scheitern sollten und im Bundestag eine gesetzliche Regelung beraten und verabschieden müßten.
Ich appelliere an alle, die in den letzten Jahren mit
uns für den Ausstieg aus der Atomkraft gekämpft haben:
Auch wenn wir einen längeren Weg gehen müssen, werden wir am Ziel ankommen. Bei uns wird der Castor
nämlich aufs Abstellgleis gestellt.
Die Atomkraft ist ja nicht nur gesellschaftlich, sondern
auch wirtschaftlich gescheitert. Sie von der Opposition
tragen die Verantwortung beispielsweise dafür, daß die
Menschen in den neuen Ländern von den Strommonopolisten abgezockt werden. Es ist doch kein Grund ersichtlich, daß die Menschen in den neuen Ländern 20 Prozent
mehr für ihren Strom zahlen als im Westen.
({33})
Die Ängste der Beschäftigten in der Atomindustrie
und deren Familien lassen uns nicht kalt. Durch die Förderung neuer Energietechnologien werden wir ungleich
mehr zukunftssichere Jobs schaffen. Wir schaffen das
weltweit eindrucksvollste Programm zur Förderung der
Sonnenenergie. Wo war denn da der Herr Rexrodt? Er
hat doch in dieser Frage acht oder zehn Jahre lang geschlafen. Wir schaffen damit neue Anreize für Zukunftsmärkte und Jobs.
({34})
Diese neue Energiepolitik hat einen klaren Gewinner
in der Wirtschaft: den Mittelstand und das Handwerk in
allen Regionen.
({35})
An den Grünen scheitert eine Wirtschaftspolitik für diese „Neue Mitte“ nicht. Wir wissen um die Bedeutung
der kleinen und mittleren Unternehmen für die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Deshalb redet die neue rotgrüne Regierung nicht von Mittelstandspolitik, sondern sie macht sie. Das heißt in harten
Zahlen: Der Mittelstand wird im neuen Haushalt gegenüber den Ansätzen der Vorgängerregierung um 3,5 Milliarden DM entlastet.
({36})
Zum erstenmal seit Jahren sinken wieder die Lohnnebenkosten. Menschliche Arbeit wird für die Unternehmen endlich wieder billiger. Neue Beschäftigungsanreize entstehen.
Herr Schäuble und meine Damen und Herren von der
Opposition, vielleicht werden Sie sich in den nächsten
Tagen und Wochen schwarz ärgern, wenn Sie Anzeigen
mit der Überschrift „Unsere Antwort auf die Ökosteuer die Benzinsparmodelle“ in den Illustrierten lesen. Interessant ist dabei, daß diese Anzeigen nicht von einem deutschen, sondern von einem ausländischen Autokonzern geschaltet werden. Im Ausland hat man offensichtlich begriffen, was wir mit der Ökosteuer wollen. Sie haben es
nicht begriffen, oder Sie wollen es nicht begreifen.
({37})
Die Einkommensteuerreform entlastet kleine und
mittlere Einkommen. Die Verlierer Ihrer Politik erhalten
so endlich einen gerechten Ausgleich.
All dies schultern wir trotz der angespannten Haushaltslage, trotz der hohen Verschuldung und trotz des
Erbes der Vorgängerregierung. Wir haben in diesem
Haushalt auch erreicht, daß die Neuverschuldung sinkt.
Unser Ziel ist ein Haushalt im Gleichgewicht.
Die eigentliche Herausforderung liegt mit dem Haushalt 2000 allerdings noch vor uns. Mit diesem Haushalt
werden wir all das anpacken, was sie haben liegenlassen. Wir werden die Staatsfinanzen konsolidieren. Wir
werden die Unternehmensteuerreform endlich anpacken.
Wir werden die Renten auch für die jüngeren Generationen sichern. Wir werden die Gesundheitsreform auf den
Weg bringen.
Nicht zuletzt, sondern zuvorderst werden wir - jetzt
komme ich zu Ihnen, Herr Schäuble - das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts in Sachen Familie umsetzen.
({38})
Wer für ein Urteil verantwortlich ist, das besagt, daß
Familien in den letzten Jahren 22 Milliarden DM vorenthalten worden sind - dieses Urteil ist an Sie und nicht
an uns gegangen -, der sollte für meine Begriffe vom
Wert der Familie ganz bescheiden reden.
({39})
Diesen Beschluß haben wir Ihrer Politik zu verdanken, die über Jahre hinweg die materiellen und damit
auch die ideellen Grundlagen der Familien hat erodieren
lassen. Sie haben die Familie im Munde geführt, aber in
Ihrer praktischen Politik nichts anderes getan, als die
Deregulierung, die Globalisierung und Materialisierung
unserer Gesellschaft auf dem Rücken der Menschen und
ihrer Familien zu betreiben.
({40})
Die neue rotgrüne Politik wird mit dieser Politik zu Lasten der Menschen und der Familien Schluß machen.
Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zeigt
uns aber auch, wie tief das Mißtrauen in die Handlungsfähigkeit der alten Politik war. Das hohe Gericht schreibt
bis ins Detail vor, wie die finanziellen Verhältnisse von
Familien zu verbessern sind. Diesen Auftrag nehmen
wir an. Familie ist dabei für uns im Gegensatz zu Ihnen
allerdings nicht durch Ideologie verengt. Auch ohne
Trauschein gibt es, ob es die CDU will oder nicht,
am Ende des 20. Jahrhunderts Lebensgemeinschaften
mit Kindern, und auch die Alleinerziehenden sind
Familien.
({41})
Wir wollen jede Form von Familie fördern. Für uns
steht des Leben mit Kindern im Mittelpunkt und nicht
die juristisch wie auch immer geartete LebensgemeinRezzo Schlauch
schaft der Eltern. Wir sind nicht nur in diesem Punkt
das, meine Damen wnd Herren Kollegen von der
F.D.P., was Sie einmal waren: In diesem Punkt sind wir
liberal.
({42})
Heute ordnet die F.D.P. dem Primat des schlanken
Staates alles unter. Sie sind verliebt in ein Mißverständnis der Idee von Adam Smith, nämlich den Nachtwächterstaat. Es ist kein Zufall, Herr Gerhardt, daß das
Thema Kinder in Ihrer gesamten Rede nicht vorgekommen ist.
({43})
Ihre Politik ist ohne Herz, ist ohne Rationalität, sie ist
einfach nur kalt.
({44})
Wir vollziehen den Kurswechsel zugunsten der Familien. Dazu gehört, daß in der Haushalts- und Rentenpolitik die Lasten nicht weiter den kommenden Generationen aufgebürdet werden. Wir wollen einen neuen Generationenvertrag, der diesen Namen auch wieder verdient. Wir wollen einen Generationenvertrag, dessen
Grundlage die Generationengerechtigkeit ist.
Hier sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir
uns alle einmal an die eigene Brust klopfen sollten.
Wenn der Bundespräsident Herzog in Berlin davon redet, es müsse ein Ruck durch diese Gesellschaft gehen,
dann gibt es Beifall durch alle Reihen. Wenn aber nur
ein Rückle angekündigt wird, wie beispielsweise von
Herrn Riester, dann sagen alle: So haben wir es aber
nicht gewollt. Das wollen wir nicht. - Das ist unglaubwürdig. Wenn wir diesen Punkt wollen und brauchen,
dann sollten wir ihn auch gestalten
({45})
und in diesem Punkt zusammenarbeiten. Das biete ich
Ihnen in der Frage der Rentenstrukturreform ausdrücklich an.
({46})
Zu einer Politik zugunsten der Familien gehört auch,
daß wir die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
ermöglichen. Im „Bündnis für Arbeit“ setzen wir uns
für flexible Arbeitszeitmodelle ein, denn sie bringen
nicht nur mehr Menschen in Arbeit, sie erleichtern auch
für junge Väter und Mütter den Einstieg in das Berufsleben. Unsere Ministerin Andrea Fischer wird in diesem
„Bündnis für Arbeit“ dafür sorgen, daß diese Punkte mit
behandelt werden und die grüne Stimme nicht verlorengeht.
Die Bundesregierung hat der Jugendarbeitslosigkeit
den Kampf angesagt. Herr Schäuble, wer das Programm
zur Schaffung von 100 000 Arbeitsplätzen so abhandelt
wie Sie, wer sagt, daß wir damit die Jugendlichen ruhigstellen,
({47})
der nimmt eine menschenunwürdige Haltung gegenüber
diesen Jugendlichen ein.
({48})
Zu dieser Haltung kann ich nur sagen: Wir kümmern
uns um die, die unten sind. Sie mögen sich um die
kümmern, die oben sind, obwohl die selber durchkommen. Unsere Solidarität gilt denen, die hier Schwierigkeiten haben, und nicht denjenigen, die sowieso schon
oben auf der Karriereleiter sind.
({49})
Wir wollen wieder allen Jugendlichen einen Einstieg
in das Arbeitsleben ermöglichen. Qualifikation ist hierfür die zentrale Bedingung. Bildung ist, wie Bundespräsident Herzog es ausgedrückt hat, das Megathema der
Zukunft. Dem tragen wir bereits im Haushalt 1999
Rechnung. 1 Milliarde DM mehr wird in die Bildung
unserer Kinder investiert. Unser Ziel ist die Verdoppelung der Investitionen für Bildung und Forschung. Dafür
haben Sie in den letzten Jahren nichts anderes als Kürzungen übriggehabt. Die jungen Menschen in unserem
Land sind leistungsbereit. Sie sind fit für die Globalisierung. Unser Bildungssystem ist es nicht. Das werden wir
ändern, indem wir eine zweite Bildungsreform auf den
Weg bringen.
({50})
Wir greifen heute das auf, was Kollege Geißler lange
zurück in der Vergangenheit begonnen hat. Kollege
Geißler war damals schon auf dem richtigen Weg. Wäre
seine Partei Herrn Geißler gefolgt, ginge es den Familien heute bei weitem besser, und das Bundesverfassungsgericht hätte sein Urteil in dieser Form nicht gefällt. Die Besserstellung der Familien wird d a s Projekt der rotgrünen Regierung sein. Das treibt uns um.
Hieran haben wir bereits gearbeitet. Ich nenne nur die
Stichwörter „Kindergeld“, „Entlastung der kleinen und
mittleren Einkommen“ sowie „Erhöhung der Freibeträge“. Hieran werden wir die nächsten Monate und Jahre
mit Hochdruck arbeiten. Wir machen Haushaltspolitik
nicht zum Selbstzweck. Wir machen Haushaltspolitik
für die Familien und die Menschen in unserem Land.
Danke schön.
({51})
Das Wort hat
jetzt der Vorsitzende der Fraktion der PDS, Gregor
Gysi.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Schlauch, Sie haben - an die
Adresse aller Parteien hier im Hause - von der Notwendigkeit eines Rucks in der Gesellschaft gesprochen. Ich
finde, einen Mangel an Rucken gibt es zumindest bei
den Grünen nicht. Wenn ich mir ansehe, wie sich die
Positionen der Grünen in den letzten Jahren verändert
haben, dann muß man feststellen, daß sie schon manchen Ruck hinter sich haben. Wenn man das sieht, dann
muß man sich auch vor den Rucken fürchten, die uns
noch bevorstehen.
({0})
Sie haben heute erklärt, daß die Grünen der ADAC
Deutschlands seien. Das ist in etwa so real, als ob Herr
Gerhardt sagen würde, die F.D.P. sei die Partei der sozialen Gerechtigkeit, oder ich behaupten würde, die PDS
sei die parteipolitische Zukunft Bayerns.
({1})
Deshalb meine ich, wir sollten versuchen, den Rahmen
bei Vergleichen nicht zu sprengen.
({2})
Herr Bundeskanzler, Sie stellen seit mehr als hundert
Tagen diese Bundesregierung. Sie haben Kontinuität in
der Außen- und in der Innenpolitik betont und durch Ihre Minister Fischer und Schily auch zum Ausdruck gebracht, vielleicht mit Ausnahme bei der Staatsbürgerschaftsfrage. Sie haben Kontinuität auch in der Verteidigungspolitik durch Herrn Scharping betont. Die Kontinuität in diesen drei Politikfeldern ist nach meiner Einschätzung so groß, daß wir uns den Regierungswechsel
hätten sparen können, wenn es nur um diese drei Ministerien gegangen wäre. Es hat sich leider nichts verändert.
({3})
Wir werden morgen die Gelegenheit haben, über Außenpolitik zu sprechen. Ich sage Ihnen schon heute: Die
Art und Weise, wie die Verhandlungen in Rambouillet
zustande gekommen sind, und die Art und Weise der
Androhung militärischer Gewalt gegen Jugoslawien
werden dieses Europa und diese Welt verändern. Es ist
nach der UN-Charta verboten, militärische Gewalt anzudrohen. Schon im Zivilrecht ist jeder Vertrag nichtig,
der durch vorgehaltene Pistole zustande kommt. Im
Völkerrecht gilt genau dasselbe.
Natürlich wünschen auch wir uns, daß es einen Vertrag in Rambouillet gibt, der das Blutvergießen in Jugoslawien beendet und Krieg verhindert. Aber der Makel,
von dem ich hier gesprochen habe, bleibt bestehen.
({4})
Ich füge hinzu, daß Sie ein Konzept der USA unterstützen, wonach die NATO vom Völkerrecht freigestellt
wird. Das wird Konsequenzen haben. Wenn die UNCharta nicht mehr für die NATO gilt, dann gilt sie auch
für andere Staaten nicht mehr und dann haben Sie eine
Weltordnung, wie sie nach 1945 entstanden ist, beseitigt, ohne eine bessere zu besitzen. Das wird in dieser
Welt Folgen haben.
({5})
Darauf weist übrigens kein anderer als der CDUPolitiker Wimmer sehr deutlich hin. Ich werde ihn morgen zitieren, was bei mir wirklich selten vorkommt. Ich
finde, daß er in vielen Punkten seiner Einschätzung recht
hat.
Ich bin davon überzeugt, daß die französische und die
italienische Regierung die Absicht haben, in gleicher
Augenhöhe mit den USA zu sprechen. Dazu brauchen
sie aber das Einvernehmen mit der deutschen Regierung.
Weil der Ruf ein anderer ist, sind Sie jedoch bemüht,
täglich zu beweisen, daß Sie die treuesten Verbündeten
der USA sind. Ich meine aber, man muß auch eigene
Interessen artikulieren.
Was hier im Oktober beschlossen worden ist, war
nichts anderes als eine völkerrechtswidrige Aggression;
denn das ist es nun einmal, wenn man einen Staat angreift, der einen nicht selbst angegriffen hat, und wenn
es keinen Beschluß des Sicherheitsrates nach Kapitel
VII der UN-Charta gibt. Ein solches Vorgehen verändert
Politik dauerhaft.
Ich komme nun zur Innenpolitik. Es ist richtig, daß
Sie Wahlversprechen auch erfüllt haben. Im Dezember
ist hier eine Menge beschlossen worden, zum Kündigungsschutz, zur Senkung der Zuzahlung bei Medikamenten - wenngleich die Beschlüsse hierzu unzureichend waren -, zur Erhöhung des Kindergeldes, zur
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und zur Aussetzung
der Kürzung des Rentenniveaus. Das waren wichtige
Entscheidungen.
Ich habe mich gefragt: Warum sind Sie damit so wenig in der Öffentlichkeit umgegangen, und warum haben
Sie andere Themen so in den Mittelpunkt gestellt?
Manchmal hatte ich das Gefühl, daß es einige gab, die
das zwar mit beschlossen haben, die aber nicht sicher
waren, ob diese Politik der richtige Weg ist, weswegen
sie sich so selten dazu geäußert haben.
Wir haben diese Gesetzesvorhaben unterstützt; aber
damit sind noch lange nicht alle Ihre Wahlversprechen,
Herr Bundeskanzler, erfüllt. Ich muß sagen: Das ging
relativ zügig und klar; allerdings war bei dem, was danach passiert ist, das Wirrwarr so gewaltig, daß auch ich
erstaunt war. Man muß mit einer Regierung nicht in den
politischen Zielen übereinstimmen; man kann sogar
ganz anderer Auffassung sein. Aber von jeder Regierung
- egal, von wem sie gestellt wird - muß man wenigstens
handwerkliche Sauberkeit verlangen. In dieser Hinsicht
ist in dieser Regierungspolitik vieles durcheinandergeraten.
({6})
Ich fange mit dem Staatsbürgerschaftsrecht an.
Natürlich ist es notwendig, unser Staatsbürgerschaftsrecht zu modernisieren. Natürlich haben wir hier ein
großes Problem. Aber, Herr Bundeskanzler, wie konnten
Sie zulassen, daß die Aufklärung in der Öffentlichkeit
allein von der CDU/CSU bestritten wurde? Weshalb haben Sie nichts an Aufklärung dagegengesetzt? Das wäre
doch dringend erforderlich gewesen, weil man die Zustimmung in der Gesellschaft zu einem solchen Vorhaben braucht.
({7})
An die Adresse von Herrn Schäuble und vor allen
Dingen von Herrn Stoiber sage ich: Was Sie in unserer
Gesellschaft angerichtet haben, wird langfristige Folgen
haben, die wir alle sehr teuer bezahlen werden. Mit dem,
was Sie hier zu Europa vorgetragen haben, hat das überhaupt nichts zu tun. Wer europäische Integration will,
der weiß, daß irgendwann auch eine europäische Staatsbürgerschaft kommt, und der weiß, daß wir uns mit anderen Ländern diesbezüglich zu verständigen haben
werden. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß sich die
Niederlande, Frankreich, Großbritannien und andere
Länder auf unser Staatsbürgerschaftsrecht aus dem vorigen Jahrhundert einlassen werden. Das ist doch absurd!
({8})
Anstatt Wege nach vorn zu gehen, wollen Sie unsere
Gesellschaft zurückführen.
Ich habe mit Interesse eines zur Kenntnis genommen:
CDU und CSU haben die Straße wiederentdeckt. Sie
führen einen starken außerparlamentarischen Kampf. Ich
stelle mit Interesse fest, daß Herr Schäuble heute plötzlich von den Arbeitsloseninitiativen gesprochen hat.
Schon dieses Wort hat er in den letzten 16 Jahren nicht
in den Mund genommen.
({9})
Wenn denn der Mehrheitswille der Bevölkerung für Sie
so wichtig ist, dann lassen Sie uns doch mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag den
Volksentscheid einführen.
({10})
Dann klären wir die Bevölkerung gemeinsam auf und
lassen sie über die Staatsbürgerschaftsfrage entscheiden.
Dann wären wir wirklich einen Schritt weiter, auch bei
der Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch
Elemente unmittelbarer Demokratie. Aber die Straße
immer nur zu rufen, wenn man glaubt, sie für polemische Zwecke nutzen zu können, und ansonsten Volksentscheide abzulehnen, das ist in höchstem Maße unglaubwürdig.
({11})
Nun habe ich aber auch eine Bitte, Herr Bundeskanzler: Nehmen Sie die Wahlniederlage in Hessen und
die Kampagne der CDU/CSU nicht zum Anlaß, Ihre
Politik in der Staatsbürgerschaftsfrage zu ändern. Beweisen Sie Mut, werden Sie nicht ein Kanzler der Zurückweichung, sondern ein Kanzler des Vorwärtsschreitens. Darum geht es auch in dieser Frage.
Ich finde, daß es auch beim Atomausstieg ziemlich
hanebüchen zugegangen ist. Ein Gesetzentwurf, der abgesprochen wurde und im Bundestag auf der Tagesordnung stand - es war ein ganzer Freitag dafür vorgesehen
-, war noch nicht einmal im Kabinett beschlossen, weil
Sie alles so eilig hatten. Dann wird den Abgeordneten
hier mitgeteilt, der ganze Freitag fällt aus, ein Ersatztagesordnungspunkt steht nicht zur Verfügung - und das
alles, weil das Kabinett den Entwurf nicht verabschiedet
hat. Ich muß Ihnen dazu sagen: Ich bin jetzt seit 1990 im
Bundestag und habe hier schon viel erlebt. Aber so etwas habe ich zum erstenmal erlebt. Das spricht von
mangelndem Durchsetzungsvermögen und auch von
mangelnder handwerklicher Solidität in solchen Fragen.
Sie müssen wenigstens wissen, was Sie wollen, dann
können wir ja darüber streiten. Setzen Sie hier aber keine Tagesordnungspunkte auf, wenn Sie noch gar nicht
wissen, was Sie vorhaben. Das geht nicht. Das will ich
deutlich gesagt haben.
({12})
Das Thema Reichtum und Armut wird uns noch
über viele Jahre hinweg beschäftigen. Ich glaube, Sie,
Herr Bundeskanzler, versuchen da etwas, weil Sie der
Kanzler des Konsenses sein wollen. Nun weiß ich natürlich, wie wichtig Konsens in der Gesellschaft ist. Ich
weiß, wie wichtig es ist, Gruppen zusammenzuführen
und einen Interessenausgleich herbeizuführen. Das gilt
in jeder Partei, aber natürlich auch in der Gesamtgesellschaft. Wer aber regieren will, muß auch irgendwann
sagen: Das sind die Interessen, die ich durchsetzen will;
das heißt, ich stelle mich auch gegen andere. Sie werden
nicht immer alle in ein Boot bekommen. Wenn das
möglich wäre, müßte die Gesellschaft gar nicht regiert
werden.
({13})
Das ist das Problem des Regierens und auch die Kunst
des Regierens. Dazu braucht man Mut.
Wenn Sie also Armut wirksam bekämpfen wollen,
haben Sie keine andere Chance, als Reichtum zu begrenzen. Wenn Sie nicht den Mut haben, Reichtum zu
begrenzen, werden Sie Armut nicht wirksam bekämpfen
können. Sie müssen sich eines Tages entscheiden. Sie
werden das nicht ewig hinausschieben können.
({14})
- Ich wäre an Ihrer Stelle einmal ganz ruhig. Es mag
viele Fehlentscheidungen gegeben haben. Wenn ich aber
daran denke, welche Güter Ihr Prinz von SachsenAnhalt aus Hannover jetzt in Sachsen-Anhalt zurückzuerhalten versucht, kann ich Ihnen nur sagen: Uns war ja
klar, daß die DDR abgewickelt wird und daß der Kapitalismus wieder eingeführt wird. Daß Sie aber gleich
zum Feudalismus zurückwollen, haben Sie am 3. Oktober 1990 nicht angekündigt.
({15})
Ich nehme hier auch mit großem Interesse zur Kenntnis, wie sich die F.D.P. und auch die CDU/CSU über
den Tarifabschluß in der Metallindustrie aufregen.
Das ist ja wirklich ein starkes Stück. Zunächst einmal
muß man die Regierung verteidigen; sie saß ja gar nicht
mit am Verhandlungstisch. Unterschrieben haben es die
Arbeitgeber und die Gewerkschaften. Das möchte ich
einfach nur einmal wegen der Wahrheit festhalten. Insofern ist das auch eine Kritik an den Arbeitgebern, die Sie
hier erstaunlicherweise vornehmen.
Sie regen sich also über 3,2 Prozent und ein weiteres
Prozent - also reden wir ruhig von etwas über 4 Prozent Dr. Gregor Gysi
Lohnerhöhung auf und behaupten, das sei gegen die
Wirtschaft und gegen die Arbeitslosen gerichtet usw. Ich
sage Ihnen dazu nur eines: Heute wird VW folgende
Zahlen veröffentlichen: Im letzten Geschäftsjahr ist der
Gewinn bei VW nach Steuern, nicht vor Steuern, um
64 Prozent gestiegen. Da ist doch die Forderung der
Gewerkschaften wirklich ausgesprochen moderat.
({16})
Stellen Sie sich einmal vor, was dann los gewesen wäre,
wenn sie gesagt hätten: Wir wollen den gleichen Anstieg
wie bei den Gewinnen.
Seit Jahren haben Sie zugesehen, wie die Gewinne
jährlich gestiegen sind. Noch nie hat einer von Ihnen
Bescheidenheit hinsichtlich der Gewinne in die Diskussion gebracht und gefordert, daß die Gewinne für Investitionen und für die Schaffung von Arbeitsplätzen verwendet werden. Sie regen sich hier schon auf, wenn die
Gewerkschaften nur wollen, daß wenigstens die Teuerungsrate und andere Kostensteigerungen ausgeglichen
werden. Das zeigt den unsozialen Charakter Ihrer gesamten Politik. Wegen dieser Politik sind Sie im September 1998 abgewählt worden.
({17})
Mit großer Sorge nehme ich auch zur Kenntnis, daß
darüber debakelt wird, diesen Abschluß für Ostdeutschland nicht zu übernehmen, sondern dort niedrigere Tarife einzuführen. Das heißt im Klartext, daß nicht
nur der wirtschaftliche Abstand zwischen Ost und West
zunimmt, sondern daß auch die Lohnabstände wieder
größer werden. Der Abstand bleibt noch nicht einmal
gleich, sondern er wird größer. Da Sie dieses Thema zur
Chefsache erklärt haben, kann ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, nur sagen: Kümmern Sie sich darum! Ein weiteres Auseinanderdriften der Einkommen zwischen Ost
und West verträgt diese Gesellschaft nicht und ist den
Menschen in den neuen Bundesländern in Anbetracht
der Preise von 100 Prozent nicht zumutbar.
({18})
Wenn man Arbeitslosigkeit bekämpfen will, dann
genügt es nicht, Herr Bundesfinanzminister, darauf hinzuweisen, daß man dem zweiten Arbeitsmarkt eine Milliarde DM mehr zur Verfügung stellt und daß man bestimmte Finanzumverteilungen vornimmt. Diese Vorhaben sind zwar zu begrüßen, und wir haben natürlich die
damalige Regierung sehr kritisiert, als sie diese Mittel
gekürzt hat. Wir brauchen jetzt aber eine Verstetigung
und einen allmählichen Übergang vom zweiten Arbeitsmarkt hin zu einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor mit dauerhaften Arbeitsverhältnissen.
({19})
Wir brauchen den Mut zur Arbeitszeitverkürzung. Mit
der Änderung des Arbeitszeitgesetzes könnte der Bundestag insbesondere hinsichtlich des Abbaus von Überstunden etwas leisten.
Wir brauchen natürlich eine Steuerreform, die endlich an das Geschäftsergebnis von Wirtschaftsunternehmen anknüpft und nicht länger die Substanz und die
Schaffung von Arbeitsplätzen bestraft. Das wäre eine
Reform, die diesen Namen wirklich verdient hätte.
Ich betone: Wir brauchen auch einen neuen Ansatz
für die Lohnnebenkosten. Wir haben immer darauf
hingewiesen, daß es sehr viel günstiger wäre, die Unternehmen bezahlten die Abgaben in die Versicherungssysteme nach ihrer Wertschöpfung und nicht nach der Zahl
ihrer Beschäftigten und nach der Höhe der Bruttolöhne.
Die alte Regelung ist steuerrechtlich und abgabenrechtlich gesehen ein Kontrapunkt zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Wir benötigen dringend eine entsprechende
Reform am Ende dieses Jahrhunderts.
({20})
Natürlich brauchen wir nicht nur irgendwelche indirekten Steuerentlastungen. Wir brauchen eine direkte
und gezielte Förderung kleiner und mittelständischer
Unternehmen in Ost und West. Dazu müssen wir die
Macht der Banken begrenzen. Es geht nicht so weiter,
daß - wie es in den neuen Bundesländern, aber auch
schon zu einem großen Teil in den alten Bundesländern
der Fall ist - faktisch eine oder zwei Banken darüber
entscheiden, ob ein kleines oder mittelständisches Unternehmen überhaupt eine Chance hat, und daß der Gesetzgeber tatenlos zuschaut. In diesem Bereich brauchen
wir dringend Reformen.
({21})
Es gibt weitere Wahlversprechen, die Sie bisher nicht
erfüllt haben. Ich habe den Eindruck, daß Ihre Absicht,
sie zu erfüllen, nicht besonders groß ist. Ich nenne das
Schlechtwettergeld, die Vermögensteuer
({22})
und die Beseitigung der Einschränkung des Streikrechts
- Stichwort: § 116 des alten AFG.
({23})
Von der Sozialdemokratie wird seit Jahren versprochen,
daß der alte Zustand wiederhergestellt wird. Das gilt
auch für andere Fragen der Wirtschaftsdemokratie.
Als weiteres Beispiel nenne ich die Sonntagsarbeit
bei Banken, die es seit dem 1. Januar 1999 gibt. Dabei
werden doch nicht nur die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beeinträchtigt. Lassen Sie uns
auch einmal darüber nachdenken, welche Folgen sich
für eine Gesellschaft ergeben, wenn Sonn- und Feiertage
zu ganz gewöhnlichen Tagen werden und die Gesellschaft dadurch keine besondere kulturelle Eigenheit
mehr besitzt! Ich halte diesen Ansatz für sehr verheerend und unterstütze diesbezüglich die Kirchen.
({24})
Ich muß Ihnen folgendes vorhalten: Wir haben zu all
diesen Punkten Anträge eingebracht, die zum größten
Teil noch nicht einmal über Ihre Wahlversprechen hinausgehen, um es Ihnen besonders leichtzumachen. Doch
was tun Sie? Sie blockieren unsere Anträge in den AusDr. Gregor Gysi
schüssen und lassen nicht zu, daß hier in zweiter Lesung
über sie abgestimmt wird. Man kann der CDU/CSU und
der F.D.P. viel vorwerfen, aber nicht die Blockade unserer Anträge. Sie hat nie verhindert, daß über unsere Anträge im Bundestag abgestimmt wurde. Sie hat unsere
Anträge zwar abgelehnt - das ist klar -, aber sie hat immerhin die Abstimmung zugelassen. Sie lassen die Abstimmung aus einem ganz einfachen Grunde nicht zu:
Sie wollen nicht ja zu unseren Anträgen sagen, und Sie
trauen sich nicht, öffentlich nein dazu zu sagen. Das ist
Ihr Problem. Aber den Mut, sich eindeutig zu äußern,
müssen Sie schon aufbringen.
({25})
Ich sage deshalb: Her mit den Gesetzentwürfen; lassen
Sie uns darüber streiten und entscheiden!
Dann haben Sie eine Einkommensteuerreform in Angriff genommen, zu der ich mich heute nicht äußern
werde. Wir haben dazu später noch Gelegenheit.
Sie haben ein 630-Mark-Gesetz vorgelegt. Herr
Bundeskanzler, Sie haben sogar eine Aktuelle Stunde
genutzt - das sollte man als Bundeskanzler nie machen -,
um Ihr eigenes Modell vorzustellen. Das ist inzwischen
vielfach geändert worden. Ich unterstütze alle Anträge,
die auf die Absetzung dieses Gesetzes abzielen. Denn
man muß doch wenigstens noch die Zeit haben, den
neuesten Stand einmal durchzulesen und zu verstehen,
wie die Regelung augenblicklich aussehen soll.
({26})
Gestern abend haben unsere Expertinnen und Experten
versucht, uns zu erklären, was sich durch die vierte Fassung nun eigentlich geändert hat. Wir sind damit nicht
zu Rande gekommen. Sie überfordern uns in gewisser
Hinsicht. Das ist selten, aber in diesem Fall tun Sie es
wirklich.
Deshalb meine Bitte: Legen Sie einen Entwurf vor,
wenn Sie wissen, was Sie wollen, statt nachträglich anzufangen, zu überlegen, was man wollen könnte, und eine vierte und fünfte Fassung vorzulegen. Nachher passiert uns dann nämlich folgendes: Wir verabschieden
hier ein Gesetz, und keiner weiß, in welcher Fassung.
Ich finde, das geht zu weit.
({27})
Hier werden Sie uns als Opposition kennenlernen.
Zu Ihren neuen Denkansätzen muß ich sagen: Sie haben ein bißchen Rücksicht genommen auf die Argumentation der Opposition hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit des vorhergehenden, des dritten Entwurfs.
Aber auch der vierte Entwurf ist noch nicht verfassungskonform. Er löst keine sozialen Probleme, und er
löst auch keine wirtschaftlichen Probleme. Wir werden
ihm in dieser Fassung nicht zustimmen können.
Mit der ökologischen Steuerreform ist es nicht viel
besser. Wir sollen sie am Freitag verabschieden. Haben
Sie sich einmal überlegt, wie viele Änderungen in den
letzten Wochen und Monaten an diesem Gesetzeswerk
vorgenommen worden sind? Es kennt ja kaum jemand
den letzten Stand dieses Entwurfs. Das ist für das Parlament eine Zumutung.
Im übrigen verzichtet dieses Gesetz auf die ökologische Lenkungswirkung. Wenn Sie nicht Primärenergieerzeugung besteuern, können Sie doch gar nicht zwischen den Arten unterscheiden, wie Energie erzeugt
wird. Sie nehmen die Industrie faktisch raus und erlegen
ihr eine viel kleinere Steuer auf als allen anderen. Dann
bekommt sie noch den größten Teil erstattet, wenn es
dennoch zu einer Mehrbelastung kommt. Das heißt, der
größte Energieverbraucher ist am wenigsten belastet.
Können Sie mir einmal erklären, worin dann die ökologische Lenkungswirkung bestehen soll?
Darf ich noch etwas fragen: Wieso muß die Landwirtschaft die Steuer voll bezahlen und die Industrie fast
gar nicht? Das gilt auch für Dienstleistungseinrichtungen und für andere. Was ist das für eine Ungerechtigkeit
in der Behandlung der Unternehmen?
({28})
- Wenn Sie schon wieder einen neuen Stand haben,
richtet sich Ihr Lachen diesmal gegen Sie. Wer jeden
Tag Gesetzentwürfe ändert, kann in einem Parlament
nicht mehr ernst genommen werden. Das will ich deutlich sagen.
({29})
Das Soziale kommt bei dieser ökologischen Steuerreform völlig zu kurz. Die Sozialhilfeempfängerinnen und
Sozialhilfeempfänger, die Rentnerinnen und Rentner
sowie die Arbeitslosen zahlen drauf und haben von der
Lohnnebenkostensenkung entweder gar nichts oder fast
gar nichts. Das ist die Realität. Das wird sich für sie
nicht rechnen, und sie können, im Unterschied zur Industrie, nicht zum Zollamt gehen und eine Differenz geltend machen. Wieso überhaupt zum Zollamt? Wissen
Sie, daß wir da 500 neue Leute einstellen müssen? Das
ist zwar eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, aber es
bedeutet auch das Zehnfache an Bürokratie.
Auch daß das Steuerrecht dadurch leichter werden
würde, können Sie nicht behaupten. Die Steuerberater
werden das mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen, aber
auch sie werden langsam überfordert sein; davon bin ich
überzeugt.
Lassen Sie mich noch etwas zum Osten sagen. Ich
habe schon über den Abschluß in der Metallindustrie gesprochen. Sie haben das zur Chefsache erklärt. Ich frage
Sie, Herr Bundeskanzler: Wo bleibt die Initiative für die
Anerkennung der beruflichen Abschlüsse der Menschen
aus den neuen Bundesländern?
({30})
Das hakt noch immer an allen Ecken und Enden. Das
kostet gar kein Geld. Ergreifen Sie doch diesbezüglich
einmal eine Initiative, damit wir das Problem aus der
Welt schaffen.
Wo bleibt die Initiative zur Sicherung der Rechte von
Nutzerinnen und Nutzern an Grundstücken, damit die
Freunde der F.D.P. aus dem Königshaus von SachsenAnhalt in Hannover auf dieser Strecke nicht so schnell
zu Erfolgen kommen können? Wo bleibt die Angleichung der Renten, die Überführung der Rentenlücken?
Sie kennen alle diese Beispiele. Lassen Sie mich hier
nur eines nennen: Alle Ballettänzerinnen und Ballettänzer der DDR hatten mit 35 Jahren einen Rentenanspruch, wenn sie nicht mehr tanzen konnten. Er ist ihnen
durch das Rentenüberleitungsrecht entzogen worden.
Wann endlich wird das korrigiert?
({31})
Da könnte ich Ihnen noch viele andere Beispiele nennen,
auch Ihre Klientel betreffend, zum Beispiel mithelfende
Familienmitglieder im Handwerk und Gewerbe.
Herr Kollege
Gysi, ich muß Sie leider darauf hinweisen, daß die Zeit
Ihrer Fraktion schon ausgeschöpft ist.
Ich akzeptiere das, Frau
Präsidentin. Ich bin gehalten, mich nach den Zeitvorgaben zu richten.
Eine neue Zeit hat begonnen, Herr Bundeskanzler.
Sie wollten unbedingt regieren. Meine Bitte ist: Jetzt tun
Sie es auch. Darauf warten wir noch ein bißchen.
({0})
Das Wort hat
jetzt Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schäuble
hat in seiner Rede zum politischen Wettbewerb um die
Mitte aufgerufen. Aber er hat wohl übersehen, daß der
Ideengeber der politischen Mitte nicht Charles Darwin ist.
Ich glaube, Herr Schäuble, wenn Sie, wie es Ihre Rede
ausgewiesen hat, die politische Mitte am rechten Rand
suchen, dann werden Sie enttäuscht.
({0})
Die Ideen der politischen Mitte entstammen mehr
der Französischen Revolution als Ihrem Parteiprogramm. Sie handeln von Freiheit - gewiß -, sie handeln
von Gleichheit, und sie handeln von Brüderlichkeit.
Freiheit - das habe ich Ihrer Rede entnommen - definieren Sie vor allen Dingen als Gewerbefreiheit.
({1})
Das ist in Ordnung, aber das reicht nicht, meine Damen
und Herren.
({2})
Für die Realisierung von Gleichheit fehlt Ihnen der politische Wille - das überrascht hier niemanden -, und
zur Brüderlichkeit fehlt Ihnen jede Sensibilität.
({3})
Indessen weiß die politische Mitte in Deutschland,
wissen Menschen mit guter Ausbildung, Menschen mit
durchaus anständigem Einkommen, daß sie ihre Möglichkeiten und das, was sie sich für sich individuell vorstellen, in einer Gesellschaft nur ausleben können, wenn
diese nicht sozial zerrissen ist. Das übersehen Sie. Sie
haben es 16 Jahre lang übersehen.
({4})
Sie haben nämlich 16 Jahre lang, zunehmend zum Schluß
Ihrer Regierungszeit, dafür gesorgt, daß die soziale
Balance, die weltweit das Kennzeichen Deutschlands
war, verlorengegangen ist.
({5})
Das ist der Grund, warum wir im Interesse der „Neuen
Mitte“ in den ersten 100 Tagen darangegangen sind, diese soziale Balance wiederherzustellen.
({6})
Sie, Herr Schäuble, haben sich über Freiheit und Individualität verbreitet, und zwar mit den üblichen Floskeln. Sie haben dabei übersehen, daß der Beschäftigte in
einem großen oder kleinen Betrieb, der da sein Einkommen und Auskommen finden muß durch seiner
Hände Arbeit, nur dann frei ist, wenn er auch ein Mindestmaß an Sicherheit hat.
({7})
Um ihm diese Sicherheit in existentiellen Situationen,
zum Beispiel bei langandauernder Krankheit, zu geben,
haben wir die Lohnfortzahlung wieder eingeführt.
({8})
Das war der Grund. Er hat vielleicht nichts mit Ihrer
Form von Individualität zu tun, aber mit unserer
schon.
({9})
Zur Freiheit - ich denke, das wird Ihr Teil des Hauses
immer übersehen - gehört auch die Freiheit, die mit
Abwesenheit von Angst zu tun hat.
({10})
Wer sich und seine Familie mit Arbeit durchbringen
muß - das ist die übergroße Mehrheit unseres Volkes -,
der braucht auch die Abwesenheit von der Angst, rausgeschmissen zu werden.
({11})
Das ist ein Stück seiner Freiheit. Nicht darin, daß wir
etwas, was Sie durchgesetzt haben, zurückdrehen wollen, sondern genau in diesem Verständnis von Freiheit
liegt der Grund dafür, daß wir den Menschen wieder den
Kündigungsschutz gegeben haben, der ökonomisch vernünftig und sozialpolitisch sinnvoll ist.
({12})
Dann haben Sie - leider nur mit den üblichen Floskeln - über den Wert der Familie gesprochen.
({13})
Dieser Wert wird von niemandem in diesem Hause in
Abrede gestellt. Indessen: Was war denn der Grund dafür, daß wir nach den letzten 16 Jahren Ihrer Regierung
in den ersten drei Monaten unserer Regierungszeit den
Eingangssteuersatz abgesenkt haben? Das hat eine
ganze Menge mit der Situation der Familien in unserem
Land zu tun: nicht „Ihrer“ Familien, sondern der Durchschnittsfamilie in Deutschland.
({14})
Warum haben wir das Existenzminimum, das steuerfrei ist, erhöht? Das hat nichts zu tun mit der sozialen
Wirklichkeit, aus der Sie kommen. Aber es hat zum Beispiel viel zu tun mit der sozialen Wirklichkeit alleinerziehender Mütter. Für die ist damit - unabhängig von
der 630-Mark-Regelung und dem, was Sie davon halten
- etwas getan worden.
({15})
Die Familienpolitik, die wir ernst nehmen und nicht
nur in Floskeln beschwören, hat vor allem etwas zu tun
mit den materiellen Grundlagen der Familien. Warum
sind Sie nicht darangegangen und haben das Kindergeld
anständig erhöht?
({16})
Sie hatten doch 16 Jahre Zeit, Familienpolitik zu betreiben und nicht nur darüber zu reden.
({17})
Die Fraktionsvorsitzenden der Koalition haben bereits
darauf hingewiesen, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine Bankrotterklärung Ihrer Familienpolitik ist und nicht unserer.
({18})
Sie haben nach dem Urteil des Gerichtes den Familien
22 Milliarden DM vorenthalten.
({19})
Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, den Familien zu ihrem
Recht zu verhelfen, einem Recht, das Sie ihnen genommen hatten. Angesichts dessen stellen Sie sich hierhin
und erzählen uns etwas über Familienpolitik. Das finde
ich schon sehr merkwürdig. Das muß ich Ihnen einmal
sagen.
({20})
Was wir getan haben, war nötig, um die eingetretene
soziale Schieflage in der Gesellschaft und die damit verbundenen Gefahren für deren friedliche Entwicklung
aufzuarbeiten, eine Arbeit, die wegen Ihrer Politik notwendig war und deren Tempo man kritisieren mag. Aber
in der Sache gibt es für diejenigen, die ernst nehmen,
uns in ihre Programme schreiben, nichts zu kritisieren.
({21})
Oder betrachten Sie ein anderes Beispiel, das in dieser Diskussion auch schon eine Rolle gespielt hat: die
Situation der jungen Menschen im Land. Wie ist es
denn Jahr um Jahr gewesen?
({22})
Jahr um Jahr sind Sie zu den Menschen gegangen und
haben wohlfeile Versprechungen gemacht, die da heißen: Wir schaffen das schon allein. - Nichts haben Sie
geschafft! Sie haben die Jugendlichen und die Arbeitslosen, vor allem die Langzeitarbeitslosen, allein gelassen.
Meine Regierung hat zum erstenmal nach Ihren auf
diesem Gebiet jämmerlichen 16 Jahren dafür gesorgt,
daß 100 000 Jugendliche in diesem Land eine faire
Chance erhalten. Darauf bin ich verdammt stolz.
({23})
Darauf bin ich stolz, weil es sich vor allen Dingen um
Jugendliche handelt, die schon seit Jahren in den Statistiken der Arbeitsämter verschwinden, um die sich niemand kümmert - was nicht hingenommen werden kann
- und deren Fähigkeit sowie Willigkeit, ausgebildet zu
werden, entscheidend zurückgegangen sind. Wer aber
seine Fähigkeit verloren hat, auf dem Ausbildungsmarkt
zu konkurrieren, den darf man in dieser Gesellschaft
nicht allein lassen, wenn sie sich „gerecht“ nennen will;
dem muß man helfen. Das geschieht mit diesem Programm.
({24})
Das hat übrigens auch etwas mit freier Entfaltung der
Jugendlichen zu tun.
Im übrigen, verehrter Herr Kollege Schäuble, um
eines bitte ich Sie wirklich: Den Satz, den Sie sich da
haben aufschreiben lassen - wenn man auf dem Stuhl
des Kanzlers sitzt, kann man ja gut sehen, woraus
vorgelesen wird -, nämlich mit diesem 100 000-AusbilBundeskanzler Gerhard Schröder
dungsplätze-Programm wollten wir die Jugendlichen
durch Beschäftigung ruhigstellen, lassen Sie entweder
im Protokoll dieser Bundestagssitzung verändern, oder
Sie entschuldigen sich dafür.
({25})
Wäre ich zu dieser Form der politischen Auseinandersetzung, wie Herr Schäuble sie heute morgen geboten
hat, fähig und willig, dann würde ich, bezogen auf dieses Thema, sagen: Ihre bewußte Hinnahme der Jugendarbeitslosigkeit treibt die Jugendlichen in die Kriminalität. Diese Antwort müßte man Ihnen geben, wenn
Sie sich nicht entschuldigen, und für diese Antwort sind
Sie verantwortlich, Herr Schäuble, Sie ganz persönlich.
({26})
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU?
Nein, ich
möchte im Zusammenhang vortragen.
({0})
Ich komme zum nächsten Punkt, meine Damen und
Herren. Er betrifft die Renten.
({1})
- Ich verstehe gar nicht, warum Sie so herumschreien.
Es ist doch ganz klar: Glauben Sie wirklich, daß aus Ihren Reihen eine intelligente Zwischenfrage kommen
könnte?
({2})
Ich komme zu den Renten. Das hat auch viel mit der
Freiheit des einzelnen und mit der Frage zu tun, ob es in
der Gesellschaft ein zureichendes Maß an Solidarität
gibt oder nicht.
({3})
- Ich verstehe ja, daß Sie ungern über die Rentenfrage
reden und daß Sie laut lärmen, wenn ich über ältere
Menschen und deren Schicksal rede. Aber das liegt mir
am Herzen; Ihnen geht es wohl offenkundig nur darum,
zu stören. Das sollten Sie sich einmal überlegen.
({4})
Lassen Sie uns über die Renten und vor allen Dingen
über die Rentnerinnen und Rentner reden; denn um diese geht es uns, um ihre Freiheit und um ihre Sicherheit.
Das alles hat sehr viel damit zu tun, wie man mit ihnen
umgeht. Was haben Sie gemacht? - Sie haben ein pauschales Kürzungsprogramm durchgezogen, das dazu geführt hätte, daß zumal die Frauen, die von ihren Männern abgeleitete Erwerbsbiographien haben, sich unterhalb der Sozialhilfegrenze wiederfinden, daß sie in den
Sozialhilfebezug getrieben werden.
({5})
Ich sage Ihnen: Das wird der Lebensleistung dieser
Menschen, dieser Frauen zumal, in keiner Weise gerecht.
({6})
Das ist der Grund dafür, daß wir gesagt haben: Reformen mit solchen Wirkungen sind das Gegenteil von Reformen.
({7})
Wir halten das an und entwickeln ein Rentenreformprogramm, das nicht eine derartige Form unsozialen
Eingehens auf das demographische Problem in sich
trägt.
({8})
Wir werden dieses Programm ja noch zu beraten haben.
Aber es war nötig, das zurückzunehmen, was die Menschen bedrückt, was sie in und unter die Sozialhilfe
treibt. Das haben wir gemacht - nicht weil wir prinzipiell Ihre Politik der letzten 16, 17 Jahre korrigieren
wollen, sondern weil sie Menschen mit diesen Lebensleistungen bedrückt.
({9})
Die Kostenprobleme im Gesundheitssystem und die
Patientenbelastungen haben doch Sie in den letzten Jahren verursacht, zumeist jedenfalls. Wer hat denn die
Politik gemacht? Daß wir das jetzt korrigieren, hat damit
zu tun, daß Sie das verkehrt gemacht haben.
Wenn Frau Fischer nun sagt, im Mittelpunkt meiner
Reformbemühungen stehen nicht irgendwelche Interessengruppen, sondern stehen - zum erstenmal seit langer
Zeit - wieder die Patienten, dann ist das genau der richtige Ansatz, den man nicht dick genug unterstreichen
kann.
({10})
Für ein gewiß kompliziertes System der Gesundheitsvorsorge brauchen wir, so Frau Bundesministerin Fischer, zumal für die älteren Frauen und Männer, so etwas wie einen Lotsen, der ihnen bei der Abnahme der
unterschiedlichsten Leistungen hilft, die für sie richtigen
auszusuchen. Wenn sie jetzt den guten alten, ich sollte
besser sagen: den guten jungen Hausarzt als einen solchen Lotsen stärken will, dann sollten Sie das nicht kritisieren, sondern unterstützen, weil es ein richtiger Ansatz ist, der den Patienten hilft.
({11})
Darüber hinaus sagt sie, bei 50 000 Medikamenten sind es so viele?; Sie nickt; das muß man sich einmal
klarmachen - macht es doch Sinn, aus einer Liste, an der
man sich orientieren kann, die auszuwählen, die wirksam sind, die wirklich helfen können und die als vernünftig zu bezeichnen sind.
({12})
Jeder draußen, der uns zuhört - wenn er es denn noch
hören kann, was man angesichts Ihrer Zwischenrufe,
Herr Glos, bezweifeln mag -, wird doch sagen: Diese
Art von Hilfe in einem komplizierter gewordenen System dient dem Patienten, und deswegen ist das unterstützenswert. Das werden die Menschen draußen sagen,
und das ist gut so. Deswegen wird die Reform ja gemacht.
({13})
Viel ist über Energiepolitik geredet worden, ein
schwieriges Feld. Das weiß niemand besser als ich.
({14})
- Es wird niemand bestreiten, daß ich an einem Punkt
schon sehr lange arbeite: eine Energiepolitik zu machen,
die uns Schritt für Schritt wegbringt vom unsinnigen
Einsatz der Atomenergie in der Grundlast der Versorgung.
({15})
Wer sich mit dem Begriff der Versorgungssicherheit
nicht ideologisch - auch das gibt es, auf vielen Seiten;
das gebe ich gerne zu - auseinandersetzt, der wird mir
im Grundsatz zustimmen. Dabei rede ich gar nicht über
Deutschland, nicht einmal, was die Sicherheit angeht,
über Frankreich, sondern über das, was wir in Tschernobyl erleben. - Ich meine nicht nur, was wir erlebt haben,
sondern auch was wir erleben. - Es wird deutlich, daß
die internationale Staatengemeinschaft bislang nicht und wenn es gelingen wird, nur unter großen Mühen,
auch unter großen finanziellen Mühen - in der Lage ist,
Tschernobyl abgeschaltet zu bekommen. Der Sarkophag, der die gefährlichen Rückstände des Unfalls sicher
einschließen soll, ist nicht finanziert. Das haben wir bei
Übernahme der Akten feststellen können. Ich will das
gar nicht einseitig zuweisen. Das hat auch etwas mit
einer anderen energiepolitischen Vorstellung in anderen
Ländern zu tun, keine Frage.
Aber eins ist doch klar: Zumindest die Kraftwerkstypen, die dort am Netz sind und deren Nachrüstung wir
nicht haben finanzieren können - wir können das nicht
gegen die Interessen der betroffenen Länder durchsetzen -,
sind doch eine Gefahr, die auch Sie auf der anderen
Seite dieses Hauses beschäftigen müßte.
({16})
- Ich komme gleich zu dem, was ich Ihnen klarmachen
will. - Deswegen macht es doch Sinn, an einer Veränderung der Energieversorgung auch und gerade in
Deutschland zu arbeiten; denn über eines müssen Sie
sich im klaren sein - das lehrt die Erfahrung von
Tschernobyl -: Wenn - gleichgültig, wo in der Welt,
gleichgültig, aus welchen Ursachen - auf diesem Feld
etwas passiert, dann ist es aus mit der Versorgungssicherheit, und zwar auch in Deutschland, auch wenn unsere Kernkraftwerke sicherer sind; denn die Menschen
werden dann Panik bekommen. Deswegen ist eine Politik, die langfristig darauf setzt, Kernenergie zu überwinden, eine Politik, die gleichermaßen den Sicherheitsinteressen und der ökonomisch gerechtfertigten Versorgungssicherheit in Deutschland dient. Zumindest diesen
Zusammenhang müssen Sie begreifen können, wenn Sie
schon den anderen nicht begreifen wollen.
({17})
Eine Energiepolitik, die diese Form der Stromproduktion ersetzen will - was aus den unterschiedlichsten
Gründen, auch aus ökonomischen, vernünftig ist -, auch
nur in Ansätzen möglich zu machen, haben Sie die letzten 17 Jahre systematisch verhindert. Das ist der Punkt!
Und weil das so ist, bitte ich alle, auch diejenigen in der
eigenen Partei oder beim Koalitionspartner, die Ergebnisse auf diesem Sektor früher haben wollen, als ich sie
für möglich halte, eines zu verstehen: Versorgungssicherheit hat etwas zu tun mit Sicherheit industrieller
Produktion. Deswegen müssen wir die Versäumnisse
aus 17 Jahren nicht stattgefundener Energiepolitik - ein
Versäumnis ist, daß keine Alternativen entwickelt worden sind, jedenfalls in der Grundlast - Schritt für Schritt
aufarbeiten. Da liegt der innere Zusammenhang, den ich
zu verstehen bitte: daß wir mehr Zeit brauchen, als der
eine oder andere sich vorstellt. Es ist nicht Unwilligkeit
auf seiten der Regierung oder auf meiner Seite. Es ist
Einsicht in die Notwendigkeit, sich dafür Zeit zu lassen.
Bekanntlich hat Einsicht in die Notwendigkeit auch
etwas mit Freiheit zu tun.
({18})
- Von wem stammt das, Herr Fraktionsvorsitzender?
({19})
- Ich kenne es von Hegel, aber wir werden das nachprüfen lassen. Ich kann aber auch Engels zitieren, damit
habe ich kein Problem.
({20})
- Da ruft einer „Alter Juso“. Sie müssen sich schon
überlegen, was Sie mir vorwerfen wollen: Kontinuität
oder Wechselhaftigkeit. Für eines sollten Sie sich entscheiden.
({21})
Bevor ich etwas zu Europa und zu den außenpolitischen Fragen sage, will ich noch etwas zum „Bündnis
für Arbeit“ sagen. Wir haben vor, gesellschaftlichen
Konsens für Reformmaßnahmen, die durchgreifender
Natur sind, herzustellen. Das folgt auch der Erkenntnis,
daß ein Wahlsieg immer nur eine Momentaufnahme in
der Gesellschaft ist und daß es insbesondere Aufgabe
der Sieger ist, dafür zu sorgen, daß die Mehrheiten, die
sie am Wahltag bekommen haben, als gesellschaftliche
Mehrheiten dauerhaft zur Verfügung stehen. Das ist die
Aufgabe, die sich uns stellt.
({22})
Das „Bündnis für Arbeit“ dient dazu, einen solchen
Konsens in wichtigen sozialen, ökonomischen und steuerpolitischen Fragen herstellen zu helfen. Es dient dazu,
den Arbeitgebern wie den Gewerkschaften das Angebot
zu machen: Laßt uns in dem Bündnis doch über die
zweite Stufe einer Steuerreform reden! Die Unternehmensteuerreform muß kommen; das wissen wir doch.
Laßt uns reden! Das ist ein Angebot, über die Frage zu
sprechen, wie sie ausgestaltet sein soll. Laßt uns - weil
das gleichermaßen gemacht werden muß - darüber reden, wie man im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform den Familienlastenausgleich, den zu regeln
uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, angeht!
Das sind Probleme, zu deren Debatte und zu deren
Lösung ich insbesondere das „Bündnis für Arbeit“ einlade. Das ersetzt nicht die Entscheidungsnotwendigkeiten im Parlament - das weiß ich sehr wohl. Es geht aber
darum, daß diejenigen im Bündnis, die bislang Kritik an
Vorschlägen üben, an denen sie nicht beteiligt waren,
die Chance ergreifen, diesmal teilzunehmen. Im übrigen
geschieht das schon in den Arbeitsgruppen beim Bundesfinanzminister. Das wird vernünftige Ergebnisse haben - zu einer Zeit, in der diese Ergebnisse gebraucht
werden. Hierin liegt der Grund, warum ich den Beteiligten am „Bündnis für Arbeit“ - angesichts vieler Erklärungen, insbesondere auf Arbeitgeberseite - eines
gerne öffentlich sagen möchte: Das „Bündnis für Arbeit“ wäre falsch interpretiert, wenn man es als eine Institution betrachtete, der man entweder beitritt oder sie
wieder verläßt - je nachdem, wie man in der Tages- oder
Tarifpolitik abgeschnitten hat. Das ist nicht Sinn der Sache; das muß ich sehr deutlich sagen.
({23})
Wer ankündigt, nicht zu kommen - und das dann
vielleicht auch nicht macht -, der darf sich anschließend
nicht beschweren, wenn sich seine Interessen nicht so
wiederfinden, wie er es gerne hätte.
({24})
- Das ist keine Drohung, das ist eine Feststellung. Drohen tun andere. Ich denke gar nicht daran, irgend etwas
zu machen
({25})
in dieser Richtung.
Es ist doch klar: Wer gebotene Teilhabemöglichkeiten nicht nutzt, darf sich nicht beschweren, wenn entschieden wird, ohne daß seine Teilhabemöglichkeiten
eingerechnet werden. Das ist doch der Punkt, um den es
geht.
({26})
Über eins bin ich mir im klaren: Dort wird über viele
soziale Themen geredet werden. Es ist auch schon geredet und teilweise sogar entschieden worden. Denken Sie
an die Arbeitnehmerabfindungen! Dort wird auch über
Arbeitszeit geredet werden. Aber über eins - das klang
bei Ihnen, Herr Schäuble, ein bißchen an - wird sicherlich nicht geredet werden: über Einschränkungen beim
Streikrecht. Auch das hat etwas mit einer freien Gesellschaft zu tun, daß die Sozialpartner prinzipiell über
Kampfmaßnahmen - die ich nicht wollte und an deren
Verhinderung ich mich beteiligt habe - verfügen.
({27})
Wer das Streikrecht - mit welchen Gründen auch immer
- einschränken will - ich müßte sagen: weiter einschränken will -, der legt die Axt an eine Institution, die
Deutschland stark und erfolgreich gemacht hat, nämlich
die Tarifautonomie.
({28})
Über das, was wir mit der Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts verbinden, ist viel geredet worden.
Ich will nur soviel hinzufügen: Ich finde es richtig, daß
Deutschland ein Staatsbürgerschaftsrecht bekommt, das
vom alten Abstammungsprinzip weggeht.
({29})
Ich finde es richtig, daß Menschen, die in Deutschland
geboren sind - in welcher Generation auch immer -, und
die Kinder dieser Menschen eine Chance erhalten, Deutsche zu werden. Das finde ich richtig!
({30})
Ich weiß sehr wohl, daß wir veränderte Mehrheiten
im Bundesrat zur Kenntnis nehmen müssen und daß wir
deswegen - dafür wird der Innenminister sorgen - einen
Gesetzentwurf vorzulegen haben, der das Ziel der Integration, das wir nicht aufgeben werden, und zwar weder
bei den Kindern noch bei den Erwachsenen,
({31})
mit dem verbindet, was Landesregierungen im Bundesrat zu beschließen bereit sind.
({32})
Ich weiß sehr wohl, daß wir das beachten müssen. Was das heißt, bekommen Sie mitgeteilt, wenn Herr
Schily seinen Gesetzentwurf vorgelegt hat.
({33})
Ich habe jedenfalls nicht vor, diese Debatte mit Leuten
zu führen, die hier im Deutschen Bundestag über Toleranz reden und auf den Straßen Deutschlands jeden Ansatz von Toleranz kaputtmachen.
({34})
Wir haben dann Erstaunliches über Europa gehört,
zum Beispiel ungeheuer Substantielles von Herrn
Schäuble und noch mehr Substanz von Herrn Gerhardt.
Das war nun wirklich ein Meisterstück.
Schauen Sie, was gegenwärtig passiert. Der bayerische Ministerpräsident sagt: Herr Bundeskanzler, Sie
müssen bei den Verhandlungen zur Agenda 2000
14 Milliarden DM für Deutschland zurückbringen. - Im
Monat, Herr Stoiber, oder im Jahr?
({35})
Herr Pflüger - ich glaube, er ist Mitglied Ihrer Fraktion - sagt: besser gar nichts. Herr Lamers - Respekt,
muß ich sagen - sagte im „Stern“, 1 Milliarde DM wäre
auch schon eine Leistung. - Irgendwann müssen Sie sich
einmal entscheiden; denn zwischen 14 Milliarden und 0
gibt es doch eine Differenz. Das hat etwas mit Substanz
zu tun, Herr Schäuble. Ich sage das, um das deutlich
werden zu lassen.
({36})
Irgendwann müssen Sie entscheiden, was Sie wollen.
Wollen Sie eine Politik, für die Herr Dr. Kohl stand und
steht, wirklich auf diese unmögliche Weise verschleudern, oder wollen Sie das nicht? Das ist die Frage, die
Sie beantworten müssen und die Sie beantworten können;
({37})
denn soviel ist klar: Die Nettozahlerposition Deutschlands - 22 Milliarden DM netto mehr -, Herr Stoiber,
habe doch nicht ich zu verantworten, sondern Ihre Leute. Sie haben das im Bundesrat immer feste mitbeschlossen.
({38})
- Ja, klar.
Jetzt stellen Sie nach dem Motto „Haltet den Dieb!“
solche Forderungen. Ich bestreite doch gar nicht, daß
das überall beschlossen worden ist. Das habe ich doch
auch gesagt. Ich möchte jetzt aber keine Debatte über
die Verantwortlichkeiten der letzten 16 Jahre führen. Es
wird jetzt eine demagogische Debatte - eine solche Debatte möchte ich nicht - darüber geführt, wie man das,
was in 16 Jahren aufgehäuft worden ist, in einem halben
Jahr deutscher Präsidentschaft abschaffen könnte. Das
ist doch Ihre Forderung, mit der Sie sich auseinandersetzen müssen.
({39})
Weil diese Europapolitik - für die es sogar gute
Gründe gegeben hat - über diesen Zeitraum hinweg im
Deutschen Bundestag und im Bundesrat fast einhellig
beschlossen worden ist, läßt sie sich nicht in einem halben Jahr ändern. Wenn überhaupt, dann nur unter Einschluß der Tatsache, daß wir einen einstimmigen Beschluß fassen. Dazu brauchen wir mehr Zeit. Das ist der
Zusammenhang, den man sehen muß.
({40})
Es geht doch nicht nach der bayerischen HauruckMethode. Das ist doch eine Erfahrung, die man zumindest gemacht haben könnte. Wenn nur über einen längeren Zeitraum hinweg veränderbar ist, was verändert
werden muß, dann ist doch das, was ich dazu formuliert
habe, nur unterstützenswert.
Ich nehme zur Kenntnis: Vor dem Hintergrund Ihrer
eigenen Politik - ich nehme Herrn Stoiber aus - sind Sie
jedenfalls nicht der Auffassung, daß es möglich ist, die
deutsche Nettozahlerposition, die in 17 Jahren entstanden ist, über Nacht auf Null zu bringen. Es ist im übrigen weder möglich noch vernünftig.
({41})
Wenn wir uns da einig sind und Sie Herrn Stoiber sagen, daß seine 14-Milliarden-Forderung genauso Unsinn
ist, dann haben wir doch schon mal eine Basis für eine
vernünftige Europapolitik.
({42})
Aber bevor Sie ihm das nicht gesagt haben, stellen Sie
sich nicht hier hin und reden über einen Mangel an Substanz bei anderen! Das ist Ihr Mangel an Substanz, der
da deutlich wird, und kein anderer, Herr Schäuble.
({43})
Was werden wir bei der Agenda machen, und was
müssen wir wirklich machen? - Bei der Agenda müssen
wir zunächst einmal dafür sorgen - auch das geht nur
einstimmig -, daß die Ausgaben nur noch real wachsen
dürfen. Reale Ausgabenkonstanz ist das, woran wir
Deutschen - und nicht nur wir Deutschen - ein Interesse
haben.
({44})
- „Bauernopfer“, das höre ich gerne. Das kommt von
denjenigen, die weniger Mittel nach Europa geben wollen aber gleichzeitig die EU möglichst morgen erweitern
und gleichzeitig den deutschen Nettobeitrag senken
wollen. Das ist vielleicht eine Politik; das müssen Sie
sich wirklich dreimal überlegen.
({45})
Wir müssen eine reale Ausgabenkonstanz durchsetzen, und das ist schon schwer genug; denn die Länder ich will sie jetzt gar nicht alle nennen -, die zum Beispiel von den Kohäsionsfonds, von den Strukturfonds
am meisten profitieren, sind die Länder, die im Zuge der
Vertretung ihrer nationalen Interessen sagen: Zu Hause
üben wir Stabilität, aber in Europa ist das nicht ganz so
wichtig. - Das ist nicht die deutsche Position. Ich wäre
schon dankbar dafür, wenn das gesamte Haus deutlich
machen könnte, daß die deutsche Forderung nach realer
Ausgabenkonstanz im Finanzierungszeitraum von 2000
bis 2006 eine gemeinsame Position ist und daß die
zweite gemeinsame Position ist, die Nettozahlerposition
nicht über Nacht zu beseitigen.
({46})
Das gelingt nicht. Gelingen aber kann, meine Damen
und Herren, in den jetzt anstehenden Verhandlungen
durchzusetzen, daß die Kurve der deutschen Nettozahlungen nicht weiter nach oben geht, sondern im Finanzierungszeitraum sinkt. Das ist unser Ziel. Ich bin ganz
sicher, daß das überall in Europa verstanden wird.
({47})
Zu Ihnen, Herr Gerhardt - bevor Sie wieder laut werden -, nur noch soviel: Sie reden ziemlich unverantwortlich davon, daß wir etwas gegen die Osterweiterung
hätten.
({48})
Es ist falsch, was Sie da sagen. Gerade derjenige, der
in der eben beschriebenen Weise dafür streitet, daß die
Finanzierung Europas in der Zeit von 2000 bis 2006 gesichert bleibt, daß sie rational ist, tut mehr für die
Osterweiterung als Sie durch Ihre flotten Sprüche.
({49})
Denn über eines müssen Sie sich im klaren sein: Die
Osterweiterung hat sehr viel mit Finanzierbarkeit zu tun.
({50})
Das muß man einmal Herrn Stoiber sagen. Ich höre
immer wieder die Forderung, die Agenda müsse jetzt gar
nicht beschlossen werden - das hat er erzählt -, denn das
schade den deutschen Bauern. Aber auch da müssen Sie
sich entscheiden: Wenn die Agenda jetzt nicht beschlossen wird, dann können Sie doch nicht nach Ungarn fahren und sich da für Ungarns Beitritt zur EU stark machen. Das paßt doch nicht zusammen; das ist doch keine
verantwortliche Politik.
({51})
Die Agenda zustande zu bringen und einen fairen
Ausgleich der Interessen deutlich werden zu lassen ist
die Basis dafür, daß die Osterweiterung zügig durchverhandelt werden kann, und nicht das Gegenteil. Wer über
die Agenda schimpft, wer erzählt, mit Rücksicht auf nationale Einzelinteressen dürfe die Agenda nicht beschlossen werden, der sollte zumindest so ehrlich sein zu
sagen, daß er der eigentliche Gegner der Osterweiterung
ist, und den Leuten nichts anderes versprechen.
({52})
Wir haben vor, die Agenda im März abzuschließen,
was schwer genug ist. Das hat viel damit zu tun, daß wir
Europa - auch für die Deutschen - bezahlbar halten,
Europa für neue Mitglieder aufnahmefähig machen und
Europa solidaritätsfähig halten wollen. Das sind die
Kernpunkte unserer Politik.
Nun noch ein Wort zu der Interessenvertretung, die
mir von Herrn Gerhardt vorgeworfen worden ist. Bei
dem Vorhaben, die Agenda zustande zu bringen, stellt
man fest, daß in Portugal und Spanien gesagt wird, bei
den Kohäsionsfonds dürfe sich nichts verändern. In
Frankreich sagt man, eine Kofinanzierung in der Landwirtschaft dürfe es auf keinen Fall geben.
({53})
- Nicht erst, seit ich da bin. Das geht schon ein bißchen
länger so; da können Sie ganz sicher sein. - Die Briten
sagen, sie wollten den Beitrag, den sie erkämpft hätten Sie kennen Frau Thatcher, Herr Dr. Kohl -, auf jeden
Fall behalten. Alle anderen haben ähnliche nationale
Interessen. Als ich Herrn Gerhardt hier gehört habe,
hatte ich den Eindruck, er verstehe die Interessen aller
anderen Staaten, nur die deutschen nicht. Aber das ist
doch nicht unsere Aufgabe, meine Damen und Herren.
({54})
- Natürlich, so haben Sie doch geredet: Sie verstehen
nur die Interessen der Deutschen nicht.
({55})
- Nein, ich habe jetzt wenig Zeit, weil der ägyptische
Präsident gleich unser Gast ist. - Herr Gerhardt, nur die
deutschen Interessen haben Sie nicht erwähnt.
({56})
Dagegen halte ich es für richtig, den Partnern in
Europa verständlich zu machen, daß auch die Deutschen
ein Recht auf die Vertretung ihrer Interessen haben.
({57})
Inhalt meiner Politik ist es, klarzumachen, daß die Deutschen selbstbewußt ihre Interessen vertreten,
({58})
dabei aber immer wissen - vielleicht sogar mehr als andere; darüber will ich aber gar nicht rechten -, daß in
einem einheitlichen Europa die eigenen Interessen nur
im Respekt vor den Interessen der anderen durchgesetzt
werden können. Nur darum geht es.
({59})
Ich möchte abschließend etwas zu dem sagen, was
uns heute und morgen beschäftigen wird, nämlich zu
den Veränderungen in der Außenpolitik. Zu Anfang
möchte ich denjenigen meinen Dank sagen, die in Rambouillet verhandelt und dafür gesorgt haben, daß die
Kontaktgruppe unter Einschluß von Rußland - das ist
dick zu unterstreichen - eine gemeinsame Position zur
Schaffung von Frieden in dieser gebeutelten Region herstellen konnte.
({60})
Ich füge mit großem Respekt hinzu: Der deutsche Außenminister hat einen großen Anteil daran.
({61})
Niemandem in der Regierung und auch niemandem
hier im Haus - davon gehe ich aus - fällt es leicht, diese
fundamentale Veränderung deutscher Außenpolitik einfach so zu beschließen; das wird auch von niemandem
erwartet. Aber es haben sich nun einmal Veränderungen
ergeben, auf die wir reagieren müssen. Wir müssen
partnerschaftsfähig bleiben, und die Partner sehen die
Veränderungen genauso wie wir. Wir müssen in der Lage sein, über Prinzipien, die uns in den letzten Jahrzehnten wichtig gewesen sind und über die wir alle miteinander, von unterschiedlichen Positionen kommend, in
den letzten Jahren gestritten haben, unter veränderten
Bedingungen neu nachzudenken, zumal wir es nicht zulassen dürfen, daß sich das, was in Bosnien war, im Kosovo wiederholt.
({62})
In Bosnien mußten erst Hunderttausende sterben, bevor
die Staatengemeinschaft die Kraft fand einzugreifen. Inhalt dessen, was wir heute und morgen - ich hoffe, in
großer Gemeinsamkeit - beschließen können und wollen
ist, genau das nicht wiederkehren zu lassen.
Ich habe großen Respekt vor denjenigen, die fragen: Ist es angesichts der Geschichte des Zweiten Weltkrieges vernünftig, daß die Deutschen dabei sind? Die
Frage, ob die Deutschen dabeisein sollen, kann man
stellen, und es ist keine zynische Frage. Aber für mich
gilt, daß man diesen Satz auch umkehren kann: Gerade
wenn es historische Schuld in dieser Region gibt, kann
man sie auch dadurch abtragen, daß man weiteres Morden verhindern hilft.
({63})
Meine Damen und Herren, wer die Bilanz zieht und
wer sie fair zieht, der wird manches zu kritisieren finden, keine Frage. Aber wer hinter die vordergründige
Kritik schaut und sich mit den Tatsachen auseinandersetzt, der wird sehen, daß bereits in den ersten drei, vier
Monaten deutlich geworden ist,
({64})
daß wir dabei sind, Modernität mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden,
({65})
daß wir dabei sind, unter völlig neuen und anderen Bedingungen in der Außenpolitik Kontinuität und Partnerfähigkeit zu beweisen. Weil das so ist, verehrte Opposition: Bellen Sie ruhig, die Karawane zieht weiter.
({66})
Das Wort hat
jetzt der Herr Ministerpräsident des Freistaates Bayern,
Edmund Stoiber.
({0})
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine
sehr verehrten Herren! Diese Regierung ist gut hundert
Tage im Amt. Ich weiß, daß nach so kurzer Zeit natürlich noch keine umwälzenden konkreten Erfolge zu erwarten sind. Doch ich glaube, eines ist in der breiten Öffentlichkeit sehr deutlich geworden: Der Kurs der Bundesregierung ist unklar, und soweit überhaupt etwas klar
ist, geht unseres Erachtens der Kurs in die falsche
Richtung.
({2})
Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich schon einmal
darüber im klaren sein: Wollen Sie eine gewisse Kontinuität zur Regierung Kohl in verschiedenen Bereichen
akzeptieren - das tun Sie verbal -, oder wollen Sie im
Grunde genommen für alle Probleme, die heute vor allen
Dingen aus der Internationalisierung und der Globalisierung entstehen, einfach die 16 Jahre Helmut Kohl verantwortlich erklären? Das geht nicht zusammen.
Die Probleme, die Sie heute haben - soviel will ich
nur zur Vergangenheit sagen -, hatten wir in dieser Weise 1982 natürlich nicht. Ich erinnere mich noch sehr gut
an das Scheitern der Regierung Schmidt und die berühmte Rede von Helmut Schmidt in der SPD-Fraktion,
wo er klarlegte: Die sozialen Sicherungssysteme sind
zerrüttet; mit euch sind keine Einschränkungen möglich;
mit mir sind keine weiteren Schuldenerhöhungen möglich. - Das war das Scheitern der Regierung Schmidt.
Das hat die Regierung Kohl in der Phase von 1982 bis
1989 repariert. Das waren gute Jahre für die Bundesrepublik Deutschland. Das muß man deutlich sagen.
({3})
Danach kamen die spezifischen Probleme der Wiedervereinigung. Ich will darüber nicht mehr sagen, als
daß sie natürlich die Voraussetzungen für die gesamte
Politik verändert haben. Wir hätten sicherlich heute andere Staatsfinanzen, wenn wir die Wiedervereinigung
nicht gehabt hätten. Ich bin allerdings froh und glücklich
über diese Wiedervereinigung. Sie verdanken wir nicht
Ihnen, sondern uns.
({4})
Wenn Sie sich nunmehr hier hinstellen und sagen:
„Jetzt reden wir über die Zukunft. Wir haben in den ersten hundert Tagen die soziale Balance wieder hergestellt“, dann muß ich Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, fragen, was Sie unter sozialer Balance verstehen. Ich verstehe unter sozialer Balance eine Politik
- wenn ich Ihre Worte im Wahlkampf und davor als
Grundlage heranziehe, dann muß ich feststellen, daß wir
hier gleicher Meinung sind -, die Arbeit schafft. Wie die
Arbeitslosigkeit bewältigt werden kann, ist neben vielen
Fragen, die sich uns stellen, die entscheidende gesellschaftspolitische Frage, die wir zu lösen haben.
Ich muß feststellen, daß der prognostizierte Rückgang
des Wachstums in den Jahren 1999 und 2000 nicht alleine auf die Entwicklungen in Asien und in Südamerika
sowie auf die zu erwartenden Exportprobleme zurückzuführen ist. Die Bundesbank sagt ganz eindeutig, daß
natürlich auch die hausgemachten Probleme - das nicht
gelöste Problem der Steuerreform, Attentismus und die
Tatsache, daß jeden Tag etwas Neues vorgeschlagen
wird; darüber hat Kollege Schäuble ausführlich gesprochen - dazu führen, daß zum Beispiel 60 Prozent der Investitionen im privaten Wohnungsbau gegenwärtig gestoppt worden sind. Auch die Industrie- und Handelskammern in Deutschland gehen davon aus, daß zwischen 20 und 35 Prozent der für 1998 und 1999 geplanten Investitionen zunächst nicht stattfinden, weil Ihre
Steuerreform im Grunde genommen mittelstandsfeindlich ist.
({5})
Deswegen sage ich Ihnen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler: Sie haben - das war für die meisten erstaunlich - im Mai des letzten Jahres in der Sendung „Was
nun?“ gesagt: Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist
mein Aufschwung; allein meine Kandidatur bringt so
viel Optimismus in dieses Land, daß jetzt investiert
wird.
({6})
Diese Sätze muß man sich noch einmal deutlich vor
Augen halten. Wenn ich jetzt den Anstieg der Arbeitslosenzahl sehe - auch wenn ich alle saisonalen Probleme
herausrechne -, dann muß ich Ihnen sagen, daß der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Rückgang des Aufschwungs angeblich Ihr Abschwung sind, Herr Bundeskanzler, genauso wie es 1998 Ihr Aufschwung war.
({7})
Wir werden uns noch über die Folgewirkungen der
ökologischen Steuerreform unterhalten. Wir werden uns
auch noch über die Diskussionen um die Kernenergie
sowie über die dadurch verursachten Verunsicherungen
und Verwirrungen unterhalten. Hier erlaube ich mir,
eine Anmerkung von Ihnen aufzugreifen: Wenn Sie argumentieren, daß ein - hoffentlich nie eintretendes zweites Tschernobyl die Energiebasis der westlichen
Länder zerstören würde, dann ist das ein ernstzunehmendes Argument, über das wir uns, Herr Bundeskanzler, auseinandersetzen müssen. Aber ich halte den Weg,
den Sie eingeschlagen haben, nämlich den Ausstieg aus
der Kernenergie auf diese Weise in einer zusammenwachsenden Welt - fast kein anderer Industriestaat folgt
Ihnen in dieser Frage -, für völlig verkehrt. Sie müssen
sich darum kümmern, daß Mochovce, Temelin und
Kozloduj nachgerüstet werden. Die Bulgaren und die
Rumänen steigen nicht aus der Kernenergie aus. Nicht
einmal die Ukraine kann den Block abschalten, weil sie
sonst die Energiebasis ihres Landes zerstören würde.
Vor diesem Hintergrund können Sie sich nicht hier hinstellen und so tun, als würden Sie in einem Nationalstaat
leben und als wenn es Sie nicht mehr zu interessieren
hätte, was in der Welt außerhalb Deutschlands passiert.
({8})
Daß Sie als Bundeskanzler eines hochentwickelten
Industrielandes, das in der Sicherheitstechnik von Kernkraftwerken eines der Spitzenländer ist, die Anwendung
der Kernenergie heute zurückfahren, während andere
weiterhin Kernenergieanlagen bauen - wir haben 400
Kernenergieanlagen in der Welt; gegenwärtig werden
90 weitere geplant und gebaut, und zwar nicht mehr von
deutschen Firmen, sondern hauptsächlich von den Amerikanern, von Westinghouse, Framatome und vielen anderen -, ist eine verhängnisvolle, falsche Politik, die uns
massiv Arbeitsplätze kostet. Sie haben in diesem Punkt
die Mehrheit der Menschen nicht mehr auf Ihrer Seite.
({9})
Die Kernenergie macht nicht einmal 10 Prozent der
Energiebasis von Rußland aus. Ein solches Land könnte
viel leichter und schneller als Länder wie Deutschland, das
mehr als ein Drittel seines Stroms aus der Kernenergie
bezieht, aus der Kernenergie aussteigen. Sie wissen, daß
der Süden Deutschlands sogar zwei Drittel seines
Stroms aus der Kernenergie bezieht. Trotzdem steigt
Rußland nicht aus der Kernenergie aus; vielmehr baut es
weitere Kernkraftwerke, weil es ohne diese Basis seinen
Energiebedarf nicht decken kann.
Denken Sie an China. Ein Land mit 1,2 Milliarden
Menschen, das den Sprung zu wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand schaffen will, baut genauso auf die
Kernenergie. Und Sie glauben, Deutschland könnte beispielgebend sein, wenn es aus einer sicher beherrschbaren Energie aussteigt? Sie machen einen ganz entscheidenden Fehler für Deutschland.
({10})
In bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit möchte ich
Sie an Ihre frühere Verantwortung erinnern. In Ihrer früheren Verantwortung als Ministerpräsident von Niedersachsen hatten Sie in den letzten Jahren eine wesentlich
höhere Jugendarbeitslosigkeit als die süddeutschen Länder zu verzeichnen. Ich habe Ihnen immer vorgeworfen,
daß Sie mit Ihrer Landespolitik mit dazu beigetragen
haben.
({11})
- Wenn Sie „Unsinn“ schreien, dann sage ich Ihnen: Der
Bundeskanzler hat davon gesprochen, daß es auch darMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber ({12})
um geht, die jungen Leute zu befähigen, einen anständigen Ausbildungsberuf zu ergreifen. Sie, Herr Bundeskanzler, waren jahrelang Ministerpräsident des Landes
Niedersachsen. Schauen Sie sich einmal die Bildungssituation in Niedersachsen im Vergleich zu Bayern und
Baden-Württemberg an!
({13})
Diese Probleme darf man nicht allein aus der makroökonomischen Sicht der Bundesregierung sehen.
Schauen Sie sich einmal an, wieviel Unterricht in Niedersachsen ausgefallen ist und ausfällt! Erklären Sie
einmal, warum Sie keine neuen Lehrer mehr eingestellt
haben! Sie haben nicht einmal mehr alle freiwerdenden
Planstellen wieder besetzt. Jetzt stellen Sie sich als Bundeskanzler hier hin und sprechen von Chancengerechtigkeit bei Ausbildungsberufen, während Sie in Ihrer
früheren Verantwortung in diesem Punkte nicht das erreicht haben, was Sie nun als Ihr Ziel vorgeben.
({14})
Es war ja übrigens nicht ich, sondern Ihr ehemaliger
Stellvertreter und heutiger Nachfolger, der einmal in
Hintergrundgesprächen gesagt hat: Zieht ein bayerisches Kind nach Niedersachsen, dann muß es sich erst
einmal zwei Jahre lang hängen lassen, damit es den
niedersächsischen Standard erreicht. Darin steckt, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch eine Antwort auf die Forderung, die Jugendarbeitslosigkeit abzubauen. Dazu brauchen Sie eine exzellente Ausbildung in den Schulen.
({15})
Wenn Sie sich - das ist mir schon gewaltig aufgestoßen - hier hinstellen und den Kollegen Schäuble und in
besonderem Maße mich für europapolitische Positionen
angreifen, dann stellt sich für mich die Frage: Was wollen Sie jetzt? Auf dem Saarbrücker Parteitag haben Sie
Bundeskanzler Helmut Kohl massiv angegriffen und gesagt, er habe im Grunde genommen mit ScheckbuchDiplomatie und mit offenen Kassen die Probleme Europas gelöst.
({16})
Da seien Milliarden verbraten worden - „verbraten“ haben Sie wörtlich gesagt -, und damit müsse endgültig
Schluß sein. Ein paar Tage später versuchen Sie als
Nachfolger von Helmut Kohl, mich bei Ihrer Rede beim
Aschermittwoch in Vilshofen in einen Gegensatz zu ihm
zu bringen. Sie haben wörtlich gesagt: Man müsse sich
schon einmal klarwerden, ob man der Politik Kohls folgt
oder eine neue Politik macht.
({17})
Ich frage Sie: Was wollen Sie denn eigentlich für eine
Politik?
({18})
So leicht, Herr Bundeskanzler, kommen Sie nicht davon. Zu Ihren Ausführungen über die Frage der Agenda 2000
({19})
sage ich Ihnen: Seien Sie nicht so hochmütig; Sie werden sich sicherlich auch noch daran gewöhnen müssen,
daß man Ihnen widerspricht. Anscheinend sind Sie gar
nicht mehr gewöhnt, daß man Ihnen widerspricht.
({20})
Wenn Sie hier Wolfgang Schäuble und mir vorwerfen, es sei unredlich,
({21})
eine erhebliche Senkung des Nettobeitrags der Bundesrepublik Deutschland an die EU zu fordern,
({22})
dann möchte ich Ihnen darauf deutlich antworten: Sehr
geehrter Herr Bundeskanzler, Sie haben vorgetragen,
daß wir einen Nettobeitrag von 22 Milliarden DM leisten, was ein Skandal wäre, wie Sie selbst sinngemäß
gesagt haben. Aber Ihr Finanzminister hat sich zu den
14 Milliarden DM - gemessen am Bruttosozialprodukt
nach Kaufkraftparität, was im Juni des Jahres 1997 die
Meßlatte der Finanzminister aller deutschen Länder einschließlich des niedersächsischen Finanzministers gewesen ist - selbst bekannt. Damals hatte die Finanzministerkonferenz festgestellt, daß der deutsche Haushalt
um Zahlungen in Höhe von 14 Milliarden DM, wenn es
gerecht zuginge, an die EU entlastet werden müßte. Das
ist nicht meine Zahl, sondern diese Zahl stammt von den
Finanzministern der Länder. Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, der Bundesrat hat sich am 28. November 1997
({23})
- Sie waren damals Ministerpräsident - den Finanzministerbeschluß zu eigen gemacht. Jetzt können Sie als
Bundeskanzler mir doch nicht Vorwürfe machen, wenn
ich an Beschlüssen festhalte, die auch Sie mitgetragen
haben. Das ist doch unglaubwürdig.
({24})
Wenn ich an die geplanten gesetzlichen Regelungen
zu den 630-Mark-Jobs und an viele Fragen der Atomnovelle denke, wird mir Ihr Vorgehen klar: einmal raus,
einmal rein, wieder raus und wieder rein, aber keiner
weiß, was los ist. In diesem Zusammenhang muß ich Sie
daran erinnern, daß wir am 8. Juni letzten Jahres - das
ist noch kein Jahr her - eine Sonderministerpräsidentenkonferenz hatten, bei der Herr Ministerpräsident Lafontaine und Herr Ministerpräsident Schröder dabei waren.
Auf dieser Konferenz gab es die einstimmige Auffassung der Ministerpräsidenten, die alten Beschlüsse der
Finanzministerkonferenz zu bekräftigen. Ich halte es
- mit Verlaub - für eine Unverfrorenheit, wenn Sie mir
heute Vorhaltungen über das machen, was Sie selber mit
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({25})
beschlossen haben, nämlich daß es am gerechtesten
wäre, in Europa an unserem Anteil am Bruttosozialprodukt gemessen zu werden. Diesen Punkt will ich deutlich herausstellen.
({26})
Ich will noch ein weiteres Beispiel für Unredlichkeit
geben. Bleiben wir beim Thema Europa, dem Sie einen
großen Teil Ihrer Rede gewidmet haben. In diesem Zusammenhang haben Sie große Versprechungen gemacht.
Herr Bundeskanzler, die im Jahre 1991 in Edinburgh
beschlossene Finanzierung habe ich niemals kritisiert.
Ich habe die Beschlüsse vielleicht insofern kritisiert
({27})
- man wird doch über diese Fragen noch vernünftig miteinander reden können -, daß ein Wohlstandskoeffizient
zum Maßstab genommen wurde, der im Prinzip dem Zustand der alten Bundesrepublik Deutschland entsprach.
Aber im Rahmen der Diskussion der letzten Jahre „Was
passiert im Jahre 1999, wenn die Beschlüsse von Edingburgh auslaufen?“ haben wir frühzeitig, auch auf der
Ministerpräsidentenkonferenz, unsere Position dargestellt. Unsere Position war, daß sich unsere Situation
gemessen am Wohlstandskoeffizienten in den Jahren
1996 bis 1998 gegenüber anderen Ländern dramatisch
verändert hat. Wie soll ich denn den Menschen im Lande erklären, daß Luxemburg, Belgien oder gar Dänemark Finanzausgleichsleistungen von uns bekommen,
während wir Deutsche Probleme haben, unsere Aufgaben im Inneren zu bewältigen? Unsere Bitte und Aufforderung waren deshalb, daß die anderen Nationen unsere Position akzeptieren.
Ich sage noch einmal, Herr Bundeskanzler: Ein Stück
mehr Glaubwürdigkeit täte Ihrer Politik und Ihrer Person
weiß Gott gut. Auf Dauer werden Sie die mangelnde
Glaubwürdigkeit nicht mit lockeren Sprüchen überspielen können. Die Probleme werden Sie mit Sicherheit
einholen.
({28})
Sie haben die Bauern genannt und in diesem Zusammenhang meine Reise nach Ungarn angesprochen. Ich
will kurz auf diesen Punkt eingehen. Herr Bundeskanzler, der ehemalige Landwirtschaftsminister von Niedersachsen und jetzige Bundeslandwirtschaftsminister hat
vor einem halben Jahr die Position der Regierung Kohl
und des damaligen Bundeslandwirtschaftsministers Borchert zur Agenda 2000 mit einem „Nein, so nicht!“ voll
und ganz zurückgewiesen.
Ein halbes Jahr später nimmt er plötzlich die Beschlüsse im Rahmen der Agenda 2000 in toto als
Grundlage für seine Politik, obwohl er selbst die Auswirkungen dieser Beschlüsse beklagt, nämlich daß zum
Beispiel 30 000 bis 40 000 Bauernhöfe in Deutschland vor allen Dingen in Süddeutschland - vernichtet würden. Man kann dieses Problem nicht so bewältigen, wie
das mit der Agenda 2000 versucht wird; man kann nicht
die Bedingungen des Weltmarktes für die deutsche
Landwirtschaft akzeptieren, wenn in Deutschland ganz
andere Produktionsbedingungen auf Grund ökologischer
Erfordernisse bestehen, die man so zum Beispiel in
Amerika nicht findet. Daher muß man während der
Übergangsphase mehr Schutz für unsere Bauern fordern.
({29})
Ich freue mich, daß auch Sie den politischen Aschermittwoch in Bayern entdeckt haben. Bei dieser Gelegenheit haben Sie in Vilshofen zu den protestierenden
Bauern gesagt - Sie sind der Bundeskanzler; die Bauern
wollen deshalb Ihnen ihre Sorgen beschreiben -: „Was
wollt ihr eigentlich? Ihr habt doch die CSU oder die
CDU gewählt! Ich kann doch nicht in hundert Tagen all
das ändern, was eure alte Regierung versaubeutelt hat.“
({30})
- Es ist gut, daß da geklatscht wird. - Ich halte das für
einen absoluten Zynismus,
({31})
denn es geht nicht um die Vergangenheit, sondern es
geht darum, was morgen und übermorgen kommt.
Herr Bundeskanzler: Sie haben in Ihrer Saarbrücker
Rede versprochen, daß Sie entscheidende Veränderungen der Agenda 2000 hinsichtlich der Strukturpolitik erreichen, daß Sie in der Landwirtschaftspolitik einiges
verändern und daß Sie in der Frage des Finanzbeitrages
etwas ändern. Wir Deutsche sind durch die Agenda 2000
- Entwicklung Europas von 2000 bis 2006 - wohl am
allermeisten betroffen. Deswegen habe ich Ihnen gesagt:
Es wird schwierig werden, all diese Probleme im Interesse Deutschlands und im Interesse Europas auf einen
Schlag zu lösen. Ich habe Ihnen auch gesagt: Natürlich
muß die Agenda kommen. Die Agenda 2000 ist die
Voraussetzung für die Osterweiterung. Aber eine falsche Agenda 2000 wird natürlich keine Bereitschaft für
eine Erweiterung Europas bringen.
Ich bin im Krieg geboren und betrachte mich als der
unmittelbaren Nachkriegsgeneration zugehörig. Natürlich kann ich auf Grund meiner Kriegserlebnisse als
kleines Kind beurteilen, welche enorme Leistung bezüglich der Integration Europas von Adenauer bis Kohl
erbracht wurde.
({32})
Das ist doch gar keine Frage. Aber meine Kinder, die
den Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit nicht
mehr erlebt haben, wollen Europa aus sich heraus begründet haben. Wenn Sie den Menschen in Deutschland
die Probleme nicht erläutern und ihnen nicht Ihre Bereitschaft zeigen, sich dafür einzusetzen, dann machen Sie
einen schweren Fehler für Deutschland und auch für die
weitere Akzeptanz der europäischen Integration, was ich
für außerordentlich schädlich halten würde.
({33})
Wir werden genau messen, was Sie erreichen. Ich bin
jedenfalls sehr skeptisch.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({34})
Sie haben auf der Arbeitsebene im Zusammenhang
mit der Förderung notleidender Betriebe in Deutschland
einer ganz erheblichen Beschränkung der Souveränität
von Entscheidungen auf Bundes- und auf Landesebene
zugestimmt. Was bedeutet es denn, wenn sich Frau
Wulf-Mathies und die Europäische Kommission mit ihrer Agenda in der Frage der Strukturförderung - ein
wichtiger Punkt der Agenda - durchsetzen? Es bedeutet,
daß dann in verschiedenen Ländern, zum Beispiel in
Baden-Württemberg oder in Bayern, künftig nichts mehr
durch europäische Mittel, aber auch nichts mehr oder
fast nichts mehr durch Bundesmittel und schon gar
nichts mehr durch Landesmittel gefördert werden könnte. Es kann doch nicht sein, daß ich als Ministerpräsident
den Menschen in Hof oder in Schweinfurt, wo es
Strukturprobleme gibt, dann, wenn die Agenda 2000 so
durchkommt, wie sich Frau Wulf-Mathies das vorstellt,
sagen muß: Es tut mir leid, ich kann euch nicht helfen,
denn gemessen an der Estremadura in Spanien lebt ihr in
einer wunderbaren Situation. Ihr müßt euch gedulden,
bis ihr in einer schlechteren Situation seid; vorher kann
ich euch nicht mit bayerischen Mitteln fördern.
Das ist eine unmögliche Entscheidung, Herr Bundeskanzler. Sie haben das als Ministerpräsident immer
gegeißelt. Deswegen wundere ich mich, daß die Bundesregierung auch gegenüber der Kommission auf der
Arbeitsebene einknickt.
({35})
Wenn die Entscheidungen in der Agenda 2000, von
denen Deutschland betroffen ist und die schon am
18. März 1998 gefallen sind, genuine deutsche Entscheidungen wären, wenn Sie also die politischen Entscheidungen, die der Agenda 2000 zugrunde liegen,
noch in absoluter Souveränität entscheiden könnten,
dann wäre im letzten Jahr hier im Bundestag und in der
öffentlichen Diskussion einiges los gewesen. Darum
geht es: Wir brauchen eine öffentliche Diskussion über
diese europäische Innenpolitik. Das ist keine Außenpolitik mehr. Das betrifft uns elementar.
Wenn Strukturförderung in Bayern nicht mehr möglich ist und durch die Agenda 2000 innerhalb einiger
Monate allein bei uns 30 000 landwirtschaftliche Betriebe draufgehen mit Zigtausenden von Arbeitsplätzen,
dann können Sie sich Ihr Bündnis für Arbeit letzten Endes hinter die Ohren kleben; denn Sie rufen durch falsche Entscheidungen massive Arbeitslosigkeit mit hervor.
({36})
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung: Ich halte es
schon für unverfroren
({37})
- das ist Ihre Bewertung -, die Bevölkerung in einer wesentlichen Frage so zu diffamieren.
(Bundeskanzler Gerhard Schröder verläßt den Saal - Unruhe bei der CDU/CSU -
Ich habe einen internationalen Gast!)
- Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden
auch ohne Bundeskanzler weiterreden können.
({0})
Ich halte es für eine Unverfrorenheit, sich hier hinzustellen und den Integrationsbemühungen verschiedener
Länder und der geplanten Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes so zu begegnen, wie es geschehen ist.
Ich sage Ihnen eines: Es gibt ganz wenige Länder - dazu
gehört mit Sicherheit nicht Niedersachsen -, nämlich
zwei, und zwar Bayern und Nordrhein-Westfalen, die
insgesamt tausend Lehrer allein dafür abstellen, den
Kindern aus der Türkei und Jugoslawien - oder wo immer sie herkommen - Deutschunterricht zu geben, sie an
den Regelunterricht heranzuführen.
Wir stellen 200 Lehrer ab, um den Kindern, wie es
außer in Nordrhein-Westfalen nirgendwo üblich ist,
islamischen Ethikunterricht zu geben, und zwar nicht
erst jetzt, sondern schon jahrelang. Diese Lehrer werden
von 24 ausgewiesenen Lehrern beobachtet. Sie achten
darauf, daß diese 200 Lehrer bei der Praktizierung des
islamischen Ethikunterrichts in türkischer Sprache auf
dem Boden des Grundgesetzes stehen.
Wir in Bayern haben die geringste Ausländerkriminalität, die geringste Zahl von Angriffen auf Ausländer
und auch die geringste Ausländerarbeitslosigkeit.
({1})
Ich lasse mir doch nicht von dem Bundeskanzler, der
Ministerpräsident eines Bundeslandes war, hier Vorhaltungen machen. In welchen Ländern, in denen die jetzigen Mitglieder der Bundesregierung früher Verantwortung trugen, gibt es denn einen islamischen Ethikunterricht? Wo gibt es denn da Integrationsbemühungen?
Nein, Ihre Koalitionsvereinbarung war es, die uns
aufgeschreckt hat,
({2})
Ihre Absicht, die Staatsangehörigkeit mehr oder weniger allein an dem achtjährigen legitimen Aufenthalt in
diesem Lande festzumachen. Ich war froh, Herr Schily,
daß Sie selber in einem Interview der „Süddeutschen
Zeitung“ deutlich gemacht haben: Ja, das bedeutet in der
Tat die Hinnahme der generellen doppelten Staatsangehörigkeit. Das ist in der Tat eine epochale, eine historische Entscheidung. Sie haben gesagt, das sei eine Veränderung des allgemeinen Staatsverständnisses.
({3})
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({0}):
Nein, ich halte es jetzt wie der Bundeskanzler, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({2})
Die Hinnahme der generellen doppelten Staatsangehörigkeit ist eine wichtige Detailfrage für weitere Integrationsbemühungen und die Reform unseres Staatsangehörigkeitsrechts. In dieser wichtigen Detailfrage haben wir schon immer eine fundamental andere Auffassung als die Grünen und die SPD gehabt. Aber solch geringe Voraussetzungen für den Erwerb der deutschen
Staatsangehörigkeit, wie sie in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben sind, habe ich noch nie von Ihrer
Seite gehört.
Deswegen war es notwendig, Fragen zu stellen: Was
ist mit den Parallelgesellschaften? Was passiert im Bereich des Nachzugs? Das ist nicht damit gelöst, Herr
Schily, daß Sie sagen, es handle sich um ein paar hundert, während der Gemeindetag und der Städtetag, die
das dann bezahlen müssen, sagen: Es ist mit 600 000 bis
800 000 Zuzüglern zu rechnen. Sie können von mir aus
das 630-Mark-Gesetz schlampig angehen. Das sind
Wirkungen, die man später korrigieren kann. Aber die
Schlampigkeit, mit der Sie Änderungen in bezug auf das
Staatsangehörigkeitsrecht vornehmen wollten, will die
Mehrheit des Volkes in Deutschland nicht.
({3})
Erlauben Sie mir gerade im Zusammenhang mit der
Entwicklung des Prozesses gegen Öcalan und all dem,
was damit zusammenhängt, noch ein Wort zur inneren
Sicherheit in unserem Lande zu sagen. Ich will mich
auf einen Punkt konzentrieren und alles andere unterstreichen, was Wolfgang Schäuble in diesem Zusammenhang gesagt hat. Ich frage mich schon, welchen
Kurs die Bundesregierung in dieser Frage hat, wenn Innenminister Schily öffentlich fordert, gegen die Gewalttäter in Deutschland mit Entschiedenheit und Härte
vorzugehen,
({4})
die Ausländergesetze, wenn nötig, zu verschärfen und
die Möglichkeiten der Abschiebung von gewalttätigen
Kurden zu erweitern.
Ich war selber einmal Innenminister. Ich habe in den
Jahren 1992 bis 1995 über all diese Forderungen zusammen mit dem Kollegen Schäuble im Bundestag und
im Bundesrat diskutiert. Wir sind in dieser Frage auf den
erbitterten Widerstand von seiten der Grünen und der
SPD gestoßen. Es ist schon bemerkenswert: Es muß
immer erst ein fürchterliches Ereignis eintreten, damit
Sie zu notwendigen Korrekturen im Interesse des inneren Friedens in unserem Land bereit sind.
({5})
Was soll ich von Ihren Ankündigungen halten, Ausländergesetze, wenn nötig, zu verschärfen und die Möglichkeiten der Abschiebung von gewalttätigen Kurden
zu erweitern? Vorgestern fand das Treffen der zuständigen Staatssekretäre von Bund und Ländern statt. Der
Staatssekretär des Bundesinnenministers hat zur gleichen Zeit, als Sie das öffentlich angekündigt haben, keinerlei Bereitschaft zur Änderung des entsprechenden
Gesetzes im Hinblick auf eine Erleichterung der beschleunigten Ausweisung und auf eine Abschiebung von
Gewalttätern gezeigt und die Ankündigungen als wenig
hilfreich bezeichnet.
({6})
Ich halte es wiederum für ein Wesensmerkmal Ihrer
Politik, draußen groß zu reden und irgendwelche Ankündigungen zu machen. Dann aber, wenn es um die
konkrete Umsetzung geht, ziehen Sie - aus welchen
Gründen auch immer - den Schwanz ein, wenn ich das
einmal so brutal sagen darf.
({7})
Leider ist der Bundeskanzler nicht mehr anwesend.
- Ich respektiere, daß er einen Termin mit einer ausländischen Delegation hat. - Er wird sich dieser Auseinandersetzung nicht entziehen können. Vielleicht ist es ihm
unangenehm, das anzuhören, was er hier hören muß.
({8})
Der ehemalige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen
({9})
hat im Juli 1997 in einem Interview der „Bild am Sonntag“ vollmundig erklärt - ich zitiere wörtlich aus diesem
Interview, das Fragen der inneren Sicherheit behandelte -:
Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt es
nur eins: raus, und zwar schnell!
({10})
Dann gab es in Teilbereichen der Wählerschaft der
Union Respekt vor dieser Aussage von seiten des Herrn
Schröder. Ich habe als Ministerpräsident versucht, diese
Aussage in der zweiten Kammer, im Bundesrat, einigungsfähig zu machen. Siehe da, es war nicht mehr einigungsfähig, was öffentlich gefordert worden ist. Herr
Schily, Sie wissen, daß eine ganze Reihe von Veränderungsvorschlägen vorliegt. Nichts ist passiert.
Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, die
Bevölkerung verbal zu beruhigen und nichts zu ändern
und dann, wenn plötzlich Probleme auftreten, wiederum
verbal zu beruhigen. So kann man Deutschland nicht regieren.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
auch noch einen anderen Punkt ansprechen, den Herr
Struck und auch der Bundeskanzler angesprochen haben. Es kommen immer wieder in der Frage der Kernenergie die Vorwürfe, wir wären nicht bereit, Lasten zu
übernehmen.
({12})
Ich will Sie nur daran erinnern, daß die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf nicht von der Bayerischen Staatsregierung gekippt worden ist, sondern von
der Energiewirtschaft selber. Wir waren bereit, schwerste Auseinandersetzungen durchzustehen und einen groMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber ({13})
ßen Teil der Entsorgung der deutschen Kraftwerke zu
übernehmen.
({14})
Herr Struck, wenn Sie uns vorwerfen
({15})
- das würde ich so locker nicht sagen -,
({16})
wir würden uns hier unserer Verpflichtung entziehen,
({17})
dann sage ich Ihnen: Geben Sie uns das Recht - dann
können wir sofort darüber reden -, nicht nur über die
Entsorgung, sondern auch über die Energieversorgung
eigenständig in den Ländern zu entscheiden. Wenn ich
diesen Bundestag dazu nicht mehr bräuchte und in Bayern die Energiebasis selber bestimmen könnte, dann
würde ich sie anders bestimmen, als das heute der Fall
ist. Aber Sie können nicht sagen, daß wir die Entsorgung
übernehmen sollten. Dazu haben Sie sich vertragsmäßig
im September 1979 verpflichtet; dieser Vertrag ist noch
nicht aufgekündigt, er ist noch nicht gelöst.
({18})
Statt politischer Führung und Gestaltungskraft bietet
die Bundesregierung eine parteipolitisch motivierte Behandlung der süddeutschen Länder. Ich möchte jetzt
einen Punkt ansprechen, bei dem ich die Kritik der bayerischen SPD vermisse, die sich hier sozusagen nur
stramm vor jenen verbeugt, die in Bonn die Verantwortung tragen.
({19})
- Sie erwecken den Eindruck.
Ich beziehe mich jetzt auf die Aussage des Herrn Finanzministers, die ich im „Spiegel“ gelesen habe - Sie
haben sie leider nicht widerrufen oder korrigieren lassen -,
so ungefähr nach dem Motto: Bringt mir doch Projekte
aus Bayern, bei denen ich kürzen kann. - Ich halte das,
Herr Bundesfinanzminister, für eine Unverschämtheit
gegenüber der Bevölkerung in Bayern.
({20})
Der Bundeskanzler hat am Aschermittwoch erklärt:
Wenn Stoiber nicht lernt, bekommen die Bayern Steine
statt Brot. Die „Süddeutsche Zeitung“ kommentiert diese Entgleisung - jetzt zitiere ich -: Das ist eine durch
den Amtseid nicht gedeckte Drohung; bereits der Versuch wäre strafbar.
({21})
Begreifen Sie sich etwa nur noch als eine Regierung bestimmter Regionen? Solange Sie die Bundesregierung
stellen, haben Sie für ganz Deutschland die Verantwortung zu tragen.
({22})
Ich muß Sie, Herr Lafontaine und Herr Fischer, ja auch
ertragen, obwohl SPD und Grüne bei weitem nicht die
Mehrheit der zwölf Millionen Einwohner Bayerns haben. Ich erwarte dann natürlich auch, daß Sie Bayern
und Baden-Württemberg fair behandeln, wie das auch
Ihr Vorgänger unter umgekehrten Vorzeichen getan hat.
({23})
Diese Bundesregierung
({24})
und ihre Politik
({25})
sind weit weg von der Bevölkerung. Das werden Sie
noch feststellen, vor allen Dingen bei den nächsten
Wahlen. Am 13. Juni entscheidet die deutsche Bevölkerung über den europapolitischen Kurs der CDU und
CSU und der SPD. Natürlich spielt hier auch die Politik
der Bundesregierung eine ganz besondere Rolle. Ich
schaue diesem 13. Juni - genauso wie Wolfgang
Schäuble - mit großem Optimismus entgegen. Sie werden noch mehrere Hessen erleben - das sage ich Ihnen
voraus -, wenn Sie diese Politik weiter betreiben.
({26})
Nach hundert Tagen rotgrüner Regierung kann man
nur festhalten: Das war kein Aufbruch. Ich habe es Ihnen erspart, aus dem Hundert-Tage-Programm der
SPD vorzulesen, das Sie als Partei am 20. August des
Jahres 1998 beschlossen haben, in dem Sie festgehalten
haben, was Sie in den ersten hundert Tagen alles machen werden. Ich stelle anheim, einmal nachzulesen,
was da alles versprochen worden ist.
Sie machen sich Gedanken über die Frage der
Glaubwürdigkeit der respräsentativen Demokratie. Aber
Sie schaden der Glaubwürdigkeit dieser repräsentativen
Demokratie, wenn Sie ein schnelles Wort in die Welt
setzen, es dann korrigieren oder hoffen, daß die Leute
dieses Hundert-Tage-Programm vergessen haben, und
Sie nicht an dem, was Sie versprochen haben, sondern
nur an minimalen Ergebnissen messen.
Wenn Sie sich den wirklichen Herausforderungen
Deutschlands stellen würden und sich den tatsächlichen
Problemen unseres Landes und seiner Menschen widmen würden, wenn Sie ideologiefrei und zukunftsorientiert eine Politik für Wachstum und Arbeitsplätze machen, dann werden Sie auch in den Unionsparteien eine
konstruktive Opposition finden. Aber diese Bundesregierung muß die Themen der Bürger auf die Tagesordnung der Politik setzen - das, was die Menschen bewegt,
die Befindlichkeit von Herrn und Frau Jedermann, die
bei Teilen von Ihnen anscheinend keine Rolle mehr
spielen. Deswegen beschimpfen Sie die Menschen, die
sich in den Unterschriftslisten eintragen. Wie kommen
Sie eigentlich dazu, diese Menschen als „braune Flut“,
als „Bodensatz“, als „rechtsradikalen Sumpf“ zu bezeichnen?
({27})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({28})
Wir werden alles daransetzen, die SPD an ihren Versprechungen zu messen. CDU und CSU jedenfalls werden ihren Anteil daran nehmen, zu versuchen, Rotgrün
als eine Episode in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland erscheinen zu lassen.
Herzlichen Dank, meine Damen, meine Herren.
({29})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Parlamentarischen Geschäftsführer
haben sich interfraktionell darauf geeinigt, die Aussprache zum Etat des Bundeskanzleramtes hiermit auszusetzen.
Ich rufe deshalb jetzt den Etat des Bundesministeriums des Auswärtigen auf und erteile zunächst dem Bundesminister Joseph Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Stoiber, das war laut. Aber außer dem Schrei nach Subventionen, außer der Mobilisierung von Vorurteilen, außer
einem weinerlichen Wehklagen darüber, daß Bayern angeblich benachteiligt werde, habe ich zur Sache relativ
wenig gehört.
({0})
Respektive dort, wo Sie zur Sache gesprochen haben ich will gleich ausführlich auf die Agenda 2000 eingehen -, kam nicht viel.
Ich hätte es begrüßt, wenn der bayerische Ministerpräsident - der meint, er gehöre mittlerweile zu den Verfolgten - jetzt, nachdem es ihm gelungen ist, Theo Waigel aus dem Amt des CSU-Vorsitzenden zu hieven, diese Geste der Solidarität, die er einklagt, einmal gegenüber den Menschen in den neuen Bundesländern gezeigt
hätte.
({1})
Aufkündigung des Finanzausgleichs durch die CSU,
Aufkündigung der gemeinsamen Sozialversicherung das ist die Sprache, die die CSU dann spricht, wenn sie
sich stark fühlt. Wenn sie sich schwach fühlt, dann stellt
sie sich hierhin, beschwert sich und weint herum, sie bekomme keine Subventionen mehr. Das ist Edmund Stoiber pur.
({2})
Dazu kann ich nur sagen: Vor einer solchen Politik möge uns ein gütiges Schicksal bewahren.
Daß Sie, Herr Stoiber, hier heute morgen den Zweikampf der Oppositionsführer in der Auseinandersetzung
innerhalb von CDU und CSU betrieben haben, ist zu akzeptieren. Daß Sie, Herr Schäuble, hier heute unter dem
Banner, es müsse Substanz kommen, eine Politik des
grassierenden Gedächtnisschwundes hinsichtlich Ihrer
eigenen 16 Jahre Regierungszeit dargeboten haben, haben Sie mit Herrn Stoiber sogar gemeinsam.
Aber gestatten Sie mir, daß ich hier in aller Ausführlichkeit auf den europapolitischen Teil eingehe; denn
daran wird die ganze Widersprüchlichkeit und, wie ich
finde, auch die Durchsichtigkeit, die Substanzlosigkeit
Ihrer Position klar. Ich frage mich, was in Bundeskanzler a. D. Dr. Helmut Kohl bei Ihrer Rede vorgegangen
sein muß. Theo Waigel hat sich den Schmerz erspart,
Sie anzuhören; denn vermutlich wäre es für ihn noch
schlimmer geworden.
({3})
- Dann habe ich seine Leidensfähigkeit unterschätzt.
Das gebe ich ganz offen zu.
({4})
Ich möchte bei diesem Punkt wirklich zur Sache
sprechen. Daß Sie nach 16 Jahren CDU/CSU-Regierung
die Stirn haben, ein Papier zu verabschieden, wonach es
eine Reduzierung des deutschen Nettobeitrages geben
soll - 14 Milliarden DM bei Stoiber oder 7 Milliarden
DM, wie von anderen zu hören war -, ist eine Verabschiedung von der Politik Helmut Kohls, für die der
Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl hier immer eine weit
über das Regierungslager hinausgehende Mehrheit hatte.
({5})
Ich kenne mich mit Fundis in unserer Partei wirklich
aus. So, wie ich Sie, Herr Stoiber, heute erlebt habe,
kann ich nur sagen: Sie sind wirklich ein Fundi.
Ich hatte jüngst den Besuch eines ehemaligen Ministerpräsidenten eines EU-Mitgliedslandes. Dieses Land
hat sehr enge Wirtschaftsbeziehungen mit Bayern. Ich
sagte ihm, ich hätte nie verstanden, warum Stoiber als
bayerischer Ministerpräsident gegen den Euro ist und
warum er dagegen ist, daß Deutschland Mitglied der
Währungsunion wird, wenn der Euro kommt - was
durch die historische Entscheidung von Helmut Kohl
klar war. Dazu sagte er, das habe er sich auch gefragt. Er
sei deshalb auch nach München gefahren, habe sich mit
dem bayerischen Ministerpräsidenten getroffen und mit
ihm geredet. Der bayerische Ministerpräsident habe gesagt, er müsse das aus innenpolitischen Gründen so machen, weil er eine Partei rechts von der CSU verhindern
wolle.
Mit der Sache hat das nichts zu tun. Das ist das Mobilisieren von Emotionen und somit reine Parteipolitik.
({6})
Das war Ihr Beitrag zur Agenda 2000. Statt dessen
hätten wir hier einen überparteilichen Konsens finden
müssen, der realisierbar ist. Sie wissen nur zu gut, daß
das, was Sie - auch in Ihrem gemeinsamen Papier - vorschlagen, nicht realisierbar ist.
({7})
- Ihre Meßlatte können Sie sich sonstwo hinhängen. Das
interessiert mich nun weiß Gott nicht. Ihre Meßlatte ist
eine innerparteiliche Meßlatte in der AuseinandersetMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber ({8})
zung mit Herrn Schäuble und der CDU; das ist mir völlig klar.
({9})
- „Meßlatten-Stoiber“, meinetwegen. Sie geraten mehr
und mehr zur Inkarnation der Meßlatte in der Europapolitik. Entsprechend sieht das dann auch aus.
Ich empfehle Ihnen wirklich einmal eine Reise nach
Paris. Im CDU-Papier steht, wir sollten einen
50prozentigen nationalen Finanzierungsanteil bei den
direkten Einkommensbeihilfen, der sogenannten Kofinanzierung, erreichen. Wie Sie das einstimmig, im
Einvernehmen mit unserem französischen Partner,
durchsetzen wollen, weiß ich nicht. Um das durchzusetzen, helfen Ihnen auch fünf Wallfahrten nach Altötting nicht. Sie wissen so gut wie ich, daß das gegenwärtig völlig illusionär und irreal ist. Sie verkünden es
hier dennoch.
Das Kuriose ist dann, daß Edmund Stoiber auf der
anderen Seite nicht bereit ist zu liefern. Was fordert Edi
Stoiber? - Da stellt er sich hin - in äußerster Konsistenz;
er ist ja ein Einser-Jurist, deswegen sind die Deduktionen astrein - und fordert, wir sollten eine entsprechende
Reduzierung von den Franzosen verlangen. Gleichzeitig
aber sagt er: Rührt mir die bayerischen Bauern nicht an!
- Wenn Sie von den anderen schon etwas wollen, dann
werden Sie denen auch sagen müssen, wo Sie bereit
sind, Kompromisse zu machen, verehrter Herr Ministerpräsident.
({10})
Kompromisse sehen eben nicht so aus wie am Aschermittwoch in Passau, wo einer drei Stunden lang von
oben etwas verkündet und schreit und die anderen dazu
Beifall klatschen. So funktioniert das in der Europäischen Union nicht. Lassen Sie sich das einmal von Helmut Kohl berichten! Da geht es in der Tat anders zu.
({11})
Der große Europäer Stoiber ist voller Heiterkeit.
Noch unter dem Eindruck der Faschingskampagne war
er in Ungarn. Wenn Edmund Stoiber eine Reise tut,
sozusagen nach der Maßgabe: nur so weit wie die Entfernung von München nach Passau im Quadrat, dann
nimmt seine europäische Orientierung zu, und zwar um
so mehr, je weiter er weg ist. Er hat also Budapest besucht. Nun weiß er so gut wie ich, daß die drängendste
Frage in Budapest lautet: Wann werden wir Mitglied
der Europäischen Union? Dort will man alles dafür tun,
daß das so schnell wie möglich geschieht. Wenn wir,
die wir hier sitzen, Politikerinnen und Politiker in Polen, Ungarn, Tschechien oder wo auch immer wären,
würden wir genauso denken. Es geht dabei nicht nur
um Ökonomie, nicht nur um Geld, nicht nur um einen
gemeinsamen Markt, nicht nur um den gemeinsamen
Wohlstand, sondern darum, daß diese Länder nie wieder alleine auf der falschen Seite Europas stehen wollen. Sie haben - wie auch unsere ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger - 40 Jahre die Zeche für uns
alle bezahlt. Deshalb habe ich für ihre Haltung vollstes
Verständnis.
({12})
Herr Stoiber, eines werfe ich Ihnen vor: Sie sind zutiefst unseriös. Sie reden mit doppelter, mit gespaltener
Zunge.
({13})
Keiner weiß das so gut wie Theo Waigel, denn der hat
es auszubaden gehabt. Bei einer Rede im Jagdsaal des
Parlaments in Ungarn waren Sie voller Versprechungen,
was die Osterweiterung betrifft. Ja, Sie waren sogar
voller Humor. Er ist ja durchaus zu Humor fähig, wenn
auch zu unfreiwilligem.
({14})
Die Ungarn haben das nur nicht gemerkt. Als ich das
gelesen habe, habe ich fast den Kaffee über den Frühstückstisch geprustet, denn ich dachte: Na, was ein
Schlitzohr, unser Edi!
({15})
Ich zitiere die „FAZ“, die ja nicht in Verdacht steht,
Ihnen nicht wohlgesonnen zu sein:
Erst mit dem Beitritt der Reformstaaten Mittel- und
Osteuropas auch zur EU werde diese ihrem Namen
und ihrer Zielsetzung gerecht.
Richtig; da stimme ich Ihnen völlig zu.
Die bayerische Staatsregierung habe sich seit je als
Vorkämpferin für die Ost-Erweiterung gesehen.
({16})
Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen!
Stoiber schloß mit den Worten, die EU brauche
Ungarn, ohne freilich zu sagen, bis wann.
Jetzt betrachten wir einmal seine Position zur Agenda
2000.
({17})
- Ich war immer für den Euro. Wir hatten einen breiten
überparteilichen Konsens; wir haben als Opposition die
Positionen der damaligen Bundesregierung, die Positionen von Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesaußenminister Kinkel unterstützt.
({18})
- Ich schlage vor, Sie sollten einmal nachschauen. Ich
habe mich dafür eingesetzt, weil ich diesen Europakurs
im Interesse Deutschlands für alternativlos halte, meine
Damen und Herren.
({19})
Die Positionen, die Sie vertreten - ({20})
- Ebensowenig, wie es zulässig ist, von der Regierungsbank Zwischenrufe zu machen - auch wenn mich das
selbst juckt -, ist das für die andere Seite des Hauses,
Herr Stoiber, zulässig.
({21})
Aber ich habe nichts dagegen.
({22})
- Warum geben wir 60 Milliarden DM dazu?
({23})
- Regt euch nicht auf! Ich liebe Zwischenrufe, vor allem
von Edmund Stoiber.
Herr Stoiber, es ist doch nicht die neue rotgrüne Bundesregierung, die das Geld gibt. 16 Jahre hat doch eine
andere Mehrheit die Verantwortung getragen, unter anderem die CSU. Das müssen Sie endlich einmal wissen.
({24})
- Ach, die Kommission! Die Beschlüsse sind alle im Rat
gefaßt worden.
({25})
- Herr Stoiber, ich komme zu Ihrer These zur Agenda
2000. Sie sagen, Sie seien für eine schnelle Osterweiterung, das sei nach dem Euro der zweite historische
Schritt, den wir leisten müßten. Ich appelliere an unsere
Landsleute: Lassen Sie sich nicht von nationalen oder
gar nationalistischen Tönen - egal, ob von rechts oder
von links - in die falsche politische Ecke locken! Denn
wenn das Projekt „Europa“ stockt oder gar scheitert,
wird die Bundesrepublik Deutschland derjenige Staat
sein, der am meisten zu verlieren hat - und zwar nicht
nur materiell, sondern auch politisch, kulturell und in
bezug auf unsere Sicherheit.
({26})
Deswegen sind diese ganzen Rechnungen - das sage ich
unseren Landsleuten - falsch.
Schauen Sie sich an, wie viele Arbeitsplätze in Bayern, in Nordrhein-Westfalen und anderswo in Deutschland von Europa abhängen. Was wir in Form von
Strukturhilfen und über den Kohäsionsfonds in die südlichen Länder geben, wirkt auf die Entwicklung dort positiv und gleichzeitig auf unsere Arbeitsplätze. Fragen
Sie doch einmal, wer die U-Bahn in Athen und andere
Infrastrukturprojekte baut und wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihrem Inlandsarbeitsplatz
davon abhängen! Sie wissen das nur zu gut, Sie sagen es
aber nicht, weil Sie die nationale Flöte spielen wollen,
Herr Stoiber.
({27})
- Warum ich so schreie? - Ich tue das, weil mich Herr
Stoiber in diese Tonhöhe gebracht hat. Er hat mir 30
Minuten lang die Ohren abgeschrien. Ich bin gern bereit,
sofort herunterzukommen.
Sie meinen, wir sollen die Agenda 2000 möglichst
schnell, aber auch realistisch - das heißt: finanzierbar machen. Gleichzeitig wollen Sie die Strukturreform bis
zum Jahre 2002. Diese halten wir ebenfalls für dringend
geboten; deswegen schlagen wir eine Regierungskonferenz bis 2001 vor und wollen diese bei dem Europäischen Rat in Köln zum Abschluß underer Präsidentschaft einleiten. Ich hoffe, das findet Ihre allergnädigste
Zustimmung; aber ich nehme an, Sie werden auch daran
etwas zu kritisieren haben. Wenn die Agenda 2000 also
in der Tat die Voraussetzung für die Erweiterungsfähigkeit ist - das entnehme ich dem Papier der CDU/CSU -,
({28})
können Sie mir dann mit der Logik des Einser-Juristen
erklären, warum Sie jetzt für die Verschiebung plädieren, und zwar mit dem Argument, daß wir während unserer Präsidentschaft unsere nationalen Interessen nicht
durch- und umsetzen können, weil wir auf Ausgleich
setzen müssen?
Spätestens da muß Helmut Kohl die Ohren auf
Durchzug stellen, oder er hält es nicht mehr aus. Die
Terminplanung für die Agenda 2000 ist doch in verschiedenen Sitzungen des Europäischen Rates, an denen
Helmut Kohl und Theo Waigel teilgenommen haben,
beschlossen worden. Das war doch nicht unsere Beschlußlage. Wenn Sie sich jetzt, Herr Stoiber - das haben Sie hier mehrmals gesagt -, hinstellen und sagen,
mir paßt der Kurs der Agenda 2000 nicht mehr - so haben Sie das vor einigen Jahren in einem Interview in der
„Süddeutschen Zeitung“ gesagt, und Sie haben das in Ihrer letzten Rede in der alten Legislaturperiode schon
einmal klar herausgearbeitet -, weil Sie die Osterweiterung so lange wie möglich hinauszögern wollen - das
steckt dahinter -, dann steht hinter der Vertagungsforderung nichts anderes als entweder nationaler Egoismus
oder, noch schlimmer, eine Vertagung der Beitrittsmöglichkeiten für die mittelosteuropäischen Länder.
({29})
Genau das ist es, was Sie in Ihrem kleinbayerischen
Egoismus wollen. Wenn man sich Ihre Rede anhört,
kann man das sehr gut heraushören.
({30})
Sie werfen mir vor, ich hätte etwas gegen die süddeutschen Länder. Ich habe etwas gegen die CSU, aber
ich achte sie als politischen Gegner und als eine demokratische Partei mit einer großen Tradition, die jetzt leider in die Hände von Leuten gerät, die, wie ich finde,
auch im Rahmen dessen, was ich beim politischen Gegner akzeptiere, zu Instrumenten greifen, um die Macht
zurückzuerobern, die ich für verwerflich halte.
({31})
- Lassen Sie sich das doch von einem alten Steinewerfer
sagen, der weiß, wohin es führt, wenn man in die falsche
Richtung geht! Lassen Sie sich das doch einmal sagen.
({32})
Daß man da ein paar Kämpferqualitäten mitbekommt,
darauf können Sie sich verlassen.
Ich kann Ihnen, Herr Stoiber, nur sagen: Was ich
Ihnen bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
vorwerfe, ist nicht, daß Sie eine völlig andere Position
haben. Was ich Ihnen bei der Debatte über den Doppelpaß vorwerfe, ist nicht, daß Sie meinen, er wäre der
Untergang des deutschen Volkes, unserer Identität. Das
ist meiner Meinung nach Unsinn. Was ich Ihnen vorwerfe, ist Ihre Kampagne, die etwas völlig anderes mobilisiert.
In Hessen hatten Sie damit Erfolg. Ich muß nur in die
CDU hineinhören. Sie hatten den Erfolg, die Wählerschaft zu mobilisieren. Unsere Leute, die dort waren und
zugehört haben, haben mir erzählt, das ging nach der
Devise „Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“ Genau das finde ich schlimm. Das sollte in
diesem Land nicht mehr möglich sein! Das genau ist der
Punkt.
({33})
Wir stehen in der Europapolitik jetzt vor sehr schwierigen Entscheidungen. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Europapolitik, den sicherheitspolitischen Fragen und den Krisen, mit denen wir es zu tun
haben. Ich hatte in den letzten Tagen und Wochen vor
allem mit dem Kosovo zu tun. Es waren sehr, sehr harte
Verhandlungen. Stunden um Stunden wurde versucht,
Konfliktparteien zu überzeugen, die eigentlich nicht
überzeugt werden wollten.
({34})
- Nein. Da Sie das mit der eigenen Partei ansprechen,
will ich sagen: Ich brauche mich da überhaupt nicht zu
verstecken. Wir Grüne haben in der Frage: „Wie reagieren wir auf Srebrenica?“ eine in der Sache faire Auseinandersetzung gehabt, die aber gleichzeitig eine der härtesten innerparteilichen Auseinandersetzungen um unser
Bekenntnis zum Pazifismus, das ich aus guten Gründen
achte, war. Wir müssen uns da überhaupt nicht verstekken.
Wir alle haben da Fehler gemacht. Das sage ich auch
ganz selbstkritisch, was meine Person angeht, der ich
zuerst ein Nichtinterventionist war und nach Srebrenica
zum Interventionisten wurde. Freunde von mir - Marieluise Beck oder Daniel Cohn-Bendit - hatten früher
eine andere Position wie Herr Schwarz-Schilling bei
Ihnen. Das achte ich. Es wurden Fehler gemacht beispielsweise in Form der zu frühen oder falsch konditionierten Anerkennungspolitik. Wir sollten daraus aber
gemeinsam die Konsequenz ziehen, daß wir diese Fehler
nicht wiederholen.
Nur: Umgekehrt nützt es nichts, angesichts der Wut
und der Hilflosigkeit, die viele auf Grund des Mordens
verspüren, den Emotionen nachzugeben. Wir haben versucht - übrigens in Kontinuität -, die Staatengemeinschaft auf einer gemeinsamen Grundlage zusammenzuführen und die Konfliktparteien zu zwingen, daß es zu
einem Frieden kommt.
In dem Zusammenhang möchte ich Ihnen, Herr Stoiber, sozusagen über die Parteigrenzen hinweg eine Position mitteilen: Gerade bei diesen Krisen erlebt man, wie
schwach Europa ist. Statt jetzt eine solche Debatte, wie
Sie sie gerade aufgemacht haben, im Hinblick auf den
Europawahlkampf zu führen, müßten wir alles tun, damit die Europäer schneller zusammenfinden, damit sie
enger zusammenfinden, damit das europäische Gewicht
auch in der Friedens- und Sicherheitspolitik endlich zum
Tragen kommt. Dem weiß sich diese Bundesregierung
verpflichtet.
({35})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister,
mit lhrem letzten Appell - das weiß ich sehr wohl - rennen Sie bei Edmund Stoiber offene Türen ein.
({0})
- Doch! Es gibt unzählige entsprechende Äußerungen
von ihm. Es gibt sogar ein Papier, das er gemeinsam mit
dem Bürgermeister von Dünkirchen für den Ausschuß
der Regionen Europas verfaßt hat - ich empfehle es Ihrer Lektüre; ich habe es mit Genuß und Zustimmung
gelesen - und in dem ausdrücklich eine Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union
gefordert wird, und zwar im Sinne einer Vergemeinschaftung. Darin sind wir uns absolut einig. Man kann
Edmund Stoiber hier nicht als Buhmann hinstellen, ohne
daß man genau weiß, was er gesagt hat.
Sie haben beispielsweise aus dem Interview in der
„Süddeutschen Zeitung“ von vor einigen Jahren zitiert.
Das habe ich auch gelesen. Was hat er damals gesagt? Worum es mir im Kern geht, ist der Erhalt der Staatlichkeit Bayerns. Dies ist ein Punkt, über den wir schon seit
langem diskutieren. Die europäische Politik reicht nicht
nur immer tiefer in die Innenpolitik der Teilnehmerländer hinein, sondern auch in die innere Struktur. Im
Grunde führen wir seit langem eine Verfassungsdebatte. Ich bin der Meinung, wir müssen sie bald einmal
formalisieren, damit wir klarmachen, was auf der europäischen, was auf der nationalen und was auf der subnaBundesminister Joseph Fischer
tionalen Ebene zu geschehen hat. Daß es darüber im
einzelnen unterschiedliche Meinungen gibt, ist kein
Schaden, sondern eine ganz natürliche Sache.
In einem Punkt aber sind wir uns in der CDU/CSU
einig: In der Außenpolitik brauchen wir endlich Gemeinsamkeit. Europa muß auf diesem Felde einig und
handlungsfähig sein. Da sind wir überhaupt nicht auseinander.
Ein weiterer Punkt: Daß Sie das Papier der CDU/
CSU-Fraktion so darzustellen versuchen, wie Sie es
eben getan haben, kann ich zwar verstehen; aber ich
muß Ihnen eindeutig widersprechen. Lieber Herr Kollege Fischer, in dem Papier ist auf einen Beschluß der Ministerpräsidenten und Landesfinanzminister hingewiesen
worden, unter denen sich damals auch der heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder befand.
({1})
In unserem Papier steht nirgendwo - hören Sie bitte
einmal zu, damit Sie in Zukunft nicht noch einmal falsche Dinge behaupten -, es werde erwartet, daß die
Bundesregierung jetzt mit einem Erfolg von 14 Milliarden DM aus Brüssel zurückkehre. Jedermann weiß, daß
das nicht geht, und auch ich habe gesagt, daß dies kurzfristig nicht möglich sei. Einen solchen Maßstab hat der
heutige Bundeskanzler selber aufgestellt.
Wenn Sie Aussagen von uns zitieren und sagen, sie
schafften bei unseren Partnern böses Blut, dann möchte
ich Sie an Aussagen Ihres Bundeskanzlers erinnern.
Herr Kollege Fischer, im Zusammenhang mit der Agenda 2000 und der Finanzierung der Europäischen Union hat er gesagt, es müsse damit Schluß sein, daß wir
uns das Wohlwollen unserer Partner erkauften. Daraufhin habe ich von meinen ausländischen Freunden Anrufe
bekommen, die mich gefragt haben, ob sie in der Vergangenheit käuflich gewesen seien oder ob die Deutschen versucht hätten, sie zu kaufen.
Darüber hinaus hat Ihr Bundeskanzler gesagt, es müsse damit Schluß sein, daß wir europäische Kompromisse
mit deutschem Geld finanzierten. Daraus wird nur deutlich, daß der Bundeskanzler überhaupt nichts vom europäischen System sowie davon verstanden hat, daß von
dessen Funktionieren niemand abhängiger ist als
Deutschland.
({2})
Man wird beim besten Willen nicht sagen können,
daß er irgendwann einmal zu erkennen gegeben habe,
daß er etwas von Europa versteht. Andernfalls hätte er
auch nicht die berechtigte Forderung nach einer Reduzierung des deutschen Beitrages unter anderem mit dem
Hinweis darauf begründet, daß wir außerordentliche Lasten für die Herstellung der inneren Einheit zu tragen
haben. Das erweckt bei unseren Partnern nämlich verständlicherweise den Eindruck, als gelte das Wort von
Helmut Kohl nicht mehr, deutsche Einheit und europäische Einigung gehörten zusammen. Es gibt viele
gute Gründe für die Forderung nach Reduzierung des
deutschen Nettobeitrages; die deutsche Einheit ist aber
kein Grund, zumal der europäische Solidartransfer in
überhaupt keinem Verhältnis zum innerdeutschen Transfer steht.
Wenn Sie hier polemisieren, dann sollten Sie also
zumindest einmal „intra muros“ - daß Sie das hier nicht
öffentlich tun, kann ich ja verstehen - mit Ihrem Bundeskanzler über seine Art des Auftretens reden.
Wie ich gehört habe, sagte der Innenminister in der
gestrigen Debatte - ich konnte leider nicht dabeisein -,
ich sei ein Mensch mit einem abgewogenen, seriösen
Urteil. Das freut mich natürlich, und ich kann bestätigen,
daß jedenfalls das stimmt.
({3})
Ich muß Ihnen aber sagen, daß das Urteil unserer
Partner über die neue Regierung lautet: Die verstehen
nichts von Außenpolitik.
({4})
- Doch, das ist so. Außenpolitik beginnt nämlich zunächst einmal damit, daß man versucht, die Welt und
sich selbst mit den Augen des anderen zu sehen. Das tut
Ihr Bundeskanzler aber bestimmt nicht.
Auch die Art und Weise, Herr Kollege Fischer, wie
der Bundeskanzler immer davon spricht, daß wir nun
endlich die deutschen Interessen selbstbewußt vertreten
müßten, ist doch mehr als befremdlich. Die Partner fragen, ob die Deutschen das nicht schon längst getan hätten und ob sie nicht so erfolgreich gewesen seien, daß
sie ihnen schon fast zu stark und zu mächtig geworden
sind. Was soll denn dieser Unsinn?
({5})
Nationale Interessen haben wir immer vertreten; dafür
sind wir selbstverständlich da. Aber wir haben nicht jede
Forderung - häufig handelt es sich ja um Partikularinteressen - als nationales Interesse verkauft. Manchmal
hat man ja den Eindruck, das sei eine neue Wortprägung. Jedenfalls müssen unsere Partner denken, wenn
wir solche Forderungen erheben, wir wollten etwas anderes als bislang.
Sie haben nichts als Unsicherheit verbreitet. Dazu haben Sie beigetragen, Herr Kollege Fischer. Sie haben das will ich gleich klar sagen - in Straßburg eine wunderbare Rede gehalten. Aber mit Ihren Äußerungen zur
Nuklearstrategie haben Sie nicht nur in den Vereinigten Staaten - die können sich leicht darüber hinwegsetzen -, sondern vor allen Dingen auch bei unseren europäischen Partnern Frankreich und Großbritannien - ich
habe da einige Kontakte und weiß, wovon ich rede - tiefe Unsicherheit hervorgerufen. Wesentlich mehr haben
aber der Bundeskanzler und vor allen Dingen Herr Lafontaine Unsicherheit hervorgerufen, was unsere wirtschaftlichen Beziehungen vor allem mit den Vereinigten
Staaten angeht. Selbst Herr Strauss-Kahn mußte ihn in
seinen Vorstellungen über Zielzonen bei den Wechselkursen korrigieren.
Ich will nun noch - die Zeit erlaubt es nicht, länger
bei diesem Thema zu verweilen - ein Wort zum Kosovo
sagen. Herr Minister, dazu haben Sie nicht viel gesagt.
Ich meine schon, Sie haben hier engagiert gekämpft.
Daß es keinen endgültigen Erfolg gegeben hat, ist nicht
der Bundesregierung anzulasten. Aber es gibt eben kein
Abkommen. Jetzt hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen Antrag vorgelegt, der in dieser
Form nicht zustimmungsfähig ist, um Ihnen das gleich
deutlich zu sagen. Es ist wirklich befremdlich, daß Sie
diesen Antrag formuliert haben, bevor Rambouillet zu
Ende war. Das kann politische Gründe haben; das verstehe ich. Aber Sie hätten ihn heute ganz schnell auf den
neuesten Stand bringen können. Die Formulierungen
stimmen einfach nicht.
Zudem erwarten wir Klarstellungen in folgenden Bereichen: Erstens. Wie hoch soll denn die Aufstockung
der Extraction Forces sein? Dazu gibt es nur eine unklare und unpräzise Formulierung, die Sie uns um die Ohren geschlagen hätten, wenn wir es so formuliert hätten.
({6})
Das ist unmöglich. Ich kann das nicht anders interpretieren, als daß die Extraction Forces, die derzeit nur 250
Mann umfassen, bis auf 4 750 Mann aufgestockt werden
können.
({7})
Das muß doch präzisiert sein.
Zweiter Punkt. Es muß klargestellt werden, daß deutsche Soldaten wie natürlich auch die Soldaten der Partnerländer eindeutig unter einem NATO-Kommando stehen. Das steht in dieser Weise in dem Antrag nicht drin.
Was Sie heute vorgelesen haben, ist eine Formulierung,
die Sie auch in den Antrag hineinschreiben können.
Dann ist die Sache insoweit in Ordnung.
Dritter und wichtigster Punkt. Es handelt sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bei dem Antrag der
Bundesregierung ganz ohne jeden Zweifel um einen
Vorratsbeschluß, etwas, was Sie uns immer mit allem
Nachdruck abgelehnt haben und was der frühere Verteidigungsminister von Ihnen zu verlangen sorgfältigst
vermieden hat. Es ist ein Vorratsbeschluß, ein Beschluß
„für den Fall, daß ...“ Ob das eintritt, wissen wir alle
nicht. Wir hoffen es, aber es ist durchaus zweifelhaft.
Nun sagt der Verteidigungsminister: Ich muß mich
verpflichten. - Das kann er tun; wir können ihn dazu
ermächtigen. Aber über den Einsatz muß entschieden
werden, wenn der Fall eingetreten ist.
({8})
Ich bitte Sie, dies wirklich klarzustellen.
Ich will noch eines sagen: Die alte Regierung hat sich
das Vertrauen der Opposition seinerzeit mit harter, sorgfältiger, präziser Arbeit verdient, vor allem Volker Rühe
an der Spitze. Sie haben das anerkannt. Es war in Ihrem
Fall ungleich schwieriger, als uns jetzt zu überzeugen.
Auch das werden Sie zugeben müssen. Ich kann bislang
kein ausreichendes Bemühen der Regierung feststellen,
sich gegenüber der heutigen Opposition ebenso zu verhalten. Es handelt sich nicht nur um diesen Fall, sondern, weil es ein neuer Fall ist, um ein Präjudiz für die
Zukunft. In diesem Fall müssen Sie sich noch bewegen.
Überlegen Sie sich bitte im Interesse der Sache, in Ihrem
Interesse, aber auch im Interesse des Parlaments, ob Sie
diesem Petitum nicht bald nachkommen.
({9})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Christoph Zöpel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben
heute die erste umfängliche Debatte über die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland nach den Bundestagswahlen. International ereignisreiche Wochen liegen hinter uns, ohne daß wir diese Debatte führen
konnten. Dennoch oder gerade deshalb macht es Sinn,
zwei Stichwörter aufzunehmen, die Sie, Herr Kollege
Lamers, gebraucht haben, nämlich in dieser Debatte die
Gemeinsamkeit nicht zu vergessen und ein seriöses Urteil zu haben.
Nach dieser Vorbemerkung will ich auf einige Maßstäbe, an denen die SPD die Außenpolitik der Bundesregierung mißt, zu sprechen kommen. Es gibt Grundlagen für unsere Außenpolitik. Das sind die geopolitische
Lage, am Ende des 20. Jahrhunderts die institutionelle
Verortung, und das ist schließlich eine wertbezogene
Zielsetzung von Außenpolitik.
Die geopolitische Lage am Ende des 20. Jahrhunderts bedeutet: Deutschland ist das bevölkerungsreichtse
Land in der Mitte Europas. Daraus resultieren ein
Höchstmaß an Sensibilität für die Belange anderer Völker und Staaten in Europa und eine ganz besondere Verantwortung, Gefühle und Forderungen nationalistischer
Prägung bei uns und andernorts in Europa nicht entstehen zu lassen. Das ist der Maßstab, der sich aus der geopolitischen Lage ergibt.
({0})
Es macht auch keinen Sinn, diesen Maßstab mit
Polemik gegen die Bundesregierung im Zusammenhang
mit der EU-Finanzierung zu vermischen. Dort, wo es berechtigt ist nachzurechnen - ich greife hier Herrn Stoiber sinngemäß auf -, ob sich die Finanzkraft der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zugunsten anderer
und zu Lasten Deutschlands verändert hat, macht es
auch Sinn, die festgestellten Ergebnisse in die Zahlenwerke des EU-Haushalts nüchtern einzubringen, so wie
auch Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen es innerhalb des föderalen Finanzausgleichs der Bundesrepublik Deutschland tun. Es macht keinen Sinn, dieses
nüchterne Rechnen mit dem Vorwurf des Nationalismus
zu belegen. Ich füge hinzu: Ich kann bei der Bundesregierung an keiner Stelle erkennen, daß dieses nüchterne
Rechnen, das innerhalb der Europäischen Union notwendig ist, etwas mit Nationalismus zu tun hat.
({1})
Nun zweitens zur institutionellen Verortung: An
erster Stelle steht dabei die Verortung im Nordatlantischen Bündnis, weil ohne Frieden - ich zitiere hier
Willy Brandt sinngemäß - und äußere Sicherheit alles
andere nichts ist. Deshalb sind sie Vorbedingungen
außenpolitischen Handelns. Die Bundesregierung hält an
dieser Verortung ohne jeden Zweifel fest. Jeder, der dies
beobachten will, konnte das in den letzten Wochen feststellen.
({2})
Es ist überhaupt kein Gegensatz dazu, wenn es in diesem Bündnis zwischen den pluralistischen politischen
Systemen der beteiligten Staaten unterschiedliche Meinungen gibt. Es ist völlig unbenommen, daß in den politischen Systemen anderer NATO-Mitgliedstaaten manches verwunderlich erscheint, was in Deutschland passiert. Es ist auch erlaubt, daß in Deutschland die Wirklichkeit des politischen Systems der Vereinigten Staaten
hinterfragt wird. Das betrifft nicht nur das Urteil über
das Impeachment-Verfahren, sondern in diesen Tagen
auch unsere Meinung über das Strafrechtssystem und die
Todesstrafe. Hier hat die Bundesregierung zu Recht
noch einmal versucht, im Falle eines zum Tode verurteilten Deutschen Einfluß zu nehmen. Dazu gehört auch
- das halte ich in einer aufgeklärten Welt für zwingend -,
daß im Nordatlantischen Bündnis darüber diskutiert
werden kann, wie man in Zukunft mit Atomwaffen umgehen soll. Wenn es nicht erlaubt wäre, über solche
Punkte zu diskutieren, dann entfiele eine Wertbasis des
nordatlantischen Systems, nämlich die Diskussionsbereitschaft, die an der Aufklärung orientiert ist.
({3})
Das Ergebnis der Diskussion über first use ist, daß die
Meinung der Bundesregierung derzeit im Bündnis nicht
mehrheitsfähig ist.
({4})
- Das ist interessant. Wenn man Ihren Zwischenruf, man
wußte vorher, daß das nicht mehrheitsfähig sei und deshalb solle man nicht diskutieren, befolgt, dann würde
das bedeuten, daß damit fast jeder Fortschritt verhindert
wird.
({5})
Die Aufklärung hat aber gerade damit begonnen, daß
einzelne gegen den Widerstand übermächtiger Institutionen gewagt haben, ein Problem zu thematisieren.
Hierin besteht das Grundprinzip der Aufklärung. Es muß
deshalb erlaubt sein, auch eine solche Frage zu diskutieren; denn über das Ziel kann es dabei eigentlich keinen
Zweifel geben: Eine Welt ohne die Möglichkeit eines
Atomwaffeneinsatzes wäre viel schöner als die Welt, die
wir jetzt haben.
({6})
- Sie war überhaupt nicht mißverstanden. Ich halte es
für sinnvoll, daß in diesem Bündnis diskutiert werden
kann und man am Ende zu Entscheidungen kommt.
Die zweite institutionelle Verortung betrifft die Europäische Union. Die Bundesregierung ist gleich zu Beginn ihrer Amtszeit verpflichtet, den Vorsitz in der
Europäischen Union auszuüben. Das macht die Hauptaufgabe in diesen Monaten, bei der Agenda 2000 zu
einem Ergebnis zu kommen, besonders schwierig. Dennoch frage ich mich immer wieder: Was wäre hier passiert, wenn trotz der besonderen Verantwortung auf
Grund des Vorsitzes nicht darüber gesprochen worden
wäre, daß sich die finanzielle Leistungsfähigkeit der
einzelnen Mitgliedstaaten verändert hat?
Ich beziehe mich auf den sachlichen Teil des bayerischen Ministerpräsidenten: Die finanzielle Situation hat
sich geändert. Nur in diesem Sinne, Herr Kollege
Lamers, ist zu verstehen, daß man den berechtigten
Hinweis geben kann, bestimmte Indikatoren der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik hätten
sich durch die deutsche Vereinigung in der Tat geändert.
Wie man dem Statistischen Jahrbuch entnehmen kann,
ist das ganz unstreitig.
Dies anzuführen ist berechtigt, und es ist das Gegenteil von dem, was Sie folgern. Es handelt sich um die
integrative Verknüpfung der deutschen Vereinigung mit
dem europäischen Einigungsprozeß, zu dem auch gehört, daß sich in Deutschland vor allem bei Pro-KopfRechnungen die fiskalische Leistungsfähigkeit verändert
hat.
Damit möchte ich bruchlos zur Osterweiterung der
EU übergehen. Die Osterweiterung ist nur möglich,
wenn auch die finanziellen Handlungsmöglichkeiten gegeben sind. Bei dieser Aufgabe laufen wir in der Auseinandersetzung zwischen den Parteien Gefahr, Porzellan zu zerschlagen, indem wir uns beim Anführen von
Gesprächspartnern aus mittelosteuropäischen Ländern
diejenigen auszusuchen, die in die Argumentation passen.
Wir müssen es uns aber bewahren, über die Osterweiterung der Europäischen Union vor dem Hintergrund fast eines Wunders zu sprechen. Ich möchte eine
persönliche Bemerkung machen: Ich bin in Gleiwitz geboren, ich bin vor 1989 vorsätzlich dorthin nie gefahren,
wohl aber danach. Ich fühle mich dem Land Polen in
einem sehr starken europäischen Sinne verbunden. Ich
halte es für historische Wunder, daß wir heute, zehn Jahre nach 1989, im großen und ganzen keine ernstzunehmenden Konflikte zwischen Deutschen und Polen haben. Wir sind sogar einen Schritt weiter: deutsche und
polnische Soldaten konnten unter einem gemeinsamen
Oberkommando in Bosnien-Herzegowina für Frieden
sorgen.
({7})
Mit diesem Wunder sollten wir so sensibel wie irgend
möglich umgehen.
Viele haben dazu beigetragen: der Kniefall Willy
Brandts in Warschau; die engen Beziehungen von Bundeskanzler Kohl vor allem mit dem polnischen Premierminister Mazowiecki. Viele Kolleginnen und Kol1540
legen von uns - ich nenne beispielhaft Rita Süssmuth
und Markus Meckel - haben dazu beigetragen. Manchmal wurden sie gestört durch oft aufgeregte und an der
Sache vorbeigehende Diskussionen einer kleinen „community“ in Warschau, man mache in Deutschland rechts
wie links gegenüber Polen alles falsch.
Mein letzter Besuch in Warschau zusammen mit
Kollegen Markus Meckel diente vor allem der Begegnung mit den Abgeordneten der derzeitigen Regierungspartei, der Nachfolgeorganisation der Gewerkschaft
Solidarnosc. Wir waren uns darüber sehr schnell einig
- das war überraschend -, daß gerade in diesem Teil des
politischen Systems Polens Zeit für die europäische Integration gebraucht wird; denn Polen muß vor allem sozialpsychologisch manches begreifen, lernen und innerlich akzeptieren, wenn es den traditionell katholischen
Polen, die unter kommunistischen Verhältnissen sozialisiert wurden, gelingen soll, tatsächlich auch mit ihrer
Seele in das pluralistische Europa hineinzuwachsen. Das
ist die Realität.
({8})
Vor diesem Hintergrund ist eine Scheindiskussion
über Jahreszahlen hinsichtlich des Beitritts geradezu fatal. Die SPD-Bundestagsfraktion wird es nicht tolerieren, wenn es von deutscher Seite - von welcher Seite
auch immer, auch nicht von seiten der Bundesregierung,
wovon ich aber nicht ausgehe - schuldhafte Verzögerungen des Tempos des Integrationsprozesses gäbe.
({9})
Umgekehrt muß aber auch vermieden werden, daß man
vorschnelle Entscheidungen trifft, die dann vor allem
Polen nicht ertragen könnten; denn sie haben es schwerer mit der Integration als wir.
({10})
Man kann viele Beispiele anführen, wer an welcher
Stelle durch welche Aktion wieder etwas an diesem
wunderbaren Verhältnis gefährdet. Ich zitiere absichtlich
aus keiner Partei irgendein Ereignis der vergangenen
Monate, das zu Irritationen geführt hat. Ich verzichte
auch darauf, die politischen Äußerungen und Forderungen in der Bundesrepublik zu werten, durch welche das
noch schwierigere deutsch-tschechische Verhältnis, das
noch nicht den Zustand dieses polnisch-deutschen Wunders erreicht hat, in den letzten Monaten gefährdet wurde. Ich hege dabei die Hoffnung, daß sich alle, die dieses
Wunder tatsächlich so anerkennen, wie es anzuerkennen
ist, Mühe geben, es gegenüber Polen zu bewahren und
gegenüber Tschechien und Ungarn möglich zu machen.
({11})
Diese Hoffnung hat auch damit zu tun, daß es hier
viele gibt, die durch ihre Biographie dieser europäischen
Dimension verpflichtet sind. Ich habe das Beispiel meiner Person genannt. Ich bin mir bezüglich des Außenministers völlig sicher, seitdem ich weiß, daß seine Eltern
aus Budakeszi stammen. Damit brauche ich zu Ungarn
nicht mehr zu sagen.
Fest steht für mich auch - damit komme ich zu der
ersten Aufgabe unserer Außenpolitik, nachdem wir die
Verortung, wie sie sich uns stellt, gesichert haben -: Die
Erweiterung der Europäischen Union kann nicht an den
Grenzen der Länder enden, mit denen derzeit offiziell
verhandelt wird. Es muß der Leitgedanke für all das,
was wir derzeit an politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Morden und den Verbrechen im
ehemaligen Jugoslawien treffen, sein: Auch diese Staaten gehören zu Europa, so fern es auch liegen mag. Der
Grund für diesen ganzen Einsatz kann nur sein, daß wir
uns wünschen, noch zu Lebzeiten selbst von Menschen
meines Alters - also jetzt Mitte 50 - erleben zu können,
daß diese Länder Mitgliedstaaten einer demokratischen
und pluralistischen und auf dem Weg des Wohlstandes
sich befindenden Europäischen Union sind. Sonst macht
das, was wir da machen, alles keinen Sinn.
({12})
Alle müssen dabei sehr viel lernen. An Ihren, Herr
Kollege Lamers, hin und wieder getätigten Hinweisen,
Sie hätten es mit der damaligen SPD-Opposition so
schwer gehabt,
({13})
habe ich meine Zweifel. Wer hätte sich denn 1988 in
Ihrer Partei Szenarios ausmalen können, welche Herausforderungen durch das damals noch bestehende Jugoslawien auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zukommen würden. Das hätten Sie und auch andere
sich nicht ausmalen können.
({14})
Es war ein gemeinsamer Lernprozeß der Übernahme unangenehmer und vor allem für die betroffenen Soldaten
schwieriger Aufgaben. Wir haben uns dazu durchgerungen, friedenssichernde Kräfte dort hinzuschicken. Ich
gebrauche viel lieber den Ausdruck: mit polizeilichen
Funktionen betraute Menschen dort hinzuschicken, die
vermeiden, daß gemordet wird.
({15})
Das war die erste Lektion, die wir gelernt haben.
Als nächste Stufe in diesem Lernprozeß haben die
Mitglieder dieses Hauses kurz vor der Übernahme ihres neuen Mandats erleben können, daß dies nicht
reichte und wir wegen neuer Herausforderungen mit
dem noch von der alten Bundesregierung vorgelegten
Beschluß über die Androhung von Gewalt den nächsten Schritt gehen mußten. Die alte Bundesregierung
war es noch - zu Recht, sonst hätten wir nicht zugestimmt -, die gesagt hat: Zu der Komponente, daß wir
unter bestimmten Voraussetzungen entscheiden, dort
Sicherheitskräfte hinzuschicken, kommt als Komponente, daß wir auch mit Gewalt durch Angriffe aus der
Luft, an denen sich deutsche Tornados beteiligen sollten, drohen müssen. Dies kann immer nur vorher geschehen; denn die Logik der Gewaltandrohung besteht
darin, daß man von der Hoffnung ausgeht, es sei nicht
nötig, sie anzuwenden.
({16})
Von diesen beiden Komponenten der Konfliktvermeidenden Sicherheitspolitik geht der Deutsche Bundestag
seit Oktober aus; die zweite Komponente ist von der
alten Bundesregierung auf den Weg gebracht worden.
Jetzt komme ich zu der heutigen Vorlage. Ich unterstelle, alle Parteien haben sie wie wir kritisch geprüft.
Der Beschluß, den uns die Bundesregierung vorgelegt
hat, beinhaltet die Möglichkeit der Gewaltandrohung:
deshalb der Verweis auf den Bundestagsbeschluß vom
Oktober. Die offene Situation läßt es nicht zu, daß man
erst dann, wenn man ganz genau weiß, was dort passiert,
einen Beschluß verabschiedet, in dem alles detailliert
geregelt ist. In der Kombination aus Einsatz von Sicherheitskräften nach Vertragsabschluß - in der Zwischenzeit müssen im Ernstfall die OSZE-Vertreter evakuiert
werden können - und der Androhung von Gewalt, um
gegebenenfalls eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, ist die Vorlage der Bundesregierung nach unserer
Einschätzung zustimmungsfähig. Das will ich an dieser
Stelle deutlich hervorheben.
({17})
Die derzeitige Hauptaufgabe deutscher Außenpolitik
ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß es ein
vereintes Europa einschließlich Mostar, Belgrad und
Pristina geben kann. Manchmal stellt sich die Frage:
Kann Europa die Verantwortung, die es in dieser europäischen Krisenregion übernimmt, in der ganzen Welt
übernehmen? Die Antwort kann nur lauten: Im Sinne
der Werte der deutschen Außenpolitik ja. Am Anfang
meiner Rede habe ich sie nicht genannt; jetzt will ich sie
aber einführen: Am besten werden sie von Immanuel
Kant im ausgehenden 18. Jahrhundert formuliert, nämlich eine Welt zu schaffen, die demokratische Verfassungen hat und in der es keine Gewaltkonflikte gibt, in
der sich die Länder der Welt an diesen Werten orientieren.
Die Besinnung auf die Realität der geopolitischen
Lage aber ergibt, daß man sich zuerst dort für diese
Werte einsetzen sollte, wo der Erfolg am ehesten zu erwarten ist, also in der Nachbarschaft. Hier muß dieses
Ziel notfalls unter Androhung von - hoffentlich nicht
anzuwendender - Gewalt und durch Absicherung mittels
Sicherheitskräften erreicht werden. Wenn man sich die
Größe Europas anschaut, dann muß man aber feststellen,
daß ein solches Engagement Europas weltweit nicht
möglich ist.
Das weltweite Engagement muß anders sein, als es in
Europa möglich und deshalb notwendig ist. Die Sozialdemokratie engagiert sich stark für ein effektiveres
System internationaler Organisationen. Dieses Engagement findet seinen Niederschlag in einer UNOorientierten Politik. Diese Politik sieht die UNO nicht
nur als eine politische, sondern auch als ein ökonomisches System an.
Vor Monaten haben sich auch kluge Menschen noch
geweigert, aus der Asienkrise institutionelle Konsequenzen zu ziehen. Jetzt besteht Ratlosigkeit zwischen Regierungen hinsichtlich der Möglichkeiten zur Abwehr
finanzieller Spekulationen, die die Finanzwelt in der Tat
gefährdet haben. Entsprechende Vorschläge können
auch hier nur sinnvoll sein. Ich sage ganz deutlich: Wir
stehen auch dann zu den Vorschlägen unserer Regierung, wenn sie zur Zeit noch nicht überall Zustimmung
finden. Es ist notwendig, daß Regierungen ein Höchstmaß an kreativer Phantasie und an Bereitschaft entwikkeln, diese Welt ökonomisch besser zusammenzuhalten.
Hier leistet Oskar Lafontaine Beispielhaftes.
({18})
Es wäre hilfreicher, wenn Herr Rubin den Mut hätte,
sozusagen über den Schatten seines privatwirtschaftlichen Backgrounds zu springen, als wenn Sie sich darüber aufregen, daß ein deutscher Finanzminister Mut zu
entsprechenden Vorschlägen hat.
({19})
- Das kommt ganz darauf an, wie Sie Weltsozialismus
definieren. Wenn sich der Weltsozialismus dadurch ausgedrückt, daß demokratisch legitimierte Vertreter aller
Völker, die in den jeweiligen Parlamenten die Regierungen kontrollieren, in Vertreterversammlungen - angefangen bei der Parlamentarischen Versammlung der
NATO über die OSZE bis zu einer ausgebauten IPU darüber diskutieren, wie Schaden auch auf sozialem Gebiet von der Welt abgewendet werden kann, dann muß
ich sagen, daß ich für den Weltsozialismus bin.
Herzlichen Dank.
({20})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da wir heute den Etat des Auswärtigen
Amtes debattieren, möchte ich gerne die Gelegenheit
wahrnehmen, einmal den Mitarbeitern des Hauses unseren herzlichen Dank auszusprechen. Die Zusammenarbeit war immer außerordentlich ersprießlich, und daran
hat sich seit dem Regierungswechsel dankenswerterweise auch nichts geändert.
({0})
Ich habe das deshalb gesagt, weil ich den Beamten
und sonstigen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes keine Schuld daran geben kann und will, daß die deutsche
Außenpolitik im Augenblick - wie es mein Kollege
Partei- und Fraktionsvorsitzender Wolfgang Gerhardt
heute früh schon ausgeführt hat - leider einen desaströsen Eindruck macht.
Herr Fischer, ich muß Ihnen neidlos bestätigen, daß
Sie sich bemühen, „bella figura“ zu machen, und daß
Ihnen das in aller Regel auch recht gut gelingt. Wenn ich
aber betrachte, wie Ihre Kabinettskollegen - die von
dem anderen Koalitionspartner, aber auch Ihr eigener
Parteikollege Trittin - durch die Weltgeschichte taumeln
und Schaden anrichten, kann ich nur sagen: Ich stelle zu
meiner Befriedigung fest, daß die neue Bundesregierung
zumindest den Ländern Liechtenstein und Belize bisher
noch nicht zu nahe getreten ist, was die Beziehungen zu
diesen Ländern sicher sehr fördern wird.
({1})
Fangen wir einmal mit den Franzosen an. Herr Trittin
geht nach Frankreich und sagt, er wolle keinen Schadenersatz zahlen; sofortiger Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung. Die Franzosen sagen: Wir haben aber Verträge, worauf Herr Trittin sagt: Das ist höhere Gewalt. So
schafft man sich Freunde, insbesondere dann, wenn man
- Stichwort: Agenda 2000 - von ihnen Konzessionen
haben will. Dasselbe gilt in Großbritannien.
Lieber Herr Fischer, Sie haben eben gesagt, sie seien
einmal Steinewerfer gewesen. Sie sind das heute noch,
denn Sie sitzen im Glashaus und werfen mit Steinen. Sie
werfen uns vor, wir betrieben Innenpolitik, wenn wir
bestimmte Dinge kritisierten. Sie haben eben Herrn Stoiber erheblich angegriffen und gesagt, er betreibe bayerische Innenpolitik. Das tut er sicher; das mag richtig sein.
Aber Sie tun doch nichts anderes. Wenn Sie nach
Washington gehen und dort völlig unnötigerweise - und
zwar nicht in einer Debatte in NATO-Kreisen, sondern
öffentlich - erklären, die NATO-Strategie müsse jetzt geändert werden, dann stoßen Sie die Amerikaner vor den
Kopf, was Sie nicht deshalb getan haben, weil Ihnen das
Thema so am Herzen liegt, sondern deshalb, weil Sie
einen Parteitag der Grünen zu bestehen hatten, die zu ihrer Verblüffung feststellen mußten, daß ungefähr 98 Prozent grüner Programmatik an der Garderobe der Macht
und der Ministerien abgegeben worden sind.
({2})
Herr Zöpel, ich stimme Ihnen ohne weiteres zu, wenn
Sie sagen - da hatte Herr Lamers nicht recht -, daß die
SPD in der Außenpolitik keine schwierige Oppositionspartei gewesen sei. Ich habe mich über die SPD in ihrer
Zeit in der Opposition immer gefreut. Es wäre mir sehr
recht, wenn ich mich heute ebenso über die SPD an der
Regierung freuen könnte. Da hört mein Vergnügen aber
sehr bald auf.
Ich will Ihnen auch sagen, warum in erster Linie. Ich
war entsetzt, als Bundeskanzler Schröder im Dezember
hier gestanden und die Regierungserklärung zum Wiener EU-Gipfel abgegeben hat. Die ganze Rede lief nämlich auf einen einzigen Punkt hinaus - Maggie Thatcher
hoch drei -: I want my money back. Hier war nichts anderes mehr zu spüren. Ich rede ja nicht von Visionen.
Man kann der alten Regierung vielleicht vorwerfen, daß
sie hin und wieder einen etwas altbackenen und biederen
Eindruck gemacht hat. Aber sie war geradezu tollkühn
avantgardistisch in ihren außenpolitischen Konzepten
und Visionen, wenn man das mit der erbärmlichen Biederkeit und Piefkigkeit der neuen Regierung und ihrem
außenpolitischen Agieren vergleicht.
({3})
Uninspiriert ist noch gar kein Ausdruck. Sie haben auf
alles verzichtet, was uns im Sinne Europas, der Zukunft
unseres Kontinents und damit der Zukunft unseres eigenen Landes und Volkes wichtig sein muß. Denken Sie
einmal darüber nach! Hier ist gesagt worden, Herr Stoiber
habe sich zwiespältig zu der Osterweiterung geäußert; er
wolle sie gar nicht. Wer hat denn hier die Verzögerungen
bei der Osterweiterung zu vertreten? Das waren doch Sie!
Es war doch Herr Schröder, der hier gestanden hat und
gesagt hat, die Osterweiterung kommt erst viel später, als
sich das alle gewünscht haben.
Wolfgang Gerhardt hat auch das heute früh schon gesagt, aber ich will es noch einmal unterstreichen: Das
war doch eine Ohrfeige für all diejenigen in unseren
Nachbarländern in Mittel- und Osteuropa, die sich nichts
sehnlicher wünschen, als nach über 40 Jahren gewaltsamer Trennung endlich wieder dazuzugehören. Das ist
doch auch Symbolik.
Hier ist von nationalen Interessen die Rede gewesen.
Natürlich müssen wir diese vertreten; auch die alte Bundesregierung hat nichts anderes gemacht. Deutsche
Politik ist nämlich um so nationaler, je europäischer sie
ist. An diesen alten Satz sollte man immer wieder einmal erinnern.
({4})
Es ist doch in unserem Interesse, daß wir die Nachbarn
in die EU aufnehmen, und zwar möglichst rasch. Was wäre denn, wenn wir nicht dazu beitragen, daß in den neuen
Demokratien Mittel- und Osteuropas Stabilität entsteht
und bewahrt werden kann? Dann setzen sich doch die
Turbulenzen fort. Dann kommen die Flüchtlinge zu uns.
Einige hier sagen, es sei gefährlich, Arbeitnehmer hierhin
kommen zu lassen. Ich habe aber lieber Arbeitnehmer aus
den mittel- und osteuropäischen Ländern hier als Flüchtlinge. Wir tragen zur Stabilität unserer eigenen Zukunft
bei, wenn wir diese Länder aufnehmen.
Lassen Sie mich zuletzt sagen, Herr Fischer, daß ich
mich sehr freuen würde, wenn Sie beim NATO-Gipfel
im März wieder einen Vorstoß unternähmen, die Politik
der offenen Tür zu verdeutlichen. Es wäre an der Zeit,
an Slowenien und auch an die Slowakei eine Einladung
ergehen zu lassen. Wir haben immer gesagt, daß für die
Aufnahme der Slowakei das Meciar-System das Hindernis sei. Das slowakische Volk hat das Meciar-System in
den Orkus geschickt, wo es hingehört. Ich meine, wir
sollten dies honorieren und die Zeichen setzen, daß die
NATO für diejenigen, die hinein wollen und die Qualifikation dafür mitbringen, offenbleibt.
Ich bedanke mich.
({5})
Für die PDSFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte dem Herrn Bundesaußenminister in Erinnerung rufen, daß er an sich beste Voraussetzungen dafür hatte, etwas umzusetzen, was
im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Um einige
Stichworte zu nennen: Völkerrecht, Menschenrechte,
Dialogbereitschaft, Gewaltverzicht, Vertrauensbildung
und die kategorische Feststellung, daß deutsche Außenpolitik Friedenspolitik ist. Ich glaube, daß es viele Möglichkeiten gab, dies unter Beweis zu stellen. Die Ausgangsbedingungen waren außerordentlich günstig: ein
überzeugender Wahlsieg, ein Umfeld in Europa mit
einer Mehrheit von sozialdemokratisch und sozialistisch
regierten Ländern und die EU-Ratspräsidentschaft. All
dies hat Chancen geboten.
Das, was die Regierung daraus gemacht hat, ist meines Erachtens nicht überzeugend. Ich sage das ohne
Häme. Eigentlich tut es mir sogar leid, weil ich kein Interesse daran habe, daß diese rotgrüne Bundesregierung
scheitert. Die Alternativen dazu - davon konnte man
sich heute an Hand der Debatte in diesem Hause auch
sinnlich überzeugen - sind gräulich.
Es ist aber auch keine Lösung, über die Probleme
hinwegzureden. Das ist eher peinlich; denn so löst man
keine Probleme. Insofern fand ich die engagierte Rede
des Kollegen Schlauch zu der Tätigkeit des Außenministers doch etwas lobhudelnd. Ich weiß nicht, ob es
dem Kollegen Fischer nicht auch ein bißchen peinlich
gewesen ist.
Ich möchte versuchen, meine Position an einigen Beispielen deutlich zu machen, wo die Regierung meiner
Meinung nach erhebliche Defizite zugelassen hat.
Beispiel Nummer eins ist das Völkerrecht. Ich finde,
die Regierung hat, anstatt für die Verrechtlichung der
internationalen Beziehungen einzutreten, mit dazu beigetragen, daß das Völkerrecht ausgehöhlt wird. Um nur
einige Punkte zu nennen: Ohne ein Mandat des Sicherheitsrates der UNO wurden noch vom alten Bundestag
in fragwürdiger Weise die Militärschläge gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien beschlossen. Was damals
noch Ausnahme und Erblast der alten Regierung war,
scheint leider der Normalfall zu werden. Als die USA
und Großbritannien den Irak bombardierten mit dem bekannten Ergebnis, daß nun überhaupt keine UNOInspektionen mehr stattfinden, hat die Regierung eilig
und deutlich Beifall geklatscht. In Mazedonien haben
wir ohne jegliche rechtliche Absicherung als Drohkulisse an einem militärischen Aufmarsch teilgenommen.
Statt an einem Völkerrecht, so ist mein Eindruck,
schreibt die Regierung mit an einem Interventionsrecht.
Beispiel Nummer zwei: die neue NATO. Die Selbstmandatierung der NATO, die von dieser Regierung mitgetragen wird und in der neuen NATO-Strategie fixiert
werden soll, ist ein Zurück von der Dominanz des
Rechtes zum Recht des Stärkeren. Sie nutzt nicht nur die
gegenwärtige Schwäche Rußlands, sondern sie untergräbt auch die bestehende Weltordnung. Aber genau
dies ist gefährlich und höchst destabilisierend, wenn
man keine neue, keine bessere hat. Der Außenminister
redet nach meinem Geschmack zuwenig der OSZE das
Wort.
({0})
Er spricht unter der Losung der Selbständigkeit Europas
als militärischer Arm der Europäischen Union zuviel
über die WEU.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin sehr
dafür, mehr eigenständige Akzente auf europäischer
Ebene in der Außen- und Sicherheitspolitik zu setzen.
Aber sie sollten friedlich, zivil und völkerrechtlich gesichert sein.
Ich bin auch für die Entfaltung der transatlantischen
Beziehungen, aber nicht für eine offenkundig unkritische Unterordnung unter die Interessen der USA. Was
Frau Albright im Namen der USA zum Beispiel gegenüber Jugoslawien durchzusetzen versucht, erinnert mich
sehr an die Breschnew-Doktrin von der begrenzten
Souveränität. Ich finde, das sollte eine deutsche Regierung nicht mittragen.
({1})
Beispiel drei: Abrüstung. Von Abrüstung, Atomwaffenabbau, ja selbst vom Vorschlag des Verzichtes auf
den Ersteinsatz von Nuklearwaffen ist immer weniger zu
hören. Ich sehe eine besondere Tragik darin, daß eine
rotgrüne Regierung bereit war, ja zu sagen zur deutschen
Beteiligung an Bombenabwürfen und Truppeneinsätzen
in Jugoslawien.
Obwohl es mir ausgesprochen peinlich ist, finde ich
die formale und die rechtliche Argumentation von Herrn
Lamers zu dem, was hier vorliegt und was dem Bundestag abgefordert wird, nämlich Rahmenbedingungen
für einen Vertrag mitzuschaffen, der überhaupt noch
nicht abgeschlossen ist, wobei es außerordentlich fraglich ist, ob er in dieser Form abgeschlossen wird - denn
sonst wäre er bereits abgeschlossen worden -, korrekt,
das Ansinnen der Bundesregierung hingegen eine Zumutung. Zur inhaltlichen Seite habe ich natürlich eine
völlig andere Position als die, die Herr Lamers hier vorgetragen hat.
Ich finde, das Ganze spiegelt sich - das ist Beispiel
vier - auch im Haushalt wider. Allein für Auslandseinsätze der Bundeswehr sieht die Planung bis jetzt einen
Beitrag von 1 Milliarde DM vor. Welche Einsätze im
Rahmen der NATO-Strategie noch erfolgen, ist offen.
Diesem Betrag von vorläufig 1 Milliarde DM stehen
Beträge von geplanten 68 Millionen DM für humanitäre
Leistungen, 10 Millionen DM für friedenserhaltende
Maßnahmen der UNO und 16 Millionen DM für das
weltweite Minenräumen gegenüber. Das sind noch nicht
einmal 100 Millionen DM für friedenspolitische Aktivitäten.
Herr Kollege, bitte
denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich denke die ganze Zeit
an meine Redezeit, die leider so knapp ist, daß ich zum
Schluß kommen muß.
({0})
- Man kann darüber streiten, wessen Zeit abgelaufen ist
und wessen Zeit gerade anfängt oder wiederbeginnt. Ich
habe ja heute mit Freude vernommen, daß der Kanzler
Friedrich Engels zitiert hat. Mein Kollege Zöpel hat vom
Weltsozialismus gesprochen. Das sind doch optimistische Perspektiven, die hier eröffnet werden.
Nun komme ich zum Schluß. Ich hoffe sehr, daß die
Regierung kritischer über ihre Außenpolitik nachdenkt,
und ich glaube, daß wir eine öffentliche Debatte über die
Außenpolitik brauchen.
({1})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Friedbert Pflüger,
CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Fischer hat
soeben in seiner Rede gesagt, daß er darunter leide, im
Zusammenhang mit dem Kosovo die Machtlosigkeit
Europas zu spüren. Ich glaube, daß wir alle dieses Leiden teilen. Denn Europa ist in der Tat noch immer nicht
so stark, wie es sein könnte und wie wir es uns alle wünschen. Es ist nicht der Faktor in der Weltpolitik, den der
Euro und die wirtschaftliche Kraft Europas eigentlich erfordern würden.
In dem Bestreben nach einem stärkeren und handlungsfähigeren Europa, Herr Kollege Fischer, läßt sich
die CDU/CSU von niemandem übertreffen. Da brauchen
wir von niemandem Nachhilfeunterricht. Wir sind die
Partei, die in der Tradition von Konrad Adenauer und
Helmut Kohl steht. Wir wollen und wir werden Europa
gemeinsam stärker machen.
({0})
Wenn wir diese Stärke Europas bekommen, erhalten
und ausbauen wollen, ist entscheidend, daß die deutsche
Außenpolitik berechenbar und stabil bleibt, daß sie angesichts der Unordnung der Welt der Stabilitätsanker
bleibt. Ich stelle die Frage, ob denn die Bundesregierung
mit dem, was sie in den ersten 100 Tagen gemacht hat,
diesem Ziel gedient hat. Ich sage: In wesentlichen Teilen
der Politik hat insbesondere der Bundeskanzler dazu
beigetragen, daß die Berechenbarkeit dessen, was aus
Deutschland kommt, verlorengegangen ist, daß die
Leute im Westen, im Osten und in Amerika nicht mehr
genau wissen, was die Linie der deutschen Außenpolitik
ist. Das ist das Allerschlechteste - wenn man Europa
voranbringen will -, daß wir Deutsche als Stabilitätsanker ausscheiden.
({1})
Herr Kollege Fischer, ich glaube, an vier Punkten
kann man sehen, daß das Vertrauen, das aufgebaut worden ist, bedroht ist. Der erste Punkt ist die Nuklearpolitik, der zweite Punkt ist das Thema Osterweiterung, der
dritte Punkt sind die Muskelspiele von Gerhard Schröder
zum Thema Nettozahlerposition, und der vierte Punkt ist
das Gerede über die EZB, ist das Schwachreden des Euro und sind die Äußerungen des Bundesfinanzministers
über unsere neue Währung.
Zum ersten Punkt. Es war eine Ihrer ersten Aktionen
im neuen Amt, die Nuklearoption der NATO in Frage
zu stellen, die Nuklearoption, die unsere Bundesrepublik
Deutschland 50 Jahre lang geschützt hat. Damit ist die
Möglichkeit gemeint, im Notfall einen nuklearen Ersteinsatz gegen andere Völker durchzuführen, die uns
- von wo auch immer sie kommen mögen - angreifen.
Warum haben Sie das gemacht? Sie haben gesagt, die
weltpolitische Situation hat sich geändert. Natürlich ist
das wahr. Rußland ist nicht mehr im Herzen Europas.
Übrigens ist das ein ganz großer Erfolg der Regierung
Kohl, daß Rußland nicht mehr im Herzen Europas steht.
Daß sich Rußland aus Europa herausgezogen hat, dafür
sind wir alle dankbar. In der Tat braucht man - da haben
Sie recht - die Nuklearoption nicht mehr gegen die große konventionelle Übermacht, die die damalige Sowjetunion hatte. Sie hat es früher gegeben, und sie gibt es
heute nicht mehr.
Aber dafür gibt es heute andere Gefahren. Massenvernichtungswaffen sind verbreitet wie nie zuvor in der
Geschichte. Wir werden es demnächst mit B- und CWaffen von Ländern wie Irak, Iran, vielleicht von Libyen und anderen zu tun bekommen. Es wird vielleicht
auch nuklearen Terrorismus geben. Angesichts dieser
neuen Gefahren ist es doch unsinnig, auf diese Option
zu verzichten; im Falle eines Angriffs auf unser Land
und seine Bürger müssen wir uns diese Option offenhalten.
Vor allen Dingen ist es aber deshalb unsinnig, weil
die Frage gestellt werden muß: Ist es eigentlich klug,
daß wir, die 50 Jahre lang diesen nuklearen Schutz
Amerikas gehabt haben, uns an die Spitze derjenigen
setzen, die in dieser Frage eine neue Debatte fordern?
Wir sind bisher klug beraten gewesen, in diesen Dingen
etwas vorsichtiger zu sein. Ich glaube, daß Sie hier einen
wirklichen, entscheidenden Fehler gemacht haben, der
bis heute überall im Bündnis zur Irritation beiträgt.
Bitte werden Sie in Fragen der NATO und der transatlantischen Beziehungen wieder ein berechenbarer
Partner, weil Sie sonst das Gewicht der Bundesrepublik
Deutschland gegenüber den USA aufs Spiel setzen.
({2})
Der zweite Punkt ist das Thema Osterweiterung.
Hier spreche ich weniger Sie, Herr Außenminister, an,
als vielmehr den Bundeskanzler. Praktisch vom Beginn
seiner Amtszeit an hat er gesagt, damit müßten wir uns
jetzt mehr Zeit lassen; es gebe riesige Probleme; es müsse ein neuer Realismus her; es habe bisher nur Illusionen
gegeben.
Was hat denn diese Diskussion bewirkt? Die Folge
war, daß man in Polen, in Ungarn, in Tschechien, aber
auch im Baltikum, in Bulgarien, in Rumänien, überall in
Mittel- und Osteuropa die Frage stellte: Was verändert
sich da am deutschen Kurs? Wollen die Deutschen das
nicht mehr wie früher? Sind die Deutschen nicht mehr
die Lokomotive bei der Erweiterung -, man müßte
eigentlich sagen: der Wiedervereinigung Europas? Das
ist doch nicht etwas, was die Union erfunden hat, was
das Konrad-Adenauer-Haus zur Verunsicherung der
Menschen in die Gegend streut.
Wenn Sie nach Polen, nach Ungarn - wohin Sie
wollen - fahren, sagen Ihnen doch die Politiker sofort:
Wir hoffen, daß ihr Deutschen weiter unser Anwalt
bleibt.
({3})
- Herr Kollege Zöpel, ich glaube Ihnen, daß Sie das
weiter wollen. Aber es sind Irritationen entstanden. Diese Irritationen sind nicht in unserem deutschen Interesse.
Bisher haben wir in diesen Ländern unendlich viel Vertrauen gewonnen; wir haben übrigens auch neue Märkte
in diesen Ländern gewonnen, weil man dort gesagt hat:
Die Deutschen sind in dieser Frage auf unserer Seite.
Mit diesem neu erkämpften Gut muß man sehr vorsichtig umgehen.
Ich glaube, daß die Osterweiterung das erste strategische Interesse der Bundesrepublik Deutschland ist, weil
wir aus unserer Randlage herauskommen.
({4})
Wir kommen aus der deutschen Randlage heraus, wir
sind nur noch von stabilen Partnern umgeben. Das so zu
behandeln, wie es der Herr Bundeskanzler mit seinen
Äußerungen getan hat - nicht wie Sie, Herr Fischer! -,
ist, glaube ich, in der Tat fahrlässig.
Wir exportieren inzwischen nach Mittel- und Osteuropa mehr als in die USA. Mittel- und Osteuropa sind
für uns eine Wachstums- und Konjunkturmaschine.
Wollen wir all das aufgeben, indem wir die ganze Sache
jetzt abbremsen? Herr Kollege Zöpel, es geht nicht darum, jetzt ein Datum festzulegen.
({5})
Ich verstehe, daß man erst einmal die Agenda 2000 hinbekommen muß. Aber wir brauchen bald ein Datum;
denn sonst verunsichern wir die Reformer in diesen
Ländern. Vor allen Dingen dürfen wir keinen Hauch von
Zweifel an unserer Entschlossenheit in dieser Richtung
haben. Den Herren Brecht und Zöpel glaube ich das,
beim Bundeskanzler bin ich da nicht überzeugt.
({6})
Zum dritten Punkt, der Diskussion um die Nettozahlerposition. Herr Schröder hat sich heute sehr wortreich
und sehr lautstark darüber beklagt - an die Adresse des
bayerischen Ministerpräsidenten gewandt -, man lege
die Meßlatte mit 14 Milliarden DM zu hoch. Der Kollege
Lamers hat für die Fraktion der CDU/CSU eben zunächst
klargestellt, daß die 14 Milliarden DM auf einen Beschluß
der Finanzminister und Ministerpräsidenten vor einigen
Jahren - unter Einschluß von Schröder und anderen - zurückgingen, und darauf hingewiesen, daß dieser Betrag
zwar in dem Papier zitiert wird, aber dies nicht das ist,
was die Union letztlich erwartet. Denn wir sind Realisten
und wissen, daß es Kompromisse geben muß.
Wer hat denn die ganze Diskussion um die Nettozahlerposition herbeigeführt? Wer hat denn den Eindruck vermittelt, das wichtigste Ziel in Europa sei, Geld
zu sparen? Das war Herr Schröder mit seiner unglaublichen, populistischen Bemerkung auf dem Saarbrücker
Delegiertentag der SPD, Brüssel verbrate unser Geld,
das wir hier in Deutschland hart erarbeiten müßten.
({7})
Das ist doch an Populismus nicht zu übertreffen gewesen. Damit hat er Geister gerufen, die man jetzt natürlich
nur schwer wieder los wird.
Wir müssen sehr aufpassen, und zwar alle miteinander, daß der Gipfel, vor dem wir stehen - der wirklich
sehr wichtig ist, übrigens auch für die Stabilität des Euro
-, nicht zu einem Verteilungsgipfel wird, sondern daß es
ein Gestaltungsgipfel wird. Das Ziel dieses Gipfels ist,
Europa fit zu machen für die großen Aufgaben, die vor
uns liegen. Das ist das Entscheidende, und diesbezüglich
hat Herr Schröder am Anfang falsche Töne gesetzt. Herr
Kollege Fischer, das sollten Sie innerhalb der Koalition
zur Kenntnis nehmen.
Der vierte Punkt betrifft die Europäische Zentralbank und den Euro. Auch das ist - das können Sie doch
überall nachlesen - keine Erfindung des KonradAdenauer-Hauses. Nach einer langen Tradition der Stabilität des Geldes, für die unsere Bundesbank und unsere
Finanzpolitik standen, stellt sich der Finanzminister jetzt
hin und sagt, die EZB, die Europäische Zentralbank, sei
nicht nur für Stabilität, sondern auch für Wachstum und
Beschäftigung verantwortlich.
({8})
Das steht zwar im Statut der EZB; als solche ist diese
Äußerung gar nicht schlecht. Nur, sie signalisiert der gesamten Welt eine Veränderung der deutschen Prioritäten. Sie signalisiert der gesamten Welt, daß die Deutschen jetzt nicht mehr der Hüter der Stabilität sind, sondern hier ein bißchen großzügiger werden.
Daraufhin sinkt der Wert des Euro. Aber anstatt sich
besorgt zu zeigen und etwas zu unternehmen, um den
Euro wieder stark zu machen, sagt man: Ach, so
schlecht ist das gar nicht; denn unserem Export dient das
kurzfristig. - Auch das ist wahr. Kurzfristig dient es unserem Export. Nur, wenn Deutschland und Europa gegenüber anderen Teilen dieser Welt langfristig wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann muß die Stabilität des
Euro an erster Stelle stehen. Jeder, der sich daran vergeht, macht wirklich einen bösen und ganz gefährlichen
Fehler.
({9})
Die anderen haben nicht mehr den Eindruck, daß wir es
ernst meinen mit dieser Stabilität. Das ist die große Gefahr.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
Außen- und Europapolitik leben von der Stabilität und
der Berechenbarkeit. Es gibt Bemühungen des Außenministers, manche Fehler zu korrigieren. Aber der Bundeskanzler muß auf diesem Gebiet wirklich zulernen,
und vor allen Dingen muß er Interesse entwickeln für
das Thema. Er muß Interesse entwickeln für andere
Länder und darf nicht glauben, er könne die Außen- und
Europapolitik sozusagen nebenbei machen, immer mit
Augenmerk auf die nächsten Wahlen.
Man muß verantwortlich Außenpolitik betreiben. Dazu bedarf es einer klaren Linie. Diese Linie finden wir
bisher weder in der Außen- noch in der Europapolitik.
({10})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie darüber informieren, daß interfraktionell vereinbart worden
ist, die Debatte über den Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes nicht fortzuführen.
Deshalb kommen wir jetzt zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung. Die Aussprache
wird eröffnet vom Bundesminister der Verteidigung,
Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Die Beratung des Haushaltes des Bundesverteidigungsministeriums findet statt in einer Zeit, in
der sich schon erhebliche Veränderungen vollzogen haben und noch weitere vollziehen werden. Man kann das
an wenigen Beispielen deutlich machen.
In der Bundesrepublik Deutschland waren zum Zeitpunkt der deutschen Einheit etwa 1,5 Millionen Soldaten
stationiert. Es sind jetzt weniger als 500 000. Die Bundeswehr hatte zum Zeitpunkt der deutschen Einheit etwa
700 000 Angehörige. Es sind jetzt etwas weniger als
340 000. Allein diese Zahlen machen deutlich, welche
enorme Veränderung schon stattgefunden hat.
Dies läßt sich auch im internationalen Bereich demonstrieren; denn die Bundesrepublik Deutschland ist
stärker, als sich das mancher beispielsweise vor zehn
oder fünf Jahren hat vorstellen können, an internationaler Friedenssicherung beteiligt - übrigens nicht nur
in Bosnien; ich will darauf hinweisen, daß sie zum Beispiel auch Hilfsflüge unternommen hat, um eine Hungerkatastrophe im Südsudan verhindern zu helfen, oder
daß sie an der Kontrolle und der gewaltfreien Regulierung eines Konfliktes beteiligt ist, den es im georgischabchasischen Gebiet gibt. Dies sind zwei Beispiele neben vielen anderen, die man erwähnen könnte, die noch
einmal illustrieren, wie enorm und wie tiefgreifend die
Veränderungen sind.
In einer solchen Zeit tiefgreifender Veränderungen,
die sich insgesamt sehr positiv für unser Land auswirken, kommt es darauf an, daß die von den Veränderungen in ihre beruflichen und in sozialen Belangen unmittelbar betroffenen Menschen - die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die zivilen Angestellten und deren Familien - ein möglichst großes Maß an planerischer und sozialer Sicherheit haben.
Die Bereitschaft zur Veränderung - das ist im übrigen
auch in der Rede des Bundeskanzlers deutlich geworden
- hängt auch sehr stark davon ab, daß man zwei Dinge
sicherstellt: nämlich einerseits ein festes Fundament, das
ich mit den Stichworten der planerischen und sozialen
Sicherheit bezeichne, andererseits Leistung, Motivation
und die Bereitschaft, die Verantwortung und den Leistungswillen von Menschen zu fördern und voranzubringen. Das gilt ganz selbstverständlich auch innerhalb
der Bundeswehr und ihrer zivilen Verwaltung.
Insofern drücken die Zahlen des Einzelplanes 14 eine
gewollte Politik aus, die auf der einen Seite die beschriebenen Ansprüche einlösen wird und auf der anderen Seite die Bundeswehr fähig machen soll, mit den
Herausforderungen der Zukunft umzugehen und ihren
- im übrigen unverzichtbaren - Beitrag für die Sicherheit, die freiheitliche und friedliche Entwicklung unseres
Landes und unserer Partner und Freunde zu gewährleisten.
Ich will das wiederum an nur einem Beispiel deutlich
machen, nämlich an der Frage, wie sich denn die Bundeswehr auf solche neuen Herausforderungen einrichten
kann und worin sie tatsächlich bestehen. Es ist schon
deutlich geworden, daß sich die Bundesrepublik
Deutschland viel stärker als in der Vergangenheit an
Maßnahmen der internationalen Friedenssicherung beteiligt. Das kann man nicht allein auf den militärischen
Beitrag zu solcher Friedenssicherung beschränken. Zu
einer integrierten oder kohärenten Politik gehören auch
vorbeugende Krisenbekämpfung, schnelle Beseitigung
von Krisenursachen und Hilfe bei der zivilen Entwicklung eines Landes oder einer Region.
Das hat Auswirkungen auf vielfältige internationale
Institutionen, beispielsweise auf die Vereinten Nationen
und ihre Entwicklungsagentur. Es hat Auswirkungen auf
die Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, die
Vereinten Nationen zu stärken und im Interesse dieser
Stärkung entsprechende Möglichkeiten zur Verfügung
zu stellen. Es hat auch Auswirkungen auf die Diskussion
um eine neue Strategie der NATO und die Rolle der
Europäer innerhalb der NATO.
Dazu kurz folgende Hinweise. Im Rahmen der neuen
NATO wird ein neues strategisches Konzept beraten,
das auf folgende Entwicklungen sehr genau eingehen
wird: die Kooperation mit anderen Partnern der gemeinsamen Sicherheit in Europa wie beispielsweise - aber
nicht alleine - Rußland und die Ukraine, die Aufnahme
neuer Mitglieder in die NATO und die Unterstreichung
der Tatsache, daß es eine offene Tür für weitere Mitgliedschaften in der NATO gibt. Allerdings füge ich
hinzu, daß gerade die NATO nicht irgendein politischer
oder gar sozialer Club ist, sondern ein militärisches
Bündnis mit Aufgaben, die in der festen und zuverlässigen Friedenssicherung ruhen. Folgerichtig müssen von
den Staaten, die NATO-Mitglied werden wollen, auch
gewisse Anforderungen erfüllt werden. Das sind Anforderungen an Ihre demokratische Kultur; das sind Anforderungen an ihre parlamentarische Festigkeit; und das
sind Anforderungen an ihre militärische Leistungsfähigkeit.
Nicht zuletzt wird es darauf ankommen, das Gewicht
der Europäer innerhalb der NATO zu stärken, was auf
zweierlei Weise geschehen soll. Es ist das Ziel der doppelten Präsidentschaft - der Präsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union wie in
der Westeuropäischen Union -, dafür zu sorgen, daß zunächst, noch vor dem Gipfel in Washington, die Vereinbarungen, auf die man sich schon vor Jahren in Berlin
verständigt hatte, nun endlich formalisiert werden und
daß die Europäer im Rahmen der westeuropäischen
Union fähig werden, unter Nutzung von NATOStrukturen und NATO-Möglichkeiten eigenständig zu
handeln.
Nach dem Washingtoner Gipfel wird ein zweiter
Schritt unternommen werden, und zwar mit einer
Initiative der Bundesregierung, die das Ziel hat, eine
Integration der Westeuropäischen Union in die Europäische Union schrittweise auf den Weg zu bringen.
Damit ist für solche NATO-Mitgliedstaaten, die noch
nicht Mitglied der Europäischen Union sind, ein Brükkenschlag verbunden, der ihnen im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine engere
Zusammenarbeit mit der Europäischen Union ermöglichen soll.
Vor diesem international und politisch beschriebenen
Hintergrund taucht die Frage auf, ob die Bundeswehr in
ihrer Struktur, in ihrer Ausrüstung und in ihrem Umfang
solchen Aufgaben gewachsen ist. Es ist das Ziel der
Bundesregierung, sicherzustellen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland an allen Aufgaben, die sich international stellen, dem Gewicht der Bundesrepublik
Deutschland entsprechend beteiligen kann. Es gibt in der
Struktur wie auch in der Ausrüstung der Bundeswehr
ganz offensichtlich Bedarf, entsprechende Veränderungen herbeizuführen. Das will ich ausdrücklich auch im
Lichte einer Serie von insgesamt sechs Tagungen mit
Angehörigen der Bundeswehr sagen, auf denen man viel
über das Innenleben der Bundeswehr, aber auch manches darüber erfährt, wie die Leistungsfähigkeit der
Bundeswehr von denen beurteilt wird, die sie von der
Basis und vom alltäglichen Betrieb her kennen.
Vor diesem Hintergrund ist es mir wichtig, daß der
Investitionsanteil im Haushalt des Bundesverteidigungsministeriums zum ersten Mal seit Jahren nicht
mehr sinkt, sondern wieder steigt.
({0})
- Daß Sie das bezweifeln, Herr Breuer, erklärt sich aus
Ihrer Rolle heraus, aber nicht aus den Tatsachen.
({1})
Es gehört ja zum pflichtschuldigen Programm einer
jeden Opposition, etwas zu bezweifeln.
({2})
Es ist nicht notwendig, alle Fehler zu wiederholen,
die in den letzten 16 Jahren gemacht wurden. Im übrigen
habe ich nichts dagegen, wenn die Opposition jetzt wieder 16 Jahre dauert. Aber das ist Ihre Sache, nicht so
sehr meine.
Der Investitionsanteil - den Haushalt und seine Verabschiedung vorausgesetzt - in der Größenordnung von
etwas mehr als 25 Prozent ist in seiner Steigerung erfreulich, aber auf Dauer - das ist festzuhalten - ist ein
Investitionsanteil von 25 Prozent zu niedrig. Es hat
überhaupt keinen Sinn, sich daran vorbeizumogeln.
({3})
Denn mit Blick auf die Aufgaben, die sich aus dem beschriebenen Umfeld stellen, ist ein dauerhafter Investitionsanteil von 25 Prozent im Vergleich zu 1998 und den
Vorjahren zwar eine erfreuliche Steigerung, es wird für
die Zukunft allerdings nicht reichen. Ich sage das auch im
Hinblick darauf, daß man in der Haushaltspolitik nicht
nur ein Haushaltsjahr betrachten, sondern eine langfristige
politische Linie deutlich werden lassen sollte.
Vor diesem Hintergrund wird vielleicht verständlicher,
weshalb es mir und der Führung auf der Hardthöhe besonders wichtig ist, jetzt schon alle Maßnahmen zu ergreifen, die eine höhere Effizienz bei der Verwendung von
Steuermitteln sicherstellen und die gewährleisten sollen,
daß die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr gesteigert und
die manchmal knebelnde Bürokratie reduziert werden.
Auch das ist ein Ergebnis solcher Tagungen.
({4})
Ich will das Parlament ausdrücklich einladen, im
Rahmen der Haushaltsberatungen mit der Bundesregierung und dem Bundesverteidigungsminister darüber
nachzudenken, wie man zusätzliche Möglichkeiten in
dem gerade beschriebenen Interesse, nämlich Effizienz
und Leistungsfähigkeit steigern und Bürokratie abbauen,
entsprechend verankern kann.
Sie wissen, daß die Bundeswehr eine außerordentlich
moderne Verwaltung hat. Das soll uns aber nicht daran
hindern, diese Verwaltung weiter zu modernisieren. Das
hat mit Stichworten zu tun, die sich zunächst sehr
technokratisch anhören: Verantwortung für Kosten und
Leistung, flexible Budgetierung und andere Dinge mehr,
die ich jetzt nicht alle aufzählen will. Sie alle haben ein
Ziel - das habe ich ganz zu Anfang genannt -: Leistungsfähigkeit, Motivation, Verantwortungsbereitschaft
sind auf der Grundlage planerischer und sozialer Sicherheit die Voraussetzung dafür, daß man solche Veränderungen mit den Menschen macht und sie zur Gestaltung,
zur Mitverantwortung einlädt, anstatt Sparprozesse gegen sie zu organisieren und sie immer wie eine Belastung erscheinen zu lassen.
({5})
Im übrigen geht es weniger ums Sparen selbst, sondern
um die beschriebenen Ziele der Effizienz, der Leistungssteigerung und der wirtschaftlichen Verwendung von
Mitteln.
Das wird mit Blick auf den Haushalt auch im Zusammenhang mit der Rüstungsplanung und der Art und
Weise, wie sie vorgenommen und verwirklicht wird, bestimmte Konsequenzen haben. Eine will ich hier andeuten. Die Hardthöhe wird noch in diesem Jahr und parallel zur Verabschiedung des Haushalts Methoden eines
Controlling einführen, wie es in der privaten Wirtschaft
gang und gäbe ist, leider Gottes aber bei so hohen Investitionen von knapp 12 Milliarden DM in der Bundeswehr bisher nicht gang und gäbe war.
({6})
Ich will darauf aufmerksam machen, daß eine Fülle
von Fragen, ganz unbeschadet der zukünftigen Gestalt
der Bundeswehr und der Erörterung, die innerhalb der
Zukunftskommission zu führen sein werden, heute
schon klar erkennbar vor uns liegt. Wenn sie klar erkennbar vor uns liegt, wäre es ziemlich dumm, auf die
Empfehlung der Kommission zu warten. Was entscheidbar ist, wird auch entschieden werden.
Mit Blick auf das finanzielle Volumen registriere ich
mit Aufmerksamkeit und, wie Sie vielleicht verstehen
werden, mit Zufriedenheit den Antrag der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem möglichen Engagement im Kosovo. Wir werden darüber im Laufe der
nächsten Stunden in den Ausschüssen und dann im Plenum des Deutschen Bundestages reden können.
Der Haushalt ist jedoch - das soll meine abschließende Feststellung sein -, wie man in anderen Zusammenhängen sagt, sehr knapp und auf den Rand genäht. Es ist
nicht so, daß man ihn als Steinbruch mißverstehen
könnte. Es ist auch nicht so, daß man den 340 000 Angehörigen und den über 120 000 Zivilangestellten der
Bundeswehr signalisieren sollte - das wird die Regierung, das wird der Bundesverteidigungsminister auch
nicht tun -, als könne man den Haushalt des Bundesverteidigungsministeriums als Verfügungsmasse zur
Erledigung anderer Aufgaben betrachten; denn die
Sicherheit eines Landes ist ein langfristiges Gut und
kein konjunkturelles oder Moden unterworfenes Gut.
({7})
Der Raum für die Verantwortung der Bundesrepublik
Deutschland wird größer, und zwar nicht nur durch die
Aufnahme dreier neuer NATO-Mitglieder, was ein
historischer Prozeß und Fortschritt ist, den wir in den
nächsten Tagen endgültig vollziehen werden.
Vor diesem Hintergrund gestatten Sie mir eine abschließende Feststellung: Es gibt Menschen, die
manchmal danach fragen, wo bei diesen enormen Veränderungen unserer sicherheitspolitischen Lage und
unseres sicherheitspolitischen Umfeldes und den Veränderungen in der Bundeswehr selbst - in Umfang, Aufgabenstellung usw. - die Friedensdividende bleibe.
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre hat die Bundesrepublik Deutschland 25 Prozent ihrer Steuereinnahmen
für Zwecke des Einzelplans 14, also für Verteidigung
ausgegeben. Jetzt gibt die Bundesrepublik Deutschland
etwa 14 Prozent der Steuereinnahmen des Bundes für
Verteidigung aus. Das ist ein Unterschiedsbetrag von
jährlich etwa 35 Milliarden DM.
Gleichzeitig ist durch das Engagement auch der Bundeswehr, was die militärische Absicherung des Abkommens von Dayton und die friedliche Entwicklung in
Bosnien-Herzegowina angeht, und auch durch eine sehr
umfangreiche zivilmilitärische Zusammenarbeit, die die
Bundeswehr in vorbildlicher Weise in Bosnien praktiziert,
({8})
die Möglichkeit geschaffen worden, daß die Zahl der
Flüchtlinge, die Deutschland beherbergt hatte, und zwar
mit gutem Grund - ich finde es immer ehrenvoll,
Flüchtlingen zu helfen -,
({9})
von zirka 350 000 auf weniger als 100 000 zurückgegangen ist. In dieser Zahl steckt zugleich - obwohl das
nicht der wichtigste Gesichtspunkt ist, sollte man ihn berücksichtigen - eine Veränderung in den finanziellen
Aufwendungen von deutlich über 10 Milliarden DM.
({10})
Wenn man diese beiden Summen - die Veränderungen hinsichtlich dessen, was wir aus den Steuereinnahmen des Bundes für Verteidigung aufwenden, und hinsichtlich dessen, was insbesondere Gemeinden durch
friedliches Engagement sparen können oder gespart haben - zusammenrechnet, dann wird man feststellen, daß
die Friedensdividende nur aus diesen beiden Positionen
etwa so hoch ist wie der Verteidigungshaushalt heute.
Das, meine ich, ist beachtlich; denn das heißt, die Bundeswehr ist um 42 Prozent reduziert worden, und mit
Blick auf den Gesamthaushalt sind die Aufwendungen
für die Bundeswehr um rund 50 Prozent reduziert worden. Das ist ein beachtlicher Fortschritt. Aber die quantitativen Grenzen sind erreicht. Jetzt geht es darum, die
qualitativen Möglichkeiten zu erweitern, und dazu
möchte ich Sie ausdrücklich einladen.
({11})
Bevor ich das Wort
weitergebe, muß ich, an den Kollegen Kubatschka gerichtet, der nicht im Saal ist, leider sagen, daß ich seinen
Ausdruck, den er während der Rede des Ministerpräsidenten Stoiber verwendet hat, als unparlamentarisch zurückweise.
({0})
- Sie wollen mich doch wohl nicht provozieren, den
Ausdruck hier zu verlesen?
({1})
Er ist nicht nur unparlamentarisch, sondern - wenn ich
das einmal sagen darf - auch unbayerisch.
({2})
Ich gebe nun dem Kollegen Dietrich Austermann von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsetat ist
mehr noch als der Außenetat, über den wir eben gesprochen haben, ein Spiegelbild, eine Antwort auf die Frage,
wie wir mit unseren Soldaten umgehen. Ich möchte zu
Beginn meiner Rede sagen: Wenn man die internationalen Einsätze sieht, die die Bundeswehr hinter sich hat,
und die Einsätze sieht, die möglicherweise vor der Bundeswehr liegen, wenn man die jahrzehntelange Verteidigungsbereitschaft in unserem Lande sieht, dann ist es,
glaube ich, gut, an dieser Stelle zuerst unseren Soldaten,
den Wehrpflichtigen und den zivilen Mitarbeitern für die
Sicherung des Friedens und die Sicherung der Freiheit
nicht nur in unserem Land zu danken.
({0})
Wir danken für die Einsätze von Kambodscha bis Bosnien und für die Verteidigungsbereitschaft.
Wenn ich das sage, dann muß ich darauf hinweisen,
daß sich die Zeiten in einem derart rasanten Tempo ändern, daß es einem kaum gelingt, seinem Erstaunen über
Veränderungen Ausdruck zu geben. Wer, liebe Kollegen, hätte vor einem Jahr gedacht, daß sozialdemokratische Verteidigungspolitiker im Bündnis mit den Grünen
Überzeugungsarbeit bei der Union zu leisten versuchen,
um den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr im Ausland vorzubereiten?
({1})
Noch vor wenigen Jahren stellte sich der jetzige
Außenminister, der das eben auch eingestanden hat, gegen seine Fraktionsmehrheit und widersprach sogar
Blauhelmeinsätzen. Als es zum erstenmal um die Sicherung der Menschenrechte in Bosnien ging, mußten wir
uns in einer Haushaltsdebatte von einer grünen Abgeordneten vorhalten lassen, wir wiederholten den Einsatz
der Wehrmacht in Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg.
Es ist noch nicht einmal ein Jahr her, daß uns vorgeworfen wurde, das mehr proklamierte als realisierte Leitbild
vom Staatsbürger in Uniform würde von uns zugunsten
des universellen Kämpfers ausgehöhlt. Von Militarisierung der Außenpolitik war die Rede, und es hieß, das
Wort „Menschenrechte“ werde instrumentalisiert und zu
einem ideologischen Begriff zur Durchsetzung der Interessen der Reichen und der Wohlhabenden pervertiert.
Das waren doch alles Ihre Worte, Frau Beer. Ich erwarte
eigentlich, daß Sie heute zum erstenmal von dieser
Stelle aus sagen, Sie hätten sich geirrt, die Position, die
Sie bisher eingenommen hätten, sei falsch gewesen und
habe der Bundeswehr, die Anspruch darauf hat, daß sie
vom gesamten Parlament unterstützt und getragen wird,
eher geschadet.
({2})
Das gilt insbesondere dann, wenn man sich vor Augen
hält, daß Sie, die Sie noch vor zehn Monaten den Kosovo-Einsatz abgelehnt haben, nun mit Fernsehkameras an
die Stätte Ihrer bisherigen Menschenrechtsverweigerung
drängen.
({3})
- Sie können ja gern dazu Stellung nehmen.
Wenn in den Regierungsfraktionen insoweit tatsächlich ein neuer Kurs Platz greift, dann frage ich mich,
warum Sie in Zukunft - das steht in der Koalitionsvereinbarung - die militärische Ausstattungshilfe der Bundeswehr verweigern wollen, die eine Hilfe für die Ärmsten der Armen auf der Welt darstellt. Die Beendigung
der militärischen Ausstattungshilfe wäre ein Unfug, weil
sie gerade in vielen Ländern Schwarzafrikas den Menschen in den letzten Jahren im medizinischen und humanitären Bereich großartig geholfen hat.
Noch vor einem Jahr war es richtig, wenn man die
Situation so beschrieben hat: Ungarn will in die NATO,
die Grünen wollen raus, Ungarn und Polen wollen in die
EU, und Rotgrün sagt nein.
Wir haben immer gesagt, der Auftrag der Streitkräfte bestehe nach dem politischen Umbruch der vergangenen Jahre nicht nur in der Befähigung zur Verteidigung des eigenen nationalen Territoriums, sondern
auch in humanitären Hilfsmaßnahmen bei Katastrophen und Notlagen im Frieden. Dies war, wie gesagt,
bis vor kurzem nicht in allen Teilen des Bundestages
selbstverständlich. Ich bitte deshalb um Verständnis
dafür, wenn wir diejenigen, die bisher und viel zu lange nein gesagt haben, auf dem Weg zur Vernunft oder
auf dem Weg in die Gegenwart nicht besonders herzlich begrüßen. Gerade jetzt braucht die Bundeswehr die
volle und nicht nur die halbherzige Unterstützung. Da
haben viele noch einen langen Weg vor sich. Volle
Unterstützung ist vor allem im wehrtechnischen und
materiellen Bereich vonnöten.
Ich komme zur finanziellen Seite des Etats für die
Bundeswehr. Der Bundesverteidigungsminister hat bereits darüber gesprochen. Herr Scharping, es war eine
kluge Entscheidung, den Waigel-Entwurf für den Verteidigungsetat im wesentlichen zu übernehmen. Sie reiht
sich in andere kluge Entscheidungen in Ihrem Hause ein,
die Kontinuität in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedeuten können.
({4})
Nicht klug war, daß der Finanzminister den Etat um
235 Millionen DM gekürzt hat. Wir werden bei den
Haushaltsberatungen versuchen, diese Kürzung wieder
rückgängig zu machen. Es war auch nicht klug, daß er
gestern gesagt hat, wenn künftig weitere Kürzungen erforderlich seien, dann werde auch der Verteidigungsetat
nicht ungeschoren bleiben können.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Wir sind für Planungssicherheit, Festhalten an der
Wehrpflicht, Fortführung der bedarfsgerechten Ausstattung der Streitkräfte, Aufrechterhaltung der Haushaltsansätze für Ausbildung und Übungen - das sage ich gerade im Blick auf die Unglücksfälle, die vor allem die
Luftwaffe in letzter Zeit ereilt haben -, Fortsetzung der
internationalen Einsätze im ehemaligen Jugoslawien
sowie für die Erweiterung der NATO zum nächstmöglichen Termin. Insoweit scheint es Kontinuität zu geben,
und das begrüßen wir.
Der Verteidigungsetat mit 47,3 Milliarden DM, also
unser Entwurf aus dem letzten Jahr inklusive eines sogenannten Konsolidierungsbeitrages, reicht knapp aus,
den von mir genannten politischen Vorgaben zu entsprechen. Seit dem Regierungswechsel hat sich an den Aufgaben der Bundeswehr nichts geändert. Das, was jetzt
neu hinzukommt, muß auch finanziell neu bewertet
werden. Deshalb begrüßen wir es, daß die zusätzlichen
finanziellen Mittel in Höhe von 620 Millionen DM aus
dem Einzelplan 60 und nicht aus dem Verteidigungsetat
herausgeschnitten werden, wenn es zum internationalen
Einsatz kommt.
({5})
Herr Kollege Breuer wird zu dieser Frage gleich noch
Stellung nehmen.
Der Etat darf nicht gekürzt werden. Die verteidigungsinvestiven Ausgaben sind, Herr Minister, nicht
zum erstenmal in den letzten Jahren gestiegen. Sie steigen seit drei Jahren ständig. Wir können da eigentlich
immer nur wieder darauf hinweisen, daß gerade die damalige Opposition dafür sorgen wollte, daß im Bereich
von Übungen, Materialerhaltung und -beschaffung, von
wehrtechnischer Forschung usw. gekürzt würde. Wären
wir dem damals gefolgt, sähen Ihre Handlungsmöglichkeiten heute deutlich schlechter aus.
Der Etat darf nicht verringert werden, denn es besteht
sonst die Gefahr, daß weitere Vorhaben verschleppt oder
aufgegeben werden und dann vorhandenes Gerät länger
als geplant benutzt wird, mit der Folge höherer Ausgaben bei der Materialerhaltung. Wir haben hier in den
letzten beiden Jahren Mittel aufgestockt. Hier besteht in
der Tat ein weiterer Bedarf.
Wir begrüßen die Entscheidung, die zusätzlichen
Mittel, wie gesagt, aus dem anderen Etat zu entnehmen.
Trotzdem bleibt auch dieser Verteidigungsetat mit
440 Millionen DM für internationale Einsätze belastet.
In dieser Situation könnte man denken, es ist alles in
Ordnung, die überwältigende Mehrheit des Parlaments hat
sich der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung angeschlossen, die hinter der Bundeswehr und auch hinter
der Zahl der Soldaten steht, wenn man nicht aus Vorgesprächen zu den Haushaltsberatungen den Eindruck gewönne, daß sich Haushaltspolitiker, rotgrüne Koalitionsabgeordnete, anschicken, die Zahl der Wehrpflichtigen
um 3 000, die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten um 1 000
noch in diesem Jahr abzusenken, um damit einen Beitrag
zu leisten, Einnahmelücken insbesondere auf Grund des
Steueränderungsgesetzes zu decken.
({6})
- Ich stelle das fest. Wenn es Märchen sind, um so besser. Der eine oder andere aus Ihrer Fraktion läßt erkennen, daß dies die Absicht ist. - Es ist kontraproduktiv im
Hinblick auf die Bemühungen, auch über den Verteidigungsetat etwas zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit
zu tun, wenn man im Bereich der Wehrpflicht sparen
will.
({7})
Sie können an anderer Stelle überall erkennen, daß es
durchaus solche Absichten gibt. Ich verweise auf eine
aktuelle Schrift der Kollegen Kröning und Verheugen.
Kollege Kröning ist im Haushaltsausschuß jetzt für den
Verteidigungsetat verantwortlich. In ihr wird gesagt, die
Zahl der Soldaten sollte auf 250 000, die Ausgaben der
Bundeswehr auf 37,5 Milliarden DM reduziert werden.
Was heißt das denn anderes, als daß Standorte rasiert
werden, wenn die Zahl der Soldaten verringert wird?
Wir wissen seit langem, daß die Grünen, daß sich Frau
Beer damit befaßt, die Bundeswehr ständig zu verkleinern. Die letzte Zahl, die sie vor kurzem genannt hat,
waren 150 000 Mann. Wir sagen: Mit uns nicht! Mit uns
wird auch an der Wehrpflicht nicht herumgefummelt.
({8})
Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, der mir
wichtig zu sein scheint. Man kann die Aktivität der
Bundeswehr auch anders beeinträchtigen als dadurch,
daß man ihr Geld entzieht. Der schleswig-holsteinische
Umweltminister, durch die „Pallas“-Affäre unrühmlich
bekanntgeworden
({9})
- ist leider noch im Amt -, ist dabei, in einer Vorlage
sämtliche Standortübungsplätze der Bundeswehr unter
Naturschutz zu stellen, sie als FFH-Gebiete nach Brüssel zu melden. Man muß sich das einmal vorstellen: Wir
schicken Soldaten in internationale Einsätze, und Herr
Steenblock sagt, Übungsmöglichkeiten im Inland sind
nicht mehr. Den Wehrpflichtigen wird verboten, bei
Übungen auf den Standortübungsplätzen tiefer als einen
Meter zu graben, Äste abzubrechen und sich zu tarnen.
Wir schicken sie in internationale Einsätze, und Umweltschützer sagen dann: Standortübungsplatz wird Naturschutzgebiet. In meinem Wahlkreis liegt in der Meldorfer Bucht eine Munitionserprobungsstelle. Solange
ich im Bundestag bin, sind die Grünen und einzelne
SPD-Abgeordnete dabei, zu sagen, das muß dort endlich
aufhören. Wo will ich denn neue Verteidigungsgeräte,
die unsere Soldaten brauchen, damit sie optimal geschützt sind, erproben, wenn nicht zum Beispiel auf diesem Übungsplatz? Umweltschützer können doch nicht
die Verteidigungspolitik der Bundesrepublik konterkarieren.
Mir sagen Bundeswehrangehörige, überall dort, wo
Rotgrün an der Regierung ist, macht man das gleiche.
Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Der Truppenübungsplatz Wildflecken erstreckt sich über mehrere
Bundesländer. Der hessische Teil ist Naturschutzgebiet;
der Teil, der anders und ordentlich regiert wurde, ist
kein Naturschutzgebiet. Wir sollten den Bürgern klarDietrich Austermann
machen: Wenn man diese Bundeswehr will und sie verteidigungsbereit halten will, muß man ihr auch die
Übungsmöglichkeit geben und darf ihr sie nicht aus der
Hand schlagen.
Lassen Sie mich schließen. Im Rahmen der Haushaltsberatungen werden wir für eine solide Finanzierung der internationalen Einsätze, eine Aufrechterhaltung des Haushaltsvolumens des Waigel-Entwurfs und
Detailverbesserungen eintreten. Die Bundeswehr ist
seit der Wiedervereinigung in einem ständigen Wandel
begriffen. Internationale Einsätze in Kambodscha, Somalia, Bosnien, nun wohl auch im Kosovo waren mit
jeweils steigendem Gefährdungspotential und wachsenden militärischen Anforderungen über die Verteidigungsbereitschaft hinaus verbunden. Diese sich ständig
verändernde Armee kann auf die Unterstützung der
Union rechnen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat die
Kollegin Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Austermann, ich muß Ihnen gratulieren. Sie haben zumindest die Koalitionsvereinbarung von uns gelesen.
Allerdings haben Sie bei Ihrer Liste der Übeltaten der
früheren Oppositionspolitikerin Angelika Beer vergessen, daß sie noch vor einem dreiviertel Jahr auf der Straße gegen den Eurofighter gekämpft hat und in Kürze
einem Verteidigungshaushalt zustimmen wird.
({0})
Unsere Politik mag für Sie intellektuell nicht nachvollziehbar sein. Aber ich will versuchen, ihre Grundzüge zu umreißen. Es geht uns darum, daß wir in Zukunft
eine präventive Außen- und Sicherheitspolitik nicht
nur formulieren, sondern auch gestalten wollen, um damit Defizite der 16jährigen CDU/CSU-F.D.P.-Koalition
zu beseitigen.
Der Haushalt 1999 ist ein Übergangshaushalt. Auf
Grund der unkontrollierten Beschaffungspolitik unter
Volker Rühe und der vertraglichen Festlegungen auf
große Zeiträume haben wir in der Tat geringe Spielräume, um diesen Haushalt zu gestalten. Aber ich glaube,
daß wir dort, wo wir es getan haben, auf dem richtigen
Weg sind.
({1})
Wir werden den Haushalt so gestalten, wie es unserer
Verantwortung, die wir bewußt übernommen haben,
entspricht.
Eine bloße Fortschreibung des Rüheschen Plans ist
aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Das zeigt die
Halbwertszeit der Bundeswehrpläne, die früher vorgelegt worden sind. Das Motto „schieben und strecken“
kann von uns auf Dauer nicht weiter befolgt werden;
denn es würde die Bundeswehr in ein finanzielles und
sicherheitspolitisches Desaster führen.
Die strukturelle Ausrichtung der Bundeswehr ist aus
unserer Sicht sicherheitspolitisch überdimensioniert und
überholt. Wir können sie in dieser Form nicht weiter
finanzieren. Deswegen ist es wichtig, daß die Kommission „Zukunft der Bundeswehr“ eingesetzt wird und
ab April ihre Arbeit aufnimmt und daß bereits vorher
- wie es der Verteidigungsminister ausgeführt hat - im
Rahmen vorsichtiger und nachvollziehbarer Anpassungsprozesse Korrekturen vorgenommen werden, die
ohne Probleme und ohne tiefgreifende Einschnitte
durchführbar sind. Insofern werden wir auch im Rahmen
der Einzelplanberatungen im Verteidigungsausschuß
einige Projekte wie den „Tiger“ und die Bewaffnung für
ein panzerlastiges Heer in Frage stellen und überlegen,
ob wir dort, wo es Überfluß gibt, nicht reduzieren können.
Ich möchte ganz klar sagen, daß die Versäumnisse
der Vergangenheit bereits in den nächsten Monaten aktives Handeln erfordern. Es wird eine Diskussion und
die Entscheidung über die NATO-Strategie geben; der
Amsterdamer Gipfel wird stattfinden. Wir werden auch
feststellen - das ist offensichtlich -, daß es einen Gestaltungszwang im gesamten Bündnis geben wird, also
nicht nur in Deutschland bezüglich der Bundeswehr.
Das zeigt auch die jüngste Ankündigung des spanischen
Partners, die Wehrpflicht abzuschaffen.
({2})
Eine Umstrukturierung der Bundeswehr kann vor diesem Hintergrund zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die Streitkräfte der NATO-Mitgliedsländer und ihre Ausrüstungen müssen auch im
Hinblick auf die internationalen und multinationalen
Einsätze kompatibel sein.
In der Öffentlichkeit hat inzwischen eine Diskussion
über die zukünftige Rolle der Bundeswehr begonnen.
Diese Diskussion ist dringend notwendig. Daß sie begonnen hat, ist zum einen dem Beschluß, die Kommission „Zukunft der Bundeswehr“ einzusetzen, und zum
anderen ganz sicherlich auch dem Stil des neuen Verteidigungsministers Scharping zu verdanken, der mit dem
Tabu des Nichtdiskutierens und mit der Maulkorbideologie Rühes gebrochen hat, der den Dialog mit den
Streitkräften sehr bewußt führt und damit dafür sorgt,
daß sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Armee
selbst die zukünftige Bundeswehr mit ihrer Struktur und
ihrem Auftrag, der neue Dimensionen annehmen wird,
getragen werden wird.
Wir dürfen Sicherheitspolitik heute nicht mehr nur
noch als eine Frage der Bundeswehr betrachten. Sicherheitspolitik ist die Aufgabe der Außenpolitik. Politik hat
die Aufgabe, Krieg und den Ausbruch von Gewalt zu
vermeiden. Hier sind in der Vergangenheit erhebliche
Defizite entstanden. Die frühere Bundesregierung hat
nicht genug dafür getan, daß man auf frühzeitig erkennbare Warnsignale, die es in Bosnien und im Kosovo gegeben hat - ich möchte jetzt nur diese beiden Bereiche
nennen -, rechtzeitig mit nichtmilitärischen Mitteln reagieren kann, um zu verhindern, daß die Bundeswehr
oder die NATO eingesetzt werden muß.
Die frühere Regierung hat es versäumt, die Instrumente einer präventiven Außen- und Sicherheitspolitik
aufzubauen. Damit hat sie darauf verzichtet, Eskalationen im Vorfeld zu verhindern. Die Instrumente, deren
Entwicklung wir vereinbart haben, werden wir in den
nächsten Jahren konsequent schrittweise aufbauen, um
dafür zu sorgen, daß es genau das Dilemma, das wir
heute in der Kosovo-Debatte spüren - jahrelang gewartet zu haben und sich nun in einer Situation zu befinden,
in der der Handlungsspielraum höchstens noch einen
Zentimeter breit ist -, nicht wieder gibt.
Wir von der Regierungskoalition müssen hier und
heute über die Möglichkeiten, weitere Eskalationen zu
verhindern, entscheiden. Wir werden uns davor nicht
drücken. Deswegen werden wir diesen Antrag hinsichtlich der Beteiligung an der Kosovo-Mission in den
Bundestag einbringen. Wir orientieren uns dabei an unserem politischen Ziel: Die Bundeswehrsoldaten werden
zukünftig nur noch dann eingesetzt, wenn vorher alle zivilen Mittel und Instrumente ausprobiert und eingesetzt
worden sind und wenn sie keine Wirkung erzielt haben.
Erst wenn das geschehen ist, haben wir das Recht, zu
sagen, daß die Bundeswehr in multinationalen Einsätzen
versuchen muß, weitere Eskalationen zu verhindern.
({3})
- Ich habe es nicht anders gesehen; vielmehr erzähle ich
der alten Bundesregierung seit 1987, daß sie nicht in der
Lage ist, politisch adäquat auf Krisenherde in Europa
einzuwirken. Sie hat darauf verzichtet, eine europäische
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu formulieren. Darin besteht das Dilemma, das mit dazu geführt hat, daß die Situation in Bosnien und vor allen
Dingen auch im Kosovo überhaupt eskalieren konnte.
({4})
- Ich sage Ihnen das ganz ehrlich. Wir haben andere
Kriterien als Sie. Ist es so schwer, das zu begreifen?
({5})
Es gibt für uns die Verpflichtung einer europäischen
Außen- und Sicherheitspolitik, sich in dem Fall, daß offensichtlich Menschenrechte verletzt werden, Gedanken
darüber zu machen, mit welchen Instrumenten man diese Menschenrechtsverletzungen beenden kann.
Weil wir wissen, daß wir ganz neue Formen von ethnischen Konflikten in Europa haben und auch in der Zukunft haben werden, weil unser Blick weiter als bis zu
den Grenzen Deutschlands oder denen des engeren
NATO-Raums gehen muß, weil wir mit der Osterweiterung der NATO im baltischen, im osteuropäischen und
im gesamteuropäischen Raum Verpflichtungen auf uns
genommen haben, eine Sicherheitsperspektive zu gestalten, die vor einem Militäreinsatz ansetzt, werden wir
entsprechende Instrumente aufbauen, um zukünftig von
dieser leicht kopflosen Reaktionsweise der alten Regierung wegzukommen und das zu tun, was der Verteidigungsminister eben ausgeführt hat.
({6})
Das betrifft dann allerdings nicht den Einzelplan 14,
sondern den Einzelplan 05 und den Einzelplan des
BMZ.
Vielen Dank.
({7})
Ich gebe dem Kollegen Günther Nolting von der F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle nach dem,
was wir von der Kollegin Beer gerade gehört haben,
fest, daß die Magdeburger Beschlüsse der Grünen
weiterhin Bestand haben. Sie hat es etwas verklausuliert
vorgetragen: Es geht den Grünen letztendlich nach wie
vor um die Abschaffung der Bundeswehr, mit dem ersten Schritt der Abschaffung der Wehrpflicht. Es geht
um die Auflösung der NATO, wie es in den Magdeburger Beschlüssen steht.
({0})
Ich will den Horrorkatalog dieser Beschlüsse der Grünen
nicht weiter erläutern.
Frau Kollegin Beer, das, was Sie hier zum möglichen
Kosovo-Einsatz gesagt haben, war für uns unverständlich.
({1})
Es war nicht nachzuvollziehen, und es war auch unehrlich. Ich bin einmal gespannt, wie Sie in den nächsten
Tagen den möglichen Einsatz im Kosovo aus der Sicht
der Grünen als Vorratsbeschluß, wie er jetzt noch besteht - Sie selbst haben von einem Vorratsbeschluß gesprochen -, begründen werden.
Herr Minister, Sie haben davon gesprochen, daß der
Etat nicht reduziert wird. Ich möchte Ihnen entgegnen,
daß es im Vergleich zum Etat der letzten Bundesregierung doch eine leichte Absenkung gegeben hat. Im Blick
auf die Größe dieses Einzelplanes spreche ich hier allerdings wirklich nur von einer leichten Reduzierung.
Ich will Ihnen für die F.D.P. auch ganz bewußt sagen:
Wir haben mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß
bis zum Jahr 2002 die Investitionsrate im Haushalt auf
über 28 Prozent ansteigen soll. Dies wird von uns ausAngelika Beer
drücklich begrüßt, weil es erstrebenswert und notwendig
ist.
({2})
Ich hoffe, daß Sie allen Begehrlichkeiten, die es ja Ihrem
Einzelplan gegenüber gibt, widerstehen können. Ich erinnere auch den Bundeskanzler an seine Zusage, daß der
Einzelplan 14 nicht angetastet wird.
Wir begrüßen ebenso - das sage ich auch ganz ausdrücklich für die F.D.P.-Bundestagsfraktion -, daß es
Ihnen gelungen ist, daß die Finanzen für die mögliche
Kosovo-Friedensmission nicht dem Einzelplan 14 aufgebürdet wurden.
({3})
Wir sollten hier - ich glaube, der Verteidigungsminister
hat es selber gefordert - fraktionsübergreifend eine dauerhafte und vernünftige Lösung finden.
Herr Minister, ich möchte aber kritisch anmerken,
daß der Anteil des Verteidigungsetats am Bruttoinlandsprodukt zur Zeit nur bei 1,2 Prozent liegt. Die
Bundesrepublik Deutschland liegt mit dieser Zahl im
NATO-Vergleich nach Spanien und Luxemburg an
drittletzter Stelle. Dies ist kein gutes Signal im Sinne
von Burden-sharing. Ich denke, die finanzielle Situation
des Verteidigungsetats muß sich insgesamt verbessern.
Sie haben hier von der Stärkung der Leistungsfähigkeit,
von höherer Effizienz und vom Abbau der Bürokratie
gesprochen. Dabei haben Sie die ausdrückliche Unterstützung auch der F.D.P.-Fraktion. Sie müssen aber auch
in Ihrem Haus alle Möglichkeiten zur Rationalisierung
und Privatisierung nutzen.
({4})
Wir erinnern an unseren Vorschlag, auch externe Experten mit einzubeziehen und unter anderem einen Beauftragten einzusetzen, der dem Verteidigungsminister
direkt unterstellt wird. Damit könnte über das hinaus,
was jetzt schon erreicht wurde, effektiv weitergearbeitet
werden. Genauso müssen Sie mit mehr Nachdruck dafür
sorgen, daß die flexible Budgetierung rasch auf alle
Dienststellen, bei denen es möglich ist, übertragen wird.
Hier bis zum Jahr 2004 zu warten, halten wir für falsch.
({5})
Ich will kritisch erwähnen, daß es im Entwurf des
Einzelplans 14 Ausgabenreduzierungen bei den militärischen Anlagen gibt. Es genügt nicht, Herr Minister, die
durchaus sinnvolle Vollendung mehrerer Großprojekte
in Ostdeutschland zu gewährleisten. Es muß auch dafür
Sorge getragen werden, daß in Kasernen und Liegenschaften in Westdeutschland Mindeststandards eingehalten werden. Hier gibt es vielerorts Probleme und
Mißstände. Diese müssen beseitigt werden. Ich denke,
wir werden bei den anstehenden Haushaltsplanberatungen im Verteidigungsausschuß darauf auch noch einmal
zu sprechen kommen.
Ich möchte, meine Damen und Herren, noch die sogenannte Wehrstrukturkommission ansprechen. Die
F.D.P.-Fraktion hält eine solche Kommission keineswegs für den Königsweg. Trotzdem werden wir, wenn
diese Kommission kommt, ihre Arbeit auch mit Anregungen konstruktiv begleiten.
({6})
Wir sind darauf vorbereitet und dazu auch bereit. Ich sage aber für die F.D.P.Fraktion dazu: Diese Kommission
darf nicht zu einer Alibiveranstaltung werden. Die Verantwortung muß bei Regierung und Parlament verbleiben. Ich sage es ganz offen: Die Koalition und die Regierung dürfen sich nicht hinter den Ergebnissen dieser
Kommission, wie ich sie befürchte, verstecken. Wir
werden sie hier vielmehr beim Namen nennen.
({7})
Deswegen kritisiere ich an dieser Stelle, daß in dieser
Kommission niemand aus der aktiven Truppe mit militärischem Sachverstand vertreten ist
({8})
und daß in ihr auch keine verteidigungspolitischen
Fachleute aus dem Parlament vertreten sind. Herr Minister, ist es wirklich Ihre Absicht, die militärische Führung und das Parlament aus der Kommissionsarbeit auszublenden?
({9})
Dies sollte noch einmal überdacht werden.
({10})
- Wo der Kollege Koppelin recht hat, hat er recht. Ich
darf wiederholen, was er gesagt hat: Weil bei den Grünen kein politischer Sachverstand vorhanden ist, soll offensichtlich das Parlament ausgeschaltet werden.
({11})
- Nein, das ist überhaupt nicht primitiv. Ich kann mich
nur dem anschließen, was der Kollege Koppelin dazu
gesagt hat.
Herr Minister, ich will noch auf einen Punkt hinweisen, der die Kommissionsarbeit betrifft. Die Zeit darf
nicht verstreichen, ohne daß bereits in Einzelbereichen
Verbesserungen vorgenommen werden. Ich denke, daß
auch in der weiteren Arbeit des Verteidigungsausschusses und des Haushaltsausschusses der Mensch für die
Bundeswehr im Mittelpunkt stehen muß. Dies kann beispielsweise durch den Abbau von Beförderungsstaus in
verschiedenen Laufbahnen sowie durch verbesserte Bedingungen für die Grundwehrdienstleistenden geschehen. Auch hierüber werden wir bei den Beratungen im
Verteidigungsausschuß zu sprechen haben.
Lassen Sie mich zum Abschluß ein paar Sätze über
den Antrag der Bundesregierung zum möglichen Kosovo-Einsatz sagen. Ich bitte den Verteidigungsminister
und den Außenminister eindringlich, diesen Antrag zu
präzisieren. Ich habe vorhin schon davon gesprochen,
daß auch aus den Reihen der Grünen dieser Beschluß als
Vorratsbeschluß gesehen wird. Wir brauchen im Interesse der Angehörigen der Bundeswehr eine breite Zustimmung. Diese breite Zustimmung bekommen Sie,
wenn Sie den vorliegenden Antrag überarbeiten. Ich
denke, die Angehörigen der Bundeswehr haben dies
verdient.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat die
Abgeordnete Heidi Lippmann-Kasten von der PDSFraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schwierigkeiten von Rambouillet zeigen einmal
mehr, daß Konflikte, die sich schon weit aufgeschaukelt
und gewalttätig entladen haben, nur noch schwer zu bändigen sind. Ob die Verhandlungen erfolgreich gewesen
sind, wird sich frühestens am 15. März zeigen. Doch
letztendlich sind sie nur unter Androhung massiver militärischer Gewalt und Härte zustande gekommen.
Frieden militärisch erzwingen zu wollen darf nicht
zum zukünftigen Primat der Außen- und Sicherheitspolitik werden, denn in den allermeisten Fällen - das
zeigt der Blick auf viele Konfliktherde in dieser Welt wird dies nicht funktionieren. Statt das militärische Instrumentarium auszubauen - dieser Haushaltsentwurf ist
ein Bestandteil dessen -, brauchen wir eine Politik der
Entmilitarisierung und Zivilisierung der internationalen
Beziehungen.
Dabei geht es zentral auch darum, daß an die Stelle
des Rechts der Mächtigen die Herrschaft des Rechts
gesetzt wird. Dazu ist erforderlich, die Vereinten Nationen und ihre Regionalorganisationen wie die OSZE, zu
stärken; denn sie sind für den Weltfrieden und für die
internationale Sicherheit zuständig und nicht in erster
Linie die NATO oder die Bundeswehr. Nur auf diesem
Wege können nationale, regionale oder sonstige Machtinteressen eingeschränkt werden; nur so wird ein gerechter Friedensschluß in vielen Fällen erst möglich. Es
ist auch erforderlich, Konflikte möglichst frühzeitig zu
erkennen, bevor sie eskaliert sind, und ihre Ursachen
dann anzugehen, wenn dies noch möglich ist. Der Kosovo ist das beste Beispiel hierfür.
Zwar hat die neue Bundesregierung im Hinblick auf
Konflikterkennung und -prävention zumindest in
ihrer Koalitionsvereinbarung neue Akzente gesetzt, doch
die praktische Politik - dazu gehört auch dieser Haushalt
- scheint stärker von den Legitimationsinteressen der
Atlantischen Allianz geprägt zu sein als von diesen Einsichten. Es reicht nicht aus, 6 Millionen DM für zivile
Friedensdienste und ein paar D-Mark mehr für die Friedensforschung in den Haushalt einzustellen, wenn Sie
auf der anderen Seite bezüglich des Wehretats den
Trend der Vorgängerregierung fortsetzen und die Rüstungsausgaben weiter steigen lassen.
Der vorliegende Haushaltsentwurf ist paradox.
Paradox, weil die Diskussion über Milliardenlöcher
im Bundeshaushalt, zunehmende Arbeitslosigkeit und Aufkündigungen des Solidarvertrages
schlichtweg nicht mit einem Verteidigungshaushalt
vereinbar sind, der im Vergleich zu den anderen
Titeln überproportional ansteigt und nach NATOKriterien rund 60 Milliarden DM verschlingen
wird. Paradox, weil eine offensichtlich in allen Bereichen handlungsunfähige Regierung glaubt, im
militärischen Bereich durch eine weitere Aufrüstung noch Handlungsfähigkeit vortäuschen zu
können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
hätte jetzt eigentlich euren Applaus erwartet, denn genau
diese Sätze hat Angelika Beer zu dem Haushaltsentwurf
1998 der alten Regierung im September 1997 gesagt.
Schade, daß dieser Applaus nicht gekommen ist. Daran
sieht man halt, wie sich die Positionen verändern. Ich
muß natürlich zugeben, daß es ein anderer Haushalt ist.
Ich zitiere die Kollegin Angelika Beer weiter:
Die Grünen wollen erstens die Einsparpotentiale im
Verteidigungsbereich ausnutzen und auf Wahnsinnsprojekte wie den Eurofighter verzichten.
Angesichts der im vorliegenden Entwurf geplanten Ausgabenerhöhung für neue Waffensysteme um knapp
1 Milliarde DM, davon allein 322 Millionen DM für das
Wahnsinnsprojekt Eurofighter, stellt sich die Frage, wer
oder was nun paradox ist.
({0})
Ihre Politik, die sich in den vergangenen Monaten
abgezeichnet hat und die auf militärische Intervention
und Rüstungszuwachs gerichtet ist, Herr Bundesminister, ist in dieser Frage mindestens genauso fragwürdig - um nicht zu sagen: paradox - wie die Politik der
alten Bundesregierung.
({1})
Es mag zwar ehrenwert sein, eine Kommission „Zukunft der Bundeswehr“ einzusetzen und den ergebnisoffenen Dialog mit den gesellschaftlichen Gruppen suchen zu wollen, doch man kann von einer Regierung
schon verlangen, daß sie ein paar „Duftmarken“ setzt, in
welche Richtung ihrer Meinung nach die Reise gehen
soll.
Oder wollen Sie sich darauf beschränken, eine Politik
des „Weiter so“ zu betreiben? Wollen Sie weiterhin an
der jetzigen Personalstärke der Bundeswehr mit 340 000
Mann und 120 000 Zivilkräften festhalten, weiterhin
Krisenreaktionskräfte aufstellen und in großem Stil neue
Großwaffensysteme beschaffen, was dann unweigerlich
Rüstungssteigerungen nach sich ziehen würde? Falls ja,
Kollegen und Kolleginnen von der SPD und von den
Grünen, müssen Sie aber auch begründen, wozu wir
nach NATO-Kriterien die Militärausgaben von knapp
60 Milliarden DM brauchen und gegen wen sie im Notfall eingesetzt werden sollen.
Falls Sie aber die Chance zu einer spürbaren Entlastung der öffentlichen Haushalte wenigstens mittelfristig
nutzen wollen und Ihre Politik verstärkt auf Entmilitarisierung und Zivilisierung ausrichten wollen, sollten Sie
möglichst rasch damit beginnen. Unsere Änderungsanträge zu diesem Haushalt bieten Ihnen genügend Chancen.
({2})
Das Wort hat der
Kollege Peter Zumkley von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vom Bundesminister der Verteidigung vorgelegte Entwurf des Verteidigungshaushalts
1999 trägt verantwortungsvoller deutscher Sicherheitsund Verteidigungspolitik Rechnung und leitet bei der
Finanzierung unserer Streitkräfte neue Wege ein. Der
Regierungsentwurf des Verteidigungshaushalts 1999 hat
ein Gesamtvolumen von 47,283 Milliarden DM. Er
steigt damit gegenüber 1998 um 1,3 Prozent.
Der investive Anteil am Gesamtplafond erhöht sich
auf 25,4 Prozent in 1999. In der mittelfristigen Finanzplanung wird er sogar auf 28,6 Prozent verbessert. Diese
erfreuliche Entwicklung begrüßen wir sehr.
({0})
Dieser Anstieg ist für den Erhalt einer modernen und
leistungsfähigen Bundeswehr von hoher Bedeutung.
Damit ist der Weg zu einer durchgreifenden Konsolidierung vorgegeben. Die rüstungstechnischen Kapazitäten
der Industrie können auf dem für die Sicherheitsvorsorge erforderlichen Niveau gehalten werden.
Die Personalausgaben konnten gegenüber dem
Vorjahr um über 97 Millionen DM gesenkt werden. Sie
liegen bei knapp über 50 Prozent der Gesamtausgaben
des Einzelplans 14. Damit wird auch bei den Personalkosten behutsam gegengesteuert.
Bei der Materialerhaltung steigen die Ausgaben geringfügig, insbesondere für die Ersatzteilbeschaffung
und die Erhaltung von Feldzeugmaterial, Schiffen und
Flugzeugen. Die Einsatzbereitschaft der wesentlichen
Waffensysteme kann im Haushaltsjahr 1999 bei allen
Teilstreitkräften aufrechterhalten werden.
Die übrigen Betriebsausgaben sinken durch Einsparungen im wesentlichen bei der Bewirtschaftung. Eingriffe in den Ausbildungs- und Übungsbetrieb werden
vermieden.
Die Mittelansätze für Forschung, Entwicklung und
Erprobung sind so dimensioniert, daß der Anschluß an
die wehrtechnische Entwicklung gehalten werden kann
und laufende Entwicklungsvorhaben plangerecht fortgesetzt werden können.
Die Ausgaben für militärische Beschaffung steigen
um knapp 1 Milliarde DM. Damit kann die Finanzierung
aller aktuellen Großvorhaben gesichert werden.
Das Ausgabevolumen für militärische Anlagen geht
gegenüber dem Vorjahr um 3 Prozent zurück. Der Erhalt
der vorhandenen Bausubstanz ist jedoch gewährleistet.
Die planmäßige - das ist wichtig - Fertigstellung der
Großprojekte in den neuen Bundesländern ist gesichert,
der Aufbau Ost wird fortgesetzt.
({1})
Die schwierige Finanzlage erfordert von allen
schmerzhafte Abstriche. Die Bundeswehr kann hiervon
nicht ausgenommen werden.
Herr Kollege Austermann, Sie haben ebenso wie ich
bedauert, daß auch der Einzelplan 14 gekürzt werden
muß, und zwar um 235 Millionen DM. Dies ist ein
Sparbeitrag, der weh tut, aber notwendig ist. Ich komme
jetzt aber einmal zu den Kürzungen, die unter Ihrer
Verantwortung vorgenommen wurden. Was haben Sie
eigentlich in den letzten Jahren gemacht? Sie haben in
den laufenden Haushaltsjahren gegenüber der Planung
wie folgt Kürzungen vorgenommen: 1991 in Höhe von
2,2 Milliarden DM, 1992 in Höhe von 2 Milliarden DM,
1993 in Höhe von 1,4 Milliarden DM, 1994 in Höhe von
1,2 Milliarden DM, 1995 in Höhe von 0,7 Milliarden DM,
1996 in Höhe von 1,8 Milliarden DM, 1997 in Höhe von
1,9 Milliarden DM und 1998 - keine; das war das
Wahljahr. Herr Kollege Austermann, das sind ganz andere Zahlen. Diese können Sie gern im Haushaltsausschuß, dem Sie angehören, überprüfen.
({2})
Ich bitte um Nachsicht. Es ging heute nachmittag bei dem Gespräch der
Parlamentarischen Geschäftsführer um einen Austausch,
der auch den heutigen Ablauf des Plenums berührt.
Deswegen war ich etwas abgelenkt.
Aber ich frage Sie jetzt: Sind Sie bereit, Fragen aus
dem Plenum zu beantworten?
Wenn Sie das nicht auf meine Redezeit anrechnen, gerne.
Dann gebe ich zunächst dem Kollegen Rossmanith das Wort zu einer
Frage.
Herr Kollege
Zumkley, wenn die Litanei, die Sie gerade vorgetragen
haben, schon so schlimm war - ich stimme Ihnen da fast
uneingeschränkt zu -, sind Sie dann nicht auch der MeiHeidi Lippmann-Kasten
nung, daß eine weitere „Strafaktion“ für dieses Jahr
durch eine Kürzung um 235 Millionen DM vermieden
werden sollte?
({0})
Herr Kollege Rossmanith,
ich sehe das nicht als „Strafaktion“ an. Ich habe die
Kürzungen von 1991 bis 1998 nur genannt, um die
Relation zwischen den Kürzungen, die unter Ihrer Verantwortung in den jeweiligen Haushaltsjahren erfolgt
sind, und dem, was jetzt ansteht, einmal deutlich zu
machen.
Gestatten Sie auch
eine Frage des Kollegen Austermann?
Ja, Herr Präsident.
Herr Austermann,
ich hoffe, Sie haben sich nicht zu einer Kurzintervention
gemeldet.
Ganz im Gegenteil. Ich will es kurz machen.
Herr Kollege Zumkley, können Sie erstens bestätigen, daß in der Zeit, in der der Etat scheinbar gekürzt
worden ist, die Zahl der Soldaten in Deutschland von
700 000 auf 350 000 zurückgegangen ist und daß
zweitens die Sozialdemokraten über die Kürzungen
hinaus, die Sie eben mit Recht genannt haben, im Bundesrat jährlich weitere Kürzungen in Milliardenhöhe
gefordert haben?
Herr Kollege Austermann,
letzteres kann ich überhaupt nicht bestätigen.
({0})
- Nein. Wir haben uns schon einmal darüber auseinandergesetzt. Sie haben schon damals fälschlicherweise ein
Papier angezogen, das einen Vorschlag irgendeines Unterausschusses des Bundesrates beinhaltete. Das Ergebnis im Bundesrat war anders; das wissen Sie ganz genau.
Deswegen ist es unzulässig, dies erneut zu behaupten.
Zum ersten Teil Ihrer Frage: Es ist nicht „scheinbar“
gekürzt worden; es ist gekürzt worden. Dafür gab es
wahrscheinlich auch Gründe.
({1})
Und nehmen Sie es bitte zur Kenntnis: Auch für die
Kürzung in Höhe von 235 Millionen DM, die auch ich
bedaure - das habe ich eingeräumt -, gibt es gute Gründe. Diese kennen Sie genauso gut wie wir.
Auch der Kollege
Nolting hat noch eine Zwischenfrage.
Herr Kollege
Zumkley, wir alle bedauern diese Kürzungen. Aber können Sie bestätigen, daß die SPD-Fraktion im Verteidigungsausschuß und im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages über die Kürzungen hinaus, die Sie
gerade vorgelesen haben und die Sie bedauern, in jedem
Jahr weitere Kürzungsvorschläge gemacht hat, die dann
die damalige Koalition zu Ihrem Bedauern abgelehnt
hat? Können Sie das bestätigen, oder soll ich Ihnen bei
nächster Gelegenheit diese Liste vorlesen?
Herr Kollege Nolting, natürlich haben auch wir Kürzungsanträge gestellt. Aber sie
sind von Ihnen deshalb abgelehnt worden
({0})
- einen Moment, hören Sie einmal genau zu -, weil Sie
selber eine viel höhere Summe durch Kürzungen eingespart haben. Das und nichts anderes ist die Wahrheit.
({1})
- Ja, so ist es nun einmal, Herr Kollege Raidel.
Wir werden die vorhandenen Haushaltsmittel sehr
sorgfältig einsetzen. Denn unsere Verantwortung verlangt, daß unsere Streitkräfte für die Bewältigung ihrer
Aufgaben die angemessene Ausrüstung, die notwendige Vorbereitung und die beste Ausbildung erhalten.
Wir brauchen eine gut ausgebildete und ausgerüstete
Bundeswehr, die in der Lage ist, ihre Aufgaben mit bestem Schutz zu erfüllen.
({2})
- Vielen Dank.
Leistungen, die aus operativen Gründen nicht zwingend in den Streitkräften wahrgenommen werden müssen und zum Erhalt von wehrtechnischen Mindestkapazitäten beitragen, werden im Wettbewerb oder mittels
„market testing“ vergeben. Dabei erwarten wir, daß jeder einzelne Fall sorgfältig und intensiv geprüft wird
und die spezifischen Besonderheiten angemessen berücksichtigt werden. Durch die in dieser Weise gesenkten betrieblichen Ausgaben werden Freiräume für die
Materialbewirtschaftung geschaffen, die dem Bedarf der
Teilstreitkräfte aufgabenorientiert und angemessen
Rechnung tragen.
Natürlich muß gespart werden, und deshalb müssen
Prioritäten gesetzt werden. Defizite können nur Schritt
für Schritt abgebaut werden. Vorrang haben deshalb
moderne Informationstechnik, Transportkapazität, Einsatzlogistik sowie persönliche Ausrüstung und Schutz
der Soldaten.
Insgesamt sind und bleiben unsere Streitkräfte modern ausgerüstet. Sie werden auch in den nächsten Jahren neues Gerät erhalten. Ich nenne nur wenige Beispiele: Das sind beim Heer das GTK, der Unterstützungshubschrauber Tiger, der Transporthubschrauber
NH 90. Das Gefechtsübungszentrum in Altmark wird
die Ausbildung unserer Verbände unter Nutzung modernster Technik effektiver gestalten. In der Luftwaffe
wird die Luftverteidigung angemessen verbessert. Für
die Marine sind neue Fregatten und U-Boote unter Vertrag. Mit den Einsatzgruppenversorgern wird die logistische Reichweite deutlich erhöht. Mit diesen Investitionen in alle Teilstreitkräfte sichern wir auch Arbeitsplätze
in Deutschland und fördern eine wettbewerbs- und kooperationsfähige Hochtechnologie mit Synergieeffekten
für nichtmilitärische Entwicklungen.
Einen wichtigen Aspekt des Haushaltsentwurfes will
ich allerdings noch besonders herausstellen: Ich meine
die gesellschaftspolitische Verpflichtung zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Auch hierzu werden die
Streitkräfte einen stärkeren Beitrag leisten. Zukünftig
werden deutlich mehr junge Menschen eine zivilberufliche Ausbildung in der Bundeswehr erlangen können.
Die notwendigen Haushaltsmittel für zusätzliche Lehrstellen - über die bereits vorhandenen zirka 1 400 Ausbildungsplätze eines Altersjahrgangs hinaus - sind eingestellt.
({3})
Im laufenden Jahr stellt die Bundeswehr jungen Frauen
und Männern insgesamt 4 400 zivilberufliche Ausbildungsplätze bereit.
({4})
Darüber hinaus hat der Verteidigungsminister bereits
ein Sonderprogramm für arbeitslose Grundwehrdienstleistende eingerichtet. Junge Rekruten, die vor ihrer
Einberufung arbeitslos waren und denen nach ihrer
Dienstzeit wieder die Arbeitslosigkeit droht, können bis
zu zwölf Monate länger im Dienst bleiben und sich dabei auch zivilberuflich weiterqualifizieren. Meine Damen und Herren, dieses Programm ist ein weiterer
wichtiger Beitrag zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit.
({5})
Insgesamt läßt sich zum vorliegenden Verteidigungshaushalt folgendes Fazit ziehen: Die Bundesregierung
hat mit dem Verteidigungshaushalt 1999 eine solide, sichere und zuverlässige Basis geschaffen, um die Bundeswehr am Anfang des 21. Jahrhunderts aufgabengerecht und bündnispolitisch angemessen gestalten zu
können.
Parallel hierzu wird die Kommission „Zukunft der
Bundeswehr“, Kollege Nolting, auf der Grundlage der
derzeit laufenden Bestandsaufnahme bis Herbst 2000
ihre Vorschläge vorlegen. Bis dahin müssen notwendige
Sach- und Haushaltsentscheidungen so getroffen werden, daß Vorfestlegungen hinsichtlich der zu untersuchenden Bereiche grundsätzlich nicht erfolgen.
Von der militärischen Führung erwarten wir weiterhin sachgerechte und fachkompetente Beratung. Wir
setzen auf den synergetischen Effekt von politischer und
militärischer Kompetenz im Sinne des von Rudolf
Scharping neu eingeleiteten Prozesses der vertrauensvollen und kooperativen Zusammenarbeit unter dem
Primat der Politik. Dieser Weg wird uns in den nächsten
Jahren zum Ziel bringen.
Vielen Dank.
({6})
Ich gebe das Wort
dem Abgeordneten Paul Breuer von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich die wohlklingenden Worte der Kollegen von der SPD - ob das
nun der geschätzte Kollege Zumkley oder der Verteidigungsminister ist - höre, dann komme ich zu dem Ergebnis:
({0})
Beim Verteidigungsetat ist alles in Butter.
({1})
Es leidet niemand Not; es ist alles in Butter.
Ich kann mich noch erinnern, wie das in den letzten
Jahren - bei ähnlicher Höhe des Etats - geklungen hat.
Auf der Regierungsbank sitzt ein mir sehr vertrauter
Kollege, nämlich der jetzige Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow.
({2})
Er hat in den letzten Jahren, als es um ähnliche Tatbestände ging - lieber Walter Kolbow, Sie können bestätigen, daß es so ist -, von einer „dramatischen Unterfinanzierung“ gesprochen.
({3})
Das war die Formulierung, die wir in den letzten Jahren
gehört haben. Ich denke, daß ich einen Beitrag dazu leisten kann, wie der Haushalt wirklich zu bewerten ist.
Lassen Sie mich zunächst einmal sagen - das will ich
kurz machen -: Die Beratung des Verteidigungsetats erfolgt in meinen Augen nach besonderen Kriterien. Das
bedeutet - das sage ich für die CDU/CSU-Fraktion -,
daß auch wir diesem Verteidigungsetat grundsätzlich
zustimmen können. Wir sind nicht von der Sorte Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer - das haben wir in der Vergangenheit vorgeführt bekommen -,
einen Verteidigungsetat ablehnen. Wir empfinden es als
eine nationale Verpflichtung - wenn nicht alles danebengegangen ist -, einen solchen Etat grundsätzlich zu
unterstützen. Das unterscheidet die Verteidigungspolitik
von anderen Bereichen.
({4})
Ich will auch noch ein Zweites sagen, Herr Minister
Scharping - ich habe das schon im Verteidigungsausschuß gesagt, und ich wiederhole es hier -: Sie haben
mit den Tagungen, die Sie in den letzten Wochen mit
den Soldaten durchgeführt haben, einen guten Stil bewiesen und einen guten Ton im Umgang mit den Soldaten der Bundeswehr gefunden. Ich hebe das lobend hervor und sage das auch heute.
({5})
Was den Haushalt angeht, auf den ich jetzt eingehen
möchte, so meine ich allerdings, daß die Worte, die man
hier hört, etwas zu gut klingen. Mir drängt sich nämlich
der Eindruck auf, daß Sie von dem, was Sie in den letzten Jahren gesagt haben, nun überhaupt nichts mehr wissen wollen. Sie haben doch selbst eine Meßlatte gelegt,
über die Sie jetzt springen müssen. An ihr werden wir
Sie auch messen. In bezug auf den Verteidigungsetat
stelle ich nicht etwa fest, daß Sie kein Erinnerungsvermögen besitzen; vielmehr stelle ich fest: Die Realität hat
Sie eingeholt. Wie sieht die Realität aus? Zunächst ist
die Garantie gegeben worden - so hat Herr Scharping
gesagt; er sprach von einer Garantie vom Bundeskanzler
und vom Finanzminister -, daß der Verteidigungsetat
keine Einbußen erleiden würde. Das ist dann auch in
der Koalitionsvereinbarung festgelegt worden.
Jetzt schauen wir, was sich wirklich ereignet hat: Ich
behaupte, schon im ersten Etat, den Sie, Herr Scharping,
vorlegen, hat Ihnen Ihr bester Freund, Oskar Lafontaine,
einen Strich durch die Rechnung gemacht - insofern, als
zwar offen nur 235 Millionen DM herausgestrichen
worden sind; klammheimlich aber verlieren Sie, mit List
und Tücke des Finanzministers, mehr als 1 Milliarde
DM in diesem Haushalt. Erst wird Harmonie verbreitet das hat Lafontaine in anderen Bereichen, parteiintern, ja
schon einmal gemacht -, und dann fängt er langsam an,
das Messer zu wetzen.
Diese 1 Milliarde DM setzt sich aus folgenden Positionen zusammen: Von den 235 Millionen DM ist eben
schon gesprochen worden. Darüber hinaus müssen Sie
140 Millionen DM für den Kosovo-Einsatz bezahlen, neben ohnehin mehr als 300 Millionen DM - genau sind es
306 Millionen DM; denn 90 Millionen DM bekommen
Sie aus dem Einzelplan 60 - für Bosnien. 270 Millionen
DM bleiben in 1999 für die Fortführung des Tarifvertrags
1998 hängen. 100 Millionen DM müssen Sie für das
Jugendausbildungsprogramm zahlen. Diesen Betrag gibt
Ihnen Herr Riester nicht; das müssen Sie zahlen.
Und Sie werden die Tarifrunde 1999 bezahlen müssen. Wenn die Forderungen der Gewerkschaft ÖTV
auch nur annähernd so aussehen, wie das jetzt in der Tarifrunde der Metallindustrie der Fall war, wird Sie das
mit etwa 300 Millionen DM treffen. Das „Ende der Zurückhaltung“ trifft angesichts dieser Zahlen - wenn der
Verteidigungsetat tatsächlich mehr als 1 Milliarden DM
verliert - den Verteidigungshaushalt besonders. Denn es
muß zur Kenntnis genommen werden, daß die Verteidigung mittlerweile der größte Personaletat des Bundes
ist. Wenn Sie dies nicht feststellen, Herr Bundesverteidigungsminister, tun Sie diesem Verteidigungsetat
nichts Gutes, sondern tragen mit dazu bei, daß Schaden
entsteht, der abgewandt werden muß.
({6})
Gegen diese Angriffe der rotgrünen Regierung ist
keine Hilfe in Sicht, vor allem deshalb nicht, weil niemand um Hilfe ruft. Sie ergeben sich in Ihr Schicksal.
Aus der Erfahrung der Vergangenheit kann ich an Sie
nur appellieren - der Kollege Zumkley hat dazu einiges
gesagt -, das zu thematisieren. Sonst werden Sie von
demjenigen, der hier in der ersten Reihe der Regierungsbank sitzt, schonungslos über den Tisch gezogen.
Statt zu kämpfen und politischen Druck zu machen,
fügen Sie sich in Ihr Schicksal - und verabreichen Beruhigungspillen. Nach Jahren des stürmischen Umbruchs
ist die Bundeswehr dafür natürlich sehr empfänglich.
Natürlich ist es richtig, daß die Bundeswehr eigentlich
Ruhe braucht. Aber warum sagen Sie denn nicht offen,
was Sie mit der Bundeswehr vorhaben?
Sie setzen jetzt die Wehrstrukturkommission ein,
um, wie Sie sagen, mit gesellschaftlich relevanten Gruppen über die Zukunft der Bundeswehr zu diskutieren.
Politische Verantwortung sieht anders aus. Diskussion
mit gesellschaftlichen Gruppen - das ist in Ordnung;
aber sagen Sie doch erst einmal, was Sie mit der Bundeswehr vorhaben. Dann können Sie mit den Gruppen
darüber diskutieren, wie das zu verstehen ist und was die
davon halten. Sie drücken sich vor der Verantwortung!
Herr Scharping sagt nicht, was er mit der Bundeswehr in der Zukunft vorhat.
({7})
Er setzt eine Wehrstrukturkommission ein - bzw. eine
Kommission „Zukunft der Bundeswehr“, wie er sie
nennt -, ohne zu sagen, welche Zukunft die Bundeswehr
haben wird. Sie können sich nicht aus der politischen
Verantwortung stehlen, Herr Minister Scharping. Nennen Sie Ihre Vorstellungen für die Bundeswehr!
({8})
Und auch die SPD kommt nicht daran vorbei, klar zu
sagen, was sie mit der Bundeswehr will.
Man sagt, diese Kommission tage „ergebnisoffen“.
Wer sich das genau anschaut, der stellt fest: So ganz
ehrlich ist das nicht. Einerseits hat die SPD kein Konzept für die Bundeswehr - ich kenne kein Konzept; das
kennt niemand; Fehlanzeige! -,
({9})
andererseits höre ich auf Nachfragen in der Fragestunde,
daß dieser Kommission „Leitlinien für die Weiterentwicklung der Streitkräfte“ an die Hand gegeben werden
sollen. Dann müssen Sie klar sagen, was Sie in die Leitlinien hineinschreiben wollen. Jedenfalls ist die Veranstaltung so, wie Sie sie jetzt vorhaben, weder glaubwürdig noch ehrlich.
({10})
Wenn Sie dann noch fast zwei Jahre, Herr Kollege
Zumkley, diskutieren wollen, mit einem ungeheuren öffentlichen Getöse, bei dem ich mir vorstellen kann, daß
sich Frau Kollegin Beer bei ihrem basarartigen Bieten,
wie groß die Bundeswehr sein soll, von niemandem
übertreffen läßt - derzeit sind Sie, glaube ich, bei etwa
200 000 angelangt -,
({11})
wird vieles kaputtgeredet; das muß man feststellen. Lassen Sie es nicht zu, daß die Bundeswehr durch einen nicht
enden wollenden Diskussionsprozeß von Qualifizierten
oder Unqualifizierten kaputtgeredet wird! Sagen Sie ganz
klar, was Sie mit der Bundeswehr vorhaben! Das ist Ihre
politische Pflicht, und dafür tragen Sie Verantwortung.
({12})
Ich gehe noch einmal auf den investiven Anteil des
Verteidigungsetats ein. Von Ihren Forderungen und
Mahnungen aus der Oppositionszeit und auch von dem,
was hier heute vorgetragen worden ist, finde ich bei näherer Betrachtung des Etats nichts. Öffentlich senken
Sie den Investitionsanteil von 25,8 auf 25,4 Prozent. Das
werden wir im Verteidigungsausschuß auszudiskutieren
haben. Aber durch die zusätzlichen Kosten, Herr Kollege Scharping, verlieren Sie, wenn Sie sie im Bereich der
Materialwirtschaft, also im Bereich der Investitionen
erwirtschaften - oder Sie müßten sie im Bereich des
Personals erwirtschaften -, zusätzlich drei Prozentpunkte. Das heißt, die Investitionen fallen auf 22 Prozent. Das ist keine Modernisierung der Bundeswehr, im
Gegenteil: Hier erfolgt Abrüstung durch Abrostung.
Dies muß vermieden werden.
Selbst nach dem von Ihnen vorgelegten Entwurf für
den Verteidigungsetat müßten Sie in den nächsten Jahren
noch fast 6 Prozent, also gut 2 Milliarden DM - ich behaupte: 3 Milliarden DM -, auf den Investivanteil drauflegen, wenn Sie die 30-Prozent-Marke, die auch wir wollen, erreichen möchten. Da ist die Frage zu stellen: Woher
wollen Sie diese 3 Milliarden DM nehmen? Aus dem Personalbereich? Wenn Sie die aus dem Personalbereich
nehmen wollen, bedeutet das einen drastischen Eingriff
beim Personal der Bundeswehr. Wenn Sie das wollen,
müssen Sie das öffentlich sagen. Ich bin dagegen, es zu
tun. Aber die Konzeption, die jetzt vorliegt, weist für diesen Verteidigungsetat keine Zukunft aus.
Wer hier vor das Plenum tritt und sagt „Alles in Butter“, der wird seiner Verantwortung für die deutsche
Verteidigungspolitik nicht gerecht. Das ist die Feststellung, die ich zum Zeitpunkt der ersten Lesung des Einzelplans 14 vor dem Plenum des Deutschen Bundestages
treffen muß.
Ich bedanke mich.
({13})
Weitere Wortmel-
dungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht mehr
vor.
Ich rufe die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Deutsche Beteiligung an der militärischen Umsetzung eines Rambouillet-Abkommens für den
KOSOVO sowie an NATO-Operationen im
Rahmen der Notfalltruppe ({0})
- Drucksache 14/397 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({1})
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Inter-
nationalen Privatrecht für außervertragliche
Schuldverhältnisse und für Sachen
- Drucksache 14/343 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD,
CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
allgemeine und die repräsentative Wahlstatistik bei der Wahl zum Deutschen Bundestag
und bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 14/401 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({2})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans
Martin Bury, Ernst Schwanhold, Klaus Barthel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({3}), Margareta Wolf ({4}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Förderung der Luftfahrttechnologie
- Drucksache 14/395 Überweisungsvorschlag
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({5})
Haushaltsausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 a auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Zuständigkeiten nach dem
Sorgerechtsübereinkommens-Ausführungsgesetz
- Drucksache 14/33 ({6})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7})
- Drucksache 14/338 Paul Breuer
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Rupert Scholz
Margot von Renesse
Ronald Pofalla
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache
14/338 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Der Rechtsausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/338 die Annahme
einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 b auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({8})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfas-
sungsgericht BvE 3/98
- Drucksache 14/321 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
Es handelt sich um das Verfahren der PDS wegen
Nichtzuweisung von Haushaltsmitteln zugunsten des
Vereins „Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung
e.V.“.
Der Ausschuß empfiehlt, eine Stellungnahme abzu-
geben und einen Prozeßvertreter zu beauftragen. Wer
stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Ent-
haltung der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 c bis 4 e auf:
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 15 zu Petitionen
- Drucksache 14/322 -
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 16 zu Petitionen
- Drucksache 14/323 -
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 17 zu Petitionen
- Drucksache 14/324 Zunächst zur Sammelübersicht 15 auf Drucksache
14/322: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 15 ist bei Enthaltung der PDS mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Zur Sammelübersicht 16 auf Drucksache 14/323: Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
- Die Sammelübersicht 16 ist gegen die Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Zur Sammelübersicht 17 auf Drucksache 14/324: Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
- Die Sammelübersicht 17 ist gegen die Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Öffnung der Sozial- und Steuerverwaltung
für den Euro ({12})
- Drucksache 14/229 ({13})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({14})
- Drucksache 14/406 Berichterstattung:
Abgeordnete Birgit Schnieber-Jastram
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist beantragt,
jetzt eine Sitzung des Ältestenrates durchzuführen, und
zwar für den Zeitraum von etwa einer Stunde.
Deshalb unterbreche ich die Sitzung des Deutschen
Bundestages bis 17.05 Uhr.
({15})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrochene
Sitzung wieder.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Wir setzen die Haushaltsberatung fort und kommen
zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Alfred
Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, daß ich auch die Damen und Herren der Oppositionsparteien wieder in voller Lebensgröße sehe. Es
war eben im Rechtsausschuß ohne Sie etwas einsam. Es
ist schön, daß Sie wieder dabei sind.
({0})
Wir diskutieren heute über einen Haushalt, der äußerlich zu den weniger umfangreichen gehört, der mit
721 Millionen DM sicherlich auch zu den Haushalten
mit den geringsten Ausgaben gehört, der aber, denke
ich, von seinem Inhalt her das gesellschaftliche Leben in
wesentlichen und wichtigen Punkten bestimmt. Es geht
nämlich nicht nur um den Haushalt des Bundesjustizministeriums, in dem die Richtlinien der Justizpolitik bestimmt werden, sondern auch um die Haushalte unserer
obersten Gerichte.
({1})
- Selbstverständlich auch den des Patentamtes, das übrigens als einziges ein Plus macht. Da sieht man einmal,
daß Justiz Geld kostet. Aber das ist nicht weiter dramatisch.
Der vorliegende Haushalt wird aber auch ein Neuanfang in der Justizgeschichte der 80er und 90er Jahre
sein.
Wir haben heute zunächst einmal eine kurze Bilanz
dessen zu ziehen, was 16 Jahre lang in der Justizpolitik
nicht gemacht worden ist. Sie haben in all den 16 Jahren
nichts dazu beigetragen, daß wir eine moderne, bürgernahe und leistungsstarke Justiz bekommen. Sie haben in
diesen 16 Jahren nicht einmal einen Finger gerührt, um
den seit Kaiser Wilhelms Zeiten bestehenden Justizaufbau zu ändern.
({2})
So haben wir heute ein Justizsystem, das noch immer aus rund 700 Amtsgerichten, 21 Oberlandesgerichten plus Kammergericht und Bayerisches Oberstes Landesgericht, 19 Landesarbeitsgerichten, 16 Landessozialgerichten, 19 Finanzgerichten und 16 Oberverwaltungsgerichten, aus insgesamt 24 000 Richterinnen und
Richtern und etwa 4 000 Staatsanwältinnen und Staatsanwälten besteht.
({3})
Die Belastung der Gerichte ist in dieser Zeit immer größer geworden; aber es hat sich, sieht man von etwas
Flickwerk, von etwas wenig strukturierten Dingen ab,
nichts getan, damit man hier besser klarkäme.
Auch die Ausbildung der Juristinnen und Juristen
entspricht in ihren Grundzügen noch der zu Kaiser Wilhelms Zeiten.
({4})
Noch heute haben Juristinnen und Juristen denselben
Ausbildungsgang, wie ich ihn schon vor 30 Jahren hatte.
({5})
Immer noch wird nicht die universitäre Ausbildung in
den Vordergrund gestellt, sondern die jungen Leute
müssen zum Repetitor laufen, um sich ihr Wissen zu
holen. Immer noch haben wir eine Juristenausbildung,
die nicht modernen Anforderungen entspricht.
({6})
- Herr Rüttgers, davon merkt man aber nicht viel.
Mit dem Haushalt, den wir heute einbringen, werden
wir eine neue Zeit in der Justiz beginnen.
({7})
Wir streben eine Justizreform an und laden Sie sehr
herzlich ein, dabei mitzumachen. Wir werden das antiquierte und teilweise unüberschaubare Rechtsmittelsystem so modern und vernünftig gestalten,
({8})
daß es auch der einfache Bürger versteht.
({9})
Wir werden die Instanzen so gestalten, daß Recht in
vertretbarer Zeit gewährt wird.
Ich komme noch einmal auf die Ausbildung der Juristinnen und Juristen zu sprechen. Sie ist im europäischen Vergleich eigentlich ein Jammer. Trotz Repetitorium beträgt die durchschnittliche Ausbildung an der
Universität 12 bis 14 Semester. Dabei bilden wir junge
Juristinnen und Juristen mit einem Wissen aus, das Sie
anschließend in aller Regel nicht mehr brauchen. Zum
Teil werden sie für die universitäre Forschung ausgebildet. Danach schließt sich eine praktische Ausbildung an,
die auch nur zum Teil das beinhaltet, was Juristinnen
und Juristen später einmal in ihrem Berufsleben brauchen.
Sie alle haben vernünftigerweise einer Europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion zugestimmt, die eine
Vorstufe zu einem vereinigten Europa ist. Wir schicken
unsere Juristinnen und Juristen in einem Alter in die berufliche Laufbahn, in dem Juristinnen und Juristen aus
anderen Ländern schon längst Fuß gefaßt haben. Es wird
daher dringend notwendig sein, das, was in den letzten
Jahren versäumt wurde, nämliche eine moderne und den
Bedürfnissen angepaßte Juristinnen- und Juristenausbildung, nach vorne zu bringen.
Wir wollen gemeinsam mit den Ländern die Justizreform, und wir wollen gemeinsam mit den Ländern, denn
nur mit ihnen geht es, eine moderne Ausbildung der
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Juristinnen und Juristen. Ich bin sicher, diese Debatte ist
der erste Schritt dazu. Wir werden diesen Weg sehr konsequent gehen. Ich bin überzeugt, daß Sie sich, meine
Damen und Herren der Koalition, liebe Freunde und liebe Rechtsfreunde auf der Seite der Opposition, an diesem Weg voller Begeisterung beteiligen werden.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans Jochen Henke.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Justiz ist
ein Bereich, wie Herr Hartenbach bereits angesprochen
hat, der von unseren Bürgerinnen und Bürgern mit besonderer Sensibilität wahrgenommen wird. Daher darf
ich für die CDU/CSU zunächst etwas Grundsätzliches
anmerken. Wir werden Sie, Frau Ministerin, gerne überall dort unterstützen, wo Sie mit praxisnahen Reformen,
Herr Hartenbach, Verfahren vereinfachen und erleichtern und zu einer Entlastung der Justiz nachhaltig beitragen. Wo aber Zentralismus, Ideologie und Bürokratie Ihr
Leitbild sind, da werden wir mit Entschlossenheit dagegenhalten und uns dem widersetzen.
({0})
Wir debattieren heute einen Haushaltsentwurf, der
nicht nur schriftlich vorliegt. Er wird im Gegensatz zu
vielen anderen Projekten von dieser Koalition wohl auch
gemeinsam getragen, ein Vorteil, der in diesen Tagen so
selbstverständlich gar nicht mehr ist. Nachteil der Haushaltsdebatte zum jetzigen Zeitpunkt ist das Fehlen ganz
konkreter rechtspolitischer Vorhaben dieser neuen Regierung. Man hört zwar Unterschiedliches zu unterschiedlichen Themen. Aber auch hier gilt: Etwas Genaues weiß man nicht, und wo man etwas Genaues zu
wissen meint, weiß man nicht, ob dies auch morgen
noch Geltung hat. Zwar liegt der Anteil des Etats des
Bundesjustizministeriums, am Rekordentwurf von Herrn
Lafontaine gemessen, lediglich im Promillebereich.
Nichtsdestotrotz ist die Arbeit des Justizministeriums
von ganz entscheidender Bedeutung für die Arbeit einer
jeden Bundesregierung.
Wenn wir uns, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
die Echternacher Springprozession dieser Regierung in
den letzten Wochen vergegenwärtigen, dann sind Sie,
Frau Ministerin, um Ihre Aufgabe in doppelter Hinsicht
eigentlich nicht zu beneiden.
({1})
Zum einen sind Sie über Gebühr und ständig damit beschäftigt, handwerkliche Fehler Ihrer Kabinettskollegen
wegzuräumen, zum anderen stehen Sie mit in der Gesamtverantwortung für eine höchst gefahrgeneigte Gesamtrichtung. Wenn hier von einer neuen Zeitrechnung
im Justizbereich die Rede ist,
({2})
dann ist das noch viel mehr als die Ankündigung in
Wahlkampfzeiten und in der Regierungserklärung, daß
man zwar nicht alles anders, aber vieles besser machen
wolle. Widerstehen Sie der Versuchung, in dieselben
Fehler wie Ihre Kolleginnen und Kollegen zu verfallen,
alles gleichzeitig machen zu wollen! Setzen Sie die
richtigen Prioritäten! Dann wird auch das Personal in
Ihrem Haus reichen, und es wird obendrein hochmotiviert sein.
Nicht zufällig meinte der Präsident eines mittelständischen Industrieverbandes kürzlich, während man der alten Regierung zu Recht vorwerfen konnte, daß sie zuviel
gedacht und manchmal zuwenig gehandelt habe, sei der
Vorwurf, der der neuen Regierung gemacht werden
müsse, viel gravierender. Sie handele allzuoft, ohne etwas zu denken.
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das nicht zu denken gibt.
({4})
Im Haushaltsausschuß wird in den nächsten Wochen
über Einzelheiten des Entwurfs und damit zusammenhängende Fragen zu reden sein. So laufen zum Beispiel
seit vier Jahren im Justizministerium Untersuchungen
über eine zukunftsorientierte Reorganisation mit entsprechenden Arbeits- und Ablaufoptimierungen. In Kürze, so vernimmt man, sollen diese Untersuchungen abgeschlossen sein. Wir sind auf die Ergebnisse und die
zusätzlichen Freiräume, die damit hoffentlich zur Verfügung stehen, gespannt.
Frau Ministerin, Sie wollen für den europäischen Justizministerrat wenig ausgeben. Das verdient Anerkennung. Aber statt dessen wollen Sie zusätzliche internationale Seminare veranstalten lassen. Es ist verständlich, daß die Justizministerin hier zusätzliche Chancen
sieht, um Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Aber dafür
gibt es genügend andere Etatansätze in Ihrem Einzelplan, so zum Beispiel für internationale rechtliche Zusammenarbeit. Ich weiß nicht, ob EU-Seminare wie
„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach
dem Amsterdamer Vertrag“ oder „Videotechnologie im
Strafverfahren“ vorrangige Angelegenheiten der Justiz
oder der Bundesregierung sein müssen.
Man muß auch über die Stellen im Haushalt reden, an
denen geplant ist, daß der Bund zusätzliche Kosten
übernehmen soll, die die Länder bei Gemeinschaftsprojekten nicht länger oder gar nicht zu tragen bereit sind,
zum Beispiel bei der Servicestelle „Täter-OpferAusgleich“ oder dem Forum „Kriminalprävention“. Dies
kann nicht alleinige oder überwiegende Aufgabe des
Bundes sein, genausowenig, wie für ausfallende Länderanteile einzuspringen.
Aus dem Bundespatent- und Markenamt kann man
den Wunsch nach zusätzlichen Patentprüfern hören.
({5})
Sogar der Bundesrechnungshof will hier 17 zusätzliche
Stellen - so die wörtliche Formulierung - „hinnehmen“.
Aber aus einem KPMG-Gutachten geht hervor, daß derzeit eingesetzte Informationstechnologien mit moderner
Arbeitsorganisation nicht kompatibel sind. Die Erkenntnisse über Modernisierung und Reorganisation müssen
rasch und im Zusammenhang umgesetzt werden. Der
Übergang muß funktionieren und bewältigt werden. Eile
tut in der Tat not. Wir bitten Sie, uns Konkretes über
Umfang, Kosten und den Zeitplan der notwendigen Modernisierung einschließlich der personellen Konsequenzen vorzulegen. Schlagen Sie uns vor, wie diese Maßnahmen mit dem Haushalt in Einklang gebracht werden
können.
Das Hohe Haus wäre auch dankbar, wenn jetzt Klarheit über die Kosten für den Umbau des Reichsgerichtshofs zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig
geschaffen werden könnte. Im Haushalt stehen 169 Millionen DM dafür bereit. Der Bundesrechnungshof hält
110 Millionen DM, der Bundesfinanzminister 130 Millionen DM und Ihr Haus 150 Millionen DM für die
richtige Größenordnung. Was ist denn nun richtig?
Diese Frage stellt sich auch bei einigen der wichtigsten Probleme im rechtspolitischen Bereich. Es gibt zum
Beispiel Ihr Ziel einer dreistufigen Gerichtsbarkeit,
mit dem bereits vor 25 Jahren eine Regierung unter sozialdemokratischer Führung angetreten und gescheitert
ist. Eine solche Reform hätte für Flächenstaaten wie
zum Beispiel Baden-Württemberg gravierende Nachteile
für eine bürgernahe Rechtspflege. Sie hätte dort die
Schließung von 30 Amtsgerichten, also den Rückzug der
ortsnahen Rechtsprechung, mit nur geringen Stelleneinsparungen zur Folge.
({6})
Wir können uns in diesem Zusammenhang vorstellen, ({7})
- daß die Mehrkosten für die Länder angemessen aufgefangen werden.
Ein weiterer Punkt betrifft die weitgehende Gebührenfreiheit der sozialgerichtlichen Verfahren. Wollen
wir diese in der Zukunft beibehalten? - Gebührenfreiheit
hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. 98 Prozent der Kosten tragen die Steuerzahler. Es kommt nicht von ungefähr, daß die Präsidentinnen und Präsidenten der Landessozialgerichte wiederholt die Einführung von Gerichtsgebühren gefordert haben. Hier sollte über Änderungen nachgedacht und dem Gerechtigkeitsprinzip über
Kostenhilfe Rechnung getragen werden.
Ein anderes Lieblingskind der Ministerin ist das
Strafgeld. Bisher sind mit beschleunigten Verfahren
sehr gute Erfahrungen gemacht worden. Ob hier eine
weitere Sanktionskategorie die richtigen Signale setzt,
ist ebenso fraglich wie die Vereinbarkeit mit dem
Schuldgrundsatz und anderen Fragen.
Lassen Sie mich abschließend beispielhaft die in der
letzten Legislaturperiode weit vorangebrachte Projektion
einer zweiten Stufe des Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes mit der Konzentration auf eine Tatsacheninstanz und weiteren Verbesserungen ansprechen. Letztendlich ist dieses wichtige zukunftsweisende Projekt am
Bundesrat und damit an der Ländermehrheit gescheitert.
Machen Sie sich die von der Vorgängerregierung geleistete gute Vorarbeit zu eigen!
Frau Ministerin, Ihr kleiner, aber feiner Einzelplan
bietet hinreichende Chancen für die Modernisierung unseres Rechtssystems. Wir sind bereit, auf diesem Weg
kritisch, aber konstruktiv mitzugehen.
Danke schön.
({8})
Herr Kollege
Henke, das war Ihre erste Rede im Parlament. Ich
möchte Ihnen im Namen des Hauses dazu gratulieren.
Bei der nächsten Rede haben Sie bestimmt alle Unterlagen bei sich.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Henke, es ist am heutigen Tage wie so oft: Man muß der
Opposition einmal den Tip geben, sich zu entscheiden,
wofür sie uns kritisiert: Entweder handeln wir allzu
hektisch, wie Sie meinen, ohne zu denken,
({0})
oder wir haben zuwenig vorgelegt.
({1})
Wir haben uns gerade in der Rechtspolitik Zeit genommen, um nachzudenken und gründlich zu arbeiten.
Sie sollten nicht bedauern, daß noch nicht so viele Gesetzentwürfe vorliegen; denn wir wollen mit dieser hektischen Gesetzgeberei ohne Sinn und Verstand, wie wir
sie in den letzten vier Jahren erlebt haben, Schluß machen.
({2})
Ich wundere mich auch über einige Punkte der Kritik
am Haushalt. Sie kritisieren, ein Seminar über die
Videotechnologie im Gerichtssaal sei nicht Aufgabe
des Justizministeriums. Es geht nicht darum, Richtern
beizubringen, wie ein Videogerät zu bedienen ist, sondern darum, in einer wichtigen Frage des Opferschutzes
voranzukommen.
({3})
Wir haben in der letzten Wahlperiode die Videovernehmung im Hauptverfahren eingeführt. Wir müssen
entscheiden, ob die Regelung ausreicht, um alles zu tun,
damit kindliche Opfer von sexuellem Mißbrauch vor
Mehrfachvernehmungen geschützt werden. Das ist ein
sehr ernsthaftes Anliegen. Das, was wir in der letzten
Wahlperiode beschlossen haben, hat einige Tücken. Wir
müssen zum einen die Sensibilität bei den Rechtsanwendern schärfen, und wir müssen zum anderen überlegen, ob wir noch mehr für die kindlichen Opferzeugen
tun können. Ich meine, man sollte ganz heftig unterstützen, daß das Justizministerium dieses Anliegen aufgreift.
Gleichzeitig muß ich sagen: Das Servicebüro für
den Täter-Opfer-Ausgleich beschäftigt uns in den
Haushaltsdebatten nun schon vier lange Jahre. Am Anfang ging es um 300 000 DM; jetzt geht es um 150 000
DM. Die Kosten dieses Büros stehen in keinem Verhältnis zur Diskussion, die wir um die Finanzierung dieser
wichtigen Einrichtung führen.
Es geht darum, im Strafprozeßrecht und im Strafrecht
ein wesentliches, neues Element zu stärken. Wir brauchen einheitliche Standards, damit die Rechtsanwender
Vertrauen zu diesem Instrument finden, und es häufiger
einsetzen. Es ermöglicht einen ganz entscheidenden
neuen Umgang mit dem Strafrecht. Es ist für die Resozialisierung ein Gewinn, weil sich der Täter in einem
Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren mit dem Unrecht seiner Tat individuell auseinandersetzen muß. Übrigens sagen auch viele Opfer: Ich habe mehr davon, wenn der
Täter lernt, was er mir angetan hat, wenn er sich darum
bemüht, seine Straftat wiedergutzumachen, und wenn
ich weiß, daß es zukünftig von diesem Täter in diesem
Deliktbereich keine Opfer mehr geben wird. Das sollte
uns diese 150 000 DM wert sein.
({4})
Ich kann auch noch einmal die Haushälter auffordern,
hier den Sperrvermerk wegzunehmen und noch ein paar
Mark daraufzulegen. Ich hätte es eigentlich richtig gefunden, wenn wir die 300 000 DM stehengelassen hätten, die wir in der Vergangenheit im Bundeshaushalt
hatten, damit dieser Bereich in gesicherten Gleisen weiterlaufen kann.
Meine Damen und Herren, die Koalition will Altlasten in Form von Ungerechtigkeiten beseitigen, mehr
Gerechtigkeit und Bürgernähe in der Rechtspolitik
durchsetzen, ein Bündnis gegen Gewalt und Diskriminierung schmieden sowie den Schutz der Schwachen
durch das Recht stärken und ihre Rechte in der Rechtsstaatlichkeit neu verankern.
Ich will Ihnen ein paar Punkte nennen, die wir uns im
Bereich des auf die neuen Länder zutreffenden Rechts
vorgenommen haben. Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit müssen wir noch einiges verbessern, zum Beispiel die Entschädigung der Opfer des SED-Regimes
und die Höhe der Haftentschädigung. Wir wollen auch
die Stärkung der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge in Angriff nehmen. Bündnis 90/Die Grünen werden Sie allerdings nicht dazu bekommen, hier für eine
generelle Amnestie für in der DDR begangene Straftaten
zu stimmen. Ich wünschte - das möchte ich der PDS
schon sagen - mir mehr Unterstützung für die Anliegen
der Opfer des SED-Regimes, statt soviel über die Amnestie für die Täter zu reden. Hier müssen wir eine
Schieflage feststellen.
({5})
Wir müssen auch versuchen, im Vermögensrecht
einige Dinge, die im Einigungsvertrag für die Nutznießer grundsätzlich verkorkst angelegt sind, zu reparieren.
Wir können den Einigungsvertrag nicht neu schreiben.
Man muß politisch falsche Entscheidungen als Grundlage zunächst einmal akzeptieren. Bei der Frage der Nutzungsentgelte usw. sollten wir noch einmal neu darüber
nachdenken, ob wir nicht zu gütlicheren und besseren
Lösungen für die Menschen in den neuen Ländern
kommen können.
Ich habe es schon angesprochen: Wir wollen ein
Bündnis gegen Gewalt schmieden. Dazu gehören auch
ganz entscheidende Signale der Rechtspolitik, zum Beispiel soll eine Absage an Gewalt von Grund auf im
Recht verankert werden. Deshalb ist es ganz entscheidend, daß wir uns vorgenommen haben, den Anspruch
von Kindern auf gewaltfreie Erziehung zu verankern.
Dabei geht es nicht darum, den Staatsanwalt in die Familien zu schicken, sondern es geht darum, Gewalt zu
ächten und ein für allemal klarzumachen, daß Gewalt als
Erziehungsmittel nicht geeignet ist. An der Tatsache,
daß in gewaltbetroffenen Familien zwei- bis dreimal
häufiger Gewalttäter herangezogen werden, zeigt sich,
wie bedeutsam eine solche Frage ist. Deshalb nehmen
wir das in Angriff.
({6})
Wir müssen auch den Schutz von Opfern sexueller
und nichtsexueller Gewalt im Nahbereich stärken. Wir
werden deshalb in dieser Wahlperiode über das Wohnungszuweisungsverfahren und über neue Opferschutzkonzepte zu reden haben. Wir sollten unseren Blick auch
einmal ins Ausland schweifen lassen, zum Beispiel auf
„Go-order“, wie es in den USA praktiziert wird, oder auf
ganz vernünftige Regelungen, wie wir sie in Österreich
finden. Davon können wir uns einiges abschauen, um
den Schutz der Schwachen durch das Recht wesentlich
zu verbessern.
Wir haben uns auch vorgenommen zu überprüfen, ob
es notwendig ist, im Strafrecht den Schutz der Widerstandsunfähigen vor sexuellem Mißbrauch zu verbessern. Wir wollen auf jeden Fall gesellschaftspolitisch
klarstellen, daß es ein sehr großes Unrecht ist, wenn die
Widerstandsunfähigkeit von behinderten Menschen im
Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen ausgenutzt
wird, und daß der Gesetzgeber das nicht minder wichtig
nimmt als die Vergewaltigung von erwachsenen Menschen oder den sexuellen Mißbrauch von Kindern.
({7})
Wir sehen auch eine große rechtspolitische Aufgabe
darin, eine integrative Gesellschaftspolitik rechtlich zu
Volker Beck ({8})
gestalten. Es geht darum, die Minderheiten, die in unserer Gesellschaft leben - das sind einige, und dahinter
steht eine große Zahl von Menschen -, durch eine integrative Rechtspolitik hereinzuholen. Wir haben das bei
der Diskussion über das Staatsbürgerschaftsrecht angefangen. Ich möchte angesichts der Diskussion, die wir in
den letzten Wochen und Monaten geführt haben, alle
einladen, nicht nur abstrakt um rechtliche Grundsätze zu
streiten, sondern sich wirklich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie wir 7 Millionen hier lebende Menschen
ohne deutschen Paß in die Mitte unserer Gesellschaft
mit gleichen Rechten holen; die gleichen Pflichten haben sie in der Regel schon.
({9})
Ich bitte Sie, einmal zu überlegen, was Sie in diesem
Bereich tun können. Sie sprechen zwar von erleichterter
Einbürgerung, aber Sie haben keinen rechtspolitischen
Vorschlag gemacht, wie wir diese Erleichterung umsetzen können. Dies zum Thema Ausländer.
Es geht aber auch darum, durch ein Antidiskriminierungsgesetz endlich die Benachteiligung von Behinderten abzubauen. Wir hatten in den letzten Jahren
skandalöse Urteile im Zusammenhang mit dem Reisevertragsrecht oder auch zu der Frage, ob die Art der Geräusche von Behinderten eine besondere Belästigung
darstellt, die es rechtfertigt, die Rechte von Behinderten
weiter als die Rechte von Nichtbehinderten einzuschränken. Wir brauchen klare rechtliche Regeln, so daß
niemand in unserem Land auf Grund seiner ethnischen
Zugehörigkeit, seiner Behinderung oder auch auf Grund
seiner sexuellen Identität benachteiligt wird. Das Recht
muß diese Menschen vor Diskriminierung schützen.
Ein ganz wichtiger Punkt ist, daß wir die Gebärdensprache gesetzlich anerkennen wollen. Dazu müssen
wir - Frau Ministerin, diese Anregung können Sie aus
dieser Debatte mitnehmen - auch eine Regelung im
BGB ändern. § 828 BGB besagt nämlich, daß Taubstumme für einen Schaden zivilrechtlich genauso wenig
verantwortlich sind wie Jugendliche, denen die erforderliche Einsicht fehlt. Sie werden nach unserem Gesetz
also geistig nie erwachsen. Diese Regelung müssen wir
ändern, denn sie entspricht nicht dem Wertebild unserer
Verfassung.
({10})
In diesem Kontext werden wir dafür sorgen, daß mit
der Rechtlosigkeit gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften endlich Schluß gemacht wird. Auch hier
geht es darum, Diskriminierung abzubauen und die
homosexuellen Bürgerinnen und Bürger mit gleichen
Rechten und Pflichten in diese Gesellschaft zu integrieren.
Vielen Dank.
({11})
Bevor ich den
nächsten Redner aufrufe, möchte ich allen Kolleginnen
und Kollegen bekanntgeben, daß es um 19.30 Uhr eine
nochmalige Unterbrechung der Sitzung gibt, weil die
CDU/CSU eine Fraktionssitzung durchführt.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat jetzt der
Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Justizhaushalt ist in der Tat
vergleichsweise klein. Aber er ist wie das Ministerium
selbst bedeutend. Unsere Rechtsordnung ist für das
friedliche Zusammenleben der Menschen in unserem
Staat ein hohes Gut.
Gerade, wenn man mit ausländischen Gästen über unsere deutsche Rechtsordnung spricht, kann man feststellen, daß diese ausländischen Gäste unsere Rechtsordnung ganz besonders schätzen und daß sie Gesetze,
Verordnungen, ja das ganze Rechtssystem am liebsten
von uns übernehmen würden.
Nicht zu Unrecht haben wir aus diesem Grunde noch
unter dem damaligen Justizminister Dr. Kinkel eine
Stiftung für Internationale Zusammenarbeit gegründet,
die große Verdienste beim Aufbau des rechtsstaatlichen
Systems in den osteuropäischen und südosteuropäischen
Staaten erworben hat.
({0})
- Richtig.
Wir wollen, daß die Zuständigkeit dieser Stiftung
über die 11 oder 12 Staaten Osteuropas hinaus erweitert
wird. Die Ressourcen, die wir in bezug auf den Rechtsstaat in der Bundesrepublik Deutschland haben, müssen
wir bündeln. Es geht nicht an, daß diese Aufgaben von
der GTZ, also von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, mehr schlecht als recht mitverwaltet
werden. Ich plädiere dafür, daß die Fragen der internationalen rechtlichen Zusammenarbeit im Bundesjustizministerium gebündelt werden. Frau Ministerin, Sie
haben unsere volle Unterstützung, wenn Sie an diesem
Werk mitarbeiten wollen.
({1})
Auch wenn wir manchmal zu etwas komplizierten
Gesetzen neigen, halte ich unseren Rechtsstaat für vorbildlich. Das soll so bleiben.
({2})
Der Rechtsstaat ist aber kein Selbstzweck, sondern
hat dem rechtsuchenden Bürger, einschließlich der Wirtschaft, zu dienen. Der Bürger erwartet, daß er sein Recht
bekommt, und das möglichst schnell, denn nur dadurch
wird der Rechtsfrieden unserer Gesellschaft gewährleistet.
An diesen Prämissen werden wir, Frau Ministerin,
Ihre Bemühungen um die Justizreform messen. Es
kann nicht Sinn der Justizreform, die Herr Hartenbach
eben angesprochen hat, sein, Rechtsmittelinstanzen zu
verkürzen und Streitwertgrenzen heraufzusetzen.
({3})
Volker Beck ({4})
- Lieber Herr Hartenbach, Sie wissen ganz genau, wie
wir dazu gekommen sind: Die Länder haben uns mit ihren Anträgen im Bundesrat dauernd gezwiebelt, hier mit
einem Reförmchen einen kleinen Schritt zu machen, so
daß wir nicht zu dieser Justizreform gekommen sind. Insoweit sind wir mit der Justizministerin völlig einer
Meinung, daß wir die Justizreform benötigen. Aber sie
darf nicht zu einer Verkürzung des Rechtsschutzes des
Bürgers führen, sondern wir müssen den Rechtsschutz
des Bürgers eher ausbauen.
({5})
- Ausbauen und effektiver machen ist vielleicht fast
identisch.
({6})
In diesem Zusammenhang ärgere ich mich natürlich
gelegentlich auch über die Länder; das sage ich ganz offen. Wir haben die Insolvenzrechtsreform in diesem
Hause gemeinsam beschlossen. Die Länder haben darauf
gehofft, daß die neue Insolvenzordnung nicht zum 1. Januar 1999 eingeführt wird. Sie wollten sie verschieben.
Sie haben auch nicht dafür gesorgt, daß beispielsweise
die Schuldnerberatung ausgebaut werden konnte. In
meiner Heimatstadt Hamburg zum Beispiel bekommt
man erst nach sechs Monaten einen Termin bei der
Schuldnerberatungsstelle. Das nenne ich einen Skandal.
({7})
Das ist im übrigen in anderen Ländern genauso, allerdings nicht in allen; das gebe ich zu. Wenn die Länder
wollen, daß wir an der Justizreform mitwirken, erwarte
ich von ihnen aber auch bundesfreundliches Verhalten.
In der letzten Legislaturperiode haben wir eine Reihe
von sehr effektiven wirtschaftsrechtlichen Gesetzen
umgesetzt. Das heißt jedoch nicht, daß wir uns jetzt einfach zurücklehnen und sagen können: „Nun ist Schluß;
wir haben das KonTraG geschaffen, das Transportrecht
usw. reformiert“, sondern wir müssen weiter daran arbeiten, es aktualisieren und weiterentwickeln. Internationaler Wettbewerb, auch auf den Kapitalmärkten, ist
notwendig. Wir brauchen dazu die rechtliche Begleitung. Dazu zählen die Weiterentwicklung des Finanzrechts und des Wettbewerbsrechts, die Behandlung von
Optionen im Aktienrecht, das Übernahmerecht und das
gesamte Publizitätsrecht im Hinblick auf die Bestimmungen der Europäischen Kommission.
({8})
- Nein, das sind keine Sünden der Vergangenheit. Wir
haben in der letzten Legislaturperiode eine Reihe von
Dingen gemacht; das haben Sie auch lobend erwähnt.
({9})
- Das müssen wir tun, und zum Teil haben wir es schon
getan. Aber der Europäische Gerichtshof hat dann anders entschieden. Das wird Ihnen genauso gehen, denn
die Interessen sind natürlich auch da gelegentlich unterschiedlich, Herr Kollege Stiegler. Wir haben gemeinsam
am Urheberrecht gearbeitet. Auch da waren wir zunächst etwas zögerlich, weil es in der Bundesrepublik
Deutschland unterschiedliche wirtschaftliche Interessen
gibt und gab, die man austarieren muß. Das ist nicht
immer ganz einfach.
Dasselbe gilt für das Transportrecht. Wir haben das
Transportrecht reformiert, aber wir müssen es durch das
Seehandelsrecht ergänzen, das in der Tat über 100 Jahre
alt ist und das wir das letzte Mal ausgeklammert haben.
Aber gerade wegen der Haftungsfragen müssen wir in
dieser Legislaturperiode darangehen. Da habe ich als
Hamburger Abgeordneter natürlich ein besonderes Interesse. Insoweit sichere ich Ihnen, Frau Ministerin, unsere Mithilfe zu.
Frau Ministerin, ich sehe mit großer Sorge, daß Sie in
Ihrem Hause gelegentlich von Ihrem Kollegen, dem
Bundesfinanzminister - wie soll ich es sagen? -, gelinkt
werden.
({10})
- Ja, ich sage das ganz bewußt.
Ich komme gleich zum Schluß; durch die Unterbrechung bin ich etwas in Zeitverzögerung gekommen.
Sie haben in Ihrem Hause auch die Rechtsförmlichkeit zu prüfen.
({11})
Ich bewundere, daß Sie zum Beispiel die vielen Anträge,
die Sie noch in den letzten Tagen aus dem Bundesfinanzministerium bekommen haben, zum Teil
Herr Kollege,
ich darf Sie doch jetzt bitten. Das können Sie nicht mehr
alles ausdrücken.
({0})
- große Konvolute, rechtsförmlich geprüft haben. Ich möchte Sie auffordern, diese
Prüfung in Zukunft noch gründlicher vorzunehmen.
Denn das, was in Ihren eigenen Prüffragen geregelt ist,
konnten Sie auf keinen Fall wahrnehmen. Ich glaube, es
ist wichtig, daß Sie in Zukunft diese Aufgabe intensiver
wahrnehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Auch im Haushaltsjahr 1999 wird die Justiz wiederum
unter Geld- und Personalknappheit leiden. Die zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel werden angesichts
des ständig wachsenden Geschäftsanfalls, hinzugekommener personalintensiver Aufgaben und einer
komplizierter werdenden Rechtsmaterie äußerst eng
bemessen sein.
Zu Recht wird von vielen Justizpraktikern und
Rechtswissenschaftlern eine neue Qualität der Rechtsund der darin eingeschlossenen Justizpolitik gefordert.
Hierzu gehören eine grundlegende Reform der Justiz,
die den Gerichtsaufbau, den Instanzenweg, außergerichtliche Schlichtungsmöglichkeiten, die Stellung
ehrenamtlicher Richter, Fragen der gerichtlichen Selbstverwaltung, eine Reform der Juristenausbildung, größere
Transparenz und Bürgernähe und vieles andere mehr
umfaßt. Eine moderne Rechtspolitik muß in der Lage
sein, gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen vorauszusehen und sich hierauf rechtzeitig einzustellen.
Wir müssen uns nichts vormachen: Diese Reformen
werden langfristig bestimmte Spareffekte mit sich bringen; sie erfordern aber zunächst nicht unbeträchtliche
Haushaltsmittel bei Bund und Ländern. Eine Justizreform, die diesen Namen verdient, ist nicht zum Nulltarif
zu haben. Ein solches Jahrhundertprojekt zur Überwindung der Dauerkrise in der Justiz erfordert umfängliche
Investitionen bei ihrer Umstrukturierung, bevor tatsächlich ein Qualitätssprung für die Bürger und eine Entlastung für die in der Justiz Tätigen erlebbar ist. So ist die
Einrichtung außergerichtlicher Schlichtungsstellen zunächst mit erheblichen Mittelzuwendungen aus den Justizhaushalten verbunden. Sie wird langfristig jedoch zu
einer wirklichen und spürbaren Entlastung der Justiz
führen.
Am Anfang müssen allerdings ausgereifte Konzepte
stehen. Was ist jedoch bisher aus dem Justizministerium
gekommen? Über die Rechtspolitik der Bundesregierung zu reden ist derzeit noch sehr schwierig, da kaum
etwas vorliegt, das man befürworten oder ablehnen
könnte, abgesehen von Absichtserklärungen in der
Koalitionsvereinbarung und einigen Einzelvorschlägen.
Die bisherigen Regierungsvorlagen, das Gesetz zum Internationalen Privatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse und für Sachen, das Gesetz zur Änderung
des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung und das
Gesetz zur Änderung von Zuständigkeiten nach dem
Sorgerechtsübereinkommens-Ausführungsgesetz, stammen sämtlich aus der 13. Wahlperiode. Bilanz: Außer
der Aufarbeitung einiger Restanten aus der letzten
Wahlperiode hat noch kein rechtspolitisches Projekt der
neuen Bundesregierung parlamentarisch das Licht der
Welt erblickt.
Frau Ministerin, es erwartet niemand, daß die Regierung ausgereifte Konzeptionen für die angekündigten
rechtspolitischen Reformen in Gestalt von Parlamentsvorlagen aus der Schublade zieht. Das wäre unseriös.
Dazu ist der Reformstau zu groß, die Krise zu verfestigt;
dazu haben sich schon zu viele Justizminister daran die
Zähne weitgehend ergebnislos ausgebissen. Das entlastet die Regierung jedoch nicht davon, diese Projekte
mit allem Nachdruck und aller gebotenen Zügigkeit zu
betreiben. Davon ist jedoch immerhin fünf Monate nach
der Bundestagswahl wenig spürbar.
Völlig unbefriedigend ist, daß selbst Initiativen der
Opposition, die kurzfristig in Angriff genommen werden
müssen, auf die lange Bank geschoben werden.
({0})
So sind seit der Einbringung des Schuldrechtsanpassungsänderungsgesetzes und des Antrages zur Änderung
der Nutzungsentgeltverordnung bereits wiederum zwei
Monate ins Land gegangen. Durch das Justizministerium
werden Vorhaben zu diesen brennenden Fragen für frühestens Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres angekündigt. Die gegebene Pauschalbegründung der gebotenen Gründlichkeit überzeugt auf Dauer insbesondere die
Betroffenen nicht.
Bei dieser gesamten Diskussion müssen wir uns darüber im klaren sein, daß es um zwei für den Rechtsstaat
existentielle Fragen geht. Zum einen führt die dauernde
Krise in der Justiz zu einem schleichenden Verlust von
Rechtsschutz, der für die Bürger ein wesentlicher
Parameter für Rechtsstaatlichkeit ist. Rainer Voss, der
Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, wies unlängst zu Recht darauf hin, daß Rechtsgewährung zu den
originären Aufgaben des Staates gehört, die er vor allen
anderen zu erfüllen hat.
Zum anderen ist der immer weiter zurückgehende
Stellenwert der Justiz Ausdruck des sich verschiebenden
Kräfteverhältnisses zwischen den drei Staatsgewalten
zu Lasten der dritten Gewalt. Das zeigt sich zum Beispiel an den jüngsten Vorschlägen, Strafbefugnisse im
Bereich der Bagatellkriminalität auf die Polizei zu verlagern. Eine innovative Justizpolitik erfüllt deshalb keinen Selbstzweck und ist somit auch kein lästiges finanzielles Anhängsel im Haushalt, sondern berührt den
Kernbereich des Rechtsstaats.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Vereidigung
der Bundesregierung hat das halbe Kabinett auf die Gottesformel verzichtet. Das muß man respektieren. Es ist
allemal besser, es schwört jemand nicht beim Namen
Gottes, wenn er davon nichts hält, als wenn er es nur
täte, um den Menschen zu gefallen. - So weit, so gut.
Die Sache hat allerdings auch eine andere Seite. Die
Gottesformel findet ihre Parallele in der Präambel des
Grundgesetzes, wo es heißt: „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Die Kommentatoren des Grundgesetzes sind sich einig darüber,
daß der Staat mit diesem Hinweis auf eine andere Instanz hinweisen will und daß er aufzeigen will, daß er,
wie es Böckenförde sagt, von Voraussetzungen lebt, die
er nicht garantieren kann, die er aber braucht, um Bestand zu haben.
Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben
sich von der Erkenntnis leiten lassen, daß unser Staat
nicht ohne die religiöse und moralische Substanz seiner
Bürgerinnen und Bürger auskommt. Sie wollten in gar
keinem Fall einen Staat ohne die Verantwortung vor
Gott und den Menschen. Gerade aus der Erfahrung der
nationalsozialistischen Zeit wollten sie das nicht.
Das gilt natürlich auch für unsere Rechtsordnung. Sie
entstammt einem Wertgerüst, das unserem Staat vorgegeben ist und das in unserer Rechtsordnung umgesetzt
wird. Der Staat muß alles dazu tun, daß diese Wertordnung erhalten bleibt. Er muß für diese Wertordnung
auch in der Gesellschaft werben.
Wenn nun der Verzicht auf die Gottesformel ein
Signal dafür wäre, daß wir von diesen Voraussetzungen
abrückten, dann wäre dies ein, wie ich meine, gefährlicher Irrweg. Wir werden uns mit allen Mitteln dagegen
stemmen.
Verehrte Frau Ministerin, wir hatten volles Verständnis dafür, daß Sie sich in den ersten 100 Tagen Ihrer
Amtszeit erst einmal zurechtfinden mußten und daß Sie
versuchen mußten, Ihre Gesetzgebungsvorhaben durchzudiskutieren. Aber wir haben schon bedauert, daß Sie
nicht den Weg in den Rechtsausschuß gefunden und
mit uns über Ihre rechtspolitischen Vorstellungen diskutiert haben, sondern daß wir die erst aus der Presse entnehmen mußten. Sie haben sich ja auch, verehrte Frau
Ministerin, dem Rechtsausschuß des Bundesrates gestellt und haben dort über Ihre rechtspolitischen Vorhaben gesprochen. Es wäre, wie ich meine, gut und richtig
gewesen, dies auch im Rechtsausschuß des Bundestages
zu tun.
({0})
Wir meinen, das Parlament hat Vorrang. Nehmen Sie
das nicht als Kritik, sondern als Anregung. Sie werden
in der nächsten Woche bei uns sein, und wir werden hoffentlich eine offene Diskussion über all Ihre Vorhaben
führen.
Überhaupt meine ich, daß sich die Regierungsparteien ein wenig Gedanken darüber machen müssen, wie
sie mit der Opposition bzw. dem Parlament umgehen.
({1})
Ich halte es jedenfalls nicht für richtig, wenn Sie uns
heute im Ausschuß einen Packen von Anträgen auf den
Tisch legen
({2})
und von uns erwarten, daß wir in einer für unsere Republik sehr wichtigen Frage
({3})
- ich lasse keine Zwischenfrage zu - dezidiert rechtspolitisch Stellung nehmen.
({4})
Ich halte dies für eine Mißachtung der parlamentarischen Rechte, und wir sind deshalb mit Recht heute ausgezogen.
({5})
Ich meine überhaupt, daß Sie sich ein wenig Gedanken
darüber machen müssen, wie Sie sich bei den Gesetzentwürfen angestellt haben, die wir vorgelegt haben.
({6})
Die Reaktion, die Sie da gezeigt haben, war unter aller
Kritik. Herr Hartenbach, Sie haben sich hier hingestellt
und haben zu einer Justizentlastung, die wir vorgelegt
haben und die wir in der letzten Legislaturperiode Punkt
für Punkt mit Ihnen abgesprochen haben - wir haben
alle strittigen Punkte herausgelassen; wir haben einen
Entwurf vorgelegt, der den Konsens widerspiegelt, den
wir erzielt haben -, ausgeführt, das sei alles Blödsinn.
Zweimal haben Sie gesagt, es sei alles Blödsinn.
({7})
Das haben Sie auf diesen Gesetzentwurf bezogen, und
Sie haben sich sogar noch erkühnt, zu sagen: Dafür
nehme ich gern eine Rüge in Kauf. - Wer so spricht,
mißachtet das Parlament.
({8})
Ich kann auch gar nicht verstehen, daß Sie sich so
sehr gegen diese die Justiz entlastenden Maßnahmen
stemmen. Sie widersprechen überhaupt nicht dem Vorhaben der Regierung in bezug auf die Justizreform. Wir
haben da zwar Bedenken; das wissen Sie. Die Justizreform wird lange diskutiert. Wir sind nach wie vor der
Meinung, daß die streitwertgeteilte Zuständigkeit von
Amts- und Landgericht richtig ist, in einem Flächenstaat
allemal. Wir wollen diese Vorhaben, Frau Ministerin,
nicht rundweg ablehnen, sondern wir wollen darüber mit
Ihnen diskutieren, weil das schon lange überlegt wird.
Ich meine aber nicht, daß der von uns vorgelegte Gesetzentwurf in bezug auf eine Justizentlastung dem widerspricht, auch nicht dem Vorhaben, die Rechtsmittelreform zu ändern, der gegenüber wir offen sind. Es gibt
dazu ja eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Bayern,
die demnächst einen Vorschlag unterbreiten wird, und
wir hoffen, daß wir diesen Vorschlag in aller Offenheit
diskutieren und vielleicht auch umsetzen können. Hier
gibt es viele Gedanken, und wir werden in vielen Fragen, so hoffe ich, Übereinstimmung erzielen. Wir wollen es nicht so handhaben wie die Regierungsparteien.
Sie könnten Ihre gesamten Vorhaben auch nur innerhalb
der Koalitionsparteien beschließen; dann bräuchten Sie
das Parlament nicht mehr. Wir sind keine Alibiveranstaltung für Ihre Regierungsvorhaben. Das müssen Sie
einfach einmal akzeptieren.
({9})
Verehrte Frau Ministerin, Sie wollen - so steht es in
der Koalitionsvereinbarung, und so liest man es auch in
der Presse - die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften an die ehelichen Lebensgemeinschaften angleichen, wobei Sie allerdings betonen - darin stimmen
wir mit Ihnen überein -, daß es keine Gleichstellung
sein soll. Sie unterscheiden sehr wohl - das registrieren
wir - zwischen Ehe und Familie, wie sie die Verfassung
vorsieht, und der Angleichung der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Nur meinen wir, daß es
keinen Grund gibt, die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften vor anderen Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe zu privilegieren. Welchen Grund gibt es
denn dafür? Man kann doch diese gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften nicht auf die sexuellen Beziehungen reduzieren; damit würde man diesen Leuten
Unrecht tun, und das wäre zu trivial. Wenn man das aber
nicht kann, ist es logisch überhaupt nicht begründbar,
diese Lebensgemeinschaften anderen Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe vorzuziehen. Deshalb meinen wir, daß dies eher eine grüne Ideologie ist, als daß
da viel Vernunft dahintersteckt.
Herr Kollege
Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Westerwelle, oder gestatten Sie grundsätzlich keine?
({0})
Herr Westerwelle, ich
habe vorhin keine Zwischenfrage zugelassen; bitte sehen
Sie mir nach, wenn ich konsequent bleibe. Dies sage ich,
obgleich es vielleicht meine Redezeit verlängert hätte
und ich noch ein paar Gedanken zusätzlich hätte anführen können.
Lassen Sie mich fortfahren. Sie wollen den § 1631
BGB, der die Gewalt in Ehe und Familie zum Gegenstand hat, wieder ändern; wir haben ihn ja erst geändert.
Wir haben ihn ja gerade erst geändert. Wir haben entwürdigende Erziehungsmaßnahmen verurteilt und dies
im Kindschaftsrecht so festgehalten. Das ist nicht einmal
ein Jahr Gesetz.
Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn man Gesetze allzu
schnell wieder ändert. Aber wenn es eine andere Regierung gibt, dann hat sie wohl das Recht dazu. Das muß
man akzeptieren und respektieren. Aber ist es sehr vernünftig? Was machen wir mit einem Kind, das morgens
nicht aufstehen, nicht zur Schule gehen will und das am
Ende, weil es schulpflichtig ist, von der Polizei mit Gewalt in die Schule gebracht werden muß? Wo ist denn
da die gewaltfreie Erziehung? Lassen Sie diese Formel
weg! Das sind meiner Meinung nach nichts als Schlagwörter, die in der Sache nicht weiterbringen.
Wenn man sie ernst nimmt, dann kann es - im Gegensatz zu dem, was Herr Beck sagt - tatsächlich sein,
daß die Eltern Gefahr laufen, allzu schnell mit dem
Strafrecht in Konflikt zu geraten. Damit würde eine solche Reform der Regelungen mehr Unfrieden bringen, als
sie zum Frieden beiträgt.
({0})
Ich meine, daß wir uns Gedanken machen müssen,
was wir im strafrechtlichen Bereich angehen müssen.
Sie liefern Stichworte wie „Schwitzen statt sitzen“ und
„elektronische Fußfesseln“ und bringen das inzwischen
geläufige Thema Strafgeld in die Diskussion. Wir haben Bedenken, Frau Ministerin, ob die Einführung eines
Strafgeldes nicht doch auf eine Entkriminalisierung des
Ladendiebstahls hinausläuft. Daneben haben wir auch
Bedenken, ob dadurch die Polizei nicht noch mehr belastet wird, ob damit auf die Polizei nicht noch mehr Verwaltungszuständigkeiten zukommen, so daß sie am Ende
stärker belastet ist, als das jetzt der Fall ist. Landauf,
landab klagt sie über Stellenabbau. Dann allerdings
müssen die Länder bereit sein, die Zahl der Personalstellen bei der Polizei zu erhöhen.
Ich meine, daß in der Sache nicht viel gewonnen werden kann. Unser Hauptbedenken liegt in der Befürchtung
einer Entkriminalisierung. Wir meinen, die Staatsanwaltschaft hat schon jetzt genügend Möglichkeiten, dieser
Massendelikte - wir wollen gar nicht verschweigen, daß
es sich um solche handelt - Herr zu werden.
Zu einem weiteren Punkt, dem Schutz der Kinder
vor Sexualstraftätern. Mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz haben wir ein umfangreiches Gesetzeswerk eingebracht und in dessen Zuge das Strafmaß ganz gehörig
erhöht. Übereinstimmung gab es diesbezüglich quer
durch alle Parteien. Aber inzwischen hat der Bundesgerichtshof Urteile gefällt, aus denen hervorgeht, daß manche Regelungen des 6. Strafrechtsreformgesetzes milder
sind als vorher. Das widerspricht dessen Intention. Deshalb müssen wir, so meinen wir, auch hier noch einmal
drüberschauen und überlegen, ob nicht gesetzliche Änderungen notwendig sind.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe
natürlich noch viele Punkte anzuführen. Ich hoffe, daß
wir in ein gutes Gespräch kommen, und gehe davon aus,
daß im Rechtsausschuß nach wie vor das Argument und
nicht die Ideologie zählt.
Ich danke Ihnen.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich nun dem Abgeordneten Ströbele
das Wort.
Herr Kollege Geis, ich fühlte mich angesprochen, als Sie die Situation im Rechtsausschuß heute
erwähnt haben. Etwa um 14.15 Uhr hat die CDU/CSUFraktion beantragt, die Sitzung zu unterbrechen, damit
die Mitglieder der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS
ins Plenum gehen und der allgemeinen Debatte lauschen
können.
({0})
Ich hatte eine gewisse Sympathie für diesen Antrag
und habe mich deshalb der Stimme enthalten, aus grundsätzlichen Erwägungen der Einhaltung von Regeln der
parlamentarischen Demokratie. Denn ich denke, eine
solche Debatte im Plenum ist schon so wichtig, daß man
da hingehen können muß.
Wir haben dann noch relativ kurz ohne Sie weiter
verhandelt.
({1})
Als ich mich dann hier unten hingesetzt habe, habe ich
geguckt, wo Sie denn waren. Sie sind zwar aus Protest
aus dem Rechtsausschuß ausgezogen, aber hier war keiner.
({2})
Also war das Ganze doch offenbar nur ein Manöver, um
- unter Mißbrauch dieses richtigen Gedankens - parteiideologische Ziele zu verfechten.
({3})
Herr Kollege
Geis, es gibt noch eine Kurzintervention des Kollegen
Westerwelle. Sie dürfen dann auf beide zusammen antworten.
Erstens muß ich
sagen: Eine solche Ironisierung eines, wie ich finde,
völlig unparlamentarischen Vorgangs - das Wort
„Schweinsgalopp“ war die höfliche Umschreibung dessen, was hier jetzt stattfindet -
Herr Kollege
Westerwelle, ich muß Sie unterbrechen. Sie dürfen nicht
auf eine andere Kurzintervention eingehen, sondern nur
auf den letzten Redner, also den Kollegen Geis. Nur das
steht Ihnen nach den Regeln zu.
Frau Präsidentin,
ich danke Ihnen sehr. - Herr Kollege Geis, das Wort
„Schweinsgalopp“ saß, und Sie haben recht.
Ich möchte auf einen zweiten Punkt zu sprechen
kommen, zu dem ich mich schon als Zwischenfrager
gemeldet hatte. Sie haben davon gesprochen, es handele
sich bei der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften um eine Privilegierung gegenüber
der Ehe. Sie haben das Wort „Privilegierung“ ausdrücklich benutzt. Ich habe mich mit der Sache sehr auseinandergesetzt. Ich habe keine Privilegierung erkennen können. Privilegierung heißt ja: Besserbehandlung gegenüber anderen Instituten. Vielleicht habe ich es falsch
verstanden. Wenn ich diese Privilegierung übersehen
habe, dann bitte ich Sie darum, uns das zu sagen. Vielleicht habe ich es völlig falsch verstanden. Eine Privilegierung ist auch aus unserer Sicht natürlich nicht beabsichtigt, wohl aber eine Abschaffung der Diskriminierung. Eine Abschaffung von Diskriminierung ist jedoch
keine Privilegierung.
({0})
Jetzt, Herr
Kollege Geis, haben Sie die Möglichkeit, auf beide
Kurzinterventionen zu antworten.
({0})
Verehrte Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst
möchte ich Herrn Ströbele antworten. Wir haben uns
({0})
entschlossen, den Beratungen aus zwei Gründen nicht
weiter zu folgen. Der erste Grund ist, daß wir meinen:
Es muß grundsätzlich der Vorzug der Auseinandersetzung im Plenum des Bundestages gegenüber der Auseinandersetzung im Ausschuß gewahrt bleiben. Hier hat
das Plenum des Bundestages einen entsprechenden Vorrang, ganz absolut und ganz unabhängig davon, wer sich
im Plenum befindet.
({1})
Zweitens sind wir vor allem deshalb ausgezogen, weil
wir es als unerträglich empfunden haben, daß wir kurz
vor Sitzungsbeginn einen Packen von Anträgen bekommen haben - es müssen 30 an der Zahl gewesen sein -,
({2})
mit denen wir uns als Rechtspolitiker innerhalb von
zwei Stunden hätten auseinandersetzen müssen. Wir
hielten das nicht für richtig. Wir waren der Meinung,
daß man so nicht mit uns umgehen kann. Wir haben uns
als eine Alibiveranstaltung verstanden. Da wollten wir
nicht mitmachen.
({3})
Herr Westerwelle, ich habe gesagt, daß die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften nicht privilegiert werden können gegenüber anderen Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe, von denen man sich viele
vorstellen kann. Ich sehe in dem, was bislang diskutiert
worden ist - es liegt ja noch kein Gesetzentwurf vor -,
eine Privilegierung gegenüber anderen Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe. Ich kann dem aber nicht
folgen. Ich halte das nicht für logisch.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Verehrter Herr Kollege Geis, als ich gerade Ihre Klage
gehört habe, habe ich gedacht: So schwer kann Opposition sein! Jetzt können Sie sich endlich vorstellen, wie
sehr wir unter Ihnen gelitten haben.
({0})
Ich habe den Vorzug, daß ich heute an dieser denkwürdigen Sitzung des Rechtsausschusses nicht teilgenommen habe. Aber ich kann Ihnen sagen: Das, was Sie
hier geäußert haben, haben wir in den vergangenen
16 Jahren mit großem Recht sehr häufig gedacht und
häufig auch gesagt. Ich denke, wir brauchen parlamentarisches Verhalten auf allen Seiten. Der Rechtsausschuß
war insgesamt gesehen grosso modo eigentlich immer
ein Hort der Auseinandersetzung; und so soll es auch
bleiben. Insofern stimme ich Ihnen völlig zu.
Wir beraten heute über den Justizhaushalt 1999. Es
ist das erste Mal ein etwas veränderter Haushalt. Meine
Bitte ist, meine Damen und Herren - und natürlich wende ich mich an die Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses, an den Kollegen Schneider in ganz besonderer Weise, an den Kollegen Henke, an den Kollegen Hoyer, an die Kollegin Ehlert und an den Kollegen
Berninger -, ihn noch weiter zu verändern, und zwar
einfach deswegen, weil ich glaube, daß das, was gemacht werden muß, es auch wert ist. Ich bedanke mich
- bei aller unterschiedlichen Sicht - ganz ausdrücklich
für Ihre Worte; das ist gar keine Frage. Über die einzelnen Dinge muß man reden; auch das ist keine Frage. Ich
glaube, daß der Justizhaushalt noch etwas verändert
werden kann, und dafür möchte ich heute ausdrücklich
werben.
Seit etwa 50 Jahren hat der Justizhaushalt ohne Zweifel - ich habe mir das gerade noch einmal angeschaut immer Gemeinsamkeiten und Auffälligkeiten, auf die
man schnell stößt. Er ist klein, aber fein; so ist es auch
weiterhin. Er macht, glaube ich, 1,5 Promille des Gesamtvolumens aus.
({1})
- Ja.
({2})
- Rechnen Sie einmal nach! Ich weiß schon, wovon ich
rede.
({3})
- Entschuldigung, was haben Sie gesagt?
({4})
- Unsachlich sicher nicht!
({5})
- Ach so! Woher die Promillediskussion kommt, lieber
Herr Geis, das wissen wir. Es sind natürlich Prozent, Sie
haben völlig recht.
Wir haben praktisch kaum nachgeordnete Behörden;
über eine müssen wir gleich noch reden. Die Gerichte,
die in unseren Geschäftsbereich fallen - das sind übrigens hinsichtlich der Kosten nicht das Bundessozialgericht und das Bundesarbeitsgericht -, sind keine nachgeordneten Behörden. Daß ich das erwähne, hat den
Grund, daß jede Stelleneinsparung der vergangenen
Jahre den Bundesjustizhaushalt - ich denke an die Arbeitsfähigkeit - sofort ins Mark getroffen hat.
Die dritte Gemeinsamkeit ist immer wieder allen
Haushalten des Bundesjustizministeriums - ich darf hinzusagen: gerade auch den Haushalten meiner Vorgängerinnen und Vorgänger - bescheinigt worden: Stets ist
der sparsame Ansatz gelobt worden. Ich denke, wenn
ich Ihnen versichere, daß es so auch bleiben soll, werden
Sie es mir glauben. Alles andere wäre extrem unschwäbisch. Wir bieten Ihnen, gerade auch den Kolleginnen
und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, unsere volle
Offenheit an, so wie wir schon begonnen haben.
An dieser Stelle sage ich den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums herzlichen
Dank. Sie haben gerade in den letzten Monaten der Veränderung ein hohes Maß an Engagement und Motivation
gezeigt, für das ich mich herzlich bedanken möchte.
({6})
Herr Kollege Henke, selbstverständlich haben Sie
völlig recht: Über Einzelheiten wird man reden müssen.
Zwei, drei Dinge, die Sie angesprochen haben, möchte
ich gerne aufgreifen. Sie haben zwei Seminare bzw.
Konferenzen erwähnt, die Sie nicht für gut befunden haben. Sie sollten sich das noch einmal überlegen. Diese
Veranstaltungen sind weniger dazu da, daß ich da hingehe, sondern dienen dazu, daß im europäischen Rechtsraum nicht nur die Harmonisierung der Gesetze, sondern
auch eine Verbesserung der Zusammenarbeit sowohl im
straf- als auch im zivilgerichtlichen Bereich vorangetrieben wird. Lassen Sie uns deshalb noch einmal darüber reden. Sie werden sehen: Das ist nicht nur deswegen vernünftig, weil es schon geplant war, als ich die
Haushaltsverantwortung übernommen habe. Das ist
nicht neu.
Zudem bitte ich darum, daß wir uns den Zustand
beim Deutschen Patentamt noch einmal anschauen.
Auch dort gibt es besondere Probleme, die sehr leicht
und sehr schnell zu schildern sind. In Deutschland haben
wir viele Erfinder, und wir sind stolz darauf. Deswegen
und weil wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit
großschreiben, wollen wir, daß Patentanmeldungen und
Patentprüfungen schnell vor sich gehen. Wenn wir das
zu einigermaßen vernünftigen und wettbewerbsfähigen
Bedingungen machen wollen, benötigen wir auch die
notwendige Zahl der Prüferinnen und Prüfer. Die haben
wir heute nicht. Daher wird das eine der Bitten sein, mit
denen wir auf Sie zukommen.
({7})
Die letzte Frage, die ich ansprechen will - auf den
Täter-Opfer-Ausgleich ist bereits hingewiesen worden;
ganz herzlichen Dank -, bezieht sich auf den Umzug in
das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig. Ich habe den
Eindruck, daß hier die Linie, die das Bundesbauministerium und auch das Bundesministerium der Justiz verfolgen, richtig ist. Wir müssen eine vernünftige Lösung
finden, die Sparsamkeit mit der Notwendigkeit verbindet, dieses Symbol nutzbar zu machen.
Meine Bitte ist, die Funktionsfähigkeit und die Bedeutung genau dieses Gebäudes für die Rechtspflege in
den östlichen Ländern unseres wiedervereinigten Landes
deutlich zu sehen. Ich denke, wir werden in den kommenden Tagen und Wochen noch miteinander darüber
reden können.
Nun gibt es die traditionelle Funktion der Diskussion
um den Justizetat, daß man sich noch einmal überlegt:
Was ist überhaupt das Wesen dieser Arbeit? Bei uns
stellt sich die Frage: Was ist das Wesen der Rechtspolitik? Ich danke Ihnen, Herr Kollege Geis, insofern, als
Sie mit Ihren Bemerkungen dazu übergeleitet haben.
Ich bin in der Tat der Meinung, daß der Justizhaushalt
auch dieses Verständnis widerspiegeln muß. Sie haben
völlig recht: Rechtspolitik hat den Auftrag, zu dem zurückzuführen, was uns unsere Verfassung aufgegeben
hat. Nur wenn sie ihn erfüllt, ist sie gut. Das bedeutet,
die Grundentscheidungen für eine freiheitliche, rechtsstaatliche und soziale Demokratie in unserer Zeit mit
den Mitteln des Rechts, einschließlich Schutz des
Schwachen, durch Recht sichtbar zu machen.
({8})
Herr Geis, Sie waren bei meiner Vereidigung dabei
und wissen, daß ich Ihnen folge, daß es in der Wertordnung unseres Grundgesetzes zur Menschenwürde
- sprechen wir es ganz konkret aus - natürlich vorstaatliche Bindungen gibt, die wir nicht missen möchten. Sie
wissen: Ich habe die religiöse Eidesformel gewählt, aber
nicht jeder, der sie wählt, sieht das so wie ich. Sicher
machen sich andere auch andere Überlegungen. Nicht
jeder, der nicht die religiöse Formel wählt, sieht es nicht
so wie ich. Deswegen lassen Sie uns es einfach so sehen,
daß die Einhaltung unseres Grundgesetzes mit seiner
zentralen Verpflichtung zur Bewahrung der Unantastbarkeit der Menschenwürde unsere Aufgabe ist.
Jetzt will ich noch etwas zur Methode sagen. Ich habe
das schon an einigen Stellen ausgeführt und will es hier
noch einmal sehr deutlich machen. Die Methode der
Rechtspolitik, nicht nur ihre Rückbindung an den Auftrag des Grundgesetzes muß wieder deutlich werden.
Die Methode muß sein - damit komme ich wahrscheinlich wieder in die Richtung, die der Kollege Henke eingeschlagen hat -, eine Bauhütte zu errichten, so wie es
Radbruch einmal gesagt hat. Das heißt, das Bauwerk
und die Rückbindung müssen klar sein. Man darf nicht
meinen, man könne hektisch, raus oder rein, ruck oder
zuck alles neu machen wollen, sondern man muß das
Bauwerk und die Rückbindung deutlich machen - ich
will das noch einmal verdeutlichen -, um Schritt für
Schritt in eine vernünftige Richtung zu gehen.
Wir wissen, daß unsere Bundesländer einen Großteil
der Verantwortung im Justizbereich tragen. Deswegen
muß diese Methode der Verwirklichung von Reformen
gemeinsam mit den Ländern praktiziert werden. Ich lade
Sie, die Damen und Herren von der Opposition, ausdrücklich dazu ein, uns nicht nur zu begleiten, sondern
mitzudiskutieren.
An dieser Stelle, verehrter Herr Geis, lassen Sie mich
auf folgendes hinweisen: Ich war zu lange Mitglied und
auch Vorsitzende des Rechtsausschusses, um hier auch
nur in den Verdacht zu geraten, daß ich die Kolleginnen
und Kollegen nicht mit der gleichen Hochachtung und
dem gleichen Respekt bedenken würde, wie Sie ihn hier
geschildert haben.
Ich darf zwei Dinge sagen. Zum einen: Ich war auf
meine Anregung hin am 2. Dezember, also knapp sechs
Wochen nach meiner Ernennung, im Rechtsausschuß
des Deutschen Bundestages und habe selbstverständlich
über all das informiert, über das zu informieren war.
Zum anderen: Wenn Sie den Kollegen Vorsitzenden
des Rechtsausschusses fragen, werden Sie auch von ihm
erfahren, daß schon seit längerer Zeit - das ergibt sich
auch aus dem Sitzungsplan des Rechtsausschusses - für
den 3. März gegen 12 Uhr, nach der Kabinettssitzung,
vorgesehen ist, daß wir in aller Ausführlichkeit über die
Fragen reden, die wir bereden müssen. Ich halte das für
absolut selbstverständlich.
Wir werden dann auch darüber reden müssen, daß es
eine Menge an Aufgaben gibt, die wir zum Teil weiterführen, zum Teil wieder aufnehmen. Diese Aufgaben
reichen von der Verbesserung des Zeugnisverweigerungsrechts bis zur schleunigen Umsetzung lange verabschiedeter EG-Richtlinien. Es macht einen verdammt
schlechten Eindruck, wenn die Bundesregierung durch
ihre Minister Umsetzungsfristen zustimmt und sie dann
nicht einhält. Da wird also eine Menge aufgearbeitet
werden müssen.
Das geht dann weiter bis zur Korrektur - auch das
wird auf den Rechtsausschuß zukommen - des DNAGesetzes - Stichwort: genetischer Fingerabdruck - und
zum Strafverfahrensänderungsgesetz, das seit mehr
als 15 Jahren überfällig ist und die Grundsätze des Datenschutzes und damit auch den Persönlichkeitsschutz
im Strafverfahren umsetzen soll. Alles das wird eine
Rolle spielen. Darüber werden wir uns im einzelnen unterhalten.
Ich würde - nicht nur weil mir das wichtig ist, sondern auch weil Sie das angesprochen haben - noch gern
zu vier Feldern und einem besonderen Punkt vortragen.
Das ist zum einen der Bereich einer Verbesserung der
Gerechtigkeit im deutsch-deutschen Rechtsverhältnis.
Wir wissen alle ganz genau - da haben Sie völlig recht,
Frau Kollegin -, daß hier das eine oder andere aufgearbeitet werden muß. Keine Sorge, ich will jetzt nicht auf
die Frage eingehen, ob die grundlegenden Entscheidungen 1990 in jedem Fall richtig waren. Sie sind getroffen
worden, und wir haben uns heute mit den Folgen auseinanderzusetzen.
Aber ich halte es für völlig falsch, weiterhin so zu
verfahren, wie das in den letzten vier Jahren eingerissen
ist, das heißt, hier etwas zu flicken und da etwas zu flikBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
ken, gleichzeitig aber wieder ein Loch aufzureißen und
etwas aufzunehmen, was interessant oder auch wichtig
sein könnte oder ist.
Daher haben wir uns vorgenommen, daß wir jetzt zunächst einmal sammeln und eine Runde mit den fünf
jungen Ländern machen; das wird Ende April stattfinden. Dann wollen wir das, was jetzt repariert, verändert
oder an Gerechtigkeit hergestellt werden muß, zusammen als einen Schwerpunkt einbringen. Da kann man
dann inhaltlich anderer Meinung sein. Aber ich glaube,
Herr Kollege Funke, von der Methode her ist das genau
der richtige Weg. Dazu gehören übrigens auch die Prüffragen, auf die wir großen Wert legen.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist die
europäische Zusammenarbeit. Das hat uns natürlich in
den letzten 121 Tagen ganz unmittelbar beschäftigt, und
zwar in der Vorbereitung, aber dann auch in der Wahrnehmung der europäischen Präsidentschaft für den Bereich der Rechtspolitik.
Um was es geht, wissen wir alle. Wir brauchen den
einheitlichen europäischen Rechtsraum, und zwar deswegen, Herr Kollege Henke, weil wir nicht zu einer
politischen Union kommen, sondern in der Wirtschaftsunion steckenbleiben, wenn wir nicht auch eine Rechtsunion unter Beachtung der Subsidiarität haben. Ich gehe
davon aus, daß das die einheitliche Meinung aller Fraktionen dieses Hauses ist. Aber wir müssen halt auch
noch etwas dafür tun. Das heißt: Harmonisierung der
Vorschriften, Verbesserung der strafrechtlichen Zusammenarbeit, Verbesserung auch der zivilrechtlichen Zusammenarbeit in Europa und - das ist eine der Aufgaben, die wir jetzt erledigen müssen - eine gute und vernünftige Überleitung vom Regime des Maastrichter
Vertrages in den Amsterdamer Vertrag.
Es gibt noch zwei Dinge, die wir aufgreifen werden.
Wir müssen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit - deswegen habe ich vorher noch einmal auf das Grundgesetz
Bezug genommen - auch in diesem einheitlichen europäischen Rechtsraum deutlicher und stärker zum Durchbruch bringen.
Wir brauchen auch einen Grundrechtekatalog, das
heißt eine Grundrechtscharta. Dazu führen wir zusammen mit der Europäischen Kommission Ende März eine
Veranstaltung in Köln durch, zu der ich Sie herzlich
einlade. Ich glaube, hier können wir noch ein neues Signal geben.
Der nächste Punkt, der mir wichtig ist - auch dieser
ist angesprochen worden -, ist die Justizreform. Lieber
Herr Kollege Henke, Sie haben mich immer auf Ihrer
Seite, wenn es gegen Zentralisten geht. Nicht einmal der
baden-württembergische Justizminister hält die Auffassung aufrecht, wir wollten irgendwo an die Amtsgerichte heran. Nichts wäre falscher. Ich habe das in diesem Hause schon mehrfach gesagt. Wie die Eingangsgerichte organisiert werden, wie sie heißen oder ob es da
eines oder zwei gibt, gehört nicht zu den Aufgaben des
Bundesgesetzgebers. Damit kann man vielleicht noch
Stimmung machen, aber das wäre von der Sache her
natürlich nicht gerechtfertigt.
Es geht darum, die Ziele Bürgernähe, Transparenz
und Effizienz unter Berücksichtigung auch der Kostenproblematik der Länder zu erreichen. Zugleich geht es
- das habe ich gerade angesprochen - um den Einbau
des deutschen Justizsystems in das Rechtssystem Europas. Wenn wir das wollen, dann ist es vernünftig, die
Eingangsgerichte zu stärken und die außergerichtliche
Streitschlichtung obligatorisch vorzuschalten, die Mittelgerichte auf die Fehlerkontrolle zu konzentrieren und
die Obergerichte auf die Wahrung von Rechtseinheitlichkeit und Rechtsfortbildung auszurichten. Dort können wir vielleicht - auch mit diesem Vorschlag werde
ich auf Sie zukommen - die Verfahrensrüge ansiedeln,
weil ansonsten das Bundesverfassungsgericht, das wir
dringend brauchen, erstickt. Das ist die Grundidee, Herr
Henke.
Über die Frage, wie wir anfangen, sind wir schon mit
den Ländern, aber auch mit Ihnen im Gespräch. Klar ist,
daß die eben erwähnten Ziele nur Schritt für Schritt zu
erreichen sind. Beginnen wollen wir in diesem Jahr im
Bereich der Zivilgerichtsbarkeit mit der Rechtsmittelreform. Im nächsten Jahr wird es dann im Bereich der
Strafgerichtsbarkeit weitergehen. Damit kommen wir,
wie ich glaube, vernünftig zum Ziel.
Ein weiterer Schwerpunkt ist das Bündnis gegen
Gewalt. Dazu ist hier schon vieles gesagt worden, was
ich für richtig halte. Nur wäre es mir sehr recht, Herr
Geis, wenn wir aus dem europäischen Rechtsraum heraus zur Kenntnis nähmen, welche guten Erfahrungen bereits jene Länder gemacht haben, die verbindlich in das
Familienrecht geschrieben haben, daß ein Kind nicht nur
ein Recht auf eine Erziehung, sondern auch auf eine gewaltfreie Erziehung hat, daß also Gewalt als Erziehungsmittel nicht erlaubt ist. Ich weiß doch, daß Sie als
Vater den Beispielfall, den Sie gewählt haben, auch
nicht dadurch lösen würden, daß Sie das Kind mit gewaltsamen Methoden herausholten. Sie hätten früher angesetzt und die Möglichkeiten der Erziehung genutzt,
die Erwachsenen zu Gebote stehen. Uns muß es darum
gehen, nicht nur am Sonntag über die zunehmende Gewalt und Gewaltbereitschaft in unserem Land zu klagen,
sondern in den Bereichen zu handeln, in denen Politik
und Gesellschaft etwas tun können. Deswegen halten
wir an dem Bündnis gegen Gewalt fest.
Ein letzter Punkt ist die Frage der Erweiterung des
Sanktionensystems. Diese Erweiterung muß sein. Hier
können wir auf der Arbeit einer Kommission aufbauen,
die Sie unter der Leitung des verdienten bisherigen
Kollegen von der CDU, Horst Eylmann, dankenswerterweise eingerichtet haben. Wir haben diese Kommission personell etwas erweitert und sie gebeten, die Arbeiten zeitlich zu straffen. Das Ziel der Erweiterung des
Sanktionensystems im Bereich des Erwachsenenstrafrechts muß es sein, daß wir rechtsstaatlich tat- und
schuldangemessen bestrafen können und daß wir dort
- darauf kommt es mir an -, wo es heute nicht mehr
funktioniert, einen Denkzettel derart verabreichen, daß die
Betroffenen die Einhaltung der demokratisch beschlossenen Gesetze nachvollziehen können und akzeptieren.
Meine Damen und Herren, da wird nun alles vom
selbständigen Fahrverbot über die Ersatzfreiheitsstrafe,
die durch gemeinnützige Arbeit abgelöst werden soll
- „Schwitzen statt Sitzen“ -, und den Täter-OpferAusgleich bis hin zum überwachten Hausarrest, aber
auch das Vorgehen gegen Alltagskriminalität erörtert
werden, so daß wir danach relativ schnell mit Vorschlägen auf Sie zukommen können. Das muß nach unserer
Auffassung nicht nur um des Rechtsstaates willen sein,
sondern auch deswegen, weil wir erreichen müssen, daß
diejenigen, die ins Gefängnis gehören, dort auch wieder
resozialisiert werden können. Das brauchen wir unter
dem Gesichtspunkt des Schutzes der Opfer und des
Schutzes vor Wiederholungstätern.
Sie sehen, lieber Herr Kollege Henke, der Justizhaushalt ist wichtig. Er muß sich noch verändern. Ich werbe
um Ihre Unterstützung. Es ist wichtig, daß wir hier einige Schritte nach vorne kommen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Ludwig Stiegler.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die Innenpolitik hat
Konjunktur. Der Bundesinnenminister hat vom ersten
Tag seiner Amtsführung an stürmische Zeiten erlebt. Ich
finde, er hat eine wirklich gute Figur abgegeben. Ich
möchte ihm herzlich für das danken, was er gemacht
und auch durchgestanden hat.
({0})
Er hat schon mit der richtigen Dimension begonnen.
Wir haben gelernt, daß die Innenpolitik keine allein nationale Angelegenheit mehr ist. Der Raum der Freiheit,
des Friedens und des Rechts ist eine europäische Veranstaltung. Wenn Sie sich ansehen, wie die europäische
Innenpolitik in den letzten Wochen und Monaten intensiviert worden ist, dann stellen Sie fest, daß das wirklich
die Handschrift eines europäischen Bürgers trägt, der
eben erkannt hat, daß wir das mit nationalen Maßnahmen allein nicht mehr bewältigen.
({1})
Herzlichen Dank für diese Europäisierung und für diese
Breite. - Daß ihr beide blind seid, ist schon bekannt. Das
müßt ihr jetzt nicht unterstreichen.
({2})
- Ich weiß, Sie wollen lieber gehen.
Meine Damen und Herren, er hat auch die richtigen
Akzente gesetzt, nämlich weg von der reinen Repression
und hin zur Prävention. Eine der ersten Maßnahmen
war die Teilnahme am Präventionstag, auf dem deutlich
geworden ist, daß man allein mit einer schwarzen Haudrauf-Politik die Probleme der inneren Sicherheit nicht
löst, sondern daß das Thema der Prävention, der Kriminalitätsvermeidung mindestens so wichtig ist wie das
Thema der Kriminalitätsbekämpfung. Das wäre endlich
einmal zu lernen, und danach wäre endlich einmal zu
handeln. Aber das wollen Sie nicht. Dann hätten Sie gar
keine Möglichkeit mehr herumzupolemisieren. Deshalb
werden Sie auf das differenzierte Geschäft der Prävention mental nie eingestellt sein.
({3})
Sie haben doch aus diesem Grund eine schwere Störung des inneren Friedens in diesem Lande herbeigeführt. Wenn ich die unsägliche Unterschriftenaktion
sehe, wenn ich sehe, was Sie an braunem und völkischem Sumpf hochgespült haben,
({4})
so ist das wirklich ein Anschlag auf den inneren Frieden.
Sie haben mit geradezu kriegswissenschaftlichen Methoden der Mobilisierung des müden Vereins CDU nach
der Methode CSU Krawall gemacht. So sieht doch die
Situation aus.
({5})
So dient man dem inneren Frieden nicht. Nichts gegen ernste Besorgnisse; aber diese Art und Weise des
Vorgehens ist durch nichts zu rechtfertigen. Sie werden
mit dieser Methode das Projekt einer wirklichen Reform des Staatsbürgerschaftsrechts nicht verhindern
können. Sie werden es nicht schaffen, daß wir etwa den
Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nicht erledigen,
das einen Zusammenhang zwischen der Übereinstimmung von Staatsvolk und Gesetzesunterworfenen und
der Einbürgerung hergestellt hat. Wir werden die Einbürgerung erleichtern. Herr Rüttgers hat ein schönes Papier über Integration gemacht und hat viele Versäumnisse aufgezählt. Was Herr Rüttgers aufschreibt, ist
nichts anderes als ein Schuldanerkenntnis der Versäumnisse der Vergangenheit. Er hat zugegeben, daß in diesem Bereich bisher nichts geschehen ist.
({6})
Aber Sie haben es für eine billige Polemik verwendet.
Ähnlich ist es im Bereich Flucht und Asyl. Wir müssen zusammen mit den für Äußeres zuständigen Politikern endlich beginnen, die Fluchtursachenbekämpfung
wirklich ernst zu nehmen. Innen- und Außenpolitik
müssen auf diesem Felde intensiver zusammenarbeiten.
Wir fordern natürlich auch die Härtefallregelung ein.
Hier erwarten wir von den Ländern, daß sie mit dem
Bundesinnenminister kooperieren.
Zur Integration gehört auch die Integration der Aussiedler. Sie haben Millionen Menschen ins Land geholt,
aber für die Integration herzlich wenig unternommen.
Ich denke an die Probleme der jugendlichen Aussiedler,
ich denke an Sprachprobleme, ich denke an die damit
zusammenhängende Kriminalität. Das ist das eigentliche
Thema. Ich danke dem neuen Aussiedlerbeauftragten
der Bundesregierung, unserem Kollegen Jochen Welt,
daß er den Integrationsetat trotz der schwierigen Haushaltslage aufstocken konnte. Das ist ein Zeichen, daß
wir die Integration miteinander ernst nehmen.
({7})
Ich kann hier nicht alle Projekte durchgehen. Wir haben ein weiteres wichtiges Projekt, nämlich den Datenschutz. Hier haben Sie es versäumt, europäische Richtlinien umzusetzen. Es droht eine Verurteilung, die abgewendet werden muß. Deshalb ist es wichtig, daß wir
hier bald mit einer ersten Datenschutznovelle Ihre
schwere Erblast überwinden und endlich wieder „à jour“
mit den Pflichten sind, die wir zu erledigen haben.
Zum Zuständigkeitsbereich des Innenministers gehört
auch der Sport. Auch hier hat der Innenminister sofort
Zeichen gesetzt.
({8})
Seine internationale und nationale Sportpolitik kann sich
wirklich sehen lassen. Ich möchte ihm herzlich dafür
danken, daß er gerade der Dopingbekämpfung eine
solche Aufmerksamkeit gewidmet hat. Wir müssen den
Sportverbänden klarmachen, daß wir dann, wenn sie
selber keine rechtsstaatliche Lösung finden, in der Politik mithelfen werden, um eine solche Lösung zu erreichen. Ich danke meiner Kollegin Dagmar Freitag, die
mit ihrer Arbeitsgruppe „Sport“ hier wesentliche Vorarbeiten geleistet hat, auf die der Bundesinnenminister
zählen kann, wenn es um Anregungen und um Kontakte
zum Sport geht. Hier wollen wir Akzente setzen.
({9})
Als Fußballer kann ich nur herzlichen Dank für die
Unterstützung der Bewerbung um die Fußballweltmeisterschaft sagen. Auch das ist eine tolle Sache.
({10})
- Das stinkt dir jetzt, daß Franz Beckenbauer die Bundesregierung lobt. Aber das ist euer Pech. Ihr habt so
etwas ja nicht zustande gebracht. Otto Schily hat dieses
Tor geschossen. Herzlichen Glückwunsch! Sie haben zu
lange geschlafen.
({11})
- Das würde ich eher schaffen als Sie. Für Sie müßte
man eine „Mundwerksmeisterschaft“ austragen, damit
Sie gute Chancen hätten. Aber wir wollen eine Fußballmeisterschaft.
Es gibt einen Punkt in unserem Haushalt, um den wir
mit unseren Haushältern ringen müssen. Ich schaue dabei Hans Georg Wagner, aber auch die anderen Haushälter an. Wir wollen, daß der Goldene Plan Ost auch
im Haushalt seinen Niederschlag findet.
({12})
Wir wollen, daß der Aufbau einer Breitensportbewegung
hier seinen Niederschlag findet. Ich komme aus dem
ehemaligen Zonenrandgebiet. Wir haben eine hervorragende nationale Zonenrandförderung gehabt, mit der wir
unglaublich vielen Sportvereinen helfen konnten. Wir
wollen vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der
früheren Breitensportförderung im Zonenrandgebiet
dem Sport gerade in den neuen Ländern zum Durchbruch verhelfen.
({13})
Hier sollten wir alle zusammen die Haushälter nerven,
so wie es in der Bibel beschrieben wird, nämlich siebenmal die Mauer von Jericho umkreisen, bis sie endlich
einfällt. Wir müssen das so lange machen, bis wir die
richtigen Entscheidungen treffen können. Wir werden
also unsere Gruppe „Sport“ aktiv unterstützen, damit wir
das gemeinsam voranbringen.
Ich möchte auch noch ein schwieriges Thema ansprechen. Viele werden im Wahlkreis ähnliche Erfahrungen
gemacht haben: Viele Vereine haben Probleme mit der
Steuerprüfung und der Sozialversicherung. Unglaublich
viele Vereine stehen vor dem Konkurs. Da ist auch viel
Lumperei betrieben worden, aber wir werden uns in aller
Ruhe mit den Sportverantwortlichen, mit den Finanz- und
Sozialversicherungsfachleuten zusammensetzen. Es kann
nicht sein, daß viele Vereinsvorsitzende aus Angst vor der
Haftung für Dinge, die sie nicht voll durchschauen, in ihren Aktivitäten gebremst werden. Wir haben als Parlamentarier die Pflicht, hier alle Sportlerinnen und Sportler
sowie die aktiven Verantwortungsträger zu schützen.
({14})
- Das ist nur ein Thema von vielen. Entscheidend ist,
daß die Vereinsvorsitzenden mit ihren Aufgaben zurechtkommen und nicht steuerlich überfordert werden.
Es gibt zwar Großvereine, die als Gewerbebetriebe geführt werden. Ich habe das erste Handbuch über die Bilanzierung von Fußballern und über die Abschreibungsmöglichkeiten auf dem Tisch. Das mag ja alles
richtig sein. Aber unsere Sorge muß auch dem Breitensport gelten, soweit er durch Bundesgesetze betroffen
ist, wenn auch sonst allein die Förderung des Spitzensportes Aufgabe des Bundes ist.
In der Innenpolitik gibt es eine spannende Zeit. Wir
haben einen starken Innenminister und freuen uns, daß
wir mit ihm zusammen diese Aufgaben bewältigen können. Sie werden es nicht schaffen, durch Ihren Versuch,
die Menschen aufzuhetzen, den inneren Frieden zu stören.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Rede dieses Abgeordneten Stiegler sage ich nichts. Während wir
in Berlin eine ausgesprochen schwierige Sicherheitslage
haben, äußert er hier Diffamierungen und macht Ausführungen zu Übungsleitern.
({0})
Das soll verstehen, wer will, aber jede Rede hat halt das
Niveau, das dem Redner entspricht.
Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Das ist
die erste Lesung des Einzelplans des Bundesinnenministers. Nach einem alten parlamentarischen Brauch ist
es gute Übung, daß der zuständige Minister seinen Einzelplan hier vorträgt und begründet. Der jetzt amtierende
Bundesinnenminister hat sich geweigert, als erster in
dieser Debatte zu sprechen; deshalb mußten wir die
Ausführungen von Herrn Stiegler hören. Herr Schily, ich
kann verstehen, daß Sie sich schämen, diesen Einzelplan
hier vorzutragen. Sie werden jetzt am Schluß reden. Sie
kommen anscheinend immer zu spät.
({1})
Nach etwas mehr als 100 Tagen steht der Bundesinnenminister Schily vor dem Scherbenhaufen seiner
Politik bei der Zuzugsbegrenzung von Ausländern, bei
der Staatsangehörigkeit und auch im Fall Öcalan. Es gibt
eine alte Erkenntnis - auch in der Innenpolitik -: Wer
Schwäche sät, der erntet Gewalt. So sieht das Resultat
Ihrer Politik im Fall Öcalan aus.
Ängstlich und leichtfertig hat die Schröder-Regierung
gehandelt, als sie im November auf die Auslieferung
von Öcalan verzichtet hat.
({2})
Sie hat damit eine schwere Verantwortung auf sich geladen. Die Justiz wurde aus Opportunitätsgründen daran
gehindert, Recht zu sprechen. Internationale Haftbefehle, von deutschen Behörden veranlaßt, wurden Makulatur. Die Bundesrepublik Deutschland setzt sich dem
Verdacht der Erpreßbarkeit aus.
Die Schröder-Regierung - ich erinnere an die gestrige
Regierungserklärung von Herrn Schily - hat versucht,
die Kapitulation des Rechtsstaats damit zu rechtfertigen, daß bei einem Strafverfahren gegen Öcalan in
Deutschland gewaltkriminelle Ausschreitungen auf
deutschen Straßen zu befürchten seien. Jetzt haben wir
bürgerkriegsähnliche Zustände trotz dieser Kapitulation.
Was hat die Schröder-Regierung eigentlich national
wie international seit Dezember unternommen? Wo ist
der internationale Gerichtshof, der hier groß angekündigt worden ist? Wo ist der internationale Gerichtshof,
vor den Öcalan gebracht werden sollte, damit auch seine
Menschenrechte gewahrt bleiben? - Nichts ist passiert!
Schlechter als jetzt konnte man es jedenfalls im Ergebnis nicht machen.
({3})
Herr Schily, damit das klar ist: Ich werfe weder der
Bundesregierung noch Ihnen vor, daß Sie eine Schuld an
den Krawallen, die zuletzt stattgefunden haben, haben.
Aber Sie haben durch Ihr Verhalten den Eindruck erweckt, daß der deutsche Rechtsstaat den Kopf einzieht,
wenn es schwierig wird, und daß er vor Drohungen auf
die Knie geht. Sie haben ein Umfeld der Erpreßbarkeit
und der Nachgiebigkeit geschaffen.
({4})
Niemals darf Deeskalation so weit gehen, daß Politik
und Rechtsstaat vor der Gewalt kapitulieren.
({5})
Eine Kapitulation des Rechtsstaats war der Verzicht
auf das Auslieferungsbegehren. Eine Kapitulation des
Rechtsstaats ist aber auch das, was wir in den vergangenen Tagen gesehen haben: daß Unterstützer der verbotenen PKK alles kurz und klein geschlagen und anschließend freien Abzug bekommen haben. Der Bundeskanzler und der Bundesinnenminister haben davon gesprochen, daß die gewaltkriminellen Demonstranten die ganze Härte des Gesetzes treffen müsse. - Richtig! Wie
paßt aber dazu das Vorgehen - besser gesagt: das
Nichtstun - in Düsseldorf und in Hamburg? Büros und
Geschäftsräume wurden verwüstet. Ich war da und habe
mir das Konsulat und auch die mittelständische Firma,
die zufällig das Pech hatte, zwischen zwei Etagen des
Konsulates zu liegen, angesehen. Nichts paßte dort
mehr.
({6})
- Ich war wenigstens da; sonst war keiner anwesend,
weder von der Bundesregierung noch von der Düsseldorfer Regierung. Ich finde es übrigens ziemlich schäbig, diejenigen Menschen, die Gewalt erlebt und Angst
gehabt haben, völlig alleine zu lassen.
({7})
Nachdem dort alles verwüstet war, zogen die Täter völlig unbehelligt ab, von Festnahme keine Spur, nicht
einmal die Personalien sind aufgenommen worden.
({8})
All das wird durch handwerkliches Unvermögen,
peinliche Informationspannen im Kanzleramt und im
Innenministerium umrahmt.
({9})
Es ist ein Aberwitz, daß Kurdenorganisationen und
Nachrichtenagenturen Stunden vor den zuständigen Ministern über die Verhaftung Öcalans unterrichtet waren.
Herr Schily, kümmern Sie sich endlich um Ihr Ministerium! Sorgen Sie endlich für Sicherheit in unserem
Land, statt immer nur zu reden, zu prüfen und anzukündigen.
({10})
Gegen die Gewalttäter muß entschlossen und konsequent vorgegangen werden - bis hin zur Ausweisung
und Abschiebung. Wir können und wir dürfen nicht
dulden, daß innertürkische Konflikte gewaltsam auf
deutschem Boden ausgetragen werden. Deutsche Gesetze gelten für alle, für Kurden, für Türken und für
Deutsche.
({11})
Wer hier Straftaten begeht, seien sie politisch motiviert
oder nicht, verwirkt sein Gastrecht und muß raus.
({12})
Die Kurdenkrawalle geben eine Lehre über den Tag
hinaus.
({13})
Ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören, aber ich sage es
trotzdem.
({14})
- Sie können hier soviel schreien, wie Sie wollen, ich
habe jetzt das Wort. Wir sind noch nicht soweit, daß in
diesem Parlament jemand durch Brüllen mundtot gemacht wird, Herr Penner, damit das ein für allemal klar
ist.
({15})
Ich wiederhole, ob Sie das nervt oder nicht: Über den
Tag hinaus kann man lernen: Die doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall darf nicht eingeführt werden.
({16})
Wären die Pläne der Schröder-Regierung bereits geltendes Recht, wären viele der kurdischen Gewalttäter längst
deutsche Staatsbürger und könnten alleine schon deshalb
nicht ausgewiesen oder abgeschoben werden.
({17})
Jetzt hat der Bundesinnenminister angekündigt, er
wolle Gesetzesverschärfungen im Bereich des Ausweisungsrechts prüfen. Herr Schily, wir nehmen Sie beim
Wort. Es darf aber nicht wie so oft bei Verbalkosmetik
bleiben.
({18})
Es darf nicht nur geredet werden, es muß auch gehandelt
werden. Im übrigen ist es ja auch noch gar nicht so lange
her, daß SPD und Grüne im Bundestag wie übrigens
auch im Bundesrat Vorschläge der CDU/CSU-Fraktion
sowie entsprechende Initiativen der Bayerischen Staatsregierung zur Verschärfung des Ausweisungsrechtes
scharf bekämpft haben.
({19})
Wir schlagen folgende Gesetzesänderungen vor:
Erstens. Zwingende Ausweisung muß künftig bereits
bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einem Jahr
stattfinden.
Zweitens. Ausländer, die an kollektiven und gewalttätigen, insbesondere extremistischen Ausschreitungen
teilnehmen, müssen auch ohne rechtskräftige Verurteilung ausgewiesen und abgeschoben werden können.
({20})
Schon die nachweisliche Beteiligung an gewalttätigen
Demonstrationen muß zwingend zur Ausweisung führen.
({21})
- Das ist noch nicht so, Herr Westerwelle.
Drittens. Auch die Unterstützung einer verbotenen
Organisation, wie sie die PKK ist, muß zwingend zu
einer Ausweisung führen.
({22})
Viertens. Der Ausweisungserlaß ist wertlos ohne tatsächliche Abschiebung. Bereits Bundesminister Kanther
hatte mit seinem türkischen Amtskollegen eine Verfahrensabsprache für die Rückführung von PKK-Anhängern getroffen.
({23})
Diese stellt sicher, daß kein Abgeschobener nach Rückkehr in die Heimat rechtsstaatswidrig behandelt wird.
({24})
Wir sind der Auffassung, daß diese Vereinbarung jetzt
konsequent angewendet werden muß.
Sollten Sie der Auffassung sein, daß dies nicht ausreicht, dann fordere ich die Bundesregierung auf,
schnellstens eine entsprechende völkerrechtliche Regelung mit der Türkei abzuschließen. Es darf nicht sein,
daß ausländische Straftäter nur deshalb vor Abschiebung
in die Türkei geschützt sind, weil sie sich hier zur PKK
bekennen. Es ist pervers, wenn PKK-Mitglieder nicht in
die Türkei abgeschoben werden können, weil sie in
Deutschland Gewalt anwenden. Es kann nicht bei dem
paradoxen Ergebnis bleiben, daß Kurden vor AbschieDr. Jürgen Rüttgers
bung um so besser geschützt sind, je mehr sie sich hier
durch antitürkische Gewaltaktionen hervortun. Das Begehen von Straftaten darf nicht länger mit einem Bleiberecht in Deutschland belohnt und prämiert werden.
({25})
Meine Damen und Herren, die Wähler in Hessen haben der doppelten Staatsangehörigkeit eine Abfuhr erteilt. Jetzt sucht die Regierung nach einem Ausweg.
({26})
Sie glaubt, ihn in dem Optionsmodell gefunden zu haben. Die SPD irrt, wenn sie meint, dieses Modell ließe
sich ohne die CDU/CSU durchsetzen. Richtig ist vielmehr, daß das Optionsmodell verfassungsfest nur durch
eine Änderung des Art. 16 eingeführt werden könnte.
({27})
Das entspricht übrigens auch der Auffassung des Bundesinnenministers. Art. 16 unseres Grundgesetzes läßt
eine Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit nicht
zu. Eine Einführung von Verlustgründen ist nur unter
bestimmten engen Voraussetzungen möglich. Unverzichtbar dafür ist - diesen Punkt hat das Bundesverfassungsgericht nachdrücklich klargestellt - eine aktive
Mitwirkung des Betroffenen.
({28})
Eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Optionsfrist
kann also nur dann vorgesehen werden, wenn gleichzeitig Art. 16 des Grundgesetzes dahin gehend ergänzt
wird, daß auch ohne aktives Mitwirken des Betroffenen,
zum Beispiel im Falle seiner Untätigkeit die deutsche
Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes untergehen kann.
({29})
Eine solche Verfassungsänderung ist nur mit Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion möglich. Wer also
etwas von uns will, der muß mit uns verhandeln.
({30})
Dazu muß die Regierung aber zunächst einmal sagen,
was sie überhaupt will und was sie überhaupt durchsetzen kann. Ich habe mit großem Interesse der Presse entnommen, daß 18 Abgeordnete der SPD-Fraktion in
einem Papier das Optionsmodell als „größten anzunehmenden Unfug“ bezeichnet haben.
({31})
Herr Kollege
Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Bitte.
Herr Kollege Rüttgers,
nachdem Sie eingangs Ihrer Rede moniert haben, der
Bundesinnenminister ergreife zu Beginn der Debatte
über den Einzelplan 06 nicht das Wort, muß ich fragen:
Ist denn noch damit zu rechnen, daß Sie etwas zu diesem
Haushalt sagen?
Ich gehöre nicht
zu den Menschen, die neuen Kollegen vorwerfen, daß
sie noch nicht die notwendige Erfahrung haben. Ich darf
Ihnen trotzdem sagen, daß die erste Lesung immer die
Debatte über die Politik, die hinter dem Haushalt steht,
beinhaltet.
({0})
Ich beschäftige mich mit der Politik des Bundesinnenministers. Insofern bin ich genau beim Thema. Wenn
Sie wollen, erkläre ich Ihnen diesen Sachverhalt nachher
etwas genauer.
({1})
- Das ist keine schwache Antwort, sondern genau die
passende Antwort auf die Frage. Es kann doch nicht
sein, daß wir angesichts der schwierigen Lage im Lande
jetzt beispielsweise über Übungsleiter diskutieren. Wir
diskutieren jetzt über die Sicherheitslage und die großen
Themen, die die Menschen interessieren. Vor lauter
Machtbesoffenheit kapieren Sie nicht mehr, was die
Menschen interessiert. Wir dagegen versuchen, die Sorgen der Menschen aufzunehmen.
({2})
Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
daß mit der Union die Einführung der regelmäßigen
doppelten Staatsangehörigkeit nicht zu machen ist. Was
vom Abgeordneten Stiegler eben zur Meinungsäußerung
von vielen Millionen Menschen in diesem Land mittels
der Unterschriftenaktion gesagt worden ist - ich will
seine Äußerungen über eine angebliche Schuldanerkenntnis gar nicht näher qualifizieren, ist mir zu billig.
({3})
Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen, Herr Stiegler
- vielleicht fällt Ihnen das nicht so auf, gerade weil Sie
aus Bayern kommen -, daß in Bayern eine sehr fortschrittliche Integrationspolitik gemacht worden ist. Ich
schildere Ihnen einmal die Situation seit Jahren im rotgrün regierten Nordrhein-Westfalen: Für 500 000 ausländische Kinder stehen in Nordrhein-Westfalen nur
3 500 Lehrer für Förderunterricht zur Verfügung.
({4})
Jedes Kind bekommt also pro Woche nur acht Minuten
Förderunterricht. Sich dann hier hinzustellen und von
Integration zu sprechen ist eine Heuchelei und nichts
anderes.
({5})
Man müßte sich jetzt noch im Detail - Stichwort:
Verfassungstreue und Sprachfähigkeit - mit den Plänen
auseinandersetzen, die Herr Schily vorgelegt hat. Es
lohnt sich aber nicht mehr, weil wir gerade erfahren haben, daß Herr Schily seinen Entwurf zurückziehen
mußte. Er ist also mit seinem Entwurf gescheitert und
muß ihn überarbeiten.
({6})
Herr Schily, ich sage Ihnen: Wenn Sie noch einmal
solche Ungereimtheiten wie im ersten Entwurf vorlegen
sollten, dann werden Sie damit ein weiteres Mal scheitern. Ihre Tragik ist - insoweit können Sie einem schon
fast leid tun -,
({7})
daß Sie von anderen in Schlachten geschickt und dann
plötzlich allein gelassen werden. Das ist Ihnen nicht nur
in der Frage des Staatsangehörigkeitsrechtes passiert,
sondern jetzt leider auch bei den Tarifverhandlungen.
Wer Sie etwa gestern bei Ihrem Gefühlsausbruch beobachtet hat, der kann spüren, wie verkrampft und unsicher
Sie geworden sind.
({8})
Sie werden ins Feuer geschickt und dann allein gelassen. Der Bundesfinanzminister animiert die Gewerkschaften, bei Lohnforderungen nicht zimperlich zu sein.
Damit untergräbt er gleichzeitig Ihre Position bei den
Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst. Herr
Schily, ich sage Ihnen: Wehren Sie sich rechtzeitig,
sonst werden Sie auch in diesem Bereich scheitern!
Es reicht nicht, den Zuhörern das zu sagen, was Sie
gerne hören wollen, dann aber etwas anderes zu tun. Sie
haben dem Deutschen Beamtenbund in Kissingen versichert, Sie stünden zum Berufsbeamtentum. Der BMF
beginnt bereits mit der Umwandlung von Beamtenstellen.
({9})
Ich sage Ihnen für meine Fraktion: Die Beamten, Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes haben
ein Recht auf uneingeschränkte Teilhabe an der allgemeinen Einkommensentwicklung. Wir greifen nicht in
die Tarifverhandlungen ein, aber Sonderopfer für Beamte sind mit uns nicht zu machen. Es gibt überhaupt
keinen Grund, die Prinzipien des Art. 33 des Grundgesetzes für den öffentlichen Dienst in Frage zu stellen
oder gar kaputtzureden.
({10})
Bisher galt: Wer viel schafft, macht Fehler. Nur wer
nichts tut, macht keine Fehler. Seitdem es diese rotgrüne
Regierung gibt, gilt etwas Neues: Sie tut fast nichts und
macht trotzdem nur Fehler.
({11})
Ich bitte um
ein bißchen mehr Ruhe. Ich habe es eben mit der Glocke
versucht. Sie soll eigentlich sagen, daß es im Plenum
etwas ruhiger sein sollte.
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Cem Özdemir.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer vorhin die
rechtspolitische Debatte mitbekommen hat, hat die Sensibilität der Kolleginnen und Kollegen von der Union
erlebt und erfahren, wie wichtig ihnen die Würde des
Parlaments und die Achtung vor dem Parlament ist. Wer
aber gerade die Rede des Kollegen Rüttgers gehört hat,
muß feststellen: Das war unterirdisch. Mit Achtung vor
dem Parlament und Debattenkultur hatte das nicht sehr
viel zu tun.
({0})
Aber jetzt zum Thema. Ich bin froh, daß wir einen
Innenminister haben, Innenminister Schily, der sich mit
Sachlichkeit bemüht, klarzumachen, daß in der Innenpolitik eine neue Epoche begonnen hat, indem mit den
Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam versucht wird, die
Probleme in dieser Gesellschaft zu lösen. Herr Stiegler
hat auf einen sehr wichtigen Punkt hingewiesen: Zukünftig spielt neben der entschiedenen Bekämpfung von
Kriminalität, neben der Durchsetzung von innerer Sicherheit auch der Gedanke der Prävention die Rolle, die
er einnehmen muß.
Ich möchte auf einen Punkt eingehen, den ich für sehr
wichtig halte und der in der Debatte bisher leider zuwenig behandelt worden ist. Wir brauchen dringend eine
Modernisierung von Staat und Verwaltung. Wir
wollen mehr Bürgerbeteiligung, mehr Transparenz in
der Gesellschaft. Dazu gehört - das wurde kurz angesprochen - auch das Überdenken der hergebrachten
Grundsätze des Berufsbeamtentums. Wir wollen, daß,
ausgenommen bei hoheitlichen Aufgaben, zukünftig
Angestellte der Regelfall werden. Ich finde es ausdrücklich lobenswert - die neue Bundesregierung hat ihren
Beitrag dazu geleistet -, daß weltweit Maßnahmen gegen Korruption und Bestechung durchgesetzt werden.
Was wir mindestens genauso dringend auf den Weg
bringen müssen, sind Akteneinsichtsrechte, wie wir sie
in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen haben. Auch
das wird dazu beitragen, daß diese Demokratie ausgebaut wird und daß der Bürger und die Bürgerin das Gefühl haben, daß sich der Staat nicht vor ihnen versteckt,
sondern der Staat der Bürger ist.
({1})
Wir wollen eine Mitmachgesellschaft, eine Zivilgesellschaft, in der wir die Kompetenz der Menschen einbeziehen wollen. Diese Regierung stellt sich den Bürgerinnen und Bürgern; sie versteckt sich nicht vor ihnen.
({2})
- Auf die Staatsbürgerschaft gehe ich gleich ein, Herr
Kollege Marschewski. Aber bevor ich auf diesen Punkt
eingehe, gestatten Sie mir eine Bemerkung zur PKK.
Ich dachte eigentlich, daß wir diese Debatte gestern früh
abgeschlossen hätten. Offensichtlich hat der Kollege
Rüttgers sie nicht mitbekommen. Deshalb will ich gerne
noch einmal einen Kernbestandteil wiederholen.
Es ist nicht die Fraktion der SPD, und es ist auch
nicht die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sondern
es war die Fraktion der CDU/CSU, die jahrelang Geheimkontakte zur PKK unterhalten hat. In Ihrer Fraktion
war ein Abgeordneter, der mehrfach dort war und sich
mit Herrn Öcalan unterhalten hat. Ich möchte den Innenminister Schily fragen, ob er nicht einmal prüfen
kann, was in diesen Gesprächen genau vereinbart wurde.
Mich würde beispielsweise interessieren - soviel zum
Thema innere Sicherheit -, ob stimmt, was wir gehört
haben - das Parlament hat das Recht, dies zu erfahren -,
daß ein wichtiges Thema dabei war, daß die PKK einen
Gewaltverzicht in Deutschland erklären sollte. Mich
würde interessieren: Hat Herr Lummer sich auch dafür
eingesetzt, daß dieser Gewaltverzicht ebenso für Kurdinnen und Kurden gilt, die nicht bei der PKK sind?
Galt dieser Gewaltverzicht auch für türkische Einrichtungen? Ich kann Ihnen mehrere Beispiele nennen, wo
von PKKlern türkische Einrichtungen angegriffen und
Konzertveranstaltungen bedroht worden sind, wo man
gesagt hat, das Konzert dürfe nicht stattfinden. Hat Herr
Lummer auch darüber geredet?
({3})
Oder hat er immer nur den Willen gehabt, für die deutschen Einrichtungen zu sorgen? Das würde mich sehr
interessieren.
Mich würde auch interessieren, ob dabei beispielsweise gesagt wurde: Woanders dürft ihr gerne Randale
machen, nur in Deutschland bitte nicht. - Das Parlament
hat das Recht, dies zu erfahren. Was wurde hier besprochen? Was hat Herr Lummer mit Herrn Öcalan zu besprechen gehabt?
Noch ein Punkt, da wir gerade beim Thema PKK
sind. Sie haben das Staatsangehörigkeitsrecht angesprochen. Was Sie da sagen, wird nicht dadurch wahrhaftiger, daß Sie Unwahrheiten wiederholen. Es war die alte
Bundesregierung, die Herrn Ghasi, den Deutschlandvertreter, den Quasidiplomaten der PKK, eingebürgert hat.
Herr Innenminister Schily hat einen Entwurf vorgelegt,
der von uns getragen wird und der genau dies zukünftig
verhindern würde.
({4})
Zukünftig werden Extremisten, Angehörige der
Grauen Wölfe, PKK-Aktivisten nicht mehr eingebürgert.
Sie haben dies zugelassen. Wir alle kennen die Beispiele.
({5})
Es war doch die CSU in Bayern, die beispielsweise
zu Herrn Türkesch, einem der schlimmsten Faschisten
der Türkei, beste Kontakte unterhalten hat. Wir werden
genau dies nicht machen.
({6})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Gerne.
Herr Kollege, Sie
haben jetzt zur PKK gesprochen. Gestern hat der Bundesinnenminister in der Debatte, auf die Sie sich eben
bezogen haben, ausdrücklich erklärt, daß die neue Bundesregierung am Verbot der PKK festhält. Was mich
interessieren würde, da Sie auch innenpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion sind: Ist das auch die Meinung der
grünen Bundestagsfraktion? Kann der Bundesinnenminister auf die Unterstützung einer wichtigen Fraktion im
Deutschen Bundestag, der grünen Bundestagsfraktion,
zählen, wenn es um diese Verbotsentscheidung geht?
Ich frage das deshalb, weil mir heute ein Antrag der
Grünen in Niedersachsen gegeben wurde - die grüne
Fraktion im Landtag fordert, das Verbot der PKK aufzuheben - und weil ich ein Interview von Frau Beer in der
„Berliner Zeitung“ vom 8. Dezember im Kopf habe, in
dem sie erklärt hat, das Verbot der PKK müsse aufgehoben werden. Wie ist die Position der Fraktion der Grünen, die uns der innenpolitische Sprecher jetzt sicherlich
mitteilen kann?
({0})
Sehr
geehrter Herr Kollege, ich danke Ihnen für diese Frage.
Die Äußerung der Kollegin Beer fand zu einem Zeitpunkt statt, bevor Herr Öcalan in die Türkei entführt
wurde. Es ist völlig klar, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Aufhebung des PKK-Verbotes kein Thema
sein kann. Wir teilen die Position von Innenminister
Schily in dieser Frage ohne jede Einschränkung.
({0})
Auch dazu will ich etwas sagen. Das wird Sie vielleicht wundern. Es betrifft weniger Sie, Herr Westerwelle, als die Kolleginnen und Kollegen von der Union.
({1})
- Hören Sie einmal zu! Jetzt kommt etwas ganz Interessantes für Sie. - Wie sind wir in der Praxis mit dem
PKK-Verbot umgegangen, und zwar auch in den unionsregierten Ländern? Viele Vereine, die der PKK nahestanden, sind - auch Herr Kinkel weiß das sicher noch verboten worden. Was ist passiert? Die Leute sind nicht
vom Erdboden verschwunden; sie sind nicht alle auf
einmal unsichtbar geworden. Sie haben zum Teil neue
Vereine gegründet. Auch in CDU-regierten Ländern
wurden viele dieser Vereine nach Rücksprache mit der
Polizei und dem Verfassungsschutz zugelassen, weil
man sich gesagt hat - fragen Sie den Kollegen Lummer
-: Solange wir sicher sein können, daß von ihnen keine
Gewalt ausgeht, werden wir sie zulassen. Sie haben also
damals Pragmatismus praktiziert, den Sie uns jetzt vorwerfen. Ich glaube nicht, daß das eine sehr ehrliche
Politik ist.
({2})
Aber lassen Sie mich jetzt zum Staatsbürgerschaftsrecht, weil ich kaum noch Zeit habe, folgendes sagen:
Wir wollen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht,
nicht gegen die Bevölkerung, sondern mit der Bevölkerung. Nach Umfragen sagen 71 Prozent der Bevölkerung: Wir brauchen ein neues, modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Ich will gerne zugeben, daß es uns nicht
gelungen ist, deutlich genug zu machen, was wir mit
diesem Gesetzentwurf vorhaben. Ich bin mir sicher, daß
wir dies in Zukunft besser machen werden.
Ich will Ihnen noch eines sagen, weil vorhin der
Kollege Stiegler sehr eindrucksvoll zum Thema Sport
geredet hat. Im Grunde geht es hier auch darum: Wollen
wir in Deutschland wieder eine Fußballnationalmannschaft, für die man sich nicht schämen muß? Wollen wir
endlich wieder eine Nationalmannschaft, die gewinnt, so
wie die Franzosen, die Engländer, die Holländer erfolgreiche Nationalmannschaften haben,
({3})
die erfolgreich sind und einen Querschnitt der Bevölkerung wiedergeben, oder wollen wir eine Nationalmannschaft, in der die Kinder, die bei uns aufwachsen und auf
der Straße Fußball spielen, nicht mitspielen dürfen werden?
({4})
Ich garantiere Ihnen: Unsere Politik wird dazu führen,
daß auch in der Nationalmannschaft die Kinder, die in
diesen Jahren in dieser Gesellschaft geboren werden und
zukünftig als deutsche Staatsbürger aufwachsen, spielen
dürfen.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Mit der Reform
des Staatsangehörigkeitsrechtes endet die Arbeit nicht;
dann beginnt sie erst. Dann kommen Themen wie Sprache, religiöse Integration, interreligiöser Dialog etc. Ich
fordere die Opposition nochmals auf: Hören Sie auf zu
polemisieren! Hören Sie auf, Wahlkampf auf dem Rükken von Minderheiten zu machen! Das haben wir bisher
in Deutschland nicht getan, und das sollten wir auch
nicht einreißen lassen. Lassen Sie uns gemeinsam um
bessere Konzepte kämpfen! Ich warte immer noch auf
den Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit ihrem Modell
zum Staatsangehörigkeitsrecht.
({6})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Werner Hoyer.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Jetzt habe ich an diesem
Abend doch noch etwas gelernt: Wir brauchen die doppelte Staatsangehörigkeit, um endlich wieder einmal die
Fußballweltmeisterschaft gewinnen zu können. Dies ist
eine ganz neue Erkenntnis. Ich denke, wir sollten uns
wirklich wieder um die Probleme kümmern, die den
Menschen in diesem Lande auf den Nägeln brennen.
Wir Liberale sind für weniger Staat. Wir sind der
Auffassung, der Staat sollte sich zurücknehmen - nebenbei bemerkt auch aus dem Bereich des Sports. Er
sollte ein bescheidener Staat sein und sollte zum einen
den Bürgerinnen und Bürgern Entscheidungen zurückgeben, die sie auch selber treffen können, und zum anderen darauf verzichten, ihnen das Geld in einer Weise aus
der Tasche zu ziehen, die in höchstem Maße motivations- und leistungsmindernd wirkt.
Das bedeutet allerdings nicht, daß wir übersehen, daß
der Staat auch Aufgaben übernehmen muß, für die er
einen leistungsfähigen, motivierten öffentlichen Dienst
braucht.
({0})
Zu diesem öffentlichen Dienst, lieber Herr Kollege Penner, stehen wir. Der öffentliche Dienst ist im übrigen
kein Steinbruch für eine anderweitig verfehlte Haushaltspolitik. Es ist natürlich unheimlich leicht, gegen den
öffentlichen Dienst Stimmung zu machen. Man kann
über ihn auch wunderschöne Karikaturen malen. Aber
damit kann man sehr leicht die Grenze zum billigen
Populismus überschreiten und den Menschen, die dort
eine große Leistung erbringen müssen, Unrecht tun.
({1})
Deswegen fand ich es nicht besonders überzeugend,
als Kollege Metzger uns den Vorschlag machte, den
Pensionären im öffentlichen Dienst das Weihnachtsgeld
zu streichen - was nicht gerade zum Alimentationsprinzip paßt - oder die Bezüge im öffentlichen Dienst
grundsätzlich zu reduzieren. So geht es nicht. Wir brauchen einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst.
Herr Bundesminister, Sie werden in der nächsten Zeit
die Aufgabe haben, das Thema „Reform der öffentlichen Verwaltung“ voranzutreiben. Das ist eine Riesenaufgabe. Sie haben dies auch in der Koalitionsvereinbarung aufgegriffen. Sie sprechen dort vom „aktivierenden
Staat“. Wenn man genauer hinschaut, was damit gemeint ist, dann stellt man fest, daß das alter Wein in
neuen Schläuchen ist. Dies ist nichts anderes als das,
was die alte Koalition ernsthaft angegangen ist und verfolgt hat, nämlich das Thema „schlanker Staat“.
({2})
Nur, bisher haben Sie es noch nicht fertiggebracht,
diesen alten Wein durch neuen Wein zu ersetzen. Wir
warten auf Ihre Vorschläge. Daß Sie in Kissingen gesagt
haben, Sie bräuchten zehn bis fünfzehn Jahre dazu, hat
uns nicht gerade überzeugt. Das Thema „Verschlankung
des Staates“ muß jetzt weiter angepackt werden.
Ein ganz besonderes Sorgenthema beim Komplex öffentlicher Dienst ist selbstverständlich all das, was mit
innerer Sicherheit zu tun hat. Herr Spinrath, der Vorsitzende der GdP, hat uns nachdrücklich klargemacht, wie
sehr das im Bereich der Polizei vorhandene Potential
gegenwärtig ausgereizt ist und daß die Grenzen der Belastbarkeit überschritten sind. Darauf haben wir hier einzugehen, und zwar nicht nur dadurch, daß wir feierliche
Erklärungen abgeben, indem wir den Angehörigen der
Polizei danken. Es wird sich vielmehr an ihrer Situation
etwas verbessern müssen.
Das ist nicht nur eine quantitative Frage, obwohl sich
zumindest einige Bundesländer die Frage stellen lassen
müssen, ob sie auf diesem Gebiet genügend getan haben. Dies ist auch eine Frage des qualitativen Umfeldes,
in dem Polizeiarbeit zu leisten ist. Daran werden wir etwas tun müssen; denn die Motivationslage im Bereich
der Polizei und übrigens parallel dazu im Bereich der
Verfassungsschutzbehörden ist nicht gerade sehr beeindruckend.
Das hat Gründe. Ich nenne Ihnen dazu drei Beispiele.
Erstes Beispiel: Wenn Sie betrachten, wie sich das ursprünglich sicherlich einmal gutgemeinte neue Beurteilungssystem im Bereich der Polizei auswirkt, dann
kann ich dazu nur sagen: Herr Minister Schily, gehen
Sie an dieses Thema bald heran und schaffen Sie hier
Remedur! Der Seufzer der Erleichterung beim BKA und
BGS wird unüberhörbar sein.
Zweites Beispiel: die technische Ausstattung im Bereich der Sicherheitsbehörden. Das ist ein ausgesprochener Motivationskiller, den wir in der Realität zu beobachten haben. Das gilt für die Länder, aber eben auch für
den Bund.
Drittes Beispiel: Im „Focus“ war vor einigen Wochen
ein sehr hart aufgemachter Artikel über die Situation der
Unterbringung der Bahnpolizei, der Bundesgrenzschutzbeamten bei der Bahn, zu lesen. Leider ist dieser
Bericht in keiner Weise überzogen. Er bildet die Realität
der Bahnpolizei ziemlich präzise ab. Ich frage mich,
warum das nicht im Vordergrund der Investitionsschwerpunkte des Innenministers steht. Vielleicht werden wir dazu anläßlich der Haushaltsplanberatungen
mehr erfahren.
({3})
Das, was ich zum Bereich der Polizei gesagt habe,
gilt auch für den Bereich des Verfassungsschutzes. Ich
halte es schon für ein ziemlich dolles Ding, wie sehr
jetzt einige ihr Herz für den Verfassungsschutz entdeckt haben. Da werden tatsächliche oder vermeintliche
Kommunikationsdefizite der Sicherheitsbehörden zu
Forderungen an den Verfassungsschutz aufgeblasen, die
dieser schlecht erfüllen kann, wenn auf der anderen
Seite ein erheblicher Teil des Hauses bisher - und vielleicht noch heute - ein offensichtlich ziemlich verklemmtes Verhältnis zu dem gesamten Thema Verfassungsschutz und polizeilicher Staatsschutz hat.
({4})
Das hat doch bis vor kurzem geradezu etwas Anrüchiges gehabt - wahrscheinlich für manchen von Ihnen
bis heute -, wenn man sich mit diesem Thema befaßt.
Wie soll denn das eigentlich motivationsfördernd wirken, wenn Sie, lieber Herr Kollege Stiegler, hier eine
höhere Leistung und Effizienz des Verfassungsschutzes
und seiner Mitarbeiter verlangen, wenn aber gleichzeitig
zum Beispiel das sozialdemokratisch regierte SachsenAnhalt die Auflösung des Landesamtes für Verfassungsschutz beschließt?
({5})
- Das ist, sehr verehrter Kollege Stiegler, nicht zu bestreiten. Das paßt zu der Widersprüchlichkeit Ihrer Politik.
({6})
Deswegen sollten wir uns dem Thema der Sicherheit
ernsthaft zuwenden und nicht in der Art und Weise, wie
Sie es bisher getan haben.
Lassen Sie mich nun doch noch ein Wort zum Thema
Sport sagen. Ich bin der Auffassung - ich habe es am
Anfang gesagt -, der Staat sollte nun auf Grund der
Themen, die Sie dankenswerterweise auch in Lausanne
angesprochen haben, nicht den Fehler machen, zu glauben, er sollte plötzlich den Sport regeln. Ich hoffe, daß
der Sport ein Bereich bleibt, der in seinen Interna möglichst weitgehend staatsfrei ist. Trotzdem danke ich
Ihnen für Ihre Bemühungen zum Thema Doping und
auch für Ihre Bemühungen, dem IOC und der olympischen Bewegung wieder mehr Glaubwürdigkeit zu
verschaffen.
Herr Minister, der Bereich, bei dem ich Sie bitte, in
den Haushaltsberatungen noch einmal sehr flexibel zu
sein, ist der Behindertensport. Es hat dazu schon Vorgespräche gegeben, die aussichtsreich erschienen. Aber
es gibt hier zweifellos eine Bundeszuständigkeit, eine
Bundeskompetenz. Ich halte es für wichtig, daß gerade
diejenigen, die oft genug auf der Schattenseite leben und
die durch den Sport in besonderer Weise Lebensfreude,
Motivation und auch Leistungssteigerung erfahren könDr. Werner Hoyer
nen, hier ein klares politisches Signal bekommen. Wir Liberale werden uns in den Haushaltsverhandlungen besonders für den Bereich des Behindertensports engagieren.
({7})
Abschließend noch ein Wort. Für den riesigen Personalkörper, für den Sie, Herr Minister Schily, verantwortlich sind - das ist natürlich insbesondere der Bereich der inneren Sicherheit, aber das geht auch darüber
hinaus -, muß endlich gelten: Der Mensch im Mittelpunkt und nicht der Mensch als Mittel, - Punkt!
({8})
Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich bin ziemlich entsetzt über die Debatte,
die hier schon seit gestern geführt wird. Ich bin deswegen entsetzt, weil Sie, Herr Rüttgers, und andere in den
letzten Tagen eine Stimmung schaffen, die ich unerträglich finde. Man kann über Ausschreitungen diskutieren.
Aber ich meine, gerade Abgeordnete aus diesem Hause
sollten zu einer Versachlichung der Debatte beitragen
und auch ernsthaft darüber nachdenken, wie man zu Lösungen kommt.
({0})
Es kann einfach nicht sein, daß man miteinander darüber
wetteifert, wer der bessere Abschieber ist; es kann doch
nicht sein, daß man miteinander darüber wetteifert, wer
die besten Verschärfungen in das Ausländerrecht einführt. Das kann und darf meiner Meinung nach nicht die
Politik nach dieser Entwicklung in der Kurdenfrage
sein.
Das ist auch mein Vorwurf an die neue Bundesregierung: daß sie eigentlich in der Sache selbst nicht sehr
viel neue Vorschläge gemacht hat. Der jetzige Innenminister Schily hat in den vergangenen Jahren häufig davon gesprochen, daß er mehr Demokratie wagen möchte, daß er die konservative, repressive Politik beenden
möchte, daß er einen Politikwechsel einleiten will. Ich
meine, daß es gerade an der Kurdenfrage nicht ersichtlich ist, daß wir mit der neuen Regierung auch eine neue
Entwicklung bekommen. Erst kürzlich durften wir in
einer Antwort der neuen Bundesregierung auf eine Anfrage, wie sie es mit den Waffenlieferungen halten wird,
lesen, daß die Bundesregierung nicht zu erkennen vermag, daß in Kurdistan deutsche Waffen zum Einsatz
kommen. Ich sage Ihnen: Genau das war die Antwort
der alten Bundesregierung und des damaligen Innenministers Kanther.
Auch ich bin der Meinung, daß eine Konfliktlösung
nicht darin bestehen kann, hier einseitig Verschärfungen
vorzuschlagen. Vielmehr muß ernsthaft darüber diskutiert werden, wie es zu einem Friedensprozeß in der
Türkei und Kurdistan kommen kann und wie es möglich
ist, mit Kurden ins Gespräch zu kommen und den Friedensprozeß auch in diesem Land voranzutreiben. Denn
ich bin sicher: Wenn die Politik, die wir heute von Herrn
Rüttgers gehört haben, umgesetzt würde, dann gute
Nacht! Das würde den Frieden in diesem Lande sicherlich nicht befördern.
In einem Punkt muß ich der F.D.P. recht geben: Der
Haushalt des Innenministers unterscheidet sich in der
Tat weitgehend nicht von dem, was wir von der alten
Regierung zu sehen bekommen haben.
Nehmen wir das Beispiel des Staatsangehörigkeitsrechtes - es wurde heute abend schon angesprochen -:
Ich bin der Meinung, man sollte auch hier nicht sofort
einknicken, nur weil die CDU/CSU diese Hetzkampagne
gemacht, diese Unterschriftensammlung durchgeführt
hat. Offensichtlich ist sie bei der Bevölkerung angekommen, weil sie den Menschen suggeriert, die Betroffenen würden mit einem neuen Staatsbürgerschaftsrecht
bzw. mit der doppelten Staatsangehörigkeit mehr Rechte
bekommen. Man hätte - das ist meine feste Überzeugung - zu dieser Hetzkampagne eine Gegenkampagne
starten sollen, anstatt gleich einzuknicken.
({1})
Noch zu einigen Fragen des Haushaltes, die wir mit
Sicherheit noch im Innenausschuß diskutieren werden:
Der Haushaltsentwurf von Innenminister Schily schlägt
für Organisationen, die rechtsextremistisches und antisemitisches Gedankengut verbreiten können - wir haben
dies in der Vergangenheit immer wieder angegriffen -,
haargenau dieselben Haushaltsmittel vor. Ich meine
damit beispielsweise den Bund der Vertriebenen. Um es
hier ganz deutlich zu sagen: Solange deren Vorsitzenden
gegen Osteuropa und die Freundschaftsverträge mit den
benachbarten osteuropäischen Ländern hetzen können,
kann es nicht angehen, daß diese Vertriebenenverbände weiter finanziert werden.
Ich möchte hier deutlich sagen, daß ich es richtig finde, mehr Mittel für die Integration von Aussiedlern in
den Haushalt aufzunehmen. Was ich aber überhaupt
nicht begreife, ist, daß diese Mittel dem Bund der Vertriebenen in die Hände gegeben werden, um entsprechende Projekte durchzuführen. Ganz konkret frage ich
die Grünen und die SPD, die in den vergangenen Legislaturperioden immer wieder gefordert haben, diese von
der alten Bundesregierung veranlaßten Projektförderungen zu überprüfen, warum davon plötzlich nicht mehr
die Rede ist und im Haushalt die Mittel für die Vertriebenenverbände nicht reduziert, sondern - ganz im Gegenteil - aufgestockt werden. Solange man diesem Verband nicht vertrauen kann, dürfen Mittel der Projektförderung nicht in dessen Hände gegeben werden.
Ich kann Sie nur darauf verweisen, daß wir in der
letzten Legislaturperiode in diversen Kleinen Anfragen
nachgewiesen haben, daß die Vertriebenenverbände
- nicht in Gänze, aber Teile ihrer Organisation - rechtsDr. Werner Hoyer
extremistische Publikationen herausgeben, Antisemitismus verbreiten und revanchistische Auffassungen vertreten. Ich erwarte von einer rotgrünen Regierung, daß
sie diesen Organisationen, diesem Gedankengut das
Wasser abgräbt, anstatt ihnen noch zusätzliches Geld zu
geben.
Zu einem weiteren Punkt, dem Verfassungsschutz.
Auch hier frage ich mich: Wo bleibt die Kritik der vergangenen Jahre? Wir können leider nicht erkennen, daß
eine neue Politik mit mehr Kontrolle und Durchsichtigkeit einhergeht. Man hüllt sich - ob das den Stellenplan
oder andere Fragen betrifft - in Schweigen. Ich meine,
so kann es nicht gehen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluß.
Zum Ende möchte ich Ihnen nur noch folgendes sagen: Es kann nicht sein, daß auf der einen Seite die
Bundeszentrale für politische Bildung diverse Gruppen
und Organisationen fördert, denen wir nachgewiesen
haben, daß dort Rechtsextremisten referieren dürfen,
während es auf der anderen Seite in diesem neuen Haushalt keinen einzigen Topf für NS-Opfer gibt. Der Zynismus gipfelt darin, daß die Unternehmer und Unternehmerinnen - die ehemals Millionen von Menschen
mittels Zwangsarbeit ausgebeutet haben -, die in die
neue Stiftung für die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen einzahlen, ihre Zahlungen auch noch von der
Steuer absetzen dürfen. Ein solcher Haushalt wird unsere Zustimmung nicht bekommen.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist
der Abgeordnete Christian Ströbele, Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Zu allem, was Sie wollen.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich gehöre einer Generation und einer politischen
Gruppe, Bündnis 90/Die Grünen, an, die sehr stark von
einem Staat geprägt sind, den sie als repressiv erfahren
haben. Zu dem, was der Kollege Rüttgers hier gerade
verkündet hat, muß ich sagen: Das ist genau das, was
mich vor 10, vor 15, vor 20 Jahren entscheidend geprägt
hat. Immer dann, wenn im Staat schwierige Situationen,
Krisensituationen eingetreten sind, wurden rechtsstaatliche Grundsätze mit einer Handbewegung über Bord
geworfen. Genau das, was Sie jetzt wollen, daß Kurden
in die Türkei abgeschoben werden und dort der Gefahr
der Folter ausgesetzt sind, hat mich dazu veranlaßt, am
Rechtsstaat zu zweifeln.
Wenn Sie sagen, wir könnten - wie schon Herr Kanther - von der türkischen Regierung eine Erklärung
verlangen, die Folter ausschließt, kann ich Ihnen nur
antworten: Wer einen politischen Gefangenen wie Öcalan in dieser Weise täglich weltweit, seiner Würde entkleidet, öffentlich vorführt,
({1})
auf dessen Wort ist in Fragen der Menschenrechte und
der Antifolter überhaupt kein Verlaß. Das Wort der Türkei ist überhaupt nichts wert. Die können aufschreiben,
was sie wollen.
({2})
Aber dazu wollte ich eigentlich gar nichts sagen, weil
die Debatte schon gestern geführt worden ist.
({3})
Aus den Erfahrungen, die ich und Bündnis 90/Die
Grünen gemacht haben, haben wir ein Konzept über ein
neues, ein anderes Verhältnis von Staat und Bürger
entwickelt, das wir gern verwirklichen wollen.
({4})
Für uns ist maßgeblich, daß die Bürgerinnen und Bürger
der Staat sind. Es gab einmal einen König in Frankreich,
der gesagt hat: L'état, c'est moi! Der Staat bin ich! Wir
sagen: Der Staat sind die Bürgerinnen und Bürger. Danach müssen sich alle Regeln des Staates ausrichten.
Genauso wie der Sonnenkönig in Frankreich zu seinen Dienern in die Amtsstuben gehen, die Akten einsehen und sich über alles Wissen informieren konnte,
genauso wollen wir den Bürgerinnen und Bürgern mit
einem Informationsfreiheitsgesetz die grundsätzliche
Möglichkeit schaffen, Informationen, die es in der Verwaltung gibt, einzusehen, natürlich unter Schutz der
Daten Dritter. Die Verwaltung soll Partner des Bürgers
sein.
Genauso wie wir nicht wollen, daß wir bespitzelt
werden, wie wir nicht wollten, daß in der Vergangenheit
andere bespitzelt wurden, wie wir natürlich ein gesundes
Mißtrauen gegenüber Geheimdiensten haben, genauso
wollen wir in Zukunft sicherstellen, daß die bundesdeutschen Geheimdienste effektiver Kontrolle unterworfen
sind.
Dieses partnerschaftliche Verhältnis ist in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt: daß wir zu einem anderen Verhältnis zwischen Bürger und Staat kommen
wollen. Das soll sich in allen Bereichen des Verhältnisses von Bürgerinnen und Bürgern mit dem Staat auswirken. Wenn wir das erreichen können, dann können wir,
denke ich, von den Bürgerinnen und Bürgern auch verlangen, daß sie in diesem Staat eine Mitverantwortung
übernehmen und daß sie sich in Krisensituationen, wie
wir sie jetzt haben, wie wir sie in Berlin, in Düsseldorf,
in Stuttgart, in Hamburg gehabt haben, einmischen, daß
sie nicht vorbeigehen, daß sie nicht nur berichten, was
sie gesehen haben, sondern daß sie, wie wir das gemacht
haben, versuchen, in solchen Situationen deeskalierend,
mäßigend einzuwirken, um den Frieden auf der Straße
zu sichern. Das ist das andere partnerschaftliche Verhältnis, das sich diese Regierung mit der Unterstützung
der Bündnisgrünen vorgenommen hat.
Wir können zu vielen Punkten der Koalitionsvereinbarung sagen: Das reicht noch nicht. Aber es ist die
richtige Richtung. In dieser Richtung wollen wir etwas
entwickeln, um die bundesdeutsche parlamentarische
Demokratie nach 50 Jahren an die Seite und gleich mit
den Demokratien in den Vereinigten Staaten, in England
und in anderen Ländern einzuordnen, in denen das Verhältnis Bürger/Staat ein anderes war und noch heute ist.
Das wollen wir zum 50. Jahrestag des Grundgesetzes auf
den Weg bringen.
({5})
Nächster Redner ist
der Abgeordnete Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein,
CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als Sie, Herr Minister Schily, den
Entwurf des jetzigen Einzelplans 06 vorlegten, war ich
ein wenig überrascht. Überrascht deswegen, weil er die
Handschrift Ihres Vorgängers trägt. Ein Kompliment an
Sie, ihn zum überwiegenden Teil so zu übernehmen, wie
Kanther ihn vorgelegt hat. Ich sehe darin eine Kontinuität, bin allerdings, da wir uns schon eine gewisse Zeit
kennen, ein bißchen überrascht, wenn ich vergleiche,
wie Sie uns in der vergangenen Legislaturperiode in
puncto innere Sicherheit ständig angegriffen haben und
wie Sie mit dem Thema jetzt in ihrem Einzelplan umgehen. Dies genug an Lob.
Jetzt möchte ich etwas zu einigen Themen sagen, die
zum Einzelplan 06 gehören. Ich bedauere sehr, Herr
Schily, daß Sie so wenig um den Kulturbereich gekämpft haben. Der Kulturbereich war blendend in den
Einzelplan 06 eingegliedert und ist dort gut betreut gewesen. Sie, der immer klar und deutlich signalisiert, daß
der Staat weniger macht, lassen jetzt zu, daß Ihr Kanzler
eine neue Behörde aufbaut, die eigentlich nicht in das
Kanzleramt gehört; denn der Kanzler sollte sich um andere Dinge kümmern. Er hat sich ja auf die Fahne geschrieben, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Leider
können wir in diesem Bereich wenig feststellen. Jetzt
gibt es im Kanzleramt die Behörde mit 143 neuen Mitarbeitern. Überall dort, wo eine neue Behörde aufgebaut
wird, kann man davon ausgehen, daß Mehrkosten entstehen und der Synergieeffekt verlorengeht.
Zum Thema innere Sicherheit und BGS. Ich darf
mich ganz herzlich dafür bedanken, daß Sie im Bereich
der Anhebungen viel getan haben. Denn wir brauchen
eine motivierte Gruppe. Die Aufgaben werden erheblich
schwieriger. Deswegen ist es sehr wichtig - Herr Rüttgers und andere haben das schon angesprochen -, daß
wir sehr sorgfältig darauf achten, daß die Mannen und
Frauen des BGS auch hinsichtlich von Waffen gut ausgerüstet werden. Ich bitte Sie darum, sich um diese
Thematik zu kümmern.
Im Einzelplan 06 ist der Sport in gleicher Höhe wie
im letzten Einzelplan verankert. Sie selbst haben den
Bereich Doping schon des öfteren angesprochen, Herr
Schily. Wer sich zum Beispiel an die Tour de France
und daran erinnern kann, wie viele Mannschaften dort
ausschieden, wird verstehen, daß es meines Erachtens
- Spitzensportler sollten Vorbilder dieser Nation sein von allergrößter Wichtigkeit ist, an diesen Bereich nicht
so halbherzig heranzugehen. Vielleicht ist es, Herr Minister, sogar möglich, über die Parteigrenzen hinweg ein
Gesetz zu verabschieden, das weiter geht als die jetzigen
Vorschriften. Im Augenblick ist der Handel mit Anabolika strafbar, nicht aber der Besitz. Vielleicht können wir
hier über alle Grenzen hinweg gemeinsam etwas tun.
Ein zweiter Bereich ist das Doping. Doping kommt
nicht nur im Spitzensport, sondern sogar überwiegend
im Breitensport, vor allem bei den Jugendlichen, vor.
Deswegen bitte ich darum, daß Sie sich mit großer Kraft
gegen das Doping einsetzen.
Ist der Kollege Stiegler noch da?
({0})
- Ich bewundere Sie, und Sie haben meine volle Unterstützung beim Goldenen Plan Ost. Er hatte einmal das
unvorstellbare Volumen von 25 Milliarden DM. Dann
ist er auf 100 Millionen DM gekürzt worden. Ich habe in
einer Frankfurter Zeitung gelesen, daß Ihre Arbeitsgruppe mit den Grünen in Kärnten war und sich dort intensiv
mit dieser Thematik beschäftigt hat.
Ich finde im Einzelplan 06 dazu überhaupt keinen
Titel.
({1})
Deswegen müssen Sie nicht uns anmahnen, sondern den
Innenminister und noch mehr den Finanzminister. Er ist
zwar abwesend, aber dafür ist sein Staatssekretär Karl
Diller da - der möglichst nicht soviel lesen, sondern lieber sorgfältig zuhören sollte. Er sollte sich darum bemühen, daß dieser Titel in den Einzelplan 06 aufgenommen
wird, und zwar nicht mit 15 Millionen DM, sondern mit
100 Millionen DM. Ich bin erstaunt, daß kein Aufschrei
von den Grünen und der SPD aus den fünf neuen Bundesländern dazu kam, daß bisher noch nichts passiert ist.
Ich hoffe, daß dies in Kürze der Fall sein wird. Sie werden meine Unterstützung als Berichterstatter der
CDU/CSU für den Goldenen Plan und den neuen Einsatz erhalten.
Ich darf mich ganz herzlich bedanken und hoffe, daß
wir zumindest in diesem Bereich zu Gemeinsamkeiten
kommen.
({2})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich bedanke mich ausdrücklich bei dem Kollegen von Hammerstein, dem Kollegen Hoyer und dem Kollegen
Stiegler für ihre sehr sachlichen Beiträge, die ich als
sehr wohltuend empfunden habe; denn ich glaube, das
Thema Innenpolitik lebt von Sachlichkeit.
({0})
Ich möchte zunächst einmal etwas zu den sportpolitischen Erwägungen sagen. Ich habe nur wenig Zeit, insofern kann ich das nicht in aller Breite tun. Die Anregung
des Kollegen Hoyer, etwas für den Behindertensport
zu tun, unterstütze ich. Ich weiß, daß sich der Kollege
Dr. Kinkel dieser Frage besonders annimmt. Ich habe
mit ihm ein Gespräch darüber geführt, und ich hoffe,
daß wir in dieser Frage vorankommen.
Ich bedanke mich bei Herrn von Hammerstein. Sie
haben recht: Doping ist ein Thema, das uns alle interessieren sollte. Es ist für den Sport und gerade für unsere
Jugend verderblich, wenn die Vorbilder im Sport nicht
erhalten bleiben. Wenn wir einen Chemie- und keinen
Sportwettbewerb durchführen, geht etwas ganz Zentrales in unserer Gesellschaft verloren.
({1})
Herr von Hammerstein, Sie haben natürlich eine
Wunde bei mir aufgerissen; das werden Sie verstehen.
Jede Frau, jeder Mann weiß, daß ich der Kultur in besonderer Weise zugetan bin. Ich meine, daß es eine innere Verbindung zwischen Kultur und Innenpolitik gibt.
({2})
Sie kennen meinen Satz: Wer Musikschulen schließt,
schadet der inneren Sicherheit. Ich wiederhole ihn hier
noch einmal, weil ich aus meiner Biographie weiß, wie
wichtig es ist, daß junge Menschen in einem sehr frühen
Stadium ihres Lebens etwas von künstlerischer Erziehung erfahren. Das bildet den Charakter und macht sie
später immun gegen Anfechtungen im Leben. Insofern
gibt es einen Zusammenhang, den ich durchaus bestätige.
Man kann in verschiedenen Organisationsformen
über diese Dinge zusammenwirken. Ich denke dabei an
meinen Freund Michael Naumann. Ich muß Ihnen sagen: Die Bundespolitik hat seit Jahrzehnten keinen so
begabten Kulturpolitiker gesehen wie Michael Naumann.
({3})
Er hat ja schon im Vorfeld etwas erreicht. Die Kulturpolitik war auf Bundesebene quasi unsichtbar. Ungeachtet der guten Arbeit im Ministerium des Innern hat
sie in der Führungsebene gar nicht stattgefunden. Aber
siehe da: Seit es Michael Naumann gab, hat sich sogar
der frühere Bundeskanzler Kohl gedrängt gefühlt, in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auf zwei Seiten im
Feuilleton ein Interview über Kulturpolitik zu geben.
({4})
Michael Naumann hat also bereits im Vorfeld der
Regierung etwas erreicht. Ich meine, es war gut, daß wir
diesen Mann dafür gewonnen haben. Aber ich will das
Thema, weil doch noch andere Dinge anzusprechen
sind, nicht weiter vertiefen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt wohl kaum ein Thema, das die Verquickung
von Innen- und Außenpolitik so sehr deutlich
macht wie das Thema Türkei.
Ich könnte auch sagen Kurden.
Weil das so ist, müssen wir, so glaube ich, der darin
innewohnenden Versuchung widerstehen, innenpolitisch populistisch zu argumentieren.
({5})
Ich verwende heute die gleiche Methode wie gestern.
Diese beiden Sätze sind wörtlich von dem Kollegen
Lamers am 13. April 1994 ausgesprochen worden. Im
damaligen Protokoll findet sich „Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.“ Diesen Beifall habe ich heute nicht gesehen. Das ist bedauerlich; denn
Herr Lamers hat mit seiner Bemerkung völlig recht.
({6})
Meine Damen und Herren, es gibt eine Sinnverwandtschaft zwischen innerer Sicherheit und innerem
Frieden. Herr Kollege Rüttgers, Sie sollten darüber zu
Hause noch einmal nachdenken. Ihr heutiger Beitrag hat
dem inneren Frieden nicht gedient.
({7})
Wir können jetzt im Bundestag natürlich eine Bilanz
über Ereignisse in den Ländern ziehen. Dann kann man
loben oder tadeln, wie immer Sie das halten wollen.
({8})
Sie haben das gemacht - wie ich finde, in nicht guter
Form - gegenüber Hamburg und gegenüber NordrheinWestfalen. Ich werde mich hüten, in gleicher Weise über
die Deeskalationsstrategie des Kollegen Werthebach,
der Ihrer Partei angehört, in Berlin zu sprechen. Er hat
nämlich ausdrücklich gesagt - so wurde mir berichtet -,
daß er in Abkehr von seinem Vorgänger eine Deeskalationsstrategie für richtig hält.
Bisher war es im Kreis der Innenminister so - ich
kenne den Kreis der Innenminister ganz gut -, daß wir
ein Konsensprinzip haben und daß wir zusammenwirken
und zusammenstehen, Herr Kollege Dr. Rüttgers. Gerade wenn es um die Bedrohung der inneren Sicherheit,
also um den Kern unserer Gesellschaft geht, dann muß
sich dieses Prinzip bewähren.
({9})
Deshalb würde ich Ihnen empfehlen, einmal darüber
nachzudenken - nachdenken schadet ja nicht ({10})
und nachzulesen, wie sich die damalige Opposition, die
SPD, im Jahre 1994 in den Debatten verhalten hat, ob
sie wie Sie versucht hat, in billiger Form daraus einen
parteipolitischen Vorteil zu ziehen oder ob sie sich verantwortlich verhalten hat. Sie werden, wenn Sie das
nachlesen, erkennen, daß sie sich verantwortlich verhalten hat. Ich sage das ganz ohne Polemik. Ich bitte Sie,
einmal darüber nachzudenken und sich dann zu überlegen, ob Sie auf diese Weise weiterkommen.
Nun komme ich zu einem anderen Thema. Ich habe
überhaupt nichts dagegen, daß man für seine Auffassungen Zustimmung sucht und daß man über eine so
schwierige Frage wie die Neuregelung des Staatsbürgerschaftsrechts aus unterschiedlichen Positionen heraus argumentiert. Das alles ist in Ordnung. Sie können
alle meine Pläne in Grund und Boden kritisieren; das ist
Ihr gutes Recht, und das kreide ich Ihnen nicht an. Aber
wie Sie es tun, halte ich für bedenklich. Das muß ich
Ihnen ganz offen sagen. Ich habe heute Herrn Stoiber
gehört, der einfach so, wie es seine Art ist, gesagt hat, es
sei alles schlampig.
({11})
- Nein, er hat nicht recht.
({12})
- Hören Sie doch einmal zu! Ich mache es hier doch
ganz freundlich.
Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß
der bekannteste Kommentator zum Ausländerrecht,
Günter Renner - Kanein/Renner ist der Standardkommentar zum Ausländerrecht -, der nun wirklich etwas
von der Materie versteht,
({13})
und der Professor Hailbronner, den Sie früher mit der
Vertretung der Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht beauftragt haben, der also der frühere
Rechtsberater der Bundesregierung war, übereinstimmend sagen, daß der beste Entwurf, der auf dem Tisch
liege, von Bundesinnenminister Schily stamme. Dessen
brauche ich mich doch wohl nicht zu schämen.
({14})
Nun sage ich gar nicht, daß es nicht auch andere
Entwürfe gibt - ({15})
- Herr Kollege, ich bitte um Entschuldigung. Ich habe
noch sechs Minuten Redezeit und möchte noch auf einige Themen eingehen. Normalerweise bin ich mit der
Erlaubnis von Zwischenfragen sehr großzügig.
Lassen Sie uns also über die bessere Lösung streiten.
Aber tun Sie das nicht in der üblen Polemik, in der es
leider vorkommt.
Wir können uns natürlich auch auf Umfragen berufen
und sagen, was das Volk denkt. Aber machen wir nicht
einen Fehler, wenn wir immer nur eine Umfrage zitieren
und damit versuchen, uns gegenseitig matt zu setzen?
Sie haben hier in einer, wie ich finde, nicht guten Weise
über den Fall Öcalan gesprochen. Sie sagen immer, wir
sollten nicht auf unsere Mehrheiten bauen - in dem Zusammenhang haben Sie von „machtbesessen“ gesprochen -,
({16})
sondern uns am Volk orientieren. Nun habe ich heute
eine Umfrage auf den Tisch bekommen, in der es heißt,
eine Mehrheit von 63 Prozent der Deutschen hält die
Position der Bundesregierung für richtig, den kurdischen
PKK-Führer Öcalan nicht an Deutschland ausliefern zu
lassen.
({17})
- Ich könnte Ihnen ja einiges darüber erzählen, wer das
intern auch noch vertreten hat. Ich will das aber nicht
tun, weil ich es nicht für fair halte. Aber Herr Beckstein
hat es ganz offen gesagt. Übrigens auch Sie, verehrter
Herr Kollege Rüttgers, haben seinerzeit gesagt, der Prozeß müsse nicht unbedingt in Deutschland stattfinden.
Nun behaupten Sie, ohne es nachgeprüft zu haben,
wir hätten keine Bemühungen unternommen, eine andere Lösung für ein Gericht zu finden. Das ist schlicht
falsch. Ich biete Ihnen an, einmal ein vertrauliches, sehr
offenes Gespräch mit der Kollegin Däubler-Gmelin zu
führen. Dann werden Sie erfahren, daß es schlicht falsch
ist, was Sie behauptet haben. Wenn Sie an einer sachlichen Debatte interessiert sind, machen Sie bitte davon
Gebrauch.
Ich warne im übrigen davor, immer auf Umfragen
abzustellen, obwohl ich gerade eine zitiert habe. Ich habe heute eine Umfrage gesehen, in der es heißt, 49 Prozent der Deutschen seien dafür, straffällig gewordene
Kurden in die Türkei abzuschieben, auch wenn ihnen
dort Folter und Todesstrafe drohen. Meine Damen und
Herren, das ist möglicherweise das Ergebnis einer falschen Sprechweise der Politik. Ich mache daraus niemandem einen Vorwurf. Aber das ist ein Ergebnis einer
bösartigen und schlimmen Emotionalisierung dieser
Fragen.
({18})
Sollte es für diese Ansicht sogar eine Mehrheit in der
Bevölkerung geben, werde ich gegen diese Mehrheit argumentieren, weil ich auf die rechtsstaatlichen Prinzipien vereidigt bin.
({19})
Auch habe ich die Menschenrechtskonvention, die Bestandteil der Verfassung ist, zu achten. Ich werde mich
daher nicht der Mehrheit anpassen.
({20})
Man kann Mehrheiten auch verändern. Der Euro war
in den Umfragen ganz lange Zeit unbeliebt. Vielleicht ist
er im Moment auch wieder unbeliebt; ich weiß es nicht.
Aber wir waren gemeinsam der Überzeugung, daß es
richtig ist, ihn einzuführen. - Versuchen wir also, zu
einer Versachlichung der Debatte zurückzukehren.
Herr Rüttgers, Sie haben den Etat angesprochen. Ich
muß dazu noch ein paar Bemerkungen machen. Ich habe
leider viel zuwenig Zeit, um es Ihnen im einzelnen
deutlich zu machen. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, daß von der Opposition angesprochen worden ist,
was der Bundesinnenminister bei der Verbesserung der
Personalstruktur des Bundesgrenzschutzes geleistet hat.
Es gibt eine Verdoppelung der Planzahlen bei der Personalentwicklung. Es war, auch für den Bundesfinanzminister, nicht einfach, das zu erreichen. Wir haben natürlich einen Aufwuchs bei der sachlichen Ausstattung
und bei den Baulichkeiten. 1997 gab es bei den Baulichkeiten einen Ansatz von, ich glaube, 87 Millionen DM,
1999 gibt es einen Ansatz von 93 Millionen DM. Wir
haben eine 20prozentige Steigerung des anderen Etatbereichs.
Herr Hoyer, Sie haben das Modell des schlanken
Staats angesprochen. Bei der Sicherheit ist dieses Modell nicht gut. Wir brauchen einen starken Staat zur
Verteidigung. - Da nickt sogar Herr Rüttgers. Ich bedanke mich dafür. Immerhin, heute habe ich ein Nicken
von Herrn Rüttgers geerbt. Das ist viel wert, da sind wir
ja schon wieder ein Stück weiter, Herr Rüttgers.
({21})
Wir brauchen selbstverständlich einen starken Staat,
wenn wir die Grundrechte, das Leben, die Gesundheit,
die Freiheit, das Sacheigentum unserer Bürgerinnen und
Bürger verteidigen wollen.
Sie haben von Kontinuität gesprochen. Wo Kontinuität angebracht ist, ist sie völlig richtig. Ich habe in
der Opposition mit Ihnen zum Teil sehr konstruktiv zusammengearbeitet. Das wissen Sie doch.
({22})
- Ja, bei der akustischen Wohnraumüberwachung. - Es
wäre ganz schön, wenn Sie bei der Staatsangehörigkeitsreform genauso konstruktiv mitarbeiten würden. Dann
wären wir schon ein Stückchen weiter.
({23})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, keine
Zwischenfragen. Ich bin gleich am Ende. Es tut mir
furchtbar leid.
({0})
- Herr Zeitlmann, Sie sollten nun ganz still sein. Sie haben in diesen Tagen einen völlig unsinnigen Vorschlag
gemacht, nämlich ein Demonstrationsverbot für Ausländer allgemein. So etwas Verfassungswidriges habe
ich von Innenpolitikern nicht erwartet.
({1})
Meine Damen und Herren, ich müßte jetzt sehr viel
länger Zeit haben, um über Prävention und ähnliches zu
reden. Ich habe ein paar Zitate über die Staatsangehörigkeitsreform mitgebracht. Sie haben in der Presse viel
über Tadel und Lob nachlesen können. Ich zitiere aus
einer ganz konservativen Zeitung:
Wer gegen die Reform zu Felde zieht, müßte gute
Argumente dafür vorbringen, daß der Status quo
bessere Möglichkeiten bietet, den bedrohlichen
Tendenzen der Gettoisierung entgegenzuwirken
und die wachsende Entfremdung der sogenannten
dritten Generation von dem Land, in dem sie aufwächst, und dem, in dem sie bleiben wird, zu beenden.
Das schreibt Ihnen die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ins Stammbuch.
In einer anderen Zeitung heißt es:
Die Unionsparteien, die derzeit so lautstark gegen
die geplante Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
protestieren, sollten sich ganz kleinlaut ihre eigene
Bilanz vor Augen halten, eine Bilanz, die den absurden Umstand zuläßt, daß heute jemand die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten kann, obwohl er
kaum Deutsch spricht, mit entsprechend schlechten
Chancen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Die alte Koalition konnte sich nicht auf ein
Reformkonzept einigen. Jetzt sind andere dran.
Das schreibt die „Rheinische Post“, die auch nicht im
Verdacht steht, ein Mitteilungsblatt der sozialdemokratischen Partei zu sein.
({2})
Ich muß es leider im Eiltempo machen. Mir ist sehr
willkommen gewesen, daß Kollege Stiegler auf die
europäische Dimension hingewiesen hat. Dazu müßte
ich eigentlich mindestens noch einmal 15 Minuten reden
dürfen. Aber mir ist signalisiert worden, daß ich mich da
ganz disziplinieren soll.
Ich will nur auf eines hinweisen, auch Ihnen gegenüber, Herr Kollege Rüttgers. Sie haben eine Beziehung
zwischen Entscheidungen der Bundesregierung und dem
Auftreten von PKK-Gewalttätigkeiten hergestellt. Sie
wissen doch, daß in sehr vielen europäischen Staaten
solche Aktionen stattgefunden haben, obwohl dort andere Entscheidungen als bei uns getroffen worden sind. Sie
wissen doch, daß alle europäischen Staaten von diesen
Ereignissen überrascht worden sind. Vielleicht gibt das
einen Hinweis darauf, mit was das zu tun haben könnte.
Das wollen wir hier in aller diplomatischen Vorsicht
nicht weiter erörtern. Daß Sie nur die Bundesregierung
für diese Aktionen in Haftung nehmen wollen, finde ich
ein ziemlich gewagtes Vorgehen.
Ich könnte Ihnen hier einiges über Entscheidungen,
die in der vergangenen Legislaturperiode, also in Ihrer
Regierungszeit, getroffen wurden, und über die personelle und materielle Ausstattung von Einrichtungen sagen, die der Sicherheit dienen. Aber das sollte man nicht
auf dem öffentlichen Markt tun, das machen wir lieber
im Innenausschuß. Ich finde, es ist ein Kompliment,
wenn Sie meinen, daß ich alles, was Sie in 16 Jahren
nicht zustande gebracht haben, in vier Monaten wieder
in Ordnung bringen kann. Für dieses Kompliment bedanke ich mich bei Ihnen.
({3})
Ich habe gerade die EU-Innenminister im Rahmen
der deutschen Präsidentschaft zusammenrufen lassen.
Die Innenminister haben sich alle dafür bedankt, daß wir
die Initiative ergriffen haben. Wir werden dafür sorgen,
daß die europäische Zusammenarbeit in Fragen der inneren Sicherheit verbessert wird. Das ist notwendig. Hier
haben wir die richtigen Wege beschritten. Wir können
uns auch dazu beglückwünschen, daß es uns wahrscheinlich gelingen wird - bei Ihnen hat das immerhin
vier Jahre gedauert; ich mache Ihnen keinen Vorwurf
daraus; ich weiß, wie schwierig der Weg ist -, daß
Europol während der Zeit der deutschen Präsidentschaft
aller Voraussicht nach seine Arbeit aufnehmen wird.
Zum Abschluß möchte ich Ihnen sagen: Unter allen
Innenministern, mit denen ich in allerengstem Kontakt
stehe und mit denen ich in Fragen der Migration, des
Asyls usw. eng zusammenarbeite, hat es keinen einzigen
gegeben, von dem ich auch nur eine Silbe des Tadels
wegen unseres Staatsangehörigkeitsrechts gehört hätte.
Es gab nur Anerkennung und Respekt. Vielleicht nehmen Sie auch das mit nach Hause, um Ihre heutigen
nicht sehr sachlichen Ausführungen zu überdenken.
Vielen Dank.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Guido Westerwelle, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Minister, Sie
haben hier zur Sachlichkeit, Mäßigung und Differenzierung in der Diskussion nach den Kurdenkrawallen aufgerufen. Das kann man gut nachvollziehen. Sie haben
Umfragen zitiert und - wie die Redner vor Ihnen auch auf die tatsächlichen und völkerrechtlichen Schwierigkeiten hingewiesen, die mit Abschiebungen zusammenhängen, wie Folter und Todesstrafe. Aber wen haben Sie
in diesem Hause damit ansprechen wollen? - Augenscheinlich haben Sie nicht die eigene Mannschaft angesprochen.
In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen aus
einem Interview, das Bundeskanzler Schröder dem
„Stern“ gegeben hat und das morgen erscheint, zitieren:
Frage: Können Sie Abschiebungen in ein Land verantworten, in dem gefoltert wird?
Antwort: Das Völkerrecht setzt hier Grenzen. Aber
kein Rechtsbrecher sollte glauben, daß er sich dahinter verstecken kann. Wir werden prüfen, ob wir
an der Abschiebepraxis etwas ändern müssen. Hier
besteht Handlungsbedarf.
Wenn also selbst unser alleroberster und äußerst
flexibler Bundeskanzler in einem solchen Interview auf
eine solche Frage antwortet, daß die Abschiebepraxis
erst überprüft werden müsse,
({0})
dann heißt das unter kundigen Thebanern natürlich, daß
er die Abschiebepraxis verändern will.
- Sie sind zwar neu im Parlament, aber da ich Sie kennengelernt habe, weiß ich, daß Sie kein bißchen blauäugig sind. Das ist doch albern.
Natürlich ist Bundeskanzler Schröder ein wichtiger
Teil in der Diskussion und setzt bei der Abschiebungsdiskussion Akzente, die auch meine Partei gefordert hat.
Meine Partei hat beispielsweise gesagt, daß Gewalttäter
im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen und einer
menschlichen, rechtlich korrekten Behandlung - das ist
selbstverständlich - auch abgeschoben werden müssen.
Als Bundesinnenminister müßten Sie aber Ihrem eigenen Bundeskanzler viel mehr als dem überwiegenden
Teil dieses Hauses vortragen.
({1})
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
In Ergänzung zu dem, was Herr Bundesinnenminister vorhin gesagt hat, erlaube ich mir insbesondere an den Vorredner Herrn Rüttgers den Hinweis,
daß hinsichtlich der Geschehnisse in Berlin nicht nur der
Innensenator der Stadt, der von der CDU gestellt wird,
die Praxis der Polizei gebilligt hat; vielmehr haben alle
im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien nach einer
Sitzung des dortigen Innenausschusses erklärt, daß die
polizeitaktische Praxis der Deeskalation, die auch von
Herrn Westerwelle in einer früheren Rede schon gerügt
worden ist, richtig war und wahrscheinlich dazu geführt
hat, Menschenleben, zumindest die Gesundheit von
Menschen, zu erhalten.
Herr Bundesinnenminister, zur Erwiderung erteile ich Ihnen das Wort.
Herr Kollege Westerwelle, ich habe nicht Ihr Privileg, schon
heute das Vorabexemplar des „Stern“ zu sehen. Ich
nehme an, daß Sie korrekt zitiert haben.
Aus dieser Äußerung können Sie aber wahrlich nicht
den Schluß ziehen, daß der Bundeskanzler eine Abschiebepraxis befürwortet, die einen Verstoß gegen die
Europäische Menschenrechtskonvention darstellt. Das
ist schlicht eine Unterstellung, die in keiner Weise begründet ist.
({0})
Wie immer die Form der Abschiebung aussehen mag,
nach der wir selbstverständlich suchen: Es geht nicht
darum, zu einer Abschiebepraxis unter Mißachtung dieser Grundsätze zu gelangen. Herr Rüttgers hat diesen
Briefwechsel erwähnt. Hiermit sind große Probleme
verbunden. Herr Rüttgers, Sie kennen die Details nicht.
Man hat in der Folge dieses Briefwechsels 200 Fälle gefunden, die eine Abschiebung ermöglicht hätten. Die
Länder haben davon nur in einer Größenordnung von 20
bis 30 Fällen Gebrauch gemacht. Etwa das Land Bayern,
das sonst oft vorausgeht - Herrn Stoiber haben wir heute
gehört -, hat in genau vier Fällen Menschen abgeschoben. Dabei handelte es sich nur zu einem ganz geringen
Teil - soweit Abschiebungen mit entsprechenden Garantien überhaupt in Betracht gezogen wurden - um
PKK-Sympathisanten oder ähnliche Personenkreise.
Damit wir hier ein ganz klares Bild haben, muß ich
allerdings hinzufügen - ich glaube, vom Kollegen Ströbele sind Äußerungen dazu gekommen -:Es hat in keinem der Fälle, die dort zur Ausführung gelangt sind,
etwas stattgefunden, was mit den Vereinbarungen nicht
im Einklang war. Nichts dergleichen hat stattgefunden,
weil man dort für die Gewährleistung der Vereinbarungen ein Überwachungssystem geschaffen hat. Ob das
auch unter den veränderten aktuellen Umständen ausreicht, muß man vorurteilsfrei prüfen.
Ungeachtet der Tatsache, daß die Wogen hochgehen
und ich in keiner Weise billigen kann, was im Moment
im Fall Öcalan in der Türkei geschieht - es steht mit
rechtsstaatlichen Prinzipien in keiner Weise in Übereinstimmung -, bin ich der Auffassung, daß wir mit der
Türkei auch weiterhin im Gespräch bleiben müssen, um
zu einer Veränderung dieser Verhältnisse zu gelangen.
Es hat gar keinen Zweck, hier nur in einer einseitigen
Form über diese Dinge zu sprechen.
Wir müssen das Kurdenproblem im Blick haben. Wir
müssen dafür sorgen, daß sich die Türkei von Europa
nicht entfernt. Wir müssen dafür sorgen, daß in der Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention respektiert wird. Das ist eine schwierige Aufgabe, der ich mich
selbstverständlich stellen werde.
Herr Kollege Westerwelle, unterstellen Sie dem Bundeskanzler bitte nicht, daß er auch nur im entferntesten
daran denkt, die Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht einzuhalten.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Geschäftsbereich nicht vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie darauf verweisen, daß interfraktionell vereinbart worden ist,
die Sitzung jetzt bis zu einer Stunde zu unterbrechen. Es
ist möglich, daß wir wieder eher anfangen. Bitte informieren Sie sich.
Der Wiederbeginn der Sitzung und damit der Aufruf
und der Beginn der Debatte über den Geschäftsbereich
„Wirtschaftliche Zusammenarbeit“ wird rechtzeitig bekanntgegeben.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrochene
Sitzung wieder.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung. Das Wort hat Frau Bundesministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es steht mir
vielleicht nicht zu, aber da ich auch Parlamentarierin
bin, möchte ich darauf hinweisen, daß der Deutsche
Bundestag zukünftig ein Stück mehr Kohärenz bei der
Einteilung der Tagesordnungspunkte zur Diskussion
zeigen sollte. Wenn Entwicklungspolitik nach Innen-,
Justiz- und Außenpolitik diskutiert wird, dann ist das
schwer nachvollziehbar. Ich bin auch bereit, dies jedem,
der für die Organisation verantwortlich ist, ins Gesicht
zu sagen. So viel dazu.
({0})
Die Aufgabe unserer Entwicklungspolitik und der
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit ist die Mitgestaltung der Globalisierung. In diesem Sinne nehmen
wir unsere Verantwortung in den internationalen Organisationen wahr und versuchen, unseren Einfluß auf die
WTO und die neue Verhandlungsrunde zu organisieren.
In diesem Sinne unterstützen wir mit unserem Haushalt
vor allen Dingen auch regionale Zusammenschlüsse als
eine Brücke zwischen lokalem und globalem Handeln
und Denken.
Ein aktueller Punkt ist das Lomé-Nachfolgeabkommen zwischen den europäischen und den AKPStaaten. Wir sind hier in einer entscheidenden Phase.
Wir müssen das Abkommen neu aushandeln. Bei der
Ministerkonferenz Anfang Februar dieses Jahres in Dakar haben wir unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft
wichtige Fortschritte bei der Neuaushandlung erzielt.
Aber wir werden die endgültigen Verhandlungen vom
Planungsablauf her erst Ende dieses Jahres bzw. Anfang
nächsten Jahres zu Ende bringen können.
An dieser Stelle will ich ausdrücklich betonen, daß
wir ganz engagiert darauf hinarbeiten, daß in diesem
neuen Abkommen, das politischer sein muß, verantwortungsvolle Staatsführung, also „good gouvernance“,
ein elementares Prinzip sein muß, nicht deshalb, weil die
Europäer den Entwicklungsländern Vorschriften machen
wollen; vielmehr wollen wir dies auch mit dem Ziel erreichen, daß die Finanzmittel, die von den europäischen
Ländern gegeben werden, wirklich ankommen, zur Entwicklung beitragen und nicht in falsche Kanäle gelangen. Insofern ist „good gouvernance“ eine ganz wichtige
Voraussetzung dafür, daß in diesem Abkommen Ergebnisse erreicht werden.
({1})
Ein weiterer Punkt, der zur Gestaltung von Rahmenbedingungen beiträgt, ist unsere Entschuldungsinitiative. Ich weiß um die Probleme hier. Ich könnte mir
auch einen größeren Umfang vorstellen. Aber das
Allerwichtigste ist doch, daß die extreme Verschuldung
mancher armer Entwicklungsländer jeden Entwicklungsfortschritt für die Menschen dort zunichte macht. Ich
möchte das noch einmal in Erinnerung rufen. Berechnungen der Vereinten Nationen zeigen, daß dann, wenn
rund 30 Milliarden DM Schulden erlassen, die Finanzmittel umgewidmet und in das Gesundheitswesen, in
den Erziehungsbereich und in den Ausbildungsbereich
der Länder fließen würden, sieben Millionen Kinder in
einem Jahr gerettet werden könnten. Deshalb fordere
ich: Wir brauchen eine solche Entschuldungsinitiative,
die wir mit Blick auf den Kölner Gipfel der G 7 vorgeschlagen haben. Wir wollen auch erreichen, daß sich die
anderen G-7-Staaten an dieser Initiative beteiligen.
({2})
Dazu sage ich auch ausdrücklich: Mit dieser Initiative
wollen wir aber nicht nur Schulden erlassen; vielmehr
wollen wir auch - Herr Blüm, Sie waren dabei, als die
katholische Organisation Misereor darauf hingewiesen
hat - eine qualitative Konditionierung und einen qualitativen Schuldenerlaß erreichen. Das heißt: Das Ziel
muß auch darin bestehen, daß beim Erlaß von Schulden
- wir wollen hier weitergehen, als es die HIPC-Initiative
vorsieht - die Entwicklungsländer ihren Weg in Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit sowie
Armutsbekämpfung einschlagen. Deshalb wollen wir
diese Initiative auch für eine solche Entwicklung dieser
Länder nutzen und sie darauf entsprechend verpflichten.
Wir haben gesagt, unsere Vorstellung von Entwicklungspolitik bestehe darin, zu erreichen, daß sie als Friedenspolitik verstanden wird. In diesem Haushalt gibt es
erste Ansätze für den Aufbau eines zivilen Friedensdienstes. Dieser zivile Friedensdienst ist als ein Einsatz
von Friedensfachkräften in der politisch-gesellschaftlichen Konfliktbearbeitung im Rahmen von anerkannten
staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungsdiensten
konzipiert.
Es wäre eine ganz großartige Sache, wenn es nach der
Diskussion über die weiteren Organisationsfragen, in
denen wir sehr offen sind, möglich wäre, bereits in diesem Jahr mit der Ausbildung von Friedenskräften zu beginnen, so daß Einsätze in gezielten Bereichen bereits
denkbar wären. Das wäre ein Zeichen ganz großer Initiative in Richtung auf einen solchen Friedenseinsatz.
({3})
Wir unterstützen - ich verkürze meine Ausführungen
etwas - vor allen Dingen auch den Friedensprozeß im
Nahen Osten. Wir unterstützen die Region mit Programmen in Höhe von 140 Millionen DM. Es handelt
sich vorwiegend um Mittel für die palästinensischen
Gebiete. Warum? Wir müssen doch ein großes Interesse
daran haben, daß die Menschen in den palästinensischen
Gebieten sehen, daß die wirtschaftliche Situation für sie
endlich besser wird, damit auch für sie der Friedensprozeß mit einer Verbesserung ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage verknüpft ist, damit sie auf die Art und Weise
dem Friedensprozeß verbunden bleiben und damit dem
Extremismus entgegengearbeitet wird. Auch deshalb ist
dies wichtig.
({4})
Mit dem jetzt vorgelegten Bundeshaushaltsplan haben wir den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes
gestoppt und die Grundlage für eine Aufwärtsentwicklung geschaffen. Schon mit Blick auf das Finanzministerium bin ich weit davon entfernt, zu sagen: Wir sind
völlig zufrieden. Aber, es ist so: Der jahrelange Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes, eines Entwicklungshaushalts, der als Steinbruch für andere Haushalte
benutzt worden ist - in den letzten sechs Jahren war in
diesem Bereich ein Minus von 9 Prozent zu verzeichnen
-, ist gestoppt, und der Aufbau und die Vorbereitungen
dafür, daß in diesem Bereich neue Schwerpunkte gesetzt
werden können, ist sowohl beim Plafond - da werden
wir 124 Millionen DM zusätzlich haben - als auch vor
allen Dingen bei den Verpflichtungsermächtigungen
deutlich gemacht worden, wo 500 Millionen DM zusätzlich vorgesehen sind. Das ist jedenfalls ein wichtiger
Schritt dahin, Jahr für Jahr wiederaufbauen zu können
und zu müssen.
({5})
Wir als Bundesregierung sehen in diesem Haushalt
vor, daß wir vor allen Dingen im Bereich der multilateralen Institutionen, in die insgesamt 20 Prozent der
Ausgaben des Einzelplans 23 fließen, wieder an das anschließen, was unser vorher von der internationalen
Staatengemeinschaft und auch von Deutschland akzeptiertes Niveau ist. Das gilt zum Beispiel für die Beiträge
zur Weltbank und zu den Regionalbanken. Wir haben
den internationalen Fonds für Entwicklung der Weltbank entsprechend unseren Verpflichtungen wiederaufgebaut. Auch die Kollegin Eid hat sich um den Afrikanischen Entwicklungsfonds sehr bemüht.
Wir sehen in unserem Haushalt zum erstenmal von
unserer Seite aus einen Beitrag zur Entschuldung des
Treuhandfonds der Weltbank vor. Das heißt, wir reden
nicht nur von Entschuldung, sondern wir haben in unserem Haushalt auch einen entsprechenden Beitrag für
diesen Treuhandfonds vorgesehen.
Leider war es nicht möglich - das sage ich an die
Adresse der christdemokratischen Kolleginnen und Kollegen -, die Kürzungen, die Theo Waigel in seinem
Haushaltsentwurf für UNDP vorgesehen hatte, in diesem
Haushalt rückgängig zu machen. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen? Weil von Altlast Theo Waigel 400
Millionen DM aus dem Europäischen Entwicklungsfonds
für STABEX überhaupt nicht etatisiert waren.
Das heißt, am Ende eines laufenden Prozesses von
Lomé waren diese 400 Millionen DM nicht etatisiert.
Das Finanzministerium hat verlangt - dagegen kann ich
in Zeiten von Haushaltsklarheit und -wahrheit nichts
einwenden -, daß sie etatisiert werden. Wir konnten erreichen, daß in den nächsten vier Jahren jeweils 100
Millionen DM veranschlagt werden. Wegen all der anderen Schwerpunkte ist es nicht möglich gewesen, die
Kürzungen im Bereich UNDP rückgängig zu machen.
Ich sage Ihnen aber: Wir werden, sobald es irgend möglich ist - allerspätestens beim nächsten Haushalt -, diese
Kürzungen rückgängig machen, weil wir UNDP entsprechend unseren Verpflichtungen finanzieren möchten.
({6})
Ich halte aber auch ausdrücklich fest: Denjenigen von
konservativer Seite, der jetzt sagt, das sei alles nicht in
Ordnung, frage ich: Wo waren Sie eigentlich, als der
Waigelsche Haushalt vorgelegt worden ist? Vor allen
Dingen frage ich: Wo waren Sie, als die Diskussion über
die Frage geführt wurde, daß diese 400 Millionen DM
überhaupt nicht etatisiert wurden? Sie sollten sich das
dann schon selbst fragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der multilateralen Zusammenarbeit ist der Bereich bilateraler Zusammenarbeit nach wie vor mit 45 Prozent der Mittel
die größte Säule unserer Arbeit. Wir verwenden diese
Mittel vorwiegend für Armutsbekämpfung und tragen
dadurch maßgeblich zur Verwirklichung von internationalen Strategien in diesem Bereich bei.
Im Haushalt haben wir einen neuen Schwerpunkt, den
wir auch in den Länderprogrammen umsetzen werden,
gesetzt: Wir haben für Klimaschutz und regenerative
Energien Mittel bis zur Höhe von 300 Millionen DM
für ein Programm zur Verfügung gestellt, das dazu beitragen soll, daß in den Entwicklungsländern eine Umorientierung auf erneuerbare Energien stattfindet und
Klimaschutzprogramme praktiziert werden. Das ist im
Interesse dieser Länder, aber auch in unserem Interesse,
denn es gibt auch eng mit der Wirtschaft verbundene
Interessen, von unserer Seite aus einen solchen Schwerpunkt zu setzen.
({7})
Ein ganz besonders wichtiger Ansatz unserer Entwicklungspolitik liegt in der engen Zusammenarbeit mit
nichtstaatlichen Trägern. Ich will an dieser Stelle darauf
hinweisen, daß für die konkrete Projektarbeit der privaten Träger zusätzlich 2 Millionen DM vorgesehen sind
und für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit eben
solcher Initiativen der Ansatz insgesamt um 37 Prozent
ausgeweitet worden ist. Auch da kann, wie gesagt, immer noch mehr gemacht werden, aber ich denke, wir haben hier wichtige erste Schritte gemacht. Den Punkt der
Partnerschaft mit der Wirtschaft in Entwicklungsfragen habe ich angesprochen. Auch das sollte an dieser
Stelle erwähnt werden.
An Sie alle gerichtet, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich: Der Entwurf des Entwicklungshaushalts
geht nun zur Beratung in die parlamentarischen Ausschüsse. Ihren Verbesserungsvorschlägen stehen wir
natürlich offen gegenüber. Vor allen Dingen sind wir
auch gerne bereit, wenn noch Rückfragen zu einzelnen
Elementen bestehen, diese entsprechend abzuklären.
Ich möchte aber Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Unterstützung für verstärkte Investitionen in
globale Zukunftssicherung und damit um Unterstützung
für ein Stück konstruktiver Friedenspolitik in unserer
Welt bitten. Wenn man sieht - dabei sage ich nichts zu
den Debatten, die uns in diesen Tagen bewegen -, wieviel in letzter Konsequenz immer dann ausgegeben wird,
wenn es um militärische Dinge geht,
({8})
dann kann man doch daraus nur den Schluß ziehen, daß
dazu beigetragen werden muß, daß auch in diesem Bereich
Fortschritte erreicht werden. Ich weiß, daß jeder sagt, noch
etwas mehr wäre willkommen. Lassen Sie uns aber in
obigem Sinne die Finanzierung dieses Stücks globaler
Friedens- und Zukunftssicherung konstruktiv angehen.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Michael von Schmude
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung hat auch im Bereich der Entwicklungshilfe
große Erwartungen geweckt, Kompetenz vorgetäuscht,
Hoffnungen und Versprechungen gemacht; aber mit der
Stunde der Vorlage des Haushalts kommt auch die
Stunde der Wahrheit. Frau Ministerin, es hilft kein
Schönreden: Ihrer Zielsetzung fehlt die finanzielle
Grundlage. Sie sollten auch nicht den Versuch machen,
sich reich zu rechnen. Die Wirklichkeit sieht nämlich
ganz anders aus.
Sie sprechen von einem Ausgabeplafond von - auf
den Pfennig genau - 7,8 Milliarden DM. Der Betrag ist
auffällig glatt, ja aalglatt gerechnet. Das Ergebnis feiern
Sie, indem Sie sagen, es handele sich um einen Anstieg
von 1,8 Prozent gegenüber dem alten Entwurf. Tatsache
ist aber, daß der alte Regierungsentwurf mit 7,676 Milliarden DM plus 200 Millionen DM aus ForderungsverBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
käufen um 76 Millionen DM höher gelegen hat als der
Entwurf, den Sie uns heute vorlegen.
Wenn man das Endergebnis des Haushalts 1998 mit
dem Entwurf vergleicht, der jetzt auf dem Tisch liegt,
dann kann man feststellen, daß die Negativentwicklung
noch deutlicher wird. Die Differenz beträgt 102 Millionen DM. Ich stelle fest - das können Sie nicht bestreiten -:
Der Anteil am Bundeshaushalt sinkt von 1,7 Prozent auf
1,6 Prozent.
({0})
- Das ist das Ergebnis, wenn man Ihren Etat auf 488
Milliarden DM bezieht.
Wie ist es nun zu diesem Desaster gekommen? Der
Bundesfinanzminister hat den alten Regierungsentwurf
genommen und dann 200 Millionen DM aus Forderungsverkäufen dazugerechnet. Dann haben Sie sich
aber 76 Millionen DM für Minderausgaben abziehen
lassen. Davon wurden völlig voreilig und verfehlt 29
Millionen DM für Wechselkursdifferenzen abgezogen.
Außerdem haben Sie bei einem weiteren Punkt nicht
aufgepaßt: Er hat Ihnen weitere 20 Millionen DM vom
Plafond genommen, die er ausgeglichen hat, indem er
Ihnen aus MOE-Mitteln ganze 20 Millionen DM daraufgepackt hat. Auf diese Weise kommen Sie auf den Betrag von 7,8 Milliarden DM.
Eine wirkliche Erhöhung gibt es nicht. Der Finanzminister hat keinen Pfennig dazubezahlt. Im Gegenteil:
Sie lassen es zu, daß er in Ihre Kasse greift, indem er die
Forderungsverkäufe, die im Einzelplan 23 mit 124 Millionen DM ausgewiesen sind, für seinen BMF-Haushalt
vereinnahmt.
Herr
Kollege von Schmude, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dr. Schuster?
Ja, natürlich.
Herr
Schuster, bitte.
Herr von Schmude,
darf ich Ihre Ausführungen so verstehen, daß Ihre Fraktion im Rahmen der noch ausstehenden parlamentarischen Beratungen mit Deckungsvorschlägen zu Nachbesserungen bereit ist?
Ich komme
noch zu den Deckungsvorschlägen. Trotzdem bin ich
Ihnen für diese Zwischenfrage dankbar. Lieber Herr
Kollege Schuster, ich werde noch darauf hinweisen, wo
wir Möglichkeiten sehen, durch Umschichtungen diesen
Haushalt mit Substanz anzureichern, und wo wir zu
mehr Haushaltswahrheit beitragen können, als dies bisher der Fall ist.
Wir haben ferner festzustellen, daß der Bundesfinanzminister vollmundig angekündigt hat, den Schattenhaushalt, nämlich die Erlöse durch den Verkauf von
Forderungen, aus dem Einzelplan 23 zu entfernen. Er
weist aber nirgendwo in seinem Haushalt aus - weder
im Einzelplan 32 noch im Einzelplan 60 -, wo der Erlös
aus diesen Forderungsverkäufen bleibt. Er steckt den
Betrag von 124 Millionen DM irgendwo in seinen großen Haushalt, ohne ihn auszuweisen. Dieses Vorgehen
ist nicht seriös. Sie haben sich auch in diesem Punkt,
Frau Ministerin, vom BMF über den Tisch ziehen lassen.
Wir haben im vorigen Jahr gehört, daß das Volumen
der Entwicklungshilfe weniger als ein Drittel der Einnahmen aus der Tabaksteuer ausmacht. Ich stelle fest,
daß das Verhältnis in diesem Jahr noch schlechter wird.
Wir haben ein Minus von 1,3 Prozent gegenüber den
Entwicklungshilfeleistungen, die tatsächlich im Jahre
1998 geleistet wurden. Wenn Sie sich die Steigerungsrate in der Finanzplanung ansehen, dann werden Sie
feststellen, daß die Entwicklung noch düsterer wird. Der
Etat wird im Jahr 2000 nämlich nochmals um 1,6 Prozent zurückgehen. Nein, es geht nicht aufwärts, wie Sie
gesagt haben, sondern abwärts.
Abwärts geht es auch auf Grund der Wechselkurse.
Sie haben im Haushalt mit einem Wechselkurs gegenüber dem Dollar von 1,6695 DM kalkuliert. Sie müssen
heute schon 30 Millionen DM vom Bundesfinanzminister nachfordern, damit Sie nicht an die Substanz herangehen müssen, um die Differenz auf Grund des tatsächlichen Wechselkurses auszugleichen. Ich hoffe, daß
die Oppositionserfahrung bei einigen Kolleginnen und
Kollegen noch ausreicht, um sich dafür einzusetzen.
Ich habe den Eindruck, daß der Bundesfinanzminister
diesen Haushalt als eine Art Reservekasse betrachtet, die
man noch kräftig anzapfen kann. Er rechnet nämlich
folgendermaßen: Die Einnahmen aus Zinsen und Tilgung lagen im letzten Jahr rund 500 Millionen DM höher als der mit 1,742 Milliarden DM veranschlagte Betrag. Was soll das? Ein mehrjähriger Vergleich zeigt,
daß hier ganz andere Summen anzusetzen sind. Wir
werden da auf eine Korrektur drängen.
Das gleiche gilt für den Verkauf von Forderungen.
Wir wollen, daß diese Mehreinnahmen wieder voll dem
Einzelplan 23 zugute kommen, Herr Dr. Schuster, und
nicht nebulös irgendwo im großen Wust des Bundesfinanzministers verschwinden.
({0})
Klärungsbedürftig ist auch die Tatsache, daß Sie sich
auf der einen Seite über fehlende Stellen in Ihrem Hause
beklagen, auf der anderen Seite aber Personalkostensteigerungen von 4,3 Prozent ausweisen. Gleichzeitig
gibt es aber eine Stellenkürzung von 1,5 Prozent, und es
soll eine Lohnnebenkostensenkung auf breiter Basis erfolgen. Wir werden diesen Punkt noch besonders untersuchen.
Von großer Bedeutung sind die FZ und die TZ. Wir
hatten bei der FZ 1998 ein Ergebnis von 2,533 MilliarMichael von Schmude
den DM. Jetzt wollen Sie nur noch 2,289 Milliarden DM
ansetzen. Das ist nicht zu akzeptieren.
Für die nächsten Jahre wollen Sie außerdem auf
1,5 Milliarden DM Forderungen verzichten.
Vorrangig sollte nach meiner Meinung von dem Instrument der Umwandlung von Schulden in nationale
Maßnahmen zur Armutsbekämpfung usw. Gebrauch
gemacht werden. Hier haben wir gesehen, daß die hierfür bereitgestellten 210 Millionen DM erstmalig 1998
fast voll ausgeschöpft wurden. Sie haben unsere Unterstützung, wenn es darum geht, diesen Titel auszuweiten;
da sind wir dabei.
Die Mittel für die Technische Zusammenarbeit sind
leicht erhöht worden, aber auch hier besteht eine Täuschung. Wir haben jetzt 1,165 Milliarden DM; 1998 waren es tatsächlich 1,151 Milliarden DM. Wir wollen, daß
dieser Titel aufgestockt wird. Ich werde dazu noch einen
Deckungsvorschlag machen.
Die Verbundfinanzierung ist um 500 Millionen DM
erhöht worden. Das begrüßen wir, aber das haben wir
bereits im eigenen Regierungsentwurf so vorgesehen.
Nun komme ich zu den europäischen Zahlungen.
Diese Bundesregierung sagt immer: Wir zahlen zuviel
an Europa. Ja, wir zahlen zuviel an Europa; wir zahlen
auch jetzt zuviel. Die STABEX-Beiträge sind noch gar
nicht fällig, aber sie werden voreilig zurückgeführt. Ihr
eigener Staatssekretär legt den Berichterstattern ein Papier auf den Tisch, nach dem man auch ganz anders verfahren könnte. Ich könnte Ihnen das im einzelnen vortragen, aber mir fehlt hier die Zeit. Er sagt, man könne
beispielsweise in diesem Jahr 75 Millionen DM oder
noch weniger zurückführen. Wir haben hier keinen
Handlungszwang, so schnell zu reagieren.
Ich sage Ihnen auch: Die Mittel für die Programme
des EEF sind viel zu hoch veranschlagt. 1998 hatten wir
sie 12 Millionen DM zu hoch, 1997 238 Millionen DM
zu hoch und 1996 sogar 420 Millionen DM zu hoch veranschlagt. Vor dem Hintergrund der schleppenden Programmittelumsetzung in Brüssel werden wir Kürzungen
in diesem Titel zugunsten der FZ und der TZ sowie zugunsten von UNDP fordern.
({1})
Skandalös ist die Tatsache, daß Brüssel jetzt von uns
STABEX-Beiträge zurückgezahlt bekommt, für deren
Stundung wir allerdings Zinsen zahlen müssen.
({2})
Aber die Europäische Union braucht dieses Geld gar
nicht. Sie legt es bei den Banken als Termingeld an. Das
muß dem deutschen Steuerzahler einmal vermittelt werden.
({3})
Da bin ich der Meinung, Sie sollten Ihren Kanzler auffordern, hier als EU-Ratspräsident für Abhilfe zu sorgen.
Ich sage Ihnen ebenfalls, daß beim EEF-Titel nicht
sauber gearbeitet wurde, auch seitens des BMF. Hier
wird als Wechselkurs jetzt der offizielle Euro-Kurs von
1,95583 zugrunde gelegt. Die alte Bundesregierung
mußte noch schätzen. Sie hat ihn mit 1,97632 geschätzt.
Aber an der Gesamtsumme hat sich im Entwurf nichts
geändert. Das heißt, Sie haben jetzt 10 Millionen DM
Luft in diesem Titel. Diese muß abgelassen werden.
Entweder macht das der Finanzminister, oder wir sorgen
gemeinsam dafür, daß das Geld dem Haus durch Umschichtung erhalten bleibt. Ich bin dabei.
Unzureichend ist natürlich auch der Ansatz für die
Expo. Sie haben hier nur 30 Millionen DM vorgesehen,
aber 45 Millionen DM müßten es sein. Darüber hinaus
legt die Bundesregierung fest, daß es für die Expo keine
Verpflichtungsermächtigung geben soll. Wir haben aber
eine Bundesbürgschaft beschlossen, und es ist so gut wie
sicher, daß diese Bürgschaft in Anspruch genommen
werden muß. Wir lassen das durch den Rechnungshof
und auch durch andere prüfen. Hier liegt ein Verstoß
gegen geltendes Haushaltsrecht vor. Wenn erkannt wird,
daß eine Bürgschaft gefährdet ist, muß eine Verpflichtungsermächtigung ausgebracht werden.
Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß wir dies so
nicht hinnehmen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Haushalt hat
versteckte und offenkundige Mängel. Neue Akzente sind
kaum erkennbar. Der Wille zum Sparen ist ebensowenig
zu spüren wie das Ausnutzen von Möglichkeiten, den
Einzelplan effizienter und effektiver zu machen. Eine
negative Signalwirkung geht von diesem Haushalt für
die deutsche Entwicklungshilfe aus.
({4})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Hermenau von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schmude, haben Sie einen Zwillingsbruder? Die Zeiten ändern
sich; wir ändern uns in ihnen. Das will ich Ihnen zubilligen. Aber heute haben Sie mich einigermaßen verblüffen können. Aber zumindest weiß ich jetzt aus Ihrer Rede, was Sie in den nächsten zehn Monaten zu machen
gedenken. Sie bewegen sich auf der Suche nach den
Schnupperpreisen, den 124 Millionen DM, die Sie irgendwo versteckt vermuten. Aber reden wir über diesen
Etat. Ich gehe auf bestimmte Punkte, die Sie gebracht
haben, gerne ein.
In den letzten Jahren ist das Bemühen darum, in der
schwierigen Lebenswelt vieler Bürger in diesem Lande
Verständnis dafür zu finden und um Verständnis dafür
zu werben, wie wichtig die entwicklungspolitische Zusammenarbeit ist, von Ihnen kontinuierlich verachtet
worden. Sie haben sich dem nicht gestellt, obwohl das
Aufkommen an Spenden aus privaten Vermögen der
Bürgerinnen und Bürger eine Ermutigung dargestellt
hätte, diese Debatte offensiv und nicht defensiv zu führen.
({0})
Reden wir über die Erblasten dieses Etats. Ich bin Ihnen, Herr Kollege von Schmude, übrigens dankbar dafür, daß Sie selbst auf eine ganze Reihe von schwierigen
Verhaltensweisen des vorigen Finanzministers aufmerksam gemacht haben, die in dieser Deutlichkeit von Ihrer
Fraktion bisher noch nie zur Sprache gebracht worden
sind.
Sprechen wir zum Beispiel über das Verhältnis von
multilateraler und bilateraler Zusammenarbeit. In
den letzten Jahren bestand, von Ihnen konservativpolitisch vorgeschlagen, die Tendenz, mehr und mehr
aus der multilateralen in die bilaterale Zusammenarbeit
zu wechseln, weil die Kontrolle besser ist, und zwar in
doppelter Weise. Auf der einen Seite sei es uns so
möglich, die europäischen Partner unter Kontrolle zu
halten, die das Geld sowieso nur verschlampten; auf
der anderen Seite sei in der bilateralen Zusammenarbeit die Kontrolle über die Empfängerländer besser.
Die Frage ist, wohin dieser Standpunkt führt. Er hat sicherlich auf der einen Seite dazu geführt, daß wir eine
Reihe von finanzpolitischen Instrumenten in der bilateralen Zusammenarbeit verschärfen und präzisieren
konnten; das halte ich für gelungen. Er hat aber auf der
anderen Seite dazu geführt, daß wir uns aus unserer
europäischen Verantwortung in der multilateralen Zusammenarbeit verabschiedet haben, und zwar, wenn
Sie mich fragen, mehr aus Knauserigkeit als aus politischen Gründen.
Jetzt ist eine Pendelbewegung nötig. Oder hat sich
Deutschland aus der Debatte in der Europäischen Union
verabschiedet, als man für die Währungsunion gesorgt
hatte? Hat man gesagt, jetzt mag Europa werden, wie es
will; wir nehmen nicht mehr gestaltend an den Debatten
in Europa teil? - Doch wie wollen wir an der Gestaltung
der Debatten teilnehmen, wenn wir uns weigern, unsere
Pflichtbeiträge zu zahlen? Dieser Zusammenhang muß
hergestellt werden. Es war ziemlich wohlfeil, im Wahlkampf zu behaupten, jetzt werde alles anders, man werde jetzt die multilaterale Hilfe aufstocken; selbst die
Konservativen haben das gesagt.
Die 75 Millionen DM, die jetzt für UNDP vorgesehen sind, sind eine der traurigen Erblasten dieses Etats.
({1})
Ich denke, es ist möglich, noch einmal daran zu arbeiten.
Wir werden sehen, wie die Haushaltsberatungen im
Parlament verlaufen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß wir da noch Verbesserungen erreichen.
Aber ich möchte auf eines hinweisen: Es wird immer
wieder versucht, einen Konflikt zwischen denjenigen,
die als entwicklungspolitische Fachpolitiker gelten, und
denjenigen, die als haushaltspolitische Fachpolitiker
gelten, herzustellen. Damit möchte ich konstruktiv aufräumen. Ich halte das für falsch.
({2})
Wenn es den Finanzpolitikern nicht gelingt, entwicklungspolitische Schwerpunktsetzungen zu verstehen, es
aber andererseits den Entwicklungspolitikern nicht gelingt, sich mit der finanzpolitischen Verantwortung für
das Ganze auseinanderzusetzen, dann werden wir weiter
große Reibungsverluste in der parlamentarischen Arbeit
haben. Aber es geht auch anders, und ich hoffe, daß das
in den Beratungen des 99er Haushaltes spürbar zu werden beginnt. Ich hoffe sehr, daß angesichts der schwierigen strukturellen Veränderungen, die wir in den nächsten vier Jahren gerade in diesem Etat vornehmen müssen, die Zusammenarbeit fruchtbar verläuft.
Da sind wir wieder bei den Erblasten aus dem alten
Etat. Denken wir zum Beispiel an die Pipeline bei den
Verpflichtungsermächtigungen. Da kann man hier
natürlich groß vom Leder ziehen und sagen: Dieser und
jener Baransatz fehlt; da und dort müßten noch 10 Millionen DM hinzugefügt werden. Sie selber, Herr Kollege
von Schmude, wissen, wie sich die Abwärtsschraube der
Verpflichtungsermächtigungen in den letzten Jahren gedreht hat.
Für diejenigen, die nicht wissen, was eine Verpflichtungsermächtigung ist: Das ist das Vorhaben einer Geldausgabe für das nächste und das übernächste Jahr. Man
verpflichtet sich sozusagen, in den Folgejahren soundso
viel für etwas auszugeben. Die Höhe dieser Verpflichtungsermächtigungen wurde immer weiter heruntergeschraubt. Dann waren im folgenden Jahr auch weniger
Barmittel eingestellt worden, weil ja die Höhe der Verpflichtungsermächtigung geringer war, und dann hat
sich die Schraube immer weiter nach unten gedreht.
Mit dieser sehr linearen, sehr einfachen und wenig
konfliktfähigen Haushaltstitelverwaltung, mit einem
Etat, der jahrelang an einem Tropf gehangen hat, trauen
Sie sich jetzt hier in die Debatte und versuchen, uns die
schwierigen Bemühungen, diesen Etat strukturell wieder
lebensfähig und nachhaltig zu machen, vor die Füße zu
werfen. Sie bemühen sich überhaupt nicht, sich an einer
Verbesserung konstruktiv zu beteiligen.
({3})
Sich über ein unerwartetes Problem wie die STABEX-Beiträge herzumachen, das ist schon frech und
braucht eine gewisse Chuzpe. Sie wissen ganz genau,
daß diese Beiträge in den letzten Jahren nicht abgefordert wurden und daß sie zum Wohl des Gesamthaushaltes, aber nicht zum Wohl des BMZ verwendet worden
sind. Insofern ist in der Sache durchaus eine Bringschuld
des Gesamthaushaltes festzustellen.
Die Frage, was machbar ist, müssen wir aber im Detail besprechen. Ich werbe in dieser Diskussion dafür,
daß wir sehr konstruktiv versuchen, die strukturellen
Defizite, die Sie über Jahre aufgehäuft haben, Schritt für
Schritt und Jahr für Jahr abzubauen und diesen Haushalt
lebensfähiger zu machen. Ich weiß, daß es in der entwicklungspolitischen Gemeinde eine große Ungläubigkeit darüber gibt, ob das ernstgemeint sein kann. Sie
schüren das auch noch auf verantwortungslose Art.
({4})
Ich bin der Meinung: Wenn wir es jetzt nicht schaffen, diesen Haushalt nachhaltig und strukturbildend zu
gestalten, dann verpassen wir wirklich die Chance, die
die entwicklungspolitische Zusammenarbeit auch für
Deutschland verheißt.
An dieser Stelle möchte ich auf die Instrumente eingehen, die wir zur Verfügung haben. Es gibt ja - das ist
zu Recht so festgestellt worden - zwei gegenläufige
Entwicklungen: Die eine betrifft Länder, deren Situation
sich wirtschaftlich deutlich verbessert und die zu
Schwellenländern werden und mehr und mehr ohne unsere Unterstützung auskommen oder andere Formen unserer Unterstützung, die durch mehr Eigenverantwortung gekennzeichnet sind, in Anspruch nehmen können.
Die andere betrifft die Länder, die aus der Verschuldungsfalle nicht herauskommen und noch mehr verarmen. Diese beiden Tendenzen sind vorhanden. Zur Unterstützung dieser Länder gibt es Instrumente, wobei wir
es jetzt in Angriff nehmen müssen, diese Instrumente zu
modernisieren, zu verfeinern und zu differenzieren.
Sprechen wir über die finanzielle Zusammenarbeit.
Wir sollten die Möglichkeiten der finanziellen Zusammenarbeit - das sage ich hier in aller Klarheit - bereichern und erweitern. Denn die kärglichen Möglichkeiten
des Bundesetats werden auf Dauer nicht ausreichend
sein. Ich stehe für eine konstruktive Debatte über eine
Verbundfinanzierung bereit. Ich bin der Meinung, daß
wir im Bereich der finanziellen Zusammenarbeit mit
Schwellenländern dieses Mittel durchaus deutlich stärker ausschöpfen können, als dies in den letzten Jahren
geschehen ist.
Ich bitte darum, daß wir uns nicht mehr mit einer gewissen falschen Scham dahinter verstecken, um Gottes
willen keine wirtschaftlichen Interessen mit der Entwicklungszusammenarbeit verbinden zu wollen. Ich finde, es ist Zeit für eine neue Ehrlichkeit, die darin besteht, daß man zugibt: Es gibt Länder, bei denen wir von
christlicher Nächstenliebe und menschlicher Solidarität
sprechen. Da wird es sicherlich ein Unding sein, von
wirtschaftlichen Interessen zu sprechen. Aber es gibt
auch Schwellenländer, wo gemeinsame wirtschaftliche
Interessen auch gemeinsam wahrgenommen und ausgehandelt werden können.
({5})
Diese Debatte werden wir in den nächsten Jahren führen. Denn wenn es uns gelingt, die finanzielle Zusammenarbeit mehr und mehr in den wirtschaftlichen Sektor
einzufügen, dann haben wir wieder Luft für eine Stabilisierung der technischen Zusammenarbeit. Die, glaube
ich, ist dringend geboten. Wir müssen die technische
Zusammenarbeit stabilisieren. Das soll in den nächsten
vier Jahren der Trend sein.
Ich möchte folgendes zum Schuldenerlaß, der hier
von konservativer Seite kritisiert worden ist, sagen: Wie
können wir denn den in Deutschland entwickelten Maßstab der Haushaltssanierung, der darin besteht, nach und
nach die Verschuldung abzubauen - wir haben deutlich
gesagt, daß das eines unserer wichtigsten Ziele ist; denn
wir denken auch an unsere Kinder und an die Nachhaltigkeit auf diesem Gebiet -, nicht auf die Entwicklungsländer übertragen, indem wir ihnen zumuten, neue Gelder aufzunehmen und uns die Zinsen für ihre Schulden
bei uns zu zahlen?
({6})
Ich möchte noch auf ein letztes Beispiel eingehen:
Vielleicht wissen die einen oder anderen, daß die Ökobank ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert hat. Wenn es
etwas gibt, was wir aus dem zehnjährigen Bestehen der
Ökobank lernen können, dann ist es das, daß man nicht
unbedingt auf eine Rendite verzichten muß. Wir sprechen nicht immer nur vom „Gutmenschentum“, wie Sie
es immer diffamieren. Vielleicht könnte man sich ja aufraffen, zugunsten ökologischer und sozialer Ziele auf die
höchstmögliche Rendite zu verzichten.
Danke schön.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Joachim Günther von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit großem
Interesse habe ich in unserer ersten Ausschußsitzung als
Neuer in diesem Ausschuß Ihre Ausführungen, Frau
Ministerin, verfolgt, und ich habe mir gesagt: Donnerwetter, jetzt versucht sie, aus dem BMZ wieder ein richtiges Ministerium zu machen, das heißt, wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik sollen nicht
als notwendiges Übel betrachtet werden. So haben Sie
das dargestellt.
Ihre Hauptpunkte waren, die Entwicklungspolitik
müsse in den Kernbereich von Politik gestellt und dort
verankert werden; es gehe um die Bündelung der entwicklungspolitischen Aufgaben - die Federführung bei
den Verhandlungen von Lomé soll also beim BMZ liegen; das soll auch für den gesamten Bereich der Transform-Programme für Osteuropa gelten -, und andere
Teilbereiche, die verstreut in anderen Ministerien angesiedelt sind, wollen Sie zurückholen. Gemessen an den
guten Absichten, ist der Haushaltsansatz mit seiner Steigerung um 1,8 Prozent - wenn ich das, was Herr von
Schmude gesagt habe, hinzunehme, muß ich sagen, daß
dieser Haushaltsansatz unter dem des letzten Jahres
bleibt - noch nicht ein Ergebnis, das diesen ersten Ankündigungen entspricht.
({0})
Ich weiß ja auch, wie schwierig solche Verteilungskämpfe sind. Aber daß die Entwicklungszusammenarbeit in dem vom Bundespresseamt herausgegebenen
Arbeitsprogramm der Bundesregierung für 1999 mit
überhaupt keinem Wort erwähnt wird, das finde ich
schon bedenklich. Wir möchten Sie dabei unterstützen,
wenn Sie Ihr Ressort wieder im Kernbereich von Politik
verankern wollen.
({1})
Es gibt aber auch Festlegungen Ihrer Regierung,
deren Interpretation mir größte Schwierigkeiten bereitet.
So sprechen Sie von einer Aufwertung der Entwicklungspolitik zu einer globalen Strukturpolitik, und
gleichzeitig lassen Sie die zur Wahrnehmung dieser
Aufgaben zur Verfügung stehenden Planstellen zum
31. Dezember 2000 entfallen. Das ist eigentlich unglaubwürdig. Wenn jetzt auch noch der deutsche Beitrag
zum UN-Entwicklungsprogramm - Sie haben es zwar
vorhin mit Altlasten begründet - um 25 Prozent gekürzt
wird, dann steht das eigentlich im Widerspruch zu Ihrem
Koalitionsvertrag,
({2})
in dem eine eindeutige Stärkung des UN-Entwicklungsprogramms angekündigt wird. Abgesehen davon,
daß hierdurch das Ansehen Deutschlands als eines zuverlässigen Partners der Entwicklungsländer geschädigt
wird, wäre die Kürzung auch entwicklungssystematisch
ein Fehler.
Daß international koordinierte Entwicklungshilfe effizienter ist als eine Vielzahl von bilateralen Ansätzen,
ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der letzten Zeit,
und deshalb wäre nicht eine Streichung, sondern eine
Erhöhung des deutschen Beitrags - Sie haben davon gesprochen, daß Sie das pro Jahr um 100 Millionen DM
aufstocken wollen, wenn ich Sie richtig verstanden habe
- ein Gebot der Stunde. Darüber hinaus ist offensichtlich
übersehen worden, daß Sie mit diesen Kürzungsplänen
auch das in Bonn angesiedelte UN-Freiwilligenprogramm, eine Unterorganisation des UNDP, indirekt
treffen.
Im übrigen wäre die Bundesregierung gut beraten,
wenn sie ihre Koordinierungsrolle im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft bei den Verhandlungen über
die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union mit den AKP-Ländern nicht durch Kürzungen belasten würde.
({3})
Unsere Partner erwarten, daß von der deutschen EUPräsidentschaft entscheidende Impulse für die laufenden
Verhandlungen ausgehen. Bisher sind noch keine klaren
Standpunkte erkennbar,
({4})
und wir müssen die Gestaltung einer zukünftigen europäischen Entwicklungspolitik deutlicher erkennbar werden lassen.
Dem von Außenminister Fischer bei der EU/AKPMinisterkonferenz am 8. Februar 1999 in Dakar angekündigten neuen Schub für die Verhandlungen müssen
jetzt Taten folgen. Sie haben gesagt: bis Jahresende. Das
heißt, wir brauchen ein umfassendes Reformkonzept,
das durch die deutsche EU-Präsidentschaft unterstützt
wird.
Neben der Armutsbekämpfung sollte dabei vor allem
der Stärkung der Eigeninitiative Vorrang eingeräumt
werden. Voraussetzung hierfür sind rechtsstaatliche
Rahmenbedingungen, Wettbewerb, Privatisierungen, die
wirksame Bekämpfung von Korruption und die Herstellung von Bedingungen für einen freien Handel. Sie
haben gesagt, daß verantwortungsvolle Staatsführung
ein wichtiges Thema der nächsten Zeit ist. Das ist richtig; denn verantwortungsvolle Staatsführung, Eigeninitiative und freier Handel haben im Endeffekt für die
dritte Welt eine viel größere Bedeutung als die gesamte
öffentliche Entwicklungshilfe. Die F.D.P.-Fraktion wird
daher einen eigenen Antrag zur europäischen Entwicklungspolitik einbringen. Im Mittelpunkt stehen dabei die
Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, die Rechtsstaatlichkeit und eine marktwirtschaftlich orientierte Wirtschafts- und Handelspolitik.
Aus den vier Jahrzehnten der Entwicklungspolitik
haben wir gelernt, daß reine Ressorttransfers und neue
Verteilungsmechanismen das Ziel einer nachhaltigen
Entwicklung eher behindern. Die zur Verfügung stehenden Mittel müssen vorrangig zur Förderung von nachhaltiger Eigeninitiative eingesetzt werden. Staatliche
Entwicklungspolitik sollte in ihrer Rahmenplanung neben dem multilateralen Ansatz in erster Linie auf die
Kooperation mit der Privatwirtschaft setzen.
Das beachtliche entwicklungspolitische Potential wirtschaftlicher Investitionen muß stärker gefördert werden.
Es ist selbstverständlich, daß eine so verstandene echte
wirtschaftliche Zusammenarbeit für beide Seiten von
Nutzen sein muß. Ebenso selbstverständlich sollte es
daher sein, daß die finanzielle staatliche Flankierung der
Zusammenarbeit zumindest dort, wo es möglich ist, mit
entsprechenden Lieferbindungen verbunden wird.
Warum zum Beispiel sollten Wasserpumpen für deutsche Bewässerungsprojekte in der Sahelzone nicht auch
in Deutschland gekauft werden? Für unsere britischen
und französischen Partner ist es eine Selbstverständlichkeit, daß der Einsatz derartiger Mittel auch der heimischen Wirtschaft zugute kommt.
({5})
In Zeiten knapper Kassen gilt es, über die Entwicklungspolitik generell nachzudenken. 60 Prozent der
Weltwirtschaftshilfe kommen aus Europa. Um es aus
meiner Sicht zu sagen: Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Die EU vergibt Projekte - es erfolgt lediglich ein
kritisches Abnicken durch die Staatssekretärsrunde -,
die Länder machen Einzelprojekte, und zur Freude vieler, die sich auf diesem Gebiet schon kennen, trifft man
sich irgendwo im Urwald wieder.
Joachim Günther ({6})
Die F.D.P. möchte Sie, Frau Ministerin, auffordern,
die gegenwärtige Krise der EU-Kommission zu nutzen,
um für eine Neuordnung der Verhältnisse zwischen den
EU-Staaten und in der EU selbst zu sorgen. Wir brauchen eine klare Arbeitsteilung, die aufeinander richtig
abgestimmt ist. Nicht über mehr finanzielle Mittel ist
mehr Einfluß zu erreichen, sondern durch politische
Entscheidungen. Man muß einmal den Mut haben, Positionen in Weltbank, regionalen Entwicklungsbanken
und anderen Entscheidungsgremien verstärkt mit deutschem Personal zu bestücken bzw. dies zumindest zu
versuchen.
({7})
Zusammengefaßt kann ich sagen, daß der Einzelplan 23
noch nicht alle Möglichkeiten einer effektiven Entwicklungshilfe aufzeigt. Aber wir sichern zumindest unsere Unterstützung zu.
Danke.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Carsten Hübner von der
PDS-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, nach der Durchsicht des Einzelplans 23 war ich
- das möchte ich meinen Erörterungen gleich voranstellen - doch ziemlich enttäuscht. Das hat vor allem damit
zu tun, daß ich den meisten Äußerungen von Ihnen, Frau
Ministerin, aus den letzten Monaten auch konzeptionell
zustimmen konnte und ich es für unabdingbar im Sinne
einer nachhaltigen und solidarischen Entwicklung in
allen Teilen der Welt halte, daß die bisherigen Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit evaluiert und im
Sinne einer internationalen Strukturpolitik transformiert
werden.
Gleiches gilt für die Frage der Schuldenpolitik und
- um auch die EU-Ebene anzusprechen - für die laufenden Verhandlungen im Rahmen des LoméNachfolgeprozesses, wo aus Sicht der PDS ein deutliches Zeichen gegen das Ansinnen gesetzt werden muß,
die EU/AKP-Zusammenarbeit künftig über Freihandelsabkommen zu strukturieren. Natürlich fand auch die
Verpflichtung im Koalitionsvertrag unsere Zustimmung,
dem international vereinbarten Ziel von 0,7 Prozent am
Bruttosozialprodukt für Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit wieder näherkommen zu wollen und
den bisherigen Abwärtstrend umzukehren. Denn die Erblast der alten Bundesregierung mit einem Anteil von
0,28 Prozent am Bruttosozialprodukt war nicht nur
außen- und entwicklungspolitisch ein Skandal; auch moralisch war das eine Bankrotterklärung.
({0})
Aber welche Konsequenz haben Sie daraus gezogen oder sollte ich sagen: ließ man Sie daraus ziehen, Frau
Ministerin? Welche konkreten Schritte wurden eingeleitet, um der internationalen Verantwortung eines der
reichsten Länder auch tatsächlich gerecht zu werden?
Ich habe dabei nicht den entwicklungspolitischen Zauberstab erwartet - das nicht! Was ich aber erwartet habe;
war eine Gewichtsverlagerung in Ihrer Regierungspolitik, waren Phantasie und Kreativität und der Bruch zumindest mit einem Teil der bisherigen Konzepte und der
bisherigen Praxis. Aber genau das ist leider nicht zu erkennen: nicht im Haushalt und nur äußerst beschränkt in
der Schuldenfrage. Was das Gewicht innerhalb der neuen
Regierungspolitik betrifft, ist die Trendwende, wenn
überhaupt, nur zu erahnen. Erinnern Sie sich etwa an das
unwürdige Gedränge Ihres Kollegen Fischer im Rahmen
der deutschen Delegation zur Ministerrunde in Dakar,
das nicht nur zu einer merkwürdigen Kompetenzverteilung geführt hat, sondern das man auch als ein politisches Signal werten könnte: mehr Fischer und dafür weniger Wieczorek-Zeul. Wenn das so sein sollte, bedauere
ich das sehr; das sage ich Ihnen ganz ehrlich.
({1})
Doch nun zum Haushalt. Auf Grund der kurzen Redezeit nenne ich nur Stichpunkte mit Beispielcharakter;
denn die eigentlichen Debatten stehen in den nächsten
Wochen erst noch an.
Erstens. Der Haushaltsansatz für 1999 bleibt trotz
zunehmender regionaler Krisen, sich verschärfender Ernährungsprobleme und dem sich verstetigenden Prozeß
der wirtschafts-, entwicklungs- und infrastrukturpolitischen Abkoppelung großer Teile der sogenannten dritten
Welt hinter dem Ist-Stand des Haushalts 1998 zurück.
Selbst die Steigerung im Einzelplan 23 im Vergleich
zum Soll für 1998 entspricht nicht einmal dem Wachstum des Gesamthaushaltes. Er fällt damit weiter zurück,
wohl auch im Vergleich zum Bruttosozialprodukt. Ich
kann meinem Kollegen von Schmude in dieser Frage
leider nur recht geben.
Zweitens. Insgesamt kann man zudem feststellen, daß
nicht nur die Höhe des Haushalts, sondern auch seine
Struktur nahezu gleichgeblieben ist, quasi Sprangersche Handschrift trägt. Wo sind die neuen Ansätze, die
Alternativen? Wo bleibt Ihre politische Entschlossenheit, mit der Sie in der Öffentlichkeit bisher für das Anliegen einer modernen und vor allem effizienteren Entwicklungszusammenarbeit und für die Korrektur bisheriger Fehlentwicklungen aufgetreten sind, etwa wenn es
um die Kritik der Politik der direkten und indirekten Exportförderung deutscher Unternehmen als wesentliches
Element der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit
geht?
Drittens. Was wurde aus Ihrem Anspruch in der Koalitionsvereinbarung, für die Reform und Stärkung der
Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen
mehr Verantwortung übernehmen zu wollen? Kürzung
des Beitrages für UNDP um 25 Prozent - bereits mehrfach angesprochen -, leichte Kürzung für UNIDO, starke Einschnitte bei Beiträgen zur Globalen Umweltfazilität und keine Anhebung - auch das ist ein Signal - für
das Frauenförderprogramm UNIFEM der UNDP, obwohl Sie doch zu Recht mehrfach darauf hingewiesen
Joachim Günther ({2})
haben, welche Bedeutung den Frauen im Rahmen entwicklungspolitischer Maßnahmen zukommt.
Auch die Schrödersche Schuldeninitiative, die, bevor sie auf dem G-7/G-8-Gipfel überhaupt eingebracht
wird, schon zahlreiche öffentliche Vorschußlorbeeren
erhalten hat, ist als angekündigte Trendwende viel zu
zaghaft, weil im Haushalt nur minimale Konsequenzen
gezogen wurden. Wie ist es etwa mit der Forderung unter anderem der Erlaßjahrkampagne, die haushaltsrechtlichen Bestimmungen dergestalt zu verändern, daß auch
unabhängig vom Pariser Club Schuldenerlasse bilateral
vorgenommen werden können? Was ist mit den DDRSchulden, die auch nach den heutigen Aussagen von
Staatssekretärin Eid auf einer WEED-/Terre-deshommes-Veranstaltung ein Antagonismus sind?
Herr
Kollege, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
Ich bin so gut wie fertig. Warum soll auch weiterhin der Schuldendienst an den
Finanzminister und nicht in einen Fonds für Projekte der
Armutsbekämpfung oder des Umwelt- und Ressourcenschutzes fließen? Wir werden diese Fragen im einzelnen
in den nächsten Wochen erarbeiten. Deshalb nur noch
einen Satz: Es gibt auch abseits der wirtschaftsliberalen
Globalisierungsdoktrin ein internationales Denken und
Handeln. Die Frage einer gerechten Weltwirtschaftsordnung steht neben der Menschenrechtsfrage in dessen
Zentrum. Diesem grenzüberschreitenden, solidarischen
Denken zum Durchbruch zu verhelfen muß Anspruch
unserer Entwicklungspolitik sein, oftmals auch erst werden. Dabei steht die rotgrüne Bundesregierung in einer
hohen Verantwortung.
Vielen Dank.
({0})
Das
Wort hat der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn man es nicht hören will, muß es wiederholt
werden: Der Haushalt sackt gegenüber dem Ist des Jahres 1998 ab. Ich kann das nicht ändern. Ich kenne die
Schwierigkeiten, sich mit dem Finanzminister zu unterhalten, aus eigener Erfahrung. Ich will das nicht weiter
ausbreiten. Aber zumindest, was den beamteten Staatssekretär betrifft, befinden Sie sich in einer guten Kontinuität. Wir hatten unsere Schwierigkeiten; Sie haben Ihre Schwierigkeiten. Aber die Fakten sind nun einmal,
wie sie sind. Deshalb müssen sie noch einmal wiederholt
werden: Der Einzelplan 23 1998 weist genau 7,916 Milliarden DM aus; der jetzt vorliegende Haushaltsplan sieht
7,8 Milliarden DM vor. Ich gebe zu, ich war in Mathematik schlecht; dennoch sind das 116 Millionen DM
weniger. Das sind die Fakten. Von einer Steigerung
kann also nicht die geringste Rede sein.
Folgendes kommt hinzu. Die Sache mit STABEX ist
völlig überflüssig. Herr von Schmude hat darauf hingewiesen, jetzt wird aus Ihrem Hause selbst - Frau Ministerin, vielleicht sind Sie noch nicht darüber informiert
- angeregt, die 100 Millionen DM nicht vorzusehen.
Reden Sie darüber noch einmal mit dem Finanzminister,
der dem BMZ etwas aufdrücken möchte, was überhaupt
nicht erforderlich ist. Ich wiederhole es: Tatbestand ist,
daß die Mittel von der EU nicht benötigt werden. Wie
soll man dem deutschen Steuerzahler erklären, daß wir
Geld überweisen, für das wir einen Kredit aufnehmen
müssen, das bei der EU auf die hohe Kante gelegt wird,
und die EU dafür Zinsen bezieht? Das können Sie niemandem erklären.
({0})
Das sind die Fakten. Deshalb ist es auch nicht notwendig, die Summen entsprechend auszuweisen. Wir sind
gerne bereit, uns über Zwischenschritte zu unterhalten.
Auf jeden Fall werden wir beim EEF bei den Haushaltsberatungen einen drastischen Kürzungsvorschlag
unterbreiten.
({1})
Immer wieder klang heute durch, daß diskutiert würde, schrittweise den Anteil der multilateralen Ausgaben am Haushalt zugunsten der bilateralen zurückzuführen. Ich möchte alle Kollegen sehr sorgfältig daran erinnern, daß es sich um einen gemeinsamen Beschluß des
Haushaltsausschusses aus der vorletzten Legislaturperiode handelt. Es kann keine Rede davon sein, daß das ein
Einfall der damaligen Koalition gewesen sei; das war im
damaligen Haushaltsausschuß einvernehmlich beschlossen. Wenn man das ändern will, dann muß der Haushaltsausschuß eine bestimmte Korrektur vornehmen.
Auch sonst stimmt es nicht: Der Anteil des Multilateralen ist - durch manchmal sehr großzügige Zusagen des
früheren Bundeskanzlers gegenüber den Franzosen - gerade im EEF nachhaltig angestiegen, so daß wir von
dem Ziel, unter 30 Prozent zu kommen, noch weit entfernt sind. Wenn jetzt plötzlich im Zusammenhang mit
dem UNDP geklagt wird, so muß ich sagen: Das hat uns
in der Tat der Finanzminister der alten Regierung aufgedrückt. Aber warum haben Sie es nicht geändert? Sie
haben doch angekündigt, wie wichtig Ihnen die multilateralen Organisationen sind. Wenn man alles besser machen will, kann von Erblast überhaupt keine Rede sein.
Hätten Sie es doch besser gemacht! Sie haben es aber
nicht gemacht, also muß man Ihnen das entsprechend
vorwerfen.
Als nächstes möchte ich einen Bereich ansprechen,
der uns große Sorgen macht und der auch im Haushalt
das eine oder andere widerspiegelt: Das ist die Situation
in Afrika. Wir müssen feststellen, daß die Bundesregierung hilflos, zum Teil auch ratlos vor den Problemen
steht, wobei ich einräume, daß niemand ein Patentrezept
zur Lösung der Probleme in Afrika hat. Im zuständigen
Fachausschuß ist aber zum Beispiel die präzise Frage
der Opposition „Was machen Sie eigentlich, wenn die
militärischen Interventionen einer Reihe von afrikanischen Staaten fortgesetzt werden, mit der EntwicklungsCarsten Hübner
hilfe?“ nicht beantwortet worden. Simbabwe zum Beispiel sind sogar vor kurzem noch einmal 55 Millionen
DM zugesagt worden. Wie soll man es dem deutschen,
dem europäischen Steuerzahler oder überhaupt den Armen auf dieser Welt erklären, wenn Millionen und
Abermillionen aus dem direkten und aus dem verdeckten Staatshaushalt eines Landes wie Simbabwe für ein
militärisches Abenteuer im Kongo bereitgestellt werden
und wir - möglicherweise nicht nur wir Deutschen alleine, sondern die internationale Gebergemeinschaft - das
im Haushalt ausgleichen? Darauf muß eine Antwort gegeben werden. Die Bundesregierung verweigert bisher
diese Antwort.
Wenn ein Staat wie Angola, dessen Erdöleinnahmen
im offiziellen Staatshaushalt überhaupt nicht auftauchen,
irgendwo militärisch interveniert, müssen daraus Konsequenzen für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit gezogen werden. Auch darauf erwarten wir in absehbarer Zeit eine Antwort der Bundesregierung.
({2})
Frau Ministerin, wir hatten Ihnen das Angebot zur
kooperativen Zusammenarbeit gemacht. Im Grundsatz
steht dieses Angebot noch, es ist aber keine Einbahnstraße. Damit spreche ich ein etwas schwieriges Problem
an. Was - „in Gottes Namen“ kann man in diesem Zusammenhang als Theologe nicht sagen - hat Sie eigentlich geritten, gegen alle Gewohnheiten der Personalpolitik im BMZ bei der Neubesetzung der Abteilungsleiter
nicht einen einzigen CDU-Mann zu berücksichtigen?
Die alte Administration hat immer einen Repräsentanten
Ihrer Partei berücksichtigt. Ich halte das für einen miesen Stil.
({3})
Überlegen Sie noch einmal, ob das die Voraussetzung
für eine konstruktive Zusammenarbeit ist.
Bisher ist der Bereich der Entwicklungspolitik immer
noch einer gewesen, der nicht in den klassischen parteipolitischen Streit hineingezogen worden ist. Bisher ist
die Zusammenarbeit im AWZ hervorragend, dafür
möchte ich mich bei allen Kollegen ausdrücklich bedanken. Ich darf aber auch die Bundesministerin bitten,
durch ihre Personalentscheidung atmosphärisch einen
Beitrag zu einer konstruktiven und soliden Zusammenarbeit zwischen Opposition und Regierung zu leisten.
({4})
Ein Punkt sollte bei der grundsätzlichen Debatte über
unsere Entwicklungspolitik noch angesprochen werden.
Wir müssen in Zukunft stärker darauf achten, daß unsere
Partnerländer eine größere Eigenverantwortung übernehmen.
({5})
Diesem Punkt haben wir seit vielen Jahrzehnten, aus
welchen Gründen auch immer - ich will gar nicht an die
Zeit des kalten Krieges zurückdenken, in der es machtpolitische Überlegungen waren -, nicht die ausreichende
Aufmerksamkeit gewidmet. Deshalb begrüße ich durchaus, was Sie zu „good governance“ gesagt haben.
Wir müssen darauf bestehen - anders macht Entwicklungshilfe keinen Sinn, und wird Entwicklung nicht
möglich -, daß unsere Partnerländer die Rahmenbedingungen, die Voraussetzungen für Entwicklung schaffen.
Eine Frage müssen wir intensiver diskutieren: Ist es
eigentlich unsere Aufgabe, in einem Schwellenland wie
zum Beispiel Indien die Armutsbekämpfung mit deutscher Entwicklungshilfe zu finanzieren, während dieses
Land Geld für militärische Operationen hat und sich
verweigert, selber eine durchgreifende Armutsbekämpfung zu betreiben?
({6})
Mein Freund Christian Ruck sagt immer, wenn wir
diese Frage diskutieren: Wenn wir es nicht machen, wer
macht es dann? Die machen es doch nicht. Dazu kann
ich nur sagen: Hier müssen alle politischen und sonstigen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um unsere
Partnerländer an ihre Eigenverantwortung zu erinnern.
({7})
Es kann nicht sein, daß ärmere Entwickungsländer
nicht die ausreichenden Ressourcen für die Befriedigung
von Grundbedürfnissen, für Basisgesundheitssysteme,
für die Grundbildung und für die primitivsten Formen
von Wohnungsbau zur Verfügung stellen, obwohl sie
diese Ressourcen haben, während wir gleichzeitig in einem zunehmenden Maße korruptive Strukturen in unseren Partnerländern feststellen müssen. Das heißt, wir appellieren, die Eigenverantwortung unserer Partnerländer
stärker als bisher zu einem Grundsatz unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zu machen.
Ein letztes kurzes Wort zur Verschuldung: Vielleicht, Frau Ministerin, liegen wir gar nicht so weit
auseinander. Auch wir sind dafür, daß der Schuldenberg abgetragen wird. Wir müssen aber sicherstellen,
daß wir nicht im Jahre 2005 oder im Jahre 2010 das
gleiche Problem haben. Deshalb ist Voraussetzung, daß
die Länder sich in diesem Zusammenhang auf Situationen beschränken, in denen Verschuldung wirklich
sinnvoll ist.
Herr Tietmeyer von der Deutschen Bundesbank hat
in einem bemerkenswerten Aufsatz - ich kann Ihnen nur
empfehlen, ihn nachzulesen - zu den ethischen und ökonomischen Aspekten von Schuldenerlaß darauf hingewiesen - ich darf zitieren -: Es ist keineswegs sicher,
daß ein genereller Schuldenerlaß tatsächlich die Bedürftigen erreichen würde. Was wir aber sicherstellen müssen, ist, daß Schuldenerleichterung die Armen erreicht
und nicht die Korrupten.
Herzlichen Dank.
({8})
Das
Wort hat erneut die Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul.
Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt nur zwei Minuten Zeit, um einige Punkte richtigzustellen. Zunächst
einmal erspare ich mir Kommentare zu dem, was Sie
hier gesagt haben, Herr Hedrich. Denn es ist schon eine
gewisse Peinlichkeit, wenn diejenigen, die in den letzten
Jahren die politische Verantwortung getragen haben,
sich hier hinstellen und den Eindruck vermitteln, es sei
alles völlig anders. Sie haben wirklich lange genug Zeit
gehabt, etwas anders zu machen.
({0})
Ich möchte noch einmal fragen: Wo war eigentlich
der Protest derjenigen, als der Waigel-Etat hier vorgestellt worden ist und die UNDP-Kürzungen vorgelegt
worden sind?
({1})
Ich möchte an die Adresse derer aus dem CDU-Lager,
die hier gesprochen haben - ich danke der F.D.P. dafür,
daß sie das hier sehr differenziert betrachtet hat -, sagen:
In sechs Jahren ist der Entwicklungsetat, verglichen mit
den anderen Etats, um 9 Prozent reduziert worden, unter
anderem auch während Ihrer Regierungszeit. Das ist der
Etat mit den umfangreichsten Kürzungen und Streichungen gewesen.
Wer sich hier hinstellt und nicht ein Stück Eigenverantwortung für die heutige Situation einräumt, der handelt zutiefst unehrlich und heuchlerisch; das muß ich
Ihnen wirklich sagen.
({2})
Wir müssen das, was Sie über viele Jahre angerichtet
haben, jetzt rückgängig machen. Dafür erwarte ich Ihre
Unterstützung und kein Herumgemäkel.
Um es einmal klarzustellen: Nach dem Vorschlag
Waigels sollte der Anteil des Entwicklungshaushalts am
Gesamthaushalt 1,65 Prozent betragen. Nach unserem
Vorschlag liegt der Anteil des Entwicklungshaushalts
am Gesamthaushalt bei 1,7 Prozent.
({3})
Das ist die einzig präzise Aussage zu den Relationen,
die man da treffen kann. Alles andere ist der Versuch,
eine Sache schlechtzureden, die Sie selbst in Ihrer Regierungszeit nie hinbekommen haben.
Dann möchte ich noch einiges zu den Zahlen sagen.
Man kann natürlich nicht, wie es der eine oder andere
gemacht hat, die Ist-Zahlen 1998 mit den Soll-Zahlen
1999 vergleichen. Das ist ein Vergleich von Äpfeln und
Birnen. Jeder weiß - zumindest auch Herr Hedrich -,
daß in den Ist-Zahlen in diesem Bereich auch nicht abgeflossene Mittel enthalten sind. Die Ist-Zahlen 1998
und die Ist-Zahlen 1999 kann man vergleichen. Man
kann aber nicht die Ist-Zahlen 1998 mit den Soll-Zahlen
1999 vergleichen. Wer das tut, argumentiert nicht, sondern versucht, Stimmung zu machen, und erweckt falsche Vorstellungen.
Zum Schluß möchte ich etwas an die Adresse derjenigen sagen, die Lomé angesprochen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Mandat für Lomé ist im
letzten Herbst erteilt worden, also nicht zu Zeiten der
jetzigen Bundesregierung, sondern zu Zeiten der früheren. Ich bin gehalten, entsprechend diesem Mandat im
Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft zu verhandeln.
Man kann sich da auch etwas anderes vorstellen. Aber
ich bin gehalten, mich daran zu orientieren. Über jede
andere Frage zur Afrikapolitik, über Details zu Lomé
bin ich gern bereit zu diskutieren. Aber ich sage vor
allem an die Adresse der CDU: Es ist mehr Ehrlichkeit
und mehr Anstand im Umgang mit der Geschichte, die
Sie beim Entwicklungshaushalt selbst zu verantworten
haben, erforderlich.
({4})
Als
letzte Rednerin hat die Kollegin Adelheid Tröscher von
der SPD-Fraktion das Wort.
Bitte schön, Frau Tröscher.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wie so oft findet die Debatte über
Entwicklungspolitik zu später Stunde statt. Aber wir
wissen, wie wichtig wir sind, und wir werden immer
wichtiger.
Wir wollen die Entwicklungspolitik entlang den
Leitlinien einer globalen Strukturpolitik reformieren,
weiterentwickeln und effizienter gestalten. Wir wollen
natürlich auch die Eigenverantwortung stärken, Herr
Hedrich, die Korruption bekämpfen und „good governance“ belohnen. Um in diesen Politikbereich eine
Leitlinie hineinzubringen, dazu hatten Sie allerdings viel
Zeit. Die neue Bundesregierung hat Wort gehalten. Wir
sind stolz darauf, daß hier einiges gelungen ist, und sind
auch zuversichtlich, daß noch Weiteres auf den Weg gebracht werden wird.
Als einen ganz zentralen Punkt ihrer Arbeit haben die
Koalitionsparteien vereinbart, den Abwärtstrend des
Entwicklungshaushaltes umzukehren und vor allem die
Verpflichtungsermächtigungen kontinuierlich und maßvoll zu erhöhen. Auch in diesem Punkt haben wir Wort
gehalten. Wir haben den Abwärtstrend des Einzelplans 23
gestoppt und die Grundlage für den Aufwärtstrend gelegt. Vor allen Dingen wollen wir Klarheit in den Haushalt bringen, also die Schattenhaushalte auflösen, damit
wir wirklich mit den Zahlen rechnen können, die der
Haushaltsplan ausweist.
({0})
Wir haben die systematischen Kürzungen der alten
Bundesregierung im Einzelplan 23 gestoppt, die Mittel
insgesamt erhöht und die Eingriffe vor allem bei den
Verpflichtungsermächtigungen beendet. Das ist ein gutes und richtiges Signal der neuen Bundesregierung an
unsere Partnerländer im Süden und im Osten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von besonderer
Relevanz ist auch, daß die Aufsplittung der entwicklungspolitischen Aufgaben in unterschiedlichen Ressorts
nunmehr aufgehoben wird und hier für mehr Kohärenz
gesorgt werden kann.
Das BMZ - darum beneiden uns einige in der CDU
sehr - ist insgesamt gestärkt worden. Dies war auch
dringend erforderlich. Wir machen wieder eine globale
Strukturpolitik, was in den letzten Jahren nicht der Fall
war.
({1})
Die neue Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt,
die globalen Rahmenbedingungen inhaltlich mitzugestalten und ihre Aufgaben und Verpflichtungen im Rahmen
von multilateralen Institutionen wie der Weltbank, des
IWF und der Vereinten Nationen verstärkt wahrzunehmen
und zu intensivieren. So wurde beispielsweise - das ist
auch schon gesagt worden - die Ausstattung des afrikanischen Entwicklungsfonds um rund 100 Millionen DM erhöht. Das ist, wenn wir gerade an den afrikanischen Kontinent denken, von ganz besonderer Bedeutung. Außerdem werden erstmals 50 Millionen DM für die Entschuldungsinitiative der Weltbank ausgewiesen, und zur Erfüllung des Montrealer Protokolls werden ebenfalls weitere Mittel bereitgestellt.
So etwas nennen wir eine Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit. Sie können davon ausgehen,
daß die neue Bundesregierung die Effizienz der multilateralen Finanzierungsmaßnahmen durch entwicklungsund sozialverträgliche Strukturanpassungsprogramme
und durch eine bessere Verzahnung mit den bilateralen
Programmen erhöhen wird. Daran hat es in der letzten
Zeit gefehlt.
({2})
Noch ein Wort zu UNDP: Wir haben stets betont, daß
wir für eine Reform und eine Stärkung der Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen eintreten. Dies
ist und bleibt so. Wieviel Mittel nun an UNDP fließen,
werden die laufenden Haushaltsberatungen zeigen. Unsere Haushälter haben signalisiert - wir haben das mit
großer Freude wahrgenommen -, daß sie in diesem
Punkt geprächsbereit sind.
({3})
Wir hoffen, daß dabei eine Erhöhung um 25 Millionen
DM herausspringt. Wir werden auf jeden Fall daran arbeiten und zusammen mit den Haushältern ganz bestimmt eine Lösung finden, die auch UNDP gefallen
wird. In den zukünftigen Haushalten werden die UNDPMittel erhöht werden. Eine Zusammenarbeit mit UNDP
kann auch unserer eigenen bilateralen Entwicklungspolitik nur guttun.
({4})
Sie haben von den Altlasten gehört, die wir zu tragen
haben. Wir bleiben aber bei unserem Ziel, unser Engagement bei den internationalen Organisationen zu verstärken, wobei, wie gesagt, UNDP besonders zu erwähnen
ist. Das, was Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in den letzten Jahren unter anderem bei UNDP
gekürzt haben, werden wir wieder rückgängig machen. In
den letzten zwei Jahren waren es allein 45 Millionen DM;
das ist natürlich schon ein stolzer Betrag.
In der Koalitionsvereinbarung hatten SPD und Grüne
weiterhin festgelegt, daß wir das Bewußtsein für internationale Zusammenhänge stärken wollen und deshalb
ein besonderes Gewicht auf die entwicklungspolitische
Arbeit der NROs, der Nichtregierungsorganisationen,
legen und deren Arbeit verstärkt fördern wollen. Im
Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
kommt nämlich den NROs eine hohe Bedeutung zu. Wir
haben das wiederholt gesagt, und ich sage es fast in jeder Rede. Ich denke, die NROs sind in der Entwicklungszusammenarbeit unverzichtbar.
({5})
Ihre der Partnerschaft verpflichtete Arbeit zielt darauf
ab, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und die vorhandenen
Potentiale der Partner in den Entwicklungsländern zu
nutzen. Ich möchte deswegen an dieser Stelle auch einmal all jenen kirchlichen Organisationen und den politischen Stiftungen, lokalen wie überregionalen Organisationen und all den vielen Nord-Süd-Foren meinen
besonderen Dank und meine Anerkennung für die von
ihnen täglich geleistete Arbeit aussprechen.
({6})
Wir müssen unsere Anstrengungen intensivieren, die
Bevölkerung durch Informations- und Bildungsarbeit
über die Zusammenhänge internationaler Politik und
Interessen Deutschlands aufklären. Demokratie lebt unter anderem auch vom Vertrauen der Bürger in die Qualität politischen Handelns. Ich bin deshalb sehr dankbar,
daß die neue Bundesregierung die Mittel für die konkrete Projektarbeit der privaten Träger erhöht hat, daß
vor allem der Ansatz bei der Inlandsarbeit für die entwicklungspolitische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit
gegenüber 1998 - da war der Abwärtstrend besonders
drastisch - um fast 40 Prozent erhöht wird. Wir werden
das in den nächsten Jahren kontinuierlich weiter tun.
Dies ist ein guter Schritt in die richtige Richtung und
wird die Zusammenarbeit mit den NROs stärken helfen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende
Einzelplan 23 ist ein überzeugender Schritt in die richAdelheid Tröscher
tige Richtung, Entwicklungspolitik zu einer globalen
Strukturpolitik weiterzuentwickeln und aufzuwerten.
Insgesamt kann man sagen: Die Mittel sind erhöht worden, das Ministerium wurde gestärkt, und die richtigen
Schwerpunkte wurden gesetzt.
Ich danke Ihnen.
({8})
Weitere
Wortmeldungen liegen nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 25. Februar,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.