Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/14/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. ({0}) Die Welt trauert um König Hussein von Jordanien, der am 7. Februar dieses Jahres einem schweren Leiden erlag. Die geostrategische Lage seines Königreichs und die Geschichte des Nahen Ostens hatten König Hussein eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung des dramatischen und gefährlichen Nahostkonflikts zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn zugewiesen. Er, der als 16jähriger die Ermordung seines Großvaters König Abdullah auf den Stufen der Al-Aksa-Moschee erlebte, hat mit einer bewunderungswürdigen, verantwortungsvollen Politik seinen Staat durch die Verwicklungen der Politik in dieser Region gesteuert. Der 1994 zwischen Israel und Jordanien geschlossene Friedensvertrag setzte einen vorläufigen Schlußpunkt unter die Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Staaten. Seine Politik des Ausgleichs und der Mäßigung ließ König Hussein eine Vermittlerrolle im arabischisraelischen Konflikt und auch in der arabischen Welt gewinnen. Der von Hussein ausgesprochene Verzicht auf das Westjordanland schuf die Voraussetzungen für eine bis heute umkämpfte und noch nicht ganz erreichte Befriedung der Palästinenser. Freilich war die Politik des kleinen und auf Hilfsleistungen angewiesenen Staates zwischen großen und erdölreichen Nachbarn immer zugleich eine Gratwanderung. Jeder militärische Konflikt im Nahen Osten drohte Jordanien zwischen zwei Mühlsteine geraten zu lassen. Der Fanatismus, der aus dem Nahostkonflikt entstanden war, führte zu mindestens 30 Attentaten auf König Hussein. Als dienstältester Staatsmann der Welt, der seinen Thron bereits 1953 bestiegen hatte, gewann König Hussein mit seiner zunehmend liberaleren und einer Demokratisierung geneigteren Haltung auch die Herzen der Bürger seines Königreiches. Die in Jordanien praktizierte Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Glaubensgemeinschaften ließ ihn auch eine Führungsrolle im Religionsgespräch des Nahen Ostens einnehmen. Der Deutsche Bundestag trauert mit den Angehörigen des verstorbenen Königs und seinem Volk. Er drückt ihnen sein tiefempfundenes Mitgefühl aus. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich zunächst einigen Kolleginnen und Kollegen zu einem runden Geburtstag gratulieren. Die Kollegin Adelheid Tröscher feierte am 16. Februar ihren 60. Geburtstag. Die Kollegin Ilse Schumann feierte am 22. Februar ebenfalls ihren 60. Geburtstag. Der Kollege Helmut Wieczorek ({1}) begeht heute seinen 65. Geburtstag. Ich spreche Ihnen im Namen des Hauses die herzlichsten Glückwünsche aus. ({2}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern: ZP2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Beratung des Antrags der Bundesregierung: Deutsche Beteiligung an der militärischen Umsetzung eines Rambouillet-Abkommens für den KOSOVO sowie an NATO-Operationen im Rahmen der Notfalltruppe ({3}) - Drucksache 14/397 - b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zum Internationalen Pri- vatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse und für Sachen - Drucksache 14/343 - c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über die allgemeine und die reprä- sentative Wahlstatistik bei der Wahl zum Deutschen Bundestag und bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 14/401 - d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Martin Bury, Ernst Schwanhold, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({4}), Margareta Wolf ({5}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Förderung der Luftfahrttechnologie - Drucksache 14/395 ZP3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({6}) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung der Sozialund Steuerverwaltung für den Euro ({7}) - Drucksache 14/229 ({8}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({9}) - Drucksache 14/406 1490 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Weiterin ist interfraktionell vereinbart worden, den in Verbindung mit der Beratung der ökologischen Steuerreform vorgesehenen Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu Energiepreiserhöhungen - Tagesordnungspunkt 2c - abzusetzen. Außerdem weise ich auf geänderte und nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste hin: Die in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages mit Drucksache 14/272 erfolgte Überweisung nachfolgender Vorlagen soll ergänzt bzw. geändert werden. Erster Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 7. Dezember 1995 zum Thema Meinungsfreiheit - Meinungsvielfalt - Wettbewerb Rundfunkbegriff und Regulierungsbedarf bei den Neuen Medien - Drucksachen 13/3219, 13/6000 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Kultur und Medien ({10}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. Dezember 1995 zum Thema Neue Medien und Urheberrecht - Drucksachen 13/3219, 13/8110 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({11}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Kultur und Medien Dritter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ zum Thema Kinderund Jugendschutz im Multimediazeitalter - Drucksache 13/11001 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Kultur und Medien Vierter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ zum Thema Sicherheit und Schutz im Netz - Drucksache 13/11002 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({13}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Kultur und Medien Schlußbericht der Enquete-Kommission ,,Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ zum Thema Weg in die Informationsgesellschaft - Drucksache 13/11004 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Kultur und Medien ({14}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Der in der 17. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Haushaltsausschuß auch gemäß § 96 GO überwiesen werden. Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse - Drucksache 14/280 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({15}) Innenausschuß Sportausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Tourismus Ausschuß für Kultur und Medien Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos- sen. Wir setzen nunmehr die Haushaltsberatungen fort: 1. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1999 ({16}) - Drucksache 14/300 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft - Drucksache 14/350 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({17}) Finanzausschuß Ich erinnere daran, daß wir gestern für die heutige Aussprache insgesamt neun Stunden beschlossen haben. Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Selten hat eine neue Regierung in so kurzer Zeit soviel Durcheinander angerichtet und so viel Enttäuschung verursacht. ({0}) Präsident Wolfgang Thierse Der Kölner „Express“ schrieb dieser Tage: „Wir werden regiert von Enttäuschern.“ Die Kommentatoren konnten den Ablauf der Hunderttagefrist kaum erwarten. Ein Urteil war verheerender als das andere. Vielleicht steht die Auslandspresse weniger im Verdacht der Befangenheit. „Le Figaro“: „Die Anfänge Schröders waren chaotisch.“ Die „Neue Zürcher Zeitung“: „Ernüchterung und Durchwursteln.“ Im Londoner „Independent“ stand zu lesen: „Stellt euch eine rotgrüne Regierung vor, haben manche Witzbolde gesagt, angeführt von Schröder, Lafontaine, Fischer inklusive - ha, ha, ha; tja, jetzt ist es schon hundert Tage her, seit dieses ungleiche Trio die Regierung übernommen hat, und wir lachen noch immer“. - So der „Independent“. ({1}) Den meisten ist das Lachen inzwischen vergangen. ({2}) „Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert“ und „Aufbruch und Erneuerung“ hatte es geheißen. „Die Woche“ schrieb dieser Tage: „Manches ist schon zu Ende, bevor es richtig begonnen hat. Mancher, der sich eben noch am Beginn einer neuen politischen Ära wähnte, muß plötzlich feststellen, daß auch hundert Tage schon eine ganz schöne Strecke sein können.“ Das Presseecho: katastrophal. Das Urteil der Fachwelt: vernichtend. Die Wähler: enttäuscht und auf dem Absprung. Erst reden, dann denken, schließlich zurückrudern; große plakative Entwürfe mit der Solidität von Seifenblasen. In der Umsetzung hektische Schnellschüsse, unausgereift und mit schwersten handwerklichen Mängeln. Anschließend ein Rückzug auf Raten, neue Vorschläge, bis die Verwirrung komplett ist. Die „Frankfurter Rundschau“ - kein Unionsblatt schrieb: „In jedem Fall braucht man die neuen Minister nur ausreden zu lassen, um sie in Konflikt mit sich selber zu bringen.“ ({3}) Eine Mischung aus Substanzlosigkeit und Überheblichkeit hat Sie in zentralen politischen Handlungsfeldern gegen die Wand fahren lassen. Der Haushalt ist Ausdruck der Ratlosigkeit, die das rotgrüne Lager erfaßt hat. Vor Weihnachten haben Sie Wahlgeschenke verteilt, die Ihnen in Hessen nichts genützt haben. Herr Lafontaine, jetzt konfrontieren Sie uns mit der höchsten Ausgabensteigerung. Beinahe täglich präsentieren Sie neue Modelle, wie die selbstgerissenen Löcher gestopft werden sollen. Der Kollege Dreßler forderte laut „dpa“Meldung vom 19. Januar wörtlich: „Familien notfalls per Steuererhöhung entlasten“. - Das ist typisch für die Regierung. Herr Lafontaine, jetzt lesen wir Meldungen, nach der Wahl in Bremen werde die Mehrwertsteuer erhöht. Ich fordere Sie auf: Schaffen Sie jetzt und nicht erst nach der jeweils nächsten Wahl Klarheit! ({4}) Herr Kollege Wieczorek, herzlichen Glückwunsch! Sie hätten einen besseren Haushaltsentwurf zu Ihrem Festtag verdient. Das will ich Ihnen in Verbundenheit sagen. Der vorliegende Entwurf ist im Kabinett am 20. Januar verabschiedet worden. Aber Sie haben mit Ihrer Mehrheit eine Haushaltsdebatte vor der Hessen-Wahl mit dem Argument verhindert, der Haushalt sei noch nicht beratungsreif. Um Himmels willen! ({5}) - Entschuldigung, so ist es im Ältestenrat von den Vertretern der SPD mitgeteilt worden. Das ist kein Quatsch, sondern die Wahrheit. ({6}) Der Haushalt sei nicht beratungsreif, das war das Argument, mit dem eine Debatte vor der Hessen-Wahl verhindert worden ist. Jetzt frage ich Sie: Was für einen Haushalt haben Sie im Kabinett eigentlich verabschiedet? War es vielleicht nur der Sprechzettel für den Regierungssprecher? Was hat sich denn seit dem 20. Januar verändert? Ist der Haushalt jetzt beratungsreif, und warum war er es vor der Hessen-Wahl nicht? Ihre Purzelbäume in der Energiesteuerdebatte haben wenigstens noch die Karnevalisten erwärmt. Ein Modell zu vertreten, nach dem man im Zeichen des Energiesparens um so weniger Steuern bezahlen soll, je mehr Energie man verbraucht, oder nach dem man um so mehr von der Energiesteuer entlastet wird, je mehr man seine Personalkosten reduziert - auf deutsch heißt das ja Entlassung -, das ist, Herr Lafontaine, schon ein Stück aus dem Tollhaus. ({7}) Von Expertenseite wird Ihr Ökosteuerkonzept unisono mit Attributen wie „mißraten“, „mißglückt“, „gescheitert“ versehen. Aber dieser Bundesregierung gilt ja die Meinung von Experten nicht viel. Wie sonst soll man es verstehen, wenn am gleichen Tag, an dem die Experten im Ausschuß gehört wurden, das Gesetz im Ausschuß unverändert durchgepeitscht wurde? So wird doch jede Anhörung zur Farce. ({8}) Es gehört schon viel Frechheit dazu, etwas „ökologische Steuerreform“ zu nennen, was keinerlei ökologischen Lenkungseffekt, keinerlei Energieeinsparung, sondern lediglich Wachstumsverluste und eine Belastung des Wirtschaftsstandorts erwarten läßt, ganz zu schweigen von den sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber Rentnern, sozial Schwächeren, Familien mit Kindern und Berufspendlern, die sich steigende Strompreise, steigende Heizölpreise und steigende Benzinpreise nicht leisten können. ({9}) Sie hatten eine durchgreifende Neuordnung der 630DM-Jobs versprochen. Herausgekommen ist eine Reformpleite ohne Ende. ({10}) Der Bundeskanzler selber hat mindestens vier persönliche Modelle entwickelt; wahrscheinlich wissen Sie, Herr Schröder, im Moment auch nicht mehr, welches jetzt aktuell Gültigkeit haben soll. ({11}) Nach derzeitigem Stand soll jeder 630-DM-Jobber, der ein zusätzliches Einkommen bezieht - Rente, Unterhaltsleistungen oder Sparzinsen - grundsätzlich steuerpflichtig werden. Also bleibt die Ehegattin ohne eigenes Einkommen steuerfrei; die Alleinstehende, die Unterhalt bezieht, wird steuerpflichtig. ({12}) Das ist ein Programm voller Ungereimtheiten, ein Programm zur Förderung von Schwarzarbeit. ({13}) Niemand landauf, landab, keine Gewerkschaft und kein Wirtschaftsverband ist mehr bereit, dieses Vorhaben zu unterstützen. Aber das ist Ihnen egal: Noch haben Sie die Mehrheit im Bundesrat und handeln nach der Devise: Augen zu und durch. Eine große Steuerreform ist der deutschen Öffentlichkeit versprochen worden, die die Rahmenbedingungen für mehr Investitionen und Beschäftigung verbessern sollte. Das Urteil aller Experten ist verheerend. Sie selbst haben mit Ihren hektischen Nachbesserungen an fast jedem Tag und laufend neuen Ausnahmen und Korrekturen ja längst eingestanden, daß die ganze Aktion schiefgegangen ist. ({14}) Ich zitiere den Sachverständigenrat. Ich tue es, solange man es noch kann. Offensichtlich will die Regierung sachverständige Beratung nicht nur bei der Reaktorsicherheitskommission gleichschalten. Bevor sich der Finanzminister weiter daranmacht, durch Umbesetzungen mögliche Kritik von kompetenter Seite zum Schweigen zu bringen, lese ich das vor, was der Sachverständigenrat geschrieben hat: Die Einkommensbesteuerung umfassend zu reformieren, die Bürger spürbar zu entlasten und die öffentlichen Haushalte durch eine beherzte Konsolidierung auf Dauer wieder handlungsfähig zu machen - das sind die finanzpolitischen Projekte, die jetzt angegangen werden müssen … Gemessen an diesen Anforderungen greift die jetzt vorgelegte Steuerreformkonzeption zu kurz: Die Senkung der Steuersätze bleibt - vor allem im Bereich höherer Einkommen - zu zaghaft und ist für den Unternehmensbereich noch unsicher, die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage trifft besonders Unternehmen, die Nettoentlastung kommt zu spät und ist zu gering. Diese Einschätzung wird von der ganzen Fachwelt unisono geteilt. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft bestätigt, daß mit einer geplanten Steuerentlastung im Jahre 2002 von gerade einmal 0,3 Prozent des geschätzten Bruttoinlandsproduktes keinerlei Impulse für Wachstum und Beschäftigung verbunden sind. Nur eine wirkliche Konsolidierung der Staatsausgaben schafft Spielräume für eine echte Steuerentlastung. Ihr Steuerkonzept schafft nur in einer Hinsicht Klarheit: Die von Ihnen im Wahlkampf so heftig umworbene Neue Mitte wird nach der Wahl wieder zu dem, was sie für die SPD immer war und bleiben wird, nämlich die Gruppe der sogenannten Besserverdienenden, die es nach Belieben zu schröpfen gilt. ({15}) Der Mittelstand wird belastet, wodurch Arbeitsplätze vernichtet werden. Die Situation wird nicht dadurch besser, daß Herr Lafontaine sagt, dies sei so gewollt. Zu einer Konsolidierung des Haushalts durch Einschränkung der Ausgaben fehlen Ihnen die Kraft und der Mut. Statt dessen steigern Sie die Ausgaben um fast 7 Prozent. Das ist die höchste Steigerungsrate seit Jahrzehnten und dreimal soviel, wie der Finanzplanungsrat vorgegeben hat. Der vor der Wahl versprochene Sparkurs wird bereits durch den vorliegenden Haushalt Makulatur. In der Gesundheitspolitik jagt ein Dementi das andere. Erst hat man ein paar Wohltaten unter das Volk gestreut. Jetzt ist die Rationierung der Kassenleistungen angesagt. Herr Riester wollte erst die älteren Arbeitnehmer mit einem ebenso gigantischen wie unbezahlbaren Frühverrentungsprogramm erfreuen, das aber nun offenbar sangund klanglos in der Versenkung verschwindet. Dafür erschreckt er die Rentner mit der Botschaft, daß er für die jährliche Rentenanpassung nach dem Nettolohnprinzip nicht mehr geradestehen will. Rentenanpassung soll also bei der SPD künftig nur noch nach Kassenlage erfolgen. All diese Vorhaben werden nur so nebenbei verkündet. Ich hätte Sie einmal hören mögen, was Sie gesagt hätten, wenn wir so verfahren wären. ({16}) Ihnen war doch schon die Einführung des demographischen Faktors zuviel. Wir haben ihn eingeführt, um angesichts der steigenden Lebenserwartung die Belastung von Beitragszahlern und Leistungsempfängern behutsam neu zu justieren. Inzwischen sind Sie selbst zu der Einsicht gekommen, daß die Rentenversicherung ohne einen solchen Korrekturmechanismus nicht auskommen kann. ({17}) Ich bin für Nachdenken und finde es deshalb ärgerlich, daß Sie vor Jahresende wichtige Reformschritte rückgängig gemacht haben. Jetzt dämmert Ihnen allmählich, daß Sie genau die falsche Richtung nach dem Motto „Erst handeln, dann denken“ eingeschlagen haben. ({18}) „Halbstarke Politik“ hat Heribert Prantl Ihre Politik in der „Süddeutschen Zeitung“ genannt. Alleingänge in der Energiepolitik im Zeichen der Globalisierung und des zusammenwachsenden Europas müssen scheitern. Das gilt für die Energiebesteuerung, die im nationalen Alleingang Arbeitsplätze vernichten wird, wie auch für den Ausstieg aus der Kernenergie. Strom aus Tschernobyl zu beziehen und die sicheren Reaktoren in Deutschland abzuschalten ist doch eine infantile Rechthaberei statt verantwortlicher Politik. ({19}) Anglo-französische Schadenersatzansprüche für den Fall des Ausstiegs aus den Verträgen für die Wiederaufarbeitung werden mit dem Hinweis abgewehrt - so der Jurist Trittin -, Regierungshandeln sei höhere Gewalt. Höhere Gewalt bedeutet in der Rechtssprache ein unabwendbares Ereignis, meist eine Naturkatastrophe. Es ist schon beachtlich, wenn Herr Trittin rotgrüne Politik mit einer Naturkatastrophe gleichsetzt. Er muß es ja wissen. ({20}) Die Erfolge, Herr Bundeskanzler, die Ihrer Regierung noch gutgeschrieben werden - die Debatte um die Steuerreform in diesen Tagen belegt dies -, bestehen nur noch aus der Rücknahme eigener Vorhaben. ({21}) Aber aus dem Rotieren auf der Stelle wird noch keine Bewegung. Fast das Beste, was man von Mitgliedern Ihrer Regierung noch sagen kann, ist, daß sie bisher nicht weiter aufgefallen sind. Wer ist eigentlich für Wohnungsbau zuständig oder für Bildung und Forschung oder für Frauen und Familie? Der Kulturbeauftragte, für den man die Institution Parlamentarischer Staatssekretär so ändern mußte, daß man Parlamentarischer Staatssekretär auch sein kann, ohne Parlamentarier zu sein, Herr Naumann also, hat es immerhin geschafft, die Mahnmaldebatte so durcheinanderzubringen, daß nach zehn Jahren Diskussion ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben werden muß, ohne daß der alte schon beendet war. Und dann wird eine schnelle Entscheidung des Bundestages gefordert. ({22}) Jetzt hat der Kulturbeauftragte einmal den Engländern die Leviten gelesen. ({23}) Herr Bundeskanzler, das unsägliche Gerede dieses Mannes wird Ihnen zugerechnet, und es schadet uns Deutschen. ({24}) Auch der große Koordinator Hombach wird ziemlich entzaubert. Er beschäftigt sich mit der Finanzierung seines Eigenheims, angeblich auch in einer Arbeitsgruppe mit seinem in London gescheiterten Kollegen Mandelson. ({25}) - Ich habe in einem Magazin gelesen, er beschäftige sich damit stundenlang, begleitet von mehreren Anwälten. Auch die Arbeitsgruppe mit Herrn Mandelson ist doch gegründet, und Herr Steinmeier liest jetzt die Akten. Aber wenn Herr Steinmeier wenigstens die Akten liest, läßt das ein wenig hoffen, denn bisher hatten Sie offenbar kaum Ihren Koalitionsvertrag gelesen. Trittin hat recht, wenn er bei seinen Narreteien darauf verweist, den Koalitionsvertrag auf seiner Seite zu haben. ({26}) Den Bundeskanzler interessiert es nicht. Aber wer hat denn dieses Machwerk wenn schon nicht ausgehandelt, dann doch zumindest unterschrieben? Als Herr Fischer beispielsweise mit seinem Beitrag zur Nuklearstrategie des Atlantischen Bündnisses für Furore sorgte, merkte die SPD doch offenbar erst, daß sie genau das im Koalitionsvertrag unterschrieben hatte, was aus Fischers Mund zu Recht soviel Entsetzen hervorrief. Pleiten, Pech und Pannen, halbstarke Politik. ({27}) Es liegt nicht nur an der Mannschaft. Schließlich kocht bei Rotgrün der Chef. Alles ist zur Chefsache erklärt: „Bündnis für Arbeit“, Energiekonsens, Steuerreform, 630-DM-Jobs, Aufbau Ost, EU-Präsidentschaft. Wenn alles Chefsache ist, Herr Bundeskanzler, sind Sie auch verantwortlich für das Chaos, den Mist und das Durcheinander, das da entstanden ist. ({28}) Daß Sie in kurzer Zeit viele Fehler gemacht haben und an die Wand gefahren sind, haben Sie inzwischen selbst eingestanden: „Tempo zurücknehmen“, „mehr nachdenken“ oder wie die Formulierungen jetzt alle heißen. Von einem neuen Anfang ist gar die Rede. Aber das ist wirklich eine Drohung. Noch einmal so ein Anfang? ({29}) Natürlich macht, wer handelt, immer auch Fehler, und wer neu anfängt, hat auch Anspruch auf eine gewisse Toleranz, weil man hofft, es wird sich schon richten, was am Anfang so holprig ist und ächzt und knirscht. Aber Sie haben schon bleibende Schäden angerichtet. Die wirtschaftliche Lage und die Perspektiven für den Arbeitsmarkt verschlechtern sich von Monat zu Monat. Das ist eben nicht nur die Folge wirtschaftlicher Entwicklungen in Asien oder Südamerika, sondern das ist, wie die Bundesbank in ihrem jüngsten Monatsbericht bestätigt, auch Folge einer nachhaltigen Verunsicherung bei Investoren im In- und Ausland, die durch Ihre Steuer- und Abgabenpolitik ausgelöst wird. ({30}) Ein Drittel aller Investitionen sind zum Jahresende zurückgestellt worden, und viele prüfen, ob nicht mehr wirtschaftliche Aktivitäten, also Arbeitsplätze, ins Ausland verlagert werden müssen. Das ist der bleibende Schaden, den Sie verursacht haben. Das Vertrauen unserer Partner und Nachbarn in die Berechenbarkeit und Verläßlichkeit deutscher Politik ist beeinträchtigt. Das wird Ihnen im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft die Aufgabe, die Agenda 2000 zum Erfolg zu bringen, nicht erleichtern. Wer Vertrauen in die Verläßlichkeit deutscher Politik beschädigt, der handelt nicht im deutschen Interesse. ({31}) Die eigentliche Ursache des Desasters aber, das Sie in diesen 100 Tagen angerichtet haben, sind keine Anfängerfehler. Nein, Ursache sind fundamentale Meinungsunterschiede innerhalb der SPD, zwischen dem ideologischen und pragmatischen Flügel, und innerhalb von Rotgrün, zwischen Fundis und Realos - allenthalben Fraktionierung, Quoten, Grüppchen. Wenn es vielleicht noch als politische Bewegung im Zeitalter von „Infotainment“ amüsant sein mag, für verantwortliche Regierungspolitik taugt es nicht. Überspielt wird all das in Schröderscher Manier mit einem beispiellosen Mangel an Substanz. ({32}) Allen wohl und niemand weh - das klingt vernünftig und ist gewiß ein schönes Faschingsmotto. Aber gestaltende Politik muß entscheiden, und wer führen will, muß eine Vorstellung von der Richtung haben, in die er gehen will. Eine Vorstellung von dem Gelände, in dem man sich bewegt, gehört dazu, wenn man nicht dauernd stolpern will. Herr Schröder, Ihr Wahlkampf rächt sich, in dem Sie um der besseren Verkaufschancen willen auf die Klärung aller substantiellen Fragen bewußt verzichtet haben. Wer nur an die Macht kommen will, egal wie, der pfuscht hinterher, wie beim Koalitionsvertrag geschehen. ({33}) Wessen politisches Kredo sich darin erschöpft, Kanzler zu werden, der wirkt so erschöpft, wenn er es ist. ({34}) In der „Berliner Zeitung“ hat Brigitte Fehrle gestern einen Leitartikel unter der Überschrift „Kanzler Leichtfuß“ geschrieben. Man müßte ihn eigentlich ganz vorlesen. Ich lese einige Sätze daraus vor: Wenn der Bundeskanzler die Einschaltquoten der alles verulkenden und vereinfachenden Medien zum Maßstab für die Akzeptanz seiner Person und seiner Politik macht, hat er etwas mißverstanden. Schröder ist schon gewählt. Es reicht nicht mehr, den Anschein von Kompetenz zu erzeugen, sie muß jetzt bewiesen werden. Es mag altmodisch klingen, aber das Amt des Bundeskanzlers verlangt auch Würde. Das bedeutet nicht Unnahbarkeit, aber Ernsthaftigkeit. ({35}) Ein Kanzler darf Spaß haben, auch Spaß bringen, doch er darf sich nicht zur Ulknudel der Nation machen. ({36}) Die Ratlosigkeit, bei der Sie in Wahrheit angekommen sind, versuchen Sie mit Überheblichkeit zu überspielen. Wir brauchen die Opposition nicht, meinte Herr Struck. Ein wenig mehr, Herr Kollege, wird es schon sein müssen, wenn Sie an Herbert Wehner anknüpfen wollen. ({37}) Ich sage Ihnen: Sie müssen die Opposition ernst nehmen, weil sich in der pluralistischen, offenen, demokratischen Debatte jedes Vorhaben auch der parlamentarischen Mehrheit dem Für und Wider, dem Pro und Kontra stellen und sich darin behaupten muß. Augen zu und durch - das geht schief; das haben Sie gerade in Hessen erfahren. ({38}) Sie haben es offenbar noch immer nicht verstanden. Es geht nicht darum, im Bundesrat eine Mehrheit für irgendeine Form der regelmäßigen doppelten Staatsbürgerschaft zu finden. Es geht vielmehr darum, daß die übergroße Mehrheit der Bevölkerung und die Hälfte Ihrer Anhänger Ihr unreifes, provozierendes Vorhaben ablehnen. ({39}) Darüber kommen Sie nicht hinweg - auch nicht damit, daß Sie in der Woche vor der Landtagswahl verfassungswidrig mit Steuermillionen Werbung gemacht haben. ({40}) Sie haben übrigens auf die Verfassung und unsere Gesetze einen Eid geleistet. Der Zweck heiligt die Mittel allenfalls im Rahmen der Verfassung. Wenn Sie jetzt den armen Herrn Eichel, der am Wahlabend in der Niederlage eine anständige Figur machte, ({41}) zwingen, Ihren Steuerpfusch im Bundesrat mit einer abgewählten Mehrheit durchzusetzen, dann zeigt dies nur, daß Sie die Wählerschaft aus Ratlosigkeit und Überheblichkeit nicht hören wollen. ({42}) Aber Hochmut - das habe ich schon vor der HessenWahl gesagt - kommt vor dem Fall. Wetten daß, Herr Schröder? ({43}) Das Thema „doppelte Staatsangehörigkeit“ - Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen - zeigt die ganze Substanzlosigkeit Ihrer Politik. Die Integration der auf Dauer in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürger ist eine der wichtigsten und schwierigsten Zukunftsaufgaben. Eine Integration kann man nicht gegen die Bevölkerung erreichen, sondern nur mit ihr. Das ist das Problem. ({44}) Deshalb brauchen wir ein umfassendes und ausgewogenes Integrationskonzept, das die Bevölkerung überzeugt und keine Ängste hervorruft. Dazu haben Sie im Gegensatz zu uns überhaupt nichts vorgelegt, sondern lediglich einen Kotau vor Ihren ideologischen Fundamentalisten gemacht. ({45}) Dies war genauso in der Energiepolitik. Mit einer langfristigen Politik für Energiesicherheit, Umweltschutz und Arbeitsplätze hat Ihre Politik des Löcherstopfens durch Energieverteuerung und des nationalen Alleingangs im Bereich der Kernenergie nicht das geringste zu tun. Es ist ein Mangel an Substanz und Ernsthaftigkeit, der Ihre Politik kennzeichnet. Herr Lafontaine kämpft mit seinen antiquierten Vorstellungen von Nachfragesteuerung und Regulierung der Märkte gegen den Rest der Welt. Der Fundi-Flügel der Koalition treibt ideologische Sandkastenspiele, und Herr Schröder amüsiert sich. Daraus resultiert das eigentliche Fiasko. Sie diskreditieren jede Politik in Richtung Veränderung und Innovation in Deutschland. Stillstand und Besitzstandsverteidigung sind das Ergebnis Ihrer Politik. Das ist das eigentliche Fiasko. ({46}) Veränderungen in unserer gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit - wer wüßte das besser als wir, die wir 16 Jahre lang die Regierungsverantwortung getragen haben - sind schwer durchzusetzen. Wohlstand fördert weder Solidarität noch Veränderungsbereitschaft. Der öffentliche Gedächtnisschwund angesichts der Kurzatmigkeit medialer Diskussionsprozesse privilegiert eher Show statt Substanz. Wir können in einer Welt, die sich so rasant verändert, nicht stehenbleiben. Das gilt angesichts globaler Entwicklungen genauso wie im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen. Entfernungen schrumpfen, und Grenzen trennen nicht mehr angesichts der Fortschritte in den Kommunikationstechnologien. Das hat zur Folge, daß wir unsere globale Verantwortung so ernst nehmen müssen wie den Erhalt unserer Wettbewerbsfähigkeit. Das macht die nationalen Alleingänge in der Energiepolitik, und zwar von den Steuern bis zur Kernenergie, so hoffnungslos halbstark, unausgegoren und spätpubertär. ({47}) Deshalb sind Partnerschaftsfähigkeit, Verläßlichkeit, Vertrauen, Fortschritte in der europäischen Einigung unerläßlich für unsere Zukunft. Dieser Bundesregierung ist es in kürzester Zeit gelungen, das Vertrauen unserer europäischen Partner nachhaltig zu beschädigen. Das Ansehen, das sich Deutschland mit allen Kanzlern von Adenauer bis Kohl in Europa und in der Welt erworben hat, setzen Sie, Herr Bundeskanzler, mit Ihren rambohaften Sprüchen - wie in Saarbrücken - aufs Spiel. ({48}) Der Skandal, daß ausgerechnet dem deutschen Finanzminister der Euro-Start nicht wichtig genug war, um seinen Urlaub zu unterbrechen und sich nach Brüssel zu begeben, ist in Europa noch lange nicht vergessen, Herr Lafontaine. ({49}) Jetzt haben Sie offenbar den zuständigen EUKommissar von der Teilnahme am Treffen der Finanzminister der G 7 ausgeschlossen. So wie Sie das betreiben, wird in Europa nichts besser, sondern alles wird noch viel schwerer. Jetzt reden Sie noch den Euro schwach. ({50}) Was die notwendigen Fortschritte der europäischen Einigung anbelangt, so greift der Reformansatz der Agenda 2000 eher zu kurz. Wir brauchen mehr Subsidiarität in Europa, eine vernünftige Aufgabenteilung zwischen der europäischen, der nationalen und der regionalen Ebene. ({51}) Das haben wir seit vielen Jahren gesagt. Wir brauchen mehr Freiräume und weniger Bürokratie in Europa. Darauf, auf mehr Dezentralisierung, Aufgabenverlagerung, auf eine Strukturpolitik, die nicht alles über einen Leisten schlagen will, sollte sich die Bundesregierung konzentrieren, statt in eine überall längst überwundene Politik der Alleingänge und des nationalen Egoismus zurückzufallen. ({52}) Was wir in Europa brauchen, ist eine gemeinsame Politik, die dafür Sorge trägt, daß die Dinge, die nur gemeinsam in Europa bewältigt werden können, auch gemeinsam angegangen werden. Ich meine also die Wirtschafts- und Währungsunion, die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik und eine gemeinsame Innen- und Rechtspolitik. Wie dringend notwendig dieses gemeinsame Vorgehen in Europa ist, das haben uns auch die gewalttätigen Ausschreitungen der PKK überall in Europa vor Augen geführt. Im übrigen zeigen sich auch hier die Folgen der Verantwortungslosigkeit des deutschen Bundeskanzlers. Als Öcalan auf Grund eines deutschen Haftbefehls in Italien festgehalten wurde, sagte die Bundesregierung noch am Donnerstag abend der betreffenden Woche der Opposition, man wolle eine internationale Lösung, am besten mit türkischer Beteiligung. Am nächsten Morgen scherte das Herrn Schröder im Gespräch mit dem italieDr. Wolfgang Schäuble nischen Ministerpräsidenten einen Dreck: Nichts wie weg damit! - Jetzt haben wir den Salat. ({53}) - Ja, so hat man sich doch verhalten. Die Entscheidung des Bundeskanzlers, auf die Auslieferung eines Mannes zu verzichten, der auf Grund eines deutschen Haftbefehls festgehalten wurde, ist doch nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren ergangen, sondern sie ist nach Gutsherrenart getroffen worden. Das ist doch der Skandal. ({54}) Jetzt wird wieder von internationalen Aktionen, von Zusammenarbeit und von sonst etwas gesprochen. Aber warum sollten sich denn andere um die Kurden-Frage und Öcalan kümmern, wenn die Deutschen, die Herrn Öcalan schließlich wegen Mordverdachts zur Fahndung ausgeschrieben hatten, nichts damit zu tun haben wollten, weil es ja Ärger geben könnte? So wird die Staatengemeinschaft noch lange im Kampf gegen Terrorismus und Gewalt erfolglos bleiben. Das ist der Fehler des Bundeskanzlers. ({55}) Neben gemeinsamem Handeln auf Feldern, wo wir nur gemeinsam stark sein können, brauchen wir in Europa und in Deutschland eben auch mehr Wettbewerb und mehr Subsidiarität. Beide Grundsätze gehören zusammen. Angesichts der dramatischen Veränderungen in der Arbeitswelt, die durch das Zusammenwirken von technischem Fortschritt, weltweiter Arbeitsteilung und Mobilität - von Know-how bis zu Kapital - begründet wird, müssen wir nicht nur Steuer- und Abgabensysteme wettbewerbsfähig halten, sondern wir müssen auch unsere wirtschaftlichen, sozialen und vor allem unsere bürokratischen Strukturen wettbewerbsfähig halten. Wenn Innovationstempo und Anpassungsfähigkeit entscheidend sind - das sind heute die in der Weltwirtschaft entscheidenden Wettbewerbsgesichtspunkte -, dann sind dezentrale Lösungen dem Zentralismus immer überlegen. Deshalb brauchen wir keine europäischen Beschäftigungsprogramme, sondern wir brauchen mehr Freiräume für Wettbewerb, Ideen und Vielfalt in Europa und in Deutschland. ({56}) Noch einmal: Die Widerstände sind groß. Auch wir haben uns zeitweilig schwergetan. Aber seit Mitte der 90er Jahre sind wir wieder gut vorangekommen. Deshalb hatten wir 1998 steigende Wirtschaftskraft und Investitionen aus dem In- und Ausland. Wir hatten sinkende Arbeitslosigkeit und in den Ist-Zahlen gegenüber den Ansätzen im Bundeshaushalt einen Überschuß von 10 Milliarden DM. Nicht neue Löcher, Herr Lafontaine, wie Sie wahrheitswidrig behaupteten, haben Sie beim Kassensturz vorgefunden, sondern einen Überschuß von 10 Milliarden DM. ({57}) - Natürlich: einen Überschuß von 10 Milliarden DM. ({58}) Den Überschuß aus 1998 haben Sie flugs in das Haushaltsjahr 1999 transferiert, um Ihren unverantwortlichen Ausgabenanstieg so gerade noch im Rahmen der verfassungsrechtlich zulässigen Neuverschuldung zu halten anstatt daß Sie die bessere Finanzgrundlage für eine nachhaltige Nettosteuerentlastung zugunsten von Wachstum und Beschäftigung nutzen. ({59}) Der Erfolg unserer Reformen, die Sie zurückgenommen haben, waren steigende Wirtschaftskraft, steigende Investitionen, abnehmende Arbeitslosigkeit. Sie machen die erreichten Erfolge zunichte: ({60}) Erst haben Sie mit Ihrer Oppositionsstrategie im Bundesrat verzögert und blockiert, wo immer es ging, ohne Rücksicht auf die gesamtstaatliche Verantwortung. Dann haben Sie in einem Wahlkampf der billigen Versprechungen die schöne neue Welt ohne Anstrengungen versprochen. Nach Ihrem Wahlsieg haben Sie die Reformansätze zerstört und statt dessen das Geld mit vollen Händen ausgegeben. Jetzt, wo es endlich gilt, die Zahlen von Ausgaben und Einnahmen stimmig zu machen, stehen Sie mit leeren Händen da - ratlos, hilflos. ({61}) Mit dem rotgrünen Reformprojekt ist es wie mit des Kaisers neuen Kleidern: Wer genau hinsieht, findet nichts. ({62}) Wer auf den Pragmatiker hoffte, der bleibt genauso enttäuscht. „Schröders neue Mitte“, schrieb die „FAZ“ am 15. Februar, „ist der Ort des Alles und des Nichts.“ Dabei ist Mitte die Voraussetzung, um Bewahren und Erneuern in der rechten Weise zu verknüpfen. Aber Mitte ist eben kein Ort der Beliebigkeit, sondern Mitte heißt Orientierung, Verankerung, auch Mäßigung und Ausgleich. Nur aus der Mitte wächst Toleranz, Liberalität, Beständigkeit und Zukunftskraft. ({63}) Deshalb braucht Mitte Werte; denn: ohne Kompaß keine Richtung! Das ist die Mitte der Union, wo Werte Zukunft haben. ({64}) Niemals hatte eine Generation größere Chancen auf ein Leben in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und sozialer Stabilität als die unsere. Aber die Chance der Freiheit darf nicht durch Bürokratie und Verteilung, durch Überförderung und Unterforderung, Unüberschaubarkeit und Anonymität verdorben werden. Der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg, Huber, schreibt in seinem neuen Buch „Die Kirche in der Zeitenwende“: Das Projekt der Freiheit läßt sich nur fortsetzen, wenn die Menschen die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung aus Freiheit entwickeln. Ohne Werte geht das nicht. ({65}) - Können Sie die Zeitung ein bißchen leiser umblättern, Herr Fischer, wenn es schon sein muß? ({66}) Wem alles gleich ist, der ist zur vorrangigen Förderung von Ehe und Familie nicht in der Lage. Die Menschen brauchen Leitbilder des Zusammenlebens, auch und gerade junge Menschen, auch und gerade in Zeiten der Individualisierung und der Pluralität von Lebensstilen. Wer wie Sie nur auf kollektive Systeme setzt, der wird soziale Gerechtigkeit nie erreichen, ({67}) weil er den Schatz an menschlicher Fürsorge, an Wärme, an Solidarität ungenutzt läßt, ({68}) den Schatz, der in Mitmenschlichkeit, in der Verantwortlichkeit jedes einzelnen, in der Geborgenheit in der Familie, in Spontanität und Kreativität der kleinen Einheit, in Nähe, Vertrautheit und Einsatzbereitschaft steckt: vom Ehrenamt über die kommunale Selbstverwaltung bis zur landsmannschaftlichen Identität. Ihr Fehler ist, lieber auf Umverteilung und zentralistische Regelungen zu setzen als auf die Stärkung von Eigenverantwortung und Deregulierung. ({69}) Das unvermeidliche Ergebnis einer solchen Politik heißt dann: mehr Staat, mehr Bürokratie und damit auch mehr Steuern und mehr Abgaben. Kein Wunder, daß von rotgrünen Politikern ständig neue Steuererhöhungsvorschläge ins Spiel gebracht werden: Erhöhung der Mineralölsteuer, Wiedereinführung der Vermögensteuer, Abschaffung des Ehegattensplittings, Beibehaltung des Solidaritätszuschlags, Erhöhung der Mehrwertsteuer - die Phantasie kennt da keine Grenzen. Das schwächt die Kräfte, auf die es eigentlich ankommt: die Kräfte der Eigenverantwortung, der Subsidiarität, der freiwilligen Solidarität. ({70}) Eine moderne, innovative, freiheitliche Gesellschaft kann man nicht mit zentralisierter Bürokratie, mit Kartellen und Kollektiven organisieren. Ich zweifle, ob Sie das jemals begreifen werden. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist: Wir setzen auf freie Entfaltung dessen, was in den Menschen steckt. ({71}) Gerade die Leistungsbereiten, die Engagierten und die Motivierten dürfen nicht immer wieder entmutigt werden, sondern sollen ihre Entfaltungschance bekommen. Auch die Chance, sich am wirtschaftlichen Wettbewerb, am Wettbewerb der Ideen und der kreativen Leistungen zu beteiligen, gehört zur Teilhabegerechtigkeit, also die Chance, sich beruflich auf eigene Füße zu stellen, sich eine eigene Existenz aufzubauen, die Chance, als junger Ingenieur oder Naturwissenschaftler etwas zu entwikkeln oder weiterzugeben, was uns alle voranbringt. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist, daß wir davon überzeugt sind, daß die Menschen - jeder einzelne und alle miteinander -, wenn man sie nur läßt, wenn man die Rahmenbedingungen richtig gestaltet, zu viel mehr Leistung, zu viel mehr Solidarität, zu viel mehr Phantasie und Kreativität fähig sind, viel mehr schöpferische Kräfte entwickeln als jedes zentralistische, bürokratische System. ({72}) Deswegen muß man die Kräfte der Menschen wecken, die Menschen fordern und nicht unterfordern. Wir wünschen den Gesprächen, die Sie so anspruchsvoll „Bündnis für Arbeit“ nennen, allen Erfolg. Aber das Vertrauen in die großen kollektiven Einheiten im Kartell, die hinreichend innovationsfähig seien, teilen wir nicht. Die, die es eigentlich angeht, haben Sie außen vor gelassen: Der Mittelstand ist nicht vertreten, die Kommunen nicht, die Langzeitarbeitslosen nicht, die älteren Arbeitnehmer nicht, ({73}) die Sozialhilfeempfänger nicht, die Frauen nicht und die Familien nicht. ({74}) So wie Sie Ihr „Bündnis für Arbeit“ angelegt haben, mit einer Vielzahl von Arbeitsgruppen und Kränzchen, läuft das auf eine endlose Diskussion hinaus. „Ereignismanagement“ nennen Sie das - Show statt Substanz. Die Medienwirkung ist wichtig, nicht der Inhalt - Papier ist ja geduldig. Was wir aber brauchen, ist ein kohärentes, in sich stimmiges Konzept für mehr Beschäftigung. Das bedeutet mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und bei den Tarifverhandlungen, eine Lohnpolitik, die der Beschäftigung Vorrang gibt, nicht die gesetzliche Beschränkung von Überstunden, sondern die Schaffung flexibler Arbeitszeiten, Einführung von Arbeitszeitkonten, befristete Einstellung von Arbeitskräften, nicht die Installation von milliardenschweren Sofortprogrammen, um Jugendliche ohne Beschäftigung ruhigzustellen, ({75}) sondern die kritische Überprüfung des Bildungs- und Ausbildungssystems. ({76})) Das zeigt: Sie setzen nur darauf, Geld auszugeben. Daß man die Menschen in ihrer Verantwortung ansprechen muß, ist für Rotgrün und für die Linke ein zutiefst fremder Gedanke. Das ist das Problem. ({77}) Es reicht auch nicht aus, Ergebnisse zusammenzustricken, die lediglich darauf ausgerichtet sind, Arbeit umzuverteilen, statt mehr Beschäftigung zu schaffen, und - wenn alles nicht hilft - am Schluß die Statistik zu manipulieren. ({78}) Vorrang erhält der Zugang zu Beschäftigung. Wenn wir von Teilhabegerechtigkeit reden, dann muß Beschäftigung im Zentrum stehen. Es genügt eben nicht, Menschen lediglich materiell abzusichern, ohne ihnen die Chance zu einer Beschäftigung zu eröffnen. Wenn nicht für jeden ein Vollzeitarbeitsplatz zur Verfügung steht, dann lieber Teilzeitarbeit, Einfacharbeit oder Gemeinschaftsarbeit. Deshalb haben wir Vorschläge für Kombilohnmodelle, für eine integrierte Reform von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe sowie für die Schaffung eines Niedriglohnsektors auf den Weg gebracht. Wir arbeiten weiter daran. Wir wollen das Ziel „Arbeit für alle“ nicht aufgeben; das erreichen wir aber nicht mit noch mehr zentralistischer Bürokratie und nicht mit europäischen Beschäftigungsprogrammen, sondern mit Deregulierung, Flexibilität und Dezentralisierung. Der Arbeitsminister ist mit seinen Tariffonds ebenso gescheitert wie mit der unsinnigen Hektik bei den 630DM-Verträgen. Daß für die IG Metall bei den Tarifverhandlungen in Baden-Württemberg die Verhinderung ergebnisabhängiger Einmalzahlungen - ({79}) - Frau Rönsch, lassen Sie sich doch nicht - ({80}) - Verehrter Herr Kollege Schlauch, ich wollte meine Freundin Hannelore Rönsch gerade bitten, sich doch nicht von Flegeleien ärgern zu lassen. ({81}) Dann wollte ich Ihre Aufmerksamkeit für die Tatsache erbitten, ({82}) daß für die IG Metall bei den jüngsten Tarifverhandlungen die Verhinderung ergebnisabhängiger Einkommenskomponenten fast das wichtigste Ziel war. Ich finde, das läßt Böses ahnen. Wir setzen auf Vermögensbildung, Investivlohn, vielfältige Formen von Beteiligung und Teilhabe. Wenn Arbeit im Sinne von Teilhabe in der modernen Welt die wichtigste soziale Frage ist - ({83}) - Ich rede von der Frage - die scheint Sie, Herr Kollege, ja nicht mehr zu interessieren, auch von der Bundesregierung hört man nichts mehr dazu -, wie man die Arbeitslosigkeit bekämpfen kann. ({84}) Wenn und weil das die wichtigste Frage ist, brauchen wir mehr Differenzierung in der Lohn- und Einkommenspolitik und nicht weniger. Wir brauchen flexible Übergänge und Verzahnung von Transfer und Arbeitseinkommen. Arbeit und Leistung müssen sich für jeden lohnen, weil andernfalls bei noch so guten Sozialleistungen nur Abhängigkeit und Entmündigung die Folge sind. Dafür arbeiten wir, und bei Ihnen sind nicht einmal Spurenelemente davon erkennbar. ({85}) Die Ergebnisse des Schlichtungsverfahrens in der Metallindustrie von Nordwürttemberg/Nordbaden zeigen im übrigen, wie wenig Ihr Bündnis für Arbeit, Herr Bundeskanzler, bewirkt. Stimmt es übrigens, daß Sie diesen Schlichter ins Spiel gebracht haben? Mit diesem Schlichterspruch wird das Tarifvertragssystem seiner Aufgabe, für mehr Beschäftigung zu sorgen, nicht gerecht. ({86}) Wenn das „Bündnis für Arbeit“ Sinn machen soll, muß man darüber reden, was alle Verantwortlichen tun und lassen können, damit wir mehr Beschäftigung erreichen. Dieser Schlichterspruch bringt nicht mehr, sondern weniger Beschäftigung. Das muß in der Debatte über Beschäftigung gesagt werden. ({87}) Offensichtlich ist es doch so, daß in Zeiten der Globalisierung mit den hergebrachten Ritualen der Arbeitskämpfe kaum noch Waffengleichheit gegeben ist. Das war doch auch das Problem in der Metallindustrie. Deswegen sollte die Bundesregierung eher das gesetzliche Rahmenwerk für eine stärkere Beschäftigungsorientierung der Lohn- und Tarifpolitik überprüfen und zumindest im „Bündnis für Arbeit“ zur Vernunft rufen. Auf alle Fälle aber sollte die Bundesregierung nicht noch ständig zugunsten einer Seite in Arbeitskämpfen intervenieren ({88}) - ja, natürlich -: vom unsinnigen Gerede des Finanzministers, der die Gewerkschaften zum Schluck aus der Pulle förmlich gedrängt hat, über die Eingriffe in abgeschlossene Tarifverträge zur Lohnfortzahlung bis zu der Ankündigung, die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen wieder einschränken zu wollen. Das alles geht in die falsche Richtung, wenn wir mehr Beschäftigung wollen. ({89}) Nur mit mehr beschäftigungsorientierter Lohnpolitik, auch mit mehr branchen-, regional- und betriebsspezifischer Flexibilität und mit einer Steuer- und Abgabenpolitik, die durch Sparsamkeit auf der Ausgabenseite für dauerhafte Entlastung und damit für eine Verstärkung von Investitionen, Wachstum und Beschäftigung sorgt, und mit mehr Wettbewerb und Innovation werden wir die Beschäftigungsprobleme lösen. Bildung und Ausbildung sind die wichtigsten Zukunftsinvestitionen. In Ihrer Politik ist davon nichts erkennbar, allenfalls Phrasen. ({90}) Die zuständige Ministerin konzentriert ihre Bemühungen darauf, den Bundesländern in der Hochschulpolitik zu verbieten, in Organisation und Finanzierung der Hochschulen neue Wege zu gehen, als ob die alten Trampelpfade nicht schon wirklich ausgetreten wären. In der beruflichen Bildung halten Sie zwar den Knüppel der Ausbildungsabgabe und Bürokratie derzeit etwas verborgen, aber die Drohung mit diesem Unfug bleibt bestehen. Das 2-Milliarden-DM-Sofortprogramm für Ausbildungsplätze führt nach Auskunft der Arbeitsämter überwiegend dazu, daß Geld in Hülle und Fülle vorhanden ist, ausbildungswillige und -fähige junge Menschen in vielen wichtigen Zukunftsberufen aber eher Mangelware sind. Es führt kein Weg daran vorbei: Bildung und Ausbildung setzen auch die Leistungsbereitschaft der jungen Menschen voraus. Um sie stärker freizulegen, müssen Schulen und Hochschulen wieder differenzierter und weniger anonym ausbilden und erziehen. ({91}) Das heißt Ermunterung und Ermutigung statt Demotivierung und Frustration. Die junge Generation hat das übrigens längst begriffen, wie auch das Wahlergebnis in Hessen zeigt. Der Lack ist schneller ab, als die meisten dachten. ({92}) Das ist keine Frage der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, die im übrigen ambivalenter sind, als mancher Kommentator glaubt. Selbst wenn wir die Mehrheit im Bundesrat hätten - wir haben sie nicht -, würde die Union niemals die Blockadepolitik à la Lafontaine betreiben. Für uns kommt immer das Land vor der Partei. ({93}) Das kann ein Saarländer am besten bestätigen. Wir haben trotz unterschiedlicher parteipolitischer Verhältnisse immer für die Saarland-Hilfe gesorgt. Sie könnten ja gar nicht so schreien, wenn wir nicht mit Theo Waigel und Helmut Kohl dafür gesorgt hätten. ({94}) Bei uns wird eben nicht bestraft, wer anders wählt, wie das offenbar zum Prinzip Ihrer Kulturpolitik werden soll, wenn ich nur an die Ankündigungen zu den Bayreuther Festspielen denke. ({95}) Für uns behält der weitere Aufbau im Osten Vorrang. Das entspricht nationaler Solidarität und gesamtstaatlicher Verantwortung. In Ihrer Politik ist davon nichts zu finden. Ihr Beitrag zur Überwindung der Folgen von 40 Jahren Teilung und Sozialismus beschränkt sich bisher auf die Zusammenarbeit mit der PDS. Chefsache sollte die Angelegenheit der neuen Bundesländer werden. Mir schwante gleich nichts Gutes bei einem Regierungschef, dem als niedersächsischem Ministerpräsidenten jede Mark für den Aufbau im Osten zuviel war. Noch einmal: Die Mehrheit im Bundesrat ist nicht Ihr vorrangiges Problem. Im Bundestag haben Sie die Mehrheit, also regieren Sie! ({96}) Aber regieren Sie nicht gegen das Volk, das geht schief. Das hat Hessen gezeigt. ({97}) Das ist so, ob es Ihnen paßt oder nicht. Trotzige Rechthaberei nützt auch nichts. Sie kriegen kein anderes Volk, auch nicht mit dem Versuch, die doppelte Staatsangehörigkeit zur Regel zu machen und anstatt von Deutschen nur noch von Inländern zu reden. ({98}) Täuschen Sie sich nicht: Auch mit dem Wahlergebnis vom 27. September letzten Jahres ist der Wettbewerb um die bessere Idee und das bessere Argument nicht zu Ende. Wir stehen für Maß und Mitte, für Bewahren und Erneuern, für Eigenverantwortung und Solidarität, für Werte und Toleranz, für Freiheit, Recht und Sicherheit. So leisten wir unseren Beitrag zur Zukunftsgestaltung in der Opposition - als alternative Kritik und Kontrolle sowie in der Regierungsverantwortung, wo immer die Wähler uns dazu berufen. ({99}) Sie haben derzeit den Regierungsauftrag. Sie wollten nicht alles anders, aber vieles besser machen. Nun ist vieles schlechter geworden. Darüber hinaus sind Sie zerstritten, rat- und hilflos. Der vorgelegte HaushaltsentDr. Wolfgang Schäuble wurf ist der Ausdruck dessen. Die Entwicklung und Perspektiven für den Arbeitsmarkt sind Menetekel. Am Tage, als die letzten Arbeitsmarktzahlen verkündet worden sind, hat sich der bundesweite Protest der Arbeitsloseninitiativen gegen Ihre Regierung formiert, Herr Bundeskanzler. Noch hat es im Fernsehen weniger Aufmerksamkeit gefunden als zu unseren Zeiten. Das kennen wir schon. Aber ich sage Ihnen vorher: Es wird Monat für Monat so weitergehen, weil Sie Monat für Monat die Erwartungen enttäuschen. Lassen Sie ab von Ihrer Mischung aus Eitelkeit und Substanzlosigkeit! ({100}) Backen Sie notfalls kleinere Brötchen, aber lassen Sie sie nicht dauernd verbrennen. Vor allem: Kümmern Sie sich um das wirklich Wichtige, vor allem um bessere Rahmenbedingungen für Wachstum und für mehr Beschäftigung. Das haben Sie versprochen, daran werden Sie gemessen, und da haben Sie bis jetzt furchtbar versagt. ({101})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben von meinem Vorredner eine sehr lange Rede gehört. ({0}) Allerdings habe ich an keiner Stelle dieser Rede eine Alternative zu unserer Politik gehört. ({1}) Wo sind denn Ihre Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zur Steuergerechtigkeit oder für Perspektiven von Jugendlichen? Für eine Rede zum politischen Aschermittwoch sind Sie genau eine Woche zu spät gewesen. ({2}) Da war ein anderer viel schneller, verehrter Herr Kollege Vorsitzender, und der sitzt Ihnen heute auf der Bundesratsbank schon im Nacken. Polemisieren und polarisieren, das ist Ihre Art von Politik. Wir wollen das Gegenteil, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Wir wollen Menschen und Interessen zusammenführen. Deshalb haben wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit das „Bündnis für Arbeit“ geschaffen, und deswegen suchen wir in Konsensgesprächen nach Lösungen für die Energiewende. Wir wollen zu einem neuen Ausgleich kommen, der Gerechtigkeit schafft, Innovationen fördert und alle Menschen am gesellschaftlichen Leben und Wohlstand teilhaben läßt. Wir wollen die Menschen wieder motivieren, an der Gestaltung der Zukunft unseres Landes teilzunehmen. ({4}) Wir wollen das Land wieder ins Gleichgewicht bringen: sozial, wirtschaftlich und ökologisch. Die erste rotgrüne Koalition ist knapp vier Monate im Amt. Wir haben in dieser kurzen Zeit eine Menge geschafft - mehr als die alte Bundesregierung in vier Jahren, meine Damen und Herren. ({5}) Ich nenne Ihnen noch einmal die Stichworte; denn wer Gutes tut, der soll auch darüber reden. ({6}) An diesem Punkt, bei der Darstellung unserer Leistungen, haben wir allerdings ein Defizit. ({7}) Deshalb nenne ich das Gute noch einmal. Erhöhung des Kindergeldes und Senkung des Eingangssteuersatzes: ({8}) Das führt dazu, meine Damen und Herren, daß ein Arbeitnehmer, der 4 000 DM im Monat verdient und zwei Kinder hat, in diesem Jahr um zirka 1 100 DM entlastet wird. Dabei ist die Ökosteuer schon gegengerechnet. Die Wiederherstellung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Kündigungsschutz: ({9}) Damit ist wieder sichergestellt, daß Arbeiter im Krankheitsfall genau wie Manager und Angestellte 100 Prozent ihres Lohnes bekommen. Wegfall des Krankenhausnotopfers und Reduzierung der Zuzahlung bei Medikamenten: ({10}) Dadurch sparen Patienten im Vergleich zur alten Regelung bei jedem Medikament, das ihnen verschrieben wird. Aussetzung der Rentenkürzung: Das hat bereits zum 1. Juli 1999 eine höhere Rentenanpassung zur Folge, als es zu Ihren Regierungszeiten geplant war. ({11}) Das „Bündnis für Arbeit“ steht, und die Energiekonsensgespräche sind aufgenommen. Das ist schon etwas, meine Damen und Herren. Aber wir haben noch viel Arbeit vor uns, bis das aufgeräumt ist, was 16 Jahre lang schiefgelaufen ist. ({12}) Der Arbeit dieser Koalition fehlt nach vier Monaten noch die glatte Routine; aber das wird schon werden. Was wir dazu beitragen können, das werden wir tun. Die Menschen bewerten übrigens Regierungsarbeit nicht als Schönheitswettbewerb. Nur das Ergebnis zählt, und darauf können wir schon jetzt stolz sein. ({13}) Wir können für unseren ersten Haushalt sagen, daß unsere Überschrift stimmt: versprochen und Wort gehalten. ({14}) Es ist ein Haushalt für mehr Wachstum und Beschäftigung, der den Rahmen für neue Arbeitsplätze und für finanzpolitische Stabilität schafft. Es ist ein Haushalt, der deutliche Signale setzt: Solidität und Klarheit in den Finanzen, Deckel auf die Neuverschuldung, mehr Geld für Innovationen und Investitionen. Das ist der rote Faden, der unsere Politik bestimmt. ({15}) Wir fangen in diesem Haushalt damit an, ein gutes Stück Gleichgewicht zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Wagnis und Vorsorge, zwischen Ökonomie und Ökologie wiederherzustellen. Wir erhöhen die Investitionen für die Zukunft: für Forschung, Wissenschaft und Entwicklung. Dies ist ein Haushalt des Umlenkens. Er steht im Zusammenhang mit der umfangreichsten Steuerreform seit 1949. ({16}) Wir bringen sie auf den Weg. ({17}) Ihre wichtigsten Ziele sind die Entlastung der Arbeitnehmer und Familien sowie die Stärkung der mittelständischen Wirtschaft und ökologische Innovationen. Wir bleiben dabei: Nach der Senkung des Eingangssteuersatzes, der Anhebung des Grundfreibetrages und des Kindergeldes zum Jahresbeginn werden wir den zweiten Teil des Steuerentlastungsgesetzes im März dieses Jahres beschließen. ({18}) Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, was wir schon immer gesagt haben: Die Familien sind von CSU, CDU und F.D.P. sträflich vernachlässigt worden. ({19}) Es bedarf jetzt einer großen finanziellen Kraftanstrengung, um diese Fehlentwicklung zu korrigieren. Wir werden das tun, denn es geht um die Familien und die Kinder in unserer Gesellschaft. Wenn jetzt die Finanzpolitiker der Opposition mit Patentrezepten kommen, dann ist das einfach lächerlich. Es nimmt Ihnen keiner ab, in vier Monaten das Herz für Familien entdeckt zu haben. Sie haben 16 Jahre lang Politik an ihnen vorbei gemacht. ({20}) Nach der Sommerpause werden wir zur Korrektur der verfassungswidrigen Familienpolitik der Kohl-Regierung ein Familienentlastungsgesetz vorlegen. Noch etwas: Daß eine Steuerreform nie den Beifall von allen Seiten erhält, ist klar. Wir haben aber gezeigt, daß wir zwischen gruppenbezogenem Lobbyismus und wirklichen Benachteiligungen zu unterscheiden wissen. Gerade auch auf Initiative der Koalitionsfraktionen sind Bedenken der mittelständischen Wirtschaft aus dem Weg geräumt worden. Wir haben bei der Teilwertabschreibung die Vorstellungen großer Teile des Handels und des Mittelstandes aufgegriffen. Auch der Verlustrücktrag wird jetzt an den Interessen des Mittelstandes orientiert. Wir haben in diesen Bereichen Änderungen vorgenommen, denn sie sind wichtig im Hinblick auf die Entwicklung unserer Wirtschaft, gerade der mittelständischen Wirtschaft. Wir sind lernfähig. ({21}) Ihre Steuerpolitik hat in den letzten Jahren zu sehr das Prinzip der Steuergerechtigkeit verletzt. Wenn die, die wenig verdienen, immer mehr von der Steuerlast zu tragen haben, und die, die es könnten und müßten, die Möglichkeit haben und nutzen, Steuern zu vermeiden, dann entstehen auch eine Frage der Glaubwürdigkeit und eine große Lücke im Hinblick auf Steuergerechtigkeit. ({22}) Das erste Halbjahr 1999 ist von der deutschen EURatspräsidentschaft geprägt. In dieser Zeit wird über bedeutende Weichenstellungen zu entscheiden sein: die Reform und Neuordnung der Finanzen und der Gemeinschaftspolitik im Rahmen der Agenda 2000, die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen verfolgen mit Nachdruck eine Konsolidierung des EU-Haushaltes. Es geht um eine gerechtere Lastenverteilung, eine Reform der Ausgabenpolitik und um Haushaltsdisziplin. Ziel der Bundesregierung ist es aber auch, eine Reduzierung der unverDr. Peter Struck hältnismäßig hohen Nettozahlungen Deutschlands zu erreichen. Das unterstützen wir. ({23}) Die Konsolidierung der EU-Finanzgrundlagen ist dringend geboten. Der Sondergipfel der EU im März in Berlin wird ein Erfolg werden. Ein Fehlschlag würde der Stabilität und der Stärke des Euro einen erheblichen Schaden zufügen und Europa als Investitionsstandort und Kapitalmarkt belasten. Bei der Ausgabenpolitik geht es vor allem um eine Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, um die Landwirtschaft wettbewerbsfähig und WTO-konform zu machen. Es geht uns dabei um die Zukunftsfähigkeit unserer Landwirtschaft. Wir handeln europäisch, aber wir werden bei diesen Verhandlungen die Interessen Deutschlands nachdrücklich vertreten. Wir werden dabei fair gegenüber unseren Partnern bleiben; denn für nationalpopulistische Töne, wie sie aus der Union kommen, ist kein Platz. ({24}) Das, was Edmund Stoiber vollmundig und Herr Schäuble halbherzig in ihrem europapolitischen Positionspapier präsentieren, würde unser Land isolieren; es würde den Zusammenschluß und die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union sabotieren und liefe darauf hinaus, deutschen Interessen ernsthaft zu schaden und die dringend gebotene Osterweiterung der EU zu hintertreiben. ({25}) Ihre Forderung, eine Nettoentlastung zwischen 7,5 und 14 Milliarden DM durchzusetzen, ist angesichts der Interessenlagen bei den anderen Mitgliedstaaten und der vorgeschriebenen Einstimmigkeit bei der Beschlußfassung weder verhandelbar noch kompromißfähig. Sie ist einfach absurd. ({26}) Es geht Ihnen, die Sie eine solche Politik betreiben, überhaupt nicht um die Sache. Ihnen geht es darum, im Vorfeld der Europawahlen populistische Stimmung gegen Brüssel zu machen. Aus wahltaktischen Gründen soll antieuropäisches Klima erzeugt werden. Wir werden das zu verhindern wissen. ({27}) Wir werden morgen im Deutschen Bundestag eine Entscheidung zu treffen haben, die sich aus den Ergebnissen von Rambouillet ergibt. Ich höre, daß es in der Union Überlegungen gibt, dem Vorschlag der Bundesregierung nicht zuzustimmen. ({28}) Das wäre bezeichnend und ein schlimmes Zeichen. Sie werden die Verantwortung dafür haben. Nach den schrecklichen Greueln der Vergangenheit im Kosovo sind die Aussichten auf einen Friedensvertrag, die am Ende der Verhandlungen in Rambouillet erreicht worden sind, ein hoffnungsvolles Zeichen. Wir setzen darauf, daß die politische und militärische Entschlossenheit des Westens die Unterschriften beider Seiten am 15. März möglich machen wird. Um die Implementierung der Vereinbarungen sicherzustellen, kann auf eine von der NATO geführte Friedenstruppe nicht verzichtet werden. Die Bundesregierung hat zu Recht den unserer Verantwortung angemessenen Truppenteil in Aussicht gestellt. Wir werden morgen über diesen Antrag zu entscheiden haben. Wir wissen alle, daß dieser Einsatz der bisher gefährdungsträchtigste für unsere Soldaten sein wird. Wir schicken sie nicht leichtfertig, sondern um weiteres Blutvergießen und weitere Massaker zu verhindern. Der Balkan darf nicht zum Sprengsatz für Europa werden. ({29}) Ich bitte das Haus darum, dem Antrag eine breite Zustimmung zu geben, damit sich die Bundeswehr und die Soldaten der vollen politischen Unterstützung sicher sein können. ({30}) Wie in der Europapolitik gibt die CSU auch in der Einbürgerungsdebatte den Ton an, mit viel Blech und ohne jedes Piano. Dort sitzen die Strategen der gesellschaftlichen Polarisierung. Verschämt schauen manche Christdemokraten wie Herr Rühe, Frau Süssmuth oder Herr Blüm weg. Der CDU-Vorsitzende muß auch hier mitspielen; dirigieren darf er schon lange nicht mehr. ({31}) Die Union habe mit ihrer Unterschriftenaktion dem Volk aufs Maul geschaut, haben Sie beim politischen Aschermittwoch in Passau behauptet. Was sie wirklich getan hat, haben Vertreter der beiden christlichen Kirchen beim sozialpolitischen Aschermittwoch in Essen auf den Punkt gebracht: Mit dieser Aktion ist unser Volk emotionalisiert worden. Sie haben Ängste geschürt. Sie haben einen Ungeist aus der Flasche gelassen und keine Ahnung, wie Sie ihn wieder einfangen können. ({32}) Wir wissen allerdings: Viele, die unterschrieben haben, haben nicht das gewollt, was Sie daraus gemacht haben. Was von Ihrer Aktion zu halten ist, hat der hessische CDU-Politiker Michel Friedman, Mitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland, auf den Punkt gebracht. Er sagte: „Es ist doch der Gipfel der Heuchelei, wenn die CDU behauptet, diese Unterschriftenaktion im Interesse der Ausländer durchzuführen.“ ({33}) Es wäre kaum auszudenken, was passieren würde, wenn zwei Wellen - Ihre Unterschriftenaktion und die Gewalt der PKK-Anhänger - kumulieren würden: ein Dammbruch an Ausländerfeindlichkeit zum Schaden der übergroßen Mehrheit ausländischer Mitbürger, die hier in Frieden leben und arbeiten. ({34}) Die Union hat in der Einbürgerungsdebatte die Gesellschaft emotionalisiert und aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie hat unwidersprochen zugelassen, daß notorische, rechtsextreme Ausländerfeinde von NPD und DVU mit ihr paktieren. ({35}) Wir wollen das Thema Integration wieder zu einem Thema der Mitte der Gesellschaft machen; deshalb setzen wir auch in diesem Haus auf einen Pakt mit den Besonnenen. Draußen im Lande, in den gesellschaftlichen Gruppen, stehen die Gewerkschaften und Kirchen an unserer Seite. Ich schließe mich dem an, was der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, dazu gesagt hat: In unserem eigenen Interesse dürfen wir es nicht zulassen, daß ein erheblicher Teil unserer Bevölkerung auf Dauer von gleichberechtigter politischer Teilhabe ausgeschlossen wird. ({36}) Eine moderne, weltoffene Gesellschaft braucht auch ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht und keines aus den Zeiten von Kaiser Wilhelm. ({37}) Verbal sprechen auch Sie - sogar Herr Stoiber - von Integration. Aber was haben Sie denn in den letzten 16 Jahren getan? Die gespaltenen Gesellschaften, die in unseren Städten entstanden sind, sind doch die Folgen Ihrer Versäumnisse. Wer die Hand zum Mittun nicht reicht, der darf sich nicht wundern, wenn sich die anderen in ihre Gettos bis hin zur realen Gefahr eines Fundamentalismus zurückziehen. ({38}) Wer ausländische Jugendliche wie das fünfte Rad am Wagen behandelt, der produziert Gewalt und Aggressionen, nicht aber Verständnis und Mitverantwortung. Diesen Menschen wollen und müssen wir Teilhabe anbieten. Das ist unsere Pflicht, der wir nachkommen. ({39}) Aus der bisherigen Energiepolitik wollen wir nicht einfach irgendwo aussteigen; vielmehr wollen wir umsteigen - weg vom Risikoträger Atom, hin zu sicheren und umweltverträglichen Energieträgern, hin zu intelligenten Spartechniken, die den Energieverbrauch drastisch senken. Darin besteht das neue Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Ökologie, das unser Land braucht. ({40}) Wir wollen endlich den Einstieg in eine sparsame, effiziente und ökologisch sinnvolle Energieversorgung. Dazu gehört zuerst das Ende einer Energieversorgung, die große Mengen hochgiftigen Plutoniums produziert, eines Stoffes, der nach 24 000 Jahren gerade einmal die Hälfte seiner tödlichen Strahlung verloren hat und erst nach weit über 200 000 Jahren als ungefährlich gilt. Wir werden im nächsten Jahr 8 000 Tonnen hochradioaktiven Müll haben. Er bleibt um ein vielfaches länger hochgefährlich als der Zeitraum, den wir geschichtlich überhaupt erfassen können. Wir kippen diesen Müll unseren Nachkommen nicht vor die Tür und verurteilen sie nicht, die Giftbombe zu bewachen; vielmehr nehmen wir jetzt unsere Verantwortung wahr. Sie haben das immer verdrängt. ({41}) Ebenso geht es auch nicht, daß die Bundesländer im Süden, die Atomstrom produzieren und lauthals für ihn werben, die Beseitigung des Mülls dem Norden überlassen. Das Sankt-Florians-Prinzip der Bayern werden wir nicht akzeptieren, sehr verehrter Herr Ministerpräsident. ({42}) Wir wollen die Nutzung der Kernenergie in Deutschland Stück für Stück beenden. Jahreszahlen sind dabei weniger wichtig als die Tatsache, daß das Signal für den konsequenten Ausstieg und den Einstieg in eine neue, sichere und verantwortbare Energieversorgung gesetzt wurde. ({43}) Unser Signal ist: Das Ob des Ausstiegs ist entscheidend, er findet statt; das Wie und Wann werden wir sorgsam besprechen und in Ruhe klären. Das ist der richtige Weg zur Energiewende. ({44}) Ich sprach davon, daß das Gleichgewicht in unserem Land wiederhergestellt werden muß. Das gilt auch für die Förderung von Innovation, Forschung und Wissenschaft - mit einem Wort: für die Förderung von Investitionen in die Zukunft. Auch hier haben Sie die Aufgaben sträflich vernachlässigt und am falschen Ende gespart. Wir korrigieren das und legen zu. Schon jetzt, in diesem Haushalt, stellen wir die Weichen neu. Wir reden nicht bloß über Zukunft, sondern wir stocken die Mittel für Zukunftsinvestitionen im Haushalt um über 1 Milliarde DM auf. ({45}) Von den Haushalts-Einzelplänen für Forschung und Bildung und für Wirtschaft und Technologie kann auch eine Verbindungslinie zum Zukunftsthema Energie gezogen werden: Wir schaffen mit dem 100 000-DächerProgramm für Solarenergie neue Ansätze für eine sichere und umweltfreundliche Energieversorgung. Das stärkt auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen in diesem Zukunftsmarkt. ({46}) Unsere Programme zur Stärkung der Innovationsfähigkeit vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen sind zukunftsorientiert, denn nur durch eine konsequente Modernisierung kann sich Deutschland im weltweiten Wettbewerb behaupten. Was der Staat dabei tun kann, wird er tun. Dafür werden wir sorgen. Wir setzen auf eine Politik des Zusammenführens, des Ausgleichs und der Integration. Wir wollen Blockaden auflösen, Menschen aus verschiedenen Interessengruppen an einen Tisch bringen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Wir wollen das Land wieder ins Gleichgewicht bringen. Dieses Vorhaben hat Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Beschäftigung“ angestoßen. ({47}) Bei der Bewertung dieses „Bündnisses für Arbeit“ kann ich die Bemerkung meines Vorredners gut verstehen, mit der er dieses herabsetzen und herunterreden möchte; denn es war doch Ihr schwerster Fehler in der vergangenen Legislaturperiode, daß Sie 1996 diesen Versuch haben platzen lassen, weil Sie sich einseitig auf die Seite der Arbeitgeber gestellt haben. ({48}) Wer wie der sächsische Ministerpräsident die Suche nach Konsens als Nonsens abtut, bekommt die Realitäten rings um sich herum schlichtweg nicht mehr mit. Ein Blick zu den Nachbarn, zu den Niederlanden, nach Irland oder Schweden, zeigt: Die positive Beschäftigungsbilanz dort ist maßgeblich das Ergebnis von Dreiecksgesprächen zwischen Regierung, Gewerkschaften und Vertretern der Arbeitgeber. Genau dieses wollen auch wir in Deutschland tun. ({49}) Die Alternative zu Konsens und Reform sind Stagnation und Lethargie. Davon hatten wir in den letzten 16 Jahren nun wahrlich mehr als genug. ({50}) Die Stagnation muß überwunden werden. Ich begrüße es ausdrücklich, daß sich Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt vor der morgigen zweiten Gesprächsrunde engagiert zu der Bündnisrunde bekannt hat. Das ist eine erfreuliche Wendung, die im Herbst jedenfalls so nicht vorauszusehen war. Ich begrüße es genauso, daß die Gewerkschaften zum Bündnis stehen. Deshalb bin ich zuversichtlich, daß das Bündnis ein Erfolg wird und daß Vernunft und Verantwortung vor Egoismus gehen. Dann mögen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, gefälligst in Ihrer Motzecke bleiben. ({51}) Schon nach den ersten Wochen hat sich das ZweiMilliarden-Sofortprogramm als eine echte Chance für arbeitslose Jugendliche gezeigt. ({52}) Bereits jetzt haben die Arbeitsämter 64 000 Jugendlichen konkrete Angebote gemacht. Dieses Tempo, mit dem hier gearbeitet wird, unterstreicht, wozu die Arbeitsverwaltung in der Lage ist. Voraussetzung ist allerdings, daß die Politik ihr den Raum zu einer aktiven Beschäftigungsförderung läßt, statt ihr nur die passive Verwaltung der Arbeitslosigkeit zu übertragen. ({53}) Wer dieses Handeln, so wie mein Vorredner, als Ruhigstellen bezeichnet, ({54}) versündigt sich an allen jungen Männern und Frauen, die durch dieses Programm eine Chance bekommen. Sie sollten sich dafür schämen! ({55}) Mehr Arbeit schaffen, das Krebsübel Arbeitslosigkeit bekämpfen - das ist nicht nur der Lackmustest für die Regierung, die mit diesem Ziel angetreten ist, sondern das ist auch ein Zeichen für die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Jeder in unserer Gesellschaft kann seinen Teil dazu beitragen. Wir werden dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Wir werden Reformen erarbeiten, die fair gegenüber allen sind, die die Leistungen erbringen müssen, und die fair gegenüber denen sind, die auf Leistungen angewiesen sind. Das „Bündnis für Arbeit“ ist das Symbol einer auf Dialog und Konsens ausgerichteten Neuorientierung der Politik. Es ist aber nicht das einzige Beispiel. Wir werden die Betroffenen in allen Bereichen besser an den Entscheidungsfindungen beteiligen. Wir, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, haben vereinbart, uns auch auf Bundesebene für Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide stark zu machen. Wir nehmen die Menschen ernst; wir wollen mehr Mitbestimmung der Bürger am Arbeitsplatz, im Umweltrecht und im Datenschutz. Wir stehen für eine Politik, die die Menschen mitnimmt und die nicht über ihre Köpfe hinweg entscheidet. ({56}) Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden dem Land ein neues GleichgeDr. Peter Struck wicht geben, das wir mit dem „Bündnis für Arbeit“, mit der Erneuerung des Sozialstaates, mit einer Offensive für Innovationen und mit einer ökologischen Modernisierung erreichen werden. Wir werden diesen Weg unbeirrt fortsetzen. ({57})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die F.D.P.Fraktion hat der Kollege Wolfgang Gerhardt das Wort.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die Presse in der letzten Zeit aufmerksam verfolgt hat - also nicht nur während der ersten hundert Tage der Regierung -, der braucht nicht gläubiges Mitglied in einer der Oppositionsparteien zu sein, um klar sagen zu können: Der Start war miserabel. Die Regierung hat nie deutlich machen können, was sie eigentlich will; sie hat bisher nur deutlich gemacht, was sie nicht will. Das geht in die falsche Richtung los. Das gibt mehr Arbeitslose, das kostet Deutschland Zeit und die junge Generation die Zukunft. ({0}) Die Bundesregierung hat bisher gesagt, Herr Kollege Struck, sie wolle keine Kürzungen im Sozialbereich, sie wolle keine Einschnitte im Gesundheitswesen, sie wolle keine Flexibilisierung am Arbeitsmarkt und sie wolle keine Rentenreform, wie von der alten Koalition beschlossen. Aber allmählich dämmert es Herrn Riester, daß das kein Konzept für die Zukunft sein kann. Sie werden eine Flexibilisierung am Arbeitsmarkt brauchen, Sie werden eine Rentenreform machen müssen, Sie müssen Wahlmöglichkeiten im Gesundheitswesen schaffen, Sie müssen deregulieren und flexibilisieren, und Sie müssen eine Steuerreform mit deutlichen Steuersenkungen vorlegen, weil Sie sonst keine ökonomische Stabilität in Deutschland schaffen. ({1}) Ob es noch einige Tage dauert, bis Sie sich zu diesen Erkenntnissen durchringen, mag dahingestellt bleiben. Die Unglaubwürdigkeit Ihrer kompletten Wahlaussage steht Ihnen schon heute auf die Stirn geschrieben, weil Sie nichts von dem halten können, was Sie den Menschen versprochen haben. Sie haben die „Neue Mitte“ gröblich enttäuscht. Ihre Steuerreform richtet sich genau auf die als Zielscheibe, die Sie im Wahlkampf als Ihre Zielgruppe ausgemacht haben. ({2}) Das ist nicht nur ein Thema des Neigungsökonomen aus dem Saarland, Herr Bundeskanzler, sondern das ist auch Ihr Thema. Sie haben der „Neuen Mitte“ im Wahlkampf Jost Stollmann vorgezeigt. Er hat dann, als er die Koalitionsvereinbarungen gesehen hat, einen Rückzieher gemacht. Nun betreiben Sie eine Politik, die glatter Wählerbetrug an der von Ihnen ausgerufenen „Neuen Mitte“ ist. Das ist der Sachverhalt in der Bundesrepublik Deutschland. ({3}) Für Sie gelten die schlichten Grundrechenarten wie für mich auch. Wenn Sie die Rente auf dem jetzigen Niveau halten wollen, müssen Sie entweder Steuern oder Beiträge erhöhen. Dies hat Herrn Riester in den letzten Tagen gedämmert. Aber den Wahlkampf haben Sie mit den übelsten Vorwürfen, auch gegen meine Partei, die F.D.P., geführt: Wir seien drauf und dran, den Rentnern ans Portemonnaie zu gehen. Wir waren drauf und dran, eine neue Fairneß zwischen den Generationen in Deutschland herzustellen, die Sie mutwillig zerstört haben. ({4}) Sie haben im Wahlkampf angekündigt, daß es im Gesundheitswesen keine Zuzahlungen mehr geben solle. Nachdem Sie die Regierungsverantwortung übernommen hatten, haben Sie festgestellt, daß Sie diese Wahlkampfzusage nicht halten können. Dann haben Sie eine minimale Absenkung der Beiträge, je nach Packungsgröße um 1, 2 oder 3 DM, vorgenommen und die Wahlmöglichkeiten in den Krankenversicherungssystemen beseitigt. Wenn Sie den Kostensteigerungen so begegnen wollen, ist das ungefähr so, als wenn Sie drei Kanonenkugeln in einen Kochtopf legen, den Deckel draufhalten und warten, bis es knallt. Die Kostensteigerungen im Gesundheitssystem kommen, entweder über weitere Mehrwertsteuererhöhungen, Zuzahlungen, oder Sie müssen die Beiträge erhöhen. ({5}) Sie mogeln sich jetzt vielleicht noch durch einige Landtagswahlen. Aber für die zweite Hälfte dieses Jahres sage ich voraus, daß Sie vor deutlichen Beitragsoder Steuererhöhungen stehen und dies sagen müssen, weil zwei mal zwei in Deutschland vier bleibt, auch wenn Schröder regiert. Das müssen wir ganz deutlich machen. ({6}) Ich muß jetzt, bevor ich mich äußere, erst einmal fragen: Gibt es einen neuen Stand bei den 630-DMVerträgen seit gestern? ({7}) Ich muß ja neue Mitarbeiter beschäftigen, damit alle Wasserstandsmeldungen entgegengenommen werden können! ({8}) Wenn es noch der Stand von gestern ist, dann möchte ich Sie auffordern, mir, wenn Sie nachher reden, zu erklären, was es sozialpolitisch für einen Sinn macht, die Ehefrau eines gutverdienenden Ehemannes nicht zur Zahlungspflicht zu veranlassen, wohl aber die alleinerDr. Peter Struck ziehende Mutter, die einen Job hat und sich etwas dazuverdient. ({9}) Wenn das sozialpolitisch für mich überzeugend begründet werden kann, dann spende ich Ihnen einen namhaften Betrag. ({10}) Das wird niemand können. Nirgendwo zeigt sich besser als an diesem Beispiel, daß die Sozialpolitik der SPD erstarrt, reguliert, kollektiv, einheitlich ist. Sie haben keine andere sozialpolitische Antwort in Deutschland als große Systeme: kollektiv abbuchen, kollektiv zuteilen. Das aber ist nicht die Sozialpolitik der Zukunft. Dies wird an diesem kleinen Beispiel, den 630-DM-Verträgen, auf die Hunderttausende von Menschen angewiesen sind, ganz deutlich. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, vorher nicht Ministerpräsident gewesen wären, wenn Sie keine politische Erfahrung gehabt hätten, wenn Sie nicht wie auch der Finanzminister die Haushalte gekannt hätten, dann könnte man noch sagen: Na ja, der Mann muß sich in diesem Amt erst einmal informieren. Sie aber wußten, was 630-DM-Verträge sind, und kannten die Situation bei der Rente. Sie kannten die Finanzierungsprobleme im deutschen Gesundheitswesen. Sie kannten den Attentismus in der Wirtschaft und wußten, daß eine Steuerreform notwendig ist. Sie sind doch nicht in dieses Amt gewählt worden, um darin erst ausgebildet zu werden. Sie mußten vorher wissen, um was es in der Bundesrepublik Deutschland geht. ({11}) Deshalb können Sie nicht von einem Tag auf den anderen die 630-DM-Verträge abzuhandeln versuchen und dann immer neue Versionen in die Welt setzen. Es gibt einige Millionen Menschen, die auf diese Einkommen dringend angewiesen sind. Wir sind ihre Partner. Sie sind ihre Gegner; Sie beeinträchtigen ihre Chancen. ({12}) Herr Kollege Struck, es kann doch niemand mehr behaupten, daß die Ökosteuer irgend etwas mit Ökologie zu tun habe. Sie haben vorhin gesagt, Sie machten die größte Steuerreform seit 1945. Sie betreiben das größte Abkassieren der Bürger Deutschlands seit 1945. ({13}) Ich sage Ihnen, wo Sie abkassieren. Sie kassieren auch bei denen ab, die Sie im Wahlkampf als Ihre Schützlinge ausgegeben haben: Rentner und Arbeitslose sind die Leidtragenden der Ökosteuer. Sie bezahlen dies. Sie haben nur die vage Zusage, sie würden im Jahr 2002 steuerlich um 15 Milliarden DM entlastet, müssen aber vorher deutlich mehr als 15 Milliarden DM an den Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland zahlen. Die Entlastungszusage von 15 Milliarden DM durch die Steuerreform ist ein Wählerbetrug. Das ist eine Politik, die weder etwas mit sozial noch mit ökologisch, noch mit gerecht, noch mit solidarisch, noch mit menschlich zu tun hat. Das ist die Politik, von der die deutsche Sozialdemokratie als konservativste Truppe in Europa glaubt, daß sie damit die Bundesrepublik Deutschland beglücken wird. Sie beglückt unser Land nicht, sie wirft es um Jahre zurück. Das zeigen Ihnen auch die öffentlichen Reaktionen. ({14}) Nehmen Sie nur die Innenpolitik, Herr Kollege Struck. ({15}) Was habe ich dazu noch vor einigen Wochen von Ihnen gehört? Wir brauchen die Opposition nicht, haben Sie gesagt, wir haben allein die Mehrheit. Ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie nun zu anderen Erkenntnissen kommen mußten. Freiwillig aber ist dies nicht geschehen. Herr Schlauch, da ich Sie sitzen sehe, sage ich Ihnen: Klären Sie einmal in Ihrer Bundestagsfraktion ab, daß, wenn die Sozialdemokratische Partei auf unser Optionsmodell zugeht, die Koalition in der Abstimmung zusammenbleibt. Sie werden nicht umhinkommen, von Ihrem Modell der Staatsangehörigkeit Abschied zu nehmen. Wenn Sie wie wir anfangen, an die Kinder zu denken und die doppelte Staatsangehörigkeit nicht als Regelfall sehen, führt kein Weg an der Gesetzesinitiative des Landes Rheinland-Pfalz und an dem Gesetzesvorschlag der F.D.P.-Bundestagsfraktion vorbei, ({16}) und zwar aus folgendem Grund: Es kommt nicht nur darauf an, zum Staatsangehörigkeitsrecht einen vernünftigen Vorschlag zu machen, sondern auch darauf, daß es gesellschaftlich verankert wird, daß es also die Gesellschaft akzeptiert. Das ist es, was Sie sträflichst vernachlässigt haben. ({17}) Uns hilft doch die hehre Absicht nichts, wenn Sie ein neues Staatsangehörigkeitsrecht vorlegen, das in Ihren eigenen Reihen umstritten ist, auf Grund dessen Ihnen die eigenen Wähler davonlaufen und das von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Das nutzt weder Ausländern noch der deutschen Bevölkerung. Deshalb müssen wir uns jetzt entscheiden. Vor allem Sie müssen sich entscheiden. Gehen Sie von Ihren Vorstellungen weg in Richtung einer Modifizierung! Es entscheidet nicht die Höhe des Wahlergebnisses, verehrte Kolleginnen und Kollegen, es entscheidet die Qualität des Vorschlags. Und wir haben den qualitativ besten Vorschlag dazu gemacht. (Beifall bei der F.D.P.] In der Innenpolitik können Sie sich ansonsten auf ein recht moderates Vorgehen berufen. Aber in dem Bereich, in dem Kontinuität am meisten erforderlich ist, und zwar in der deutschen Außen- und Europapolitik, haben Sie einen Scherbenhaufen angerichtet, der seinesgleichen sucht. Es reicht doch nicht, daß der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland in Person, in Kleidung, in Manieren und in Art und Weise Kontinuität symbolisiert. Während des halben Jahres der deutschen Ratspräsidentschaft hat Herr Trittin durch sein überhebliches Auftreten, besonders in unserem Nachbarland Frankreich, so viel Porzellan zerschlagen, daß Sie alle Ihre Kräfte mobilisieren müssen, um die Ratspräsidentschaft einigermaßen zum Erfolg zu führen. ({18}) In der gleichen Zeit hat der Bundesfinanzminister, der ja glaubt, die Weisheit in dieser Welt gepachtet zu haben, seinen Kollegen unendlich lange Volkshochschulvorträge gehalten, die sie nahezu ermüdet haben und die auf dem Petersberg dazu geführt haben, daß der amerikanische Finanzminister endlich einmal gefragt hat: Glaubt ihr denn, am deutschen Wesen des sozialdemokratischen Finanzministers könnte die Welt genesen? Die glatte Bauchlandung in seiner Zielzone, das Herummäkeln an der Unabhängigkeit der Bundesbank und das Herummäkeln an der Europäischen Zentralbank, das bringt doch unsere Nachbarländer geradezu in Verwirrung. Die Europapolitik beinhaltet doch derzeit: Give me my money back, keine schnelle Osterweiterung, Wechselkurszielzonen, ein bißchen Herumkritisieren an der EZB - das ist eine ganz neue deutsche Art - und ansonsten die Erwartung, daß wir von allen profitieren und daß das alles gut läuft. Es gab noch keine deutsche Bundesregierung, die eine so wenig ambitionierte Europapolitik gemacht hat wie die unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({19}) Ich will Ihnen das an einem Punkt, der für meine Partei wichtig ist, ganz emotional vorhalten. ({20}) Ich weiß, daß Sie, Herr Bundeskanzler, Herr Schlauch, Herr Fischer und übrigens auch Herr Lafontaine, mit der deutschen Wiedervereinigung Probleme hatten. Man kann Ihnen Ihre entsprechenden Aussagen vorhalten, die damals von Ihnen zitierfähig vorgebracht wurden. Aber daß ausgerechnet Sie als Bundeskanzler und als Bundesaußenminister die Länder vertrösten, die die Wiedervereinigung Deutschlands befördert haben, dafür sollten Sie sich schämen. Das halten wir für unerträglich. ({21}) Sie vernachlässigen mit Ihrer Europapolitik ein Konstituens deutscher Politik, das genau zu den Grundsäulen der Bundesrepublik Deutschland geführt hat, die uns aus der größten Katastrophe der deutschen Geschichte herausgeführt haben. Vergessen Sie jetzt meine kritischen Einwände zu den 630-DM-Verträgen, zu Ihren dilettantischen Versuchen, die Rente doch noch zu reformieren, und zu Ihren Versuchen - die Sie wahrscheinlich im Herbst machen werden - zurückgenommene Reformen doch wieder einigermaßen nach vorne zu bringen. Das mag unseren innenpolitischen Streitigkeiten unterliegen. Aber die Unverläßlichkeit, die Sprunghaftigkeit und die unhistorische Dimension Ihrer Europapolitik sind es, die unsere Nachbarn bestürzen und mich besorgt machen. Ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, hier auch vertreten durch den Sprecher der SPDFraktion, mag - mit kleiner innenpolitischer Münze mit uns einen Schlagabtausch über das führen, was wir früher gemacht oder nicht gemacht haben und was Sie jetzt machen wollen, aber noch nicht gemacht haben. Aber im Kernpunkt der deutschen Außen-, Sicherheitsund Europapolitik zieht die Opposition nicht nur das Florett. Für den Fall, daß Sie Ihre Politik so fortsetzen, indem Sie keine Ambitionen auf die Osterweiterung haben, nur mit der nationalen Karte - das heißt mit der Forderung nach Rückgabe von zuviel gezahltem Geld und dem Vorwurf an Herrn Stoiber, er ziehe die nationale Karte, obwohl Sie sie dauernd ziehen - arbeiten und unseren Nachbarn sagen, man wolle aus der Kernenergie aussteigen, völkerrechtliche Verträge bzw. Euratom interessierten uns einen Dreck, Entschädigungszahlungen würden nicht geleistet, aber ansonsten wolle man alles so haben, daß es deutschen Interessen diene, sage ich Ihnen voraus, daß Sie am Ende mit leeren Händen dastehen werden. Es ist nicht nur eine nationale Frage, ob Sie mit leeren Händen dastehen werden. Sie werden am Ende der Ratspräsidentschaft internationales Vertrauen zerstört haben, und das kann uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht gleichgültig sein. ({22}) Die Bildungsministerin - das haben Sie im Wahlkampf doch auch angekündigt - hat der jungen Generation erklärt: Wir sind eure Vertreter; wir sind für ein Verbot von Studiengebühren; wir verdoppeln den Bildungsetat. Es war gestern schon Gegenstand der Aussprache, daß die Sozialdemokraten mit den Grundrechenarten ihre Schwierigkeiten haben. Auch wenn Sie es noch so sehr umrechnen: 1 Milliarde DM stellt in diesem Jahr keine Verdoppelung dar; wenn Sie bei den Steigerungsraten bleiben, ist das auch in vier Jahren keine Verdoppelung. Mich interessiert nicht nur das, mich interessiert die Glaubwürdigkeit Ihrer Aussage - Sie waren Ministerpräsident in Niedersachsen -, für ein Verbot von Studiengebühren eintreten zu wollen. In Ihrem Land ist eine Art von Studiengebühren eingeführt worden; ob man sie „Verwaltungskosten“ nennen kann, mag dahingestellt bleiben. Der Gesetzentwurf zum Verbot von Studiengebühren, den Sie der jungen Generation versprochen haben - das war aus meiner Sicht völlig falsch -, wird nicht eingebracht. Ihre Bundesbildungsministerin ringt um ein Verwaltungsabkommen. Das hätten Sie schon in der letzten Legislaturperiode haben können; das war der Vorschlag von CDU/CSU und F.D.P. im Vermittlungsausschuß. Das zeigt aber die Struktur Ihres Denkens. Sie wollen - so denken Sie - alles flächendeckend, einheitlich und kollektiv in Deutschland regeln. ({23}) Warum überlassen Sie den Hochschulen nicht die Entscheidung über ihre Finanzierung? Sie könnten sich doch dann ruhig zurücklehnen, wenn alle so denken wie Sie: Dann werden doch die Studenten diese teuren Lehranstalten verlassen und zu den kostenfreien der SPD gehen. Nur, ich sage Ihnen: Sie haben keine junge Generation vom Schlage der 68er vor sich. Diese Generation legt Wert auf die Qualität des Angebots; sie ist eher bereit, Gebühren zu zahlen, wenn sie dafür zeitig zum Abschluß geführt wird. ({24}) Deshalb ist Ihr Denken so falsch. Da Sie immer nach den Alternativen fragen, nenne ich Ihnen sie auch: Vielfalt, Wettbewerb, kürzere Studienzeiten, Autonomie der Hochschulen, Grundhaushalt, Eigenmittelwerbung, Drittmittel, eigene Finanzierungsvorstellungen. Wir sind gegen staatlich regulierte, vom öffentlichen Dienstrecht überwölbte Hochschulen, deren Haushalt von einer zentralen Instanz abgesegnet wurde und die eine einheitliche und kollektive Hochschullandschaft darstellen. Sie haben weiterhin gefragt, welche denn unsere Vorstellungen sind. Ich will sie Ihnen nennen. In bezug auf das Staatsangehörigkeitsrecht kennen Sie unsere Vorstellungen. Der Gesetzentwurf liegt vor. Sie werden sich auf ihn zubewegen müssen. Ansonsten haben Sie keine Alternative. Weil der Bundesinnenminister immer darüber redet und das mit dem Satz belegt „Das Boot ist voll“, haben wir einen Gesetzentwurf zur Einwanderungsbegrenzung in der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt. Er ist beratungsfähig. Er sieht Mechanismen vor. Ihm können Sie so zustimmen. Es ist ein guter Entwurf. Sie haben eine Ökosteuer vorgelegt. Wir haben in unserem Gesetzentwurf ein anderes Steuermodell vorgelegt. Schaffen Sie die Kraftfahrzeugsteuer ab, und legen Sie das, was Sie dadurch eingenommen haben, auf die Mineralölsteuer um. Sie können dem Gesetzentwurf zustimmen; er hat eine ökologische Lenkungswirkung: Er läßt die Menschen selbst entscheiden, wann sie Auto fahren. Durch ihn soll nicht einfach nur abkassiert werden. Sie fragen nach weiteren Alternativen. Im Mai, glaube ich, Herr Bundesfinanzminister, steht eine Steuerschätzung bevor. Wir sind bereit, den Entwurf eines Steuergesetzes einzubringen, der eine Nettoentlastung für alle vorsieht, Investitionsimpulse setzt und die Beschäftigung anregt. ({25}) Ich schlage Ihnen vor: Stellen Sie Ihren Gesetzentwurf so lange zurück, beraten Sie lieber auf der Grundlage unseres Entwurfs! Wenn für ihn eine Mehrheit gefunden werden könnte, würde das eine wesentlich bessere Steuerpolitik für Deutschland bedeuten. ({26}) Wir können auf allen Feldern eine Alternative zu Ihrer Politik aufzeigen. Wir sind in der Lage, in den Kernfragen deutscher Politik, ob Europapolitik, Außenpolitik oder Sicherheitspolitik, unsere Konturen aufzuzeigen, und sind bereit, das, wo nötig, hier gemeinsam zu beschließen. In Fragen des Arbeitsmarktes setzen Sie auf kollektive Systeme; Sie sind gegen eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, den Sie verriegeln und verrammeln wollen. Wir dagegen können Gesetzentwürfe einbringen, die gerade eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes vorsehen. Das berühmte „Bündnis für Arbeit“ ist nicht allein deshalb schon eine wichtige Veranstaltung, weil es von Fernsehkameras festgehalten wird, Herr Bundeskanzler. Das „Bündnis für Arbeit“ hat nur dann einen Sinn, wenn diejenigen, die am Tisch sitzen, in ihrem jeweiligen Bereich auch ihre Verantwortung wahrnehmen. ({27}) Die IG-Metall hat mit ihrer 6,5-Prozent-Lohnforderung - nach den entsprechenden Bemerkungen des Finanzministers über das Ende der Bescheidenheit - ihre Verantwortung nicht wahrgenommen, und jeder hier im Haus weiß das. Der Schlichterspruch geht über den Produktivitätsfortschritt der deutschen Volkswirtschaft hinaus. Dieser Abschluß ist damit ein Abschluß für Arbeitsplatzbesitzer und gegen Arbeitslose. ({28}) Wenn man ein Bündnis für Arbeit will, dann muß man diejenigen, die am Tisch sitzen, in ihren jeweiligen Bereichen zur Verantwortung bringen. Da Sie, Herr Bundeskanzler, mit am Tisch sitzen, ist es Ihre Aufgabe, den Beteiligten deutlich zu machen, wie Sie die Rahmenbedingungen als verantwortlicher Bundeskanzler setzen. Die Rahmenbedingungen eines Landes, das sich im weltweiten Wettbewerb befindet, können nicht sein: Ökosteuern, Mehrwertsteuererhöhung, Umschichtungen, kleines Umverteilungsglück. Vielmehr können sie nur lauten: deutliche Steuersenkungen, Beschäftigungsimpulse, Vertrauen in die Aktivität und Verantwortungsbereitschaft der Menschen. ({29}) Sie bieten keine vernünftigen Rahmenbedingungen, und die Tarifvertragsparteien machen Abschlüsse, die der Produktivität nicht gerecht werden, die Arbeitslosigkeit eher erhöhen. Das, was sich in diesem Frühjahr in bezug auf das, worauf Sie Wert legen, vollzieht, zeigt es ja auch: Die Arbeitslosenzahlen gehen nicht zurück, sondern steigen an; Attentismus macht sich breit; wir warten zu, wir haben keine Traute. Das alles zeigt doch, daß Sie nicht wie der Kollege Struck sagt - glänzende Gesetzentwürfe vorgelegt haben. Die erhöhte Arbeitslosigkeit ist eingetreten, weil sich in Deutschland niemand mehr im klaren darüber ist, was Sie als Bundesregierung eigentlich wollen. ({30}) Das haben Sie mit Ihrem Start erreicht. Herr Bundeskanzler, Sie - und zwar Sie als Person tragen Verantwortung für die Politik. Sie verantworten die Koalitionsvereinbarung, Sie verantworten die internationalen Belehrungsvorträge Ihres Finanzministers, Sie verantworten den Elefanten im internationalen Porzellanladen Trittin, Sie verantworten die kümmerliche Erhöhung des Bildungsetats, ({31}) das komplette Scheitern abgegebener Erklärungen. Sie verantworten einen Zug von Politik, den sich eine Mehrheit nicht erlauben kann: Es begann damit, daß der Finanzminister leise Forderungen nach Umbesetzungen im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vortrug. Es war doch nicht so, daß man sich Sorgen machte, weil jemand aus Altersgründen ausschied. ({32}) Vielmehr hat dem Finanzminister dessen Position nicht gepaßt. Er begann damit, die personelle Zusammensetzung langsam zu verändern, weil er sich über das Herbstgutachten natürlich nicht freuen konnte. Die Gesundheitsministerin veränderte die Zusammensetzung des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen - doch nicht, weil jemand die Pensionsgrenze erreicht hätte, sondern weil ihr das Votum zu der eingeleiteten Politik nicht gefiel. Herr Trittin löste die Reaktorsicherheitskommission auf. Die Kritik, die aus dem Kanzleramt kam - das sei nicht mit dem Bundeskanzler abgesprochen gewesen -, mögen sie unter sich ausmachen. Das ist nicht mein Interesse, ob das mit Ihnen abgesprochen war. Mich interessiert die Art und Weise. Und mich interessiert, daß die Koalitionsvereinbarung dazu führt, daß Sie im Zusammenhang mit der Wahl des Bundespräsidenten den Grünen, damit sie an Ihrer Seite bleiben, einen Vorschlag zur Besetzung der EU-Kommission gegönnt haben. ({33}) Eine Mehrheit kann nicht alles, und eine Mehrheit darf nicht alles. Wer drauf und dran ist - durch Auflösung von Gremien -, sachverständige Kritiker mundtot zu machen, der trifft auf unseren entschiedensten Widerstand im Deutschen Bundestag. ({34}) Dieser Vorgang ist bemerkenswert, weil Sie doch immer auftreten als Verfechter der Vielfalt, der Reformen, des Fortschritts, der kritischen Stimmen. Sie betrachten sich doch geradezu als Anwalt einer kritischen Öffentlichkeit. Ihnen hat doch sonst noch nicht einmal das Prädikat Wissenschaftler gereicht. Nein, es mußte ein „kritischer“ Wissenschaftler sein - so, als sei das noch etwas besonders Bemerkenswertes. Da, wo Ihnen jetzt Kritiker entgegentreten - die Ihnen beispielsweise sagen, die globale Budgetierung im Gesundheitswesen führe zu nichts -, nehmen Sie sich das nicht zu Herzen und überlegen noch einmal, sondern schaffen die Kritiker ab. Da, wo Ihnen der Sachverständigenrat sagt, Sie gehen einen völlig falschen Weg - in einer globalisierten Welt kann sich Deutschland nicht als Insel betrachten und nur auf Nachfrageimpulse setzen -, nehmen Sie sich das nicht zu Herzen, sondern verändern dessen personelle Zusammensetzung. Da, wo eine Reaktorsicherheitskommission - die im übrigen, ob es sich um Kernenergiegegner oder -befürworter handelte, allein auf die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke verpflichtet war - Ihnen etwas anderes sagt, als Sie meinen, lösen Sie diese Kommission auf. Das ist ein Stil, der in Deutschland nicht einreißen darf. Die Opposition hat auch ein Wächteramt für die, die nicht mit Ihrer Politik einverstanden sind, und diese müssen wir vertreten. ({35}) Das ist auch mehr als eine Stilfrage; das ist ein Verlust an Souveränität. Das ist absolut engstirnig, ein ganz kleines Karo. ({36}) Aber so habe ich Sie eingeschätzt. Mich überrascht das nicht. Das ist das Denken, das aus der alten 68er Generation kommt, die meint, sie hätte die Wahrheit gepachtet, könnte das Bildungssystem mit ihren kollektiven Vorstellungen reformieren, könnte Gerechtigkeit in der Welt durch staatliche Verteilungsmaßnahmen herstellen, bräuchte nur genügend große kollektive Solidargemeinschaften und die soziale Sicherheit wäre gegeben. Das ist nicht die Zukunft unseres Landes. Ludwig Erhard hat 1953, als er seine revolutionären Entscheidungen traf, in bemerkenswerter Weise im „Bulletin“ der Bundesregierung geschrieben, damals seien ihm viele entgegengetreten, die ihm gesagt hätten, er könne so nicht entscheiden, er könne die Preisbindung nicht aufheben, er könne nicht so schnell in eine freie marktwirtschaftliche Ordnung führen. Man habe ihm Rohstoffbilanzen und Außenhandelsbilanzen vorgelegt, man habe ihm vorgetragen, das ginge alles so nicht. Ludwig Erhard hat dann geschrieben, das, was man ihm vortrage, sei „strukturell sklerotisches Denken“; denn diese Persönlichkeiten - dazu gehört ihr Neigungsökonom aus dem Saarland - hätten niemals begriffen, daß Menschen, denen man Entscheidungen überläßt, und vor allem Menschen, denen man mehr vom Ertrag ihrer Leistung beläßt, volkswirtschaftlich und sozial für ein Land durch eigene Anstrengungen mehr zustande bringen als der Staat mit vorher bei den Menschen abkassiertem und über seine Kanäle umverteiltem Geld. ({37}) Das ist das Denkmodell, das ich Ihnen entgegenstelle. So einfach ist die Alternative. Sie regieren mit der Vorstellung des Umverteilungsglücks und mit der Vorstellung von Gerechtigkeit, die durch den Staat und große kollektive Solidargemeinschaften hergestellt werden soll. Wir glauben, daß ein freiheitliches Land wieder wissen muß, wo die Quellen seiner freiheitlichen Verfassung liegen. Da führt kein Weg an eigener Verantwortungs- und Leistungsbereitschaft vorbei. Ich meine, man soll auch seine eigene Regierungszeit kritisch und in Verantwortung beleuchten. Daher muß ich feststellen: Wir waren zu langsam. Wir hätten zügiger entscheiden müssen. Wir hätten schneller den Durchbruch zu Reformvorhaben schaffen müssen. ({38}) Wir waren zu zögerlich. Wir waren manchmal zu ängstlich. Aber nur couragierte Entscheidungen führen weiter. Das ist die Lehre aus langer, gemeinsamer Verantwortung, die offen ausgesprochen werden muß. Aber diese Lehre ist für Deutschland immer noch besser gewesen als der komplette Rückmarsch, den Sie jetzt antreten, im übrigen als einzige sozialdemokratische Partei in Europa. Es ist ein Jammer, daß ausgerechnet Deutschland die strukturkonservativste Sozialdemokratie am Hals hat, die es in Europa gibt. ({39}) Dagegen anzugehen ist die Aufgabe der Opposition. Ich sehe das mit großer Gelassenheit. Ich sage Ihnen hier voraus: Sie werden nicht aus eigenen Wünschen und selbst, wenn Sie das Parteiprogramm der SPD ändern - dazu haben Sie gar keine Kraft, Herr Bundeskanzler -, die Rückkehr antreten müssen, weil die Themen der Zeit gegen Sie gerichtet sein werden. Der Themendruck der Zeit läuft in die Richtung meiner Vorstellungen, die ich hier vorgetragen habe. Wir begegnen uns ein zweites Mal - das sage ich Ihnen voraus -, ({40}) und zwar dann, wenn Sie die Rente reformieren und die Gesundheitsreform wieder flexibler gestalten müssen, wenn Sie vor Steuererhöhungen stehen und marode Systeme finanzieren müssen, die Sie nicht reformiert haben, wenn Sie im Laufe der EU-Ratspräsidentschaft erfahren, daß Sie jetzt den Kessel unter Dampf halten müssen, und wenn Sie am Ende eine Regierungserklärung abgeben müssen, die lautet: „Wir haben einen Irrweg eingeschlagen. Ich bitte die Mitglieder des Bundestages, eine neue Regierungserklärung entgegenzunehmen. Wir haben uns jetzt zu mutiger Reformpolitik entschlossen. Mit dem Althergebrachten geht das nicht mehr so. Auf zu neuen Ufern!“ - Das werden Sie machen. Sie können das; das wissen wir. Aber bis dahin haben wir zuviel Zeit verloren. Je schneller Sie es machen, desto besser für Deutschland. Danke. ({41})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Rezzo Schlauch.

Rezzo Schlauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002777, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gerhardt, mich überraschen Sie und Ihre F.D.P. nicht. In Rheinland-Pfalz sind Sie für die erleichterte Einbürgerung - 3 000 Stimmen über den Durst in Hessen, dann schmeißen Sie sich ohne zu Zögern an die Seite von Stoibers Sendboten, der auf übelste Weise gegen jede Form von Doppelstaatlichkeit polemisiert hat und der Ihnen in Hessen jede Reform versagt. In Bonn schließlich sind Sie für ein starkes Sowohl-Als-auch. Herr Gerhardt, eine Partei, die für alles offen ist, ist für mich nicht ganz dicht. ({0}) Ich kann Ihnen ja Ihre 5,1 Prozent gönnen. Aus meiner Erfahrung mit 6,7 Prozent wünsche ich Ihnen viel Spaß in Hessen! ({1}) Wir haben in Hessen verloren - das ist richtig -, und zwar an diesem im wahrsten Sinne schwarzen Sonntag. Wir nehmen diesen Warnschuß ernst, wir nehmen ihn nicht auf die leichte Schulter, und wir haben die Bürgerinnen und Bürger an diesem Punkt verstanden. Wir als Grüne sollten als allererste davon lernen; wir müssen insgesamt lernen, unsere Arbeit in Bonn besser zu tun. ({2}) Eines werden wir mit Sicherheit nicht: Wir werden nie so langweilig, nie so statisch und nie so rückwärtsgewandt werden wie die alte Regierung. ({3}) Herr Bundeskanzler, Sie haben neulich gesagt, Sie seien der „Kanzler aller Autos“. Wenn Sie der „Kanzler aller Autos“ sind, dann sind wir Grünen der ADAC. Wir werden mithelfen, den Reformstau aufzulösen. ({4}) Meine Damen und Herren, wo gehobelt wird, da fallen Späne; das wissen wir alle. Das ist allemal besser, als wenn die Regierungswerkstatt nur ab und zu von dem Regierungsvorsteher besucht wird und dann geschaut wird, ob alle noch gut schlafen, der Staub des Stillstands aber liegenbleibt. ({5}) Das war das System von Schwarzgelb. Die Regierung Fischer und Schröder geht die Probleme an. ({6}) Wir werden - und wir haben es schon - den Staub des Stillstands wegfegen und werden die Regierungswerkstatt wieder in Fahrt bringen. ({7}) Genießen Sie also Ihren hessischen Triumph, solange Sie noch können. Denn eins ist sicher: Diese Regierung ist nicht am Ende; wir fangen erst an! ({8}) Herr Schäuble, Sie lachen. Bündnis 90/Die Grünen war nicht der einzige Verlierer der Hessenwahl. Die Wahl hatte noch einen Verlierer, und das sind Sie, Herr Schäuble. Am Wahlabend frohlockten Sie noch, Sie seien noch nie so stark gewesen. Das sei Ihnen an diesem Abend gegönnt! Schaut man aber genauer hin, so haben nicht Sie, sondern hat Stoibers Sendbote die Wahl in Hessen gewonnen. ({9}) Die Wahl hatte ein eindeutiges Ergebnis, das wir heute besichtigen können: Künftig gibt es bei Ihnen mehr Stoiber und weniger Schäuble. ({10}) Herr Schäuble, wer mit Herrn Stoiber zusammen in der ersten Reihe sitzt, der sitzt - das kann Ihnen Herr Waigel gut erzählen - sehr bald in der zweiten Reihe. ({11}) Vorbei sind die Zeiten, in denen Sie, Herr Schäuble, in der Rolle des dialogoffenen Konservativen glänzen konnten. Ihre Unterschriftenkampagne hat die Bevölkerung gespalten, und der Riß geht mitten durch Ihre eigenen Reihen. ({12}) Herr Schäuble weiß aus Baden-Württemberg, daß dort die Unterschriftenlisten in den Kreisgeschäftsstellen der CDU vergammeln. Sie haben eine Lawine losgetreten, die donnernd zwischen Ihnen und der „Neuen Mitte“ niedergegangen ist. ({13}) Sie haben sich rechts davon gestellt, und dort sitzen Sie fest. ({14}) Sie werden sie auch nicht zurückgewinnen, wenn Sie die Kurdenkrawalle instrumentalisieren, wie Sie es in der letzten Woche getan haben. Sie werden sie insbesondere nicht vor dem scheinheiligen Hintergrund zurückgewinnen, daß Ihre Regierung mit der PKK paktiert hat und sich Abgeordnete von Ihnen mit Herrn Öcalan haben ablichten lassen. ({15}) - Herr Lummer hat sich mit Herrn Öcalan getroffen und mit ihm paktiert. Wir Grünen erteilen jeglicher Form von Gewalt eine klare Absage, und unser Rechtsstaat hat alle Mittel, um der Gewalt Herr zu werden. Diese werden wir anwenden. Nur ein souveräner Staat ist ein starker Staat und nicht derjenige, der immer nach schärferen Gesetzen ruft. ({16}) Wir werden die Kluft, die in den letzten Jahren zwischen Staat und Gesellschaft entstanden ist, wieder schließen. Wir setzen auf Gesellschaftspolitik statt auf puren Machterhalt und pure Machtpolitik. ({17}) Gesellschaftliche Diskussionen haben wieder Platz in diesem Parlament, und das zeigt auch die Diskussion über die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die Sie 16 Jahre lang verschlafen haben. ({18}) Ein Staat, der große Teile seiner Bevölkerung von der Partizipation ausschließt, hat sich ein Problem geschaffen. Meine Damen und Herren, Sie hatten bisher vier Jahre lang Gelegenheit, beispielsweise mit unserem Kollegen Herrn Özdemir zu sprechen und ihn zu erleben. Ich kann nur sagen: Die Menschen, die hier geboren sind und dauerhaft hier leben, sind doch ein Gewinn für diese Gesellschaft und dieses Parlament. Wir sollten sie in diesem Land willkommen heißen und ihre Einbürgerung erleichtern, statt sie wegzudrücken. Vielleicht verdrängen Sie das aber nur deshalb, weil es mehr Menschen wie Herrn Özdemir gibt ({19}) und Sie vor solchen Menschen möglicherweise Angst haben. ({20}) Dabei ist doch die doppelte Staatsbürgerschaft Herr Gerhardt, das wissen Sie doch ganz genau - nie ein Ziel für uns gewesen, ({21}) sondern nur eine Übergangsform. Sie war doch kein Selbstzweck. Ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel, das Sie wahrscheinlich kennen. Ich komme aus Stuttgart, und dort gibt es eine Firma, die früher Daimler-Benz hieß. Heute heißt diese Firma Daimler-Chrysler. Ist das jetzt eine deutsche Firma, ist es eine amerikanische Firma? In der Wirtschaft interessiert der Status dieser Firma keinen Menschen. ({22}) Was für die Wirtschaft gilt, muß doch erst recht für die Menschen gelten. Wir werden unsere Politik für die Menschen machen. ({23}) Jetzt frage ich Sie: Was ist für das außenpolitische Ansehen unseres Landes besser: eine Regierung, die nach außen immer Weltoffenheit gepredigt und im Innern nichts, aber auch gar nichts dafür getan hat, oder eine Regierung, in der Innen- und Außenpolitik im Einklang stehen? Ich sehe es Ihnen an, Herr Gerhardt, und merke es, wenn Sie hier reden, wie es Sie jeden Tag innerlich zerfrißt, daß nach nur 120 Tagen die ganze Welt das F.D.P.-geführte Außenamt längst vergessen hat. Fischer ist frischer, Deutschland hat endlich wieder einen Außenminister, der nicht nur redet, sondern auch weiß, wovon er spricht. ({24}) Herr Schäuble, das kann man von Ihrer Fraktion leider nicht sagen. ({25}) Herr Rühe, der ja nicht irgendwer, sondern Ihr Stellvertreter ist, sagt in der „Saarbrücker Zeitung“ vom 20. Januar dieses Jahres: Fischer schielt auf die eigene Basis anstatt auf die Toten im Kosovo. Das ist auf dem Hintergrund des Engagements unseres Außenministers ein unglaublicher Vorgang, der an Schäbigkeit, Verlogenheit und Anstandslosigkeit nicht zu überbieten ist. ({26}) Ich fordere Sie auf - entweder ihn selbst oder Sie -, sich für diese Aussage zu entschuldigen. ({27}) Zeigen Sie so, daß die CDU wieder zur außenpolitischen Verantwortung unseres Landes steht und sich nicht davon verabschiedet. Ob Sie es wollen oder nicht - ich zitiere jetzt den geschätzten Kollegen Struck, der dies sagte; dem ist nichts hinzuzufügen -: Fischer ist der beste Außenminister seit Willy Brandt. ({28}) - Ich weiß, daß Ihnen das weh tut. Aber auch in einem anderen Bereich ist die Gesellschaft weiter als die Politik. Es ist der Bereich der dynamischen Beschäftigungsverhältnisse. Mit der Neuregelung der 630-DM-Jobs - das ist doch keine Frage hatten wir Schwierigkeiten. Aber diese Diskussion hat uns gezeigt, daß diese 630-Mark-Regelung eben noch viel zu statisch ist. Was wir nicht wollen, ist ein Entweder-Oder: Entweder keine soziale Sicherheit oder volle Abgabenlast. Angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen müssen wir alles daransetzen, um Arbeitskraft zu mobilisieren. Der Arbeitswille der Menschen darf nicht an unflexiblen rechtlichen Lösungen scheitern. Wir stellen uns dieser Herausforderung. Wir wollen dabei mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wir wollen neue Impulse für den Arbeitsmarkt, neue Chancen für Niedrigqualifizierte und neue Möglichkeiten für Eltern, Familie und Beruf miteinander vereinbaren. Die dynamischen Beschäftigungsverhältnisse müssen Sprungbrett in den statt Rutschbahn aus dem Arbeitsmarkt werden. Bislang gibt es dazu viele Modelle und viele Tabus. Es gilt, die Modelle auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen und die Tabus zu überwinden. Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren, haben wir im Wahlkampf gesagt. Diese Leitlinie haben wir noch nicht ganz ausgefüllt. Im Bereich der dynamischen Beschäftigungsverhältnisse haben wir die Chance und stehen wir in der Pflicht, diesen Anspruch auf der Grundlage europäischer Arbeitskultur auch zu verwirklichen. ({29}) Noch an einem anderen Thema zeigt sich, warum die Regierung von gestern die Opposition von heute ist. Ich spreche von der Energiepolitik. Über Jahre haben CDU und F.D.P. eine Energiepolitik gegen die Interessen der Bevölkerung betrieben. Sie, Frau Merkel - ich sehe sie gerade nicht, sie war vorhin da -, haben die Castortransporte regelrecht inszeniert, um die Gesellschaft zu spalten, um den starken Staat mit Tausenden von Polizeibeamten zu exekutieren, ohne Not und ohne Notwendigkeit. ({30}) Mit dieser Politik ist Schluß. Wir setzen auf eine neue Energiepolitik, die nicht gegen, sondern für die und mit der Gesellschaft betrieben wird. Die neue Bundesregierung wird die Nutzung der Atomkraft beenden. Es ist nicht mehr die Frage, ob, sondern nur noch die Frage, wie ausgestiegen wird. Dabei gibt es auf der Seite der Atomindustrie, die keineswegs nur mit einer Stimme spricht, sowohl Falken als auch Tauben. Dieser Teil des Hauses scheint sich offensichtlich mit den Falken verbinden zu wollen. Wir sind allerdings verläßliche Partner, Herr Bundeskanzler, gemeinsam mit unserem Umweltminister Trittin. ({31}) - Ich weiß, daß es Ihnen nicht paßt, wenn wir mit den reformwilligen Menschen in der Atomwirtschaft Konsensgespräche führen. ({32}) Wir jedenfalls wollen mit diesen reformwilligen Kräften in der Frage der Restlaufzeiten und der Wiederaufbereitung zu akzeptablen Ergebnissen kommen. Allerdings erwarten wir dann genauso die Unterstützung, wenn wir an den Falken wie Ihnen scheitern sollten und im Bundestag eine gesetzliche Regelung beraten und verabschieden müßten. Ich appelliere an alle, die in den letzten Jahren mit uns für den Ausstieg aus der Atomkraft gekämpft haben: Auch wenn wir einen längeren Weg gehen müssen, werden wir am Ziel ankommen. Bei uns wird der Castor nämlich aufs Abstellgleis gestellt. Die Atomkraft ist ja nicht nur gesellschaftlich, sondern auch wirtschaftlich gescheitert. Sie von der Opposition tragen die Verantwortung beispielsweise dafür, daß die Menschen in den neuen Ländern von den Strommonopolisten abgezockt werden. Es ist doch kein Grund ersichtlich, daß die Menschen in den neuen Ländern 20 Prozent mehr für ihren Strom zahlen als im Westen. ({33}) Die Ängste der Beschäftigten in der Atomindustrie und deren Familien lassen uns nicht kalt. Durch die Förderung neuer Energietechnologien werden wir ungleich mehr zukunftssichere Jobs schaffen. Wir schaffen das weltweit eindrucksvollste Programm zur Förderung der Sonnenenergie. Wo war denn da der Herr Rexrodt? Er hat doch in dieser Frage acht oder zehn Jahre lang geschlafen. Wir schaffen damit neue Anreize für Zukunftsmärkte und Jobs. ({34}) Diese neue Energiepolitik hat einen klaren Gewinner in der Wirtschaft: den Mittelstand und das Handwerk in allen Regionen. ({35}) An den Grünen scheitert eine Wirtschaftspolitik für diese „Neue Mitte“ nicht. Wir wissen um die Bedeutung der kleinen und mittleren Unternehmen für die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Deshalb redet die neue rotgrüne Regierung nicht von Mittelstandspolitik, sondern sie macht sie. Das heißt in harten Zahlen: Der Mittelstand wird im neuen Haushalt gegenüber den Ansätzen der Vorgängerregierung um 3,5 Milliarden DM entlastet. ({36}) Zum erstenmal seit Jahren sinken wieder die Lohnnebenkosten. Menschliche Arbeit wird für die Unternehmen endlich wieder billiger. Neue Beschäftigungsanreize entstehen. Herr Schäuble und meine Damen und Herren von der Opposition, vielleicht werden Sie sich in den nächsten Tagen und Wochen schwarz ärgern, wenn Sie Anzeigen mit der Überschrift „Unsere Antwort auf die Ökosteuer die Benzinsparmodelle“ in den Illustrierten lesen. Interessant ist dabei, daß diese Anzeigen nicht von einem deutschen, sondern von einem ausländischen Autokonzern geschaltet werden. Im Ausland hat man offensichtlich begriffen, was wir mit der Ökosteuer wollen. Sie haben es nicht begriffen, oder Sie wollen es nicht begreifen. ({37}) Die Einkommensteuerreform entlastet kleine und mittlere Einkommen. Die Verlierer Ihrer Politik erhalten so endlich einen gerechten Ausgleich. All dies schultern wir trotz der angespannten Haushaltslage, trotz der hohen Verschuldung und trotz des Erbes der Vorgängerregierung. Wir haben in diesem Haushalt auch erreicht, daß die Neuverschuldung sinkt. Unser Ziel ist ein Haushalt im Gleichgewicht. Die eigentliche Herausforderung liegt mit dem Haushalt 2000 allerdings noch vor uns. Mit diesem Haushalt werden wir all das anpacken, was sie haben liegenlassen. Wir werden die Staatsfinanzen konsolidieren. Wir werden die Unternehmensteuerreform endlich anpacken. Wir werden die Renten auch für die jüngeren Generationen sichern. Wir werden die Gesundheitsreform auf den Weg bringen. Nicht zuletzt, sondern zuvorderst werden wir - jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Schäuble - das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Familie umsetzen. ({38}) Wer für ein Urteil verantwortlich ist, das besagt, daß Familien in den letzten Jahren 22 Milliarden DM vorenthalten worden sind - dieses Urteil ist an Sie und nicht an uns gegangen -, der sollte für meine Begriffe vom Wert der Familie ganz bescheiden reden. ({39}) Diesen Beschluß haben wir Ihrer Politik zu verdanken, die über Jahre hinweg die materiellen und damit auch die ideellen Grundlagen der Familien hat erodieren lassen. Sie haben die Familie im Munde geführt, aber in Ihrer praktischen Politik nichts anderes getan, als die Deregulierung, die Globalisierung und Materialisierung unserer Gesellschaft auf dem Rücken der Menschen und ihrer Familien zu betreiben. ({40}) Die neue rotgrüne Politik wird mit dieser Politik zu Lasten der Menschen und der Familien Schluß machen. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zeigt uns aber auch, wie tief das Mißtrauen in die Handlungsfähigkeit der alten Politik war. Das hohe Gericht schreibt bis ins Detail vor, wie die finanziellen Verhältnisse von Familien zu verbessern sind. Diesen Auftrag nehmen wir an. Familie ist dabei für uns im Gegensatz zu Ihnen allerdings nicht durch Ideologie verengt. Auch ohne Trauschein gibt es, ob es die CDU will oder nicht, am Ende des 20. Jahrhunderts Lebensgemeinschaften mit Kindern, und auch die Alleinerziehenden sind Familien. ({41}) Wir wollen jede Form von Familie fördern. Für uns steht des Leben mit Kindern im Mittelpunkt und nicht die juristisch wie auch immer geartete LebensgemeinRezzo Schlauch schaft der Eltern. Wir sind nicht nur in diesem Punkt das, meine Damen wnd Herren Kollegen von der F.D.P., was Sie einmal waren: In diesem Punkt sind wir liberal. ({42}) Heute ordnet die F.D.P. dem Primat des schlanken Staates alles unter. Sie sind verliebt in ein Mißverständnis der Idee von Adam Smith, nämlich den Nachtwächterstaat. Es ist kein Zufall, Herr Gerhardt, daß das Thema Kinder in Ihrer gesamten Rede nicht vorgekommen ist. ({43}) Ihre Politik ist ohne Herz, ist ohne Rationalität, sie ist einfach nur kalt. ({44}) Wir vollziehen den Kurswechsel zugunsten der Familien. Dazu gehört, daß in der Haushalts- und Rentenpolitik die Lasten nicht weiter den kommenden Generationen aufgebürdet werden. Wir wollen einen neuen Generationenvertrag, der diesen Namen auch wieder verdient. Wir wollen einen Generationenvertrag, dessen Grundlage die Generationengerechtigkeit ist. Hier sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir uns alle einmal an die eigene Brust klopfen sollten. Wenn der Bundespräsident Herzog in Berlin davon redet, es müsse ein Ruck durch diese Gesellschaft gehen, dann gibt es Beifall durch alle Reihen. Wenn aber nur ein Rückle angekündigt wird, wie beispielsweise von Herrn Riester, dann sagen alle: So haben wir es aber nicht gewollt. Das wollen wir nicht. - Das ist unglaubwürdig. Wenn wir diesen Punkt wollen und brauchen, dann sollten wir ihn auch gestalten ({45}) und in diesem Punkt zusammenarbeiten. Das biete ich Ihnen in der Frage der Rentenstrukturreform ausdrücklich an. ({46}) Zu einer Politik zugunsten der Familien gehört auch, daß wir die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Im „Bündnis für Arbeit“ setzen wir uns für flexible Arbeitszeitmodelle ein, denn sie bringen nicht nur mehr Menschen in Arbeit, sie erleichtern auch für junge Väter und Mütter den Einstieg in das Berufsleben. Unsere Ministerin Andrea Fischer wird in diesem „Bündnis für Arbeit“ dafür sorgen, daß diese Punkte mit behandelt werden und die grüne Stimme nicht verlorengeht. Die Bundesregierung hat der Jugendarbeitslosigkeit den Kampf angesagt. Herr Schäuble, wer das Programm zur Schaffung von 100 000 Arbeitsplätzen so abhandelt wie Sie, wer sagt, daß wir damit die Jugendlichen ruhigstellen, ({47}) der nimmt eine menschenunwürdige Haltung gegenüber diesen Jugendlichen ein. ({48}) Zu dieser Haltung kann ich nur sagen: Wir kümmern uns um die, die unten sind. Sie mögen sich um die kümmern, die oben sind, obwohl die selber durchkommen. Unsere Solidarität gilt denen, die hier Schwierigkeiten haben, und nicht denjenigen, die sowieso schon oben auf der Karriereleiter sind. ({49}) Wir wollen wieder allen Jugendlichen einen Einstieg in das Arbeitsleben ermöglichen. Qualifikation ist hierfür die zentrale Bedingung. Bildung ist, wie Bundespräsident Herzog es ausgedrückt hat, das Megathema der Zukunft. Dem tragen wir bereits im Haushalt 1999 Rechnung. 1 Milliarde DM mehr wird in die Bildung unserer Kinder investiert. Unser Ziel ist die Verdoppelung der Investitionen für Bildung und Forschung. Dafür haben Sie in den letzten Jahren nichts anderes als Kürzungen übriggehabt. Die jungen Menschen in unserem Land sind leistungsbereit. Sie sind fit für die Globalisierung. Unser Bildungssystem ist es nicht. Das werden wir ändern, indem wir eine zweite Bildungsreform auf den Weg bringen. ({50}) Wir greifen heute das auf, was Kollege Geißler lange zurück in der Vergangenheit begonnen hat. Kollege Geißler war damals schon auf dem richtigen Weg. Wäre seine Partei Herrn Geißler gefolgt, ginge es den Familien heute bei weitem besser, und das Bundesverfassungsgericht hätte sein Urteil in dieser Form nicht gefällt. Die Besserstellung der Familien wird d a s Projekt der rotgrünen Regierung sein. Das treibt uns um. Hieran haben wir bereits gearbeitet. Ich nenne nur die Stichwörter „Kindergeld“, „Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen“ sowie „Erhöhung der Freibeträge“. Hieran werden wir die nächsten Monate und Jahre mit Hochdruck arbeiten. Wir machen Haushaltspolitik nicht zum Selbstzweck. Wir machen Haushaltspolitik für die Familien und die Menschen in unserem Land. Danke schön. ({51})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der Fraktion der PDS, Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Schlauch, Sie haben - an die Adresse aller Parteien hier im Hause - von der Notwendigkeit eines Rucks in der Gesellschaft gesprochen. Ich finde, einen Mangel an Rucken gibt es zumindest bei den Grünen nicht. Wenn ich mir ansehe, wie sich die Positionen der Grünen in den letzten Jahren verändert haben, dann muß man feststellen, daß sie schon manchen Ruck hinter sich haben. Wenn man das sieht, dann muß man sich auch vor den Rucken fürchten, die uns noch bevorstehen. ({0}) Sie haben heute erklärt, daß die Grünen der ADAC Deutschlands seien. Das ist in etwa so real, als ob Herr Gerhardt sagen würde, die F.D.P. sei die Partei der sozialen Gerechtigkeit, oder ich behaupten würde, die PDS sei die parteipolitische Zukunft Bayerns. ({1}) Deshalb meine ich, wir sollten versuchen, den Rahmen bei Vergleichen nicht zu sprengen. ({2}) Herr Bundeskanzler, Sie stellen seit mehr als hundert Tagen diese Bundesregierung. Sie haben Kontinuität in der Außen- und in der Innenpolitik betont und durch Ihre Minister Fischer und Schily auch zum Ausdruck gebracht, vielleicht mit Ausnahme bei der Staatsbürgerschaftsfrage. Sie haben Kontinuität auch in der Verteidigungspolitik durch Herrn Scharping betont. Die Kontinuität in diesen drei Politikfeldern ist nach meiner Einschätzung so groß, daß wir uns den Regierungswechsel hätten sparen können, wenn es nur um diese drei Ministerien gegangen wäre. Es hat sich leider nichts verändert. ({3}) Wir werden morgen die Gelegenheit haben, über Außenpolitik zu sprechen. Ich sage Ihnen schon heute: Die Art und Weise, wie die Verhandlungen in Rambouillet zustande gekommen sind, und die Art und Weise der Androhung militärischer Gewalt gegen Jugoslawien werden dieses Europa und diese Welt verändern. Es ist nach der UN-Charta verboten, militärische Gewalt anzudrohen. Schon im Zivilrecht ist jeder Vertrag nichtig, der durch vorgehaltene Pistole zustande kommt. Im Völkerrecht gilt genau dasselbe. Natürlich wünschen auch wir uns, daß es einen Vertrag in Rambouillet gibt, der das Blutvergießen in Jugoslawien beendet und Krieg verhindert. Aber der Makel, von dem ich hier gesprochen habe, bleibt bestehen. ({4}) Ich füge hinzu, daß Sie ein Konzept der USA unterstützen, wonach die NATO vom Völkerrecht freigestellt wird. Das wird Konsequenzen haben. Wenn die UNCharta nicht mehr für die NATO gilt, dann gilt sie auch für andere Staaten nicht mehr und dann haben Sie eine Weltordnung, wie sie nach 1945 entstanden ist, beseitigt, ohne eine bessere zu besitzen. Das wird in dieser Welt Folgen haben. ({5}) Darauf weist übrigens kein anderer als der CDUPolitiker Wimmer sehr deutlich hin. Ich werde ihn morgen zitieren, was bei mir wirklich selten vorkommt. Ich finde, daß er in vielen Punkten seiner Einschätzung recht hat. Ich bin davon überzeugt, daß die französische und die italienische Regierung die Absicht haben, in gleicher Augenhöhe mit den USA zu sprechen. Dazu brauchen sie aber das Einvernehmen mit der deutschen Regierung. Weil der Ruf ein anderer ist, sind Sie jedoch bemüht, täglich zu beweisen, daß Sie die treuesten Verbündeten der USA sind. Ich meine aber, man muß auch eigene Interessen artikulieren. Was hier im Oktober beschlossen worden ist, war nichts anderes als eine völkerrechtswidrige Aggression; denn das ist es nun einmal, wenn man einen Staat angreift, der einen nicht selbst angegriffen hat, und wenn es keinen Beschluß des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta gibt. Ein solches Vorgehen verändert Politik dauerhaft. Ich komme nun zur Innenpolitik. Es ist richtig, daß Sie Wahlversprechen auch erfüllt haben. Im Dezember ist hier eine Menge beschlossen worden, zum Kündigungsschutz, zur Senkung der Zuzahlung bei Medikamenten - wenngleich die Beschlüsse hierzu unzureichend waren -, zur Erhöhung des Kindergeldes, zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und zur Aussetzung der Kürzung des Rentenniveaus. Das waren wichtige Entscheidungen. Ich habe mich gefragt: Warum sind Sie damit so wenig in der Öffentlichkeit umgegangen, und warum haben Sie andere Themen so in den Mittelpunkt gestellt? Manchmal hatte ich das Gefühl, daß es einige gab, die das zwar mit beschlossen haben, die aber nicht sicher waren, ob diese Politik der richtige Weg ist, weswegen sie sich so selten dazu geäußert haben. Wir haben diese Gesetzesvorhaben unterstützt; aber damit sind noch lange nicht alle Ihre Wahlversprechen, Herr Bundeskanzler, erfüllt. Ich muß sagen: Das ging relativ zügig und klar; allerdings war bei dem, was danach passiert ist, das Wirrwarr so gewaltig, daß auch ich erstaunt war. Man muß mit einer Regierung nicht in den politischen Zielen übereinstimmen; man kann sogar ganz anderer Auffassung sein. Aber von jeder Regierung - egal, von wem sie gestellt wird - muß man wenigstens handwerkliche Sauberkeit verlangen. In dieser Hinsicht ist in dieser Regierungspolitik vieles durcheinandergeraten. ({6}) Ich fange mit dem Staatsbürgerschaftsrecht an. Natürlich ist es notwendig, unser Staatsbürgerschaftsrecht zu modernisieren. Natürlich haben wir hier ein großes Problem. Aber, Herr Bundeskanzler, wie konnten Sie zulassen, daß die Aufklärung in der Öffentlichkeit allein von der CDU/CSU bestritten wurde? Weshalb haben Sie nichts an Aufklärung dagegengesetzt? Das wäre doch dringend erforderlich gewesen, weil man die Zustimmung in der Gesellschaft zu einem solchen Vorhaben braucht. ({7}) An die Adresse von Herrn Schäuble und vor allen Dingen von Herrn Stoiber sage ich: Was Sie in unserer Gesellschaft angerichtet haben, wird langfristige Folgen haben, die wir alle sehr teuer bezahlen werden. Mit dem, was Sie hier zu Europa vorgetragen haben, hat das überhaupt nichts zu tun. Wer europäische Integration will, der weiß, daß irgendwann auch eine europäische Staatsbürgerschaft kommt, und der weiß, daß wir uns mit anderen Ländern diesbezüglich zu verständigen haben werden. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß sich die Niederlande, Frankreich, Großbritannien und andere Länder auf unser Staatsbürgerschaftsrecht aus dem vorigen Jahrhundert einlassen werden. Das ist doch absurd! ({8}) Anstatt Wege nach vorn zu gehen, wollen Sie unsere Gesellschaft zurückführen. Ich habe mit Interesse eines zur Kenntnis genommen: CDU und CSU haben die Straße wiederentdeckt. Sie führen einen starken außerparlamentarischen Kampf. Ich stelle mit Interesse fest, daß Herr Schäuble heute plötzlich von den Arbeitsloseninitiativen gesprochen hat. Schon dieses Wort hat er in den letzten 16 Jahren nicht in den Mund genommen. ({9}) Wenn denn der Mehrheitswille der Bevölkerung für Sie so wichtig ist, dann lassen Sie uns doch mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag den Volksentscheid einführen. ({10}) Dann klären wir die Bevölkerung gemeinsam auf und lassen sie über die Staatsbürgerschaftsfrage entscheiden. Dann wären wir wirklich einen Schritt weiter, auch bei der Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch Elemente unmittelbarer Demokratie. Aber die Straße immer nur zu rufen, wenn man glaubt, sie für polemische Zwecke nutzen zu können, und ansonsten Volksentscheide abzulehnen, das ist in höchstem Maße unglaubwürdig. ({11}) Nun habe ich aber auch eine Bitte, Herr Bundeskanzler: Nehmen Sie die Wahlniederlage in Hessen und die Kampagne der CDU/CSU nicht zum Anlaß, Ihre Politik in der Staatsbürgerschaftsfrage zu ändern. Beweisen Sie Mut, werden Sie nicht ein Kanzler der Zurückweichung, sondern ein Kanzler des Vorwärtsschreitens. Darum geht es auch in dieser Frage. Ich finde, daß es auch beim Atomausstieg ziemlich hanebüchen zugegangen ist. Ein Gesetzentwurf, der abgesprochen wurde und im Bundestag auf der Tagesordnung stand - es war ein ganzer Freitag dafür vorgesehen -, war noch nicht einmal im Kabinett beschlossen, weil Sie alles so eilig hatten. Dann wird den Abgeordneten hier mitgeteilt, der ganze Freitag fällt aus, ein Ersatztagesordnungspunkt steht nicht zur Verfügung - und das alles, weil das Kabinett den Entwurf nicht verabschiedet hat. Ich muß Ihnen dazu sagen: Ich bin jetzt seit 1990 im Bundestag und habe hier schon viel erlebt. Aber so etwas habe ich zum erstenmal erlebt. Das spricht von mangelndem Durchsetzungsvermögen und auch von mangelnder handwerklicher Solidität in solchen Fragen. Sie müssen wenigstens wissen, was Sie wollen, dann können wir ja darüber streiten. Setzen Sie hier aber keine Tagesordnungspunkte auf, wenn Sie noch gar nicht wissen, was Sie vorhaben. Das geht nicht. Das will ich deutlich gesagt haben. ({12}) Das Thema Reichtum und Armut wird uns noch über viele Jahre hinweg beschäftigen. Ich glaube, Sie, Herr Bundeskanzler, versuchen da etwas, weil Sie der Kanzler des Konsenses sein wollen. Nun weiß ich natürlich, wie wichtig Konsens in der Gesellschaft ist. Ich weiß, wie wichtig es ist, Gruppen zusammenzuführen und einen Interessenausgleich herbeizuführen. Das gilt in jeder Partei, aber natürlich auch in der Gesamtgesellschaft. Wer aber regieren will, muß auch irgendwann sagen: Das sind die Interessen, die ich durchsetzen will; das heißt, ich stelle mich auch gegen andere. Sie werden nicht immer alle in ein Boot bekommen. Wenn das möglich wäre, müßte die Gesellschaft gar nicht regiert werden. ({13}) Das ist das Problem des Regierens und auch die Kunst des Regierens. Dazu braucht man Mut. Wenn Sie also Armut wirksam bekämpfen wollen, haben Sie keine andere Chance, als Reichtum zu begrenzen. Wenn Sie nicht den Mut haben, Reichtum zu begrenzen, werden Sie Armut nicht wirksam bekämpfen können. Sie müssen sich eines Tages entscheiden. Sie werden das nicht ewig hinausschieben können. ({14}) - Ich wäre an Ihrer Stelle einmal ganz ruhig. Es mag viele Fehlentscheidungen gegeben haben. Wenn ich aber daran denke, welche Güter Ihr Prinz von SachsenAnhalt aus Hannover jetzt in Sachsen-Anhalt zurückzuerhalten versucht, kann ich Ihnen nur sagen: Uns war ja klar, daß die DDR abgewickelt wird und daß der Kapitalismus wieder eingeführt wird. Daß Sie aber gleich zum Feudalismus zurückwollen, haben Sie am 3. Oktober 1990 nicht angekündigt. ({15}) Ich nehme hier auch mit großem Interesse zur Kenntnis, wie sich die F.D.P. und auch die CDU/CSU über den Tarifabschluß in der Metallindustrie aufregen. Das ist ja wirklich ein starkes Stück. Zunächst einmal muß man die Regierung verteidigen; sie saß ja gar nicht mit am Verhandlungstisch. Unterschrieben haben es die Arbeitgeber und die Gewerkschaften. Das möchte ich einfach nur einmal wegen der Wahrheit festhalten. Insofern ist das auch eine Kritik an den Arbeitgebern, die Sie hier erstaunlicherweise vornehmen. Sie regen sich also über 3,2 Prozent und ein weiteres Prozent - also reden wir ruhig von etwas über 4 Prozent Dr. Gregor Gysi Lohnerhöhung auf und behaupten, das sei gegen die Wirtschaft und gegen die Arbeitslosen gerichtet usw. Ich sage Ihnen dazu nur eines: Heute wird VW folgende Zahlen veröffentlichen: Im letzten Geschäftsjahr ist der Gewinn bei VW nach Steuern, nicht vor Steuern, um 64 Prozent gestiegen. Da ist doch die Forderung der Gewerkschaften wirklich ausgesprochen moderat. ({16}) Stellen Sie sich einmal vor, was dann los gewesen wäre, wenn sie gesagt hätten: Wir wollen den gleichen Anstieg wie bei den Gewinnen. Seit Jahren haben Sie zugesehen, wie die Gewinne jährlich gestiegen sind. Noch nie hat einer von Ihnen Bescheidenheit hinsichtlich der Gewinne in die Diskussion gebracht und gefordert, daß die Gewinne für Investitionen und für die Schaffung von Arbeitsplätzen verwendet werden. Sie regen sich hier schon auf, wenn die Gewerkschaften nur wollen, daß wenigstens die Teuerungsrate und andere Kostensteigerungen ausgeglichen werden. Das zeigt den unsozialen Charakter Ihrer gesamten Politik. Wegen dieser Politik sind Sie im September 1998 abgewählt worden. ({17}) Mit großer Sorge nehme ich auch zur Kenntnis, daß darüber debakelt wird, diesen Abschluß für Ostdeutschland nicht zu übernehmen, sondern dort niedrigere Tarife einzuführen. Das heißt im Klartext, daß nicht nur der wirtschaftliche Abstand zwischen Ost und West zunimmt, sondern daß auch die Lohnabstände wieder größer werden. Der Abstand bleibt noch nicht einmal gleich, sondern er wird größer. Da Sie dieses Thema zur Chefsache erklärt haben, kann ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, nur sagen: Kümmern Sie sich darum! Ein weiteres Auseinanderdriften der Einkommen zwischen Ost und West verträgt diese Gesellschaft nicht und ist den Menschen in den neuen Bundesländern in Anbetracht der Preise von 100 Prozent nicht zumutbar. ({18}) Wenn man Arbeitslosigkeit bekämpfen will, dann genügt es nicht, Herr Bundesfinanzminister, darauf hinzuweisen, daß man dem zweiten Arbeitsmarkt eine Milliarde DM mehr zur Verfügung stellt und daß man bestimmte Finanzumverteilungen vornimmt. Diese Vorhaben sind zwar zu begrüßen, und wir haben natürlich die damalige Regierung sehr kritisiert, als sie diese Mittel gekürzt hat. Wir brauchen jetzt aber eine Verstetigung und einen allmählichen Übergang vom zweiten Arbeitsmarkt hin zu einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor mit dauerhaften Arbeitsverhältnissen. ({19}) Wir brauchen den Mut zur Arbeitszeitverkürzung. Mit der Änderung des Arbeitszeitgesetzes könnte der Bundestag insbesondere hinsichtlich des Abbaus von Überstunden etwas leisten. Wir brauchen natürlich eine Steuerreform, die endlich an das Geschäftsergebnis von Wirtschaftsunternehmen anknüpft und nicht länger die Substanz und die Schaffung von Arbeitsplätzen bestraft. Das wäre eine Reform, die diesen Namen wirklich verdient hätte. Ich betone: Wir brauchen auch einen neuen Ansatz für die Lohnnebenkosten. Wir haben immer darauf hingewiesen, daß es sehr viel günstiger wäre, die Unternehmen bezahlten die Abgaben in die Versicherungssysteme nach ihrer Wertschöpfung und nicht nach der Zahl ihrer Beschäftigten und nach der Höhe der Bruttolöhne. Die alte Regelung ist steuerrechtlich und abgabenrechtlich gesehen ein Kontrapunkt zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Wir benötigen dringend eine entsprechende Reform am Ende dieses Jahrhunderts. ({20}) Natürlich brauchen wir nicht nur irgendwelche indirekten Steuerentlastungen. Wir brauchen eine direkte und gezielte Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen in Ost und West. Dazu müssen wir die Macht der Banken begrenzen. Es geht nicht so weiter, daß - wie es in den neuen Bundesländern, aber auch schon zu einem großen Teil in den alten Bundesländern der Fall ist - faktisch eine oder zwei Banken darüber entscheiden, ob ein kleines oder mittelständisches Unternehmen überhaupt eine Chance hat, und daß der Gesetzgeber tatenlos zuschaut. In diesem Bereich brauchen wir dringend Reformen. ({21}) Es gibt weitere Wahlversprechen, die Sie bisher nicht erfüllt haben. Ich habe den Eindruck, daß Ihre Absicht, sie zu erfüllen, nicht besonders groß ist. Ich nenne das Schlechtwettergeld, die Vermögensteuer ({22}) und die Beseitigung der Einschränkung des Streikrechts - Stichwort: § 116 des alten AFG. ({23}) Von der Sozialdemokratie wird seit Jahren versprochen, daß der alte Zustand wiederhergestellt wird. Das gilt auch für andere Fragen der Wirtschaftsdemokratie. Als weiteres Beispiel nenne ich die Sonntagsarbeit bei Banken, die es seit dem 1. Januar 1999 gibt. Dabei werden doch nicht nur die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beeinträchtigt. Lassen Sie uns auch einmal darüber nachdenken, welche Folgen sich für eine Gesellschaft ergeben, wenn Sonn- und Feiertage zu ganz gewöhnlichen Tagen werden und die Gesellschaft dadurch keine besondere kulturelle Eigenheit mehr besitzt! Ich halte diesen Ansatz für sehr verheerend und unterstütze diesbezüglich die Kirchen. ({24}) Ich muß Ihnen folgendes vorhalten: Wir haben zu all diesen Punkten Anträge eingebracht, die zum größten Teil noch nicht einmal über Ihre Wahlversprechen hinausgehen, um es Ihnen besonders leichtzumachen. Doch was tun Sie? Sie blockieren unsere Anträge in den AusDr. Gregor Gysi schüssen und lassen nicht zu, daß hier in zweiter Lesung über sie abgestimmt wird. Man kann der CDU/CSU und der F.D.P. viel vorwerfen, aber nicht die Blockade unserer Anträge. Sie hat nie verhindert, daß über unsere Anträge im Bundestag abgestimmt wurde. Sie hat unsere Anträge zwar abgelehnt - das ist klar -, aber sie hat immerhin die Abstimmung zugelassen. Sie lassen die Abstimmung aus einem ganz einfachen Grunde nicht zu: Sie wollen nicht ja zu unseren Anträgen sagen, und Sie trauen sich nicht, öffentlich nein dazu zu sagen. Das ist Ihr Problem. Aber den Mut, sich eindeutig zu äußern, müssen Sie schon aufbringen. ({25}) Ich sage deshalb: Her mit den Gesetzentwürfen; lassen Sie uns darüber streiten und entscheiden! Dann haben Sie eine Einkommensteuerreform in Angriff genommen, zu der ich mich heute nicht äußern werde. Wir haben dazu später noch Gelegenheit. Sie haben ein 630-Mark-Gesetz vorgelegt. Herr Bundeskanzler, Sie haben sogar eine Aktuelle Stunde genutzt - das sollte man als Bundeskanzler nie machen -, um Ihr eigenes Modell vorzustellen. Das ist inzwischen vielfach geändert worden. Ich unterstütze alle Anträge, die auf die Absetzung dieses Gesetzes abzielen. Denn man muß doch wenigstens noch die Zeit haben, den neuesten Stand einmal durchzulesen und zu verstehen, wie die Regelung augenblicklich aussehen soll. ({26}) Gestern abend haben unsere Expertinnen und Experten versucht, uns zu erklären, was sich durch die vierte Fassung nun eigentlich geändert hat. Wir sind damit nicht zu Rande gekommen. Sie überfordern uns in gewisser Hinsicht. Das ist selten, aber in diesem Fall tun Sie es wirklich. Deshalb meine Bitte: Legen Sie einen Entwurf vor, wenn Sie wissen, was Sie wollen, statt nachträglich anzufangen, zu überlegen, was man wollen könnte, und eine vierte und fünfte Fassung vorzulegen. Nachher passiert uns dann nämlich folgendes: Wir verabschieden hier ein Gesetz, und keiner weiß, in welcher Fassung. Ich finde, das geht zu weit. ({27}) Hier werden Sie uns als Opposition kennenlernen. Zu Ihren neuen Denkansätzen muß ich sagen: Sie haben ein bißchen Rücksicht genommen auf die Argumentation der Opposition hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit des vorhergehenden, des dritten Entwurfs. Aber auch der vierte Entwurf ist noch nicht verfassungskonform. Er löst keine sozialen Probleme, und er löst auch keine wirtschaftlichen Probleme. Wir werden ihm in dieser Fassung nicht zustimmen können. Mit der ökologischen Steuerreform ist es nicht viel besser. Wir sollen sie am Freitag verabschieden. Haben Sie sich einmal überlegt, wie viele Änderungen in den letzten Wochen und Monaten an diesem Gesetzeswerk vorgenommen worden sind? Es kennt ja kaum jemand den letzten Stand dieses Entwurfs. Das ist für das Parlament eine Zumutung. Im übrigen verzichtet dieses Gesetz auf die ökologische Lenkungswirkung. Wenn Sie nicht Primärenergieerzeugung besteuern, können Sie doch gar nicht zwischen den Arten unterscheiden, wie Energie erzeugt wird. Sie nehmen die Industrie faktisch raus und erlegen ihr eine viel kleinere Steuer auf als allen anderen. Dann bekommt sie noch den größten Teil erstattet, wenn es dennoch zu einer Mehrbelastung kommt. Das heißt, der größte Energieverbraucher ist am wenigsten belastet. Können Sie mir einmal erklären, worin dann die ökologische Lenkungswirkung bestehen soll? Darf ich noch etwas fragen: Wieso muß die Landwirtschaft die Steuer voll bezahlen und die Industrie fast gar nicht? Das gilt auch für Dienstleistungseinrichtungen und für andere. Was ist das für eine Ungerechtigkeit in der Behandlung der Unternehmen? ({28}) - Wenn Sie schon wieder einen neuen Stand haben, richtet sich Ihr Lachen diesmal gegen Sie. Wer jeden Tag Gesetzentwürfe ändert, kann in einem Parlament nicht mehr ernst genommen werden. Das will ich deutlich sagen. ({29}) Das Soziale kommt bei dieser ökologischen Steuerreform völlig zu kurz. Die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, die Rentnerinnen und Rentner sowie die Arbeitslosen zahlen drauf und haben von der Lohnnebenkostensenkung entweder gar nichts oder fast gar nichts. Das ist die Realität. Das wird sich für sie nicht rechnen, und sie können, im Unterschied zur Industrie, nicht zum Zollamt gehen und eine Differenz geltend machen. Wieso überhaupt zum Zollamt? Wissen Sie, daß wir da 500 neue Leute einstellen müssen? Das ist zwar eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, aber es bedeutet auch das Zehnfache an Bürokratie. Auch daß das Steuerrecht dadurch leichter werden würde, können Sie nicht behaupten. Die Steuerberater werden das mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen, aber auch sie werden langsam überfordert sein; davon bin ich überzeugt. Lassen Sie mich noch etwas zum Osten sagen. Ich habe schon über den Abschluß in der Metallindustrie gesprochen. Sie haben das zur Chefsache erklärt. Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: Wo bleibt die Initiative für die Anerkennung der beruflichen Abschlüsse der Menschen aus den neuen Bundesländern? ({30}) Das hakt noch immer an allen Ecken und Enden. Das kostet gar kein Geld. Ergreifen Sie doch diesbezüglich einmal eine Initiative, damit wir das Problem aus der Welt schaffen. Wo bleibt die Initiative zur Sicherung der Rechte von Nutzerinnen und Nutzern an Grundstücken, damit die Freunde der F.D.P. aus dem Königshaus von SachsenAnhalt in Hannover auf dieser Strecke nicht so schnell zu Erfolgen kommen können? Wo bleibt die Angleichung der Renten, die Überführung der Rentenlücken? Sie kennen alle diese Beispiele. Lassen Sie mich hier nur eines nennen: Alle Ballettänzerinnen und Ballettänzer der DDR hatten mit 35 Jahren einen Rentenanspruch, wenn sie nicht mehr tanzen konnten. Er ist ihnen durch das Rentenüberleitungsrecht entzogen worden. Wann endlich wird das korrigiert? ({31}) Da könnte ich Ihnen noch viele andere Beispiele nennen, auch Ihre Klientel betreffend, zum Beispiel mithelfende Familienmitglieder im Handwerk und Gewerbe.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Gysi, ich muß Sie leider darauf hinweisen, daß die Zeit Ihrer Fraktion schon ausgeschöpft ist.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich akzeptiere das, Frau Präsidentin. Ich bin gehalten, mich nach den Zeitvorgaben zu richten. Eine neue Zeit hat begonnen, Herr Bundeskanzler. Sie wollten unbedingt regieren. Meine Bitte ist: Jetzt tun Sie es auch. Darauf warten wir noch ein bißchen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({0})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schäuble hat in seiner Rede zum politischen Wettbewerb um die Mitte aufgerufen. Aber er hat wohl übersehen, daß der Ideengeber der politischen Mitte nicht Charles Darwin ist. Ich glaube, Herr Schäuble, wenn Sie, wie es Ihre Rede ausgewiesen hat, die politische Mitte am rechten Rand suchen, dann werden Sie enttäuscht. ({0}) Die Ideen der politischen Mitte entstammen mehr der Französischen Revolution als Ihrem Parteiprogramm. Sie handeln von Freiheit - gewiß -, sie handeln von Gleichheit, und sie handeln von Brüderlichkeit. Freiheit - das habe ich Ihrer Rede entnommen - definieren Sie vor allen Dingen als Gewerbefreiheit. ({1}) Das ist in Ordnung, aber das reicht nicht, meine Damen und Herren. ({2}) Für die Realisierung von Gleichheit fehlt Ihnen der politische Wille - das überrascht hier niemanden -, und zur Brüderlichkeit fehlt Ihnen jede Sensibilität. ({3}) Indessen weiß die politische Mitte in Deutschland, wissen Menschen mit guter Ausbildung, Menschen mit durchaus anständigem Einkommen, daß sie ihre Möglichkeiten und das, was sie sich für sich individuell vorstellen, in einer Gesellschaft nur ausleben können, wenn diese nicht sozial zerrissen ist. Das übersehen Sie. Sie haben es 16 Jahre lang übersehen. ({4}) Sie haben nämlich 16 Jahre lang, zunehmend zum Schluß Ihrer Regierungszeit, dafür gesorgt, daß die soziale Balance, die weltweit das Kennzeichen Deutschlands war, verlorengegangen ist. ({5}) Das ist der Grund, warum wir im Interesse der „Neuen Mitte“ in den ersten 100 Tagen darangegangen sind, diese soziale Balance wiederherzustellen. ({6}) Sie, Herr Schäuble, haben sich über Freiheit und Individualität verbreitet, und zwar mit den üblichen Floskeln. Sie haben dabei übersehen, daß der Beschäftigte in einem großen oder kleinen Betrieb, der da sein Einkommen und Auskommen finden muß durch seiner Hände Arbeit, nur dann frei ist, wenn er auch ein Mindestmaß an Sicherheit hat. ({7}) Um ihm diese Sicherheit in existentiellen Situationen, zum Beispiel bei langandauernder Krankheit, zu geben, haben wir die Lohnfortzahlung wieder eingeführt. ({8}) Das war der Grund. Er hat vielleicht nichts mit Ihrer Form von Individualität zu tun, aber mit unserer schon. ({9}) Zur Freiheit - ich denke, das wird Ihr Teil des Hauses immer übersehen - gehört auch die Freiheit, die mit Abwesenheit von Angst zu tun hat. ({10}) Wer sich und seine Familie mit Arbeit durchbringen muß - das ist die übergroße Mehrheit unseres Volkes -, der braucht auch die Abwesenheit von der Angst, rausgeschmissen zu werden. ({11}) Das ist ein Stück seiner Freiheit. Nicht darin, daß wir etwas, was Sie durchgesetzt haben, zurückdrehen wollen, sondern genau in diesem Verständnis von Freiheit liegt der Grund dafür, daß wir den Menschen wieder den Kündigungsschutz gegeben haben, der ökonomisch vernünftig und sozialpolitisch sinnvoll ist. ({12}) Dann haben Sie - leider nur mit den üblichen Floskeln - über den Wert der Familie gesprochen. ({13}) Dieser Wert wird von niemandem in diesem Hause in Abrede gestellt. Indessen: Was war denn der Grund dafür, daß wir nach den letzten 16 Jahren Ihrer Regierung in den ersten drei Monaten unserer Regierungszeit den Eingangssteuersatz abgesenkt haben? Das hat eine ganze Menge mit der Situation der Familien in unserem Land zu tun: nicht „Ihrer“ Familien, sondern der Durchschnittsfamilie in Deutschland. ({14}) Warum haben wir das Existenzminimum, das steuerfrei ist, erhöht? Das hat nichts zu tun mit der sozialen Wirklichkeit, aus der Sie kommen. Aber es hat zum Beispiel viel zu tun mit der sozialen Wirklichkeit alleinerziehender Mütter. Für die ist damit - unabhängig von der 630-Mark-Regelung und dem, was Sie davon halten - etwas getan worden. ({15}) Die Familienpolitik, die wir ernst nehmen und nicht nur in Floskeln beschwören, hat vor allem etwas zu tun mit den materiellen Grundlagen der Familien. Warum sind Sie nicht darangegangen und haben das Kindergeld anständig erhöht? ({16}) Sie hatten doch 16 Jahre Zeit, Familienpolitik zu betreiben und nicht nur darüber zu reden. ({17}) Die Fraktionsvorsitzenden der Koalition haben bereits darauf hingewiesen, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine Bankrotterklärung Ihrer Familienpolitik ist und nicht unserer. ({18}) Sie haben nach dem Urteil des Gerichtes den Familien 22 Milliarden DM vorenthalten. ({19}) Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, den Familien zu ihrem Recht zu verhelfen, einem Recht, das Sie ihnen genommen hatten. Angesichts dessen stellen Sie sich hierhin und erzählen uns etwas über Familienpolitik. Das finde ich schon sehr merkwürdig. Das muß ich Ihnen einmal sagen. ({20}) Was wir getan haben, war nötig, um die eingetretene soziale Schieflage in der Gesellschaft und die damit verbundenen Gefahren für deren friedliche Entwicklung aufzuarbeiten, eine Arbeit, die wegen Ihrer Politik notwendig war und deren Tempo man kritisieren mag. Aber in der Sache gibt es für diejenigen, die ernst nehmen, uns in ihre Programme schreiben, nichts zu kritisieren. ({21}) Oder betrachten Sie ein anderes Beispiel, das in dieser Diskussion auch schon eine Rolle gespielt hat: die Situation der jungen Menschen im Land. Wie ist es denn Jahr um Jahr gewesen? ({22}) Jahr um Jahr sind Sie zu den Menschen gegangen und haben wohlfeile Versprechungen gemacht, die da heißen: Wir schaffen das schon allein. - Nichts haben Sie geschafft! Sie haben die Jugendlichen und die Arbeitslosen, vor allem die Langzeitarbeitslosen, allein gelassen. Meine Regierung hat zum erstenmal nach Ihren auf diesem Gebiet jämmerlichen 16 Jahren dafür gesorgt, daß 100 000 Jugendliche in diesem Land eine faire Chance erhalten. Darauf bin ich verdammt stolz. ({23}) Darauf bin ich stolz, weil es sich vor allen Dingen um Jugendliche handelt, die schon seit Jahren in den Statistiken der Arbeitsämter verschwinden, um die sich niemand kümmert - was nicht hingenommen werden kann - und deren Fähigkeit sowie Willigkeit, ausgebildet zu werden, entscheidend zurückgegangen sind. Wer aber seine Fähigkeit verloren hat, auf dem Ausbildungsmarkt zu konkurrieren, den darf man in dieser Gesellschaft nicht allein lassen, wenn sie sich „gerecht“ nennen will; dem muß man helfen. Das geschieht mit diesem Programm. ({24}) Das hat übrigens auch etwas mit freier Entfaltung der Jugendlichen zu tun. Im übrigen, verehrter Herr Kollege Schäuble, um eines bitte ich Sie wirklich: Den Satz, den Sie sich da haben aufschreiben lassen - wenn man auf dem Stuhl des Kanzlers sitzt, kann man ja gut sehen, woraus vorgelesen wird -, nämlich mit diesem 100 000-AusbilBundeskanzler Gerhard Schröder dungsplätze-Programm wollten wir die Jugendlichen durch Beschäftigung ruhigstellen, lassen Sie entweder im Protokoll dieser Bundestagssitzung verändern, oder Sie entschuldigen sich dafür. ({25}) Wäre ich zu dieser Form der politischen Auseinandersetzung, wie Herr Schäuble sie heute morgen geboten hat, fähig und willig, dann würde ich, bezogen auf dieses Thema, sagen: Ihre bewußte Hinnahme der Jugendarbeitslosigkeit treibt die Jugendlichen in die Kriminalität. Diese Antwort müßte man Ihnen geben, wenn Sie sich nicht entschuldigen, und für diese Antwort sind Sie verantwortlich, Herr Schäuble, Sie ganz persönlich. ({26})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU?

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen. ({0}) Ich komme zum nächsten Punkt, meine Damen und Herren. Er betrifft die Renten. ({1}) - Ich verstehe gar nicht, warum Sie so herumschreien. Es ist doch ganz klar: Glauben Sie wirklich, daß aus Ihren Reihen eine intelligente Zwischenfrage kommen könnte? ({2}) Ich komme zu den Renten. Das hat auch viel mit der Freiheit des einzelnen und mit der Frage zu tun, ob es in der Gesellschaft ein zureichendes Maß an Solidarität gibt oder nicht. ({3}) - Ich verstehe ja, daß Sie ungern über die Rentenfrage reden und daß Sie laut lärmen, wenn ich über ältere Menschen und deren Schicksal rede. Aber das liegt mir am Herzen; Ihnen geht es wohl offenkundig nur darum, zu stören. Das sollten Sie sich einmal überlegen. ({4}) Lassen Sie uns über die Renten und vor allen Dingen über die Rentnerinnen und Rentner reden; denn um diese geht es uns, um ihre Freiheit und um ihre Sicherheit. Das alles hat sehr viel damit zu tun, wie man mit ihnen umgeht. Was haben Sie gemacht? - Sie haben ein pauschales Kürzungsprogramm durchgezogen, das dazu geführt hätte, daß zumal die Frauen, die von ihren Männern abgeleitete Erwerbsbiographien haben, sich unterhalb der Sozialhilfegrenze wiederfinden, daß sie in den Sozialhilfebezug getrieben werden. ({5}) Ich sage Ihnen: Das wird der Lebensleistung dieser Menschen, dieser Frauen zumal, in keiner Weise gerecht. ({6}) Das ist der Grund dafür, daß wir gesagt haben: Reformen mit solchen Wirkungen sind das Gegenteil von Reformen. ({7}) Wir halten das an und entwickeln ein Rentenreformprogramm, das nicht eine derartige Form unsozialen Eingehens auf das demographische Problem in sich trägt. ({8}) Wir werden dieses Programm ja noch zu beraten haben. Aber es war nötig, das zurückzunehmen, was die Menschen bedrückt, was sie in und unter die Sozialhilfe treibt. Das haben wir gemacht - nicht weil wir prinzipiell Ihre Politik der letzten 16, 17 Jahre korrigieren wollen, sondern weil sie Menschen mit diesen Lebensleistungen bedrückt. ({9}) Die Kostenprobleme im Gesundheitssystem und die Patientenbelastungen haben doch Sie in den letzten Jahren verursacht, zumeist jedenfalls. Wer hat denn die Politik gemacht? Daß wir das jetzt korrigieren, hat damit zu tun, daß Sie das verkehrt gemacht haben. Wenn Frau Fischer nun sagt, im Mittelpunkt meiner Reformbemühungen stehen nicht irgendwelche Interessengruppen, sondern stehen - zum erstenmal seit langer Zeit - wieder die Patienten, dann ist das genau der richtige Ansatz, den man nicht dick genug unterstreichen kann. ({10}) Für ein gewiß kompliziertes System der Gesundheitsvorsorge brauchen wir, so Frau Bundesministerin Fischer, zumal für die älteren Frauen und Männer, so etwas wie einen Lotsen, der ihnen bei der Abnahme der unterschiedlichsten Leistungen hilft, die für sie richtigen auszusuchen. Wenn sie jetzt den guten alten, ich sollte besser sagen: den guten jungen Hausarzt als einen solchen Lotsen stärken will, dann sollten Sie das nicht kritisieren, sondern unterstützen, weil es ein richtiger Ansatz ist, der den Patienten hilft. ({11}) Darüber hinaus sagt sie, bei 50 000 Medikamenten sind es so viele?; Sie nickt; das muß man sich einmal klarmachen - macht es doch Sinn, aus einer Liste, an der man sich orientieren kann, die auszuwählen, die wirksam sind, die wirklich helfen können und die als vernünftig zu bezeichnen sind. ({12}) Jeder draußen, der uns zuhört - wenn er es denn noch hören kann, was man angesichts Ihrer Zwischenrufe, Herr Glos, bezweifeln mag -, wird doch sagen: Diese Art von Hilfe in einem komplizierter gewordenen System dient dem Patienten, und deswegen ist das unterstützenswert. Das werden die Menschen draußen sagen, und das ist gut so. Deswegen wird die Reform ja gemacht. ({13}) Viel ist über Energiepolitik geredet worden, ein schwieriges Feld. Das weiß niemand besser als ich. ({14}) - Es wird niemand bestreiten, daß ich an einem Punkt schon sehr lange arbeite: eine Energiepolitik zu machen, die uns Schritt für Schritt wegbringt vom unsinnigen Einsatz der Atomenergie in der Grundlast der Versorgung. ({15}) Wer sich mit dem Begriff der Versorgungssicherheit nicht ideologisch - auch das gibt es, auf vielen Seiten; das gebe ich gerne zu - auseinandersetzt, der wird mir im Grundsatz zustimmen. Dabei rede ich gar nicht über Deutschland, nicht einmal, was die Sicherheit angeht, über Frankreich, sondern über das, was wir in Tschernobyl erleben. - Ich meine nicht nur, was wir erlebt haben, sondern auch was wir erleben. - Es wird deutlich, daß die internationale Staatengemeinschaft bislang nicht und wenn es gelingen wird, nur unter großen Mühen, auch unter großen finanziellen Mühen - in der Lage ist, Tschernobyl abgeschaltet zu bekommen. Der Sarkophag, der die gefährlichen Rückstände des Unfalls sicher einschließen soll, ist nicht finanziert. Das haben wir bei Übernahme der Akten feststellen können. Ich will das gar nicht einseitig zuweisen. Das hat auch etwas mit einer anderen energiepolitischen Vorstellung in anderen Ländern zu tun, keine Frage. Aber eins ist doch klar: Zumindest die Kraftwerkstypen, die dort am Netz sind und deren Nachrüstung wir nicht haben finanzieren können - wir können das nicht gegen die Interessen der betroffenen Länder durchsetzen -, sind doch eine Gefahr, die auch Sie auf der anderen Seite dieses Hauses beschäftigen müßte. ({16}) - Ich komme gleich zu dem, was ich Ihnen klarmachen will. - Deswegen macht es doch Sinn, an einer Veränderung der Energieversorgung auch und gerade in Deutschland zu arbeiten; denn über eines müssen Sie sich im klaren sein - das lehrt die Erfahrung von Tschernobyl -: Wenn - gleichgültig, wo in der Welt, gleichgültig, aus welchen Ursachen - auf diesem Feld etwas passiert, dann ist es aus mit der Versorgungssicherheit, und zwar auch in Deutschland, auch wenn unsere Kernkraftwerke sicherer sind; denn die Menschen werden dann Panik bekommen. Deswegen ist eine Politik, die langfristig darauf setzt, Kernenergie zu überwinden, eine Politik, die gleichermaßen den Sicherheitsinteressen und der ökonomisch gerechtfertigten Versorgungssicherheit in Deutschland dient. Zumindest diesen Zusammenhang müssen Sie begreifen können, wenn Sie schon den anderen nicht begreifen wollen. ({17}) Eine Energiepolitik, die diese Form der Stromproduktion ersetzen will - was aus den unterschiedlichsten Gründen, auch aus ökonomischen, vernünftig ist -, auch nur in Ansätzen möglich zu machen, haben Sie die letzten 17 Jahre systematisch verhindert. Das ist der Punkt! Und weil das so ist, bitte ich alle, auch diejenigen in der eigenen Partei oder beim Koalitionspartner, die Ergebnisse auf diesem Sektor früher haben wollen, als ich sie für möglich halte, eines zu verstehen: Versorgungssicherheit hat etwas zu tun mit Sicherheit industrieller Produktion. Deswegen müssen wir die Versäumnisse aus 17 Jahren nicht stattgefundener Energiepolitik - ein Versäumnis ist, daß keine Alternativen entwickelt worden sind, jedenfalls in der Grundlast - Schritt für Schritt aufarbeiten. Da liegt der innere Zusammenhang, den ich zu verstehen bitte: daß wir mehr Zeit brauchen, als der eine oder andere sich vorstellt. Es ist nicht Unwilligkeit auf seiten der Regierung oder auf meiner Seite. Es ist Einsicht in die Notwendigkeit, sich dafür Zeit zu lassen. Bekanntlich hat Einsicht in die Notwendigkeit auch etwas mit Freiheit zu tun. ({18}) - Von wem stammt das, Herr Fraktionsvorsitzender? ({19}) - Ich kenne es von Hegel, aber wir werden das nachprüfen lassen. Ich kann aber auch Engels zitieren, damit habe ich kein Problem. ({20}) - Da ruft einer „Alter Juso“. Sie müssen sich schon überlegen, was Sie mir vorwerfen wollen: Kontinuität oder Wechselhaftigkeit. Für eines sollten Sie sich entscheiden. ({21}) Bevor ich etwas zu Europa und zu den außenpolitischen Fragen sage, will ich noch etwas zum „Bündnis für Arbeit“ sagen. Wir haben vor, gesellschaftlichen Konsens für Reformmaßnahmen, die durchgreifender Natur sind, herzustellen. Das folgt auch der Erkenntnis, daß ein Wahlsieg immer nur eine Momentaufnahme in der Gesellschaft ist und daß es insbesondere Aufgabe der Sieger ist, dafür zu sorgen, daß die Mehrheiten, die sie am Wahltag bekommen haben, als gesellschaftliche Mehrheiten dauerhaft zur Verfügung stehen. Das ist die Aufgabe, die sich uns stellt. ({22}) Das „Bündnis für Arbeit“ dient dazu, einen solchen Konsens in wichtigen sozialen, ökonomischen und steuerpolitischen Fragen herstellen zu helfen. Es dient dazu, den Arbeitgebern wie den Gewerkschaften das Angebot zu machen: Laßt uns in dem Bündnis doch über die zweite Stufe einer Steuerreform reden! Die Unternehmensteuerreform muß kommen; das wissen wir doch. Laßt uns reden! Das ist ein Angebot, über die Frage zu sprechen, wie sie ausgestaltet sein soll. Laßt uns - weil das gleichermaßen gemacht werden muß - darüber reden, wie man im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform den Familienlastenausgleich, den zu regeln uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, angeht! Das sind Probleme, zu deren Debatte und zu deren Lösung ich insbesondere das „Bündnis für Arbeit“ einlade. Das ersetzt nicht die Entscheidungsnotwendigkeiten im Parlament - das weiß ich sehr wohl. Es geht aber darum, daß diejenigen im Bündnis, die bislang Kritik an Vorschlägen üben, an denen sie nicht beteiligt waren, die Chance ergreifen, diesmal teilzunehmen. Im übrigen geschieht das schon in den Arbeitsgruppen beim Bundesfinanzminister. Das wird vernünftige Ergebnisse haben - zu einer Zeit, in der diese Ergebnisse gebraucht werden. Hierin liegt der Grund, warum ich den Beteiligten am „Bündnis für Arbeit“ - angesichts vieler Erklärungen, insbesondere auf Arbeitgeberseite - eines gerne öffentlich sagen möchte: Das „Bündnis für Arbeit“ wäre falsch interpretiert, wenn man es als eine Institution betrachtete, der man entweder beitritt oder sie wieder verläßt - je nachdem, wie man in der Tages- oder Tarifpolitik abgeschnitten hat. Das ist nicht Sinn der Sache; das muß ich sehr deutlich sagen. ({23}) Wer ankündigt, nicht zu kommen - und das dann vielleicht auch nicht macht -, der darf sich anschließend nicht beschweren, wenn sich seine Interessen nicht so wiederfinden, wie er es gerne hätte. ({24}) - Das ist keine Drohung, das ist eine Feststellung. Drohen tun andere. Ich denke gar nicht daran, irgend etwas zu machen ({25}) in dieser Richtung. Es ist doch klar: Wer gebotene Teilhabemöglichkeiten nicht nutzt, darf sich nicht beschweren, wenn entschieden wird, ohne daß seine Teilhabemöglichkeiten eingerechnet werden. Das ist doch der Punkt, um den es geht. ({26}) Über eins bin ich mir im klaren: Dort wird über viele soziale Themen geredet werden. Es ist auch schon geredet und teilweise sogar entschieden worden. Denken Sie an die Arbeitnehmerabfindungen! Dort wird auch über Arbeitszeit geredet werden. Aber über eins - das klang bei Ihnen, Herr Schäuble, ein bißchen an - wird sicherlich nicht geredet werden: über Einschränkungen beim Streikrecht. Auch das hat etwas mit einer freien Gesellschaft zu tun, daß die Sozialpartner prinzipiell über Kampfmaßnahmen - die ich nicht wollte und an deren Verhinderung ich mich beteiligt habe - verfügen. ({27}) Wer das Streikrecht - mit welchen Gründen auch immer - einschränken will - ich müßte sagen: weiter einschränken will -, der legt die Axt an eine Institution, die Deutschland stark und erfolgreich gemacht hat, nämlich die Tarifautonomie. ({28}) Über das, was wir mit der Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts verbinden, ist viel geredet worden. Ich will nur soviel hinzufügen: Ich finde es richtig, daß Deutschland ein Staatsbürgerschaftsrecht bekommt, das vom alten Abstammungsprinzip weggeht. ({29}) Ich finde es richtig, daß Menschen, die in Deutschland geboren sind - in welcher Generation auch immer -, und die Kinder dieser Menschen eine Chance erhalten, Deutsche zu werden. Das finde ich richtig! ({30}) Ich weiß sehr wohl, daß wir veränderte Mehrheiten im Bundesrat zur Kenntnis nehmen müssen und daß wir deswegen - dafür wird der Innenminister sorgen - einen Gesetzentwurf vorzulegen haben, der das Ziel der Integration, das wir nicht aufgeben werden, und zwar weder bei den Kindern noch bei den Erwachsenen, ({31}) mit dem verbindet, was Landesregierungen im Bundesrat zu beschließen bereit sind. ({32}) Ich weiß sehr wohl, daß wir das beachten müssen. Was das heißt, bekommen Sie mitgeteilt, wenn Herr Schily seinen Gesetzentwurf vorgelegt hat. ({33}) Ich habe jedenfalls nicht vor, diese Debatte mit Leuten zu führen, die hier im Deutschen Bundestag über Toleranz reden und auf den Straßen Deutschlands jeden Ansatz von Toleranz kaputtmachen. ({34}) Wir haben dann Erstaunliches über Europa gehört, zum Beispiel ungeheuer Substantielles von Herrn Schäuble und noch mehr Substanz von Herrn Gerhardt. Das war nun wirklich ein Meisterstück. Schauen Sie, was gegenwärtig passiert. Der bayerische Ministerpräsident sagt: Herr Bundeskanzler, Sie müssen bei den Verhandlungen zur Agenda 2000 14 Milliarden DM für Deutschland zurückbringen. - Im Monat, Herr Stoiber, oder im Jahr? ({35}) Herr Pflüger - ich glaube, er ist Mitglied Ihrer Fraktion - sagt: besser gar nichts. Herr Lamers - Respekt, muß ich sagen - sagte im „Stern“, 1 Milliarde DM wäre auch schon eine Leistung. - Irgendwann müssen Sie sich einmal entscheiden; denn zwischen 14 Milliarden und 0 gibt es doch eine Differenz. Das hat etwas mit Substanz zu tun, Herr Schäuble. Ich sage das, um das deutlich werden zu lassen. ({36}) Irgendwann müssen Sie entscheiden, was Sie wollen. Wollen Sie eine Politik, für die Herr Dr. Kohl stand und steht, wirklich auf diese unmögliche Weise verschleudern, oder wollen Sie das nicht? Das ist die Frage, die Sie beantworten müssen und die Sie beantworten können; ({37}) denn soviel ist klar: Die Nettozahlerposition Deutschlands - 22 Milliarden DM netto mehr -, Herr Stoiber, habe doch nicht ich zu verantworten, sondern Ihre Leute. Sie haben das im Bundesrat immer feste mitbeschlossen. ({38}) - Ja, klar. Jetzt stellen Sie nach dem Motto „Haltet den Dieb!“ solche Forderungen. Ich bestreite doch gar nicht, daß das überall beschlossen worden ist. Das habe ich doch auch gesagt. Ich möchte jetzt aber keine Debatte über die Verantwortlichkeiten der letzten 16 Jahre führen. Es wird jetzt eine demagogische Debatte - eine solche Debatte möchte ich nicht - darüber geführt, wie man das, was in 16 Jahren aufgehäuft worden ist, in einem halben Jahr deutscher Präsidentschaft abschaffen könnte. Das ist doch Ihre Forderung, mit der Sie sich auseinandersetzen müssen. ({39}) Weil diese Europapolitik - für die es sogar gute Gründe gegeben hat - über diesen Zeitraum hinweg im Deutschen Bundestag und im Bundesrat fast einhellig beschlossen worden ist, läßt sie sich nicht in einem halben Jahr ändern. Wenn überhaupt, dann nur unter Einschluß der Tatsache, daß wir einen einstimmigen Beschluß fassen. Dazu brauchen wir mehr Zeit. Das ist der Zusammenhang, den man sehen muß. ({40}) Es geht doch nicht nach der bayerischen HauruckMethode. Das ist doch eine Erfahrung, die man zumindest gemacht haben könnte. Wenn nur über einen längeren Zeitraum hinweg veränderbar ist, was verändert werden muß, dann ist doch das, was ich dazu formuliert habe, nur unterstützenswert. Ich nehme zur Kenntnis: Vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Politik - ich nehme Herrn Stoiber aus - sind Sie jedenfalls nicht der Auffassung, daß es möglich ist, die deutsche Nettozahlerposition, die in 17 Jahren entstanden ist, über Nacht auf Null zu bringen. Es ist im übrigen weder möglich noch vernünftig. ({41}) Wenn wir uns da einig sind und Sie Herrn Stoiber sagen, daß seine 14-Milliarden-Forderung genauso Unsinn ist, dann haben wir doch schon mal eine Basis für eine vernünftige Europapolitik. ({42}) Aber bevor Sie ihm das nicht gesagt haben, stellen Sie sich nicht hier hin und reden über einen Mangel an Substanz bei anderen! Das ist Ihr Mangel an Substanz, der da deutlich wird, und kein anderer, Herr Schäuble. ({43}) Was werden wir bei der Agenda machen, und was müssen wir wirklich machen? - Bei der Agenda müssen wir zunächst einmal dafür sorgen - auch das geht nur einstimmig -, daß die Ausgaben nur noch real wachsen dürfen. Reale Ausgabenkonstanz ist das, woran wir Deutschen - und nicht nur wir Deutschen - ein Interesse haben. ({44}) - „Bauernopfer“, das höre ich gerne. Das kommt von denjenigen, die weniger Mittel nach Europa geben wollen aber gleichzeitig die EU möglichst morgen erweitern und gleichzeitig den deutschen Nettobeitrag senken wollen. Das ist vielleicht eine Politik; das müssen Sie sich wirklich dreimal überlegen. ({45}) Wir müssen eine reale Ausgabenkonstanz durchsetzen, und das ist schon schwer genug; denn die Länder ich will sie jetzt gar nicht alle nennen -, die zum Beispiel von den Kohäsionsfonds, von den Strukturfonds am meisten profitieren, sind die Länder, die im Zuge der Vertretung ihrer nationalen Interessen sagen: Zu Hause üben wir Stabilität, aber in Europa ist das nicht ganz so wichtig. - Das ist nicht die deutsche Position. Ich wäre schon dankbar dafür, wenn das gesamte Haus deutlich machen könnte, daß die deutsche Forderung nach realer Ausgabenkonstanz im Finanzierungszeitraum von 2000 bis 2006 eine gemeinsame Position ist und daß die zweite gemeinsame Position ist, die Nettozahlerposition nicht über Nacht zu beseitigen. ({46}) Das gelingt nicht. Gelingen aber kann, meine Damen und Herren, in den jetzt anstehenden Verhandlungen durchzusetzen, daß die Kurve der deutschen Nettozahlungen nicht weiter nach oben geht, sondern im Finanzierungszeitraum sinkt. Das ist unser Ziel. Ich bin ganz sicher, daß das überall in Europa verstanden wird. ({47}) Zu Ihnen, Herr Gerhardt - bevor Sie wieder laut werden -, nur noch soviel: Sie reden ziemlich unverantwortlich davon, daß wir etwas gegen die Osterweiterung hätten. ({48}) Es ist falsch, was Sie da sagen. Gerade derjenige, der in der eben beschriebenen Weise dafür streitet, daß die Finanzierung Europas in der Zeit von 2000 bis 2006 gesichert bleibt, daß sie rational ist, tut mehr für die Osterweiterung als Sie durch Ihre flotten Sprüche. ({49}) Denn über eines müssen Sie sich im klaren sein: Die Osterweiterung hat sehr viel mit Finanzierbarkeit zu tun. ({50}) Das muß man einmal Herrn Stoiber sagen. Ich höre immer wieder die Forderung, die Agenda müsse jetzt gar nicht beschlossen werden - das hat er erzählt -, denn das schade den deutschen Bauern. Aber auch da müssen Sie sich entscheiden: Wenn die Agenda jetzt nicht beschlossen wird, dann können Sie doch nicht nach Ungarn fahren und sich da für Ungarns Beitritt zur EU stark machen. Das paßt doch nicht zusammen; das ist doch keine verantwortliche Politik. ({51}) Die Agenda zustande zu bringen und einen fairen Ausgleich der Interessen deutlich werden zu lassen ist die Basis dafür, daß die Osterweiterung zügig durchverhandelt werden kann, und nicht das Gegenteil. Wer über die Agenda schimpft, wer erzählt, mit Rücksicht auf nationale Einzelinteressen dürfe die Agenda nicht beschlossen werden, der sollte zumindest so ehrlich sein zu sagen, daß er der eigentliche Gegner der Osterweiterung ist, und den Leuten nichts anderes versprechen. ({52}) Wir haben vor, die Agenda im März abzuschließen, was schwer genug ist. Das hat viel damit zu tun, daß wir Europa - auch für die Deutschen - bezahlbar halten, Europa für neue Mitglieder aufnahmefähig machen und Europa solidaritätsfähig halten wollen. Das sind die Kernpunkte unserer Politik. Nun noch ein Wort zu der Interessenvertretung, die mir von Herrn Gerhardt vorgeworfen worden ist. Bei dem Vorhaben, die Agenda zustande zu bringen, stellt man fest, daß in Portugal und Spanien gesagt wird, bei den Kohäsionsfonds dürfe sich nichts verändern. In Frankreich sagt man, eine Kofinanzierung in der Landwirtschaft dürfe es auf keinen Fall geben. ({53}) - Nicht erst, seit ich da bin. Das geht schon ein bißchen länger so; da können Sie ganz sicher sein. - Die Briten sagen, sie wollten den Beitrag, den sie erkämpft hätten Sie kennen Frau Thatcher, Herr Dr. Kohl -, auf jeden Fall behalten. Alle anderen haben ähnliche nationale Interessen. Als ich Herrn Gerhardt hier gehört habe, hatte ich den Eindruck, er verstehe die Interessen aller anderen Staaten, nur die deutschen nicht. Aber das ist doch nicht unsere Aufgabe, meine Damen und Herren. ({54}) - Natürlich, so haben Sie doch geredet: Sie verstehen nur die Interessen der Deutschen nicht. ({55}) - Nein, ich habe jetzt wenig Zeit, weil der ägyptische Präsident gleich unser Gast ist. - Herr Gerhardt, nur die deutschen Interessen haben Sie nicht erwähnt. ({56}) Dagegen halte ich es für richtig, den Partnern in Europa verständlich zu machen, daß auch die Deutschen ein Recht auf die Vertretung ihrer Interessen haben. ({57}) Inhalt meiner Politik ist es, klarzumachen, daß die Deutschen selbstbewußt ihre Interessen vertreten, ({58}) dabei aber immer wissen - vielleicht sogar mehr als andere; darüber will ich aber gar nicht rechten -, daß in einem einheitlichen Europa die eigenen Interessen nur im Respekt vor den Interessen der anderen durchgesetzt werden können. Nur darum geht es. ({59}) Ich möchte abschließend etwas zu dem sagen, was uns heute und morgen beschäftigen wird, nämlich zu den Veränderungen in der Außenpolitik. Zu Anfang möchte ich denjenigen meinen Dank sagen, die in Rambouillet verhandelt und dafür gesorgt haben, daß die Kontaktgruppe unter Einschluß von Rußland - das ist dick zu unterstreichen - eine gemeinsame Position zur Schaffung von Frieden in dieser gebeutelten Region herstellen konnte. ({60}) Ich füge mit großem Respekt hinzu: Der deutsche Außenminister hat einen großen Anteil daran. ({61}) Niemandem in der Regierung und auch niemandem hier im Haus - davon gehe ich aus - fällt es leicht, diese fundamentale Veränderung deutscher Außenpolitik einfach so zu beschließen; das wird auch von niemandem erwartet. Aber es haben sich nun einmal Veränderungen ergeben, auf die wir reagieren müssen. Wir müssen partnerschaftsfähig bleiben, und die Partner sehen die Veränderungen genauso wie wir. Wir müssen in der Lage sein, über Prinzipien, die uns in den letzten Jahrzehnten wichtig gewesen sind und über die wir alle miteinander, von unterschiedlichen Positionen kommend, in den letzten Jahren gestritten haben, unter veränderten Bedingungen neu nachzudenken, zumal wir es nicht zulassen dürfen, daß sich das, was in Bosnien war, im Kosovo wiederholt. ({62}) In Bosnien mußten erst Hunderttausende sterben, bevor die Staatengemeinschaft die Kraft fand einzugreifen. Inhalt dessen, was wir heute und morgen - ich hoffe, in großer Gemeinsamkeit - beschließen können und wollen ist, genau das nicht wiederkehren zu lassen. Ich habe großen Respekt vor denjenigen, die fragen: Ist es angesichts der Geschichte des Zweiten Weltkrieges vernünftig, daß die Deutschen dabei sind? Die Frage, ob die Deutschen dabeisein sollen, kann man stellen, und es ist keine zynische Frage. Aber für mich gilt, daß man diesen Satz auch umkehren kann: Gerade wenn es historische Schuld in dieser Region gibt, kann man sie auch dadurch abtragen, daß man weiteres Morden verhindern hilft. ({63}) Meine Damen und Herren, wer die Bilanz zieht und wer sie fair zieht, der wird manches zu kritisieren finden, keine Frage. Aber wer hinter die vordergründige Kritik schaut und sich mit den Tatsachen auseinandersetzt, der wird sehen, daß bereits in den ersten drei, vier Monaten deutlich geworden ist, ({64}) daß wir dabei sind, Modernität mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, ({65}) daß wir dabei sind, unter völlig neuen und anderen Bedingungen in der Außenpolitik Kontinuität und Partnerfähigkeit zu beweisen. Weil das so ist, verehrte Opposition: Bellen Sie ruhig, die Karawane zieht weiter. ({66})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Edmund Stoiber. ({0}) Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Diese Regierung ist gut hundert Tage im Amt. Ich weiß, daß nach so kurzer Zeit natürlich noch keine umwälzenden konkreten Erfolge zu erwarten sind. Doch ich glaube, eines ist in der breiten Öffentlichkeit sehr deutlich geworden: Der Kurs der Bundesregierung ist unklar, und soweit überhaupt etwas klar ist, geht unseres Erachtens der Kurs in die falsche Richtung. ({2}) Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich schon einmal darüber im klaren sein: Wollen Sie eine gewisse Kontinuität zur Regierung Kohl in verschiedenen Bereichen akzeptieren - das tun Sie verbal -, oder wollen Sie im Grunde genommen für alle Probleme, die heute vor allen Dingen aus der Internationalisierung und der Globalisierung entstehen, einfach die 16 Jahre Helmut Kohl verantwortlich erklären? Das geht nicht zusammen. Die Probleme, die Sie heute haben - soviel will ich nur zur Vergangenheit sagen -, hatten wir in dieser Weise 1982 natürlich nicht. Ich erinnere mich noch sehr gut an das Scheitern der Regierung Schmidt und die berühmte Rede von Helmut Schmidt in der SPD-Fraktion, wo er klarlegte: Die sozialen Sicherungssysteme sind zerrüttet; mit euch sind keine Einschränkungen möglich; mit mir sind keine weiteren Schuldenerhöhungen möglich. - Das war das Scheitern der Regierung Schmidt. Das hat die Regierung Kohl in der Phase von 1982 bis 1989 repariert. Das waren gute Jahre für die Bundesrepublik Deutschland. Das muß man deutlich sagen. ({3}) Danach kamen die spezifischen Probleme der Wiedervereinigung. Ich will darüber nicht mehr sagen, als daß sie natürlich die Voraussetzungen für die gesamte Politik verändert haben. Wir hätten sicherlich heute andere Staatsfinanzen, wenn wir die Wiedervereinigung nicht gehabt hätten. Ich bin allerdings froh und glücklich über diese Wiedervereinigung. Sie verdanken wir nicht Ihnen, sondern uns. ({4}) Wenn Sie sich nunmehr hier hinstellen und sagen: „Jetzt reden wir über die Zukunft. Wir haben in den ersten hundert Tagen die soziale Balance wieder hergestellt“, dann muß ich Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, fragen, was Sie unter sozialer Balance verstehen. Ich verstehe unter sozialer Balance eine Politik - wenn ich Ihre Worte im Wahlkampf und davor als Grundlage heranziehe, dann muß ich feststellen, daß wir hier gleicher Meinung sind -, die Arbeit schafft. Wie die Arbeitslosigkeit bewältigt werden kann, ist neben vielen Fragen, die sich uns stellen, die entscheidende gesellschaftspolitische Frage, die wir zu lösen haben. Ich muß feststellen, daß der prognostizierte Rückgang des Wachstums in den Jahren 1999 und 2000 nicht alleine auf die Entwicklungen in Asien und in Südamerika sowie auf die zu erwartenden Exportprobleme zurückzuführen ist. Die Bundesbank sagt ganz eindeutig, daß natürlich auch die hausgemachten Probleme - das nicht gelöste Problem der Steuerreform, Attentismus und die Tatsache, daß jeden Tag etwas Neues vorgeschlagen wird; darüber hat Kollege Schäuble ausführlich gesprochen - dazu führen, daß zum Beispiel 60 Prozent der Investitionen im privaten Wohnungsbau gegenwärtig gestoppt worden sind. Auch die Industrie- und Handelskammern in Deutschland gehen davon aus, daß zwischen 20 und 35 Prozent der für 1998 und 1999 geplanten Investitionen zunächst nicht stattfinden, weil Ihre Steuerreform im Grunde genommen mittelstandsfeindlich ist. ({5}) Deswegen sage ich Ihnen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler: Sie haben - das war für die meisten erstaunlich - im Mai des letzten Jahres in der Sendung „Was nun?“ gesagt: Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist mein Aufschwung; allein meine Kandidatur bringt so viel Optimismus in dieses Land, daß jetzt investiert wird. ({6}) Diese Sätze muß man sich noch einmal deutlich vor Augen halten. Wenn ich jetzt den Anstieg der Arbeitslosenzahl sehe - auch wenn ich alle saisonalen Probleme herausrechne -, dann muß ich Ihnen sagen, daß der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Rückgang des Aufschwungs angeblich Ihr Abschwung sind, Herr Bundeskanzler, genauso wie es 1998 Ihr Aufschwung war. ({7}) Wir werden uns noch über die Folgewirkungen der ökologischen Steuerreform unterhalten. Wir werden uns auch noch über die Diskussionen um die Kernenergie sowie über die dadurch verursachten Verunsicherungen und Verwirrungen unterhalten. Hier erlaube ich mir, eine Anmerkung von Ihnen aufzugreifen: Wenn Sie argumentieren, daß ein - hoffentlich nie eintretendes zweites Tschernobyl die Energiebasis der westlichen Länder zerstören würde, dann ist das ein ernstzunehmendes Argument, über das wir uns, Herr Bundeskanzler, auseinandersetzen müssen. Aber ich halte den Weg, den Sie eingeschlagen haben, nämlich den Ausstieg aus der Kernenergie auf diese Weise in einer zusammenwachsenden Welt - fast kein anderer Industriestaat folgt Ihnen in dieser Frage -, für völlig verkehrt. Sie müssen sich darum kümmern, daß Mochovce, Temelin und Kozloduj nachgerüstet werden. Die Bulgaren und die Rumänen steigen nicht aus der Kernenergie aus. Nicht einmal die Ukraine kann den Block abschalten, weil sie sonst die Energiebasis ihres Landes zerstören würde. Vor diesem Hintergrund können Sie sich nicht hier hinstellen und so tun, als würden Sie in einem Nationalstaat leben und als wenn es Sie nicht mehr zu interessieren hätte, was in der Welt außerhalb Deutschlands passiert. ({8}) Daß Sie als Bundeskanzler eines hochentwickelten Industrielandes, das in der Sicherheitstechnik von Kernkraftwerken eines der Spitzenländer ist, die Anwendung der Kernenergie heute zurückfahren, während andere weiterhin Kernenergieanlagen bauen - wir haben 400 Kernenergieanlagen in der Welt; gegenwärtig werden 90 weitere geplant und gebaut, und zwar nicht mehr von deutschen Firmen, sondern hauptsächlich von den Amerikanern, von Westinghouse, Framatome und vielen anderen -, ist eine verhängnisvolle, falsche Politik, die uns massiv Arbeitsplätze kostet. Sie haben in diesem Punkt die Mehrheit der Menschen nicht mehr auf Ihrer Seite. ({9}) Die Kernenergie macht nicht einmal 10 Prozent der Energiebasis von Rußland aus. Ein solches Land könnte viel leichter und schneller als Länder wie Deutschland, das mehr als ein Drittel seines Stroms aus der Kernenergie bezieht, aus der Kernenergie aussteigen. Sie wissen, daß der Süden Deutschlands sogar zwei Drittel seines Stroms aus der Kernenergie bezieht. Trotzdem steigt Rußland nicht aus der Kernenergie aus; vielmehr baut es weitere Kernkraftwerke, weil es ohne diese Basis seinen Energiebedarf nicht decken kann. Denken Sie an China. Ein Land mit 1,2 Milliarden Menschen, das den Sprung zu wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand schaffen will, baut genauso auf die Kernenergie. Und Sie glauben, Deutschland könnte beispielgebend sein, wenn es aus einer sicher beherrschbaren Energie aussteigt? Sie machen einen ganz entscheidenden Fehler für Deutschland. ({10}) In bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit möchte ich Sie an Ihre frühere Verantwortung erinnern. In Ihrer früheren Verantwortung als Ministerpräsident von Niedersachsen hatten Sie in den letzten Jahren eine wesentlich höhere Jugendarbeitslosigkeit als die süddeutschen Länder zu verzeichnen. Ich habe Ihnen immer vorgeworfen, daß Sie mit Ihrer Landespolitik mit dazu beigetragen haben. ({11}) - Wenn Sie „Unsinn“ schreien, dann sage ich Ihnen: Der Bundeskanzler hat davon gesprochen, daß es auch darMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber ({12}) um geht, die jungen Leute zu befähigen, einen anständigen Ausbildungsberuf zu ergreifen. Sie, Herr Bundeskanzler, waren jahrelang Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. Schauen Sie sich einmal die Bildungssituation in Niedersachsen im Vergleich zu Bayern und Baden-Württemberg an! ({13}) Diese Probleme darf man nicht allein aus der makroökonomischen Sicht der Bundesregierung sehen. Schauen Sie sich einmal an, wieviel Unterricht in Niedersachsen ausgefallen ist und ausfällt! Erklären Sie einmal, warum Sie keine neuen Lehrer mehr eingestellt haben! Sie haben nicht einmal mehr alle freiwerdenden Planstellen wieder besetzt. Jetzt stellen Sie sich als Bundeskanzler hier hin und sprechen von Chancengerechtigkeit bei Ausbildungsberufen, während Sie in Ihrer früheren Verantwortung in diesem Punkte nicht das erreicht haben, was Sie nun als Ihr Ziel vorgeben. ({14}) Es war ja übrigens nicht ich, sondern Ihr ehemaliger Stellvertreter und heutiger Nachfolger, der einmal in Hintergrundgesprächen gesagt hat: Zieht ein bayerisches Kind nach Niedersachsen, dann muß es sich erst einmal zwei Jahre lang hängen lassen, damit es den niedersächsischen Standard erreicht. Darin steckt, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch eine Antwort auf die Forderung, die Jugendarbeitslosigkeit abzubauen. Dazu brauchen Sie eine exzellente Ausbildung in den Schulen. ({15}) Wenn Sie sich - das ist mir schon gewaltig aufgestoßen - hier hinstellen und den Kollegen Schäuble und in besonderem Maße mich für europapolitische Positionen angreifen, dann stellt sich für mich die Frage: Was wollen Sie jetzt? Auf dem Saarbrücker Parteitag haben Sie Bundeskanzler Helmut Kohl massiv angegriffen und gesagt, er habe im Grunde genommen mit ScheckbuchDiplomatie und mit offenen Kassen die Probleme Europas gelöst. ({16}) Da seien Milliarden verbraten worden - „verbraten“ haben Sie wörtlich gesagt -, und damit müsse endgültig Schluß sein. Ein paar Tage später versuchen Sie als Nachfolger von Helmut Kohl, mich bei Ihrer Rede beim Aschermittwoch in Vilshofen in einen Gegensatz zu ihm zu bringen. Sie haben wörtlich gesagt: Man müsse sich schon einmal klarwerden, ob man der Politik Kohls folgt oder eine neue Politik macht. ({17}) Ich frage Sie: Was wollen Sie denn eigentlich für eine Politik? ({18}) So leicht, Herr Bundeskanzler, kommen Sie nicht davon. Zu Ihren Ausführungen über die Frage der Agenda 2000 ({19}) sage ich Ihnen: Seien Sie nicht so hochmütig; Sie werden sich sicherlich auch noch daran gewöhnen müssen, daß man Ihnen widerspricht. Anscheinend sind Sie gar nicht mehr gewöhnt, daß man Ihnen widerspricht. ({20}) Wenn Sie hier Wolfgang Schäuble und mir vorwerfen, es sei unredlich, ({21}) eine erhebliche Senkung des Nettobeitrags der Bundesrepublik Deutschland an die EU zu fordern, ({22}) dann möchte ich Ihnen darauf deutlich antworten: Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, Sie haben vorgetragen, daß wir einen Nettobeitrag von 22 Milliarden DM leisten, was ein Skandal wäre, wie Sie selbst sinngemäß gesagt haben. Aber Ihr Finanzminister hat sich zu den 14 Milliarden DM - gemessen am Bruttosozialprodukt nach Kaufkraftparität, was im Juni des Jahres 1997 die Meßlatte der Finanzminister aller deutschen Länder einschließlich des niedersächsischen Finanzministers gewesen ist - selbst bekannt. Damals hatte die Finanzministerkonferenz festgestellt, daß der deutsche Haushalt um Zahlungen in Höhe von 14 Milliarden DM, wenn es gerecht zuginge, an die EU entlastet werden müßte. Das ist nicht meine Zahl, sondern diese Zahl stammt von den Finanzministern der Länder. Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, der Bundesrat hat sich am 28. November 1997 ({23}) - Sie waren damals Ministerpräsident - den Finanzministerbeschluß zu eigen gemacht. Jetzt können Sie als Bundeskanzler mir doch nicht Vorwürfe machen, wenn ich an Beschlüssen festhalte, die auch Sie mitgetragen haben. Das ist doch unglaubwürdig. ({24}) Wenn ich an die geplanten gesetzlichen Regelungen zu den 630-Mark-Jobs und an viele Fragen der Atomnovelle denke, wird mir Ihr Vorgehen klar: einmal raus, einmal rein, wieder raus und wieder rein, aber keiner weiß, was los ist. In diesem Zusammenhang muß ich Sie daran erinnern, daß wir am 8. Juni letzten Jahres - das ist noch kein Jahr her - eine Sonderministerpräsidentenkonferenz hatten, bei der Herr Ministerpräsident Lafontaine und Herr Ministerpräsident Schröder dabei waren. Auf dieser Konferenz gab es die einstimmige Auffassung der Ministerpräsidenten, die alten Beschlüsse der Finanzministerkonferenz zu bekräftigen. Ich halte es - mit Verlaub - für eine Unverfrorenheit, wenn Sie mir heute Vorhaltungen über das machen, was Sie selber mit Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({25}) beschlossen haben, nämlich daß es am gerechtesten wäre, in Europa an unserem Anteil am Bruttosozialprodukt gemessen zu werden. Diesen Punkt will ich deutlich herausstellen. ({26}) Ich will noch ein weiteres Beispiel für Unredlichkeit geben. Bleiben wir beim Thema Europa, dem Sie einen großen Teil Ihrer Rede gewidmet haben. In diesem Zusammenhang haben Sie große Versprechungen gemacht. Herr Bundeskanzler, die im Jahre 1991 in Edinburgh beschlossene Finanzierung habe ich niemals kritisiert. Ich habe die Beschlüsse vielleicht insofern kritisiert ({27}) - man wird doch über diese Fragen noch vernünftig miteinander reden können -, daß ein Wohlstandskoeffizient zum Maßstab genommen wurde, der im Prinzip dem Zustand der alten Bundesrepublik Deutschland entsprach. Aber im Rahmen der Diskussion der letzten Jahre „Was passiert im Jahre 1999, wenn die Beschlüsse von Edingburgh auslaufen?“ haben wir frühzeitig, auch auf der Ministerpräsidentenkonferenz, unsere Position dargestellt. Unsere Position war, daß sich unsere Situation gemessen am Wohlstandskoeffizienten in den Jahren 1996 bis 1998 gegenüber anderen Ländern dramatisch verändert hat. Wie soll ich denn den Menschen im Lande erklären, daß Luxemburg, Belgien oder gar Dänemark Finanzausgleichsleistungen von uns bekommen, während wir Deutsche Probleme haben, unsere Aufgaben im Inneren zu bewältigen? Unsere Bitte und Aufforderung waren deshalb, daß die anderen Nationen unsere Position akzeptieren. Ich sage noch einmal, Herr Bundeskanzler: Ein Stück mehr Glaubwürdigkeit täte Ihrer Politik und Ihrer Person weiß Gott gut. Auf Dauer werden Sie die mangelnde Glaubwürdigkeit nicht mit lockeren Sprüchen überspielen können. Die Probleme werden Sie mit Sicherheit einholen. ({28}) Sie haben die Bauern genannt und in diesem Zusammenhang meine Reise nach Ungarn angesprochen. Ich will kurz auf diesen Punkt eingehen. Herr Bundeskanzler, der ehemalige Landwirtschaftsminister von Niedersachsen und jetzige Bundeslandwirtschaftsminister hat vor einem halben Jahr die Position der Regierung Kohl und des damaligen Bundeslandwirtschaftsministers Borchert zur Agenda 2000 mit einem „Nein, so nicht!“ voll und ganz zurückgewiesen. Ein halbes Jahr später nimmt er plötzlich die Beschlüsse im Rahmen der Agenda 2000 in toto als Grundlage für seine Politik, obwohl er selbst die Auswirkungen dieser Beschlüsse beklagt, nämlich daß zum Beispiel 30 000 bis 40 000 Bauernhöfe in Deutschland vor allen Dingen in Süddeutschland - vernichtet würden. Man kann dieses Problem nicht so bewältigen, wie das mit der Agenda 2000 versucht wird; man kann nicht die Bedingungen des Weltmarktes für die deutsche Landwirtschaft akzeptieren, wenn in Deutschland ganz andere Produktionsbedingungen auf Grund ökologischer Erfordernisse bestehen, die man so zum Beispiel in Amerika nicht findet. Daher muß man während der Übergangsphase mehr Schutz für unsere Bauern fordern. ({29}) Ich freue mich, daß auch Sie den politischen Aschermittwoch in Bayern entdeckt haben. Bei dieser Gelegenheit haben Sie in Vilshofen zu den protestierenden Bauern gesagt - Sie sind der Bundeskanzler; die Bauern wollen deshalb Ihnen ihre Sorgen beschreiben -: „Was wollt ihr eigentlich? Ihr habt doch die CSU oder die CDU gewählt! Ich kann doch nicht in hundert Tagen all das ändern, was eure alte Regierung versaubeutelt hat.“ ({30}) - Es ist gut, daß da geklatscht wird. - Ich halte das für einen absoluten Zynismus, ({31}) denn es geht nicht um die Vergangenheit, sondern es geht darum, was morgen und übermorgen kommt. Herr Bundeskanzler: Sie haben in Ihrer Saarbrücker Rede versprochen, daß Sie entscheidende Veränderungen der Agenda 2000 hinsichtlich der Strukturpolitik erreichen, daß Sie in der Landwirtschaftspolitik einiges verändern und daß Sie in der Frage des Finanzbeitrages etwas ändern. Wir Deutsche sind durch die Agenda 2000 - Entwicklung Europas von 2000 bis 2006 - wohl am allermeisten betroffen. Deswegen habe ich Ihnen gesagt: Es wird schwierig werden, all diese Probleme im Interesse Deutschlands und im Interesse Europas auf einen Schlag zu lösen. Ich habe Ihnen auch gesagt: Natürlich muß die Agenda kommen. Die Agenda 2000 ist die Voraussetzung für die Osterweiterung. Aber eine falsche Agenda 2000 wird natürlich keine Bereitschaft für eine Erweiterung Europas bringen. Ich bin im Krieg geboren und betrachte mich als der unmittelbaren Nachkriegsgeneration zugehörig. Natürlich kann ich auf Grund meiner Kriegserlebnisse als kleines Kind beurteilen, welche enorme Leistung bezüglich der Integration Europas von Adenauer bis Kohl erbracht wurde. ({32}) Das ist doch gar keine Frage. Aber meine Kinder, die den Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit nicht mehr erlebt haben, wollen Europa aus sich heraus begründet haben. Wenn Sie den Menschen in Deutschland die Probleme nicht erläutern und ihnen nicht Ihre Bereitschaft zeigen, sich dafür einzusetzen, dann machen Sie einen schweren Fehler für Deutschland und auch für die weitere Akzeptanz der europäischen Integration, was ich für außerordentlich schädlich halten würde. ({33}) Wir werden genau messen, was Sie erreichen. Ich bin jedenfalls sehr skeptisch. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({34}) Sie haben auf der Arbeitsebene im Zusammenhang mit der Förderung notleidender Betriebe in Deutschland einer ganz erheblichen Beschränkung der Souveränität von Entscheidungen auf Bundes- und auf Landesebene zugestimmt. Was bedeutet es denn, wenn sich Frau Wulf-Mathies und die Europäische Kommission mit ihrer Agenda in der Frage der Strukturförderung - ein wichtiger Punkt der Agenda - durchsetzen? Es bedeutet, daß dann in verschiedenen Ländern, zum Beispiel in Baden-Württemberg oder in Bayern, künftig nichts mehr durch europäische Mittel, aber auch nichts mehr oder fast nichts mehr durch Bundesmittel und schon gar nichts mehr durch Landesmittel gefördert werden könnte. Es kann doch nicht sein, daß ich als Ministerpräsident den Menschen in Hof oder in Schweinfurt, wo es Strukturprobleme gibt, dann, wenn die Agenda 2000 so durchkommt, wie sich Frau Wulf-Mathies das vorstellt, sagen muß: Es tut mir leid, ich kann euch nicht helfen, denn gemessen an der Estremadura in Spanien lebt ihr in einer wunderbaren Situation. Ihr müßt euch gedulden, bis ihr in einer schlechteren Situation seid; vorher kann ich euch nicht mit bayerischen Mitteln fördern. Das ist eine unmögliche Entscheidung, Herr Bundeskanzler. Sie haben das als Ministerpräsident immer gegeißelt. Deswegen wundere ich mich, daß die Bundesregierung auch gegenüber der Kommission auf der Arbeitsebene einknickt. ({35}) Wenn die Entscheidungen in der Agenda 2000, von denen Deutschland betroffen ist und die schon am 18. März 1998 gefallen sind, genuine deutsche Entscheidungen wären, wenn Sie also die politischen Entscheidungen, die der Agenda 2000 zugrunde liegen, noch in absoluter Souveränität entscheiden könnten, dann wäre im letzten Jahr hier im Bundestag und in der öffentlichen Diskussion einiges los gewesen. Darum geht es: Wir brauchen eine öffentliche Diskussion über diese europäische Innenpolitik. Das ist keine Außenpolitik mehr. Das betrifft uns elementar. Wenn Strukturförderung in Bayern nicht mehr möglich ist und durch die Agenda 2000 innerhalb einiger Monate allein bei uns 30 000 landwirtschaftliche Betriebe draufgehen mit Zigtausenden von Arbeitsplätzen, dann können Sie sich Ihr Bündnis für Arbeit letzten Endes hinter die Ohren kleben; denn Sie rufen durch falsche Entscheidungen massive Arbeitslosigkeit mit hervor. ({36}) Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung: Ich halte es schon für unverfroren ({37}) - das ist Ihre Bewertung -, die Bevölkerung in einer wesentlichen Frage so zu diffamieren. (Bundeskanzler Gerhard Schröder verläßt den Saal - Unruhe bei der CDU/CSU -

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Ich habe einen internationalen Gast!) - Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden auch ohne Bundeskanzler weiterreden können. ({0}) Ich halte es für eine Unverfrorenheit, sich hier hinzustellen und den Integrationsbemühungen verschiedener Länder und der geplanten Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes so zu begegnen, wie es geschehen ist. Ich sage Ihnen eines: Es gibt ganz wenige Länder - dazu gehört mit Sicherheit nicht Niedersachsen -, nämlich zwei, und zwar Bayern und Nordrhein-Westfalen, die insgesamt tausend Lehrer allein dafür abstellen, den Kindern aus der Türkei und Jugoslawien - oder wo immer sie herkommen - Deutschunterricht zu geben, sie an den Regelunterricht heranzuführen. Wir stellen 200 Lehrer ab, um den Kindern, wie es außer in Nordrhein-Westfalen nirgendwo üblich ist, islamischen Ethikunterricht zu geben, und zwar nicht erst jetzt, sondern schon jahrelang. Diese Lehrer werden von 24 ausgewiesenen Lehrern beobachtet. Sie achten darauf, daß diese 200 Lehrer bei der Praktizierung des islamischen Ethikunterrichts in türkischer Sprache auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Wir in Bayern haben die geringste Ausländerkriminalität, die geringste Zahl von Angriffen auf Ausländer und auch die geringste Ausländerarbeitslosigkeit. ({1}) Ich lasse mir doch nicht von dem Bundeskanzler, der Ministerpräsident eines Bundeslandes war, hier Vorhaltungen machen. In welchen Ländern, in denen die jetzigen Mitglieder der Bundesregierung früher Verantwortung trugen, gibt es denn einen islamischen Ethikunterricht? Wo gibt es denn da Integrationsbemühungen? Nein, Ihre Koalitionsvereinbarung war es, die uns aufgeschreckt hat, ({2}) Ihre Absicht, die Staatsangehörigkeit mehr oder weniger allein an dem achtjährigen legitimen Aufenthalt in diesem Lande festzumachen. Ich war froh, Herr Schily, daß Sie selber in einem Interview der „Süddeutschen Zeitung“ deutlich gemacht haben: Ja, das bedeutet in der Tat die Hinnahme der generellen doppelten Staatsangehörigkeit. Das ist in der Tat eine epochale, eine historische Entscheidung. Sie haben gesagt, das sei eine Veränderung des allgemeinen Staatsverständnisses. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({0}): Nein, ich halte es jetzt wie der Bundeskanzler, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({2}) Die Hinnahme der generellen doppelten Staatsangehörigkeit ist eine wichtige Detailfrage für weitere Integrationsbemühungen und die Reform unseres Staatsangehörigkeitsrechts. In dieser wichtigen Detailfrage haben wir schon immer eine fundamental andere Auffassung als die Grünen und die SPD gehabt. Aber solch geringe Voraussetzungen für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, wie sie in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben sind, habe ich noch nie von Ihrer Seite gehört. Deswegen war es notwendig, Fragen zu stellen: Was ist mit den Parallelgesellschaften? Was passiert im Bereich des Nachzugs? Das ist nicht damit gelöst, Herr Schily, daß Sie sagen, es handle sich um ein paar hundert, während der Gemeindetag und der Städtetag, die das dann bezahlen müssen, sagen: Es ist mit 600 000 bis 800 000 Zuzüglern zu rechnen. Sie können von mir aus das 630-Mark-Gesetz schlampig angehen. Das sind Wirkungen, die man später korrigieren kann. Aber die Schlampigkeit, mit der Sie Änderungen in bezug auf das Staatsangehörigkeitsrecht vornehmen wollten, will die Mehrheit des Volkes in Deutschland nicht. ({3}) Erlauben Sie mir gerade im Zusammenhang mit der Entwicklung des Prozesses gegen Öcalan und all dem, was damit zusammenhängt, noch ein Wort zur inneren Sicherheit in unserem Lande zu sagen. Ich will mich auf einen Punkt konzentrieren und alles andere unterstreichen, was Wolfgang Schäuble in diesem Zusammenhang gesagt hat. Ich frage mich schon, welchen Kurs die Bundesregierung in dieser Frage hat, wenn Innenminister Schily öffentlich fordert, gegen die Gewalttäter in Deutschland mit Entschiedenheit und Härte vorzugehen, ({4}) die Ausländergesetze, wenn nötig, zu verschärfen und die Möglichkeiten der Abschiebung von gewalttätigen Kurden zu erweitern. Ich war selber einmal Innenminister. Ich habe in den Jahren 1992 bis 1995 über all diese Forderungen zusammen mit dem Kollegen Schäuble im Bundestag und im Bundesrat diskutiert. Wir sind in dieser Frage auf den erbitterten Widerstand von seiten der Grünen und der SPD gestoßen. Es ist schon bemerkenswert: Es muß immer erst ein fürchterliches Ereignis eintreten, damit Sie zu notwendigen Korrekturen im Interesse des inneren Friedens in unserem Land bereit sind. ({5}) Was soll ich von Ihren Ankündigungen halten, Ausländergesetze, wenn nötig, zu verschärfen und die Möglichkeiten der Abschiebung von gewalttätigen Kurden zu erweitern? Vorgestern fand das Treffen der zuständigen Staatssekretäre von Bund und Ländern statt. Der Staatssekretär des Bundesinnenministers hat zur gleichen Zeit, als Sie das öffentlich angekündigt haben, keinerlei Bereitschaft zur Änderung des entsprechenden Gesetzes im Hinblick auf eine Erleichterung der beschleunigten Ausweisung und auf eine Abschiebung von Gewalttätern gezeigt und die Ankündigungen als wenig hilfreich bezeichnet. ({6}) Ich halte es wiederum für ein Wesensmerkmal Ihrer Politik, draußen groß zu reden und irgendwelche Ankündigungen zu machen. Dann aber, wenn es um die konkrete Umsetzung geht, ziehen Sie - aus welchen Gründen auch immer - den Schwanz ein, wenn ich das einmal so brutal sagen darf. ({7}) Leider ist der Bundeskanzler nicht mehr anwesend. - Ich respektiere, daß er einen Termin mit einer ausländischen Delegation hat. - Er wird sich dieser Auseinandersetzung nicht entziehen können. Vielleicht ist es ihm unangenehm, das anzuhören, was er hier hören muß. ({8}) Der ehemalige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen ({9}) hat im Juli 1997 in einem Interview der „Bild am Sonntag“ vollmundig erklärt - ich zitiere wörtlich aus diesem Interview, das Fragen der inneren Sicherheit behandelte -: Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell! ({10}) Dann gab es in Teilbereichen der Wählerschaft der Union Respekt vor dieser Aussage von seiten des Herrn Schröder. Ich habe als Ministerpräsident versucht, diese Aussage in der zweiten Kammer, im Bundesrat, einigungsfähig zu machen. Siehe da, es war nicht mehr einigungsfähig, was öffentlich gefordert worden ist. Herr Schily, Sie wissen, daß eine ganze Reihe von Veränderungsvorschlägen vorliegt. Nichts ist passiert. Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, die Bevölkerung verbal zu beruhigen und nichts zu ändern und dann, wenn plötzlich Probleme auftreten, wiederum verbal zu beruhigen. So kann man Deutschland nicht regieren. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte auch noch einen anderen Punkt ansprechen, den Herr Struck und auch der Bundeskanzler angesprochen haben. Es kommen immer wieder in der Frage der Kernenergie die Vorwürfe, wir wären nicht bereit, Lasten zu übernehmen. ({12}) Ich will Sie nur daran erinnern, daß die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf nicht von der Bayerischen Staatsregierung gekippt worden ist, sondern von der Energiewirtschaft selber. Wir waren bereit, schwerste Auseinandersetzungen durchzustehen und einen groMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber ({13}) ßen Teil der Entsorgung der deutschen Kraftwerke zu übernehmen. ({14}) Herr Struck, wenn Sie uns vorwerfen ({15}) - das würde ich so locker nicht sagen -, ({16}) wir würden uns hier unserer Verpflichtung entziehen, ({17}) dann sage ich Ihnen: Geben Sie uns das Recht - dann können wir sofort darüber reden -, nicht nur über die Entsorgung, sondern auch über die Energieversorgung eigenständig in den Ländern zu entscheiden. Wenn ich diesen Bundestag dazu nicht mehr bräuchte und in Bayern die Energiebasis selber bestimmen könnte, dann würde ich sie anders bestimmen, als das heute der Fall ist. Aber Sie können nicht sagen, daß wir die Entsorgung übernehmen sollten. Dazu haben Sie sich vertragsmäßig im September 1979 verpflichtet; dieser Vertrag ist noch nicht aufgekündigt, er ist noch nicht gelöst. ({18}) Statt politischer Führung und Gestaltungskraft bietet die Bundesregierung eine parteipolitisch motivierte Behandlung der süddeutschen Länder. Ich möchte jetzt einen Punkt ansprechen, bei dem ich die Kritik der bayerischen SPD vermisse, die sich hier sozusagen nur stramm vor jenen verbeugt, die in Bonn die Verantwortung tragen. ({19}) - Sie erwecken den Eindruck. Ich beziehe mich jetzt auf die Aussage des Herrn Finanzministers, die ich im „Spiegel“ gelesen habe - Sie haben sie leider nicht widerrufen oder korrigieren lassen -, so ungefähr nach dem Motto: Bringt mir doch Projekte aus Bayern, bei denen ich kürzen kann. - Ich halte das, Herr Bundesfinanzminister, für eine Unverschämtheit gegenüber der Bevölkerung in Bayern. ({20}) Der Bundeskanzler hat am Aschermittwoch erklärt: Wenn Stoiber nicht lernt, bekommen die Bayern Steine statt Brot. Die „Süddeutsche Zeitung“ kommentiert diese Entgleisung - jetzt zitiere ich -: Das ist eine durch den Amtseid nicht gedeckte Drohung; bereits der Versuch wäre strafbar. ({21}) Begreifen Sie sich etwa nur noch als eine Regierung bestimmter Regionen? Solange Sie die Bundesregierung stellen, haben Sie für ganz Deutschland die Verantwortung zu tragen. ({22}) Ich muß Sie, Herr Lafontaine und Herr Fischer, ja auch ertragen, obwohl SPD und Grüne bei weitem nicht die Mehrheit der zwölf Millionen Einwohner Bayerns haben. Ich erwarte dann natürlich auch, daß Sie Bayern und Baden-Württemberg fair behandeln, wie das auch Ihr Vorgänger unter umgekehrten Vorzeichen getan hat. ({23}) Diese Bundesregierung ({24}) und ihre Politik ({25}) sind weit weg von der Bevölkerung. Das werden Sie noch feststellen, vor allen Dingen bei den nächsten Wahlen. Am 13. Juni entscheidet die deutsche Bevölkerung über den europapolitischen Kurs der CDU und CSU und der SPD. Natürlich spielt hier auch die Politik der Bundesregierung eine ganz besondere Rolle. Ich schaue diesem 13. Juni - genauso wie Wolfgang Schäuble - mit großem Optimismus entgegen. Sie werden noch mehrere Hessen erleben - das sage ich Ihnen voraus -, wenn Sie diese Politik weiter betreiben. ({26}) Nach hundert Tagen rotgrüner Regierung kann man nur festhalten: Das war kein Aufbruch. Ich habe es Ihnen erspart, aus dem Hundert-Tage-Programm der SPD vorzulesen, das Sie als Partei am 20. August des Jahres 1998 beschlossen haben, in dem Sie festgehalten haben, was Sie in den ersten hundert Tagen alles machen werden. Ich stelle anheim, einmal nachzulesen, was da alles versprochen worden ist. Sie machen sich Gedanken über die Frage der Glaubwürdigkeit der respräsentativen Demokratie. Aber Sie schaden der Glaubwürdigkeit dieser repräsentativen Demokratie, wenn Sie ein schnelles Wort in die Welt setzen, es dann korrigieren oder hoffen, daß die Leute dieses Hundert-Tage-Programm vergessen haben, und Sie nicht an dem, was Sie versprochen haben, sondern nur an minimalen Ergebnissen messen. Wenn Sie sich den wirklichen Herausforderungen Deutschlands stellen würden und sich den tatsächlichen Problemen unseres Landes und seiner Menschen widmen würden, wenn Sie ideologiefrei und zukunftsorientiert eine Politik für Wachstum und Arbeitsplätze machen, dann werden Sie auch in den Unionsparteien eine konstruktive Opposition finden. Aber diese Bundesregierung muß die Themen der Bürger auf die Tagesordnung der Politik setzen - das, was die Menschen bewegt, die Befindlichkeit von Herrn und Frau Jedermann, die bei Teilen von Ihnen anscheinend keine Rolle mehr spielen. Deswegen beschimpfen Sie die Menschen, die sich in den Unterschriftslisten eintragen. Wie kommen Sie eigentlich dazu, diese Menschen als „braune Flut“, als „Bodensatz“, als „rechtsradikalen Sumpf“ zu bezeichnen? ({27}) Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({28}) Wir werden alles daransetzen, die SPD an ihren Versprechungen zu messen. CDU und CSU jedenfalls werden ihren Anteil daran nehmen, zu versuchen, Rotgrün als eine Episode in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erscheinen zu lassen. Herzlichen Dank, meine Damen, meine Herren. ({29})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Parlamentarischen Geschäftsführer haben sich interfraktionell darauf geeinigt, die Aussprache zum Etat des Bundeskanzleramtes hiermit auszusetzen. Ich rufe deshalb jetzt den Etat des Bundesministeriums des Auswärtigen auf und erteile zunächst dem Bundesminister Joseph Fischer das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Stoiber, das war laut. Aber außer dem Schrei nach Subventionen, außer der Mobilisierung von Vorurteilen, außer einem weinerlichen Wehklagen darüber, daß Bayern angeblich benachteiligt werde, habe ich zur Sache relativ wenig gehört. ({0}) Respektive dort, wo Sie zur Sache gesprochen haben ich will gleich ausführlich auf die Agenda 2000 eingehen -, kam nicht viel. Ich hätte es begrüßt, wenn der bayerische Ministerpräsident - der meint, er gehöre mittlerweile zu den Verfolgten - jetzt, nachdem es ihm gelungen ist, Theo Waigel aus dem Amt des CSU-Vorsitzenden zu hieven, diese Geste der Solidarität, die er einklagt, einmal gegenüber den Menschen in den neuen Bundesländern gezeigt hätte. ({1}) Aufkündigung des Finanzausgleichs durch die CSU, Aufkündigung der gemeinsamen Sozialversicherung das ist die Sprache, die die CSU dann spricht, wenn sie sich stark fühlt. Wenn sie sich schwach fühlt, dann stellt sie sich hierhin, beschwert sich und weint herum, sie bekomme keine Subventionen mehr. Das ist Edmund Stoiber pur. ({2}) Dazu kann ich nur sagen: Vor einer solchen Politik möge uns ein gütiges Schicksal bewahren. Daß Sie, Herr Stoiber, hier heute morgen den Zweikampf der Oppositionsführer in der Auseinandersetzung innerhalb von CDU und CSU betrieben haben, ist zu akzeptieren. Daß Sie, Herr Schäuble, hier heute unter dem Banner, es müsse Substanz kommen, eine Politik des grassierenden Gedächtnisschwundes hinsichtlich Ihrer eigenen 16 Jahre Regierungszeit dargeboten haben, haben Sie mit Herrn Stoiber sogar gemeinsam. Aber gestatten Sie mir, daß ich hier in aller Ausführlichkeit auf den europapolitischen Teil eingehe; denn daran wird die ganze Widersprüchlichkeit und, wie ich finde, auch die Durchsichtigkeit, die Substanzlosigkeit Ihrer Position klar. Ich frage mich, was in Bundeskanzler a. D. Dr. Helmut Kohl bei Ihrer Rede vorgegangen sein muß. Theo Waigel hat sich den Schmerz erspart, Sie anzuhören; denn vermutlich wäre es für ihn noch schlimmer geworden. ({3}) - Dann habe ich seine Leidensfähigkeit unterschätzt. Das gebe ich ganz offen zu. ({4}) Ich möchte bei diesem Punkt wirklich zur Sache sprechen. Daß Sie nach 16 Jahren CDU/CSU-Regierung die Stirn haben, ein Papier zu verabschieden, wonach es eine Reduzierung des deutschen Nettobeitrages geben soll - 14 Milliarden DM bei Stoiber oder 7 Milliarden DM, wie von anderen zu hören war -, ist eine Verabschiedung von der Politik Helmut Kohls, für die der Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl hier immer eine weit über das Regierungslager hinausgehende Mehrheit hatte. ({5}) Ich kenne mich mit Fundis in unserer Partei wirklich aus. So, wie ich Sie, Herr Stoiber, heute erlebt habe, kann ich nur sagen: Sie sind wirklich ein Fundi. Ich hatte jüngst den Besuch eines ehemaligen Ministerpräsidenten eines EU-Mitgliedslandes. Dieses Land hat sehr enge Wirtschaftsbeziehungen mit Bayern. Ich sagte ihm, ich hätte nie verstanden, warum Stoiber als bayerischer Ministerpräsident gegen den Euro ist und warum er dagegen ist, daß Deutschland Mitglied der Währungsunion wird, wenn der Euro kommt - was durch die historische Entscheidung von Helmut Kohl klar war. Dazu sagte er, das habe er sich auch gefragt. Er sei deshalb auch nach München gefahren, habe sich mit dem bayerischen Ministerpräsidenten getroffen und mit ihm geredet. Der bayerische Ministerpräsident habe gesagt, er müsse das aus innenpolitischen Gründen so machen, weil er eine Partei rechts von der CSU verhindern wolle. Mit der Sache hat das nichts zu tun. Das ist das Mobilisieren von Emotionen und somit reine Parteipolitik. ({6}) Das war Ihr Beitrag zur Agenda 2000. Statt dessen hätten wir hier einen überparteilichen Konsens finden müssen, der realisierbar ist. Sie wissen nur zu gut, daß das, was Sie - auch in Ihrem gemeinsamen Papier - vorschlagen, nicht realisierbar ist. ({7}) - Ihre Meßlatte können Sie sich sonstwo hinhängen. Das interessiert mich nun weiß Gott nicht. Ihre Meßlatte ist eine innerparteiliche Meßlatte in der AuseinandersetMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber ({8}) zung mit Herrn Schäuble und der CDU; das ist mir völlig klar. ({9}) - „Meßlatten-Stoiber“, meinetwegen. Sie geraten mehr und mehr zur Inkarnation der Meßlatte in der Europapolitik. Entsprechend sieht das dann auch aus. Ich empfehle Ihnen wirklich einmal eine Reise nach Paris. Im CDU-Papier steht, wir sollten einen 50prozentigen nationalen Finanzierungsanteil bei den direkten Einkommensbeihilfen, der sogenannten Kofinanzierung, erreichen. Wie Sie das einstimmig, im Einvernehmen mit unserem französischen Partner, durchsetzen wollen, weiß ich nicht. Um das durchzusetzen, helfen Ihnen auch fünf Wallfahrten nach Altötting nicht. Sie wissen so gut wie ich, daß das gegenwärtig völlig illusionär und irreal ist. Sie verkünden es hier dennoch. Das Kuriose ist dann, daß Edmund Stoiber auf der anderen Seite nicht bereit ist zu liefern. Was fordert Edi Stoiber? - Da stellt er sich hin - in äußerster Konsistenz; er ist ja ein Einser-Jurist, deswegen sind die Deduktionen astrein - und fordert, wir sollten eine entsprechende Reduzierung von den Franzosen verlangen. Gleichzeitig aber sagt er: Rührt mir die bayerischen Bauern nicht an! - Wenn Sie von den anderen schon etwas wollen, dann werden Sie denen auch sagen müssen, wo Sie bereit sind, Kompromisse zu machen, verehrter Herr Ministerpräsident. ({10}) Kompromisse sehen eben nicht so aus wie am Aschermittwoch in Passau, wo einer drei Stunden lang von oben etwas verkündet und schreit und die anderen dazu Beifall klatschen. So funktioniert das in der Europäischen Union nicht. Lassen Sie sich das einmal von Helmut Kohl berichten! Da geht es in der Tat anders zu. ({11}) Der große Europäer Stoiber ist voller Heiterkeit. Noch unter dem Eindruck der Faschingskampagne war er in Ungarn. Wenn Edmund Stoiber eine Reise tut, sozusagen nach der Maßgabe: nur so weit wie die Entfernung von München nach Passau im Quadrat, dann nimmt seine europäische Orientierung zu, und zwar um so mehr, je weiter er weg ist. Er hat also Budapest besucht. Nun weiß er so gut wie ich, daß die drängendste Frage in Budapest lautet: Wann werden wir Mitglied der Europäischen Union? Dort will man alles dafür tun, daß das so schnell wie möglich geschieht. Wenn wir, die wir hier sitzen, Politikerinnen und Politiker in Polen, Ungarn, Tschechien oder wo auch immer wären, würden wir genauso denken. Es geht dabei nicht nur um Ökonomie, nicht nur um Geld, nicht nur um einen gemeinsamen Markt, nicht nur um den gemeinsamen Wohlstand, sondern darum, daß diese Länder nie wieder alleine auf der falschen Seite Europas stehen wollen. Sie haben - wie auch unsere ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger - 40 Jahre die Zeche für uns alle bezahlt. Deshalb habe ich für ihre Haltung vollstes Verständnis. ({12}) Herr Stoiber, eines werfe ich Ihnen vor: Sie sind zutiefst unseriös. Sie reden mit doppelter, mit gespaltener Zunge. ({13}) Keiner weiß das so gut wie Theo Waigel, denn der hat es auszubaden gehabt. Bei einer Rede im Jagdsaal des Parlaments in Ungarn waren Sie voller Versprechungen, was die Osterweiterung betrifft. Ja, Sie waren sogar voller Humor. Er ist ja durchaus zu Humor fähig, wenn auch zu unfreiwilligem. ({14}) Die Ungarn haben das nur nicht gemerkt. Als ich das gelesen habe, habe ich fast den Kaffee über den Frühstückstisch geprustet, denn ich dachte: Na, was ein Schlitzohr, unser Edi! ({15}) Ich zitiere die „FAZ“, die ja nicht in Verdacht steht, Ihnen nicht wohlgesonnen zu sein: Erst mit dem Beitritt der Reformstaaten Mittel- und Osteuropas auch zur EU werde diese ihrem Namen und ihrer Zielsetzung gerecht. Richtig; da stimme ich Ihnen völlig zu. Die bayerische Staatsregierung habe sich seit je als Vorkämpferin für die Ost-Erweiterung gesehen. ({16}) Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen! Stoiber schloß mit den Worten, die EU brauche Ungarn, ohne freilich zu sagen, bis wann. Jetzt betrachten wir einmal seine Position zur Agenda 2000. ({17}) - Ich war immer für den Euro. Wir hatten einen breiten überparteilichen Konsens; wir haben als Opposition die Positionen der damaligen Bundesregierung, die Positionen von Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesaußenminister Kinkel unterstützt. ({18}) - Ich schlage vor, Sie sollten einmal nachschauen. Ich habe mich dafür eingesetzt, weil ich diesen Europakurs im Interesse Deutschlands für alternativlos halte, meine Damen und Herren. ({19}) Die Positionen, die Sie vertreten - ({20}) - Ebensowenig, wie es zulässig ist, von der Regierungsbank Zwischenrufe zu machen - auch wenn mich das selbst juckt -, ist das für die andere Seite des Hauses, Herr Stoiber, zulässig. ({21}) Aber ich habe nichts dagegen. ({22}) - Warum geben wir 60 Milliarden DM dazu? ({23}) - Regt euch nicht auf! Ich liebe Zwischenrufe, vor allem von Edmund Stoiber. Herr Stoiber, es ist doch nicht die neue rotgrüne Bundesregierung, die das Geld gibt. 16 Jahre hat doch eine andere Mehrheit die Verantwortung getragen, unter anderem die CSU. Das müssen Sie endlich einmal wissen. ({24}) - Ach, die Kommission! Die Beschlüsse sind alle im Rat gefaßt worden. ({25}) - Herr Stoiber, ich komme zu Ihrer These zur Agenda 2000. Sie sagen, Sie seien für eine schnelle Osterweiterung, das sei nach dem Euro der zweite historische Schritt, den wir leisten müßten. Ich appelliere an unsere Landsleute: Lassen Sie sich nicht von nationalen oder gar nationalistischen Tönen - egal, ob von rechts oder von links - in die falsche politische Ecke locken! Denn wenn das Projekt „Europa“ stockt oder gar scheitert, wird die Bundesrepublik Deutschland derjenige Staat sein, der am meisten zu verlieren hat - und zwar nicht nur materiell, sondern auch politisch, kulturell und in bezug auf unsere Sicherheit. ({26}) Deswegen sind diese ganzen Rechnungen - das sage ich unseren Landsleuten - falsch. Schauen Sie sich an, wie viele Arbeitsplätze in Bayern, in Nordrhein-Westfalen und anderswo in Deutschland von Europa abhängen. Was wir in Form von Strukturhilfen und über den Kohäsionsfonds in die südlichen Länder geben, wirkt auf die Entwicklung dort positiv und gleichzeitig auf unsere Arbeitsplätze. Fragen Sie doch einmal, wer die U-Bahn in Athen und andere Infrastrukturprojekte baut und wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihrem Inlandsarbeitsplatz davon abhängen! Sie wissen das nur zu gut, Sie sagen es aber nicht, weil Sie die nationale Flöte spielen wollen, Herr Stoiber. ({27}) - Warum ich so schreie? - Ich tue das, weil mich Herr Stoiber in diese Tonhöhe gebracht hat. Er hat mir 30 Minuten lang die Ohren abgeschrien. Ich bin gern bereit, sofort herunterzukommen. Sie meinen, wir sollen die Agenda 2000 möglichst schnell, aber auch realistisch - das heißt: finanzierbar machen. Gleichzeitig wollen Sie die Strukturreform bis zum Jahre 2002. Diese halten wir ebenfalls für dringend geboten; deswegen schlagen wir eine Regierungskonferenz bis 2001 vor und wollen diese bei dem Europäischen Rat in Köln zum Abschluß underer Präsidentschaft einleiten. Ich hoffe, das findet Ihre allergnädigste Zustimmung; aber ich nehme an, Sie werden auch daran etwas zu kritisieren haben. Wenn die Agenda 2000 also in der Tat die Voraussetzung für die Erweiterungsfähigkeit ist - das entnehme ich dem Papier der CDU/CSU -, ({28}) können Sie mir dann mit der Logik des Einser-Juristen erklären, warum Sie jetzt für die Verschiebung plädieren, und zwar mit dem Argument, daß wir während unserer Präsidentschaft unsere nationalen Interessen nicht durch- und umsetzen können, weil wir auf Ausgleich setzen müssen? Spätestens da muß Helmut Kohl die Ohren auf Durchzug stellen, oder er hält es nicht mehr aus. Die Terminplanung für die Agenda 2000 ist doch in verschiedenen Sitzungen des Europäischen Rates, an denen Helmut Kohl und Theo Waigel teilgenommen haben, beschlossen worden. Das war doch nicht unsere Beschlußlage. Wenn Sie sich jetzt, Herr Stoiber - das haben Sie hier mehrmals gesagt -, hinstellen und sagen, mir paßt der Kurs der Agenda 2000 nicht mehr - so haben Sie das vor einigen Jahren in einem Interview in der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt, und Sie haben das in Ihrer letzten Rede in der alten Legislaturperiode schon einmal klar herausgearbeitet -, weil Sie die Osterweiterung so lange wie möglich hinauszögern wollen - das steckt dahinter -, dann steht hinter der Vertagungsforderung nichts anderes als entweder nationaler Egoismus oder, noch schlimmer, eine Vertagung der Beitrittsmöglichkeiten für die mittelosteuropäischen Länder. ({29}) Genau das ist es, was Sie in Ihrem kleinbayerischen Egoismus wollen. Wenn man sich Ihre Rede anhört, kann man das sehr gut heraushören. ({30}) Sie werfen mir vor, ich hätte etwas gegen die süddeutschen Länder. Ich habe etwas gegen die CSU, aber ich achte sie als politischen Gegner und als eine demokratische Partei mit einer großen Tradition, die jetzt leider in die Hände von Leuten gerät, die, wie ich finde, auch im Rahmen dessen, was ich beim politischen Gegner akzeptiere, zu Instrumenten greifen, um die Macht zurückzuerobern, die ich für verwerflich halte. ({31}) - Lassen Sie sich das doch von einem alten Steinewerfer sagen, der weiß, wohin es führt, wenn man in die falsche Richtung geht! Lassen Sie sich das doch einmal sagen. ({32}) Daß man da ein paar Kämpferqualitäten mitbekommt, darauf können Sie sich verlassen. Ich kann Ihnen, Herr Stoiber, nur sagen: Was ich Ihnen bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vorwerfe, ist nicht, daß Sie eine völlig andere Position haben. Was ich Ihnen bei der Debatte über den Doppelpaß vorwerfe, ist nicht, daß Sie meinen, er wäre der Untergang des deutschen Volkes, unserer Identität. Das ist meiner Meinung nach Unsinn. Was ich Ihnen vorwerfe, ist Ihre Kampagne, die etwas völlig anderes mobilisiert. In Hessen hatten Sie damit Erfolg. Ich muß nur in die CDU hineinhören. Sie hatten den Erfolg, die Wählerschaft zu mobilisieren. Unsere Leute, die dort waren und zugehört haben, haben mir erzählt, das ging nach der Devise „Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“ Genau das finde ich schlimm. Das sollte in diesem Land nicht mehr möglich sein! Das genau ist der Punkt. ({33}) Wir stehen in der Europapolitik jetzt vor sehr schwierigen Entscheidungen. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Europapolitik, den sicherheitspolitischen Fragen und den Krisen, mit denen wir es zu tun haben. Ich hatte in den letzten Tagen und Wochen vor allem mit dem Kosovo zu tun. Es waren sehr, sehr harte Verhandlungen. Stunden um Stunden wurde versucht, Konfliktparteien zu überzeugen, die eigentlich nicht überzeugt werden wollten. ({34}) - Nein. Da Sie das mit der eigenen Partei ansprechen, will ich sagen: Ich brauche mich da überhaupt nicht zu verstecken. Wir Grüne haben in der Frage: „Wie reagieren wir auf Srebrenica?“ eine in der Sache faire Auseinandersetzung gehabt, die aber gleichzeitig eine der härtesten innerparteilichen Auseinandersetzungen um unser Bekenntnis zum Pazifismus, das ich aus guten Gründen achte, war. Wir müssen uns da überhaupt nicht verstekken. Wir alle haben da Fehler gemacht. Das sage ich auch ganz selbstkritisch, was meine Person angeht, der ich zuerst ein Nichtinterventionist war und nach Srebrenica zum Interventionisten wurde. Freunde von mir - Marieluise Beck oder Daniel Cohn-Bendit - hatten früher eine andere Position wie Herr Schwarz-Schilling bei Ihnen. Das achte ich. Es wurden Fehler gemacht beispielsweise in Form der zu frühen oder falsch konditionierten Anerkennungspolitik. Wir sollten daraus aber gemeinsam die Konsequenz ziehen, daß wir diese Fehler nicht wiederholen. Nur: Umgekehrt nützt es nichts, angesichts der Wut und der Hilflosigkeit, die viele auf Grund des Mordens verspüren, den Emotionen nachzugeben. Wir haben versucht - übrigens in Kontinuität -, die Staatengemeinschaft auf einer gemeinsamen Grundlage zusammenzuführen und die Konfliktparteien zu zwingen, daß es zu einem Frieden kommt. In dem Zusammenhang möchte ich Ihnen, Herr Stoiber, sozusagen über die Parteigrenzen hinweg eine Position mitteilen: Gerade bei diesen Krisen erlebt man, wie schwach Europa ist. Statt jetzt eine solche Debatte, wie Sie sie gerade aufgemacht haben, im Hinblick auf den Europawahlkampf zu führen, müßten wir alles tun, damit die Europäer schneller zusammenfinden, damit sie enger zusammenfinden, damit das europäische Gewicht auch in der Friedens- und Sicherheitspolitik endlich zum Tragen kommt. Dem weiß sich diese Bundesregierung verpflichtet. ({35})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Karl Lamers.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, mit lhrem letzten Appell - das weiß ich sehr wohl - rennen Sie bei Edmund Stoiber offene Türen ein. ({0}) - Doch! Es gibt unzählige entsprechende Äußerungen von ihm. Es gibt sogar ein Papier, das er gemeinsam mit dem Bürgermeister von Dünkirchen für den Ausschuß der Regionen Europas verfaßt hat - ich empfehle es Ihrer Lektüre; ich habe es mit Genuß und Zustimmung gelesen - und in dem ausdrücklich eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union gefordert wird, und zwar im Sinne einer Vergemeinschaftung. Darin sind wir uns absolut einig. Man kann Edmund Stoiber hier nicht als Buhmann hinstellen, ohne daß man genau weiß, was er gesagt hat. Sie haben beispielsweise aus dem Interview in der „Süddeutschen Zeitung“ von vor einigen Jahren zitiert. Das habe ich auch gelesen. Was hat er damals gesagt? Worum es mir im Kern geht, ist der Erhalt der Staatlichkeit Bayerns. Dies ist ein Punkt, über den wir schon seit langem diskutieren. Die europäische Politik reicht nicht nur immer tiefer in die Innenpolitik der Teilnehmerländer hinein, sondern auch in die innere Struktur. Im Grunde führen wir seit langem eine Verfassungsdebatte. Ich bin der Meinung, wir müssen sie bald einmal formalisieren, damit wir klarmachen, was auf der europäischen, was auf der nationalen und was auf der subnaBundesminister Joseph Fischer tionalen Ebene zu geschehen hat. Daß es darüber im einzelnen unterschiedliche Meinungen gibt, ist kein Schaden, sondern eine ganz natürliche Sache. In einem Punkt aber sind wir uns in der CDU/CSU einig: In der Außenpolitik brauchen wir endlich Gemeinsamkeit. Europa muß auf diesem Felde einig und handlungsfähig sein. Da sind wir überhaupt nicht auseinander. Ein weiterer Punkt: Daß Sie das Papier der CDU/ CSU-Fraktion so darzustellen versuchen, wie Sie es eben getan haben, kann ich zwar verstehen; aber ich muß Ihnen eindeutig widersprechen. Lieber Herr Kollege Fischer, in dem Papier ist auf einen Beschluß der Ministerpräsidenten und Landesfinanzminister hingewiesen worden, unter denen sich damals auch der heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder befand. ({1}) In unserem Papier steht nirgendwo - hören Sie bitte einmal zu, damit Sie in Zukunft nicht noch einmal falsche Dinge behaupten -, es werde erwartet, daß die Bundesregierung jetzt mit einem Erfolg von 14 Milliarden DM aus Brüssel zurückkehre. Jedermann weiß, daß das nicht geht, und auch ich habe gesagt, daß dies kurzfristig nicht möglich sei. Einen solchen Maßstab hat der heutige Bundeskanzler selber aufgestellt. Wenn Sie Aussagen von uns zitieren und sagen, sie schafften bei unseren Partnern böses Blut, dann möchte ich Sie an Aussagen Ihres Bundeskanzlers erinnern. Herr Kollege Fischer, im Zusammenhang mit der Agenda 2000 und der Finanzierung der Europäischen Union hat er gesagt, es müsse damit Schluß sein, daß wir uns das Wohlwollen unserer Partner erkauften. Daraufhin habe ich von meinen ausländischen Freunden Anrufe bekommen, die mich gefragt haben, ob sie in der Vergangenheit käuflich gewesen seien oder ob die Deutschen versucht hätten, sie zu kaufen. Darüber hinaus hat Ihr Bundeskanzler gesagt, es müsse damit Schluß sein, daß wir europäische Kompromisse mit deutschem Geld finanzierten. Daraus wird nur deutlich, daß der Bundeskanzler überhaupt nichts vom europäischen System sowie davon verstanden hat, daß von dessen Funktionieren niemand abhängiger ist als Deutschland. ({2}) Man wird beim besten Willen nicht sagen können, daß er irgendwann einmal zu erkennen gegeben habe, daß er etwas von Europa versteht. Andernfalls hätte er auch nicht die berechtigte Forderung nach einer Reduzierung des deutschen Beitrages unter anderem mit dem Hinweis darauf begründet, daß wir außerordentliche Lasten für die Herstellung der inneren Einheit zu tragen haben. Das erweckt bei unseren Partnern nämlich verständlicherweise den Eindruck, als gelte das Wort von Helmut Kohl nicht mehr, deutsche Einheit und europäische Einigung gehörten zusammen. Es gibt viele gute Gründe für die Forderung nach Reduzierung des deutschen Nettobeitrages; die deutsche Einheit ist aber kein Grund, zumal der europäische Solidartransfer in überhaupt keinem Verhältnis zum innerdeutschen Transfer steht. Wenn Sie hier polemisieren, dann sollten Sie also zumindest einmal „intra muros“ - daß Sie das hier nicht öffentlich tun, kann ich ja verstehen - mit Ihrem Bundeskanzler über seine Art des Auftretens reden. Wie ich gehört habe, sagte der Innenminister in der gestrigen Debatte - ich konnte leider nicht dabeisein -, ich sei ein Mensch mit einem abgewogenen, seriösen Urteil. Das freut mich natürlich, und ich kann bestätigen, daß jedenfalls das stimmt. ({3}) Ich muß Ihnen aber sagen, daß das Urteil unserer Partner über die neue Regierung lautet: Die verstehen nichts von Außenpolitik. ({4}) - Doch, das ist so. Außenpolitik beginnt nämlich zunächst einmal damit, daß man versucht, die Welt und sich selbst mit den Augen des anderen zu sehen. Das tut Ihr Bundeskanzler aber bestimmt nicht. Auch die Art und Weise, Herr Kollege Fischer, wie der Bundeskanzler immer davon spricht, daß wir nun endlich die deutschen Interessen selbstbewußt vertreten müßten, ist doch mehr als befremdlich. Die Partner fragen, ob die Deutschen das nicht schon längst getan hätten und ob sie nicht so erfolgreich gewesen seien, daß sie ihnen schon fast zu stark und zu mächtig geworden sind. Was soll denn dieser Unsinn? ({5}) Nationale Interessen haben wir immer vertreten; dafür sind wir selbstverständlich da. Aber wir haben nicht jede Forderung - häufig handelt es sich ja um Partikularinteressen - als nationales Interesse verkauft. Manchmal hat man ja den Eindruck, das sei eine neue Wortprägung. Jedenfalls müssen unsere Partner denken, wenn wir solche Forderungen erheben, wir wollten etwas anderes als bislang. Sie haben nichts als Unsicherheit verbreitet. Dazu haben Sie beigetragen, Herr Kollege Fischer. Sie haben das will ich gleich klar sagen - in Straßburg eine wunderbare Rede gehalten. Aber mit Ihren Äußerungen zur Nuklearstrategie haben Sie nicht nur in den Vereinigten Staaten - die können sich leicht darüber hinwegsetzen -, sondern vor allen Dingen auch bei unseren europäischen Partnern Frankreich und Großbritannien - ich habe da einige Kontakte und weiß, wovon ich rede - tiefe Unsicherheit hervorgerufen. Wesentlich mehr haben aber der Bundeskanzler und vor allen Dingen Herr Lafontaine Unsicherheit hervorgerufen, was unsere wirtschaftlichen Beziehungen vor allem mit den Vereinigten Staaten angeht. Selbst Herr Strauss-Kahn mußte ihn in seinen Vorstellungen über Zielzonen bei den Wechselkursen korrigieren. Ich will nun noch - die Zeit erlaubt es nicht, länger bei diesem Thema zu verweilen - ein Wort zum Kosovo sagen. Herr Minister, dazu haben Sie nicht viel gesagt. Ich meine schon, Sie haben hier engagiert gekämpft. Daß es keinen endgültigen Erfolg gegeben hat, ist nicht der Bundesregierung anzulasten. Aber es gibt eben kein Abkommen. Jetzt hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen Antrag vorgelegt, der in dieser Form nicht zustimmungsfähig ist, um Ihnen das gleich deutlich zu sagen. Es ist wirklich befremdlich, daß Sie diesen Antrag formuliert haben, bevor Rambouillet zu Ende war. Das kann politische Gründe haben; das verstehe ich. Aber Sie hätten ihn heute ganz schnell auf den neuesten Stand bringen können. Die Formulierungen stimmen einfach nicht. Zudem erwarten wir Klarstellungen in folgenden Bereichen: Erstens. Wie hoch soll denn die Aufstockung der Extraction Forces sein? Dazu gibt es nur eine unklare und unpräzise Formulierung, die Sie uns um die Ohren geschlagen hätten, wenn wir es so formuliert hätten. ({6}) Das ist unmöglich. Ich kann das nicht anders interpretieren, als daß die Extraction Forces, die derzeit nur 250 Mann umfassen, bis auf 4 750 Mann aufgestockt werden können. ({7}) Das muß doch präzisiert sein. Zweiter Punkt. Es muß klargestellt werden, daß deutsche Soldaten wie natürlich auch die Soldaten der Partnerländer eindeutig unter einem NATO-Kommando stehen. Das steht in dieser Weise in dem Antrag nicht drin. Was Sie heute vorgelesen haben, ist eine Formulierung, die Sie auch in den Antrag hineinschreiben können. Dann ist die Sache insoweit in Ordnung. Dritter und wichtigster Punkt. Es handelt sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bei dem Antrag der Bundesregierung ganz ohne jeden Zweifel um einen Vorratsbeschluß, etwas, was Sie uns immer mit allem Nachdruck abgelehnt haben und was der frühere Verteidigungsminister von Ihnen zu verlangen sorgfältigst vermieden hat. Es ist ein Vorratsbeschluß, ein Beschluß „für den Fall, daß ...“ Ob das eintritt, wissen wir alle nicht. Wir hoffen es, aber es ist durchaus zweifelhaft. Nun sagt der Verteidigungsminister: Ich muß mich verpflichten. - Das kann er tun; wir können ihn dazu ermächtigen. Aber über den Einsatz muß entschieden werden, wenn der Fall eingetreten ist. ({8}) Ich bitte Sie, dies wirklich klarzustellen. Ich will noch eines sagen: Die alte Regierung hat sich das Vertrauen der Opposition seinerzeit mit harter, sorgfältiger, präziser Arbeit verdient, vor allem Volker Rühe an der Spitze. Sie haben das anerkannt. Es war in Ihrem Fall ungleich schwieriger, als uns jetzt zu überzeugen. Auch das werden Sie zugeben müssen. Ich kann bislang kein ausreichendes Bemühen der Regierung feststellen, sich gegenüber der heutigen Opposition ebenso zu verhalten. Es handelt sich nicht nur um diesen Fall, sondern, weil es ein neuer Fall ist, um ein Präjudiz für die Zukunft. In diesem Fall müssen Sie sich noch bewegen. Überlegen Sie sich bitte im Interesse der Sache, in Ihrem Interesse, aber auch im Interesse des Parlaments, ob Sie diesem Petitum nicht bald nachkommen. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Christoph Zöpel.

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute die erste umfängliche Debatte über die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland nach den Bundestagswahlen. International ereignisreiche Wochen liegen hinter uns, ohne daß wir diese Debatte führen konnten. Dennoch oder gerade deshalb macht es Sinn, zwei Stichwörter aufzunehmen, die Sie, Herr Kollege Lamers, gebraucht haben, nämlich in dieser Debatte die Gemeinsamkeit nicht zu vergessen und ein seriöses Urteil zu haben. Nach dieser Vorbemerkung will ich auf einige Maßstäbe, an denen die SPD die Außenpolitik der Bundesregierung mißt, zu sprechen kommen. Es gibt Grundlagen für unsere Außenpolitik. Das sind die geopolitische Lage, am Ende des 20. Jahrhunderts die institutionelle Verortung, und das ist schließlich eine wertbezogene Zielsetzung von Außenpolitik. Die geopolitische Lage am Ende des 20. Jahrhunderts bedeutet: Deutschland ist das bevölkerungsreichtse Land in der Mitte Europas. Daraus resultieren ein Höchstmaß an Sensibilität für die Belange anderer Völker und Staaten in Europa und eine ganz besondere Verantwortung, Gefühle und Forderungen nationalistischer Prägung bei uns und andernorts in Europa nicht entstehen zu lassen. Das ist der Maßstab, der sich aus der geopolitischen Lage ergibt. ({0}) Es macht auch keinen Sinn, diesen Maßstab mit Polemik gegen die Bundesregierung im Zusammenhang mit der EU-Finanzierung zu vermischen. Dort, wo es berechtigt ist nachzurechnen - ich greife hier Herrn Stoiber sinngemäß auf -, ob sich die Finanzkraft der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zugunsten anderer und zu Lasten Deutschlands verändert hat, macht es auch Sinn, die festgestellten Ergebnisse in die Zahlenwerke des EU-Haushalts nüchtern einzubringen, so wie auch Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen es innerhalb des föderalen Finanzausgleichs der Bundesrepublik Deutschland tun. Es macht keinen Sinn, dieses nüchterne Rechnen mit dem Vorwurf des Nationalismus zu belegen. Ich füge hinzu: Ich kann bei der Bundesregierung an keiner Stelle erkennen, daß dieses nüchterne Rechnen, das innerhalb der Europäischen Union notwendig ist, etwas mit Nationalismus zu tun hat. ({1}) Nun zweitens zur institutionellen Verortung: An erster Stelle steht dabei die Verortung im Nordatlantischen Bündnis, weil ohne Frieden - ich zitiere hier Willy Brandt sinngemäß - und äußere Sicherheit alles andere nichts ist. Deshalb sind sie Vorbedingungen außenpolitischen Handelns. Die Bundesregierung hält an dieser Verortung ohne jeden Zweifel fest. Jeder, der dies beobachten will, konnte das in den letzten Wochen feststellen. ({2}) Es ist überhaupt kein Gegensatz dazu, wenn es in diesem Bündnis zwischen den pluralistischen politischen Systemen der beteiligten Staaten unterschiedliche Meinungen gibt. Es ist völlig unbenommen, daß in den politischen Systemen anderer NATO-Mitgliedstaaten manches verwunderlich erscheint, was in Deutschland passiert. Es ist auch erlaubt, daß in Deutschland die Wirklichkeit des politischen Systems der Vereinigten Staaten hinterfragt wird. Das betrifft nicht nur das Urteil über das Impeachment-Verfahren, sondern in diesen Tagen auch unsere Meinung über das Strafrechtssystem und die Todesstrafe. Hier hat die Bundesregierung zu Recht noch einmal versucht, im Falle eines zum Tode verurteilten Deutschen Einfluß zu nehmen. Dazu gehört auch - das halte ich in einer aufgeklärten Welt für zwingend -, daß im Nordatlantischen Bündnis darüber diskutiert werden kann, wie man in Zukunft mit Atomwaffen umgehen soll. Wenn es nicht erlaubt wäre, über solche Punkte zu diskutieren, dann entfiele eine Wertbasis des nordatlantischen Systems, nämlich die Diskussionsbereitschaft, die an der Aufklärung orientiert ist. ({3}) Das Ergebnis der Diskussion über first use ist, daß die Meinung der Bundesregierung derzeit im Bündnis nicht mehrheitsfähig ist. ({4}) - Das ist interessant. Wenn man Ihren Zwischenruf, man wußte vorher, daß das nicht mehrheitsfähig sei und deshalb solle man nicht diskutieren, befolgt, dann würde das bedeuten, daß damit fast jeder Fortschritt verhindert wird. ({5}) Die Aufklärung hat aber gerade damit begonnen, daß einzelne gegen den Widerstand übermächtiger Institutionen gewagt haben, ein Problem zu thematisieren. Hierin besteht das Grundprinzip der Aufklärung. Es muß deshalb erlaubt sein, auch eine solche Frage zu diskutieren; denn über das Ziel kann es dabei eigentlich keinen Zweifel geben: Eine Welt ohne die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes wäre viel schöner als die Welt, die wir jetzt haben. ({6}) - Sie war überhaupt nicht mißverstanden. Ich halte es für sinnvoll, daß in diesem Bündnis diskutiert werden kann und man am Ende zu Entscheidungen kommt. Die zweite institutionelle Verortung betrifft die Europäische Union. Die Bundesregierung ist gleich zu Beginn ihrer Amtszeit verpflichtet, den Vorsitz in der Europäischen Union auszuüben. Das macht die Hauptaufgabe in diesen Monaten, bei der Agenda 2000 zu einem Ergebnis zu kommen, besonders schwierig. Dennoch frage ich mich immer wieder: Was wäre hier passiert, wenn trotz der besonderen Verantwortung auf Grund des Vorsitzes nicht darüber gesprochen worden wäre, daß sich die finanzielle Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten verändert hat? Ich beziehe mich auf den sachlichen Teil des bayerischen Ministerpräsidenten: Die finanzielle Situation hat sich geändert. Nur in diesem Sinne, Herr Kollege Lamers, ist zu verstehen, daß man den berechtigten Hinweis geben kann, bestimmte Indikatoren der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik hätten sich durch die deutsche Vereinigung in der Tat geändert. Wie man dem Statistischen Jahrbuch entnehmen kann, ist das ganz unstreitig. Dies anzuführen ist berechtigt, und es ist das Gegenteil von dem, was Sie folgern. Es handelt sich um die integrative Verknüpfung der deutschen Vereinigung mit dem europäischen Einigungsprozeß, zu dem auch gehört, daß sich in Deutschland vor allem bei Pro-KopfRechnungen die fiskalische Leistungsfähigkeit verändert hat. Damit möchte ich bruchlos zur Osterweiterung der EU übergehen. Die Osterweiterung ist nur möglich, wenn auch die finanziellen Handlungsmöglichkeiten gegeben sind. Bei dieser Aufgabe laufen wir in der Auseinandersetzung zwischen den Parteien Gefahr, Porzellan zu zerschlagen, indem wir uns beim Anführen von Gesprächspartnern aus mittelosteuropäischen Ländern diejenigen auszusuchen, die in die Argumentation passen. Wir müssen es uns aber bewahren, über die Osterweiterung der Europäischen Union vor dem Hintergrund fast eines Wunders zu sprechen. Ich möchte eine persönliche Bemerkung machen: Ich bin in Gleiwitz geboren, ich bin vor 1989 vorsätzlich dorthin nie gefahren, wohl aber danach. Ich fühle mich dem Land Polen in einem sehr starken europäischen Sinne verbunden. Ich halte es für historische Wunder, daß wir heute, zehn Jahre nach 1989, im großen und ganzen keine ernstzunehmenden Konflikte zwischen Deutschen und Polen haben. Wir sind sogar einen Schritt weiter: deutsche und polnische Soldaten konnten unter einem gemeinsamen Oberkommando in Bosnien-Herzegowina für Frieden sorgen. ({7}) Mit diesem Wunder sollten wir so sensibel wie irgend möglich umgehen. Viele haben dazu beigetragen: der Kniefall Willy Brandts in Warschau; die engen Beziehungen von Bundeskanzler Kohl vor allem mit dem polnischen Premierminister Mazowiecki. Viele Kolleginnen und Kol1540 legen von uns - ich nenne beispielhaft Rita Süssmuth und Markus Meckel - haben dazu beigetragen. Manchmal wurden sie gestört durch oft aufgeregte und an der Sache vorbeigehende Diskussionen einer kleinen „community“ in Warschau, man mache in Deutschland rechts wie links gegenüber Polen alles falsch. Mein letzter Besuch in Warschau zusammen mit Kollegen Markus Meckel diente vor allem der Begegnung mit den Abgeordneten der derzeitigen Regierungspartei, der Nachfolgeorganisation der Gewerkschaft Solidarnosc. Wir waren uns darüber sehr schnell einig - das war überraschend -, daß gerade in diesem Teil des politischen Systems Polens Zeit für die europäische Integration gebraucht wird; denn Polen muß vor allem sozialpsychologisch manches begreifen, lernen und innerlich akzeptieren, wenn es den traditionell katholischen Polen, die unter kommunistischen Verhältnissen sozialisiert wurden, gelingen soll, tatsächlich auch mit ihrer Seele in das pluralistische Europa hineinzuwachsen. Das ist die Realität. ({8}) Vor diesem Hintergrund ist eine Scheindiskussion über Jahreszahlen hinsichtlich des Beitritts geradezu fatal. Die SPD-Bundestagsfraktion wird es nicht tolerieren, wenn es von deutscher Seite - von welcher Seite auch immer, auch nicht von seiten der Bundesregierung, wovon ich aber nicht ausgehe - schuldhafte Verzögerungen des Tempos des Integrationsprozesses gäbe. ({9}) Umgekehrt muß aber auch vermieden werden, daß man vorschnelle Entscheidungen trifft, die dann vor allem Polen nicht ertragen könnten; denn sie haben es schwerer mit der Integration als wir. ({10}) Man kann viele Beispiele anführen, wer an welcher Stelle durch welche Aktion wieder etwas an diesem wunderbaren Verhältnis gefährdet. Ich zitiere absichtlich aus keiner Partei irgendein Ereignis der vergangenen Monate, das zu Irritationen geführt hat. Ich verzichte auch darauf, die politischen Äußerungen und Forderungen in der Bundesrepublik zu werten, durch welche das noch schwierigere deutsch-tschechische Verhältnis, das noch nicht den Zustand dieses polnisch-deutschen Wunders erreicht hat, in den letzten Monaten gefährdet wurde. Ich hege dabei die Hoffnung, daß sich alle, die dieses Wunder tatsächlich so anerkennen, wie es anzuerkennen ist, Mühe geben, es gegenüber Polen zu bewahren und gegenüber Tschechien und Ungarn möglich zu machen. ({11}) Diese Hoffnung hat auch damit zu tun, daß es hier viele gibt, die durch ihre Biographie dieser europäischen Dimension verpflichtet sind. Ich habe das Beispiel meiner Person genannt. Ich bin mir bezüglich des Außenministers völlig sicher, seitdem ich weiß, daß seine Eltern aus Budakeszi stammen. Damit brauche ich zu Ungarn nicht mehr zu sagen. Fest steht für mich auch - damit komme ich zu der ersten Aufgabe unserer Außenpolitik, nachdem wir die Verortung, wie sie sich uns stellt, gesichert haben -: Die Erweiterung der Europäischen Union kann nicht an den Grenzen der Länder enden, mit denen derzeit offiziell verhandelt wird. Es muß der Leitgedanke für all das, was wir derzeit an politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Morden und den Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien treffen, sein: Auch diese Staaten gehören zu Europa, so fern es auch liegen mag. Der Grund für diesen ganzen Einsatz kann nur sein, daß wir uns wünschen, noch zu Lebzeiten selbst von Menschen meines Alters - also jetzt Mitte 50 - erleben zu können, daß diese Länder Mitgliedstaaten einer demokratischen und pluralistischen und auf dem Weg des Wohlstandes sich befindenden Europäischen Union sind. Sonst macht das, was wir da machen, alles keinen Sinn. ({12}) Alle müssen dabei sehr viel lernen. An Ihren, Herr Kollege Lamers, hin und wieder getätigten Hinweisen, Sie hätten es mit der damaligen SPD-Opposition so schwer gehabt, ({13}) habe ich meine Zweifel. Wer hätte sich denn 1988 in Ihrer Partei Szenarios ausmalen können, welche Herausforderungen durch das damals noch bestehende Jugoslawien auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zukommen würden. Das hätten Sie und auch andere sich nicht ausmalen können. ({14}) Es war ein gemeinsamer Lernprozeß der Übernahme unangenehmer und vor allem für die betroffenen Soldaten schwieriger Aufgaben. Wir haben uns dazu durchgerungen, friedenssichernde Kräfte dort hinzuschicken. Ich gebrauche viel lieber den Ausdruck: mit polizeilichen Funktionen betraute Menschen dort hinzuschicken, die vermeiden, daß gemordet wird. ({15}) Das war die erste Lektion, die wir gelernt haben. Als nächste Stufe in diesem Lernprozeß haben die Mitglieder dieses Hauses kurz vor der Übernahme ihres neuen Mandats erleben können, daß dies nicht reichte und wir wegen neuer Herausforderungen mit dem noch von der alten Bundesregierung vorgelegten Beschluß über die Androhung von Gewalt den nächsten Schritt gehen mußten. Die alte Bundesregierung war es noch - zu Recht, sonst hätten wir nicht zugestimmt -, die gesagt hat: Zu der Komponente, daß wir unter bestimmten Voraussetzungen entscheiden, dort Sicherheitskräfte hinzuschicken, kommt als Komponente, daß wir auch mit Gewalt durch Angriffe aus der Luft, an denen sich deutsche Tornados beteiligen sollten, drohen müssen. Dies kann immer nur vorher geschehen; denn die Logik der Gewaltandrohung besteht darin, daß man von der Hoffnung ausgeht, es sei nicht nötig, sie anzuwenden. ({16}) Von diesen beiden Komponenten der Konfliktvermeidenden Sicherheitspolitik geht der Deutsche Bundestag seit Oktober aus; die zweite Komponente ist von der alten Bundesregierung auf den Weg gebracht worden. Jetzt komme ich zu der heutigen Vorlage. Ich unterstelle, alle Parteien haben sie wie wir kritisch geprüft. Der Beschluß, den uns die Bundesregierung vorgelegt hat, beinhaltet die Möglichkeit der Gewaltandrohung: deshalb der Verweis auf den Bundestagsbeschluß vom Oktober. Die offene Situation läßt es nicht zu, daß man erst dann, wenn man ganz genau weiß, was dort passiert, einen Beschluß verabschiedet, in dem alles detailliert geregelt ist. In der Kombination aus Einsatz von Sicherheitskräften nach Vertragsabschluß - in der Zwischenzeit müssen im Ernstfall die OSZE-Vertreter evakuiert werden können - und der Androhung von Gewalt, um gegebenenfalls eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, ist die Vorlage der Bundesregierung nach unserer Einschätzung zustimmungsfähig. Das will ich an dieser Stelle deutlich hervorheben. ({17}) Die derzeitige Hauptaufgabe deutscher Außenpolitik ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß es ein vereintes Europa einschließlich Mostar, Belgrad und Pristina geben kann. Manchmal stellt sich die Frage: Kann Europa die Verantwortung, die es in dieser europäischen Krisenregion übernimmt, in der ganzen Welt übernehmen? Die Antwort kann nur lauten: Im Sinne der Werte der deutschen Außenpolitik ja. Am Anfang meiner Rede habe ich sie nicht genannt; jetzt will ich sie aber einführen: Am besten werden sie von Immanuel Kant im ausgehenden 18. Jahrhundert formuliert, nämlich eine Welt zu schaffen, die demokratische Verfassungen hat und in der es keine Gewaltkonflikte gibt, in der sich die Länder der Welt an diesen Werten orientieren. Die Besinnung auf die Realität der geopolitischen Lage aber ergibt, daß man sich zuerst dort für diese Werte einsetzen sollte, wo der Erfolg am ehesten zu erwarten ist, also in der Nachbarschaft. Hier muß dieses Ziel notfalls unter Androhung von - hoffentlich nicht anzuwendender - Gewalt und durch Absicherung mittels Sicherheitskräften erreicht werden. Wenn man sich die Größe Europas anschaut, dann muß man aber feststellen, daß ein solches Engagement Europas weltweit nicht möglich ist. Das weltweite Engagement muß anders sein, als es in Europa möglich und deshalb notwendig ist. Die Sozialdemokratie engagiert sich stark für ein effektiveres System internationaler Organisationen. Dieses Engagement findet seinen Niederschlag in einer UNOorientierten Politik. Diese Politik sieht die UNO nicht nur als eine politische, sondern auch als ein ökonomisches System an. Vor Monaten haben sich auch kluge Menschen noch geweigert, aus der Asienkrise institutionelle Konsequenzen zu ziehen. Jetzt besteht Ratlosigkeit zwischen Regierungen hinsichtlich der Möglichkeiten zur Abwehr finanzieller Spekulationen, die die Finanzwelt in der Tat gefährdet haben. Entsprechende Vorschläge können auch hier nur sinnvoll sein. Ich sage ganz deutlich: Wir stehen auch dann zu den Vorschlägen unserer Regierung, wenn sie zur Zeit noch nicht überall Zustimmung finden. Es ist notwendig, daß Regierungen ein Höchstmaß an kreativer Phantasie und an Bereitschaft entwikkeln, diese Welt ökonomisch besser zusammenzuhalten. Hier leistet Oskar Lafontaine Beispielhaftes. ({18}) Es wäre hilfreicher, wenn Herr Rubin den Mut hätte, sozusagen über den Schatten seines privatwirtschaftlichen Backgrounds zu springen, als wenn Sie sich darüber aufregen, daß ein deutscher Finanzminister Mut zu entsprechenden Vorschlägen hat. ({19}) - Das kommt ganz darauf an, wie Sie Weltsozialismus definieren. Wenn sich der Weltsozialismus dadurch ausgedrückt, daß demokratisch legitimierte Vertreter aller Völker, die in den jeweiligen Parlamenten die Regierungen kontrollieren, in Vertreterversammlungen - angefangen bei der Parlamentarischen Versammlung der NATO über die OSZE bis zu einer ausgebauten IPU darüber diskutieren, wie Schaden auch auf sozialem Gebiet von der Welt abgewendet werden kann, dann muß ich sagen, daß ich für den Weltsozialismus bin. Herzlichen Dank. ({20})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da wir heute den Etat des Auswärtigen Amtes debattieren, möchte ich gerne die Gelegenheit wahrnehmen, einmal den Mitarbeitern des Hauses unseren herzlichen Dank auszusprechen. Die Zusammenarbeit war immer außerordentlich ersprießlich, und daran hat sich seit dem Regierungswechsel dankenswerterweise auch nichts geändert. ({0}) Ich habe das deshalb gesagt, weil ich den Beamten und sonstigen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes keine Schuld daran geben kann und will, daß die deutsche Außenpolitik im Augenblick - wie es mein Kollege Partei- und Fraktionsvorsitzender Wolfgang Gerhardt heute früh schon ausgeführt hat - leider einen desaströsen Eindruck macht. Herr Fischer, ich muß Ihnen neidlos bestätigen, daß Sie sich bemühen, „bella figura“ zu machen, und daß Ihnen das in aller Regel auch recht gut gelingt. Wenn ich aber betrachte, wie Ihre Kabinettskollegen - die von dem anderen Koalitionspartner, aber auch Ihr eigener Parteikollege Trittin - durch die Weltgeschichte taumeln und Schaden anrichten, kann ich nur sagen: Ich stelle zu meiner Befriedigung fest, daß die neue Bundesregierung zumindest den Ländern Liechtenstein und Belize bisher noch nicht zu nahe getreten ist, was die Beziehungen zu diesen Ländern sicher sehr fördern wird. ({1}) Fangen wir einmal mit den Franzosen an. Herr Trittin geht nach Frankreich und sagt, er wolle keinen Schadenersatz zahlen; sofortiger Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung. Die Franzosen sagen: Wir haben aber Verträge, worauf Herr Trittin sagt: Das ist höhere Gewalt. So schafft man sich Freunde, insbesondere dann, wenn man - Stichwort: Agenda 2000 - von ihnen Konzessionen haben will. Dasselbe gilt in Großbritannien. Lieber Herr Fischer, Sie haben eben gesagt, sie seien einmal Steinewerfer gewesen. Sie sind das heute noch, denn Sie sitzen im Glashaus und werfen mit Steinen. Sie werfen uns vor, wir betrieben Innenpolitik, wenn wir bestimmte Dinge kritisierten. Sie haben eben Herrn Stoiber erheblich angegriffen und gesagt, er betreibe bayerische Innenpolitik. Das tut er sicher; das mag richtig sein. Aber Sie tun doch nichts anderes. Wenn Sie nach Washington gehen und dort völlig unnötigerweise - und zwar nicht in einer Debatte in NATO-Kreisen, sondern öffentlich - erklären, die NATO-Strategie müsse jetzt geändert werden, dann stoßen Sie die Amerikaner vor den Kopf, was Sie nicht deshalb getan haben, weil Ihnen das Thema so am Herzen liegt, sondern deshalb, weil Sie einen Parteitag der Grünen zu bestehen hatten, die zu ihrer Verblüffung feststellen mußten, daß ungefähr 98 Prozent grüner Programmatik an der Garderobe der Macht und der Ministerien abgegeben worden sind. ({2}) Herr Zöpel, ich stimme Ihnen ohne weiteres zu, wenn Sie sagen - da hatte Herr Lamers nicht recht -, daß die SPD in der Außenpolitik keine schwierige Oppositionspartei gewesen sei. Ich habe mich über die SPD in ihrer Zeit in der Opposition immer gefreut. Es wäre mir sehr recht, wenn ich mich heute ebenso über die SPD an der Regierung freuen könnte. Da hört mein Vergnügen aber sehr bald auf. Ich will Ihnen auch sagen, warum in erster Linie. Ich war entsetzt, als Bundeskanzler Schröder im Dezember hier gestanden und die Regierungserklärung zum Wiener EU-Gipfel abgegeben hat. Die ganze Rede lief nämlich auf einen einzigen Punkt hinaus - Maggie Thatcher hoch drei -: I want my money back. Hier war nichts anderes mehr zu spüren. Ich rede ja nicht von Visionen. Man kann der alten Regierung vielleicht vorwerfen, daß sie hin und wieder einen etwas altbackenen und biederen Eindruck gemacht hat. Aber sie war geradezu tollkühn avantgardistisch in ihren außenpolitischen Konzepten und Visionen, wenn man das mit der erbärmlichen Biederkeit und Piefkigkeit der neuen Regierung und ihrem außenpolitischen Agieren vergleicht. ({3}) Uninspiriert ist noch gar kein Ausdruck. Sie haben auf alles verzichtet, was uns im Sinne Europas, der Zukunft unseres Kontinents und damit der Zukunft unseres eigenen Landes und Volkes wichtig sein muß. Denken Sie einmal darüber nach! Hier ist gesagt worden, Herr Stoiber habe sich zwiespältig zu der Osterweiterung geäußert; er wolle sie gar nicht. Wer hat denn hier die Verzögerungen bei der Osterweiterung zu vertreten? Das waren doch Sie! Es war doch Herr Schröder, der hier gestanden hat und gesagt hat, die Osterweiterung kommt erst viel später, als sich das alle gewünscht haben. Wolfgang Gerhardt hat auch das heute früh schon gesagt, aber ich will es noch einmal unterstreichen: Das war doch eine Ohrfeige für all diejenigen in unseren Nachbarländern in Mittel- und Osteuropa, die sich nichts sehnlicher wünschen, als nach über 40 Jahren gewaltsamer Trennung endlich wieder dazuzugehören. Das ist doch auch Symbolik. Hier ist von nationalen Interessen die Rede gewesen. Natürlich müssen wir diese vertreten; auch die alte Bundesregierung hat nichts anderes gemacht. Deutsche Politik ist nämlich um so nationaler, je europäischer sie ist. An diesen alten Satz sollte man immer wieder einmal erinnern. ({4}) Es ist doch in unserem Interesse, daß wir die Nachbarn in die EU aufnehmen, und zwar möglichst rasch. Was wäre denn, wenn wir nicht dazu beitragen, daß in den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas Stabilität entsteht und bewahrt werden kann? Dann setzen sich doch die Turbulenzen fort. Dann kommen die Flüchtlinge zu uns. Einige hier sagen, es sei gefährlich, Arbeitnehmer hierhin kommen zu lassen. Ich habe aber lieber Arbeitnehmer aus den mittel- und osteuropäischen Ländern hier als Flüchtlinge. Wir tragen zur Stabilität unserer eigenen Zukunft bei, wenn wir diese Länder aufnehmen. Lassen Sie mich zuletzt sagen, Herr Fischer, daß ich mich sehr freuen würde, wenn Sie beim NATO-Gipfel im März wieder einen Vorstoß unternähmen, die Politik der offenen Tür zu verdeutlichen. Es wäre an der Zeit, an Slowenien und auch an die Slowakei eine Einladung ergehen zu lassen. Wir haben immer gesagt, daß für die Aufnahme der Slowakei das Meciar-System das Hindernis sei. Das slowakische Volk hat das Meciar-System in den Orkus geschickt, wo es hingehört. Ich meine, wir sollten dies honorieren und die Zeichen setzen, daß die NATO für diejenigen, die hinein wollen und die Qualifikation dafür mitbringen, offenbleibt. Ich bedanke mich. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDSFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte dem Herrn Bundesaußenminister in Erinnerung rufen, daß er an sich beste Voraussetzungen dafür hatte, etwas umzusetzen, was im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Um einige Stichworte zu nennen: Völkerrecht, Menschenrechte, Dialogbereitschaft, Gewaltverzicht, Vertrauensbildung und die kategorische Feststellung, daß deutsche Außenpolitik Friedenspolitik ist. Ich glaube, daß es viele Möglichkeiten gab, dies unter Beweis zu stellen. Die Ausgangsbedingungen waren außerordentlich günstig: ein überzeugender Wahlsieg, ein Umfeld in Europa mit einer Mehrheit von sozialdemokratisch und sozialistisch regierten Ländern und die EU-Ratspräsidentschaft. All dies hat Chancen geboten. Das, was die Regierung daraus gemacht hat, ist meines Erachtens nicht überzeugend. Ich sage das ohne Häme. Eigentlich tut es mir sogar leid, weil ich kein Interesse daran habe, daß diese rotgrüne Bundesregierung scheitert. Die Alternativen dazu - davon konnte man sich heute an Hand der Debatte in diesem Hause auch sinnlich überzeugen - sind gräulich. Es ist aber auch keine Lösung, über die Probleme hinwegzureden. Das ist eher peinlich; denn so löst man keine Probleme. Insofern fand ich die engagierte Rede des Kollegen Schlauch zu der Tätigkeit des Außenministers doch etwas lobhudelnd. Ich weiß nicht, ob es dem Kollegen Fischer nicht auch ein bißchen peinlich gewesen ist. Ich möchte versuchen, meine Position an einigen Beispielen deutlich zu machen, wo die Regierung meiner Meinung nach erhebliche Defizite zugelassen hat. Beispiel Nummer eins ist das Völkerrecht. Ich finde, die Regierung hat, anstatt für die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen einzutreten, mit dazu beigetragen, daß das Völkerrecht ausgehöhlt wird. Um nur einige Punkte zu nennen: Ohne ein Mandat des Sicherheitsrates der UNO wurden noch vom alten Bundestag in fragwürdiger Weise die Militärschläge gegen die Bundesrepublik Jugoslawien beschlossen. Was damals noch Ausnahme und Erblast der alten Regierung war, scheint leider der Normalfall zu werden. Als die USA und Großbritannien den Irak bombardierten mit dem bekannten Ergebnis, daß nun überhaupt keine UNOInspektionen mehr stattfinden, hat die Regierung eilig und deutlich Beifall geklatscht. In Mazedonien haben wir ohne jegliche rechtliche Absicherung als Drohkulisse an einem militärischen Aufmarsch teilgenommen. Statt an einem Völkerrecht, so ist mein Eindruck, schreibt die Regierung mit an einem Interventionsrecht. Beispiel Nummer zwei: die neue NATO. Die Selbstmandatierung der NATO, die von dieser Regierung mitgetragen wird und in der neuen NATO-Strategie fixiert werden soll, ist ein Zurück von der Dominanz des Rechtes zum Recht des Stärkeren. Sie nutzt nicht nur die gegenwärtige Schwäche Rußlands, sondern sie untergräbt auch die bestehende Weltordnung. Aber genau dies ist gefährlich und höchst destabilisierend, wenn man keine neue, keine bessere hat. Der Außenminister redet nach meinem Geschmack zuwenig der OSZE das Wort. ({0}) Er spricht unter der Losung der Selbständigkeit Europas als militärischer Arm der Europäischen Union zuviel über die WEU. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin sehr dafür, mehr eigenständige Akzente auf europäischer Ebene in der Außen- und Sicherheitspolitik zu setzen. Aber sie sollten friedlich, zivil und völkerrechtlich gesichert sein. Ich bin auch für die Entfaltung der transatlantischen Beziehungen, aber nicht für eine offenkundig unkritische Unterordnung unter die Interessen der USA. Was Frau Albright im Namen der USA zum Beispiel gegenüber Jugoslawien durchzusetzen versucht, erinnert mich sehr an die Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität. Ich finde, das sollte eine deutsche Regierung nicht mittragen. ({1}) Beispiel drei: Abrüstung. Von Abrüstung, Atomwaffenabbau, ja selbst vom Vorschlag des Verzichtes auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen ist immer weniger zu hören. Ich sehe eine besondere Tragik darin, daß eine rotgrüne Regierung bereit war, ja zu sagen zur deutschen Beteiligung an Bombenabwürfen und Truppeneinsätzen in Jugoslawien. Obwohl es mir ausgesprochen peinlich ist, finde ich die formale und die rechtliche Argumentation von Herrn Lamers zu dem, was hier vorliegt und was dem Bundestag abgefordert wird, nämlich Rahmenbedingungen für einen Vertrag mitzuschaffen, der überhaupt noch nicht abgeschlossen ist, wobei es außerordentlich fraglich ist, ob er in dieser Form abgeschlossen wird - denn sonst wäre er bereits abgeschlossen worden -, korrekt, das Ansinnen der Bundesregierung hingegen eine Zumutung. Zur inhaltlichen Seite habe ich natürlich eine völlig andere Position als die, die Herr Lamers hier vorgetragen hat. Ich finde, das Ganze spiegelt sich - das ist Beispiel vier - auch im Haushalt wider. Allein für Auslandseinsätze der Bundeswehr sieht die Planung bis jetzt einen Beitrag von 1 Milliarde DM vor. Welche Einsätze im Rahmen der NATO-Strategie noch erfolgen, ist offen. Diesem Betrag von vorläufig 1 Milliarde DM stehen Beträge von geplanten 68 Millionen DM für humanitäre Leistungen, 10 Millionen DM für friedenserhaltende Maßnahmen der UNO und 16 Millionen DM für das weltweite Minenräumen gegenüber. Das sind noch nicht einmal 100 Millionen DM für friedenspolitische Aktivitäten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich denke die ganze Zeit an meine Redezeit, die leider so knapp ist, daß ich zum Schluß kommen muß. ({0}) - Man kann darüber streiten, wessen Zeit abgelaufen ist und wessen Zeit gerade anfängt oder wiederbeginnt. Ich habe ja heute mit Freude vernommen, daß der Kanzler Friedrich Engels zitiert hat. Mein Kollege Zöpel hat vom Weltsozialismus gesprochen. Das sind doch optimistische Perspektiven, die hier eröffnet werden. Nun komme ich zum Schluß. Ich hoffe sehr, daß die Regierung kritischer über ihre Außenpolitik nachdenkt, und ich glaube, daß wir eine öffentliche Debatte über die Außenpolitik brauchen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Friedbert Pflüger, CDU/CSU.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Fischer hat soeben in seiner Rede gesagt, daß er darunter leide, im Zusammenhang mit dem Kosovo die Machtlosigkeit Europas zu spüren. Ich glaube, daß wir alle dieses Leiden teilen. Denn Europa ist in der Tat noch immer nicht so stark, wie es sein könnte und wie wir es uns alle wünschen. Es ist nicht der Faktor in der Weltpolitik, den der Euro und die wirtschaftliche Kraft Europas eigentlich erfordern würden. In dem Bestreben nach einem stärkeren und handlungsfähigeren Europa, Herr Kollege Fischer, läßt sich die CDU/CSU von niemandem übertreffen. Da brauchen wir von niemandem Nachhilfeunterricht. Wir sind die Partei, die in der Tradition von Konrad Adenauer und Helmut Kohl steht. Wir wollen und wir werden Europa gemeinsam stärker machen. ({0}) Wenn wir diese Stärke Europas bekommen, erhalten und ausbauen wollen, ist entscheidend, daß die deutsche Außenpolitik berechenbar und stabil bleibt, daß sie angesichts der Unordnung der Welt der Stabilitätsanker bleibt. Ich stelle die Frage, ob denn die Bundesregierung mit dem, was sie in den ersten 100 Tagen gemacht hat, diesem Ziel gedient hat. Ich sage: In wesentlichen Teilen der Politik hat insbesondere der Bundeskanzler dazu beigetragen, daß die Berechenbarkeit dessen, was aus Deutschland kommt, verlorengegangen ist, daß die Leute im Westen, im Osten und in Amerika nicht mehr genau wissen, was die Linie der deutschen Außenpolitik ist. Das ist das Allerschlechteste - wenn man Europa voranbringen will -, daß wir Deutsche als Stabilitätsanker ausscheiden. ({1}) Herr Kollege Fischer, ich glaube, an vier Punkten kann man sehen, daß das Vertrauen, das aufgebaut worden ist, bedroht ist. Der erste Punkt ist die Nuklearpolitik, der zweite Punkt ist das Thema Osterweiterung, der dritte Punkt sind die Muskelspiele von Gerhard Schröder zum Thema Nettozahlerposition, und der vierte Punkt ist das Gerede über die EZB, ist das Schwachreden des Euro und sind die Äußerungen des Bundesfinanzministers über unsere neue Währung. Zum ersten Punkt. Es war eine Ihrer ersten Aktionen im neuen Amt, die Nuklearoption der NATO in Frage zu stellen, die Nuklearoption, die unsere Bundesrepublik Deutschland 50 Jahre lang geschützt hat. Damit ist die Möglichkeit gemeint, im Notfall einen nuklearen Ersteinsatz gegen andere Völker durchzuführen, die uns - von wo auch immer sie kommen mögen - angreifen. Warum haben Sie das gemacht? Sie haben gesagt, die weltpolitische Situation hat sich geändert. Natürlich ist das wahr. Rußland ist nicht mehr im Herzen Europas. Übrigens ist das ein ganz großer Erfolg der Regierung Kohl, daß Rußland nicht mehr im Herzen Europas steht. Daß sich Rußland aus Europa herausgezogen hat, dafür sind wir alle dankbar. In der Tat braucht man - da haben Sie recht - die Nuklearoption nicht mehr gegen die große konventionelle Übermacht, die die damalige Sowjetunion hatte. Sie hat es früher gegeben, und sie gibt es heute nicht mehr. Aber dafür gibt es heute andere Gefahren. Massenvernichtungswaffen sind verbreitet wie nie zuvor in der Geschichte. Wir werden es demnächst mit B- und CWaffen von Ländern wie Irak, Iran, vielleicht von Libyen und anderen zu tun bekommen. Es wird vielleicht auch nuklearen Terrorismus geben. Angesichts dieser neuen Gefahren ist es doch unsinnig, auf diese Option zu verzichten; im Falle eines Angriffs auf unser Land und seine Bürger müssen wir uns diese Option offenhalten. Vor allen Dingen ist es aber deshalb unsinnig, weil die Frage gestellt werden muß: Ist es eigentlich klug, daß wir, die 50 Jahre lang diesen nuklearen Schutz Amerikas gehabt haben, uns an die Spitze derjenigen setzen, die in dieser Frage eine neue Debatte fordern? Wir sind bisher klug beraten gewesen, in diesen Dingen etwas vorsichtiger zu sein. Ich glaube, daß Sie hier einen wirklichen, entscheidenden Fehler gemacht haben, der bis heute überall im Bündnis zur Irritation beiträgt. Bitte werden Sie in Fragen der NATO und der transatlantischen Beziehungen wieder ein berechenbarer Partner, weil Sie sonst das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den USA aufs Spiel setzen. ({2}) Der zweite Punkt ist das Thema Osterweiterung. Hier spreche ich weniger Sie, Herr Außenminister, an, als vielmehr den Bundeskanzler. Praktisch vom Beginn seiner Amtszeit an hat er gesagt, damit müßten wir uns jetzt mehr Zeit lassen; es gebe riesige Probleme; es müsse ein neuer Realismus her; es habe bisher nur Illusionen gegeben. Was hat denn diese Diskussion bewirkt? Die Folge war, daß man in Polen, in Ungarn, in Tschechien, aber auch im Baltikum, in Bulgarien, in Rumänien, überall in Mittel- und Osteuropa die Frage stellte: Was verändert sich da am deutschen Kurs? Wollen die Deutschen das nicht mehr wie früher? Sind die Deutschen nicht mehr die Lokomotive bei der Erweiterung -, man müßte eigentlich sagen: der Wiedervereinigung Europas? Das ist doch nicht etwas, was die Union erfunden hat, was das Konrad-Adenauer-Haus zur Verunsicherung der Menschen in die Gegend streut. Wenn Sie nach Polen, nach Ungarn - wohin Sie wollen - fahren, sagen Ihnen doch die Politiker sofort: Wir hoffen, daß ihr Deutschen weiter unser Anwalt bleibt. ({3}) - Herr Kollege Zöpel, ich glaube Ihnen, daß Sie das weiter wollen. Aber es sind Irritationen entstanden. Diese Irritationen sind nicht in unserem deutschen Interesse. Bisher haben wir in diesen Ländern unendlich viel Vertrauen gewonnen; wir haben übrigens auch neue Märkte in diesen Ländern gewonnen, weil man dort gesagt hat: Die Deutschen sind in dieser Frage auf unserer Seite. Mit diesem neu erkämpften Gut muß man sehr vorsichtig umgehen. Ich glaube, daß die Osterweiterung das erste strategische Interesse der Bundesrepublik Deutschland ist, weil wir aus unserer Randlage herauskommen. ({4}) Wir kommen aus der deutschen Randlage heraus, wir sind nur noch von stabilen Partnern umgeben. Das so zu behandeln, wie es der Herr Bundeskanzler mit seinen Äußerungen getan hat - nicht wie Sie, Herr Fischer! -, ist, glaube ich, in der Tat fahrlässig. Wir exportieren inzwischen nach Mittel- und Osteuropa mehr als in die USA. Mittel- und Osteuropa sind für uns eine Wachstums- und Konjunkturmaschine. Wollen wir all das aufgeben, indem wir die ganze Sache jetzt abbremsen? Herr Kollege Zöpel, es geht nicht darum, jetzt ein Datum festzulegen. ({5}) Ich verstehe, daß man erst einmal die Agenda 2000 hinbekommen muß. Aber wir brauchen bald ein Datum; denn sonst verunsichern wir die Reformer in diesen Ländern. Vor allen Dingen dürfen wir keinen Hauch von Zweifel an unserer Entschlossenheit in dieser Richtung haben. Den Herren Brecht und Zöpel glaube ich das, beim Bundeskanzler bin ich da nicht überzeugt. ({6}) Zum dritten Punkt, der Diskussion um die Nettozahlerposition. Herr Schröder hat sich heute sehr wortreich und sehr lautstark darüber beklagt - an die Adresse des bayerischen Ministerpräsidenten gewandt -, man lege die Meßlatte mit 14 Milliarden DM zu hoch. Der Kollege Lamers hat für die Fraktion der CDU/CSU eben zunächst klargestellt, daß die 14 Milliarden DM auf einen Beschluß der Finanzminister und Ministerpräsidenten vor einigen Jahren - unter Einschluß von Schröder und anderen - zurückgingen, und darauf hingewiesen, daß dieser Betrag zwar in dem Papier zitiert wird, aber dies nicht das ist, was die Union letztlich erwartet. Denn wir sind Realisten und wissen, daß es Kompromisse geben muß. Wer hat denn die ganze Diskussion um die Nettozahlerposition herbeigeführt? Wer hat denn den Eindruck vermittelt, das wichtigste Ziel in Europa sei, Geld zu sparen? Das war Herr Schröder mit seiner unglaublichen, populistischen Bemerkung auf dem Saarbrücker Delegiertentag der SPD, Brüssel verbrate unser Geld, das wir hier in Deutschland hart erarbeiten müßten. ({7}) Das ist doch an Populismus nicht zu übertreffen gewesen. Damit hat er Geister gerufen, die man jetzt natürlich nur schwer wieder los wird. Wir müssen sehr aufpassen, und zwar alle miteinander, daß der Gipfel, vor dem wir stehen - der wirklich sehr wichtig ist, übrigens auch für die Stabilität des Euro -, nicht zu einem Verteilungsgipfel wird, sondern daß es ein Gestaltungsgipfel wird. Das Ziel dieses Gipfels ist, Europa fit zu machen für die großen Aufgaben, die vor uns liegen. Das ist das Entscheidende, und diesbezüglich hat Herr Schröder am Anfang falsche Töne gesetzt. Herr Kollege Fischer, das sollten Sie innerhalb der Koalition zur Kenntnis nehmen. Der vierte Punkt betrifft die Europäische Zentralbank und den Euro. Auch das ist - das können Sie doch überall nachlesen - keine Erfindung des KonradAdenauer-Hauses. Nach einer langen Tradition der Stabilität des Geldes, für die unsere Bundesbank und unsere Finanzpolitik standen, stellt sich der Finanzminister jetzt hin und sagt, die EZB, die Europäische Zentralbank, sei nicht nur für Stabilität, sondern auch für Wachstum und Beschäftigung verantwortlich. ({8}) Das steht zwar im Statut der EZB; als solche ist diese Äußerung gar nicht schlecht. Nur, sie signalisiert der gesamten Welt eine Veränderung der deutschen Prioritäten. Sie signalisiert der gesamten Welt, daß die Deutschen jetzt nicht mehr der Hüter der Stabilität sind, sondern hier ein bißchen großzügiger werden. Daraufhin sinkt der Wert des Euro. Aber anstatt sich besorgt zu zeigen und etwas zu unternehmen, um den Euro wieder stark zu machen, sagt man: Ach, so schlecht ist das gar nicht; denn unserem Export dient das kurzfristig. - Auch das ist wahr. Kurzfristig dient es unserem Export. Nur, wenn Deutschland und Europa gegenüber anderen Teilen dieser Welt langfristig wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann muß die Stabilität des Euro an erster Stelle stehen. Jeder, der sich daran vergeht, macht wirklich einen bösen und ganz gefährlichen Fehler. ({9}) Die anderen haben nicht mehr den Eindruck, daß wir es ernst meinen mit dieser Stabilität. Das ist die große Gefahr. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Außen- und Europapolitik leben von der Stabilität und der Berechenbarkeit. Es gibt Bemühungen des Außenministers, manche Fehler zu korrigieren. Aber der Bundeskanzler muß auf diesem Gebiet wirklich zulernen, und vor allen Dingen muß er Interesse entwickeln für das Thema. Er muß Interesse entwickeln für andere Länder und darf nicht glauben, er könne die Außen- und Europapolitik sozusagen nebenbei machen, immer mit Augenmerk auf die nächsten Wahlen. Man muß verantwortlich Außenpolitik betreiben. Dazu bedarf es einer klaren Linie. Diese Linie finden wir bisher weder in der Außen- noch in der Europapolitik. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie darüber informieren, daß interfraktionell vereinbart worden ist, die Debatte über den Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes nicht fortzuführen. Deshalb kommen wir jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Aussprache wird eröffnet vom Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beratung des Haushaltes des Bundesverteidigungsministeriums findet statt in einer Zeit, in der sich schon erhebliche Veränderungen vollzogen haben und noch weitere vollziehen werden. Man kann das an wenigen Beispielen deutlich machen. In der Bundesrepublik Deutschland waren zum Zeitpunkt der deutschen Einheit etwa 1,5 Millionen Soldaten stationiert. Es sind jetzt weniger als 500 000. Die Bundeswehr hatte zum Zeitpunkt der deutschen Einheit etwa 700 000 Angehörige. Es sind jetzt etwas weniger als 340 000. Allein diese Zahlen machen deutlich, welche enorme Veränderung schon stattgefunden hat. Dies läßt sich auch im internationalen Bereich demonstrieren; denn die Bundesrepublik Deutschland ist stärker, als sich das mancher beispielsweise vor zehn oder fünf Jahren hat vorstellen können, an internationaler Friedenssicherung beteiligt - übrigens nicht nur in Bosnien; ich will darauf hinweisen, daß sie zum Beispiel auch Hilfsflüge unternommen hat, um eine Hungerkatastrophe im Südsudan verhindern zu helfen, oder daß sie an der Kontrolle und der gewaltfreien Regulierung eines Konfliktes beteiligt ist, den es im georgischabchasischen Gebiet gibt. Dies sind zwei Beispiele neben vielen anderen, die man erwähnen könnte, die noch einmal illustrieren, wie enorm und wie tiefgreifend die Veränderungen sind. In einer solchen Zeit tiefgreifender Veränderungen, die sich insgesamt sehr positiv für unser Land auswirken, kommt es darauf an, daß die von den Veränderungen in ihre beruflichen und in sozialen Belangen unmittelbar betroffenen Menschen - die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die zivilen Angestellten und deren Familien - ein möglichst großes Maß an planerischer und sozialer Sicherheit haben. Die Bereitschaft zur Veränderung - das ist im übrigen auch in der Rede des Bundeskanzlers deutlich geworden - hängt auch sehr stark davon ab, daß man zwei Dinge sicherstellt: nämlich einerseits ein festes Fundament, das ich mit den Stichworten der planerischen und sozialen Sicherheit bezeichne, andererseits Leistung, Motivation und die Bereitschaft, die Verantwortung und den Leistungswillen von Menschen zu fördern und voranzubringen. Das gilt ganz selbstverständlich auch innerhalb der Bundeswehr und ihrer zivilen Verwaltung. Insofern drücken die Zahlen des Einzelplanes 14 eine gewollte Politik aus, die auf der einen Seite die beschriebenen Ansprüche einlösen wird und auf der anderen Seite die Bundeswehr fähig machen soll, mit den Herausforderungen der Zukunft umzugehen und ihren - im übrigen unverzichtbaren - Beitrag für die Sicherheit, die freiheitliche und friedliche Entwicklung unseres Landes und unserer Partner und Freunde zu gewährleisten. Ich will das wiederum an nur einem Beispiel deutlich machen, nämlich an der Frage, wie sich denn die Bundeswehr auf solche neuen Herausforderungen einrichten kann und worin sie tatsächlich bestehen. Es ist schon deutlich geworden, daß sich die Bundesrepublik Deutschland viel stärker als in der Vergangenheit an Maßnahmen der internationalen Friedenssicherung beteiligt. Das kann man nicht allein auf den militärischen Beitrag zu solcher Friedenssicherung beschränken. Zu einer integrierten oder kohärenten Politik gehören auch vorbeugende Krisenbekämpfung, schnelle Beseitigung von Krisenursachen und Hilfe bei der zivilen Entwicklung eines Landes oder einer Region. Das hat Auswirkungen auf vielfältige internationale Institutionen, beispielsweise auf die Vereinten Nationen und ihre Entwicklungsagentur. Es hat Auswirkungen auf die Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, die Vereinten Nationen zu stärken und im Interesse dieser Stärkung entsprechende Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Es hat auch Auswirkungen auf die Diskussion um eine neue Strategie der NATO und die Rolle der Europäer innerhalb der NATO. Dazu kurz folgende Hinweise. Im Rahmen der neuen NATO wird ein neues strategisches Konzept beraten, das auf folgende Entwicklungen sehr genau eingehen wird: die Kooperation mit anderen Partnern der gemeinsamen Sicherheit in Europa wie beispielsweise - aber nicht alleine - Rußland und die Ukraine, die Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO und die Unterstreichung der Tatsache, daß es eine offene Tür für weitere Mitgliedschaften in der NATO gibt. Allerdings füge ich hinzu, daß gerade die NATO nicht irgendein politischer oder gar sozialer Club ist, sondern ein militärisches Bündnis mit Aufgaben, die in der festen und zuverlässigen Friedenssicherung ruhen. Folgerichtig müssen von den Staaten, die NATO-Mitglied werden wollen, auch gewisse Anforderungen erfüllt werden. Das sind Anforderungen an Ihre demokratische Kultur; das sind Anforderungen an ihre parlamentarische Festigkeit; und das sind Anforderungen an ihre militärische Leistungsfähigkeit. Nicht zuletzt wird es darauf ankommen, das Gewicht der Europäer innerhalb der NATO zu stärken, was auf zweierlei Weise geschehen soll. Es ist das Ziel der doppelten Präsidentschaft - der Präsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union wie in der Westeuropäischen Union -, dafür zu sorgen, daß zunächst, noch vor dem Gipfel in Washington, die Vereinbarungen, auf die man sich schon vor Jahren in Berlin verständigt hatte, nun endlich formalisiert werden und daß die Europäer im Rahmen der westeuropäischen Union fähig werden, unter Nutzung von NATOStrukturen und NATO-Möglichkeiten eigenständig zu handeln. Nach dem Washingtoner Gipfel wird ein zweiter Schritt unternommen werden, und zwar mit einer Initiative der Bundesregierung, die das Ziel hat, eine Integration der Westeuropäischen Union in die Europäische Union schrittweise auf den Weg zu bringen. Damit ist für solche NATO-Mitgliedstaaten, die noch nicht Mitglied der Europäischen Union sind, ein Brükkenschlag verbunden, der ihnen im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine engere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union ermöglichen soll. Vor diesem international und politisch beschriebenen Hintergrund taucht die Frage auf, ob die Bundeswehr in ihrer Struktur, in ihrer Ausrüstung und in ihrem Umfang solchen Aufgaben gewachsen ist. Es ist das Ziel der Bundesregierung, sicherzustellen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland an allen Aufgaben, die sich international stellen, dem Gewicht der Bundesrepublik Deutschland entsprechend beteiligen kann. Es gibt in der Struktur wie auch in der Ausrüstung der Bundeswehr ganz offensichtlich Bedarf, entsprechende Veränderungen herbeizuführen. Das will ich ausdrücklich auch im Lichte einer Serie von insgesamt sechs Tagungen mit Angehörigen der Bundeswehr sagen, auf denen man viel über das Innenleben der Bundeswehr, aber auch manches darüber erfährt, wie die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr von denen beurteilt wird, die sie von der Basis und vom alltäglichen Betrieb her kennen. Vor diesem Hintergrund ist es mir wichtig, daß der Investitionsanteil im Haushalt des Bundesverteidigungsministeriums zum ersten Mal seit Jahren nicht mehr sinkt, sondern wieder steigt. ({0}) - Daß Sie das bezweifeln, Herr Breuer, erklärt sich aus Ihrer Rolle heraus, aber nicht aus den Tatsachen. ({1}) Es gehört ja zum pflichtschuldigen Programm einer jeden Opposition, etwas zu bezweifeln. ({2}) Es ist nicht notwendig, alle Fehler zu wiederholen, die in den letzten 16 Jahren gemacht wurden. Im übrigen habe ich nichts dagegen, wenn die Opposition jetzt wieder 16 Jahre dauert. Aber das ist Ihre Sache, nicht so sehr meine. Der Investitionsanteil - den Haushalt und seine Verabschiedung vorausgesetzt - in der Größenordnung von etwas mehr als 25 Prozent ist in seiner Steigerung erfreulich, aber auf Dauer - das ist festzuhalten - ist ein Investitionsanteil von 25 Prozent zu niedrig. Es hat überhaupt keinen Sinn, sich daran vorbeizumogeln. ({3}) Denn mit Blick auf die Aufgaben, die sich aus dem beschriebenen Umfeld stellen, ist ein dauerhafter Investitionsanteil von 25 Prozent im Vergleich zu 1998 und den Vorjahren zwar eine erfreuliche Steigerung, es wird für die Zukunft allerdings nicht reichen. Ich sage das auch im Hinblick darauf, daß man in der Haushaltspolitik nicht nur ein Haushaltsjahr betrachten, sondern eine langfristige politische Linie deutlich werden lassen sollte. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht verständlicher, weshalb es mir und der Führung auf der Hardthöhe besonders wichtig ist, jetzt schon alle Maßnahmen zu ergreifen, die eine höhere Effizienz bei der Verwendung von Steuermitteln sicherstellen und die gewährleisten sollen, daß die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr gesteigert und die manchmal knebelnde Bürokratie reduziert werden. Auch das ist ein Ergebnis solcher Tagungen. ({4}) Ich will das Parlament ausdrücklich einladen, im Rahmen der Haushaltsberatungen mit der Bundesregierung und dem Bundesverteidigungsminister darüber nachzudenken, wie man zusätzliche Möglichkeiten in dem gerade beschriebenen Interesse, nämlich Effizienz und Leistungsfähigkeit steigern und Bürokratie abbauen, entsprechend verankern kann. Sie wissen, daß die Bundeswehr eine außerordentlich moderne Verwaltung hat. Das soll uns aber nicht daran hindern, diese Verwaltung weiter zu modernisieren. Das hat mit Stichworten zu tun, die sich zunächst sehr technokratisch anhören: Verantwortung für Kosten und Leistung, flexible Budgetierung und andere Dinge mehr, die ich jetzt nicht alle aufzählen will. Sie alle haben ein Ziel - das habe ich ganz zu Anfang genannt -: Leistungsfähigkeit, Motivation, Verantwortungsbereitschaft sind auf der Grundlage planerischer und sozialer Sicherheit die Voraussetzung dafür, daß man solche Veränderungen mit den Menschen macht und sie zur Gestaltung, zur Mitverantwortung einlädt, anstatt Sparprozesse gegen sie zu organisieren und sie immer wie eine Belastung erscheinen zu lassen. ({5}) Im übrigen geht es weniger ums Sparen selbst, sondern um die beschriebenen Ziele der Effizienz, der Leistungssteigerung und der wirtschaftlichen Verwendung von Mitteln. Das wird mit Blick auf den Haushalt auch im Zusammenhang mit der Rüstungsplanung und der Art und Weise, wie sie vorgenommen und verwirklicht wird, bestimmte Konsequenzen haben. Eine will ich hier andeuten. Die Hardthöhe wird noch in diesem Jahr und parallel zur Verabschiedung des Haushalts Methoden eines Controlling einführen, wie es in der privaten Wirtschaft gang und gäbe ist, leider Gottes aber bei so hohen Investitionen von knapp 12 Milliarden DM in der Bundeswehr bisher nicht gang und gäbe war. ({6}) Ich will darauf aufmerksam machen, daß eine Fülle von Fragen, ganz unbeschadet der zukünftigen Gestalt der Bundeswehr und der Erörterung, die innerhalb der Zukunftskommission zu führen sein werden, heute schon klar erkennbar vor uns liegt. Wenn sie klar erkennbar vor uns liegt, wäre es ziemlich dumm, auf die Empfehlung der Kommission zu warten. Was entscheidbar ist, wird auch entschieden werden. Mit Blick auf das finanzielle Volumen registriere ich mit Aufmerksamkeit und, wie Sie vielleicht verstehen werden, mit Zufriedenheit den Antrag der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem möglichen Engagement im Kosovo. Wir werden darüber im Laufe der nächsten Stunden in den Ausschüssen und dann im Plenum des Deutschen Bundestages reden können. Der Haushalt ist jedoch - das soll meine abschließende Feststellung sein -, wie man in anderen Zusammenhängen sagt, sehr knapp und auf den Rand genäht. Es ist nicht so, daß man ihn als Steinbruch mißverstehen könnte. Es ist auch nicht so, daß man den 340 000 Angehörigen und den über 120 000 Zivilangestellten der Bundeswehr signalisieren sollte - das wird die Regierung, das wird der Bundesverteidigungsminister auch nicht tun -, als könne man den Haushalt des Bundesverteidigungsministeriums als Verfügungsmasse zur Erledigung anderer Aufgaben betrachten; denn die Sicherheit eines Landes ist ein langfristiges Gut und kein konjunkturelles oder Moden unterworfenes Gut. ({7}) Der Raum für die Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland wird größer, und zwar nicht nur durch die Aufnahme dreier neuer NATO-Mitglieder, was ein historischer Prozeß und Fortschritt ist, den wir in den nächsten Tagen endgültig vollziehen werden. Vor diesem Hintergrund gestatten Sie mir eine abschließende Feststellung: Es gibt Menschen, die manchmal danach fragen, wo bei diesen enormen Veränderungen unserer sicherheitspolitischen Lage und unseres sicherheitspolitischen Umfeldes und den Veränderungen in der Bundeswehr selbst - in Umfang, Aufgabenstellung usw. - die Friedensdividende bleibe. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre hat die Bundesrepublik Deutschland 25 Prozent ihrer Steuereinnahmen für Zwecke des Einzelplans 14, also für Verteidigung ausgegeben. Jetzt gibt die Bundesrepublik Deutschland etwa 14 Prozent der Steuereinnahmen des Bundes für Verteidigung aus. Das ist ein Unterschiedsbetrag von jährlich etwa 35 Milliarden DM. Gleichzeitig ist durch das Engagement auch der Bundeswehr, was die militärische Absicherung des Abkommens von Dayton und die friedliche Entwicklung in Bosnien-Herzegowina angeht, und auch durch eine sehr umfangreiche zivilmilitärische Zusammenarbeit, die die Bundeswehr in vorbildlicher Weise in Bosnien praktiziert, ({8}) die Möglichkeit geschaffen worden, daß die Zahl der Flüchtlinge, die Deutschland beherbergt hatte, und zwar mit gutem Grund - ich finde es immer ehrenvoll, Flüchtlingen zu helfen -, ({9}) von zirka 350 000 auf weniger als 100 000 zurückgegangen ist. In dieser Zahl steckt zugleich - obwohl das nicht der wichtigste Gesichtspunkt ist, sollte man ihn berücksichtigen - eine Veränderung in den finanziellen Aufwendungen von deutlich über 10 Milliarden DM. ({10}) Wenn man diese beiden Summen - die Veränderungen hinsichtlich dessen, was wir aus den Steuereinnahmen des Bundes für Verteidigung aufwenden, und hinsichtlich dessen, was insbesondere Gemeinden durch friedliches Engagement sparen können oder gespart haben - zusammenrechnet, dann wird man feststellen, daß die Friedensdividende nur aus diesen beiden Positionen etwa so hoch ist wie der Verteidigungshaushalt heute. Das, meine ich, ist beachtlich; denn das heißt, die Bundeswehr ist um 42 Prozent reduziert worden, und mit Blick auf den Gesamthaushalt sind die Aufwendungen für die Bundeswehr um rund 50 Prozent reduziert worden. Das ist ein beachtlicher Fortschritt. Aber die quantitativen Grenzen sind erreicht. Jetzt geht es darum, die qualitativen Möglichkeiten zu erweitern, und dazu möchte ich Sie ausdrücklich einladen. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Bevor ich das Wort weitergebe, muß ich, an den Kollegen Kubatschka gerichtet, der nicht im Saal ist, leider sagen, daß ich seinen Ausdruck, den er während der Rede des Ministerpräsidenten Stoiber verwendet hat, als unparlamentarisch zurückweise. ({0}) - Sie wollen mich doch wohl nicht provozieren, den Ausdruck hier zu verlesen? ({1}) Er ist nicht nur unparlamentarisch, sondern - wenn ich das einmal sagen darf - auch unbayerisch. ({2}) Ich gebe nun dem Kollegen Dietrich Austermann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsetat ist mehr noch als der Außenetat, über den wir eben gesprochen haben, ein Spiegelbild, eine Antwort auf die Frage, wie wir mit unseren Soldaten umgehen. Ich möchte zu Beginn meiner Rede sagen: Wenn man die internationalen Einsätze sieht, die die Bundeswehr hinter sich hat, und die Einsätze sieht, die möglicherweise vor der Bundeswehr liegen, wenn man die jahrzehntelange Verteidigungsbereitschaft in unserem Lande sieht, dann ist es, glaube ich, gut, an dieser Stelle zuerst unseren Soldaten, den Wehrpflichtigen und den zivilen Mitarbeitern für die Sicherung des Friedens und die Sicherung der Freiheit nicht nur in unserem Land zu danken. ({0}) Wir danken für die Einsätze von Kambodscha bis Bosnien und für die Verteidigungsbereitschaft. Wenn ich das sage, dann muß ich darauf hinweisen, daß sich die Zeiten in einem derart rasanten Tempo ändern, daß es einem kaum gelingt, seinem Erstaunen über Veränderungen Ausdruck zu geben. Wer, liebe Kollegen, hätte vor einem Jahr gedacht, daß sozialdemokratische Verteidigungspolitiker im Bündnis mit den Grünen Überzeugungsarbeit bei der Union zu leisten versuchen, um den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr im Ausland vorzubereiten? ({1}) Noch vor wenigen Jahren stellte sich der jetzige Außenminister, der das eben auch eingestanden hat, gegen seine Fraktionsmehrheit und widersprach sogar Blauhelmeinsätzen. Als es zum erstenmal um die Sicherung der Menschenrechte in Bosnien ging, mußten wir uns in einer Haushaltsdebatte von einer grünen Abgeordneten vorhalten lassen, wir wiederholten den Einsatz der Wehrmacht in Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg. Es ist noch nicht einmal ein Jahr her, daß uns vorgeworfen wurde, das mehr proklamierte als realisierte Leitbild vom Staatsbürger in Uniform würde von uns zugunsten des universellen Kämpfers ausgehöhlt. Von Militarisierung der Außenpolitik war die Rede, und es hieß, das Wort „Menschenrechte“ werde instrumentalisiert und zu einem ideologischen Begriff zur Durchsetzung der Interessen der Reichen und der Wohlhabenden pervertiert. Das waren doch alles Ihre Worte, Frau Beer. Ich erwarte eigentlich, daß Sie heute zum erstenmal von dieser Stelle aus sagen, Sie hätten sich geirrt, die Position, die Sie bisher eingenommen hätten, sei falsch gewesen und habe der Bundeswehr, die Anspruch darauf hat, daß sie vom gesamten Parlament unterstützt und getragen wird, eher geschadet. ({2}) Das gilt insbesondere dann, wenn man sich vor Augen hält, daß Sie, die Sie noch vor zehn Monaten den Kosovo-Einsatz abgelehnt haben, nun mit Fernsehkameras an die Stätte Ihrer bisherigen Menschenrechtsverweigerung drängen. ({3}) - Sie können ja gern dazu Stellung nehmen. Wenn in den Regierungsfraktionen insoweit tatsächlich ein neuer Kurs Platz greift, dann frage ich mich, warum Sie in Zukunft - das steht in der Koalitionsvereinbarung - die militärische Ausstattungshilfe der Bundeswehr verweigern wollen, die eine Hilfe für die Ärmsten der Armen auf der Welt darstellt. Die Beendigung der militärischen Ausstattungshilfe wäre ein Unfug, weil sie gerade in vielen Ländern Schwarzafrikas den Menschen in den letzten Jahren im medizinischen und humanitären Bereich großartig geholfen hat. Noch vor einem Jahr war es richtig, wenn man die Situation so beschrieben hat: Ungarn will in die NATO, die Grünen wollen raus, Ungarn und Polen wollen in die EU, und Rotgrün sagt nein. Wir haben immer gesagt, der Auftrag der Streitkräfte bestehe nach dem politischen Umbruch der vergangenen Jahre nicht nur in der Befähigung zur Verteidigung des eigenen nationalen Territoriums, sondern auch in humanitären Hilfsmaßnahmen bei Katastrophen und Notlagen im Frieden. Dies war, wie gesagt, bis vor kurzem nicht in allen Teilen des Bundestages selbstverständlich. Ich bitte deshalb um Verständnis dafür, wenn wir diejenigen, die bisher und viel zu lange nein gesagt haben, auf dem Weg zur Vernunft oder auf dem Weg in die Gegenwart nicht besonders herzlich begrüßen. Gerade jetzt braucht die Bundeswehr die volle und nicht nur die halbherzige Unterstützung. Da haben viele noch einen langen Weg vor sich. Volle Unterstützung ist vor allem im wehrtechnischen und materiellen Bereich vonnöten. Ich komme zur finanziellen Seite des Etats für die Bundeswehr. Der Bundesverteidigungsminister hat bereits darüber gesprochen. Herr Scharping, es war eine kluge Entscheidung, den Waigel-Entwurf für den Verteidigungsetat im wesentlichen zu übernehmen. Sie reiht sich in andere kluge Entscheidungen in Ihrem Hause ein, die Kontinuität in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedeuten können. ({4}) Nicht klug war, daß der Finanzminister den Etat um 235 Millionen DM gekürzt hat. Wir werden bei den Haushaltsberatungen versuchen, diese Kürzung wieder rückgängig zu machen. Es war auch nicht klug, daß er gestern gesagt hat, wenn künftig weitere Kürzungen erforderlich seien, dann werde auch der Verteidigungsetat nicht ungeschoren bleiben können. Vizepräsident Rudolf Seiters Wir sind für Planungssicherheit, Festhalten an der Wehrpflicht, Fortführung der bedarfsgerechten Ausstattung der Streitkräfte, Aufrechterhaltung der Haushaltsansätze für Ausbildung und Übungen - das sage ich gerade im Blick auf die Unglücksfälle, die vor allem die Luftwaffe in letzter Zeit ereilt haben -, Fortsetzung der internationalen Einsätze im ehemaligen Jugoslawien sowie für die Erweiterung der NATO zum nächstmöglichen Termin. Insoweit scheint es Kontinuität zu geben, und das begrüßen wir. Der Verteidigungsetat mit 47,3 Milliarden DM, also unser Entwurf aus dem letzten Jahr inklusive eines sogenannten Konsolidierungsbeitrages, reicht knapp aus, den von mir genannten politischen Vorgaben zu entsprechen. Seit dem Regierungswechsel hat sich an den Aufgaben der Bundeswehr nichts geändert. Das, was jetzt neu hinzukommt, muß auch finanziell neu bewertet werden. Deshalb begrüßen wir es, daß die zusätzlichen finanziellen Mittel in Höhe von 620 Millionen DM aus dem Einzelplan 60 und nicht aus dem Verteidigungsetat herausgeschnitten werden, wenn es zum internationalen Einsatz kommt. ({5}) Herr Kollege Breuer wird zu dieser Frage gleich noch Stellung nehmen. Der Etat darf nicht gekürzt werden. Die verteidigungsinvestiven Ausgaben sind, Herr Minister, nicht zum erstenmal in den letzten Jahren gestiegen. Sie steigen seit drei Jahren ständig. Wir können da eigentlich immer nur wieder darauf hinweisen, daß gerade die damalige Opposition dafür sorgen wollte, daß im Bereich von Übungen, Materialerhaltung und -beschaffung, von wehrtechnischer Forschung usw. gekürzt würde. Wären wir dem damals gefolgt, sähen Ihre Handlungsmöglichkeiten heute deutlich schlechter aus. Der Etat darf nicht verringert werden, denn es besteht sonst die Gefahr, daß weitere Vorhaben verschleppt oder aufgegeben werden und dann vorhandenes Gerät länger als geplant benutzt wird, mit der Folge höherer Ausgaben bei der Materialerhaltung. Wir haben hier in den letzten beiden Jahren Mittel aufgestockt. Hier besteht in der Tat ein weiterer Bedarf. Wir begrüßen die Entscheidung, die zusätzlichen Mittel, wie gesagt, aus dem anderen Etat zu entnehmen. Trotzdem bleibt auch dieser Verteidigungsetat mit 440 Millionen DM für internationale Einsätze belastet. In dieser Situation könnte man denken, es ist alles in Ordnung, die überwältigende Mehrheit des Parlaments hat sich der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung angeschlossen, die hinter der Bundeswehr und auch hinter der Zahl der Soldaten steht, wenn man nicht aus Vorgesprächen zu den Haushaltsberatungen den Eindruck gewönne, daß sich Haushaltspolitiker, rotgrüne Koalitionsabgeordnete, anschicken, die Zahl der Wehrpflichtigen um 3 000, die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten um 1 000 noch in diesem Jahr abzusenken, um damit einen Beitrag zu leisten, Einnahmelücken insbesondere auf Grund des Steueränderungsgesetzes zu decken. ({6}) - Ich stelle das fest. Wenn es Märchen sind, um so besser. Der eine oder andere aus Ihrer Fraktion läßt erkennen, daß dies die Absicht ist. - Es ist kontraproduktiv im Hinblick auf die Bemühungen, auch über den Verteidigungsetat etwas zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit zu tun, wenn man im Bereich der Wehrpflicht sparen will. ({7}) Sie können an anderer Stelle überall erkennen, daß es durchaus solche Absichten gibt. Ich verweise auf eine aktuelle Schrift der Kollegen Kröning und Verheugen. Kollege Kröning ist im Haushaltsausschuß jetzt für den Verteidigungsetat verantwortlich. In ihr wird gesagt, die Zahl der Soldaten sollte auf 250 000, die Ausgaben der Bundeswehr auf 37,5 Milliarden DM reduziert werden. Was heißt das denn anderes, als daß Standorte rasiert werden, wenn die Zahl der Soldaten verringert wird? Wir wissen seit langem, daß die Grünen, daß sich Frau Beer damit befaßt, die Bundeswehr ständig zu verkleinern. Die letzte Zahl, die sie vor kurzem genannt hat, waren 150 000 Mann. Wir sagen: Mit uns nicht! Mit uns wird auch an der Wehrpflicht nicht herumgefummelt. ({8}) Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, der mir wichtig zu sein scheint. Man kann die Aktivität der Bundeswehr auch anders beeinträchtigen als dadurch, daß man ihr Geld entzieht. Der schleswig-holsteinische Umweltminister, durch die „Pallas“-Affäre unrühmlich bekanntgeworden ({9}) - ist leider noch im Amt -, ist dabei, in einer Vorlage sämtliche Standortübungsplätze der Bundeswehr unter Naturschutz zu stellen, sie als FFH-Gebiete nach Brüssel zu melden. Man muß sich das einmal vorstellen: Wir schicken Soldaten in internationale Einsätze, und Herr Steenblock sagt, Übungsmöglichkeiten im Inland sind nicht mehr. Den Wehrpflichtigen wird verboten, bei Übungen auf den Standortübungsplätzen tiefer als einen Meter zu graben, Äste abzubrechen und sich zu tarnen. Wir schicken sie in internationale Einsätze, und Umweltschützer sagen dann: Standortübungsplatz wird Naturschutzgebiet. In meinem Wahlkreis liegt in der Meldorfer Bucht eine Munitionserprobungsstelle. Solange ich im Bundestag bin, sind die Grünen und einzelne SPD-Abgeordnete dabei, zu sagen, das muß dort endlich aufhören. Wo will ich denn neue Verteidigungsgeräte, die unsere Soldaten brauchen, damit sie optimal geschützt sind, erproben, wenn nicht zum Beispiel auf diesem Übungsplatz? Umweltschützer können doch nicht die Verteidigungspolitik der Bundesrepublik konterkarieren. Mir sagen Bundeswehrangehörige, überall dort, wo Rotgrün an der Regierung ist, macht man das gleiche. Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Der Truppenübungsplatz Wildflecken erstreckt sich über mehrere Bundesländer. Der hessische Teil ist Naturschutzgebiet; der Teil, der anders und ordentlich regiert wurde, ist kein Naturschutzgebiet. Wir sollten den Bürgern klarDietrich Austermann machen: Wenn man diese Bundeswehr will und sie verteidigungsbereit halten will, muß man ihr auch die Übungsmöglichkeit geben und darf ihr sie nicht aus der Hand schlagen. Lassen Sie mich schließen. Im Rahmen der Haushaltsberatungen werden wir für eine solide Finanzierung der internationalen Einsätze, eine Aufrechterhaltung des Haushaltsvolumens des Waigel-Entwurfs und Detailverbesserungen eintreten. Die Bundeswehr ist seit der Wiedervereinigung in einem ständigen Wandel begriffen. Internationale Einsätze in Kambodscha, Somalia, Bosnien, nun wohl auch im Kosovo waren mit jeweils steigendem Gefährdungspotential und wachsenden militärischen Anforderungen über die Verteidigungsbereitschaft hinaus verbunden. Diese sich ständig verändernde Armee kann auf die Unterstützung der Union rechnen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Austermann, ich muß Ihnen gratulieren. Sie haben zumindest die Koalitionsvereinbarung von uns gelesen. Allerdings haben Sie bei Ihrer Liste der Übeltaten der früheren Oppositionspolitikerin Angelika Beer vergessen, daß sie noch vor einem dreiviertel Jahr auf der Straße gegen den Eurofighter gekämpft hat und in Kürze einem Verteidigungshaushalt zustimmen wird. ({0}) Unsere Politik mag für Sie intellektuell nicht nachvollziehbar sein. Aber ich will versuchen, ihre Grundzüge zu umreißen. Es geht uns darum, daß wir in Zukunft eine präventive Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur formulieren, sondern auch gestalten wollen, um damit Defizite der 16jährigen CDU/CSU-F.D.P.-Koalition zu beseitigen. Der Haushalt 1999 ist ein Übergangshaushalt. Auf Grund der unkontrollierten Beschaffungspolitik unter Volker Rühe und der vertraglichen Festlegungen auf große Zeiträume haben wir in der Tat geringe Spielräume, um diesen Haushalt zu gestalten. Aber ich glaube, daß wir dort, wo wir es getan haben, auf dem richtigen Weg sind. ({1}) Wir werden den Haushalt so gestalten, wie es unserer Verantwortung, die wir bewußt übernommen haben, entspricht. Eine bloße Fortschreibung des Rüheschen Plans ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Das zeigt die Halbwertszeit der Bundeswehrpläne, die früher vorgelegt worden sind. Das Motto „schieben und strecken“ kann von uns auf Dauer nicht weiter befolgt werden; denn es würde die Bundeswehr in ein finanzielles und sicherheitspolitisches Desaster führen. Die strukturelle Ausrichtung der Bundeswehr ist aus unserer Sicht sicherheitspolitisch überdimensioniert und überholt. Wir können sie in dieser Form nicht weiter finanzieren. Deswegen ist es wichtig, daß die Kommission „Zukunft der Bundeswehr“ eingesetzt wird und ab April ihre Arbeit aufnimmt und daß bereits vorher - wie es der Verteidigungsminister ausgeführt hat - im Rahmen vorsichtiger und nachvollziehbarer Anpassungsprozesse Korrekturen vorgenommen werden, die ohne Probleme und ohne tiefgreifende Einschnitte durchführbar sind. Insofern werden wir auch im Rahmen der Einzelplanberatungen im Verteidigungsausschuß einige Projekte wie den „Tiger“ und die Bewaffnung für ein panzerlastiges Heer in Frage stellen und überlegen, ob wir dort, wo es Überfluß gibt, nicht reduzieren können. Ich möchte ganz klar sagen, daß die Versäumnisse der Vergangenheit bereits in den nächsten Monaten aktives Handeln erfordern. Es wird eine Diskussion und die Entscheidung über die NATO-Strategie geben; der Amsterdamer Gipfel wird stattfinden. Wir werden auch feststellen - das ist offensichtlich -, daß es einen Gestaltungszwang im gesamten Bündnis geben wird, also nicht nur in Deutschland bezüglich der Bundeswehr. Das zeigt auch die jüngste Ankündigung des spanischen Partners, die Wehrpflicht abzuschaffen. ({2}) Eine Umstrukturierung der Bundeswehr kann vor diesem Hintergrund zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die Streitkräfte der NATO-Mitgliedsländer und ihre Ausrüstungen müssen auch im Hinblick auf die internationalen und multinationalen Einsätze kompatibel sein. In der Öffentlichkeit hat inzwischen eine Diskussion über die zukünftige Rolle der Bundeswehr begonnen. Diese Diskussion ist dringend notwendig. Daß sie begonnen hat, ist zum einen dem Beschluß, die Kommission „Zukunft der Bundeswehr“ einzusetzen, und zum anderen ganz sicherlich auch dem Stil des neuen Verteidigungsministers Scharping zu verdanken, der mit dem Tabu des Nichtdiskutierens und mit der Maulkorbideologie Rühes gebrochen hat, der den Dialog mit den Streitkräften sehr bewußt führt und damit dafür sorgt, daß sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Armee selbst die zukünftige Bundeswehr mit ihrer Struktur und ihrem Auftrag, der neue Dimensionen annehmen wird, getragen werden wird. Wir dürfen Sicherheitspolitik heute nicht mehr nur noch als eine Frage der Bundeswehr betrachten. Sicherheitspolitik ist die Aufgabe der Außenpolitik. Politik hat die Aufgabe, Krieg und den Ausbruch von Gewalt zu vermeiden. Hier sind in der Vergangenheit erhebliche Defizite entstanden. Die frühere Bundesregierung hat nicht genug dafür getan, daß man auf frühzeitig erkennbare Warnsignale, die es in Bosnien und im Kosovo gegeben hat - ich möchte jetzt nur diese beiden Bereiche nennen -, rechtzeitig mit nichtmilitärischen Mitteln reagieren kann, um zu verhindern, daß die Bundeswehr oder die NATO eingesetzt werden muß. Die frühere Regierung hat es versäumt, die Instrumente einer präventiven Außen- und Sicherheitspolitik aufzubauen. Damit hat sie darauf verzichtet, Eskalationen im Vorfeld zu verhindern. Die Instrumente, deren Entwicklung wir vereinbart haben, werden wir in den nächsten Jahren konsequent schrittweise aufbauen, um dafür zu sorgen, daß es genau das Dilemma, das wir heute in der Kosovo-Debatte spüren - jahrelang gewartet zu haben und sich nun in einer Situation zu befinden, in der der Handlungsspielraum höchstens noch einen Zentimeter breit ist -, nicht wieder gibt. Wir von der Regierungskoalition müssen hier und heute über die Möglichkeiten, weitere Eskalationen zu verhindern, entscheiden. Wir werden uns davor nicht drücken. Deswegen werden wir diesen Antrag hinsichtlich der Beteiligung an der Kosovo-Mission in den Bundestag einbringen. Wir orientieren uns dabei an unserem politischen Ziel: Die Bundeswehrsoldaten werden zukünftig nur noch dann eingesetzt, wenn vorher alle zivilen Mittel und Instrumente ausprobiert und eingesetzt worden sind und wenn sie keine Wirkung erzielt haben. Erst wenn das geschehen ist, haben wir das Recht, zu sagen, daß die Bundeswehr in multinationalen Einsätzen versuchen muß, weitere Eskalationen zu verhindern. ({3}) - Ich habe es nicht anders gesehen; vielmehr erzähle ich der alten Bundesregierung seit 1987, daß sie nicht in der Lage ist, politisch adäquat auf Krisenherde in Europa einzuwirken. Sie hat darauf verzichtet, eine europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu formulieren. Darin besteht das Dilemma, das mit dazu geführt hat, daß die Situation in Bosnien und vor allen Dingen auch im Kosovo überhaupt eskalieren konnte. ({4}) - Ich sage Ihnen das ganz ehrlich. Wir haben andere Kriterien als Sie. Ist es so schwer, das zu begreifen? ({5}) Es gibt für uns die Verpflichtung einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, sich in dem Fall, daß offensichtlich Menschenrechte verletzt werden, Gedanken darüber zu machen, mit welchen Instrumenten man diese Menschenrechtsverletzungen beenden kann. Weil wir wissen, daß wir ganz neue Formen von ethnischen Konflikten in Europa haben und auch in der Zukunft haben werden, weil unser Blick weiter als bis zu den Grenzen Deutschlands oder denen des engeren NATO-Raums gehen muß, weil wir mit der Osterweiterung der NATO im baltischen, im osteuropäischen und im gesamteuropäischen Raum Verpflichtungen auf uns genommen haben, eine Sicherheitsperspektive zu gestalten, die vor einem Militäreinsatz ansetzt, werden wir entsprechende Instrumente aufbauen, um zukünftig von dieser leicht kopflosen Reaktionsweise der alten Regierung wegzukommen und das zu tun, was der Verteidigungsminister eben ausgeführt hat. ({6}) Das betrifft dann allerdings nicht den Einzelplan 14, sondern den Einzelplan 05 und den Einzelplan des BMZ. Vielen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Günther Nolting von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle nach dem, was wir von der Kollegin Beer gerade gehört haben, fest, daß die Magdeburger Beschlüsse der Grünen weiterhin Bestand haben. Sie hat es etwas verklausuliert vorgetragen: Es geht den Grünen letztendlich nach wie vor um die Abschaffung der Bundeswehr, mit dem ersten Schritt der Abschaffung der Wehrpflicht. Es geht um die Auflösung der NATO, wie es in den Magdeburger Beschlüssen steht. ({0}) Ich will den Horrorkatalog dieser Beschlüsse der Grünen nicht weiter erläutern. Frau Kollegin Beer, das, was Sie hier zum möglichen Kosovo-Einsatz gesagt haben, war für uns unverständlich. ({1}) Es war nicht nachzuvollziehen, und es war auch unehrlich. Ich bin einmal gespannt, wie Sie in den nächsten Tagen den möglichen Einsatz im Kosovo aus der Sicht der Grünen als Vorratsbeschluß, wie er jetzt noch besteht - Sie selbst haben von einem Vorratsbeschluß gesprochen -, begründen werden. Herr Minister, Sie haben davon gesprochen, daß der Etat nicht reduziert wird. Ich möchte Ihnen entgegnen, daß es im Vergleich zum Etat der letzten Bundesregierung doch eine leichte Absenkung gegeben hat. Im Blick auf die Größe dieses Einzelplanes spreche ich hier allerdings wirklich nur von einer leichten Reduzierung. Ich will Ihnen für die F.D.P. auch ganz bewußt sagen: Wir haben mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß bis zum Jahr 2002 die Investitionsrate im Haushalt auf über 28 Prozent ansteigen soll. Dies wird von uns ausAngelika Beer drücklich begrüßt, weil es erstrebenswert und notwendig ist. ({2}) Ich hoffe, daß Sie allen Begehrlichkeiten, die es ja Ihrem Einzelplan gegenüber gibt, widerstehen können. Ich erinnere auch den Bundeskanzler an seine Zusage, daß der Einzelplan 14 nicht angetastet wird. Wir begrüßen ebenso - das sage ich auch ganz ausdrücklich für die F.D.P.-Bundestagsfraktion -, daß es Ihnen gelungen ist, daß die Finanzen für die mögliche Kosovo-Friedensmission nicht dem Einzelplan 14 aufgebürdet wurden. ({3}) Wir sollten hier - ich glaube, der Verteidigungsminister hat es selber gefordert - fraktionsübergreifend eine dauerhafte und vernünftige Lösung finden. Herr Minister, ich möchte aber kritisch anmerken, daß der Anteil des Verteidigungsetats am Bruttoinlandsprodukt zur Zeit nur bei 1,2 Prozent liegt. Die Bundesrepublik Deutschland liegt mit dieser Zahl im NATO-Vergleich nach Spanien und Luxemburg an drittletzter Stelle. Dies ist kein gutes Signal im Sinne von Burden-sharing. Ich denke, die finanzielle Situation des Verteidigungsetats muß sich insgesamt verbessern. Sie haben hier von der Stärkung der Leistungsfähigkeit, von höherer Effizienz und vom Abbau der Bürokratie gesprochen. Dabei haben Sie die ausdrückliche Unterstützung auch der F.D.P.-Fraktion. Sie müssen aber auch in Ihrem Haus alle Möglichkeiten zur Rationalisierung und Privatisierung nutzen. ({4}) Wir erinnern an unseren Vorschlag, auch externe Experten mit einzubeziehen und unter anderem einen Beauftragten einzusetzen, der dem Verteidigungsminister direkt unterstellt wird. Damit könnte über das hinaus, was jetzt schon erreicht wurde, effektiv weitergearbeitet werden. Genauso müssen Sie mit mehr Nachdruck dafür sorgen, daß die flexible Budgetierung rasch auf alle Dienststellen, bei denen es möglich ist, übertragen wird. Hier bis zum Jahr 2004 zu warten, halten wir für falsch. ({5}) Ich will kritisch erwähnen, daß es im Entwurf des Einzelplans 14 Ausgabenreduzierungen bei den militärischen Anlagen gibt. Es genügt nicht, Herr Minister, die durchaus sinnvolle Vollendung mehrerer Großprojekte in Ostdeutschland zu gewährleisten. Es muß auch dafür Sorge getragen werden, daß in Kasernen und Liegenschaften in Westdeutschland Mindeststandards eingehalten werden. Hier gibt es vielerorts Probleme und Mißstände. Diese müssen beseitigt werden. Ich denke, wir werden bei den anstehenden Haushaltsplanberatungen im Verteidigungsausschuß darauf auch noch einmal zu sprechen kommen. Ich möchte, meine Damen und Herren, noch die sogenannte Wehrstrukturkommission ansprechen. Die F.D.P.-Fraktion hält eine solche Kommission keineswegs für den Königsweg. Trotzdem werden wir, wenn diese Kommission kommt, ihre Arbeit auch mit Anregungen konstruktiv begleiten. ({6}) Wir sind darauf vorbereitet und dazu auch bereit. Ich sage aber für die F.D.P.Fraktion dazu: Diese Kommission darf nicht zu einer Alibiveranstaltung werden. Die Verantwortung muß bei Regierung und Parlament verbleiben. Ich sage es ganz offen: Die Koalition und die Regierung dürfen sich nicht hinter den Ergebnissen dieser Kommission, wie ich sie befürchte, verstecken. Wir werden sie hier vielmehr beim Namen nennen. ({7}) Deswegen kritisiere ich an dieser Stelle, daß in dieser Kommission niemand aus der aktiven Truppe mit militärischem Sachverstand vertreten ist ({8}) und daß in ihr auch keine verteidigungspolitischen Fachleute aus dem Parlament vertreten sind. Herr Minister, ist es wirklich Ihre Absicht, die militärische Führung und das Parlament aus der Kommissionsarbeit auszublenden? ({9}) Dies sollte noch einmal überdacht werden. ({10}) - Wo der Kollege Koppelin recht hat, hat er recht. Ich darf wiederholen, was er gesagt hat: Weil bei den Grünen kein politischer Sachverstand vorhanden ist, soll offensichtlich das Parlament ausgeschaltet werden. ({11}) - Nein, das ist überhaupt nicht primitiv. Ich kann mich nur dem anschließen, was der Kollege Koppelin dazu gesagt hat. Herr Minister, ich will noch auf einen Punkt hinweisen, der die Kommissionsarbeit betrifft. Die Zeit darf nicht verstreichen, ohne daß bereits in Einzelbereichen Verbesserungen vorgenommen werden. Ich denke, daß auch in der weiteren Arbeit des Verteidigungsausschusses und des Haushaltsausschusses der Mensch für die Bundeswehr im Mittelpunkt stehen muß. Dies kann beispielsweise durch den Abbau von Beförderungsstaus in verschiedenen Laufbahnen sowie durch verbesserte Bedingungen für die Grundwehrdienstleistenden geschehen. Auch hierüber werden wir bei den Beratungen im Verteidigungsausschuß zu sprechen haben. Lassen Sie mich zum Abschluß ein paar Sätze über den Antrag der Bundesregierung zum möglichen Kosovo-Einsatz sagen. Ich bitte den Verteidigungsminister und den Außenminister eindringlich, diesen Antrag zu präzisieren. Ich habe vorhin schon davon gesprochen, daß auch aus den Reihen der Grünen dieser Beschluß als Vorratsbeschluß gesehen wird. Wir brauchen im Interesse der Angehörigen der Bundeswehr eine breite Zustimmung. Diese breite Zustimmung bekommen Sie, wenn Sie den vorliegenden Antrag überarbeiten. Ich denke, die Angehörigen der Bundeswehr haben dies verdient. Vielen Dank. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat die Abgeordnete Heidi Lippmann-Kasten von der PDSFraktion.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schwierigkeiten von Rambouillet zeigen einmal mehr, daß Konflikte, die sich schon weit aufgeschaukelt und gewalttätig entladen haben, nur noch schwer zu bändigen sind. Ob die Verhandlungen erfolgreich gewesen sind, wird sich frühestens am 15. März zeigen. Doch letztendlich sind sie nur unter Androhung massiver militärischer Gewalt und Härte zustande gekommen. Frieden militärisch erzwingen zu wollen darf nicht zum zukünftigen Primat der Außen- und Sicherheitspolitik werden, denn in den allermeisten Fällen - das zeigt der Blick auf viele Konfliktherde in dieser Welt wird dies nicht funktionieren. Statt das militärische Instrumentarium auszubauen - dieser Haushaltsentwurf ist ein Bestandteil dessen -, brauchen wir eine Politik der Entmilitarisierung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen. Dabei geht es zentral auch darum, daß an die Stelle des Rechts der Mächtigen die Herrschaft des Rechts gesetzt wird. Dazu ist erforderlich, die Vereinten Nationen und ihre Regionalorganisationen wie die OSZE, zu stärken; denn sie sind für den Weltfrieden und für die internationale Sicherheit zuständig und nicht in erster Linie die NATO oder die Bundeswehr. Nur auf diesem Wege können nationale, regionale oder sonstige Machtinteressen eingeschränkt werden; nur so wird ein gerechter Friedensschluß in vielen Fällen erst möglich. Es ist auch erforderlich, Konflikte möglichst frühzeitig zu erkennen, bevor sie eskaliert sind, und ihre Ursachen dann anzugehen, wenn dies noch möglich ist. Der Kosovo ist das beste Beispiel hierfür. Zwar hat die neue Bundesregierung im Hinblick auf Konflikterkennung und -prävention zumindest in ihrer Koalitionsvereinbarung neue Akzente gesetzt, doch die praktische Politik - dazu gehört auch dieser Haushalt - scheint stärker von den Legitimationsinteressen der Atlantischen Allianz geprägt zu sein als von diesen Einsichten. Es reicht nicht aus, 6 Millionen DM für zivile Friedensdienste und ein paar D-Mark mehr für die Friedensforschung in den Haushalt einzustellen, wenn Sie auf der anderen Seite bezüglich des Wehretats den Trend der Vorgängerregierung fortsetzen und die Rüstungsausgaben weiter steigen lassen. Der vorliegende Haushaltsentwurf ist paradox. Paradox, weil die Diskussion über Milliardenlöcher im Bundeshaushalt, zunehmende Arbeitslosigkeit und Aufkündigungen des Solidarvertrages schlichtweg nicht mit einem Verteidigungshaushalt vereinbar sind, der im Vergleich zu den anderen Titeln überproportional ansteigt und nach NATOKriterien rund 60 Milliarden DM verschlingen wird. Paradox, weil eine offensichtlich in allen Bereichen handlungsunfähige Regierung glaubt, im militärischen Bereich durch eine weitere Aufrüstung noch Handlungsfähigkeit vortäuschen zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich hätte jetzt eigentlich euren Applaus erwartet, denn genau diese Sätze hat Angelika Beer zu dem Haushaltsentwurf 1998 der alten Regierung im September 1997 gesagt. Schade, daß dieser Applaus nicht gekommen ist. Daran sieht man halt, wie sich die Positionen verändern. Ich muß natürlich zugeben, daß es ein anderer Haushalt ist. Ich zitiere die Kollegin Angelika Beer weiter: Die Grünen wollen erstens die Einsparpotentiale im Verteidigungsbereich ausnutzen und auf Wahnsinnsprojekte wie den Eurofighter verzichten. Angesichts der im vorliegenden Entwurf geplanten Ausgabenerhöhung für neue Waffensysteme um knapp 1 Milliarde DM, davon allein 322 Millionen DM für das Wahnsinnsprojekt Eurofighter, stellt sich die Frage, wer oder was nun paradox ist. ({0}) Ihre Politik, die sich in den vergangenen Monaten abgezeichnet hat und die auf militärische Intervention und Rüstungszuwachs gerichtet ist, Herr Bundesminister, ist in dieser Frage mindestens genauso fragwürdig - um nicht zu sagen: paradox - wie die Politik der alten Bundesregierung. ({1}) Es mag zwar ehrenwert sein, eine Kommission „Zukunft der Bundeswehr“ einzusetzen und den ergebnisoffenen Dialog mit den gesellschaftlichen Gruppen suchen zu wollen, doch man kann von einer Regierung schon verlangen, daß sie ein paar „Duftmarken“ setzt, in welche Richtung ihrer Meinung nach die Reise gehen soll. Oder wollen Sie sich darauf beschränken, eine Politik des „Weiter so“ zu betreiben? Wollen Sie weiterhin an der jetzigen Personalstärke der Bundeswehr mit 340 000 Mann und 120 000 Zivilkräften festhalten, weiterhin Krisenreaktionskräfte aufstellen und in großem Stil neue Großwaffensysteme beschaffen, was dann unweigerlich Rüstungssteigerungen nach sich ziehen würde? Falls ja, Kollegen und Kolleginnen von der SPD und von den Grünen, müssen Sie aber auch begründen, wozu wir nach NATO-Kriterien die Militärausgaben von knapp 60 Milliarden DM brauchen und gegen wen sie im Notfall eingesetzt werden sollen. Falls Sie aber die Chance zu einer spürbaren Entlastung der öffentlichen Haushalte wenigstens mittelfristig nutzen wollen und Ihre Politik verstärkt auf Entmilitarisierung und Zivilisierung ausrichten wollen, sollten Sie möglichst rasch damit beginnen. Unsere Änderungsanträge zu diesem Haushalt bieten Ihnen genügend Chancen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Kollege Peter Zumkley von der SPD-Fraktion. ({0})

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vom Bundesminister der Verteidigung vorgelegte Entwurf des Verteidigungshaushalts 1999 trägt verantwortungsvoller deutscher Sicherheitsund Verteidigungspolitik Rechnung und leitet bei der Finanzierung unserer Streitkräfte neue Wege ein. Der Regierungsentwurf des Verteidigungshaushalts 1999 hat ein Gesamtvolumen von 47,283 Milliarden DM. Er steigt damit gegenüber 1998 um 1,3 Prozent. Der investive Anteil am Gesamtplafond erhöht sich auf 25,4 Prozent in 1999. In der mittelfristigen Finanzplanung wird er sogar auf 28,6 Prozent verbessert. Diese erfreuliche Entwicklung begrüßen wir sehr. ({0}) Dieser Anstieg ist für den Erhalt einer modernen und leistungsfähigen Bundeswehr von hoher Bedeutung. Damit ist der Weg zu einer durchgreifenden Konsolidierung vorgegeben. Die rüstungstechnischen Kapazitäten der Industrie können auf dem für die Sicherheitsvorsorge erforderlichen Niveau gehalten werden. Die Personalausgaben konnten gegenüber dem Vorjahr um über 97 Millionen DM gesenkt werden. Sie liegen bei knapp über 50 Prozent der Gesamtausgaben des Einzelplans 14. Damit wird auch bei den Personalkosten behutsam gegengesteuert. Bei der Materialerhaltung steigen die Ausgaben geringfügig, insbesondere für die Ersatzteilbeschaffung und die Erhaltung von Feldzeugmaterial, Schiffen und Flugzeugen. Die Einsatzbereitschaft der wesentlichen Waffensysteme kann im Haushaltsjahr 1999 bei allen Teilstreitkräften aufrechterhalten werden. Die übrigen Betriebsausgaben sinken durch Einsparungen im wesentlichen bei der Bewirtschaftung. Eingriffe in den Ausbildungs- und Übungsbetrieb werden vermieden. Die Mittelansätze für Forschung, Entwicklung und Erprobung sind so dimensioniert, daß der Anschluß an die wehrtechnische Entwicklung gehalten werden kann und laufende Entwicklungsvorhaben plangerecht fortgesetzt werden können. Die Ausgaben für militärische Beschaffung steigen um knapp 1 Milliarde DM. Damit kann die Finanzierung aller aktuellen Großvorhaben gesichert werden. Das Ausgabevolumen für militärische Anlagen geht gegenüber dem Vorjahr um 3 Prozent zurück. Der Erhalt der vorhandenen Bausubstanz ist jedoch gewährleistet. Die planmäßige - das ist wichtig - Fertigstellung der Großprojekte in den neuen Bundesländern ist gesichert, der Aufbau Ost wird fortgesetzt. ({1}) Die schwierige Finanzlage erfordert von allen schmerzhafte Abstriche. Die Bundeswehr kann hiervon nicht ausgenommen werden. Herr Kollege Austermann, Sie haben ebenso wie ich bedauert, daß auch der Einzelplan 14 gekürzt werden muß, und zwar um 235 Millionen DM. Dies ist ein Sparbeitrag, der weh tut, aber notwendig ist. Ich komme jetzt aber einmal zu den Kürzungen, die unter Ihrer Verantwortung vorgenommen wurden. Was haben Sie eigentlich in den letzten Jahren gemacht? Sie haben in den laufenden Haushaltsjahren gegenüber der Planung wie folgt Kürzungen vorgenommen: 1991 in Höhe von 2,2 Milliarden DM, 1992 in Höhe von 2 Milliarden DM, 1993 in Höhe von 1,4 Milliarden DM, 1994 in Höhe von 1,2 Milliarden DM, 1995 in Höhe von 0,7 Milliarden DM, 1996 in Höhe von 1,8 Milliarden DM, 1997 in Höhe von 1,9 Milliarden DM und 1998 - keine; das war das Wahljahr. Herr Kollege Austermann, das sind ganz andere Zahlen. Diese können Sie gern im Haushaltsausschuß, dem Sie angehören, überprüfen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich bitte um Nachsicht. Es ging heute nachmittag bei dem Gespräch der Parlamentarischen Geschäftsführer um einen Austausch, der auch den heutigen Ablauf des Plenums berührt. Deswegen war ich etwas abgelenkt. Aber ich frage Sie jetzt: Sind Sie bereit, Fragen aus dem Plenum zu beantworten?

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie das nicht auf meine Redezeit anrechnen, gerne.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Dann gebe ich zunächst dem Kollegen Rossmanith das Wort zu einer Frage.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Zumkley, wenn die Litanei, die Sie gerade vorgetragen haben, schon so schlimm war - ich stimme Ihnen da fast uneingeschränkt zu -, sind Sie dann nicht auch der MeiHeidi Lippmann-Kasten nung, daß eine weitere „Strafaktion“ für dieses Jahr durch eine Kürzung um 235 Millionen DM vermieden werden sollte? ({0})

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rossmanith, ich sehe das nicht als „Strafaktion“ an. Ich habe die Kürzungen von 1991 bis 1998 nur genannt, um die Relation zwischen den Kürzungen, die unter Ihrer Verantwortung in den jeweiligen Haushaltsjahren erfolgt sind, und dem, was jetzt ansteht, einmal deutlich zu machen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie auch eine Frage des Kollegen Austermann?

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, Herr Präsident.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Austermann, ich hoffe, Sie haben sich nicht zu einer Kurzintervention gemeldet.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ganz im Gegenteil. Ich will es kurz machen. Herr Kollege Zumkley, können Sie erstens bestätigen, daß in der Zeit, in der der Etat scheinbar gekürzt worden ist, die Zahl der Soldaten in Deutschland von 700 000 auf 350 000 zurückgegangen ist und daß zweitens die Sozialdemokraten über die Kürzungen hinaus, die Sie eben mit Recht genannt haben, im Bundesrat jährlich weitere Kürzungen in Milliardenhöhe gefordert haben?

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Austermann, letzteres kann ich überhaupt nicht bestätigen. ({0}) - Nein. Wir haben uns schon einmal darüber auseinandergesetzt. Sie haben schon damals fälschlicherweise ein Papier angezogen, das einen Vorschlag irgendeines Unterausschusses des Bundesrates beinhaltete. Das Ergebnis im Bundesrat war anders; das wissen Sie ganz genau. Deswegen ist es unzulässig, dies erneut zu behaupten. Zum ersten Teil Ihrer Frage: Es ist nicht „scheinbar“ gekürzt worden; es ist gekürzt worden. Dafür gab es wahrscheinlich auch Gründe. ({1}) Und nehmen Sie es bitte zur Kenntnis: Auch für die Kürzung in Höhe von 235 Millionen DM, die auch ich bedaure - das habe ich eingeräumt -, gibt es gute Gründe. Diese kennen Sie genauso gut wie wir.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Auch der Kollege Nolting hat noch eine Zwischenfrage.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Zumkley, wir alle bedauern diese Kürzungen. Aber können Sie bestätigen, daß die SPD-Fraktion im Verteidigungsausschuß und im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages über die Kürzungen hinaus, die Sie gerade vorgelesen haben und die Sie bedauern, in jedem Jahr weitere Kürzungsvorschläge gemacht hat, die dann die damalige Koalition zu Ihrem Bedauern abgelehnt hat? Können Sie das bestätigen, oder soll ich Ihnen bei nächster Gelegenheit diese Liste vorlesen?

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Nolting, natürlich haben auch wir Kürzungsanträge gestellt. Aber sie sind von Ihnen deshalb abgelehnt worden ({0}) - einen Moment, hören Sie einmal genau zu -, weil Sie selber eine viel höhere Summe durch Kürzungen eingespart haben. Das und nichts anderes ist die Wahrheit. ({1}) - Ja, so ist es nun einmal, Herr Kollege Raidel. Wir werden die vorhandenen Haushaltsmittel sehr sorgfältig einsetzen. Denn unsere Verantwortung verlangt, daß unsere Streitkräfte für die Bewältigung ihrer Aufgaben die angemessene Ausrüstung, die notwendige Vorbereitung und die beste Ausbildung erhalten. Wir brauchen eine gut ausgebildete und ausgerüstete Bundeswehr, die in der Lage ist, ihre Aufgaben mit bestem Schutz zu erfüllen. ({2}) - Vielen Dank. Leistungen, die aus operativen Gründen nicht zwingend in den Streitkräften wahrgenommen werden müssen und zum Erhalt von wehrtechnischen Mindestkapazitäten beitragen, werden im Wettbewerb oder mittels „market testing“ vergeben. Dabei erwarten wir, daß jeder einzelne Fall sorgfältig und intensiv geprüft wird und die spezifischen Besonderheiten angemessen berücksichtigt werden. Durch die in dieser Weise gesenkten betrieblichen Ausgaben werden Freiräume für die Materialbewirtschaftung geschaffen, die dem Bedarf der Teilstreitkräfte aufgabenorientiert und angemessen Rechnung tragen. Natürlich muß gespart werden, und deshalb müssen Prioritäten gesetzt werden. Defizite können nur Schritt für Schritt abgebaut werden. Vorrang haben deshalb moderne Informationstechnik, Transportkapazität, Einsatzlogistik sowie persönliche Ausrüstung und Schutz der Soldaten. Insgesamt sind und bleiben unsere Streitkräfte modern ausgerüstet. Sie werden auch in den nächsten Jahren neues Gerät erhalten. Ich nenne nur wenige Beispiele: Das sind beim Heer das GTK, der Unterstützungshubschrauber Tiger, der Transporthubschrauber NH 90. Das Gefechtsübungszentrum in Altmark wird die Ausbildung unserer Verbände unter Nutzung modernster Technik effektiver gestalten. In der Luftwaffe wird die Luftverteidigung angemessen verbessert. Für die Marine sind neue Fregatten und U-Boote unter Vertrag. Mit den Einsatzgruppenversorgern wird die logistische Reichweite deutlich erhöht. Mit diesen Investitionen in alle Teilstreitkräfte sichern wir auch Arbeitsplätze in Deutschland und fördern eine wettbewerbs- und kooperationsfähige Hochtechnologie mit Synergieeffekten für nichtmilitärische Entwicklungen. Einen wichtigen Aspekt des Haushaltsentwurfes will ich allerdings noch besonders herausstellen: Ich meine die gesellschaftspolitische Verpflichtung zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Auch hierzu werden die Streitkräfte einen stärkeren Beitrag leisten. Zukünftig werden deutlich mehr junge Menschen eine zivilberufliche Ausbildung in der Bundeswehr erlangen können. Die notwendigen Haushaltsmittel für zusätzliche Lehrstellen - über die bereits vorhandenen zirka 1 400 Ausbildungsplätze eines Altersjahrgangs hinaus - sind eingestellt. ({3}) Im laufenden Jahr stellt die Bundeswehr jungen Frauen und Männern insgesamt 4 400 zivilberufliche Ausbildungsplätze bereit. ({4}) Darüber hinaus hat der Verteidigungsminister bereits ein Sonderprogramm für arbeitslose Grundwehrdienstleistende eingerichtet. Junge Rekruten, die vor ihrer Einberufung arbeitslos waren und denen nach ihrer Dienstzeit wieder die Arbeitslosigkeit droht, können bis zu zwölf Monate länger im Dienst bleiben und sich dabei auch zivilberuflich weiterqualifizieren. Meine Damen und Herren, dieses Programm ist ein weiterer wichtiger Beitrag zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit. ({5}) Insgesamt läßt sich zum vorliegenden Verteidigungshaushalt folgendes Fazit ziehen: Die Bundesregierung hat mit dem Verteidigungshaushalt 1999 eine solide, sichere und zuverlässige Basis geschaffen, um die Bundeswehr am Anfang des 21. Jahrhunderts aufgabengerecht und bündnispolitisch angemessen gestalten zu können. Parallel hierzu wird die Kommission „Zukunft der Bundeswehr“, Kollege Nolting, auf der Grundlage der derzeit laufenden Bestandsaufnahme bis Herbst 2000 ihre Vorschläge vorlegen. Bis dahin müssen notwendige Sach- und Haushaltsentscheidungen so getroffen werden, daß Vorfestlegungen hinsichtlich der zu untersuchenden Bereiche grundsätzlich nicht erfolgen. Von der militärischen Führung erwarten wir weiterhin sachgerechte und fachkompetente Beratung. Wir setzen auf den synergetischen Effekt von politischer und militärischer Kompetenz im Sinne des von Rudolf Scharping neu eingeleiteten Prozesses der vertrauensvollen und kooperativen Zusammenarbeit unter dem Primat der Politik. Dieser Weg wird uns in den nächsten Jahren zum Ziel bringen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Paul Breuer von der CDU/CSUFraktion.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich die wohlklingenden Worte der Kollegen von der SPD - ob das nun der geschätzte Kollege Zumkley oder der Verteidigungsminister ist - höre, dann komme ich zu dem Ergebnis: ({0}) Beim Verteidigungsetat ist alles in Butter. ({1}) Es leidet niemand Not; es ist alles in Butter. Ich kann mich noch erinnern, wie das in den letzten Jahren - bei ähnlicher Höhe des Etats - geklungen hat. Auf der Regierungsbank sitzt ein mir sehr vertrauter Kollege, nämlich der jetzige Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow. ({2}) Er hat in den letzten Jahren, als es um ähnliche Tatbestände ging - lieber Walter Kolbow, Sie können bestätigen, daß es so ist -, von einer „dramatischen Unterfinanzierung“ gesprochen. ({3}) Das war die Formulierung, die wir in den letzten Jahren gehört haben. Ich denke, daß ich einen Beitrag dazu leisten kann, wie der Haushalt wirklich zu bewerten ist. Lassen Sie mich zunächst einmal sagen - das will ich kurz machen -: Die Beratung des Verteidigungsetats erfolgt in meinen Augen nach besonderen Kriterien. Das bedeutet - das sage ich für die CDU/CSU-Fraktion -, daß auch wir diesem Verteidigungsetat grundsätzlich zustimmen können. Wir sind nicht von der Sorte Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer - das haben wir in der Vergangenheit vorgeführt bekommen -, einen Verteidigungsetat ablehnen. Wir empfinden es als eine nationale Verpflichtung - wenn nicht alles danebengegangen ist -, einen solchen Etat grundsätzlich zu unterstützen. Das unterscheidet die Verteidigungspolitik von anderen Bereichen. ({4}) Ich will auch noch ein Zweites sagen, Herr Minister Scharping - ich habe das schon im Verteidigungsausschuß gesagt, und ich wiederhole es hier -: Sie haben mit den Tagungen, die Sie in den letzten Wochen mit den Soldaten durchgeführt haben, einen guten Stil bewiesen und einen guten Ton im Umgang mit den Soldaten der Bundeswehr gefunden. Ich hebe das lobend hervor und sage das auch heute. ({5}) Was den Haushalt angeht, auf den ich jetzt eingehen möchte, so meine ich allerdings, daß die Worte, die man hier hört, etwas zu gut klingen. Mir drängt sich nämlich der Eindruck auf, daß Sie von dem, was Sie in den letzten Jahren gesagt haben, nun überhaupt nichts mehr wissen wollen. Sie haben doch selbst eine Meßlatte gelegt, über die Sie jetzt springen müssen. An ihr werden wir Sie auch messen. In bezug auf den Verteidigungsetat stelle ich nicht etwa fest, daß Sie kein Erinnerungsvermögen besitzen; vielmehr stelle ich fest: Die Realität hat Sie eingeholt. Wie sieht die Realität aus? Zunächst ist die Garantie gegeben worden - so hat Herr Scharping gesagt; er sprach von einer Garantie vom Bundeskanzler und vom Finanzminister -, daß der Verteidigungsetat keine Einbußen erleiden würde. Das ist dann auch in der Koalitionsvereinbarung festgelegt worden. Jetzt schauen wir, was sich wirklich ereignet hat: Ich behaupte, schon im ersten Etat, den Sie, Herr Scharping, vorlegen, hat Ihnen Ihr bester Freund, Oskar Lafontaine, einen Strich durch die Rechnung gemacht - insofern, als zwar offen nur 235 Millionen DM herausgestrichen worden sind; klammheimlich aber verlieren Sie, mit List und Tücke des Finanzministers, mehr als 1 Milliarde DM in diesem Haushalt. Erst wird Harmonie verbreitet das hat Lafontaine in anderen Bereichen, parteiintern, ja schon einmal gemacht -, und dann fängt er langsam an, das Messer zu wetzen. Diese 1 Milliarde DM setzt sich aus folgenden Positionen zusammen: Von den 235 Millionen DM ist eben schon gesprochen worden. Darüber hinaus müssen Sie 140 Millionen DM für den Kosovo-Einsatz bezahlen, neben ohnehin mehr als 300 Millionen DM - genau sind es 306 Millionen DM; denn 90 Millionen DM bekommen Sie aus dem Einzelplan 60 - für Bosnien. 270 Millionen DM bleiben in 1999 für die Fortführung des Tarifvertrags 1998 hängen. 100 Millionen DM müssen Sie für das Jugendausbildungsprogramm zahlen. Diesen Betrag gibt Ihnen Herr Riester nicht; das müssen Sie zahlen. Und Sie werden die Tarifrunde 1999 bezahlen müssen. Wenn die Forderungen der Gewerkschaft ÖTV auch nur annähernd so aussehen, wie das jetzt in der Tarifrunde der Metallindustrie der Fall war, wird Sie das mit etwa 300 Millionen DM treffen. Das „Ende der Zurückhaltung“ trifft angesichts dieser Zahlen - wenn der Verteidigungsetat tatsächlich mehr als 1 Milliarden DM verliert - den Verteidigungshaushalt besonders. Denn es muß zur Kenntnis genommen werden, daß die Verteidigung mittlerweile der größte Personaletat des Bundes ist. Wenn Sie dies nicht feststellen, Herr Bundesverteidigungsminister, tun Sie diesem Verteidigungsetat nichts Gutes, sondern tragen mit dazu bei, daß Schaden entsteht, der abgewandt werden muß. ({6}) Gegen diese Angriffe der rotgrünen Regierung ist keine Hilfe in Sicht, vor allem deshalb nicht, weil niemand um Hilfe ruft. Sie ergeben sich in Ihr Schicksal. Aus der Erfahrung der Vergangenheit kann ich an Sie nur appellieren - der Kollege Zumkley hat dazu einiges gesagt -, das zu thematisieren. Sonst werden Sie von demjenigen, der hier in der ersten Reihe der Regierungsbank sitzt, schonungslos über den Tisch gezogen. Statt zu kämpfen und politischen Druck zu machen, fügen Sie sich in Ihr Schicksal - und verabreichen Beruhigungspillen. Nach Jahren des stürmischen Umbruchs ist die Bundeswehr dafür natürlich sehr empfänglich. Natürlich ist es richtig, daß die Bundeswehr eigentlich Ruhe braucht. Aber warum sagen Sie denn nicht offen, was Sie mit der Bundeswehr vorhaben? Sie setzen jetzt die Wehrstrukturkommission ein, um, wie Sie sagen, mit gesellschaftlich relevanten Gruppen über die Zukunft der Bundeswehr zu diskutieren. Politische Verantwortung sieht anders aus. Diskussion mit gesellschaftlichen Gruppen - das ist in Ordnung; aber sagen Sie doch erst einmal, was Sie mit der Bundeswehr vorhaben. Dann können Sie mit den Gruppen darüber diskutieren, wie das zu verstehen ist und was die davon halten. Sie drücken sich vor der Verantwortung! Herr Scharping sagt nicht, was er mit der Bundeswehr in der Zukunft vorhat. ({7}) Er setzt eine Wehrstrukturkommission ein - bzw. eine Kommission „Zukunft der Bundeswehr“, wie er sie nennt -, ohne zu sagen, welche Zukunft die Bundeswehr haben wird. Sie können sich nicht aus der politischen Verantwortung stehlen, Herr Minister Scharping. Nennen Sie Ihre Vorstellungen für die Bundeswehr! ({8}) Und auch die SPD kommt nicht daran vorbei, klar zu sagen, was sie mit der Bundeswehr will. Man sagt, diese Kommission tage „ergebnisoffen“. Wer sich das genau anschaut, der stellt fest: So ganz ehrlich ist das nicht. Einerseits hat die SPD kein Konzept für die Bundeswehr - ich kenne kein Konzept; das kennt niemand; Fehlanzeige! -, ({9}) andererseits höre ich auf Nachfragen in der Fragestunde, daß dieser Kommission „Leitlinien für die Weiterentwicklung der Streitkräfte“ an die Hand gegeben werden sollen. Dann müssen Sie klar sagen, was Sie in die Leitlinien hineinschreiben wollen. Jedenfalls ist die Veranstaltung so, wie Sie sie jetzt vorhaben, weder glaubwürdig noch ehrlich. ({10}) Wenn Sie dann noch fast zwei Jahre, Herr Kollege Zumkley, diskutieren wollen, mit einem ungeheuren öffentlichen Getöse, bei dem ich mir vorstellen kann, daß sich Frau Kollegin Beer bei ihrem basarartigen Bieten, wie groß die Bundeswehr sein soll, von niemandem übertreffen läßt - derzeit sind Sie, glaube ich, bei etwa 200 000 angelangt -, ({11}) wird vieles kaputtgeredet; das muß man feststellen. Lassen Sie es nicht zu, daß die Bundeswehr durch einen nicht enden wollenden Diskussionsprozeß von Qualifizierten oder Unqualifizierten kaputtgeredet wird! Sagen Sie ganz klar, was Sie mit der Bundeswehr vorhaben! Das ist Ihre politische Pflicht, und dafür tragen Sie Verantwortung. ({12}) Ich gehe noch einmal auf den investiven Anteil des Verteidigungsetats ein. Von Ihren Forderungen und Mahnungen aus der Oppositionszeit und auch von dem, was hier heute vorgetragen worden ist, finde ich bei näherer Betrachtung des Etats nichts. Öffentlich senken Sie den Investitionsanteil von 25,8 auf 25,4 Prozent. Das werden wir im Verteidigungsausschuß auszudiskutieren haben. Aber durch die zusätzlichen Kosten, Herr Kollege Scharping, verlieren Sie, wenn Sie sie im Bereich der Materialwirtschaft, also im Bereich der Investitionen erwirtschaften - oder Sie müßten sie im Bereich des Personals erwirtschaften -, zusätzlich drei Prozentpunkte. Das heißt, die Investitionen fallen auf 22 Prozent. Das ist keine Modernisierung der Bundeswehr, im Gegenteil: Hier erfolgt Abrüstung durch Abrostung. Dies muß vermieden werden. Selbst nach dem von Ihnen vorgelegten Entwurf für den Verteidigungsetat müßten Sie in den nächsten Jahren noch fast 6 Prozent, also gut 2 Milliarden DM - ich behaupte: 3 Milliarden DM -, auf den Investivanteil drauflegen, wenn Sie die 30-Prozent-Marke, die auch wir wollen, erreichen möchten. Da ist die Frage zu stellen: Woher wollen Sie diese 3 Milliarden DM nehmen? Aus dem Personalbereich? Wenn Sie die aus dem Personalbereich nehmen wollen, bedeutet das einen drastischen Eingriff beim Personal der Bundeswehr. Wenn Sie das wollen, müssen Sie das öffentlich sagen. Ich bin dagegen, es zu tun. Aber die Konzeption, die jetzt vorliegt, weist für diesen Verteidigungsetat keine Zukunft aus. Wer hier vor das Plenum tritt und sagt „Alles in Butter“, der wird seiner Verantwortung für die deutsche Verteidigungspolitik nicht gerecht. Das ist die Feststellung, die ich zum Zeitpunkt der ersten Lesung des Einzelplans 14 vor dem Plenum des Deutschen Bundestages treffen muß. Ich bedanke mich. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Weitere Wortmel- dungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht mehr vor. Ich rufe die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf: a) Beratung des Antrags der Bundesregierung Deutsche Beteiligung an der militärischen Umsetzung eines Rambouillet-Abkommens für den KOSOVO sowie an NATO-Operationen im Rahmen der Notfalltruppe ({0}) - Drucksache 14/397 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({1}) Rechtsausschuß Verteidigungsausschuß Haushaltsausschuß b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Inter- nationalen Privatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse und für Sachen - Drucksache 14/343 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die allgemeine und die repräsentative Wahlstatistik bei der Wahl zum Deutschen Bundestag und bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 14/401 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Martin Bury, Ernst Schwanhold, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({3}), Margareta Wolf ({4}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Förderung der Luftfahrttechnologie - Drucksache 14/395 Überweisungsvorschlag Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({5}) Haushaltsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 a auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Zuständigkeiten nach dem Sorgerechtsübereinkommens-Ausführungsgesetz - Drucksache 14/33 ({6}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7}) - Drucksache 14/338 Paul Breuer Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Rupert Scholz Margot von Renesse Ronald Pofalla Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/338 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Der Rechtsausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/338 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 b auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({8}) zu der Streitsache vor dem Bundesverfas- sungsgericht BvE 3/98 - Drucksache 14/321 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Rupert Scholz Es handelt sich um das Verfahren der PDS wegen Nichtzuweisung von Haushaltsmitteln zugunsten des Vereins „Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V.“. Der Ausschuß empfiehlt, eine Stellungnahme abzu- geben und einen Prozeßvertreter zu beauftragen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Ent- haltung der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 c bis 4 e auf: c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 15 zu Petitionen - Drucksache 14/322 - d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 16 zu Petitionen - Drucksache 14/323 - e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 17 zu Petitionen - Drucksache 14/324 Zunächst zur Sammelübersicht 15 auf Drucksache 14/322: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 15 ist bei Enthaltung der PDS mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Zur Sammelübersicht 16 auf Drucksache 14/323: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 16 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Zur Sammelübersicht 17 auf Drucksache 14/324: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 17 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung der Sozial- und Steuerverwaltung für den Euro ({12}) - Drucksache 14/229 ({13}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({14}) - Drucksache 14/406 Berichterstattung: Abgeordnete Birgit Schnieber-Jastram Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist beantragt, jetzt eine Sitzung des Ältestenrates durchzuführen, und zwar für den Zeitraum von etwa einer Stunde. Deshalb unterbreche ich die Sitzung des Deutschen Bundestages bis 17.05 Uhr. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder. Vizepräsident Rudolf Seiters Wir setzen die Haushaltsberatung fort und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß ich auch die Damen und Herren der Oppositionsparteien wieder in voller Lebensgröße sehe. Es war eben im Rechtsausschuß ohne Sie etwas einsam. Es ist schön, daß Sie wieder dabei sind. ({0}) Wir diskutieren heute über einen Haushalt, der äußerlich zu den weniger umfangreichen gehört, der mit 721 Millionen DM sicherlich auch zu den Haushalten mit den geringsten Ausgaben gehört, der aber, denke ich, von seinem Inhalt her das gesellschaftliche Leben in wesentlichen und wichtigen Punkten bestimmt. Es geht nämlich nicht nur um den Haushalt des Bundesjustizministeriums, in dem die Richtlinien der Justizpolitik bestimmt werden, sondern auch um die Haushalte unserer obersten Gerichte. ({1}) - Selbstverständlich auch den des Patentamtes, das übrigens als einziges ein Plus macht. Da sieht man einmal, daß Justiz Geld kostet. Aber das ist nicht weiter dramatisch. Der vorliegende Haushalt wird aber auch ein Neuanfang in der Justizgeschichte der 80er und 90er Jahre sein. Wir haben heute zunächst einmal eine kurze Bilanz dessen zu ziehen, was 16 Jahre lang in der Justizpolitik nicht gemacht worden ist. Sie haben in all den 16 Jahren nichts dazu beigetragen, daß wir eine moderne, bürgernahe und leistungsstarke Justiz bekommen. Sie haben in diesen 16 Jahren nicht einmal einen Finger gerührt, um den seit Kaiser Wilhelms Zeiten bestehenden Justizaufbau zu ändern. ({2}) So haben wir heute ein Justizsystem, das noch immer aus rund 700 Amtsgerichten, 21 Oberlandesgerichten plus Kammergericht und Bayerisches Oberstes Landesgericht, 19 Landesarbeitsgerichten, 16 Landessozialgerichten, 19 Finanzgerichten und 16 Oberverwaltungsgerichten, aus insgesamt 24 000 Richterinnen und Richtern und etwa 4 000 Staatsanwältinnen und Staatsanwälten besteht. ({3}) Die Belastung der Gerichte ist in dieser Zeit immer größer geworden; aber es hat sich, sieht man von etwas Flickwerk, von etwas wenig strukturierten Dingen ab, nichts getan, damit man hier besser klarkäme. Auch die Ausbildung der Juristinnen und Juristen entspricht in ihren Grundzügen noch der zu Kaiser Wilhelms Zeiten. ({4}) Noch heute haben Juristinnen und Juristen denselben Ausbildungsgang, wie ich ihn schon vor 30 Jahren hatte. ({5}) Immer noch wird nicht die universitäre Ausbildung in den Vordergrund gestellt, sondern die jungen Leute müssen zum Repetitor laufen, um sich ihr Wissen zu holen. Immer noch haben wir eine Juristenausbildung, die nicht modernen Anforderungen entspricht. ({6}) - Herr Rüttgers, davon merkt man aber nicht viel. Mit dem Haushalt, den wir heute einbringen, werden wir eine neue Zeit in der Justiz beginnen. ({7}) Wir streben eine Justizreform an und laden Sie sehr herzlich ein, dabei mitzumachen. Wir werden das antiquierte und teilweise unüberschaubare Rechtsmittelsystem so modern und vernünftig gestalten, ({8}) daß es auch der einfache Bürger versteht. ({9}) Wir werden die Instanzen so gestalten, daß Recht in vertretbarer Zeit gewährt wird. Ich komme noch einmal auf die Ausbildung der Juristinnen und Juristen zu sprechen. Sie ist im europäischen Vergleich eigentlich ein Jammer. Trotz Repetitorium beträgt die durchschnittliche Ausbildung an der Universität 12 bis 14 Semester. Dabei bilden wir junge Juristinnen und Juristen mit einem Wissen aus, das Sie anschließend in aller Regel nicht mehr brauchen. Zum Teil werden sie für die universitäre Forschung ausgebildet. Danach schließt sich eine praktische Ausbildung an, die auch nur zum Teil das beinhaltet, was Juristinnen und Juristen später einmal in ihrem Berufsleben brauchen. Sie alle haben vernünftigerweise einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zugestimmt, die eine Vorstufe zu einem vereinigten Europa ist. Wir schicken unsere Juristinnen und Juristen in einem Alter in die berufliche Laufbahn, in dem Juristinnen und Juristen aus anderen Ländern schon längst Fuß gefaßt haben. Es wird daher dringend notwendig sein, das, was in den letzten Jahren versäumt wurde, nämliche eine moderne und den Bedürfnissen angepaßte Juristinnen- und Juristenausbildung, nach vorne zu bringen. Wir wollen gemeinsam mit den Ländern die Justizreform, und wir wollen gemeinsam mit den Ländern, denn nur mit ihnen geht es, eine moderne Ausbildung der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Juristinnen und Juristen. Ich bin sicher, diese Debatte ist der erste Schritt dazu. Wir werden diesen Weg sehr konsequent gehen. Ich bin überzeugt, daß Sie sich, meine Damen und Herren der Koalition, liebe Freunde und liebe Rechtsfreunde auf der Seite der Opposition, an diesem Weg voller Begeisterung beteiligen werden. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Jochen Henke.

Hans Jochen Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Justiz ist ein Bereich, wie Herr Hartenbach bereits angesprochen hat, der von unseren Bürgerinnen und Bürgern mit besonderer Sensibilität wahrgenommen wird. Daher darf ich für die CDU/CSU zunächst etwas Grundsätzliches anmerken. Wir werden Sie, Frau Ministerin, gerne überall dort unterstützen, wo Sie mit praxisnahen Reformen, Herr Hartenbach, Verfahren vereinfachen und erleichtern und zu einer Entlastung der Justiz nachhaltig beitragen. Wo aber Zentralismus, Ideologie und Bürokratie Ihr Leitbild sind, da werden wir mit Entschlossenheit dagegenhalten und uns dem widersetzen. ({0}) Wir debattieren heute einen Haushaltsentwurf, der nicht nur schriftlich vorliegt. Er wird im Gegensatz zu vielen anderen Projekten von dieser Koalition wohl auch gemeinsam getragen, ein Vorteil, der in diesen Tagen so selbstverständlich gar nicht mehr ist. Nachteil der Haushaltsdebatte zum jetzigen Zeitpunkt ist das Fehlen ganz konkreter rechtspolitischer Vorhaben dieser neuen Regierung. Man hört zwar Unterschiedliches zu unterschiedlichen Themen. Aber auch hier gilt: Etwas Genaues weiß man nicht, und wo man etwas Genaues zu wissen meint, weiß man nicht, ob dies auch morgen noch Geltung hat. Zwar liegt der Anteil des Etats des Bundesjustizministeriums, am Rekordentwurf von Herrn Lafontaine gemessen, lediglich im Promillebereich. Nichtsdestotrotz ist die Arbeit des Justizministeriums von ganz entscheidender Bedeutung für die Arbeit einer jeden Bundesregierung. Wenn wir uns, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Echternacher Springprozession dieser Regierung in den letzten Wochen vergegenwärtigen, dann sind Sie, Frau Ministerin, um Ihre Aufgabe in doppelter Hinsicht eigentlich nicht zu beneiden. ({1}) Zum einen sind Sie über Gebühr und ständig damit beschäftigt, handwerkliche Fehler Ihrer Kabinettskollegen wegzuräumen, zum anderen stehen Sie mit in der Gesamtverantwortung für eine höchst gefahrgeneigte Gesamtrichtung. Wenn hier von einer neuen Zeitrechnung im Justizbereich die Rede ist, ({2}) dann ist das noch viel mehr als die Ankündigung in Wahlkampfzeiten und in der Regierungserklärung, daß man zwar nicht alles anders, aber vieles besser machen wolle. Widerstehen Sie der Versuchung, in dieselben Fehler wie Ihre Kolleginnen und Kollegen zu verfallen, alles gleichzeitig machen zu wollen! Setzen Sie die richtigen Prioritäten! Dann wird auch das Personal in Ihrem Haus reichen, und es wird obendrein hochmotiviert sein. Nicht zufällig meinte der Präsident eines mittelständischen Industrieverbandes kürzlich, während man der alten Regierung zu Recht vorwerfen konnte, daß sie zuviel gedacht und manchmal zuwenig gehandelt habe, sei der Vorwurf, der der neuen Regierung gemacht werden müsse, viel gravierender. Sie handele allzuoft, ohne etwas zu denken. ({3}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das nicht zu denken gibt. ({4}) Im Haushaltsausschuß wird in den nächsten Wochen über Einzelheiten des Entwurfs und damit zusammenhängende Fragen zu reden sein. So laufen zum Beispiel seit vier Jahren im Justizministerium Untersuchungen über eine zukunftsorientierte Reorganisation mit entsprechenden Arbeits- und Ablaufoptimierungen. In Kürze, so vernimmt man, sollen diese Untersuchungen abgeschlossen sein. Wir sind auf die Ergebnisse und die zusätzlichen Freiräume, die damit hoffentlich zur Verfügung stehen, gespannt. Frau Ministerin, Sie wollen für den europäischen Justizministerrat wenig ausgeben. Das verdient Anerkennung. Aber statt dessen wollen Sie zusätzliche internationale Seminare veranstalten lassen. Es ist verständlich, daß die Justizministerin hier zusätzliche Chancen sieht, um Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Aber dafür gibt es genügend andere Etatansätze in Ihrem Einzelplan, so zum Beispiel für internationale rechtliche Zusammenarbeit. Ich weiß nicht, ob EU-Seminare wie „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach dem Amsterdamer Vertrag“ oder „Videotechnologie im Strafverfahren“ vorrangige Angelegenheiten der Justiz oder der Bundesregierung sein müssen. Man muß auch über die Stellen im Haushalt reden, an denen geplant ist, daß der Bund zusätzliche Kosten übernehmen soll, die die Länder bei Gemeinschaftsprojekten nicht länger oder gar nicht zu tragen bereit sind, zum Beispiel bei der Servicestelle „Täter-OpferAusgleich“ oder dem Forum „Kriminalprävention“. Dies kann nicht alleinige oder überwiegende Aufgabe des Bundes sein, genausowenig, wie für ausfallende Länderanteile einzuspringen. Aus dem Bundespatent- und Markenamt kann man den Wunsch nach zusätzlichen Patentprüfern hören. ({5}) Sogar der Bundesrechnungshof will hier 17 zusätzliche Stellen - so die wörtliche Formulierung - „hinnehmen“. Aber aus einem KPMG-Gutachten geht hervor, daß derzeit eingesetzte Informationstechnologien mit moderner Arbeitsorganisation nicht kompatibel sind. Die Erkenntnisse über Modernisierung und Reorganisation müssen rasch und im Zusammenhang umgesetzt werden. Der Übergang muß funktionieren und bewältigt werden. Eile tut in der Tat not. Wir bitten Sie, uns Konkretes über Umfang, Kosten und den Zeitplan der notwendigen Modernisierung einschließlich der personellen Konsequenzen vorzulegen. Schlagen Sie uns vor, wie diese Maßnahmen mit dem Haushalt in Einklang gebracht werden können. Das Hohe Haus wäre auch dankbar, wenn jetzt Klarheit über die Kosten für den Umbau des Reichsgerichtshofs zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig geschaffen werden könnte. Im Haushalt stehen 169 Millionen DM dafür bereit. Der Bundesrechnungshof hält 110 Millionen DM, der Bundesfinanzminister 130 Millionen DM und Ihr Haus 150 Millionen DM für die richtige Größenordnung. Was ist denn nun richtig? Diese Frage stellt sich auch bei einigen der wichtigsten Probleme im rechtspolitischen Bereich. Es gibt zum Beispiel Ihr Ziel einer dreistufigen Gerichtsbarkeit, mit dem bereits vor 25 Jahren eine Regierung unter sozialdemokratischer Führung angetreten und gescheitert ist. Eine solche Reform hätte für Flächenstaaten wie zum Beispiel Baden-Württemberg gravierende Nachteile für eine bürgernahe Rechtspflege. Sie hätte dort die Schließung von 30 Amtsgerichten, also den Rückzug der ortsnahen Rechtsprechung, mit nur geringen Stelleneinsparungen zur Folge. ({6}) Wir können uns in diesem Zusammenhang vorstellen, ({7}) - daß die Mehrkosten für die Länder angemessen aufgefangen werden. Ein weiterer Punkt betrifft die weitgehende Gebührenfreiheit der sozialgerichtlichen Verfahren. Wollen wir diese in der Zukunft beibehalten? - Gebührenfreiheit hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. 98 Prozent der Kosten tragen die Steuerzahler. Es kommt nicht von ungefähr, daß die Präsidentinnen und Präsidenten der Landessozialgerichte wiederholt die Einführung von Gerichtsgebühren gefordert haben. Hier sollte über Änderungen nachgedacht und dem Gerechtigkeitsprinzip über Kostenhilfe Rechnung getragen werden. Ein anderes Lieblingskind der Ministerin ist das Strafgeld. Bisher sind mit beschleunigten Verfahren sehr gute Erfahrungen gemacht worden. Ob hier eine weitere Sanktionskategorie die richtigen Signale setzt, ist ebenso fraglich wie die Vereinbarkeit mit dem Schuldgrundsatz und anderen Fragen. Lassen Sie mich abschließend beispielhaft die in der letzten Legislaturperiode weit vorangebrachte Projektion einer zweiten Stufe des Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes mit der Konzentration auf eine Tatsacheninstanz und weiteren Verbesserungen ansprechen. Letztendlich ist dieses wichtige zukunftsweisende Projekt am Bundesrat und damit an der Ländermehrheit gescheitert. Machen Sie sich die von der Vorgängerregierung geleistete gute Vorarbeit zu eigen! Frau Ministerin, Ihr kleiner, aber feiner Einzelplan bietet hinreichende Chancen für die Modernisierung unseres Rechtssystems. Wir sind bereit, auf diesem Weg kritisch, aber konstruktiv mitzugehen. Danke schön. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Henke, das war Ihre erste Rede im Parlament. Ich möchte Ihnen im Namen des Hauses dazu gratulieren. Bei der nächsten Rede haben Sie bestimmt alle Unterlagen bei sich. ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Henke, es ist am heutigen Tage wie so oft: Man muß der Opposition einmal den Tip geben, sich zu entscheiden, wofür sie uns kritisiert: Entweder handeln wir allzu hektisch, wie Sie meinen, ohne zu denken, ({0}) oder wir haben zuwenig vorgelegt. ({1}) Wir haben uns gerade in der Rechtspolitik Zeit genommen, um nachzudenken und gründlich zu arbeiten. Sie sollten nicht bedauern, daß noch nicht so viele Gesetzentwürfe vorliegen; denn wir wollen mit dieser hektischen Gesetzgeberei ohne Sinn und Verstand, wie wir sie in den letzten vier Jahren erlebt haben, Schluß machen. ({2}) Ich wundere mich auch über einige Punkte der Kritik am Haushalt. Sie kritisieren, ein Seminar über die Videotechnologie im Gerichtssaal sei nicht Aufgabe des Justizministeriums. Es geht nicht darum, Richtern beizubringen, wie ein Videogerät zu bedienen ist, sondern darum, in einer wichtigen Frage des Opferschutzes voranzukommen. ({3}) Wir haben in der letzten Wahlperiode die Videovernehmung im Hauptverfahren eingeführt. Wir müssen entscheiden, ob die Regelung ausreicht, um alles zu tun, damit kindliche Opfer von sexuellem Mißbrauch vor Mehrfachvernehmungen geschützt werden. Das ist ein sehr ernsthaftes Anliegen. Das, was wir in der letzten Wahlperiode beschlossen haben, hat einige Tücken. Wir müssen zum einen die Sensibilität bei den Rechtsanwendern schärfen, und wir müssen zum anderen überlegen, ob wir noch mehr für die kindlichen Opferzeugen tun können. Ich meine, man sollte ganz heftig unterstützen, daß das Justizministerium dieses Anliegen aufgreift. Gleichzeitig muß ich sagen: Das Servicebüro für den Täter-Opfer-Ausgleich beschäftigt uns in den Haushaltsdebatten nun schon vier lange Jahre. Am Anfang ging es um 300 000 DM; jetzt geht es um 150 000 DM. Die Kosten dieses Büros stehen in keinem Verhältnis zur Diskussion, die wir um die Finanzierung dieser wichtigen Einrichtung führen. Es geht darum, im Strafprozeßrecht und im Strafrecht ein wesentliches, neues Element zu stärken. Wir brauchen einheitliche Standards, damit die Rechtsanwender Vertrauen zu diesem Instrument finden, und es häufiger einsetzen. Es ermöglicht einen ganz entscheidenden neuen Umgang mit dem Strafrecht. Es ist für die Resozialisierung ein Gewinn, weil sich der Täter in einem Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren mit dem Unrecht seiner Tat individuell auseinandersetzen muß. Übrigens sagen auch viele Opfer: Ich habe mehr davon, wenn der Täter lernt, was er mir angetan hat, wenn er sich darum bemüht, seine Straftat wiedergutzumachen, und wenn ich weiß, daß es zukünftig von diesem Täter in diesem Deliktbereich keine Opfer mehr geben wird. Das sollte uns diese 150 000 DM wert sein. ({4}) Ich kann auch noch einmal die Haushälter auffordern, hier den Sperrvermerk wegzunehmen und noch ein paar Mark daraufzulegen. Ich hätte es eigentlich richtig gefunden, wenn wir die 300 000 DM stehengelassen hätten, die wir in der Vergangenheit im Bundeshaushalt hatten, damit dieser Bereich in gesicherten Gleisen weiterlaufen kann. Meine Damen und Herren, die Koalition will Altlasten in Form von Ungerechtigkeiten beseitigen, mehr Gerechtigkeit und Bürgernähe in der Rechtspolitik durchsetzen, ein Bündnis gegen Gewalt und Diskriminierung schmieden sowie den Schutz der Schwachen durch das Recht stärken und ihre Rechte in der Rechtsstaatlichkeit neu verankern. Ich will Ihnen ein paar Punkte nennen, die wir uns im Bereich des auf die neuen Länder zutreffenden Rechts vorgenommen haben. Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit müssen wir noch einiges verbessern, zum Beispiel die Entschädigung der Opfer des SED-Regimes und die Höhe der Haftentschädigung. Wir wollen auch die Stärkung der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge in Angriff nehmen. Bündnis 90/Die Grünen werden Sie allerdings nicht dazu bekommen, hier für eine generelle Amnestie für in der DDR begangene Straftaten zu stimmen. Ich wünschte - das möchte ich der PDS schon sagen - mir mehr Unterstützung für die Anliegen der Opfer des SED-Regimes, statt soviel über die Amnestie für die Täter zu reden. Hier müssen wir eine Schieflage feststellen. ({5}) Wir müssen auch versuchen, im Vermögensrecht einige Dinge, die im Einigungsvertrag für die Nutznießer grundsätzlich verkorkst angelegt sind, zu reparieren. Wir können den Einigungsvertrag nicht neu schreiben. Man muß politisch falsche Entscheidungen als Grundlage zunächst einmal akzeptieren. Bei der Frage der Nutzungsentgelte usw. sollten wir noch einmal neu darüber nachdenken, ob wir nicht zu gütlicheren und besseren Lösungen für die Menschen in den neuen Ländern kommen können. Ich habe es schon angesprochen: Wir wollen ein Bündnis gegen Gewalt schmieden. Dazu gehören auch ganz entscheidende Signale der Rechtspolitik, zum Beispiel soll eine Absage an Gewalt von Grund auf im Recht verankert werden. Deshalb ist es ganz entscheidend, daß wir uns vorgenommen haben, den Anspruch von Kindern auf gewaltfreie Erziehung zu verankern. Dabei geht es nicht darum, den Staatsanwalt in die Familien zu schicken, sondern es geht darum, Gewalt zu ächten und ein für allemal klarzumachen, daß Gewalt als Erziehungsmittel nicht geeignet ist. An der Tatsache, daß in gewaltbetroffenen Familien zwei- bis dreimal häufiger Gewalttäter herangezogen werden, zeigt sich, wie bedeutsam eine solche Frage ist. Deshalb nehmen wir das in Angriff. ({6}) Wir müssen auch den Schutz von Opfern sexueller und nichtsexueller Gewalt im Nahbereich stärken. Wir werden deshalb in dieser Wahlperiode über das Wohnungszuweisungsverfahren und über neue Opferschutzkonzepte zu reden haben. Wir sollten unseren Blick auch einmal ins Ausland schweifen lassen, zum Beispiel auf „Go-order“, wie es in den USA praktiziert wird, oder auf ganz vernünftige Regelungen, wie wir sie in Österreich finden. Davon können wir uns einiges abschauen, um den Schutz der Schwachen durch das Recht wesentlich zu verbessern. Wir haben uns auch vorgenommen zu überprüfen, ob es notwendig ist, im Strafrecht den Schutz der Widerstandsunfähigen vor sexuellem Mißbrauch zu verbessern. Wir wollen auf jeden Fall gesellschaftspolitisch klarstellen, daß es ein sehr großes Unrecht ist, wenn die Widerstandsunfähigkeit von behinderten Menschen im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen ausgenutzt wird, und daß der Gesetzgeber das nicht minder wichtig nimmt als die Vergewaltigung von erwachsenen Menschen oder den sexuellen Mißbrauch von Kindern. ({7}) Wir sehen auch eine große rechtspolitische Aufgabe darin, eine integrative Gesellschaftspolitik rechtlich zu Volker Beck ({8}) gestalten. Es geht darum, die Minderheiten, die in unserer Gesellschaft leben - das sind einige, und dahinter steht eine große Zahl von Menschen -, durch eine integrative Rechtspolitik hereinzuholen. Wir haben das bei der Diskussion über das Staatsbürgerschaftsrecht angefangen. Ich möchte angesichts der Diskussion, die wir in den letzten Wochen und Monaten geführt haben, alle einladen, nicht nur abstrakt um rechtliche Grundsätze zu streiten, sondern sich wirklich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie wir 7 Millionen hier lebende Menschen ohne deutschen Paß in die Mitte unserer Gesellschaft mit gleichen Rechten holen; die gleichen Pflichten haben sie in der Regel schon. ({9}) Ich bitte Sie, einmal zu überlegen, was Sie in diesem Bereich tun können. Sie sprechen zwar von erleichterter Einbürgerung, aber Sie haben keinen rechtspolitischen Vorschlag gemacht, wie wir diese Erleichterung umsetzen können. Dies zum Thema Ausländer. Es geht aber auch darum, durch ein Antidiskriminierungsgesetz endlich die Benachteiligung von Behinderten abzubauen. Wir hatten in den letzten Jahren skandalöse Urteile im Zusammenhang mit dem Reisevertragsrecht oder auch zu der Frage, ob die Art der Geräusche von Behinderten eine besondere Belästigung darstellt, die es rechtfertigt, die Rechte von Behinderten weiter als die Rechte von Nichtbehinderten einzuschränken. Wir brauchen klare rechtliche Regeln, so daß niemand in unserem Land auf Grund seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Behinderung oder auch auf Grund seiner sexuellen Identität benachteiligt wird. Das Recht muß diese Menschen vor Diskriminierung schützen. Ein ganz wichtiger Punkt ist, daß wir die Gebärdensprache gesetzlich anerkennen wollen. Dazu müssen wir - Frau Ministerin, diese Anregung können Sie aus dieser Debatte mitnehmen - auch eine Regelung im BGB ändern. § 828 BGB besagt nämlich, daß Taubstumme für einen Schaden zivilrechtlich genauso wenig verantwortlich sind wie Jugendliche, denen die erforderliche Einsicht fehlt. Sie werden nach unserem Gesetz also geistig nie erwachsen. Diese Regelung müssen wir ändern, denn sie entspricht nicht dem Wertebild unserer Verfassung. ({10}) In diesem Kontext werden wir dafür sorgen, daß mit der Rechtlosigkeit gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften endlich Schluß gemacht wird. Auch hier geht es darum, Diskriminierung abzubauen und die homosexuellen Bürgerinnen und Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten in diese Gesellschaft zu integrieren. Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen bekanntgeben, daß es um 19.30 Uhr eine nochmalige Unterbrechung der Sitzung gibt, weil die CDU/CSU eine Fraktionssitzung durchführt. Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Justizhaushalt ist in der Tat vergleichsweise klein. Aber er ist wie das Ministerium selbst bedeutend. Unsere Rechtsordnung ist für das friedliche Zusammenleben der Menschen in unserem Staat ein hohes Gut. Gerade, wenn man mit ausländischen Gästen über unsere deutsche Rechtsordnung spricht, kann man feststellen, daß diese ausländischen Gäste unsere Rechtsordnung ganz besonders schätzen und daß sie Gesetze, Verordnungen, ja das ganze Rechtssystem am liebsten von uns übernehmen würden. Nicht zu Unrecht haben wir aus diesem Grunde noch unter dem damaligen Justizminister Dr. Kinkel eine Stiftung für Internationale Zusammenarbeit gegründet, die große Verdienste beim Aufbau des rechtsstaatlichen Systems in den osteuropäischen und südosteuropäischen Staaten erworben hat. ({0}) - Richtig. Wir wollen, daß die Zuständigkeit dieser Stiftung über die 11 oder 12 Staaten Osteuropas hinaus erweitert wird. Die Ressourcen, die wir in bezug auf den Rechtsstaat in der Bundesrepublik Deutschland haben, müssen wir bündeln. Es geht nicht an, daß diese Aufgaben von der GTZ, also von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, mehr schlecht als recht mitverwaltet werden. Ich plädiere dafür, daß die Fragen der internationalen rechtlichen Zusammenarbeit im Bundesjustizministerium gebündelt werden. Frau Ministerin, Sie haben unsere volle Unterstützung, wenn Sie an diesem Werk mitarbeiten wollen. ({1}) Auch wenn wir manchmal zu etwas komplizierten Gesetzen neigen, halte ich unseren Rechtsstaat für vorbildlich. Das soll so bleiben. ({2}) Der Rechtsstaat ist aber kein Selbstzweck, sondern hat dem rechtsuchenden Bürger, einschließlich der Wirtschaft, zu dienen. Der Bürger erwartet, daß er sein Recht bekommt, und das möglichst schnell, denn nur dadurch wird der Rechtsfrieden unserer Gesellschaft gewährleistet. An diesen Prämissen werden wir, Frau Ministerin, Ihre Bemühungen um die Justizreform messen. Es kann nicht Sinn der Justizreform, die Herr Hartenbach eben angesprochen hat, sein, Rechtsmittelinstanzen zu verkürzen und Streitwertgrenzen heraufzusetzen. ({3}) Volker Beck ({4}) - Lieber Herr Hartenbach, Sie wissen ganz genau, wie wir dazu gekommen sind: Die Länder haben uns mit ihren Anträgen im Bundesrat dauernd gezwiebelt, hier mit einem Reförmchen einen kleinen Schritt zu machen, so daß wir nicht zu dieser Justizreform gekommen sind. Insoweit sind wir mit der Justizministerin völlig einer Meinung, daß wir die Justizreform benötigen. Aber sie darf nicht zu einer Verkürzung des Rechtsschutzes des Bürgers führen, sondern wir müssen den Rechtsschutz des Bürgers eher ausbauen. ({5}) - Ausbauen und effektiver machen ist vielleicht fast identisch. ({6}) In diesem Zusammenhang ärgere ich mich natürlich gelegentlich auch über die Länder; das sage ich ganz offen. Wir haben die Insolvenzrechtsreform in diesem Hause gemeinsam beschlossen. Die Länder haben darauf gehofft, daß die neue Insolvenzordnung nicht zum 1. Januar 1999 eingeführt wird. Sie wollten sie verschieben. Sie haben auch nicht dafür gesorgt, daß beispielsweise die Schuldnerberatung ausgebaut werden konnte. In meiner Heimatstadt Hamburg zum Beispiel bekommt man erst nach sechs Monaten einen Termin bei der Schuldnerberatungsstelle. Das nenne ich einen Skandal. ({7}) Das ist im übrigen in anderen Ländern genauso, allerdings nicht in allen; das gebe ich zu. Wenn die Länder wollen, daß wir an der Justizreform mitwirken, erwarte ich von ihnen aber auch bundesfreundliches Verhalten. In der letzten Legislaturperiode haben wir eine Reihe von sehr effektiven wirtschaftsrechtlichen Gesetzen umgesetzt. Das heißt jedoch nicht, daß wir uns jetzt einfach zurücklehnen und sagen können: „Nun ist Schluß; wir haben das KonTraG geschaffen, das Transportrecht usw. reformiert“, sondern wir müssen weiter daran arbeiten, es aktualisieren und weiterentwickeln. Internationaler Wettbewerb, auch auf den Kapitalmärkten, ist notwendig. Wir brauchen dazu die rechtliche Begleitung. Dazu zählen die Weiterentwicklung des Finanzrechts und des Wettbewerbsrechts, die Behandlung von Optionen im Aktienrecht, das Übernahmerecht und das gesamte Publizitätsrecht im Hinblick auf die Bestimmungen der Europäischen Kommission. ({8}) - Nein, das sind keine Sünden der Vergangenheit. Wir haben in der letzten Legislaturperiode eine Reihe von Dingen gemacht; das haben Sie auch lobend erwähnt. ({9}) - Das müssen wir tun, und zum Teil haben wir es schon getan. Aber der Europäische Gerichtshof hat dann anders entschieden. Das wird Ihnen genauso gehen, denn die Interessen sind natürlich auch da gelegentlich unterschiedlich, Herr Kollege Stiegler. Wir haben gemeinsam am Urheberrecht gearbeitet. Auch da waren wir zunächst etwas zögerlich, weil es in der Bundesrepublik Deutschland unterschiedliche wirtschaftliche Interessen gibt und gab, die man austarieren muß. Das ist nicht immer ganz einfach. Dasselbe gilt für das Transportrecht. Wir haben das Transportrecht reformiert, aber wir müssen es durch das Seehandelsrecht ergänzen, das in der Tat über 100 Jahre alt ist und das wir das letzte Mal ausgeklammert haben. Aber gerade wegen der Haftungsfragen müssen wir in dieser Legislaturperiode darangehen. Da habe ich als Hamburger Abgeordneter natürlich ein besonderes Interesse. Insoweit sichere ich Ihnen, Frau Ministerin, unsere Mithilfe zu. Frau Ministerin, ich sehe mit großer Sorge, daß Sie in Ihrem Hause gelegentlich von Ihrem Kollegen, dem Bundesfinanzminister - wie soll ich es sagen? -, gelinkt werden. ({10}) - Ja, ich sage das ganz bewußt. Ich komme gleich zum Schluß; durch die Unterbrechung bin ich etwas in Zeitverzögerung gekommen. Sie haben in Ihrem Hause auch die Rechtsförmlichkeit zu prüfen. ({11}) Ich bewundere, daß Sie zum Beispiel die vielen Anträge, die Sie noch in den letzten Tagen aus dem Bundesfinanzministerium bekommen haben, zum Teil

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, ich darf Sie doch jetzt bitten. Das können Sie nicht mehr alles ausdrücken. ({0})

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- große Konvolute, rechtsförmlich geprüft haben. Ich möchte Sie auffordern, diese Prüfung in Zukunft noch gründlicher vorzunehmen. Denn das, was in Ihren eigenen Prüffragen geregelt ist, konnten Sie auf keinen Fall wahrnehmen. Ich glaube, es ist wichtig, daß Sie in Zukunft diese Aufgabe intensiver wahrnehmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch im Haushaltsjahr 1999 wird die Justiz wiederum unter Geld- und Personalknappheit leiden. Die zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel werden angesichts des ständig wachsenden Geschäftsanfalls, hinzugekommener personalintensiver Aufgaben und einer komplizierter werdenden Rechtsmaterie äußerst eng bemessen sein. Zu Recht wird von vielen Justizpraktikern und Rechtswissenschaftlern eine neue Qualität der Rechtsund der darin eingeschlossenen Justizpolitik gefordert. Hierzu gehören eine grundlegende Reform der Justiz, die den Gerichtsaufbau, den Instanzenweg, außergerichtliche Schlichtungsmöglichkeiten, die Stellung ehrenamtlicher Richter, Fragen der gerichtlichen Selbstverwaltung, eine Reform der Juristenausbildung, größere Transparenz und Bürgernähe und vieles andere mehr umfaßt. Eine moderne Rechtspolitik muß in der Lage sein, gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen vorauszusehen und sich hierauf rechtzeitig einzustellen. Wir müssen uns nichts vormachen: Diese Reformen werden langfristig bestimmte Spareffekte mit sich bringen; sie erfordern aber zunächst nicht unbeträchtliche Haushaltsmittel bei Bund und Ländern. Eine Justizreform, die diesen Namen verdient, ist nicht zum Nulltarif zu haben. Ein solches Jahrhundertprojekt zur Überwindung der Dauerkrise in der Justiz erfordert umfängliche Investitionen bei ihrer Umstrukturierung, bevor tatsächlich ein Qualitätssprung für die Bürger und eine Entlastung für die in der Justiz Tätigen erlebbar ist. So ist die Einrichtung außergerichtlicher Schlichtungsstellen zunächst mit erheblichen Mittelzuwendungen aus den Justizhaushalten verbunden. Sie wird langfristig jedoch zu einer wirklichen und spürbaren Entlastung der Justiz führen. Am Anfang müssen allerdings ausgereifte Konzepte stehen. Was ist jedoch bisher aus dem Justizministerium gekommen? Über die Rechtspolitik der Bundesregierung zu reden ist derzeit noch sehr schwierig, da kaum etwas vorliegt, das man befürworten oder ablehnen könnte, abgesehen von Absichtserklärungen in der Koalitionsvereinbarung und einigen Einzelvorschlägen. Die bisherigen Regierungsvorlagen, das Gesetz zum Internationalen Privatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse und für Sachen, das Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung und das Gesetz zur Änderung von Zuständigkeiten nach dem Sorgerechtsübereinkommens-Ausführungsgesetz, stammen sämtlich aus der 13. Wahlperiode. Bilanz: Außer der Aufarbeitung einiger Restanten aus der letzten Wahlperiode hat noch kein rechtspolitisches Projekt der neuen Bundesregierung parlamentarisch das Licht der Welt erblickt. Frau Ministerin, es erwartet niemand, daß die Regierung ausgereifte Konzeptionen für die angekündigten rechtspolitischen Reformen in Gestalt von Parlamentsvorlagen aus der Schublade zieht. Das wäre unseriös. Dazu ist der Reformstau zu groß, die Krise zu verfestigt; dazu haben sich schon zu viele Justizminister daran die Zähne weitgehend ergebnislos ausgebissen. Das entlastet die Regierung jedoch nicht davon, diese Projekte mit allem Nachdruck und aller gebotenen Zügigkeit zu betreiben. Davon ist jedoch immerhin fünf Monate nach der Bundestagswahl wenig spürbar. Völlig unbefriedigend ist, daß selbst Initiativen der Opposition, die kurzfristig in Angriff genommen werden müssen, auf die lange Bank geschoben werden. ({0}) So sind seit der Einbringung des Schuldrechtsanpassungsänderungsgesetzes und des Antrages zur Änderung der Nutzungsentgeltverordnung bereits wiederum zwei Monate ins Land gegangen. Durch das Justizministerium werden Vorhaben zu diesen brennenden Fragen für frühestens Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres angekündigt. Die gegebene Pauschalbegründung der gebotenen Gründlichkeit überzeugt auf Dauer insbesondere die Betroffenen nicht. Bei dieser gesamten Diskussion müssen wir uns darüber im klaren sein, daß es um zwei für den Rechtsstaat existentielle Fragen geht. Zum einen führt die dauernde Krise in der Justiz zu einem schleichenden Verlust von Rechtsschutz, der für die Bürger ein wesentlicher Parameter für Rechtsstaatlichkeit ist. Rainer Voss, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, wies unlängst zu Recht darauf hin, daß Rechtsgewährung zu den originären Aufgaben des Staates gehört, die er vor allen anderen zu erfüllen hat. Zum anderen ist der immer weiter zurückgehende Stellenwert der Justiz Ausdruck des sich verschiebenden Kräfteverhältnisses zwischen den drei Staatsgewalten zu Lasten der dritten Gewalt. Das zeigt sich zum Beispiel an den jüngsten Vorschlägen, Strafbefugnisse im Bereich der Bagatellkriminalität auf die Polizei zu verlagern. Eine innovative Justizpolitik erfüllt deshalb keinen Selbstzweck und ist somit auch kein lästiges finanzielles Anhängsel im Haushalt, sondern berührt den Kernbereich des Rechtsstaats. Danke schön. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Vereidigung der Bundesregierung hat das halbe Kabinett auf die Gottesformel verzichtet. Das muß man respektieren. Es ist allemal besser, es schwört jemand nicht beim Namen Gottes, wenn er davon nichts hält, als wenn er es nur täte, um den Menschen zu gefallen. - So weit, so gut. Die Sache hat allerdings auch eine andere Seite. Die Gottesformel findet ihre Parallele in der Präambel des Grundgesetzes, wo es heißt: „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Die Kommentatoren des Grundgesetzes sind sich einig darüber, daß der Staat mit diesem Hinweis auf eine andere Instanz hinweisen will und daß er aufzeigen will, daß er, wie es Böckenförde sagt, von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann, die er aber braucht, um Bestand zu haben. Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben sich von der Erkenntnis leiten lassen, daß unser Staat nicht ohne die religiöse und moralische Substanz seiner Bürgerinnen und Bürger auskommt. Sie wollten in gar keinem Fall einen Staat ohne die Verantwortung vor Gott und den Menschen. Gerade aus der Erfahrung der nationalsozialistischen Zeit wollten sie das nicht. Das gilt natürlich auch für unsere Rechtsordnung. Sie entstammt einem Wertgerüst, das unserem Staat vorgegeben ist und das in unserer Rechtsordnung umgesetzt wird. Der Staat muß alles dazu tun, daß diese Wertordnung erhalten bleibt. Er muß für diese Wertordnung auch in der Gesellschaft werben. Wenn nun der Verzicht auf die Gottesformel ein Signal dafür wäre, daß wir von diesen Voraussetzungen abrückten, dann wäre dies ein, wie ich meine, gefährlicher Irrweg. Wir werden uns mit allen Mitteln dagegen stemmen. Verehrte Frau Ministerin, wir hatten volles Verständnis dafür, daß Sie sich in den ersten 100 Tagen Ihrer Amtszeit erst einmal zurechtfinden mußten und daß Sie versuchen mußten, Ihre Gesetzgebungsvorhaben durchzudiskutieren. Aber wir haben schon bedauert, daß Sie nicht den Weg in den Rechtsausschuß gefunden und mit uns über Ihre rechtspolitischen Vorstellungen diskutiert haben, sondern daß wir die erst aus der Presse entnehmen mußten. Sie haben sich ja auch, verehrte Frau Ministerin, dem Rechtsausschuß des Bundesrates gestellt und haben dort über Ihre rechtspolitischen Vorhaben gesprochen. Es wäre, wie ich meine, gut und richtig gewesen, dies auch im Rechtsausschuß des Bundestages zu tun. ({0}) Wir meinen, das Parlament hat Vorrang. Nehmen Sie das nicht als Kritik, sondern als Anregung. Sie werden in der nächsten Woche bei uns sein, und wir werden hoffentlich eine offene Diskussion über all Ihre Vorhaben führen. Überhaupt meine ich, daß sich die Regierungsparteien ein wenig Gedanken darüber machen müssen, wie sie mit der Opposition bzw. dem Parlament umgehen. ({1}) Ich halte es jedenfalls nicht für richtig, wenn Sie uns heute im Ausschuß einen Packen von Anträgen auf den Tisch legen ({2}) und von uns erwarten, daß wir in einer für unsere Republik sehr wichtigen Frage ({3}) - ich lasse keine Zwischenfrage zu - dezidiert rechtspolitisch Stellung nehmen. ({4}) Ich halte dies für eine Mißachtung der parlamentarischen Rechte, und wir sind deshalb mit Recht heute ausgezogen. ({5}) Ich meine überhaupt, daß Sie sich ein wenig Gedanken darüber machen müssen, wie Sie sich bei den Gesetzentwürfen angestellt haben, die wir vorgelegt haben. ({6}) Die Reaktion, die Sie da gezeigt haben, war unter aller Kritik. Herr Hartenbach, Sie haben sich hier hingestellt und haben zu einer Justizentlastung, die wir vorgelegt haben und die wir in der letzten Legislaturperiode Punkt für Punkt mit Ihnen abgesprochen haben - wir haben alle strittigen Punkte herausgelassen; wir haben einen Entwurf vorgelegt, der den Konsens widerspiegelt, den wir erzielt haben -, ausgeführt, das sei alles Blödsinn. Zweimal haben Sie gesagt, es sei alles Blödsinn. ({7}) Das haben Sie auf diesen Gesetzentwurf bezogen, und Sie haben sich sogar noch erkühnt, zu sagen: Dafür nehme ich gern eine Rüge in Kauf. - Wer so spricht, mißachtet das Parlament. ({8}) Ich kann auch gar nicht verstehen, daß Sie sich so sehr gegen diese die Justiz entlastenden Maßnahmen stemmen. Sie widersprechen überhaupt nicht dem Vorhaben der Regierung in bezug auf die Justizreform. Wir haben da zwar Bedenken; das wissen Sie. Die Justizreform wird lange diskutiert. Wir sind nach wie vor der Meinung, daß die streitwertgeteilte Zuständigkeit von Amts- und Landgericht richtig ist, in einem Flächenstaat allemal. Wir wollen diese Vorhaben, Frau Ministerin, nicht rundweg ablehnen, sondern wir wollen darüber mit Ihnen diskutieren, weil das schon lange überlegt wird. Ich meine aber nicht, daß der von uns vorgelegte Gesetzentwurf in bezug auf eine Justizentlastung dem widerspricht, auch nicht dem Vorhaben, die Rechtsmittelreform zu ändern, der gegenüber wir offen sind. Es gibt dazu ja eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Bayern, die demnächst einen Vorschlag unterbreiten wird, und wir hoffen, daß wir diesen Vorschlag in aller Offenheit diskutieren und vielleicht auch umsetzen können. Hier gibt es viele Gedanken, und wir werden in vielen Fragen, so hoffe ich, Übereinstimmung erzielen. Wir wollen es nicht so handhaben wie die Regierungsparteien. Sie könnten Ihre gesamten Vorhaben auch nur innerhalb der Koalitionsparteien beschließen; dann bräuchten Sie das Parlament nicht mehr. Wir sind keine Alibiveranstaltung für Ihre Regierungsvorhaben. Das müssen Sie einfach einmal akzeptieren. ({9}) Verehrte Frau Ministerin, Sie wollen - so steht es in der Koalitionsvereinbarung, und so liest man es auch in der Presse - die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften an die ehelichen Lebensgemeinschaften angleichen, wobei Sie allerdings betonen - darin stimmen wir mit Ihnen überein -, daß es keine Gleichstellung sein soll. Sie unterscheiden sehr wohl - das registrieren wir - zwischen Ehe und Familie, wie sie die Verfassung vorsieht, und der Angleichung der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Nur meinen wir, daß es keinen Grund gibt, die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften vor anderen Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe zu privilegieren. Welchen Grund gibt es denn dafür? Man kann doch diese gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften nicht auf die sexuellen Beziehungen reduzieren; damit würde man diesen Leuten Unrecht tun, und das wäre zu trivial. Wenn man das aber nicht kann, ist es logisch überhaupt nicht begründbar, diese Lebensgemeinschaften anderen Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe vorzuziehen. Deshalb meinen wir, daß dies eher eine grüne Ideologie ist, als daß da viel Vernunft dahintersteckt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle, oder gestatten Sie grundsätzlich keine? ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Westerwelle, ich habe vorhin keine Zwischenfrage zugelassen; bitte sehen Sie mir nach, wenn ich konsequent bleibe. Dies sage ich, obgleich es vielleicht meine Redezeit verlängert hätte und ich noch ein paar Gedanken zusätzlich hätte anführen können. Lassen Sie mich fortfahren. Sie wollen den § 1631 BGB, der die Gewalt in Ehe und Familie zum Gegenstand hat, wieder ändern; wir haben ihn ja erst geändert. Wir haben ihn ja gerade erst geändert. Wir haben entwürdigende Erziehungsmaßnahmen verurteilt und dies im Kindschaftsrecht so festgehalten. Das ist nicht einmal ein Jahr Gesetz. Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn man Gesetze allzu schnell wieder ändert. Aber wenn es eine andere Regierung gibt, dann hat sie wohl das Recht dazu. Das muß man akzeptieren und respektieren. Aber ist es sehr vernünftig? Was machen wir mit einem Kind, das morgens nicht aufstehen, nicht zur Schule gehen will und das am Ende, weil es schulpflichtig ist, von der Polizei mit Gewalt in die Schule gebracht werden muß? Wo ist denn da die gewaltfreie Erziehung? Lassen Sie diese Formel weg! Das sind meiner Meinung nach nichts als Schlagwörter, die in der Sache nicht weiterbringen. Wenn man sie ernst nimmt, dann kann es - im Gegensatz zu dem, was Herr Beck sagt - tatsächlich sein, daß die Eltern Gefahr laufen, allzu schnell mit dem Strafrecht in Konflikt zu geraten. Damit würde eine solche Reform der Regelungen mehr Unfrieden bringen, als sie zum Frieden beiträgt. ({0}) Ich meine, daß wir uns Gedanken machen müssen, was wir im strafrechtlichen Bereich angehen müssen. Sie liefern Stichworte wie „Schwitzen statt sitzen“ und „elektronische Fußfesseln“ und bringen das inzwischen geläufige Thema Strafgeld in die Diskussion. Wir haben Bedenken, Frau Ministerin, ob die Einführung eines Strafgeldes nicht doch auf eine Entkriminalisierung des Ladendiebstahls hinausläuft. Daneben haben wir auch Bedenken, ob dadurch die Polizei nicht noch mehr belastet wird, ob damit auf die Polizei nicht noch mehr Verwaltungszuständigkeiten zukommen, so daß sie am Ende stärker belastet ist, als das jetzt der Fall ist. Landauf, landab klagt sie über Stellenabbau. Dann allerdings müssen die Länder bereit sein, die Zahl der Personalstellen bei der Polizei zu erhöhen. Ich meine, daß in der Sache nicht viel gewonnen werden kann. Unser Hauptbedenken liegt in der Befürchtung einer Entkriminalisierung. Wir meinen, die Staatsanwaltschaft hat schon jetzt genügend Möglichkeiten, dieser Massendelikte - wir wollen gar nicht verschweigen, daß es sich um solche handelt - Herr zu werden. Zu einem weiteren Punkt, dem Schutz der Kinder vor Sexualstraftätern. Mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz haben wir ein umfangreiches Gesetzeswerk eingebracht und in dessen Zuge das Strafmaß ganz gehörig erhöht. Übereinstimmung gab es diesbezüglich quer durch alle Parteien. Aber inzwischen hat der Bundesgerichtshof Urteile gefällt, aus denen hervorgeht, daß manche Regelungen des 6. Strafrechtsreformgesetzes milder sind als vorher. Das widerspricht dessen Intention. Deshalb müssen wir, so meinen wir, auch hier noch einmal drüberschauen und überlegen, ob nicht gesetzliche Änderungen notwendig sind. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe natürlich noch viele Punkte anzuführen. Ich hoffe, daß wir in ein gutes Gespräch kommen, und gehe davon aus, daß im Rechtsausschuß nach wie vor das Argument und nicht die Ideologie zählt. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich nun dem Abgeordneten Ströbele das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Geis, ich fühlte mich angesprochen, als Sie die Situation im Rechtsausschuß heute erwähnt haben. Etwa um 14.15 Uhr hat die CDU/CSUFraktion beantragt, die Sitzung zu unterbrechen, damit die Mitglieder der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS ins Plenum gehen und der allgemeinen Debatte lauschen können. ({0}) Ich hatte eine gewisse Sympathie für diesen Antrag und habe mich deshalb der Stimme enthalten, aus grundsätzlichen Erwägungen der Einhaltung von Regeln der parlamentarischen Demokratie. Denn ich denke, eine solche Debatte im Plenum ist schon so wichtig, daß man da hingehen können muß. Wir haben dann noch relativ kurz ohne Sie weiter verhandelt. ({1}) Als ich mich dann hier unten hingesetzt habe, habe ich geguckt, wo Sie denn waren. Sie sind zwar aus Protest aus dem Rechtsausschuß ausgezogen, aber hier war keiner. ({2}) Also war das Ganze doch offenbar nur ein Manöver, um - unter Mißbrauch dieses richtigen Gedankens - parteiideologische Ziele zu verfechten. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geis, es gibt noch eine Kurzintervention des Kollegen Westerwelle. Sie dürfen dann auf beide zusammen antworten.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erstens muß ich sagen: Eine solche Ironisierung eines, wie ich finde, völlig unparlamentarischen Vorgangs - das Wort „Schweinsgalopp“ war die höfliche Umschreibung dessen, was hier jetzt stattfindet -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Westerwelle, ich muß Sie unterbrechen. Sie dürfen nicht auf eine andere Kurzintervention eingehen, sondern nur auf den letzten Redner, also den Kollegen Geis. Nur das steht Ihnen nach den Regeln zu.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich danke Ihnen sehr. - Herr Kollege Geis, das Wort „Schweinsgalopp“ saß, und Sie haben recht. Ich möchte auf einen zweiten Punkt zu sprechen kommen, zu dem ich mich schon als Zwischenfrager gemeldet hatte. Sie haben davon gesprochen, es handele sich bei der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften um eine Privilegierung gegenüber der Ehe. Sie haben das Wort „Privilegierung“ ausdrücklich benutzt. Ich habe mich mit der Sache sehr auseinandergesetzt. Ich habe keine Privilegierung erkennen können. Privilegierung heißt ja: Besserbehandlung gegenüber anderen Instituten. Vielleicht habe ich es falsch verstanden. Wenn ich diese Privilegierung übersehen habe, dann bitte ich Sie darum, uns das zu sagen. Vielleicht habe ich es völlig falsch verstanden. Eine Privilegierung ist auch aus unserer Sicht natürlich nicht beabsichtigt, wohl aber eine Abschaffung der Diskriminierung. Eine Abschaffung von Diskriminierung ist jedoch keine Privilegierung. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt, Herr Kollege Geis, haben Sie die Möglichkeit, auf beide Kurzinterventionen zu antworten. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich Herrn Ströbele antworten. Wir haben uns ({0}) entschlossen, den Beratungen aus zwei Gründen nicht weiter zu folgen. Der erste Grund ist, daß wir meinen: Es muß grundsätzlich der Vorzug der Auseinandersetzung im Plenum des Bundestages gegenüber der Auseinandersetzung im Ausschuß gewahrt bleiben. Hier hat das Plenum des Bundestages einen entsprechenden Vorrang, ganz absolut und ganz unabhängig davon, wer sich im Plenum befindet. ({1}) Zweitens sind wir vor allem deshalb ausgezogen, weil wir es als unerträglich empfunden haben, daß wir kurz vor Sitzungsbeginn einen Packen von Anträgen bekommen haben - es müssen 30 an der Zahl gewesen sein -, ({2}) mit denen wir uns als Rechtspolitiker innerhalb von zwei Stunden hätten auseinandersetzen müssen. Wir hielten das nicht für richtig. Wir waren der Meinung, daß man so nicht mit uns umgehen kann. Wir haben uns als eine Alibiveranstaltung verstanden. Da wollten wir nicht mitmachen. ({3}) Herr Westerwelle, ich habe gesagt, daß die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften nicht privilegiert werden können gegenüber anderen Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe, von denen man sich viele vorstellen kann. Ich sehe in dem, was bislang diskutiert worden ist - es liegt ja noch kein Gesetzentwurf vor -, eine Privilegierung gegenüber anderen Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe. Ich kann dem aber nicht folgen. Ich halte das nicht für logisch. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Geis, als ich gerade Ihre Klage gehört habe, habe ich gedacht: So schwer kann Opposition sein! Jetzt können Sie sich endlich vorstellen, wie sehr wir unter Ihnen gelitten haben. ({0}) Ich habe den Vorzug, daß ich heute an dieser denkwürdigen Sitzung des Rechtsausschusses nicht teilgenommen habe. Aber ich kann Ihnen sagen: Das, was Sie hier geäußert haben, haben wir in den vergangenen 16 Jahren mit großem Recht sehr häufig gedacht und häufig auch gesagt. Ich denke, wir brauchen parlamentarisches Verhalten auf allen Seiten. Der Rechtsausschuß war insgesamt gesehen grosso modo eigentlich immer ein Hort der Auseinandersetzung; und so soll es auch bleiben. Insofern stimme ich Ihnen völlig zu. Wir beraten heute über den Justizhaushalt 1999. Es ist das erste Mal ein etwas veränderter Haushalt. Meine Bitte ist, meine Damen und Herren - und natürlich wende ich mich an die Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses, an den Kollegen Schneider in ganz besonderer Weise, an den Kollegen Henke, an den Kollegen Hoyer, an die Kollegin Ehlert und an den Kollegen Berninger -, ihn noch weiter zu verändern, und zwar einfach deswegen, weil ich glaube, daß das, was gemacht werden muß, es auch wert ist. Ich bedanke mich - bei aller unterschiedlichen Sicht - ganz ausdrücklich für Ihre Worte; das ist gar keine Frage. Über die einzelnen Dinge muß man reden; auch das ist keine Frage. Ich glaube, daß der Justizhaushalt noch etwas verändert werden kann, und dafür möchte ich heute ausdrücklich werben. Seit etwa 50 Jahren hat der Justizhaushalt ohne Zweifel - ich habe mir das gerade noch einmal angeschaut immer Gemeinsamkeiten und Auffälligkeiten, auf die man schnell stößt. Er ist klein, aber fein; so ist es auch weiterhin. Er macht, glaube ich, 1,5 Promille des Gesamtvolumens aus. ({1}) - Ja. ({2}) - Rechnen Sie einmal nach! Ich weiß schon, wovon ich rede. ({3}) - Entschuldigung, was haben Sie gesagt? ({4}) - Unsachlich sicher nicht! ({5}) - Ach so! Woher die Promillediskussion kommt, lieber Herr Geis, das wissen wir. Es sind natürlich Prozent, Sie haben völlig recht. Wir haben praktisch kaum nachgeordnete Behörden; über eine müssen wir gleich noch reden. Die Gerichte, die in unseren Geschäftsbereich fallen - das sind übrigens hinsichtlich der Kosten nicht das Bundessozialgericht und das Bundesarbeitsgericht -, sind keine nachgeordneten Behörden. Daß ich das erwähne, hat den Grund, daß jede Stelleneinsparung der vergangenen Jahre den Bundesjustizhaushalt - ich denke an die Arbeitsfähigkeit - sofort ins Mark getroffen hat. Die dritte Gemeinsamkeit ist immer wieder allen Haushalten des Bundesjustizministeriums - ich darf hinzusagen: gerade auch den Haushalten meiner Vorgängerinnen und Vorgänger - bescheinigt worden: Stets ist der sparsame Ansatz gelobt worden. Ich denke, wenn ich Ihnen versichere, daß es so auch bleiben soll, werden Sie es mir glauben. Alles andere wäre extrem unschwäbisch. Wir bieten Ihnen, gerade auch den Kolleginnen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, unsere volle Offenheit an, so wie wir schon begonnen haben. An dieser Stelle sage ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums herzlichen Dank. Sie haben gerade in den letzten Monaten der Veränderung ein hohes Maß an Engagement und Motivation gezeigt, für das ich mich herzlich bedanken möchte. ({6}) Herr Kollege Henke, selbstverständlich haben Sie völlig recht: Über Einzelheiten wird man reden müssen. Zwei, drei Dinge, die Sie angesprochen haben, möchte ich gerne aufgreifen. Sie haben zwei Seminare bzw. Konferenzen erwähnt, die Sie nicht für gut befunden haben. Sie sollten sich das noch einmal überlegen. Diese Veranstaltungen sind weniger dazu da, daß ich da hingehe, sondern dienen dazu, daß im europäischen Rechtsraum nicht nur die Harmonisierung der Gesetze, sondern auch eine Verbesserung der Zusammenarbeit sowohl im straf- als auch im zivilgerichtlichen Bereich vorangetrieben wird. Lassen Sie uns deshalb noch einmal darüber reden. Sie werden sehen: Das ist nicht nur deswegen vernünftig, weil es schon geplant war, als ich die Haushaltsverantwortung übernommen habe. Das ist nicht neu. Zudem bitte ich darum, daß wir uns den Zustand beim Deutschen Patentamt noch einmal anschauen. Auch dort gibt es besondere Probleme, die sehr leicht und sehr schnell zu schildern sind. In Deutschland haben wir viele Erfinder, und wir sind stolz darauf. Deswegen und weil wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit großschreiben, wollen wir, daß Patentanmeldungen und Patentprüfungen schnell vor sich gehen. Wenn wir das zu einigermaßen vernünftigen und wettbewerbsfähigen Bedingungen machen wollen, benötigen wir auch die notwendige Zahl der Prüferinnen und Prüfer. Die haben wir heute nicht. Daher wird das eine der Bitten sein, mit denen wir auf Sie zukommen. ({7}) Die letzte Frage, die ich ansprechen will - auf den Täter-Opfer-Ausgleich ist bereits hingewiesen worden; ganz herzlichen Dank -, bezieht sich auf den Umzug in das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig. Ich habe den Eindruck, daß hier die Linie, die das Bundesbauministerium und auch das Bundesministerium der Justiz verfolgen, richtig ist. Wir müssen eine vernünftige Lösung finden, die Sparsamkeit mit der Notwendigkeit verbindet, dieses Symbol nutzbar zu machen. Meine Bitte ist, die Funktionsfähigkeit und die Bedeutung genau dieses Gebäudes für die Rechtspflege in den östlichen Ländern unseres wiedervereinigten Landes deutlich zu sehen. Ich denke, wir werden in den kommenden Tagen und Wochen noch miteinander darüber reden können. Nun gibt es die traditionelle Funktion der Diskussion um den Justizetat, daß man sich noch einmal überlegt: Was ist überhaupt das Wesen dieser Arbeit? Bei uns stellt sich die Frage: Was ist das Wesen der Rechtspolitik? Ich danke Ihnen, Herr Kollege Geis, insofern, als Sie mit Ihren Bemerkungen dazu übergeleitet haben. Ich bin in der Tat der Meinung, daß der Justizhaushalt auch dieses Verständnis widerspiegeln muß. Sie haben völlig recht: Rechtspolitik hat den Auftrag, zu dem zurückzuführen, was uns unsere Verfassung aufgegeben hat. Nur wenn sie ihn erfüllt, ist sie gut. Das bedeutet, die Grundentscheidungen für eine freiheitliche, rechtsstaatliche und soziale Demokratie in unserer Zeit mit den Mitteln des Rechts, einschließlich Schutz des Schwachen, durch Recht sichtbar zu machen. ({8}) Herr Geis, Sie waren bei meiner Vereidigung dabei und wissen, daß ich Ihnen folge, daß es in der Wertordnung unseres Grundgesetzes zur Menschenwürde - sprechen wir es ganz konkret aus - natürlich vorstaatliche Bindungen gibt, die wir nicht missen möchten. Sie wissen: Ich habe die religiöse Eidesformel gewählt, aber nicht jeder, der sie wählt, sieht das so wie ich. Sicher machen sich andere auch andere Überlegungen. Nicht jeder, der nicht die religiöse Formel wählt, sieht es nicht so wie ich. Deswegen lassen Sie uns es einfach so sehen, daß die Einhaltung unseres Grundgesetzes mit seiner zentralen Verpflichtung zur Bewahrung der Unantastbarkeit der Menschenwürde unsere Aufgabe ist. Jetzt will ich noch etwas zur Methode sagen. Ich habe das schon an einigen Stellen ausgeführt und will es hier noch einmal sehr deutlich machen. Die Methode der Rechtspolitik, nicht nur ihre Rückbindung an den Auftrag des Grundgesetzes muß wieder deutlich werden. Die Methode muß sein - damit komme ich wahrscheinlich wieder in die Richtung, die der Kollege Henke eingeschlagen hat -, eine Bauhütte zu errichten, so wie es Radbruch einmal gesagt hat. Das heißt, das Bauwerk und die Rückbindung müssen klar sein. Man darf nicht meinen, man könne hektisch, raus oder rein, ruck oder zuck alles neu machen wollen, sondern man muß das Bauwerk und die Rückbindung deutlich machen - ich will das noch einmal verdeutlichen -, um Schritt für Schritt in eine vernünftige Richtung zu gehen. Wir wissen, daß unsere Bundesländer einen Großteil der Verantwortung im Justizbereich tragen. Deswegen muß diese Methode der Verwirklichung von Reformen gemeinsam mit den Ländern praktiziert werden. Ich lade Sie, die Damen und Herren von der Opposition, ausdrücklich dazu ein, uns nicht nur zu begleiten, sondern mitzudiskutieren. An dieser Stelle, verehrter Herr Geis, lassen Sie mich auf folgendes hinweisen: Ich war zu lange Mitglied und auch Vorsitzende des Rechtsausschusses, um hier auch nur in den Verdacht zu geraten, daß ich die Kolleginnen und Kollegen nicht mit der gleichen Hochachtung und dem gleichen Respekt bedenken würde, wie Sie ihn hier geschildert haben. Ich darf zwei Dinge sagen. Zum einen: Ich war auf meine Anregung hin am 2. Dezember, also knapp sechs Wochen nach meiner Ernennung, im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages und habe selbstverständlich über all das informiert, über das zu informieren war. Zum anderen: Wenn Sie den Kollegen Vorsitzenden des Rechtsausschusses fragen, werden Sie auch von ihm erfahren, daß schon seit längerer Zeit - das ergibt sich auch aus dem Sitzungsplan des Rechtsausschusses - für den 3. März gegen 12 Uhr, nach der Kabinettssitzung, vorgesehen ist, daß wir in aller Ausführlichkeit über die Fragen reden, die wir bereden müssen. Ich halte das für absolut selbstverständlich. Wir werden dann auch darüber reden müssen, daß es eine Menge an Aufgaben gibt, die wir zum Teil weiterführen, zum Teil wieder aufnehmen. Diese Aufgaben reichen von der Verbesserung des Zeugnisverweigerungsrechts bis zur schleunigen Umsetzung lange verabschiedeter EG-Richtlinien. Es macht einen verdammt schlechten Eindruck, wenn die Bundesregierung durch ihre Minister Umsetzungsfristen zustimmt und sie dann nicht einhält. Da wird also eine Menge aufgearbeitet werden müssen. Das geht dann weiter bis zur Korrektur - auch das wird auf den Rechtsausschuß zukommen - des DNAGesetzes - Stichwort: genetischer Fingerabdruck - und zum Strafverfahrensänderungsgesetz, das seit mehr als 15 Jahren überfällig ist und die Grundsätze des Datenschutzes und damit auch den Persönlichkeitsschutz im Strafverfahren umsetzen soll. Alles das wird eine Rolle spielen. Darüber werden wir uns im einzelnen unterhalten. Ich würde - nicht nur weil mir das wichtig ist, sondern auch weil Sie das angesprochen haben - noch gern zu vier Feldern und einem besonderen Punkt vortragen. Das ist zum einen der Bereich einer Verbesserung der Gerechtigkeit im deutsch-deutschen Rechtsverhältnis. Wir wissen alle ganz genau - da haben Sie völlig recht, Frau Kollegin -, daß hier das eine oder andere aufgearbeitet werden muß. Keine Sorge, ich will jetzt nicht auf die Frage eingehen, ob die grundlegenden Entscheidungen 1990 in jedem Fall richtig waren. Sie sind getroffen worden, und wir haben uns heute mit den Folgen auseinanderzusetzen. Aber ich halte es für völlig falsch, weiterhin so zu verfahren, wie das in den letzten vier Jahren eingerissen ist, das heißt, hier etwas zu flicken und da etwas zu flikBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin ken, gleichzeitig aber wieder ein Loch aufzureißen und etwas aufzunehmen, was interessant oder auch wichtig sein könnte oder ist. Daher haben wir uns vorgenommen, daß wir jetzt zunächst einmal sammeln und eine Runde mit den fünf jungen Ländern machen; das wird Ende April stattfinden. Dann wollen wir das, was jetzt repariert, verändert oder an Gerechtigkeit hergestellt werden muß, zusammen als einen Schwerpunkt einbringen. Da kann man dann inhaltlich anderer Meinung sein. Aber ich glaube, Herr Kollege Funke, von der Methode her ist das genau der richtige Weg. Dazu gehören übrigens auch die Prüffragen, auf die wir großen Wert legen. Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist die europäische Zusammenarbeit. Das hat uns natürlich in den letzten 121 Tagen ganz unmittelbar beschäftigt, und zwar in der Vorbereitung, aber dann auch in der Wahrnehmung der europäischen Präsidentschaft für den Bereich der Rechtspolitik. Um was es geht, wissen wir alle. Wir brauchen den einheitlichen europäischen Rechtsraum, und zwar deswegen, Herr Kollege Henke, weil wir nicht zu einer politischen Union kommen, sondern in der Wirtschaftsunion steckenbleiben, wenn wir nicht auch eine Rechtsunion unter Beachtung der Subsidiarität haben. Ich gehe davon aus, daß das die einheitliche Meinung aller Fraktionen dieses Hauses ist. Aber wir müssen halt auch noch etwas dafür tun. Das heißt: Harmonisierung der Vorschriften, Verbesserung der strafrechtlichen Zusammenarbeit, Verbesserung auch der zivilrechtlichen Zusammenarbeit in Europa und - das ist eine der Aufgaben, die wir jetzt erledigen müssen - eine gute und vernünftige Überleitung vom Regime des Maastrichter Vertrages in den Amsterdamer Vertrag. Es gibt noch zwei Dinge, die wir aufgreifen werden. Wir müssen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit - deswegen habe ich vorher noch einmal auf das Grundgesetz Bezug genommen - auch in diesem einheitlichen europäischen Rechtsraum deutlicher und stärker zum Durchbruch bringen. Wir brauchen auch einen Grundrechtekatalog, das heißt eine Grundrechtscharta. Dazu führen wir zusammen mit der Europäischen Kommission Ende März eine Veranstaltung in Köln durch, zu der ich Sie herzlich einlade. Ich glaube, hier können wir noch ein neues Signal geben. Der nächste Punkt, der mir wichtig ist - auch dieser ist angesprochen worden -, ist die Justizreform. Lieber Herr Kollege Henke, Sie haben mich immer auf Ihrer Seite, wenn es gegen Zentralisten geht. Nicht einmal der baden-württembergische Justizminister hält die Auffassung aufrecht, wir wollten irgendwo an die Amtsgerichte heran. Nichts wäre falscher. Ich habe das in diesem Hause schon mehrfach gesagt. Wie die Eingangsgerichte organisiert werden, wie sie heißen oder ob es da eines oder zwei gibt, gehört nicht zu den Aufgaben des Bundesgesetzgebers. Damit kann man vielleicht noch Stimmung machen, aber das wäre von der Sache her natürlich nicht gerechtfertigt. Es geht darum, die Ziele Bürgernähe, Transparenz und Effizienz unter Berücksichtigung auch der Kostenproblematik der Länder zu erreichen. Zugleich geht es - das habe ich gerade angesprochen - um den Einbau des deutschen Justizsystems in das Rechtssystem Europas. Wenn wir das wollen, dann ist es vernünftig, die Eingangsgerichte zu stärken und die außergerichtliche Streitschlichtung obligatorisch vorzuschalten, die Mittelgerichte auf die Fehlerkontrolle zu konzentrieren und die Obergerichte auf die Wahrung von Rechtseinheitlichkeit und Rechtsfortbildung auszurichten. Dort können wir vielleicht - auch mit diesem Vorschlag werde ich auf Sie zukommen - die Verfahrensrüge ansiedeln, weil ansonsten das Bundesverfassungsgericht, das wir dringend brauchen, erstickt. Das ist die Grundidee, Herr Henke. Über die Frage, wie wir anfangen, sind wir schon mit den Ländern, aber auch mit Ihnen im Gespräch. Klar ist, daß die eben erwähnten Ziele nur Schritt für Schritt zu erreichen sind. Beginnen wollen wir in diesem Jahr im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit mit der Rechtsmittelreform. Im nächsten Jahr wird es dann im Bereich der Strafgerichtsbarkeit weitergehen. Damit kommen wir, wie ich glaube, vernünftig zum Ziel. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Bündnis gegen Gewalt. Dazu ist hier schon vieles gesagt worden, was ich für richtig halte. Nur wäre es mir sehr recht, Herr Geis, wenn wir aus dem europäischen Rechtsraum heraus zur Kenntnis nähmen, welche guten Erfahrungen bereits jene Länder gemacht haben, die verbindlich in das Familienrecht geschrieben haben, daß ein Kind nicht nur ein Recht auf eine Erziehung, sondern auch auf eine gewaltfreie Erziehung hat, daß also Gewalt als Erziehungsmittel nicht erlaubt ist. Ich weiß doch, daß Sie als Vater den Beispielfall, den Sie gewählt haben, auch nicht dadurch lösen würden, daß Sie das Kind mit gewaltsamen Methoden herausholten. Sie hätten früher angesetzt und die Möglichkeiten der Erziehung genutzt, die Erwachsenen zu Gebote stehen. Uns muß es darum gehen, nicht nur am Sonntag über die zunehmende Gewalt und Gewaltbereitschaft in unserem Land zu klagen, sondern in den Bereichen zu handeln, in denen Politik und Gesellschaft etwas tun können. Deswegen halten wir an dem Bündnis gegen Gewalt fest. Ein letzter Punkt ist die Frage der Erweiterung des Sanktionensystems. Diese Erweiterung muß sein. Hier können wir auf der Arbeit einer Kommission aufbauen, die Sie unter der Leitung des verdienten bisherigen Kollegen von der CDU, Horst Eylmann, dankenswerterweise eingerichtet haben. Wir haben diese Kommission personell etwas erweitert und sie gebeten, die Arbeiten zeitlich zu straffen. Das Ziel der Erweiterung des Sanktionensystems im Bereich des Erwachsenenstrafrechts muß es sein, daß wir rechtsstaatlich tat- und schuldangemessen bestrafen können und daß wir dort - darauf kommt es mir an -, wo es heute nicht mehr funktioniert, einen Denkzettel derart verabreichen, daß die Betroffenen die Einhaltung der demokratisch beschlossenen Gesetze nachvollziehen können und akzeptieren. Meine Damen und Herren, da wird nun alles vom selbständigen Fahrverbot über die Ersatzfreiheitsstrafe, die durch gemeinnützige Arbeit abgelöst werden soll - „Schwitzen statt Sitzen“ -, und den Täter-OpferAusgleich bis hin zum überwachten Hausarrest, aber auch das Vorgehen gegen Alltagskriminalität erörtert werden, so daß wir danach relativ schnell mit Vorschlägen auf Sie zukommen können. Das muß nach unserer Auffassung nicht nur um des Rechtsstaates willen sein, sondern auch deswegen, weil wir erreichen müssen, daß diejenigen, die ins Gefängnis gehören, dort auch wieder resozialisiert werden können. Das brauchen wir unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Opfer und des Schutzes vor Wiederholungstätern. Sie sehen, lieber Herr Kollege Henke, der Justizhaushalt ist wichtig. Er muß sich noch verändern. Ich werbe um Ihre Unterstützung. Es ist wichtig, daß wir hier einige Schritte nach vorne kommen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor. Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Ludwig Stiegler.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Innenpolitik hat Konjunktur. Der Bundesinnenminister hat vom ersten Tag seiner Amtsführung an stürmische Zeiten erlebt. Ich finde, er hat eine wirklich gute Figur abgegeben. Ich möchte ihm herzlich für das danken, was er gemacht und auch durchgestanden hat. ({0}) Er hat schon mit der richtigen Dimension begonnen. Wir haben gelernt, daß die Innenpolitik keine allein nationale Angelegenheit mehr ist. Der Raum der Freiheit, des Friedens und des Rechts ist eine europäische Veranstaltung. Wenn Sie sich ansehen, wie die europäische Innenpolitik in den letzten Wochen und Monaten intensiviert worden ist, dann stellen Sie fest, daß das wirklich die Handschrift eines europäischen Bürgers trägt, der eben erkannt hat, daß wir das mit nationalen Maßnahmen allein nicht mehr bewältigen. ({1}) Herzlichen Dank für diese Europäisierung und für diese Breite. - Daß ihr beide blind seid, ist schon bekannt. Das müßt ihr jetzt nicht unterstreichen. ({2}) - Ich weiß, Sie wollen lieber gehen. Meine Damen und Herren, er hat auch die richtigen Akzente gesetzt, nämlich weg von der reinen Repression und hin zur Prävention. Eine der ersten Maßnahmen war die Teilnahme am Präventionstag, auf dem deutlich geworden ist, daß man allein mit einer schwarzen Haudrauf-Politik die Probleme der inneren Sicherheit nicht löst, sondern daß das Thema der Prävention, der Kriminalitätsvermeidung mindestens so wichtig ist wie das Thema der Kriminalitätsbekämpfung. Das wäre endlich einmal zu lernen, und danach wäre endlich einmal zu handeln. Aber das wollen Sie nicht. Dann hätten Sie gar keine Möglichkeit mehr herumzupolemisieren. Deshalb werden Sie auf das differenzierte Geschäft der Prävention mental nie eingestellt sein. ({3}) Sie haben doch aus diesem Grund eine schwere Störung des inneren Friedens in diesem Lande herbeigeführt. Wenn ich die unsägliche Unterschriftenaktion sehe, wenn ich sehe, was Sie an braunem und völkischem Sumpf hochgespült haben, ({4}) so ist das wirklich ein Anschlag auf den inneren Frieden. Sie haben mit geradezu kriegswissenschaftlichen Methoden der Mobilisierung des müden Vereins CDU nach der Methode CSU Krawall gemacht. So sieht doch die Situation aus. ({5}) So dient man dem inneren Frieden nicht. Nichts gegen ernste Besorgnisse; aber diese Art und Weise des Vorgehens ist durch nichts zu rechtfertigen. Sie werden mit dieser Methode das Projekt einer wirklichen Reform des Staatsbürgerschaftsrechts nicht verhindern können. Sie werden es nicht schaffen, daß wir etwa den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nicht erledigen, das einen Zusammenhang zwischen der Übereinstimmung von Staatsvolk und Gesetzesunterworfenen und der Einbürgerung hergestellt hat. Wir werden die Einbürgerung erleichtern. Herr Rüttgers hat ein schönes Papier über Integration gemacht und hat viele Versäumnisse aufgezählt. Was Herr Rüttgers aufschreibt, ist nichts anderes als ein Schuldanerkenntnis der Versäumnisse der Vergangenheit. Er hat zugegeben, daß in diesem Bereich bisher nichts geschehen ist. ({6}) Aber Sie haben es für eine billige Polemik verwendet. Ähnlich ist es im Bereich Flucht und Asyl. Wir müssen zusammen mit den für Äußeres zuständigen Politikern endlich beginnen, die Fluchtursachenbekämpfung wirklich ernst zu nehmen. Innen- und Außenpolitik müssen auf diesem Felde intensiver zusammenarbeiten. Wir fordern natürlich auch die Härtefallregelung ein. Hier erwarten wir von den Ländern, daß sie mit dem Bundesinnenminister kooperieren. Zur Integration gehört auch die Integration der Aussiedler. Sie haben Millionen Menschen ins Land geholt, aber für die Integration herzlich wenig unternommen. Ich denke an die Probleme der jugendlichen Aussiedler, ich denke an Sprachprobleme, ich denke an die damit zusammenhängende Kriminalität. Das ist das eigentliche Thema. Ich danke dem neuen Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, unserem Kollegen Jochen Welt, daß er den Integrationsetat trotz der schwierigen Haushaltslage aufstocken konnte. Das ist ein Zeichen, daß wir die Integration miteinander ernst nehmen. ({7}) Ich kann hier nicht alle Projekte durchgehen. Wir haben ein weiteres wichtiges Projekt, nämlich den Datenschutz. Hier haben Sie es versäumt, europäische Richtlinien umzusetzen. Es droht eine Verurteilung, die abgewendet werden muß. Deshalb ist es wichtig, daß wir hier bald mit einer ersten Datenschutznovelle Ihre schwere Erblast überwinden und endlich wieder „à jour“ mit den Pflichten sind, die wir zu erledigen haben. Zum Zuständigkeitsbereich des Innenministers gehört auch der Sport. Auch hier hat der Innenminister sofort Zeichen gesetzt. ({8}) Seine internationale und nationale Sportpolitik kann sich wirklich sehen lassen. Ich möchte ihm herzlich dafür danken, daß er gerade der Dopingbekämpfung eine solche Aufmerksamkeit gewidmet hat. Wir müssen den Sportverbänden klarmachen, daß wir dann, wenn sie selber keine rechtsstaatliche Lösung finden, in der Politik mithelfen werden, um eine solche Lösung zu erreichen. Ich danke meiner Kollegin Dagmar Freitag, die mit ihrer Arbeitsgruppe „Sport“ hier wesentliche Vorarbeiten geleistet hat, auf die der Bundesinnenminister zählen kann, wenn es um Anregungen und um Kontakte zum Sport geht. Hier wollen wir Akzente setzen. ({9}) Als Fußballer kann ich nur herzlichen Dank für die Unterstützung der Bewerbung um die Fußballweltmeisterschaft sagen. Auch das ist eine tolle Sache. ({10}) - Das stinkt dir jetzt, daß Franz Beckenbauer die Bundesregierung lobt. Aber das ist euer Pech. Ihr habt so etwas ja nicht zustande gebracht. Otto Schily hat dieses Tor geschossen. Herzlichen Glückwunsch! Sie haben zu lange geschlafen. ({11}) - Das würde ich eher schaffen als Sie. Für Sie müßte man eine „Mundwerksmeisterschaft“ austragen, damit Sie gute Chancen hätten. Aber wir wollen eine Fußballmeisterschaft. Es gibt einen Punkt in unserem Haushalt, um den wir mit unseren Haushältern ringen müssen. Ich schaue dabei Hans Georg Wagner, aber auch die anderen Haushälter an. Wir wollen, daß der Goldene Plan Ost auch im Haushalt seinen Niederschlag findet. ({12}) Wir wollen, daß der Aufbau einer Breitensportbewegung hier seinen Niederschlag findet. Ich komme aus dem ehemaligen Zonenrandgebiet. Wir haben eine hervorragende nationale Zonenrandförderung gehabt, mit der wir unglaublich vielen Sportvereinen helfen konnten. Wir wollen vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der früheren Breitensportförderung im Zonenrandgebiet dem Sport gerade in den neuen Ländern zum Durchbruch verhelfen. ({13}) Hier sollten wir alle zusammen die Haushälter nerven, so wie es in der Bibel beschrieben wird, nämlich siebenmal die Mauer von Jericho umkreisen, bis sie endlich einfällt. Wir müssen das so lange machen, bis wir die richtigen Entscheidungen treffen können. Wir werden also unsere Gruppe „Sport“ aktiv unterstützen, damit wir das gemeinsam voranbringen. Ich möchte auch noch ein schwieriges Thema ansprechen. Viele werden im Wahlkreis ähnliche Erfahrungen gemacht haben: Viele Vereine haben Probleme mit der Steuerprüfung und der Sozialversicherung. Unglaublich viele Vereine stehen vor dem Konkurs. Da ist auch viel Lumperei betrieben worden, aber wir werden uns in aller Ruhe mit den Sportverantwortlichen, mit den Finanz- und Sozialversicherungsfachleuten zusammensetzen. Es kann nicht sein, daß viele Vereinsvorsitzende aus Angst vor der Haftung für Dinge, die sie nicht voll durchschauen, in ihren Aktivitäten gebremst werden. Wir haben als Parlamentarier die Pflicht, hier alle Sportlerinnen und Sportler sowie die aktiven Verantwortungsträger zu schützen. ({14}) - Das ist nur ein Thema von vielen. Entscheidend ist, daß die Vereinsvorsitzenden mit ihren Aufgaben zurechtkommen und nicht steuerlich überfordert werden. Es gibt zwar Großvereine, die als Gewerbebetriebe geführt werden. Ich habe das erste Handbuch über die Bilanzierung von Fußballern und über die Abschreibungsmöglichkeiten auf dem Tisch. Das mag ja alles richtig sein. Aber unsere Sorge muß auch dem Breitensport gelten, soweit er durch Bundesgesetze betroffen ist, wenn auch sonst allein die Förderung des Spitzensportes Aufgabe des Bundes ist. In der Innenpolitik gibt es eine spannende Zeit. Wir haben einen starken Innenminister und freuen uns, daß wir mit ihm zusammen diese Aufgaben bewältigen können. Sie werden es nicht schaffen, durch Ihren Versuch, die Menschen aufzuhetzen, den inneren Frieden zu stören. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Jürgen Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Rede dieses Abgeordneten Stiegler sage ich nichts. Während wir in Berlin eine ausgesprochen schwierige Sicherheitslage haben, äußert er hier Diffamierungen und macht Ausführungen zu Übungsleitern. ({0}) Das soll verstehen, wer will, aber jede Rede hat halt das Niveau, das dem Redner entspricht. Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Das ist die erste Lesung des Einzelplans des Bundesinnenministers. Nach einem alten parlamentarischen Brauch ist es gute Übung, daß der zuständige Minister seinen Einzelplan hier vorträgt und begründet. Der jetzt amtierende Bundesinnenminister hat sich geweigert, als erster in dieser Debatte zu sprechen; deshalb mußten wir die Ausführungen von Herrn Stiegler hören. Herr Schily, ich kann verstehen, daß Sie sich schämen, diesen Einzelplan hier vorzutragen. Sie werden jetzt am Schluß reden. Sie kommen anscheinend immer zu spät. ({1}) Nach etwas mehr als 100 Tagen steht der Bundesinnenminister Schily vor dem Scherbenhaufen seiner Politik bei der Zuzugsbegrenzung von Ausländern, bei der Staatsangehörigkeit und auch im Fall Öcalan. Es gibt eine alte Erkenntnis - auch in der Innenpolitik -: Wer Schwäche sät, der erntet Gewalt. So sieht das Resultat Ihrer Politik im Fall Öcalan aus. Ängstlich und leichtfertig hat die Schröder-Regierung gehandelt, als sie im November auf die Auslieferung von Öcalan verzichtet hat. ({2}) Sie hat damit eine schwere Verantwortung auf sich geladen. Die Justiz wurde aus Opportunitätsgründen daran gehindert, Recht zu sprechen. Internationale Haftbefehle, von deutschen Behörden veranlaßt, wurden Makulatur. Die Bundesrepublik Deutschland setzt sich dem Verdacht der Erpreßbarkeit aus. Die Schröder-Regierung - ich erinnere an die gestrige Regierungserklärung von Herrn Schily - hat versucht, die Kapitulation des Rechtsstaats damit zu rechtfertigen, daß bei einem Strafverfahren gegen Öcalan in Deutschland gewaltkriminelle Ausschreitungen auf deutschen Straßen zu befürchten seien. Jetzt haben wir bürgerkriegsähnliche Zustände trotz dieser Kapitulation. Was hat die Schröder-Regierung eigentlich national wie international seit Dezember unternommen? Wo ist der internationale Gerichtshof, der hier groß angekündigt worden ist? Wo ist der internationale Gerichtshof, vor den Öcalan gebracht werden sollte, damit auch seine Menschenrechte gewahrt bleiben? - Nichts ist passiert! Schlechter als jetzt konnte man es jedenfalls im Ergebnis nicht machen. ({3}) Herr Schily, damit das klar ist: Ich werfe weder der Bundesregierung noch Ihnen vor, daß Sie eine Schuld an den Krawallen, die zuletzt stattgefunden haben, haben. Aber Sie haben durch Ihr Verhalten den Eindruck erweckt, daß der deutsche Rechtsstaat den Kopf einzieht, wenn es schwierig wird, und daß er vor Drohungen auf die Knie geht. Sie haben ein Umfeld der Erpreßbarkeit und der Nachgiebigkeit geschaffen. ({4}) Niemals darf Deeskalation so weit gehen, daß Politik und Rechtsstaat vor der Gewalt kapitulieren. ({5}) Eine Kapitulation des Rechtsstaats war der Verzicht auf das Auslieferungsbegehren. Eine Kapitulation des Rechtsstaats ist aber auch das, was wir in den vergangenen Tagen gesehen haben: daß Unterstützer der verbotenen PKK alles kurz und klein geschlagen und anschließend freien Abzug bekommen haben. Der Bundeskanzler und der Bundesinnenminister haben davon gesprochen, daß die gewaltkriminellen Demonstranten die ganze Härte des Gesetzes treffen müsse. - Richtig! Wie paßt aber dazu das Vorgehen - besser gesagt: das Nichtstun - in Düsseldorf und in Hamburg? Büros und Geschäftsräume wurden verwüstet. Ich war da und habe mir das Konsulat und auch die mittelständische Firma, die zufällig das Pech hatte, zwischen zwei Etagen des Konsulates zu liegen, angesehen. Nichts paßte dort mehr. ({6}) - Ich war wenigstens da; sonst war keiner anwesend, weder von der Bundesregierung noch von der Düsseldorfer Regierung. Ich finde es übrigens ziemlich schäbig, diejenigen Menschen, die Gewalt erlebt und Angst gehabt haben, völlig alleine zu lassen. ({7}) Nachdem dort alles verwüstet war, zogen die Täter völlig unbehelligt ab, von Festnahme keine Spur, nicht einmal die Personalien sind aufgenommen worden. ({8}) All das wird durch handwerkliches Unvermögen, peinliche Informationspannen im Kanzleramt und im Innenministerium umrahmt. ({9}) Es ist ein Aberwitz, daß Kurdenorganisationen und Nachrichtenagenturen Stunden vor den zuständigen Ministern über die Verhaftung Öcalans unterrichtet waren. Herr Schily, kümmern Sie sich endlich um Ihr Ministerium! Sorgen Sie endlich für Sicherheit in unserem Land, statt immer nur zu reden, zu prüfen und anzukündigen. ({10}) Gegen die Gewalttäter muß entschlossen und konsequent vorgegangen werden - bis hin zur Ausweisung und Abschiebung. Wir können und wir dürfen nicht dulden, daß innertürkische Konflikte gewaltsam auf deutschem Boden ausgetragen werden. Deutsche Gesetze gelten für alle, für Kurden, für Türken und für Deutsche. ({11}) Wer hier Straftaten begeht, seien sie politisch motiviert oder nicht, verwirkt sein Gastrecht und muß raus. ({12}) Die Kurdenkrawalle geben eine Lehre über den Tag hinaus. ({13}) Ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören, aber ich sage es trotzdem. ({14}) - Sie können hier soviel schreien, wie Sie wollen, ich habe jetzt das Wort. Wir sind noch nicht soweit, daß in diesem Parlament jemand durch Brüllen mundtot gemacht wird, Herr Penner, damit das ein für allemal klar ist. ({15}) Ich wiederhole, ob Sie das nervt oder nicht: Über den Tag hinaus kann man lernen: Die doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall darf nicht eingeführt werden. ({16}) Wären die Pläne der Schröder-Regierung bereits geltendes Recht, wären viele der kurdischen Gewalttäter längst deutsche Staatsbürger und könnten alleine schon deshalb nicht ausgewiesen oder abgeschoben werden. ({17}) Jetzt hat der Bundesinnenminister angekündigt, er wolle Gesetzesverschärfungen im Bereich des Ausweisungsrechts prüfen. Herr Schily, wir nehmen Sie beim Wort. Es darf aber nicht wie so oft bei Verbalkosmetik bleiben. ({18}) Es darf nicht nur geredet werden, es muß auch gehandelt werden. Im übrigen ist es ja auch noch gar nicht so lange her, daß SPD und Grüne im Bundestag wie übrigens auch im Bundesrat Vorschläge der CDU/CSU-Fraktion sowie entsprechende Initiativen der Bayerischen Staatsregierung zur Verschärfung des Ausweisungsrechtes scharf bekämpft haben. ({19}) Wir schlagen folgende Gesetzesänderungen vor: Erstens. Zwingende Ausweisung muß künftig bereits bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einem Jahr stattfinden. Zweitens. Ausländer, die an kollektiven und gewalttätigen, insbesondere extremistischen Ausschreitungen teilnehmen, müssen auch ohne rechtskräftige Verurteilung ausgewiesen und abgeschoben werden können. ({20}) Schon die nachweisliche Beteiligung an gewalttätigen Demonstrationen muß zwingend zur Ausweisung führen. ({21}) - Das ist noch nicht so, Herr Westerwelle. Drittens. Auch die Unterstützung einer verbotenen Organisation, wie sie die PKK ist, muß zwingend zu einer Ausweisung führen. ({22}) Viertens. Der Ausweisungserlaß ist wertlos ohne tatsächliche Abschiebung. Bereits Bundesminister Kanther hatte mit seinem türkischen Amtskollegen eine Verfahrensabsprache für die Rückführung von PKK-Anhängern getroffen. ({23}) Diese stellt sicher, daß kein Abgeschobener nach Rückkehr in die Heimat rechtsstaatswidrig behandelt wird. ({24}) Wir sind der Auffassung, daß diese Vereinbarung jetzt konsequent angewendet werden muß. Sollten Sie der Auffassung sein, daß dies nicht ausreicht, dann fordere ich die Bundesregierung auf, schnellstens eine entsprechende völkerrechtliche Regelung mit der Türkei abzuschließen. Es darf nicht sein, daß ausländische Straftäter nur deshalb vor Abschiebung in die Türkei geschützt sind, weil sie sich hier zur PKK bekennen. Es ist pervers, wenn PKK-Mitglieder nicht in die Türkei abgeschoben werden können, weil sie in Deutschland Gewalt anwenden. Es kann nicht bei dem paradoxen Ergebnis bleiben, daß Kurden vor AbschieDr. Jürgen Rüttgers bung um so besser geschützt sind, je mehr sie sich hier durch antitürkische Gewaltaktionen hervortun. Das Begehen von Straftaten darf nicht länger mit einem Bleiberecht in Deutschland belohnt und prämiert werden. ({25}) Meine Damen und Herren, die Wähler in Hessen haben der doppelten Staatsangehörigkeit eine Abfuhr erteilt. Jetzt sucht die Regierung nach einem Ausweg. ({26}) Sie glaubt, ihn in dem Optionsmodell gefunden zu haben. Die SPD irrt, wenn sie meint, dieses Modell ließe sich ohne die CDU/CSU durchsetzen. Richtig ist vielmehr, daß das Optionsmodell verfassungsfest nur durch eine Änderung des Art. 16 eingeführt werden könnte. ({27}) Das entspricht übrigens auch der Auffassung des Bundesinnenministers. Art. 16 unseres Grundgesetzes läßt eine Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit nicht zu. Eine Einführung von Verlustgründen ist nur unter bestimmten engen Voraussetzungen möglich. Unverzichtbar dafür ist - diesen Punkt hat das Bundesverfassungsgericht nachdrücklich klargestellt - eine aktive Mitwirkung des Betroffenen. ({28}) Eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Optionsfrist kann also nur dann vorgesehen werden, wenn gleichzeitig Art. 16 des Grundgesetzes dahin gehend ergänzt wird, daß auch ohne aktives Mitwirken des Betroffenen, zum Beispiel im Falle seiner Untätigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes untergehen kann. ({29}) Eine solche Verfassungsänderung ist nur mit Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion möglich. Wer also etwas von uns will, der muß mit uns verhandeln. ({30}) Dazu muß die Regierung aber zunächst einmal sagen, was sie überhaupt will und was sie überhaupt durchsetzen kann. Ich habe mit großem Interesse der Presse entnommen, daß 18 Abgeordnete der SPD-Fraktion in einem Papier das Optionsmodell als „größten anzunehmenden Unfug“ bezeichnet haben. ({31})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rüttgers, nachdem Sie eingangs Ihrer Rede moniert haben, der Bundesinnenminister ergreife zu Beginn der Debatte über den Einzelplan 06 nicht das Wort, muß ich fragen: Ist denn noch damit zu rechnen, daß Sie etwas zu diesem Haushalt sagen?

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die neuen Kollegen vorwerfen, daß sie noch nicht die notwendige Erfahrung haben. Ich darf Ihnen trotzdem sagen, daß die erste Lesung immer die Debatte über die Politik, die hinter dem Haushalt steht, beinhaltet. ({0}) Ich beschäftige mich mit der Politik des Bundesinnenministers. Insofern bin ich genau beim Thema. Wenn Sie wollen, erkläre ich Ihnen diesen Sachverhalt nachher etwas genauer. ({1}) - Das ist keine schwache Antwort, sondern genau die passende Antwort auf die Frage. Es kann doch nicht sein, daß wir angesichts der schwierigen Lage im Lande jetzt beispielsweise über Übungsleiter diskutieren. Wir diskutieren jetzt über die Sicherheitslage und die großen Themen, die die Menschen interessieren. Vor lauter Machtbesoffenheit kapieren Sie nicht mehr, was die Menschen interessiert. Wir dagegen versuchen, die Sorgen der Menschen aufzunehmen. ({2}) Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß mit der Union die Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit nicht zu machen ist. Was vom Abgeordneten Stiegler eben zur Meinungsäußerung von vielen Millionen Menschen in diesem Land mittels der Unterschriftenaktion gesagt worden ist - ich will seine Äußerungen über eine angebliche Schuldanerkenntnis gar nicht näher qualifizieren, ist mir zu billig. ({3}) Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen, Herr Stiegler - vielleicht fällt Ihnen das nicht so auf, gerade weil Sie aus Bayern kommen -, daß in Bayern eine sehr fortschrittliche Integrationspolitik gemacht worden ist. Ich schildere Ihnen einmal die Situation seit Jahren im rotgrün regierten Nordrhein-Westfalen: Für 500 000 ausländische Kinder stehen in Nordrhein-Westfalen nur 3 500 Lehrer für Förderunterricht zur Verfügung. ({4}) Jedes Kind bekommt also pro Woche nur acht Minuten Förderunterricht. Sich dann hier hinzustellen und von Integration zu sprechen ist eine Heuchelei und nichts anderes. ({5}) Man müßte sich jetzt noch im Detail - Stichwort: Verfassungstreue und Sprachfähigkeit - mit den Plänen auseinandersetzen, die Herr Schily vorgelegt hat. Es lohnt sich aber nicht mehr, weil wir gerade erfahren haben, daß Herr Schily seinen Entwurf zurückziehen mußte. Er ist also mit seinem Entwurf gescheitert und muß ihn überarbeiten. ({6}) Herr Schily, ich sage Ihnen: Wenn Sie noch einmal solche Ungereimtheiten wie im ersten Entwurf vorlegen sollten, dann werden Sie damit ein weiteres Mal scheitern. Ihre Tragik ist - insoweit können Sie einem schon fast leid tun -, ({7}) daß Sie von anderen in Schlachten geschickt und dann plötzlich allein gelassen werden. Das ist Ihnen nicht nur in der Frage des Staatsangehörigkeitsrechtes passiert, sondern jetzt leider auch bei den Tarifverhandlungen. Wer Sie etwa gestern bei Ihrem Gefühlsausbruch beobachtet hat, der kann spüren, wie verkrampft und unsicher Sie geworden sind. ({8}) Sie werden ins Feuer geschickt und dann allein gelassen. Der Bundesfinanzminister animiert die Gewerkschaften, bei Lohnforderungen nicht zimperlich zu sein. Damit untergräbt er gleichzeitig Ihre Position bei den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst. Herr Schily, ich sage Ihnen: Wehren Sie sich rechtzeitig, sonst werden Sie auch in diesem Bereich scheitern! Es reicht nicht, den Zuhörern das zu sagen, was Sie gerne hören wollen, dann aber etwas anderes zu tun. Sie haben dem Deutschen Beamtenbund in Kissingen versichert, Sie stünden zum Berufsbeamtentum. Der BMF beginnt bereits mit der Umwandlung von Beamtenstellen. ({9}) Ich sage Ihnen für meine Fraktion: Die Beamten, Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes haben ein Recht auf uneingeschränkte Teilhabe an der allgemeinen Einkommensentwicklung. Wir greifen nicht in die Tarifverhandlungen ein, aber Sonderopfer für Beamte sind mit uns nicht zu machen. Es gibt überhaupt keinen Grund, die Prinzipien des Art. 33 des Grundgesetzes für den öffentlichen Dienst in Frage zu stellen oder gar kaputtzureden. ({10}) Bisher galt: Wer viel schafft, macht Fehler. Nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Seitdem es diese rotgrüne Regierung gibt, gilt etwas Neues: Sie tut fast nichts und macht trotzdem nur Fehler. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich bitte um ein bißchen mehr Ruhe. Ich habe es eben mit der Glocke versucht. Sie soll eigentlich sagen, daß es im Plenum etwas ruhiger sein sollte. Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Cem Özdemir.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer vorhin die rechtspolitische Debatte mitbekommen hat, hat die Sensibilität der Kolleginnen und Kollegen von der Union erlebt und erfahren, wie wichtig ihnen die Würde des Parlaments und die Achtung vor dem Parlament ist. Wer aber gerade die Rede des Kollegen Rüttgers gehört hat, muß feststellen: Das war unterirdisch. Mit Achtung vor dem Parlament und Debattenkultur hatte das nicht sehr viel zu tun. ({0}) Aber jetzt zum Thema. Ich bin froh, daß wir einen Innenminister haben, Innenminister Schily, der sich mit Sachlichkeit bemüht, klarzumachen, daß in der Innenpolitik eine neue Epoche begonnen hat, indem mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam versucht wird, die Probleme in dieser Gesellschaft zu lösen. Herr Stiegler hat auf einen sehr wichtigen Punkt hingewiesen: Zukünftig spielt neben der entschiedenen Bekämpfung von Kriminalität, neben der Durchsetzung von innerer Sicherheit auch der Gedanke der Prävention die Rolle, die er einnehmen muß. Ich möchte auf einen Punkt eingehen, den ich für sehr wichtig halte und der in der Debatte bisher leider zuwenig behandelt worden ist. Wir brauchen dringend eine Modernisierung von Staat und Verwaltung. Wir wollen mehr Bürgerbeteiligung, mehr Transparenz in der Gesellschaft. Dazu gehört - das wurde kurz angesprochen - auch das Überdenken der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums. Wir wollen, daß, ausgenommen bei hoheitlichen Aufgaben, zukünftig Angestellte der Regelfall werden. Ich finde es ausdrücklich lobenswert - die neue Bundesregierung hat ihren Beitrag dazu geleistet -, daß weltweit Maßnahmen gegen Korruption und Bestechung durchgesetzt werden. Was wir mindestens genauso dringend auf den Weg bringen müssen, sind Akteneinsichtsrechte, wie wir sie in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen haben. Auch das wird dazu beitragen, daß diese Demokratie ausgebaut wird und daß der Bürger und die Bürgerin das Gefühl haben, daß sich der Staat nicht vor ihnen versteckt, sondern der Staat der Bürger ist. ({1}) Wir wollen eine Mitmachgesellschaft, eine Zivilgesellschaft, in der wir die Kompetenz der Menschen einbeziehen wollen. Diese Regierung stellt sich den Bürgerinnen und Bürgern; sie versteckt sich nicht vor ihnen. ({2}) - Auf die Staatsbürgerschaft gehe ich gleich ein, Herr Kollege Marschewski. Aber bevor ich auf diesen Punkt eingehe, gestatten Sie mir eine Bemerkung zur PKK. Ich dachte eigentlich, daß wir diese Debatte gestern früh abgeschlossen hätten. Offensichtlich hat der Kollege Rüttgers sie nicht mitbekommen. Deshalb will ich gerne noch einmal einen Kernbestandteil wiederholen. Es ist nicht die Fraktion der SPD, und es ist auch nicht die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sondern es war die Fraktion der CDU/CSU, die jahrelang Geheimkontakte zur PKK unterhalten hat. In Ihrer Fraktion war ein Abgeordneter, der mehrfach dort war und sich mit Herrn Öcalan unterhalten hat. Ich möchte den Innenminister Schily fragen, ob er nicht einmal prüfen kann, was in diesen Gesprächen genau vereinbart wurde. Mich würde beispielsweise interessieren - soviel zum Thema innere Sicherheit -, ob stimmt, was wir gehört haben - das Parlament hat das Recht, dies zu erfahren -, daß ein wichtiges Thema dabei war, daß die PKK einen Gewaltverzicht in Deutschland erklären sollte. Mich würde interessieren: Hat Herr Lummer sich auch dafür eingesetzt, daß dieser Gewaltverzicht ebenso für Kurdinnen und Kurden gilt, die nicht bei der PKK sind? Galt dieser Gewaltverzicht auch für türkische Einrichtungen? Ich kann Ihnen mehrere Beispiele nennen, wo von PKKlern türkische Einrichtungen angegriffen und Konzertveranstaltungen bedroht worden sind, wo man gesagt hat, das Konzert dürfe nicht stattfinden. Hat Herr Lummer auch darüber geredet? ({3}) Oder hat er immer nur den Willen gehabt, für die deutschen Einrichtungen zu sorgen? Das würde mich sehr interessieren. Mich würde auch interessieren, ob dabei beispielsweise gesagt wurde: Woanders dürft ihr gerne Randale machen, nur in Deutschland bitte nicht. - Das Parlament hat das Recht, dies zu erfahren. Was wurde hier besprochen? Was hat Herr Lummer mit Herrn Öcalan zu besprechen gehabt? Noch ein Punkt, da wir gerade beim Thema PKK sind. Sie haben das Staatsangehörigkeitsrecht angesprochen. Was Sie da sagen, wird nicht dadurch wahrhaftiger, daß Sie Unwahrheiten wiederholen. Es war die alte Bundesregierung, die Herrn Ghasi, den Deutschlandvertreter, den Quasidiplomaten der PKK, eingebürgert hat. Herr Innenminister Schily hat einen Entwurf vorgelegt, der von uns getragen wird und der genau dies zukünftig verhindern würde. ({4}) Zukünftig werden Extremisten, Angehörige der Grauen Wölfe, PKK-Aktivisten nicht mehr eingebürgert. Sie haben dies zugelassen. Wir alle kennen die Beispiele. ({5}) Es war doch die CSU in Bayern, die beispielsweise zu Herrn Türkesch, einem der schlimmsten Faschisten der Türkei, beste Kontakte unterhalten hat. Wir werden genau dies nicht machen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie haben jetzt zur PKK gesprochen. Gestern hat der Bundesinnenminister in der Debatte, auf die Sie sich eben bezogen haben, ausdrücklich erklärt, daß die neue Bundesregierung am Verbot der PKK festhält. Was mich interessieren würde, da Sie auch innenpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion sind: Ist das auch die Meinung der grünen Bundestagsfraktion? Kann der Bundesinnenminister auf die Unterstützung einer wichtigen Fraktion im Deutschen Bundestag, der grünen Bundestagsfraktion, zählen, wenn es um diese Verbotsentscheidung geht? Ich frage das deshalb, weil mir heute ein Antrag der Grünen in Niedersachsen gegeben wurde - die grüne Fraktion im Landtag fordert, das Verbot der PKK aufzuheben - und weil ich ein Interview von Frau Beer in der „Berliner Zeitung“ vom 8. Dezember im Kopf habe, in dem sie erklärt hat, das Verbot der PKK müsse aufgehoben werden. Wie ist die Position der Fraktion der Grünen, die uns der innenpolitische Sprecher jetzt sicherlich mitteilen kann? ({0})

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich danke Ihnen für diese Frage. Die Äußerung der Kollegin Beer fand zu einem Zeitpunkt statt, bevor Herr Öcalan in die Türkei entführt wurde. Es ist völlig klar, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Aufhebung des PKK-Verbotes kein Thema sein kann. Wir teilen die Position von Innenminister Schily in dieser Frage ohne jede Einschränkung. ({0}) Auch dazu will ich etwas sagen. Das wird Sie vielleicht wundern. Es betrifft weniger Sie, Herr Westerwelle, als die Kolleginnen und Kollegen von der Union. ({1}) - Hören Sie einmal zu! Jetzt kommt etwas ganz Interessantes für Sie. - Wie sind wir in der Praxis mit dem PKK-Verbot umgegangen, und zwar auch in den unionsregierten Ländern? Viele Vereine, die der PKK nahestanden, sind - auch Herr Kinkel weiß das sicher noch verboten worden. Was ist passiert? Die Leute sind nicht vom Erdboden verschwunden; sie sind nicht alle auf einmal unsichtbar geworden. Sie haben zum Teil neue Vereine gegründet. Auch in CDU-regierten Ländern wurden viele dieser Vereine nach Rücksprache mit der Polizei und dem Verfassungsschutz zugelassen, weil man sich gesagt hat - fragen Sie den Kollegen Lummer -: Solange wir sicher sein können, daß von ihnen keine Gewalt ausgeht, werden wir sie zulassen. Sie haben also damals Pragmatismus praktiziert, den Sie uns jetzt vorwerfen. Ich glaube nicht, daß das eine sehr ehrliche Politik ist. ({2}) Aber lassen Sie mich jetzt zum Staatsbürgerschaftsrecht, weil ich kaum noch Zeit habe, folgendes sagen: Wir wollen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht, nicht gegen die Bevölkerung, sondern mit der Bevölkerung. Nach Umfragen sagen 71 Prozent der Bevölkerung: Wir brauchen ein neues, modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Ich will gerne zugeben, daß es uns nicht gelungen ist, deutlich genug zu machen, was wir mit diesem Gesetzentwurf vorhaben. Ich bin mir sicher, daß wir dies in Zukunft besser machen werden. Ich will Ihnen noch eines sagen, weil vorhin der Kollege Stiegler sehr eindrucksvoll zum Thema Sport geredet hat. Im Grunde geht es hier auch darum: Wollen wir in Deutschland wieder eine Fußballnationalmannschaft, für die man sich nicht schämen muß? Wollen wir endlich wieder eine Nationalmannschaft, die gewinnt, so wie die Franzosen, die Engländer, die Holländer erfolgreiche Nationalmannschaften haben, ({3}) die erfolgreich sind und einen Querschnitt der Bevölkerung wiedergeben, oder wollen wir eine Nationalmannschaft, in der die Kinder, die bei uns aufwachsen und auf der Straße Fußball spielen, nicht mitspielen dürfen werden? ({4}) Ich garantiere Ihnen: Unsere Politik wird dazu führen, daß auch in der Nationalmannschaft die Kinder, die in diesen Jahren in dieser Gesellschaft geboren werden und zukünftig als deutsche Staatsbürger aufwachsen, spielen dürfen. ({5}) Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes endet die Arbeit nicht; dann beginnt sie erst. Dann kommen Themen wie Sprache, religiöse Integration, interreligiöser Dialog etc. Ich fordere die Opposition nochmals auf: Hören Sie auf zu polemisieren! Hören Sie auf, Wahlkampf auf dem Rükken von Minderheiten zu machen! Das haben wir bisher in Deutschland nicht getan, und das sollten wir auch nicht einreißen lassen. Lassen Sie uns gemeinsam um bessere Konzepte kämpfen! Ich warte immer noch auf den Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit ihrem Modell zum Staatsangehörigkeitsrecht. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Werner Hoyer.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt habe ich an diesem Abend doch noch etwas gelernt: Wir brauchen die doppelte Staatsangehörigkeit, um endlich wieder einmal die Fußballweltmeisterschaft gewinnen zu können. Dies ist eine ganz neue Erkenntnis. Ich denke, wir sollten uns wirklich wieder um die Probleme kümmern, die den Menschen in diesem Lande auf den Nägeln brennen. Wir Liberale sind für weniger Staat. Wir sind der Auffassung, der Staat sollte sich zurücknehmen - nebenbei bemerkt auch aus dem Bereich des Sports. Er sollte ein bescheidener Staat sein und sollte zum einen den Bürgerinnen und Bürgern Entscheidungen zurückgeben, die sie auch selber treffen können, und zum anderen darauf verzichten, ihnen das Geld in einer Weise aus der Tasche zu ziehen, die in höchstem Maße motivations- und leistungsmindernd wirkt. Das bedeutet allerdings nicht, daß wir übersehen, daß der Staat auch Aufgaben übernehmen muß, für die er einen leistungsfähigen, motivierten öffentlichen Dienst braucht. ({0}) Zu diesem öffentlichen Dienst, lieber Herr Kollege Penner, stehen wir. Der öffentliche Dienst ist im übrigen kein Steinbruch für eine anderweitig verfehlte Haushaltspolitik. Es ist natürlich unheimlich leicht, gegen den öffentlichen Dienst Stimmung zu machen. Man kann über ihn auch wunderschöne Karikaturen malen. Aber damit kann man sehr leicht die Grenze zum billigen Populismus überschreiten und den Menschen, die dort eine große Leistung erbringen müssen, Unrecht tun. ({1}) Deswegen fand ich es nicht besonders überzeugend, als Kollege Metzger uns den Vorschlag machte, den Pensionären im öffentlichen Dienst das Weihnachtsgeld zu streichen - was nicht gerade zum Alimentationsprinzip paßt - oder die Bezüge im öffentlichen Dienst grundsätzlich zu reduzieren. So geht es nicht. Wir brauchen einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst. Herr Bundesminister, Sie werden in der nächsten Zeit die Aufgabe haben, das Thema „Reform der öffentlichen Verwaltung“ voranzutreiben. Das ist eine Riesenaufgabe. Sie haben dies auch in der Koalitionsvereinbarung aufgegriffen. Sie sprechen dort vom „aktivierenden Staat“. Wenn man genauer hinschaut, was damit gemeint ist, dann stellt man fest, daß das alter Wein in neuen Schläuchen ist. Dies ist nichts anderes als das, was die alte Koalition ernsthaft angegangen ist und verfolgt hat, nämlich das Thema „schlanker Staat“. ({2}) Nur, bisher haben Sie es noch nicht fertiggebracht, diesen alten Wein durch neuen Wein zu ersetzen. Wir warten auf Ihre Vorschläge. Daß Sie in Kissingen gesagt haben, Sie bräuchten zehn bis fünfzehn Jahre dazu, hat uns nicht gerade überzeugt. Das Thema „Verschlankung des Staates“ muß jetzt weiter angepackt werden. Ein ganz besonderes Sorgenthema beim Komplex öffentlicher Dienst ist selbstverständlich all das, was mit innerer Sicherheit zu tun hat. Herr Spinrath, der Vorsitzende der GdP, hat uns nachdrücklich klargemacht, wie sehr das im Bereich der Polizei vorhandene Potential gegenwärtig ausgereizt ist und daß die Grenzen der Belastbarkeit überschritten sind. Darauf haben wir hier einzugehen, und zwar nicht nur dadurch, daß wir feierliche Erklärungen abgeben, indem wir den Angehörigen der Polizei danken. Es wird sich vielmehr an ihrer Situation etwas verbessern müssen. Das ist nicht nur eine quantitative Frage, obwohl sich zumindest einige Bundesländer die Frage stellen lassen müssen, ob sie auf diesem Gebiet genügend getan haben. Dies ist auch eine Frage des qualitativen Umfeldes, in dem Polizeiarbeit zu leisten ist. Daran werden wir etwas tun müssen; denn die Motivationslage im Bereich der Polizei und übrigens parallel dazu im Bereich der Verfassungsschutzbehörden ist nicht gerade sehr beeindruckend. Das hat Gründe. Ich nenne Ihnen dazu drei Beispiele. Erstes Beispiel: Wenn Sie betrachten, wie sich das ursprünglich sicherlich einmal gutgemeinte neue Beurteilungssystem im Bereich der Polizei auswirkt, dann kann ich dazu nur sagen: Herr Minister Schily, gehen Sie an dieses Thema bald heran und schaffen Sie hier Remedur! Der Seufzer der Erleichterung beim BKA und BGS wird unüberhörbar sein. Zweites Beispiel: die technische Ausstattung im Bereich der Sicherheitsbehörden. Das ist ein ausgesprochener Motivationskiller, den wir in der Realität zu beobachten haben. Das gilt für die Länder, aber eben auch für den Bund. Drittes Beispiel: Im „Focus“ war vor einigen Wochen ein sehr hart aufgemachter Artikel über die Situation der Unterbringung der Bahnpolizei, der Bundesgrenzschutzbeamten bei der Bahn, zu lesen. Leider ist dieser Bericht in keiner Weise überzogen. Er bildet die Realität der Bahnpolizei ziemlich präzise ab. Ich frage mich, warum das nicht im Vordergrund der Investitionsschwerpunkte des Innenministers steht. Vielleicht werden wir dazu anläßlich der Haushaltsplanberatungen mehr erfahren. ({3}) Das, was ich zum Bereich der Polizei gesagt habe, gilt auch für den Bereich des Verfassungsschutzes. Ich halte es schon für ein ziemlich dolles Ding, wie sehr jetzt einige ihr Herz für den Verfassungsschutz entdeckt haben. Da werden tatsächliche oder vermeintliche Kommunikationsdefizite der Sicherheitsbehörden zu Forderungen an den Verfassungsschutz aufgeblasen, die dieser schlecht erfüllen kann, wenn auf der anderen Seite ein erheblicher Teil des Hauses bisher - und vielleicht noch heute - ein offensichtlich ziemlich verklemmtes Verhältnis zu dem gesamten Thema Verfassungsschutz und polizeilicher Staatsschutz hat. ({4}) Das hat doch bis vor kurzem geradezu etwas Anrüchiges gehabt - wahrscheinlich für manchen von Ihnen bis heute -, wenn man sich mit diesem Thema befaßt. Wie soll denn das eigentlich motivationsfördernd wirken, wenn Sie, lieber Herr Kollege Stiegler, hier eine höhere Leistung und Effizienz des Verfassungsschutzes und seiner Mitarbeiter verlangen, wenn aber gleichzeitig zum Beispiel das sozialdemokratisch regierte SachsenAnhalt die Auflösung des Landesamtes für Verfassungsschutz beschließt? ({5}) - Das ist, sehr verehrter Kollege Stiegler, nicht zu bestreiten. Das paßt zu der Widersprüchlichkeit Ihrer Politik. ({6}) Deswegen sollten wir uns dem Thema der Sicherheit ernsthaft zuwenden und nicht in der Art und Weise, wie Sie es bisher getan haben. Lassen Sie mich nun doch noch ein Wort zum Thema Sport sagen. Ich bin der Auffassung - ich habe es am Anfang gesagt -, der Staat sollte nun auf Grund der Themen, die Sie dankenswerterweise auch in Lausanne angesprochen haben, nicht den Fehler machen, zu glauben, er sollte plötzlich den Sport regeln. Ich hoffe, daß der Sport ein Bereich bleibt, der in seinen Interna möglichst weitgehend staatsfrei ist. Trotzdem danke ich Ihnen für Ihre Bemühungen zum Thema Doping und auch für Ihre Bemühungen, dem IOC und der olympischen Bewegung wieder mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Herr Minister, der Bereich, bei dem ich Sie bitte, in den Haushaltsberatungen noch einmal sehr flexibel zu sein, ist der Behindertensport. Es hat dazu schon Vorgespräche gegeben, die aussichtsreich erschienen. Aber es gibt hier zweifellos eine Bundeszuständigkeit, eine Bundeskompetenz. Ich halte es für wichtig, daß gerade diejenigen, die oft genug auf der Schattenseite leben und die durch den Sport in besonderer Weise Lebensfreude, Motivation und auch Leistungssteigerung erfahren könDr. Werner Hoyer nen, hier ein klares politisches Signal bekommen. Wir Liberale werden uns in den Haushaltsverhandlungen besonders für den Bereich des Behindertensports engagieren. ({7}) Abschließend noch ein Wort. Für den riesigen Personalkörper, für den Sie, Herr Minister Schily, verantwortlich sind - das ist natürlich insbesondere der Bereich der inneren Sicherheit, aber das geht auch darüber hinaus -, muß endlich gelten: Der Mensch im Mittelpunkt und nicht der Mensch als Mittel, - Punkt! ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin ziemlich entsetzt über die Debatte, die hier schon seit gestern geführt wird. Ich bin deswegen entsetzt, weil Sie, Herr Rüttgers, und andere in den letzten Tagen eine Stimmung schaffen, die ich unerträglich finde. Man kann über Ausschreitungen diskutieren. Aber ich meine, gerade Abgeordnete aus diesem Hause sollten zu einer Versachlichung der Debatte beitragen und auch ernsthaft darüber nachdenken, wie man zu Lösungen kommt. ({0}) Es kann einfach nicht sein, daß man miteinander darüber wetteifert, wer der bessere Abschieber ist; es kann doch nicht sein, daß man miteinander darüber wetteifert, wer die besten Verschärfungen in das Ausländerrecht einführt. Das kann und darf meiner Meinung nach nicht die Politik nach dieser Entwicklung in der Kurdenfrage sein. Das ist auch mein Vorwurf an die neue Bundesregierung: daß sie eigentlich in der Sache selbst nicht sehr viel neue Vorschläge gemacht hat. Der jetzige Innenminister Schily hat in den vergangenen Jahren häufig davon gesprochen, daß er mehr Demokratie wagen möchte, daß er die konservative, repressive Politik beenden möchte, daß er einen Politikwechsel einleiten will. Ich meine, daß es gerade an der Kurdenfrage nicht ersichtlich ist, daß wir mit der neuen Regierung auch eine neue Entwicklung bekommen. Erst kürzlich durften wir in einer Antwort der neuen Bundesregierung auf eine Anfrage, wie sie es mit den Waffenlieferungen halten wird, lesen, daß die Bundesregierung nicht zu erkennen vermag, daß in Kurdistan deutsche Waffen zum Einsatz kommen. Ich sage Ihnen: Genau das war die Antwort der alten Bundesregierung und des damaligen Innenministers Kanther. Auch ich bin der Meinung, daß eine Konfliktlösung nicht darin bestehen kann, hier einseitig Verschärfungen vorzuschlagen. Vielmehr muß ernsthaft darüber diskutiert werden, wie es zu einem Friedensprozeß in der Türkei und Kurdistan kommen kann und wie es möglich ist, mit Kurden ins Gespräch zu kommen und den Friedensprozeß auch in diesem Land voranzutreiben. Denn ich bin sicher: Wenn die Politik, die wir heute von Herrn Rüttgers gehört haben, umgesetzt würde, dann gute Nacht! Das würde den Frieden in diesem Lande sicherlich nicht befördern. In einem Punkt muß ich der F.D.P. recht geben: Der Haushalt des Innenministers unterscheidet sich in der Tat weitgehend nicht von dem, was wir von der alten Regierung zu sehen bekommen haben. Nehmen wir das Beispiel des Staatsangehörigkeitsrechtes - es wurde heute abend schon angesprochen -: Ich bin der Meinung, man sollte auch hier nicht sofort einknicken, nur weil die CDU/CSU diese Hetzkampagne gemacht, diese Unterschriftensammlung durchgeführt hat. Offensichtlich ist sie bei der Bevölkerung angekommen, weil sie den Menschen suggeriert, die Betroffenen würden mit einem neuen Staatsbürgerschaftsrecht bzw. mit der doppelten Staatsangehörigkeit mehr Rechte bekommen. Man hätte - das ist meine feste Überzeugung - zu dieser Hetzkampagne eine Gegenkampagne starten sollen, anstatt gleich einzuknicken. ({1}) Noch zu einigen Fragen des Haushaltes, die wir mit Sicherheit noch im Innenausschuß diskutieren werden: Der Haushaltsentwurf von Innenminister Schily schlägt für Organisationen, die rechtsextremistisches und antisemitisches Gedankengut verbreiten können - wir haben dies in der Vergangenheit immer wieder angegriffen -, haargenau dieselben Haushaltsmittel vor. Ich meine damit beispielsweise den Bund der Vertriebenen. Um es hier ganz deutlich zu sagen: Solange deren Vorsitzenden gegen Osteuropa und die Freundschaftsverträge mit den benachbarten osteuropäischen Ländern hetzen können, kann es nicht angehen, daß diese Vertriebenenverbände weiter finanziert werden. Ich möchte hier deutlich sagen, daß ich es richtig finde, mehr Mittel für die Integration von Aussiedlern in den Haushalt aufzunehmen. Was ich aber überhaupt nicht begreife, ist, daß diese Mittel dem Bund der Vertriebenen in die Hände gegeben werden, um entsprechende Projekte durchzuführen. Ganz konkret frage ich die Grünen und die SPD, die in den vergangenen Legislaturperioden immer wieder gefordert haben, diese von der alten Bundesregierung veranlaßten Projektförderungen zu überprüfen, warum davon plötzlich nicht mehr die Rede ist und im Haushalt die Mittel für die Vertriebenenverbände nicht reduziert, sondern - ganz im Gegenteil - aufgestockt werden. Solange man diesem Verband nicht vertrauen kann, dürfen Mittel der Projektförderung nicht in dessen Hände gegeben werden. Ich kann Sie nur darauf verweisen, daß wir in der letzten Legislaturperiode in diversen Kleinen Anfragen nachgewiesen haben, daß die Vertriebenenverbände - nicht in Gänze, aber Teile ihrer Organisation - rechtsDr. Werner Hoyer extremistische Publikationen herausgeben, Antisemitismus verbreiten und revanchistische Auffassungen vertreten. Ich erwarte von einer rotgrünen Regierung, daß sie diesen Organisationen, diesem Gedankengut das Wasser abgräbt, anstatt ihnen noch zusätzliches Geld zu geben. Zu einem weiteren Punkt, dem Verfassungsschutz. Auch hier frage ich mich: Wo bleibt die Kritik der vergangenen Jahre? Wir können leider nicht erkennen, daß eine neue Politik mit mehr Kontrolle und Durchsichtigkeit einhergeht. Man hüllt sich - ob das den Stellenplan oder andere Fragen betrifft - in Schweigen. Ich meine, so kann es nicht gehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluß. Zum Ende möchte ich Ihnen nur noch folgendes sagen: Es kann nicht sein, daß auf der einen Seite die Bundeszentrale für politische Bildung diverse Gruppen und Organisationen fördert, denen wir nachgewiesen haben, daß dort Rechtsextremisten referieren dürfen, während es auf der anderen Seite in diesem neuen Haushalt keinen einzigen Topf für NS-Opfer gibt. Der Zynismus gipfelt darin, daß die Unternehmer und Unternehmerinnen - die ehemals Millionen von Menschen mittels Zwangsarbeit ausgebeutet haben -, die in die neue Stiftung für die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen einzahlen, ihre Zahlungen auch noch von der Steuer absetzen dürfen. Ein solcher Haushalt wird unsere Zustimmung nicht bekommen. Danke. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Abgeordnete Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zu allem, was Sie wollen. ({0}) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich gehöre einer Generation und einer politischen Gruppe, Bündnis 90/Die Grünen, an, die sehr stark von einem Staat geprägt sind, den sie als repressiv erfahren haben. Zu dem, was der Kollege Rüttgers hier gerade verkündet hat, muß ich sagen: Das ist genau das, was mich vor 10, vor 15, vor 20 Jahren entscheidend geprägt hat. Immer dann, wenn im Staat schwierige Situationen, Krisensituationen eingetreten sind, wurden rechtsstaatliche Grundsätze mit einer Handbewegung über Bord geworfen. Genau das, was Sie jetzt wollen, daß Kurden in die Türkei abgeschoben werden und dort der Gefahr der Folter ausgesetzt sind, hat mich dazu veranlaßt, am Rechtsstaat zu zweifeln. Wenn Sie sagen, wir könnten - wie schon Herr Kanther - von der türkischen Regierung eine Erklärung verlangen, die Folter ausschließt, kann ich Ihnen nur antworten: Wer einen politischen Gefangenen wie Öcalan in dieser Weise täglich weltweit, seiner Würde entkleidet, öffentlich vorführt, ({1}) auf dessen Wort ist in Fragen der Menschenrechte und der Antifolter überhaupt kein Verlaß. Das Wort der Türkei ist überhaupt nichts wert. Die können aufschreiben, was sie wollen. ({2}) Aber dazu wollte ich eigentlich gar nichts sagen, weil die Debatte schon gestern geführt worden ist. ({3}) Aus den Erfahrungen, die ich und Bündnis 90/Die Grünen gemacht haben, haben wir ein Konzept über ein neues, ein anderes Verhältnis von Staat und Bürger entwickelt, das wir gern verwirklichen wollen. ({4}) Für uns ist maßgeblich, daß die Bürgerinnen und Bürger der Staat sind. Es gab einmal einen König in Frankreich, der gesagt hat: L'état, c'est moi! Der Staat bin ich! Wir sagen: Der Staat sind die Bürgerinnen und Bürger. Danach müssen sich alle Regeln des Staates ausrichten. Genauso wie der Sonnenkönig in Frankreich zu seinen Dienern in die Amtsstuben gehen, die Akten einsehen und sich über alles Wissen informieren konnte, genauso wollen wir den Bürgerinnen und Bürgern mit einem Informationsfreiheitsgesetz die grundsätzliche Möglichkeit schaffen, Informationen, die es in der Verwaltung gibt, einzusehen, natürlich unter Schutz der Daten Dritter. Die Verwaltung soll Partner des Bürgers sein. Genauso wie wir nicht wollen, daß wir bespitzelt werden, wie wir nicht wollten, daß in der Vergangenheit andere bespitzelt wurden, wie wir natürlich ein gesundes Mißtrauen gegenüber Geheimdiensten haben, genauso wollen wir in Zukunft sicherstellen, daß die bundesdeutschen Geheimdienste effektiver Kontrolle unterworfen sind. Dieses partnerschaftliche Verhältnis ist in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt: daß wir zu einem anderen Verhältnis zwischen Bürger und Staat kommen wollen. Das soll sich in allen Bereichen des Verhältnisses von Bürgerinnen und Bürgern mit dem Staat auswirken. Wenn wir das erreichen können, dann können wir, denke ich, von den Bürgerinnen und Bürgern auch verlangen, daß sie in diesem Staat eine Mitverantwortung übernehmen und daß sie sich in Krisensituationen, wie wir sie jetzt haben, wie wir sie in Berlin, in Düsseldorf, in Stuttgart, in Hamburg gehabt haben, einmischen, daß sie nicht vorbeigehen, daß sie nicht nur berichten, was sie gesehen haben, sondern daß sie, wie wir das gemacht haben, versuchen, in solchen Situationen deeskalierend, mäßigend einzuwirken, um den Frieden auf der Straße zu sichern. Das ist das andere partnerschaftliche Verhältnis, das sich diese Regierung mit der Unterstützung der Bündnisgrünen vorgenommen hat. Wir können zu vielen Punkten der Koalitionsvereinbarung sagen: Das reicht noch nicht. Aber es ist die richtige Richtung. In dieser Richtung wollen wir etwas entwickeln, um die bundesdeutsche parlamentarische Demokratie nach 50 Jahren an die Seite und gleich mit den Demokratien in den Vereinigten Staaten, in England und in anderen Ländern einzuordnen, in denen das Verhältnis Bürger/Staat ein anderes war und noch heute ist. Das wollen wir zum 50. Jahrestag des Grundgesetzes auf den Weg bringen. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Abgeordnete Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein, CDU/CSU.

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als Sie, Herr Minister Schily, den Entwurf des jetzigen Einzelplans 06 vorlegten, war ich ein wenig überrascht. Überrascht deswegen, weil er die Handschrift Ihres Vorgängers trägt. Ein Kompliment an Sie, ihn zum überwiegenden Teil so zu übernehmen, wie Kanther ihn vorgelegt hat. Ich sehe darin eine Kontinuität, bin allerdings, da wir uns schon eine gewisse Zeit kennen, ein bißchen überrascht, wenn ich vergleiche, wie Sie uns in der vergangenen Legislaturperiode in puncto innere Sicherheit ständig angegriffen haben und wie Sie mit dem Thema jetzt in ihrem Einzelplan umgehen. Dies genug an Lob. Jetzt möchte ich etwas zu einigen Themen sagen, die zum Einzelplan 06 gehören. Ich bedauere sehr, Herr Schily, daß Sie so wenig um den Kulturbereich gekämpft haben. Der Kulturbereich war blendend in den Einzelplan 06 eingegliedert und ist dort gut betreut gewesen. Sie, der immer klar und deutlich signalisiert, daß der Staat weniger macht, lassen jetzt zu, daß Ihr Kanzler eine neue Behörde aufbaut, die eigentlich nicht in das Kanzleramt gehört; denn der Kanzler sollte sich um andere Dinge kümmern. Er hat sich ja auf die Fahne geschrieben, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Leider können wir in diesem Bereich wenig feststellen. Jetzt gibt es im Kanzleramt die Behörde mit 143 neuen Mitarbeitern. Überall dort, wo eine neue Behörde aufgebaut wird, kann man davon ausgehen, daß Mehrkosten entstehen und der Synergieeffekt verlorengeht. Zum Thema innere Sicherheit und BGS. Ich darf mich ganz herzlich dafür bedanken, daß Sie im Bereich der Anhebungen viel getan haben. Denn wir brauchen eine motivierte Gruppe. Die Aufgaben werden erheblich schwieriger. Deswegen ist es sehr wichtig - Herr Rüttgers und andere haben das schon angesprochen -, daß wir sehr sorgfältig darauf achten, daß die Mannen und Frauen des BGS auch hinsichtlich von Waffen gut ausgerüstet werden. Ich bitte Sie darum, sich um diese Thematik zu kümmern. Im Einzelplan 06 ist der Sport in gleicher Höhe wie im letzten Einzelplan verankert. Sie selbst haben den Bereich Doping schon des öfteren angesprochen, Herr Schily. Wer sich zum Beispiel an die Tour de France und daran erinnern kann, wie viele Mannschaften dort ausschieden, wird verstehen, daß es meines Erachtens - Spitzensportler sollten Vorbilder dieser Nation sein von allergrößter Wichtigkeit ist, an diesen Bereich nicht so halbherzig heranzugehen. Vielleicht ist es, Herr Minister, sogar möglich, über die Parteigrenzen hinweg ein Gesetz zu verabschieden, das weiter geht als die jetzigen Vorschriften. Im Augenblick ist der Handel mit Anabolika strafbar, nicht aber der Besitz. Vielleicht können wir hier über alle Grenzen hinweg gemeinsam etwas tun. Ein zweiter Bereich ist das Doping. Doping kommt nicht nur im Spitzensport, sondern sogar überwiegend im Breitensport, vor allem bei den Jugendlichen, vor. Deswegen bitte ich darum, daß Sie sich mit großer Kraft gegen das Doping einsetzen. Ist der Kollege Stiegler noch da? ({0}) - Ich bewundere Sie, und Sie haben meine volle Unterstützung beim Goldenen Plan Ost. Er hatte einmal das unvorstellbare Volumen von 25 Milliarden DM. Dann ist er auf 100 Millionen DM gekürzt worden. Ich habe in einer Frankfurter Zeitung gelesen, daß Ihre Arbeitsgruppe mit den Grünen in Kärnten war und sich dort intensiv mit dieser Thematik beschäftigt hat. Ich finde im Einzelplan 06 dazu überhaupt keinen Titel. ({1}) Deswegen müssen Sie nicht uns anmahnen, sondern den Innenminister und noch mehr den Finanzminister. Er ist zwar abwesend, aber dafür ist sein Staatssekretär Karl Diller da - der möglichst nicht soviel lesen, sondern lieber sorgfältig zuhören sollte. Er sollte sich darum bemühen, daß dieser Titel in den Einzelplan 06 aufgenommen wird, und zwar nicht mit 15 Millionen DM, sondern mit 100 Millionen DM. Ich bin erstaunt, daß kein Aufschrei von den Grünen und der SPD aus den fünf neuen Bundesländern dazu kam, daß bisher noch nichts passiert ist. Ich hoffe, daß dies in Kürze der Fall sein wird. Sie werden meine Unterstützung als Berichterstatter der CDU/CSU für den Goldenen Plan und den neuen Einsatz erhalten. Ich darf mich ganz herzlich bedanken und hoffe, daß wir zumindest in diesem Bereich zu Gemeinsamkeiten kommen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich bedanke mich ausdrücklich bei dem Kollegen von Hammerstein, dem Kollegen Hoyer und dem Kollegen Stiegler für ihre sehr sachlichen Beiträge, die ich als sehr wohltuend empfunden habe; denn ich glaube, das Thema Innenpolitik lebt von Sachlichkeit. ({0}) Ich möchte zunächst einmal etwas zu den sportpolitischen Erwägungen sagen. Ich habe nur wenig Zeit, insofern kann ich das nicht in aller Breite tun. Die Anregung des Kollegen Hoyer, etwas für den Behindertensport zu tun, unterstütze ich. Ich weiß, daß sich der Kollege Dr. Kinkel dieser Frage besonders annimmt. Ich habe mit ihm ein Gespräch darüber geführt, und ich hoffe, daß wir in dieser Frage vorankommen. Ich bedanke mich bei Herrn von Hammerstein. Sie haben recht: Doping ist ein Thema, das uns alle interessieren sollte. Es ist für den Sport und gerade für unsere Jugend verderblich, wenn die Vorbilder im Sport nicht erhalten bleiben. Wenn wir einen Chemie- und keinen Sportwettbewerb durchführen, geht etwas ganz Zentrales in unserer Gesellschaft verloren. ({1}) Herr von Hammerstein, Sie haben natürlich eine Wunde bei mir aufgerissen; das werden Sie verstehen. Jede Frau, jeder Mann weiß, daß ich der Kultur in besonderer Weise zugetan bin. Ich meine, daß es eine innere Verbindung zwischen Kultur und Innenpolitik gibt. ({2}) Sie kennen meinen Satz: Wer Musikschulen schließt, schadet der inneren Sicherheit. Ich wiederhole ihn hier noch einmal, weil ich aus meiner Biographie weiß, wie wichtig es ist, daß junge Menschen in einem sehr frühen Stadium ihres Lebens etwas von künstlerischer Erziehung erfahren. Das bildet den Charakter und macht sie später immun gegen Anfechtungen im Leben. Insofern gibt es einen Zusammenhang, den ich durchaus bestätige. Man kann in verschiedenen Organisationsformen über diese Dinge zusammenwirken. Ich denke dabei an meinen Freund Michael Naumann. Ich muß Ihnen sagen: Die Bundespolitik hat seit Jahrzehnten keinen so begabten Kulturpolitiker gesehen wie Michael Naumann. ({3}) Er hat ja schon im Vorfeld etwas erreicht. Die Kulturpolitik war auf Bundesebene quasi unsichtbar. Ungeachtet der guten Arbeit im Ministerium des Innern hat sie in der Führungsebene gar nicht stattgefunden. Aber siehe da: Seit es Michael Naumann gab, hat sich sogar der frühere Bundeskanzler Kohl gedrängt gefühlt, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auf zwei Seiten im Feuilleton ein Interview über Kulturpolitik zu geben. ({4}) Michael Naumann hat also bereits im Vorfeld der Regierung etwas erreicht. Ich meine, es war gut, daß wir diesen Mann dafür gewonnen haben. Aber ich will das Thema, weil doch noch andere Dinge anzusprechen sind, nicht weiter vertiefen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Es gibt wohl kaum ein Thema, das die Verquickung von Innen- und Außenpolitik so sehr deutlich macht wie das Thema Türkei. Ich könnte auch sagen Kurden. Weil das so ist, müssen wir, so glaube ich, der darin innewohnenden Versuchung widerstehen, innenpolitisch populistisch zu argumentieren. ({5}) Ich verwende heute die gleiche Methode wie gestern. Diese beiden Sätze sind wörtlich von dem Kollegen Lamers am 13. April 1994 ausgesprochen worden. Im damaligen Protokoll findet sich „Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.“ Diesen Beifall habe ich heute nicht gesehen. Das ist bedauerlich; denn Herr Lamers hat mit seiner Bemerkung völlig recht. ({6}) Meine Damen und Herren, es gibt eine Sinnverwandtschaft zwischen innerer Sicherheit und innerem Frieden. Herr Kollege Rüttgers, Sie sollten darüber zu Hause noch einmal nachdenken. Ihr heutiger Beitrag hat dem inneren Frieden nicht gedient. ({7}) Wir können jetzt im Bundestag natürlich eine Bilanz über Ereignisse in den Ländern ziehen. Dann kann man loben oder tadeln, wie immer Sie das halten wollen. ({8}) Sie haben das gemacht - wie ich finde, in nicht guter Form - gegenüber Hamburg und gegenüber NordrheinWestfalen. Ich werde mich hüten, in gleicher Weise über die Deeskalationsstrategie des Kollegen Werthebach, der Ihrer Partei angehört, in Berlin zu sprechen. Er hat nämlich ausdrücklich gesagt - so wurde mir berichtet -, daß er in Abkehr von seinem Vorgänger eine Deeskalationsstrategie für richtig hält. Bisher war es im Kreis der Innenminister so - ich kenne den Kreis der Innenminister ganz gut -, daß wir ein Konsensprinzip haben und daß wir zusammenwirken und zusammenstehen, Herr Kollege Dr. Rüttgers. Gerade wenn es um die Bedrohung der inneren Sicherheit, also um den Kern unserer Gesellschaft geht, dann muß sich dieses Prinzip bewähren. ({9}) Deshalb würde ich Ihnen empfehlen, einmal darüber nachzudenken - nachdenken schadet ja nicht ({10}) und nachzulesen, wie sich die damalige Opposition, die SPD, im Jahre 1994 in den Debatten verhalten hat, ob sie wie Sie versucht hat, in billiger Form daraus einen parteipolitischen Vorteil zu ziehen oder ob sie sich verantwortlich verhalten hat. Sie werden, wenn Sie das nachlesen, erkennen, daß sie sich verantwortlich verhalten hat. Ich sage das ganz ohne Polemik. Ich bitte Sie, einmal darüber nachzudenken und sich dann zu überlegen, ob Sie auf diese Weise weiterkommen. Nun komme ich zu einem anderen Thema. Ich habe überhaupt nichts dagegen, daß man für seine Auffassungen Zustimmung sucht und daß man über eine so schwierige Frage wie die Neuregelung des Staatsbürgerschaftsrechts aus unterschiedlichen Positionen heraus argumentiert. Das alles ist in Ordnung. Sie können alle meine Pläne in Grund und Boden kritisieren; das ist Ihr gutes Recht, und das kreide ich Ihnen nicht an. Aber wie Sie es tun, halte ich für bedenklich. Das muß ich Ihnen ganz offen sagen. Ich habe heute Herrn Stoiber gehört, der einfach so, wie es seine Art ist, gesagt hat, es sei alles schlampig. ({11}) - Nein, er hat nicht recht. ({12}) - Hören Sie doch einmal zu! Ich mache es hier doch ganz freundlich. Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß der bekannteste Kommentator zum Ausländerrecht, Günter Renner - Kanein/Renner ist der Standardkommentar zum Ausländerrecht -, der nun wirklich etwas von der Materie versteht, ({13}) und der Professor Hailbronner, den Sie früher mit der Vertretung der Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht beauftragt haben, der also der frühere Rechtsberater der Bundesregierung war, übereinstimmend sagen, daß der beste Entwurf, der auf dem Tisch liege, von Bundesinnenminister Schily stamme. Dessen brauche ich mich doch wohl nicht zu schämen. ({14}) Nun sage ich gar nicht, daß es nicht auch andere Entwürfe gibt - ({15}) - Herr Kollege, ich bitte um Entschuldigung. Ich habe noch sechs Minuten Redezeit und möchte noch auf einige Themen eingehen. Normalerweise bin ich mit der Erlaubnis von Zwischenfragen sehr großzügig. Lassen Sie uns also über die bessere Lösung streiten. Aber tun Sie das nicht in der üblen Polemik, in der es leider vorkommt. Wir können uns natürlich auch auf Umfragen berufen und sagen, was das Volk denkt. Aber machen wir nicht einen Fehler, wenn wir immer nur eine Umfrage zitieren und damit versuchen, uns gegenseitig matt zu setzen? Sie haben hier in einer, wie ich finde, nicht guten Weise über den Fall Öcalan gesprochen. Sie sagen immer, wir sollten nicht auf unsere Mehrheiten bauen - in dem Zusammenhang haben Sie von „machtbesessen“ gesprochen -, ({16}) sondern uns am Volk orientieren. Nun habe ich heute eine Umfrage auf den Tisch bekommen, in der es heißt, eine Mehrheit von 63 Prozent der Deutschen hält die Position der Bundesregierung für richtig, den kurdischen PKK-Führer Öcalan nicht an Deutschland ausliefern zu lassen. ({17}) - Ich könnte Ihnen ja einiges darüber erzählen, wer das intern auch noch vertreten hat. Ich will das aber nicht tun, weil ich es nicht für fair halte. Aber Herr Beckstein hat es ganz offen gesagt. Übrigens auch Sie, verehrter Herr Kollege Rüttgers, haben seinerzeit gesagt, der Prozeß müsse nicht unbedingt in Deutschland stattfinden. Nun behaupten Sie, ohne es nachgeprüft zu haben, wir hätten keine Bemühungen unternommen, eine andere Lösung für ein Gericht zu finden. Das ist schlicht falsch. Ich biete Ihnen an, einmal ein vertrauliches, sehr offenes Gespräch mit der Kollegin Däubler-Gmelin zu führen. Dann werden Sie erfahren, daß es schlicht falsch ist, was Sie behauptet haben. Wenn Sie an einer sachlichen Debatte interessiert sind, machen Sie bitte davon Gebrauch. Ich warne im übrigen davor, immer auf Umfragen abzustellen, obwohl ich gerade eine zitiert habe. Ich habe heute eine Umfrage gesehen, in der es heißt, 49 Prozent der Deutschen seien dafür, straffällig gewordene Kurden in die Türkei abzuschieben, auch wenn ihnen dort Folter und Todesstrafe drohen. Meine Damen und Herren, das ist möglicherweise das Ergebnis einer falschen Sprechweise der Politik. Ich mache daraus niemandem einen Vorwurf. Aber das ist ein Ergebnis einer bösartigen und schlimmen Emotionalisierung dieser Fragen. ({18}) Sollte es für diese Ansicht sogar eine Mehrheit in der Bevölkerung geben, werde ich gegen diese Mehrheit argumentieren, weil ich auf die rechtsstaatlichen Prinzipien vereidigt bin. ({19}) Auch habe ich die Menschenrechtskonvention, die Bestandteil der Verfassung ist, zu achten. Ich werde mich daher nicht der Mehrheit anpassen. ({20}) Man kann Mehrheiten auch verändern. Der Euro war in den Umfragen ganz lange Zeit unbeliebt. Vielleicht ist er im Moment auch wieder unbeliebt; ich weiß es nicht. Aber wir waren gemeinsam der Überzeugung, daß es richtig ist, ihn einzuführen. - Versuchen wir also, zu einer Versachlichung der Debatte zurückzukehren. Herr Rüttgers, Sie haben den Etat angesprochen. Ich muß dazu noch ein paar Bemerkungen machen. Ich habe leider viel zuwenig Zeit, um es Ihnen im einzelnen deutlich zu machen. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, daß von der Opposition angesprochen worden ist, was der Bundesinnenminister bei der Verbesserung der Personalstruktur des Bundesgrenzschutzes geleistet hat. Es gibt eine Verdoppelung der Planzahlen bei der Personalentwicklung. Es war, auch für den Bundesfinanzminister, nicht einfach, das zu erreichen. Wir haben natürlich einen Aufwuchs bei der sachlichen Ausstattung und bei den Baulichkeiten. 1997 gab es bei den Baulichkeiten einen Ansatz von, ich glaube, 87 Millionen DM, 1999 gibt es einen Ansatz von 93 Millionen DM. Wir haben eine 20prozentige Steigerung des anderen Etatbereichs. Herr Hoyer, Sie haben das Modell des schlanken Staats angesprochen. Bei der Sicherheit ist dieses Modell nicht gut. Wir brauchen einen starken Staat zur Verteidigung. - Da nickt sogar Herr Rüttgers. Ich bedanke mich dafür. Immerhin, heute habe ich ein Nicken von Herrn Rüttgers geerbt. Das ist viel wert, da sind wir ja schon wieder ein Stück weiter, Herr Rüttgers. ({21}) Wir brauchen selbstverständlich einen starken Staat, wenn wir die Grundrechte, das Leben, die Gesundheit, die Freiheit, das Sacheigentum unserer Bürgerinnen und Bürger verteidigen wollen. Sie haben von Kontinuität gesprochen. Wo Kontinuität angebracht ist, ist sie völlig richtig. Ich habe in der Opposition mit Ihnen zum Teil sehr konstruktiv zusammengearbeitet. Das wissen Sie doch. ({22}) - Ja, bei der akustischen Wohnraumüberwachung. - Es wäre ganz schön, wenn Sie bei der Staatsangehörigkeitsreform genauso konstruktiv mitarbeiten würden. Dann wären wir schon ein Stückchen weiter. ({23})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Nein, keine Zwischenfragen. Ich bin gleich am Ende. Es tut mir furchtbar leid. ({0}) - Herr Zeitlmann, Sie sollten nun ganz still sein. Sie haben in diesen Tagen einen völlig unsinnigen Vorschlag gemacht, nämlich ein Demonstrationsverbot für Ausländer allgemein. So etwas Verfassungswidriges habe ich von Innenpolitikern nicht erwartet. ({1}) Meine Damen und Herren, ich müßte jetzt sehr viel länger Zeit haben, um über Prävention und ähnliches zu reden. Ich habe ein paar Zitate über die Staatsangehörigkeitsreform mitgebracht. Sie haben in der Presse viel über Tadel und Lob nachlesen können. Ich zitiere aus einer ganz konservativen Zeitung: Wer gegen die Reform zu Felde zieht, müßte gute Argumente dafür vorbringen, daß der Status quo bessere Möglichkeiten bietet, den bedrohlichen Tendenzen der Gettoisierung entgegenzuwirken und die wachsende Entfremdung der sogenannten dritten Generation von dem Land, in dem sie aufwächst, und dem, in dem sie bleiben wird, zu beenden. Das schreibt Ihnen die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ins Stammbuch. In einer anderen Zeitung heißt es: Die Unionsparteien, die derzeit so lautstark gegen die geplante Reform des Staatsangehörigkeitsrechts protestieren, sollten sich ganz kleinlaut ihre eigene Bilanz vor Augen halten, eine Bilanz, die den absurden Umstand zuläßt, daß heute jemand die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten kann, obwohl er kaum Deutsch spricht, mit entsprechend schlechten Chancen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Die alte Koalition konnte sich nicht auf ein Reformkonzept einigen. Jetzt sind andere dran. Das schreibt die „Rheinische Post“, die auch nicht im Verdacht steht, ein Mitteilungsblatt der sozialdemokratischen Partei zu sein. ({2}) Ich muß es leider im Eiltempo machen. Mir ist sehr willkommen gewesen, daß Kollege Stiegler auf die europäische Dimension hingewiesen hat. Dazu müßte ich eigentlich mindestens noch einmal 15 Minuten reden dürfen. Aber mir ist signalisiert worden, daß ich mich da ganz disziplinieren soll. Ich will nur auf eines hinweisen, auch Ihnen gegenüber, Herr Kollege Rüttgers. Sie haben eine Beziehung zwischen Entscheidungen der Bundesregierung und dem Auftreten von PKK-Gewalttätigkeiten hergestellt. Sie wissen doch, daß in sehr vielen europäischen Staaten solche Aktionen stattgefunden haben, obwohl dort andere Entscheidungen als bei uns getroffen worden sind. Sie wissen doch, daß alle europäischen Staaten von diesen Ereignissen überrascht worden sind. Vielleicht gibt das einen Hinweis darauf, mit was das zu tun haben könnte. Das wollen wir hier in aller diplomatischen Vorsicht nicht weiter erörtern. Daß Sie nur die Bundesregierung für diese Aktionen in Haftung nehmen wollen, finde ich ein ziemlich gewagtes Vorgehen. Ich könnte Ihnen hier einiges über Entscheidungen, die in der vergangenen Legislaturperiode, also in Ihrer Regierungszeit, getroffen wurden, und über die personelle und materielle Ausstattung von Einrichtungen sagen, die der Sicherheit dienen. Aber das sollte man nicht auf dem öffentlichen Markt tun, das machen wir lieber im Innenausschuß. Ich finde, es ist ein Kompliment, wenn Sie meinen, daß ich alles, was Sie in 16 Jahren nicht zustande gebracht haben, in vier Monaten wieder in Ordnung bringen kann. Für dieses Kompliment bedanke ich mich bei Ihnen. ({3}) Ich habe gerade die EU-Innenminister im Rahmen der deutschen Präsidentschaft zusammenrufen lassen. Die Innenminister haben sich alle dafür bedankt, daß wir die Initiative ergriffen haben. Wir werden dafür sorgen, daß die europäische Zusammenarbeit in Fragen der inneren Sicherheit verbessert wird. Das ist notwendig. Hier haben wir die richtigen Wege beschritten. Wir können uns auch dazu beglückwünschen, daß es uns wahrscheinlich gelingen wird - bei Ihnen hat das immerhin vier Jahre gedauert; ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus; ich weiß, wie schwierig der Weg ist -, daß Europol während der Zeit der deutschen Präsidentschaft aller Voraussicht nach seine Arbeit aufnehmen wird. Zum Abschluß möchte ich Ihnen sagen: Unter allen Innenministern, mit denen ich in allerengstem Kontakt stehe und mit denen ich in Fragen der Migration, des Asyls usw. eng zusammenarbeite, hat es keinen einzigen gegeben, von dem ich auch nur eine Silbe des Tadels wegen unseres Staatsangehörigkeitsrechts gehört hätte. Es gab nur Anerkennung und Respekt. Vielleicht nehmen Sie auch das mit nach Hause, um Ihre heutigen nicht sehr sachlichen Ausführungen zu überdenken. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Guido Westerwelle, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, Sie haben hier zur Sachlichkeit, Mäßigung und Differenzierung in der Diskussion nach den Kurdenkrawallen aufgerufen. Das kann man gut nachvollziehen. Sie haben Umfragen zitiert und - wie die Redner vor Ihnen auch auf die tatsächlichen und völkerrechtlichen Schwierigkeiten hingewiesen, die mit Abschiebungen zusammenhängen, wie Folter und Todesstrafe. Aber wen haben Sie in diesem Hause damit ansprechen wollen? - Augenscheinlich haben Sie nicht die eigene Mannschaft angesprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen aus einem Interview, das Bundeskanzler Schröder dem „Stern“ gegeben hat und das morgen erscheint, zitieren: Frage: Können Sie Abschiebungen in ein Land verantworten, in dem gefoltert wird? Antwort: Das Völkerrecht setzt hier Grenzen. Aber kein Rechtsbrecher sollte glauben, daß er sich dahinter verstecken kann. Wir werden prüfen, ob wir an der Abschiebepraxis etwas ändern müssen. Hier besteht Handlungsbedarf. Wenn also selbst unser alleroberster und äußerst flexibler Bundeskanzler in einem solchen Interview auf eine solche Frage antwortet, daß die Abschiebepraxis erst überprüft werden müsse, ({0}) dann heißt das unter kundigen Thebanern natürlich, daß er die Abschiebepraxis verändern will. - Sie sind zwar neu im Parlament, aber da ich Sie kennengelernt habe, weiß ich, daß Sie kein bißchen blauäugig sind. Das ist doch albern. Natürlich ist Bundeskanzler Schröder ein wichtiger Teil in der Diskussion und setzt bei der Abschiebungsdiskussion Akzente, die auch meine Partei gefordert hat. Meine Partei hat beispielsweise gesagt, daß Gewalttäter im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen und einer menschlichen, rechtlich korrekten Behandlung - das ist selbstverständlich - auch abgeschoben werden müssen. Als Bundesinnenminister müßten Sie aber Ihrem eigenen Bundeskanzler viel mehr als dem überwiegenden Teil dieses Hauses vortragen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich das Wort dem Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In Ergänzung zu dem, was Herr Bundesinnenminister vorhin gesagt hat, erlaube ich mir insbesondere an den Vorredner Herrn Rüttgers den Hinweis, daß hinsichtlich der Geschehnisse in Berlin nicht nur der Innensenator der Stadt, der von der CDU gestellt wird, die Praxis der Polizei gebilligt hat; vielmehr haben alle im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien nach einer Sitzung des dortigen Innenausschusses erklärt, daß die polizeitaktische Praxis der Deeskalation, die auch von Herrn Westerwelle in einer früheren Rede schon gerügt worden ist, richtig war und wahrscheinlich dazu geführt hat, Menschenleben, zumindest die Gesundheit von Menschen, zu erhalten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Bundesinnenminister, zur Erwiderung erteile ich Ihnen das Wort.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Herr Kollege Westerwelle, ich habe nicht Ihr Privileg, schon heute das Vorabexemplar des „Stern“ zu sehen. Ich nehme an, daß Sie korrekt zitiert haben. Aus dieser Äußerung können Sie aber wahrlich nicht den Schluß ziehen, daß der Bundeskanzler eine Abschiebepraxis befürwortet, die einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention darstellt. Das ist schlicht eine Unterstellung, die in keiner Weise begründet ist. ({0}) Wie immer die Form der Abschiebung aussehen mag, nach der wir selbstverständlich suchen: Es geht nicht darum, zu einer Abschiebepraxis unter Mißachtung dieser Grundsätze zu gelangen. Herr Rüttgers hat diesen Briefwechsel erwähnt. Hiermit sind große Probleme verbunden. Herr Rüttgers, Sie kennen die Details nicht. Man hat in der Folge dieses Briefwechsels 200 Fälle gefunden, die eine Abschiebung ermöglicht hätten. Die Länder haben davon nur in einer Größenordnung von 20 bis 30 Fällen Gebrauch gemacht. Etwa das Land Bayern, das sonst oft vorausgeht - Herrn Stoiber haben wir heute gehört -, hat in genau vier Fällen Menschen abgeschoben. Dabei handelte es sich nur zu einem ganz geringen Teil - soweit Abschiebungen mit entsprechenden Garantien überhaupt in Betracht gezogen wurden - um PKK-Sympathisanten oder ähnliche Personenkreise. Damit wir hier ein ganz klares Bild haben, muß ich allerdings hinzufügen - ich glaube, vom Kollegen Ströbele sind Äußerungen dazu gekommen -:Es hat in keinem der Fälle, die dort zur Ausführung gelangt sind, etwas stattgefunden, was mit den Vereinbarungen nicht im Einklang war. Nichts dergleichen hat stattgefunden, weil man dort für die Gewährleistung der Vereinbarungen ein Überwachungssystem geschaffen hat. Ob das auch unter den veränderten aktuellen Umständen ausreicht, muß man vorurteilsfrei prüfen. Ungeachtet der Tatsache, daß die Wogen hochgehen und ich in keiner Weise billigen kann, was im Moment im Fall Öcalan in der Türkei geschieht - es steht mit rechtsstaatlichen Prinzipien in keiner Weise in Übereinstimmung -, bin ich der Auffassung, daß wir mit der Türkei auch weiterhin im Gespräch bleiben müssen, um zu einer Veränderung dieser Verhältnisse zu gelangen. Es hat gar keinen Zweck, hier nur in einer einseitigen Form über diese Dinge zu sprechen. Wir müssen das Kurdenproblem im Blick haben. Wir müssen dafür sorgen, daß sich die Türkei von Europa nicht entfernt. Wir müssen dafür sorgen, daß in der Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention respektiert wird. Das ist eine schwierige Aufgabe, der ich mich selbstverständlich stellen werde. Herr Kollege Westerwelle, unterstellen Sie dem Bundeskanzler bitte nicht, daß er auch nur im entferntesten daran denkt, die Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht einzuhalten. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Geschäftsbereich nicht vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie darauf verweisen, daß interfraktionell vereinbart worden ist, die Sitzung jetzt bis zu einer Stunde zu unterbrechen. Es ist möglich, daß wir wieder eher anfangen. Bitte informieren Sie sich. Der Wiederbeginn der Sitzung und damit der Aufruf und der Beginn der Debatte über den Geschäftsbereich „Wirtschaftliche Zusammenarbeit“ wird rechtzeitig bekanntgegeben. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder. Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das Wort hat Frau Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es steht mir vielleicht nicht zu, aber da ich auch Parlamentarierin bin, möchte ich darauf hinweisen, daß der Deutsche Bundestag zukünftig ein Stück mehr Kohärenz bei der Einteilung der Tagesordnungspunkte zur Diskussion zeigen sollte. Wenn Entwicklungspolitik nach Innen-, Justiz- und Außenpolitik diskutiert wird, dann ist das schwer nachvollziehbar. Ich bin auch bereit, dies jedem, der für die Organisation verantwortlich ist, ins Gesicht zu sagen. So viel dazu. ({0}) Die Aufgabe unserer Entwicklungspolitik und der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit ist die Mitgestaltung der Globalisierung. In diesem Sinne nehmen wir unsere Verantwortung in den internationalen Organisationen wahr und versuchen, unseren Einfluß auf die WTO und die neue Verhandlungsrunde zu organisieren. In diesem Sinne unterstützen wir mit unserem Haushalt vor allen Dingen auch regionale Zusammenschlüsse als eine Brücke zwischen lokalem und globalem Handeln und Denken. Ein aktueller Punkt ist das Lomé-Nachfolgeabkommen zwischen den europäischen und den AKPStaaten. Wir sind hier in einer entscheidenden Phase. Wir müssen das Abkommen neu aushandeln. Bei der Ministerkonferenz Anfang Februar dieses Jahres in Dakar haben wir unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft wichtige Fortschritte bei der Neuaushandlung erzielt. Aber wir werden die endgültigen Verhandlungen vom Planungsablauf her erst Ende dieses Jahres bzw. Anfang nächsten Jahres zu Ende bringen können. An dieser Stelle will ich ausdrücklich betonen, daß wir ganz engagiert darauf hinarbeiten, daß in diesem neuen Abkommen, das politischer sein muß, verantwortungsvolle Staatsführung, also „good gouvernance“, ein elementares Prinzip sein muß, nicht deshalb, weil die Europäer den Entwicklungsländern Vorschriften machen wollen; vielmehr wollen wir dies auch mit dem Ziel erreichen, daß die Finanzmittel, die von den europäischen Ländern gegeben werden, wirklich ankommen, zur Entwicklung beitragen und nicht in falsche Kanäle gelangen. Insofern ist „good gouvernance“ eine ganz wichtige Voraussetzung dafür, daß in diesem Abkommen Ergebnisse erreicht werden. ({1}) Ein weiterer Punkt, der zur Gestaltung von Rahmenbedingungen beiträgt, ist unsere Entschuldungsinitiative. Ich weiß um die Probleme hier. Ich könnte mir auch einen größeren Umfang vorstellen. Aber das Allerwichtigste ist doch, daß die extreme Verschuldung mancher armer Entwicklungsländer jeden Entwicklungsfortschritt für die Menschen dort zunichte macht. Ich möchte das noch einmal in Erinnerung rufen. Berechnungen der Vereinten Nationen zeigen, daß dann, wenn rund 30 Milliarden DM Schulden erlassen, die Finanzmittel umgewidmet und in das Gesundheitswesen, in den Erziehungsbereich und in den Ausbildungsbereich der Länder fließen würden, sieben Millionen Kinder in einem Jahr gerettet werden könnten. Deshalb fordere ich: Wir brauchen eine solche Entschuldungsinitiative, die wir mit Blick auf den Kölner Gipfel der G 7 vorgeschlagen haben. Wir wollen auch erreichen, daß sich die anderen G-7-Staaten an dieser Initiative beteiligen. ({2}) Dazu sage ich auch ausdrücklich: Mit dieser Initiative wollen wir aber nicht nur Schulden erlassen; vielmehr wollen wir auch - Herr Blüm, Sie waren dabei, als die katholische Organisation Misereor darauf hingewiesen hat - eine qualitative Konditionierung und einen qualitativen Schuldenerlaß erreichen. Das heißt: Das Ziel muß auch darin bestehen, daß beim Erlaß von Schulden - wir wollen hier weitergehen, als es die HIPC-Initiative vorsieht - die Entwicklungsländer ihren Weg in Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit sowie Armutsbekämpfung einschlagen. Deshalb wollen wir diese Initiative auch für eine solche Entwicklung dieser Länder nutzen und sie darauf entsprechend verpflichten. Wir haben gesagt, unsere Vorstellung von Entwicklungspolitik bestehe darin, zu erreichen, daß sie als Friedenspolitik verstanden wird. In diesem Haushalt gibt es erste Ansätze für den Aufbau eines zivilen Friedensdienstes. Dieser zivile Friedensdienst ist als ein Einsatz von Friedensfachkräften in der politisch-gesellschaftlichen Konfliktbearbeitung im Rahmen von anerkannten staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungsdiensten konzipiert. Es wäre eine ganz großartige Sache, wenn es nach der Diskussion über die weiteren Organisationsfragen, in denen wir sehr offen sind, möglich wäre, bereits in diesem Jahr mit der Ausbildung von Friedenskräften zu beginnen, so daß Einsätze in gezielten Bereichen bereits denkbar wären. Das wäre ein Zeichen ganz großer Initiative in Richtung auf einen solchen Friedenseinsatz. ({3}) Wir unterstützen - ich verkürze meine Ausführungen etwas - vor allen Dingen auch den Friedensprozeß im Nahen Osten. Wir unterstützen die Region mit Programmen in Höhe von 140 Millionen DM. Es handelt sich vorwiegend um Mittel für die palästinensischen Gebiete. Warum? Wir müssen doch ein großes Interesse daran haben, daß die Menschen in den palästinensischen Gebieten sehen, daß die wirtschaftliche Situation für sie endlich besser wird, damit auch für sie der Friedensprozeß mit einer Verbesserung ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage verknüpft ist, damit sie auf die Art und Weise dem Friedensprozeß verbunden bleiben und damit dem Extremismus entgegengearbeitet wird. Auch deshalb ist dies wichtig. ({4}) Mit dem jetzt vorgelegten Bundeshaushaltsplan haben wir den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes gestoppt und die Grundlage für eine Aufwärtsentwicklung geschaffen. Schon mit Blick auf das Finanzministerium bin ich weit davon entfernt, zu sagen: Wir sind völlig zufrieden. Aber, es ist so: Der jahrelange Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes, eines Entwicklungshaushalts, der als Steinbruch für andere Haushalte benutzt worden ist - in den letzten sechs Jahren war in diesem Bereich ein Minus von 9 Prozent zu verzeichnen -, ist gestoppt, und der Aufbau und die Vorbereitungen dafür, daß in diesem Bereich neue Schwerpunkte gesetzt werden können, ist sowohl beim Plafond - da werden wir 124 Millionen DM zusätzlich haben - als auch vor allen Dingen bei den Verpflichtungsermächtigungen deutlich gemacht worden, wo 500 Millionen DM zusätzlich vorgesehen sind. Das ist jedenfalls ein wichtiger Schritt dahin, Jahr für Jahr wiederaufbauen zu können und zu müssen. ({5}) Wir als Bundesregierung sehen in diesem Haushalt vor, daß wir vor allen Dingen im Bereich der multilateralen Institutionen, in die insgesamt 20 Prozent der Ausgaben des Einzelplans 23 fließen, wieder an das anschließen, was unser vorher von der internationalen Staatengemeinschaft und auch von Deutschland akzeptiertes Niveau ist. Das gilt zum Beispiel für die Beiträge zur Weltbank und zu den Regionalbanken. Wir haben den internationalen Fonds für Entwicklung der Weltbank entsprechend unseren Verpflichtungen wiederaufgebaut. Auch die Kollegin Eid hat sich um den Afrikanischen Entwicklungsfonds sehr bemüht. Wir sehen in unserem Haushalt zum erstenmal von unserer Seite aus einen Beitrag zur Entschuldung des Treuhandfonds der Weltbank vor. Das heißt, wir reden nicht nur von Entschuldung, sondern wir haben in unserem Haushalt auch einen entsprechenden Beitrag für diesen Treuhandfonds vorgesehen. Leider war es nicht möglich - das sage ich an die Adresse der christdemokratischen Kolleginnen und Kollegen -, die Kürzungen, die Theo Waigel in seinem Haushaltsentwurf für UNDP vorgesehen hatte, in diesem Haushalt rückgängig zu machen. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen? Weil von Altlast Theo Waigel 400 Millionen DM aus dem Europäischen Entwicklungsfonds für STABEX überhaupt nicht etatisiert waren. Das heißt, am Ende eines laufenden Prozesses von Lomé waren diese 400 Millionen DM nicht etatisiert. Das Finanzministerium hat verlangt - dagegen kann ich in Zeiten von Haushaltsklarheit und -wahrheit nichts einwenden -, daß sie etatisiert werden. Wir konnten erreichen, daß in den nächsten vier Jahren jeweils 100 Millionen DM veranschlagt werden. Wegen all der anderen Schwerpunkte ist es nicht möglich gewesen, die Kürzungen im Bereich UNDP rückgängig zu machen. Ich sage Ihnen aber: Wir werden, sobald es irgend möglich ist - allerspätestens beim nächsten Haushalt -, diese Kürzungen rückgängig machen, weil wir UNDP entsprechend unseren Verpflichtungen finanzieren möchten. ({6}) Ich halte aber auch ausdrücklich fest: Denjenigen von konservativer Seite, der jetzt sagt, das sei alles nicht in Ordnung, frage ich: Wo waren Sie eigentlich, als der Waigelsche Haushalt vorgelegt worden ist? Vor allen Dingen frage ich: Wo waren Sie, als die Diskussion über die Frage geführt wurde, daß diese 400 Millionen DM überhaupt nicht etatisiert wurden? Sie sollten sich das dann schon selbst fragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der multilateralen Zusammenarbeit ist der Bereich bilateraler Zusammenarbeit nach wie vor mit 45 Prozent der Mittel die größte Säule unserer Arbeit. Wir verwenden diese Mittel vorwiegend für Armutsbekämpfung und tragen dadurch maßgeblich zur Verwirklichung von internationalen Strategien in diesem Bereich bei. Im Haushalt haben wir einen neuen Schwerpunkt, den wir auch in den Länderprogrammen umsetzen werden, gesetzt: Wir haben für Klimaschutz und regenerative Energien Mittel bis zur Höhe von 300 Millionen DM für ein Programm zur Verfügung gestellt, das dazu beitragen soll, daß in den Entwicklungsländern eine Umorientierung auf erneuerbare Energien stattfindet und Klimaschutzprogramme praktiziert werden. Das ist im Interesse dieser Länder, aber auch in unserem Interesse, denn es gibt auch eng mit der Wirtschaft verbundene Interessen, von unserer Seite aus einen solchen Schwerpunkt zu setzen. ({7}) Ein ganz besonders wichtiger Ansatz unserer Entwicklungspolitik liegt in der engen Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Trägern. Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, daß für die konkrete Projektarbeit der privaten Träger zusätzlich 2 Millionen DM vorgesehen sind und für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit eben solcher Initiativen der Ansatz insgesamt um 37 Prozent ausgeweitet worden ist. Auch da kann, wie gesagt, immer noch mehr gemacht werden, aber ich denke, wir haben hier wichtige erste Schritte gemacht. Den Punkt der Partnerschaft mit der Wirtschaft in Entwicklungsfragen habe ich angesprochen. Auch das sollte an dieser Stelle erwähnt werden. An Sie alle gerichtet, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich: Der Entwurf des Entwicklungshaushalts geht nun zur Beratung in die parlamentarischen Ausschüsse. Ihren Verbesserungsvorschlägen stehen wir natürlich offen gegenüber. Vor allen Dingen sind wir auch gerne bereit, wenn noch Rückfragen zu einzelnen Elementen bestehen, diese entsprechend abzuklären. Ich möchte aber Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Unterstützung für verstärkte Investitionen in globale Zukunftssicherung und damit um Unterstützung für ein Stück konstruktiver Friedenspolitik in unserer Welt bitten. Wenn man sieht - dabei sage ich nichts zu den Debatten, die uns in diesen Tagen bewegen -, wieviel in letzter Konsequenz immer dann ausgegeben wird, wenn es um militärische Dinge geht, ({8}) dann kann man doch daraus nur den Schluß ziehen, daß dazu beigetragen werden muß, daß auch in diesem Bereich Fortschritte erreicht werden. Ich weiß, daß jeder sagt, noch etwas mehr wäre willkommen. Lassen Sie uns aber in obigem Sinne die Finanzierung dieses Stücks globaler Friedens- und Zukunftssicherung konstruktiv angehen. Ich bedanke mich sehr herzlich. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Michael von Schmude von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Michael Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung hat auch im Bereich der Entwicklungshilfe große Erwartungen geweckt, Kompetenz vorgetäuscht, Hoffnungen und Versprechungen gemacht; aber mit der Stunde der Vorlage des Haushalts kommt auch die Stunde der Wahrheit. Frau Ministerin, es hilft kein Schönreden: Ihrer Zielsetzung fehlt die finanzielle Grundlage. Sie sollten auch nicht den Versuch machen, sich reich zu rechnen. Die Wirklichkeit sieht nämlich ganz anders aus. Sie sprechen von einem Ausgabeplafond von - auf den Pfennig genau - 7,8 Milliarden DM. Der Betrag ist auffällig glatt, ja aalglatt gerechnet. Das Ergebnis feiern Sie, indem Sie sagen, es handele sich um einen Anstieg von 1,8 Prozent gegenüber dem alten Entwurf. Tatsache ist aber, daß der alte Regierungsentwurf mit 7,676 Milliarden DM plus 200 Millionen DM aus ForderungsverBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul käufen um 76 Millionen DM höher gelegen hat als der Entwurf, den Sie uns heute vorlegen. Wenn man das Endergebnis des Haushalts 1998 mit dem Entwurf vergleicht, der jetzt auf dem Tisch liegt, dann kann man feststellen, daß die Negativentwicklung noch deutlicher wird. Die Differenz beträgt 102 Millionen DM. Ich stelle fest - das können Sie nicht bestreiten -: Der Anteil am Bundeshaushalt sinkt von 1,7 Prozent auf 1,6 Prozent. ({0}) - Das ist das Ergebnis, wenn man Ihren Etat auf 488 Milliarden DM bezieht. Wie ist es nun zu diesem Desaster gekommen? Der Bundesfinanzminister hat den alten Regierungsentwurf genommen und dann 200 Millionen DM aus Forderungsverkäufen dazugerechnet. Dann haben Sie sich aber 76 Millionen DM für Minderausgaben abziehen lassen. Davon wurden völlig voreilig und verfehlt 29 Millionen DM für Wechselkursdifferenzen abgezogen. Außerdem haben Sie bei einem weiteren Punkt nicht aufgepaßt: Er hat Ihnen weitere 20 Millionen DM vom Plafond genommen, die er ausgeglichen hat, indem er Ihnen aus MOE-Mitteln ganze 20 Millionen DM daraufgepackt hat. Auf diese Weise kommen Sie auf den Betrag von 7,8 Milliarden DM. Eine wirkliche Erhöhung gibt es nicht. Der Finanzminister hat keinen Pfennig dazubezahlt. Im Gegenteil: Sie lassen es zu, daß er in Ihre Kasse greift, indem er die Forderungsverkäufe, die im Einzelplan 23 mit 124 Millionen DM ausgewiesen sind, für seinen BMF-Haushalt vereinnahmt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege von Schmude, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Schuster?

Michael Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Schuster, bitte.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr von Schmude, darf ich Ihre Ausführungen so verstehen, daß Ihre Fraktion im Rahmen der noch ausstehenden parlamentarischen Beratungen mit Deckungsvorschlägen zu Nachbesserungen bereit ist?

Michael Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme noch zu den Deckungsvorschlägen. Trotzdem bin ich Ihnen für diese Zwischenfrage dankbar. Lieber Herr Kollege Schuster, ich werde noch darauf hinweisen, wo wir Möglichkeiten sehen, durch Umschichtungen diesen Haushalt mit Substanz anzureichern, und wo wir zu mehr Haushaltswahrheit beitragen können, als dies bisher der Fall ist. Wir haben ferner festzustellen, daß der Bundesfinanzminister vollmundig angekündigt hat, den Schattenhaushalt, nämlich die Erlöse durch den Verkauf von Forderungen, aus dem Einzelplan 23 zu entfernen. Er weist aber nirgendwo in seinem Haushalt aus - weder im Einzelplan 32 noch im Einzelplan 60 -, wo der Erlös aus diesen Forderungsverkäufen bleibt. Er steckt den Betrag von 124 Millionen DM irgendwo in seinen großen Haushalt, ohne ihn auszuweisen. Dieses Vorgehen ist nicht seriös. Sie haben sich auch in diesem Punkt, Frau Ministerin, vom BMF über den Tisch ziehen lassen. Wir haben im vorigen Jahr gehört, daß das Volumen der Entwicklungshilfe weniger als ein Drittel der Einnahmen aus der Tabaksteuer ausmacht. Ich stelle fest, daß das Verhältnis in diesem Jahr noch schlechter wird. Wir haben ein Minus von 1,3 Prozent gegenüber den Entwicklungshilfeleistungen, die tatsächlich im Jahre 1998 geleistet wurden. Wenn Sie sich die Steigerungsrate in der Finanzplanung ansehen, dann werden Sie feststellen, daß die Entwicklung noch düsterer wird. Der Etat wird im Jahr 2000 nämlich nochmals um 1,6 Prozent zurückgehen. Nein, es geht nicht aufwärts, wie Sie gesagt haben, sondern abwärts. Abwärts geht es auch auf Grund der Wechselkurse. Sie haben im Haushalt mit einem Wechselkurs gegenüber dem Dollar von 1,6695 DM kalkuliert. Sie müssen heute schon 30 Millionen DM vom Bundesfinanzminister nachfordern, damit Sie nicht an die Substanz herangehen müssen, um die Differenz auf Grund des tatsächlichen Wechselkurses auszugleichen. Ich hoffe, daß die Oppositionserfahrung bei einigen Kolleginnen und Kollegen noch ausreicht, um sich dafür einzusetzen. Ich habe den Eindruck, daß der Bundesfinanzminister diesen Haushalt als eine Art Reservekasse betrachtet, die man noch kräftig anzapfen kann. Er rechnet nämlich folgendermaßen: Die Einnahmen aus Zinsen und Tilgung lagen im letzten Jahr rund 500 Millionen DM höher als der mit 1,742 Milliarden DM veranschlagte Betrag. Was soll das? Ein mehrjähriger Vergleich zeigt, daß hier ganz andere Summen anzusetzen sind. Wir werden da auf eine Korrektur drängen. Das gleiche gilt für den Verkauf von Forderungen. Wir wollen, daß diese Mehreinnahmen wieder voll dem Einzelplan 23 zugute kommen, Herr Dr. Schuster, und nicht nebulös irgendwo im großen Wust des Bundesfinanzministers verschwinden. ({0}) Klärungsbedürftig ist auch die Tatsache, daß Sie sich auf der einen Seite über fehlende Stellen in Ihrem Hause beklagen, auf der anderen Seite aber Personalkostensteigerungen von 4,3 Prozent ausweisen. Gleichzeitig gibt es aber eine Stellenkürzung von 1,5 Prozent, und es soll eine Lohnnebenkostensenkung auf breiter Basis erfolgen. Wir werden diesen Punkt noch besonders untersuchen. Von großer Bedeutung sind die FZ und die TZ. Wir hatten bei der FZ 1998 ein Ergebnis von 2,533 MilliarMichael von Schmude den DM. Jetzt wollen Sie nur noch 2,289 Milliarden DM ansetzen. Das ist nicht zu akzeptieren. Für die nächsten Jahre wollen Sie außerdem auf 1,5 Milliarden DM Forderungen verzichten. Vorrangig sollte nach meiner Meinung von dem Instrument der Umwandlung von Schulden in nationale Maßnahmen zur Armutsbekämpfung usw. Gebrauch gemacht werden. Hier haben wir gesehen, daß die hierfür bereitgestellten 210 Millionen DM erstmalig 1998 fast voll ausgeschöpft wurden. Sie haben unsere Unterstützung, wenn es darum geht, diesen Titel auszuweiten; da sind wir dabei. Die Mittel für die Technische Zusammenarbeit sind leicht erhöht worden, aber auch hier besteht eine Täuschung. Wir haben jetzt 1,165 Milliarden DM; 1998 waren es tatsächlich 1,151 Milliarden DM. Wir wollen, daß dieser Titel aufgestockt wird. Ich werde dazu noch einen Deckungsvorschlag machen. Die Verbundfinanzierung ist um 500 Millionen DM erhöht worden. Das begrüßen wir, aber das haben wir bereits im eigenen Regierungsentwurf so vorgesehen. Nun komme ich zu den europäischen Zahlungen. Diese Bundesregierung sagt immer: Wir zahlen zuviel an Europa. Ja, wir zahlen zuviel an Europa; wir zahlen auch jetzt zuviel. Die STABEX-Beiträge sind noch gar nicht fällig, aber sie werden voreilig zurückgeführt. Ihr eigener Staatssekretär legt den Berichterstattern ein Papier auf den Tisch, nach dem man auch ganz anders verfahren könnte. Ich könnte Ihnen das im einzelnen vortragen, aber mir fehlt hier die Zeit. Er sagt, man könne beispielsweise in diesem Jahr 75 Millionen DM oder noch weniger zurückführen. Wir haben hier keinen Handlungszwang, so schnell zu reagieren. Ich sage Ihnen auch: Die Mittel für die Programme des EEF sind viel zu hoch veranschlagt. 1998 hatten wir sie 12 Millionen DM zu hoch, 1997 238 Millionen DM zu hoch und 1996 sogar 420 Millionen DM zu hoch veranschlagt. Vor dem Hintergrund der schleppenden Programmittelumsetzung in Brüssel werden wir Kürzungen in diesem Titel zugunsten der FZ und der TZ sowie zugunsten von UNDP fordern. ({1}) Skandalös ist die Tatsache, daß Brüssel jetzt von uns STABEX-Beiträge zurückgezahlt bekommt, für deren Stundung wir allerdings Zinsen zahlen müssen. ({2}) Aber die Europäische Union braucht dieses Geld gar nicht. Sie legt es bei den Banken als Termingeld an. Das muß dem deutschen Steuerzahler einmal vermittelt werden. ({3}) Da bin ich der Meinung, Sie sollten Ihren Kanzler auffordern, hier als EU-Ratspräsident für Abhilfe zu sorgen. Ich sage Ihnen ebenfalls, daß beim EEF-Titel nicht sauber gearbeitet wurde, auch seitens des BMF. Hier wird als Wechselkurs jetzt der offizielle Euro-Kurs von 1,95583 zugrunde gelegt. Die alte Bundesregierung mußte noch schätzen. Sie hat ihn mit 1,97632 geschätzt. Aber an der Gesamtsumme hat sich im Entwurf nichts geändert. Das heißt, Sie haben jetzt 10 Millionen DM Luft in diesem Titel. Diese muß abgelassen werden. Entweder macht das der Finanzminister, oder wir sorgen gemeinsam dafür, daß das Geld dem Haus durch Umschichtung erhalten bleibt. Ich bin dabei. Unzureichend ist natürlich auch der Ansatz für die Expo. Sie haben hier nur 30 Millionen DM vorgesehen, aber 45 Millionen DM müßten es sein. Darüber hinaus legt die Bundesregierung fest, daß es für die Expo keine Verpflichtungsermächtigung geben soll. Wir haben aber eine Bundesbürgschaft beschlossen, und es ist so gut wie sicher, daß diese Bürgschaft in Anspruch genommen werden muß. Wir lassen das durch den Rechnungshof und auch durch andere prüfen. Hier liegt ein Verstoß gegen geltendes Haushaltsrecht vor. Wenn erkannt wird, daß eine Bürgschaft gefährdet ist, muß eine Verpflichtungsermächtigung ausgebracht werden. Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß wir dies so nicht hinnehmen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Haushalt hat versteckte und offenkundige Mängel. Neue Akzente sind kaum erkennbar. Der Wille zum Sparen ist ebensowenig zu spüren wie das Ausnutzen von Möglichkeiten, den Einzelplan effizienter und effektiver zu machen. Eine negative Signalwirkung geht von diesem Haushalt für die deutsche Entwicklungshilfe aus. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Hermenau von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schmude, haben Sie einen Zwillingsbruder? Die Zeiten ändern sich; wir ändern uns in ihnen. Das will ich Ihnen zubilligen. Aber heute haben Sie mich einigermaßen verblüffen können. Aber zumindest weiß ich jetzt aus Ihrer Rede, was Sie in den nächsten zehn Monaten zu machen gedenken. Sie bewegen sich auf der Suche nach den Schnupperpreisen, den 124 Millionen DM, die Sie irgendwo versteckt vermuten. Aber reden wir über diesen Etat. Ich gehe auf bestimmte Punkte, die Sie gebracht haben, gerne ein. In den letzten Jahren ist das Bemühen darum, in der schwierigen Lebenswelt vieler Bürger in diesem Lande Verständnis dafür zu finden und um Verständnis dafür zu werben, wie wichtig die entwicklungspolitische Zusammenarbeit ist, von Ihnen kontinuierlich verachtet worden. Sie haben sich dem nicht gestellt, obwohl das Aufkommen an Spenden aus privaten Vermögen der Bürgerinnen und Bürger eine Ermutigung dargestellt hätte, diese Debatte offensiv und nicht defensiv zu führen. ({0}) Reden wir über die Erblasten dieses Etats. Ich bin Ihnen, Herr Kollege von Schmude, übrigens dankbar dafür, daß Sie selbst auf eine ganze Reihe von schwierigen Verhaltensweisen des vorigen Finanzministers aufmerksam gemacht haben, die in dieser Deutlichkeit von Ihrer Fraktion bisher noch nie zur Sprache gebracht worden sind. Sprechen wir zum Beispiel über das Verhältnis von multilateraler und bilateraler Zusammenarbeit. In den letzten Jahren bestand, von Ihnen konservativpolitisch vorgeschlagen, die Tendenz, mehr und mehr aus der multilateralen in die bilaterale Zusammenarbeit zu wechseln, weil die Kontrolle besser ist, und zwar in doppelter Weise. Auf der einen Seite sei es uns so möglich, die europäischen Partner unter Kontrolle zu halten, die das Geld sowieso nur verschlampten; auf der anderen Seite sei in der bilateralen Zusammenarbeit die Kontrolle über die Empfängerländer besser. Die Frage ist, wohin dieser Standpunkt führt. Er hat sicherlich auf der einen Seite dazu geführt, daß wir eine Reihe von finanzpolitischen Instrumenten in der bilateralen Zusammenarbeit verschärfen und präzisieren konnten; das halte ich für gelungen. Er hat aber auf der anderen Seite dazu geführt, daß wir uns aus unserer europäischen Verantwortung in der multilateralen Zusammenarbeit verabschiedet haben, und zwar, wenn Sie mich fragen, mehr aus Knauserigkeit als aus politischen Gründen. Jetzt ist eine Pendelbewegung nötig. Oder hat sich Deutschland aus der Debatte in der Europäischen Union verabschiedet, als man für die Währungsunion gesorgt hatte? Hat man gesagt, jetzt mag Europa werden, wie es will; wir nehmen nicht mehr gestaltend an den Debatten in Europa teil? - Doch wie wollen wir an der Gestaltung der Debatten teilnehmen, wenn wir uns weigern, unsere Pflichtbeiträge zu zahlen? Dieser Zusammenhang muß hergestellt werden. Es war ziemlich wohlfeil, im Wahlkampf zu behaupten, jetzt werde alles anders, man werde jetzt die multilaterale Hilfe aufstocken; selbst die Konservativen haben das gesagt. Die 75 Millionen DM, die jetzt für UNDP vorgesehen sind, sind eine der traurigen Erblasten dieses Etats. ({1}) Ich denke, es ist möglich, noch einmal daran zu arbeiten. Wir werden sehen, wie die Haushaltsberatungen im Parlament verlaufen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß wir da noch Verbesserungen erreichen. Aber ich möchte auf eines hinweisen: Es wird immer wieder versucht, einen Konflikt zwischen denjenigen, die als entwicklungspolitische Fachpolitiker gelten, und denjenigen, die als haushaltspolitische Fachpolitiker gelten, herzustellen. Damit möchte ich konstruktiv aufräumen. Ich halte das für falsch. ({2}) Wenn es den Finanzpolitikern nicht gelingt, entwicklungspolitische Schwerpunktsetzungen zu verstehen, es aber andererseits den Entwicklungspolitikern nicht gelingt, sich mit der finanzpolitischen Verantwortung für das Ganze auseinanderzusetzen, dann werden wir weiter große Reibungsverluste in der parlamentarischen Arbeit haben. Aber es geht auch anders, und ich hoffe, daß das in den Beratungen des 99er Haushaltes spürbar zu werden beginnt. Ich hoffe sehr, daß angesichts der schwierigen strukturellen Veränderungen, die wir in den nächsten vier Jahren gerade in diesem Etat vornehmen müssen, die Zusammenarbeit fruchtbar verläuft. Da sind wir wieder bei den Erblasten aus dem alten Etat. Denken wir zum Beispiel an die Pipeline bei den Verpflichtungsermächtigungen. Da kann man hier natürlich groß vom Leder ziehen und sagen: Dieser und jener Baransatz fehlt; da und dort müßten noch 10 Millionen DM hinzugefügt werden. Sie selber, Herr Kollege von Schmude, wissen, wie sich die Abwärtsschraube der Verpflichtungsermächtigungen in den letzten Jahren gedreht hat. Für diejenigen, die nicht wissen, was eine Verpflichtungsermächtigung ist: Das ist das Vorhaben einer Geldausgabe für das nächste und das übernächste Jahr. Man verpflichtet sich sozusagen, in den Folgejahren soundso viel für etwas auszugeben. Die Höhe dieser Verpflichtungsermächtigungen wurde immer weiter heruntergeschraubt. Dann waren im folgenden Jahr auch weniger Barmittel eingestellt worden, weil ja die Höhe der Verpflichtungsermächtigung geringer war, und dann hat sich die Schraube immer weiter nach unten gedreht. Mit dieser sehr linearen, sehr einfachen und wenig konfliktfähigen Haushaltstitelverwaltung, mit einem Etat, der jahrelang an einem Tropf gehangen hat, trauen Sie sich jetzt hier in die Debatte und versuchen, uns die schwierigen Bemühungen, diesen Etat strukturell wieder lebensfähig und nachhaltig zu machen, vor die Füße zu werfen. Sie bemühen sich überhaupt nicht, sich an einer Verbesserung konstruktiv zu beteiligen. ({3}) Sich über ein unerwartetes Problem wie die STABEX-Beiträge herzumachen, das ist schon frech und braucht eine gewisse Chuzpe. Sie wissen ganz genau, daß diese Beiträge in den letzten Jahren nicht abgefordert wurden und daß sie zum Wohl des Gesamthaushaltes, aber nicht zum Wohl des BMZ verwendet worden sind. Insofern ist in der Sache durchaus eine Bringschuld des Gesamthaushaltes festzustellen. Die Frage, was machbar ist, müssen wir aber im Detail besprechen. Ich werbe in dieser Diskussion dafür, daß wir sehr konstruktiv versuchen, die strukturellen Defizite, die Sie über Jahre aufgehäuft haben, Schritt für Schritt und Jahr für Jahr abzubauen und diesen Haushalt lebensfähiger zu machen. Ich weiß, daß es in der entwicklungspolitischen Gemeinde eine große Ungläubigkeit darüber gibt, ob das ernstgemeint sein kann. Sie schüren das auch noch auf verantwortungslose Art. ({4}) Ich bin der Meinung: Wenn wir es jetzt nicht schaffen, diesen Haushalt nachhaltig und strukturbildend zu gestalten, dann verpassen wir wirklich die Chance, die die entwicklungspolitische Zusammenarbeit auch für Deutschland verheißt. An dieser Stelle möchte ich auf die Instrumente eingehen, die wir zur Verfügung haben. Es gibt ja - das ist zu Recht so festgestellt worden - zwei gegenläufige Entwicklungen: Die eine betrifft Länder, deren Situation sich wirtschaftlich deutlich verbessert und die zu Schwellenländern werden und mehr und mehr ohne unsere Unterstützung auskommen oder andere Formen unserer Unterstützung, die durch mehr Eigenverantwortung gekennzeichnet sind, in Anspruch nehmen können. Die andere betrifft die Länder, die aus der Verschuldungsfalle nicht herauskommen und noch mehr verarmen. Diese beiden Tendenzen sind vorhanden. Zur Unterstützung dieser Länder gibt es Instrumente, wobei wir es jetzt in Angriff nehmen müssen, diese Instrumente zu modernisieren, zu verfeinern und zu differenzieren. Sprechen wir über die finanzielle Zusammenarbeit. Wir sollten die Möglichkeiten der finanziellen Zusammenarbeit - das sage ich hier in aller Klarheit - bereichern und erweitern. Denn die kärglichen Möglichkeiten des Bundesetats werden auf Dauer nicht ausreichend sein. Ich stehe für eine konstruktive Debatte über eine Verbundfinanzierung bereit. Ich bin der Meinung, daß wir im Bereich der finanziellen Zusammenarbeit mit Schwellenländern dieses Mittel durchaus deutlich stärker ausschöpfen können, als dies in den letzten Jahren geschehen ist. Ich bitte darum, daß wir uns nicht mehr mit einer gewissen falschen Scham dahinter verstecken, um Gottes willen keine wirtschaftlichen Interessen mit der Entwicklungszusammenarbeit verbinden zu wollen. Ich finde, es ist Zeit für eine neue Ehrlichkeit, die darin besteht, daß man zugibt: Es gibt Länder, bei denen wir von christlicher Nächstenliebe und menschlicher Solidarität sprechen. Da wird es sicherlich ein Unding sein, von wirtschaftlichen Interessen zu sprechen. Aber es gibt auch Schwellenländer, wo gemeinsame wirtschaftliche Interessen auch gemeinsam wahrgenommen und ausgehandelt werden können. ({5}) Diese Debatte werden wir in den nächsten Jahren führen. Denn wenn es uns gelingt, die finanzielle Zusammenarbeit mehr und mehr in den wirtschaftlichen Sektor einzufügen, dann haben wir wieder Luft für eine Stabilisierung der technischen Zusammenarbeit. Die, glaube ich, ist dringend geboten. Wir müssen die technische Zusammenarbeit stabilisieren. Das soll in den nächsten vier Jahren der Trend sein. Ich möchte folgendes zum Schuldenerlaß, der hier von konservativer Seite kritisiert worden ist, sagen: Wie können wir denn den in Deutschland entwickelten Maßstab der Haushaltssanierung, der darin besteht, nach und nach die Verschuldung abzubauen - wir haben deutlich gesagt, daß das eines unserer wichtigsten Ziele ist; denn wir denken auch an unsere Kinder und an die Nachhaltigkeit auf diesem Gebiet -, nicht auf die Entwicklungsländer übertragen, indem wir ihnen zumuten, neue Gelder aufzunehmen und uns die Zinsen für ihre Schulden bei uns zu zahlen? ({6}) Ich möchte noch auf ein letztes Beispiel eingehen: Vielleicht wissen die einen oder anderen, daß die Ökobank ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert hat. Wenn es etwas gibt, was wir aus dem zehnjährigen Bestehen der Ökobank lernen können, dann ist es das, daß man nicht unbedingt auf eine Rendite verzichten muß. Wir sprechen nicht immer nur vom „Gutmenschentum“, wie Sie es immer diffamieren. Vielleicht könnte man sich ja aufraffen, zugunsten ökologischer und sozialer Ziele auf die höchstmögliche Rendite zu verzichten. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Joachim Günther von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit großem Interesse habe ich in unserer ersten Ausschußsitzung als Neuer in diesem Ausschuß Ihre Ausführungen, Frau Ministerin, verfolgt, und ich habe mir gesagt: Donnerwetter, jetzt versucht sie, aus dem BMZ wieder ein richtiges Ministerium zu machen, das heißt, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik sollen nicht als notwendiges Übel betrachtet werden. So haben Sie das dargestellt. Ihre Hauptpunkte waren, die Entwicklungspolitik müsse in den Kernbereich von Politik gestellt und dort verankert werden; es gehe um die Bündelung der entwicklungspolitischen Aufgaben - die Federführung bei den Verhandlungen von Lomé soll also beim BMZ liegen; das soll auch für den gesamten Bereich der Transform-Programme für Osteuropa gelten -, und andere Teilbereiche, die verstreut in anderen Ministerien angesiedelt sind, wollen Sie zurückholen. Gemessen an den guten Absichten, ist der Haushaltsansatz mit seiner Steigerung um 1,8 Prozent - wenn ich das, was Herr von Schmude gesagt habe, hinzunehme, muß ich sagen, daß dieser Haushaltsansatz unter dem des letzten Jahres bleibt - noch nicht ein Ergebnis, das diesen ersten Ankündigungen entspricht. ({0}) Ich weiß ja auch, wie schwierig solche Verteilungskämpfe sind. Aber daß die Entwicklungszusammenarbeit in dem vom Bundespresseamt herausgegebenen Arbeitsprogramm der Bundesregierung für 1999 mit überhaupt keinem Wort erwähnt wird, das finde ich schon bedenklich. Wir möchten Sie dabei unterstützen, wenn Sie Ihr Ressort wieder im Kernbereich von Politik verankern wollen. ({1}) Es gibt aber auch Festlegungen Ihrer Regierung, deren Interpretation mir größte Schwierigkeiten bereitet. So sprechen Sie von einer Aufwertung der Entwicklungspolitik zu einer globalen Strukturpolitik, und gleichzeitig lassen Sie die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben zur Verfügung stehenden Planstellen zum 31. Dezember 2000 entfallen. Das ist eigentlich unglaubwürdig. Wenn jetzt auch noch der deutsche Beitrag zum UN-Entwicklungsprogramm - Sie haben es zwar vorhin mit Altlasten begründet - um 25 Prozent gekürzt wird, dann steht das eigentlich im Widerspruch zu Ihrem Koalitionsvertrag, ({2}) in dem eine eindeutige Stärkung des UN-Entwicklungsprogramms angekündigt wird. Abgesehen davon, daß hierdurch das Ansehen Deutschlands als eines zuverlässigen Partners der Entwicklungsländer geschädigt wird, wäre die Kürzung auch entwicklungssystematisch ein Fehler. Daß international koordinierte Entwicklungshilfe effizienter ist als eine Vielzahl von bilateralen Ansätzen, ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der letzten Zeit, und deshalb wäre nicht eine Streichung, sondern eine Erhöhung des deutschen Beitrags - Sie haben davon gesprochen, daß Sie das pro Jahr um 100 Millionen DM aufstocken wollen, wenn ich Sie richtig verstanden habe - ein Gebot der Stunde. Darüber hinaus ist offensichtlich übersehen worden, daß Sie mit diesen Kürzungsplänen auch das in Bonn angesiedelte UN-Freiwilligenprogramm, eine Unterorganisation des UNDP, indirekt treffen. Im übrigen wäre die Bundesregierung gut beraten, wenn sie ihre Koordinierungsrolle im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft bei den Verhandlungen über die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union mit den AKP-Ländern nicht durch Kürzungen belasten würde. ({3}) Unsere Partner erwarten, daß von der deutschen EUPräsidentschaft entscheidende Impulse für die laufenden Verhandlungen ausgehen. Bisher sind noch keine klaren Standpunkte erkennbar, ({4}) und wir müssen die Gestaltung einer zukünftigen europäischen Entwicklungspolitik deutlicher erkennbar werden lassen. Dem von Außenminister Fischer bei der EU/AKPMinisterkonferenz am 8. Februar 1999 in Dakar angekündigten neuen Schub für die Verhandlungen müssen jetzt Taten folgen. Sie haben gesagt: bis Jahresende. Das heißt, wir brauchen ein umfassendes Reformkonzept, das durch die deutsche EU-Präsidentschaft unterstützt wird. Neben der Armutsbekämpfung sollte dabei vor allem der Stärkung der Eigeninitiative Vorrang eingeräumt werden. Voraussetzung hierfür sind rechtsstaatliche Rahmenbedingungen, Wettbewerb, Privatisierungen, die wirksame Bekämpfung von Korruption und die Herstellung von Bedingungen für einen freien Handel. Sie haben gesagt, daß verantwortungsvolle Staatsführung ein wichtiges Thema der nächsten Zeit ist. Das ist richtig; denn verantwortungsvolle Staatsführung, Eigeninitiative und freier Handel haben im Endeffekt für die dritte Welt eine viel größere Bedeutung als die gesamte öffentliche Entwicklungshilfe. Die F.D.P.-Fraktion wird daher einen eigenen Antrag zur europäischen Entwicklungspolitik einbringen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, die Rechtsstaatlichkeit und eine marktwirtschaftlich orientierte Wirtschafts- und Handelspolitik. Aus den vier Jahrzehnten der Entwicklungspolitik haben wir gelernt, daß reine Ressorttransfers und neue Verteilungsmechanismen das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung eher behindern. Die zur Verfügung stehenden Mittel müssen vorrangig zur Förderung von nachhaltiger Eigeninitiative eingesetzt werden. Staatliche Entwicklungspolitik sollte in ihrer Rahmenplanung neben dem multilateralen Ansatz in erster Linie auf die Kooperation mit der Privatwirtschaft setzen. Das beachtliche entwicklungspolitische Potential wirtschaftlicher Investitionen muß stärker gefördert werden. Es ist selbstverständlich, daß eine so verstandene echte wirtschaftliche Zusammenarbeit für beide Seiten von Nutzen sein muß. Ebenso selbstverständlich sollte es daher sein, daß die finanzielle staatliche Flankierung der Zusammenarbeit zumindest dort, wo es möglich ist, mit entsprechenden Lieferbindungen verbunden wird. Warum zum Beispiel sollten Wasserpumpen für deutsche Bewässerungsprojekte in der Sahelzone nicht auch in Deutschland gekauft werden? Für unsere britischen und französischen Partner ist es eine Selbstverständlichkeit, daß der Einsatz derartiger Mittel auch der heimischen Wirtschaft zugute kommt. ({5}) In Zeiten knapper Kassen gilt es, über die Entwicklungspolitik generell nachzudenken. 60 Prozent der Weltwirtschaftshilfe kommen aus Europa. Um es aus meiner Sicht zu sagen: Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Die EU vergibt Projekte - es erfolgt lediglich ein kritisches Abnicken durch die Staatssekretärsrunde -, die Länder machen Einzelprojekte, und zur Freude vieler, die sich auf diesem Gebiet schon kennen, trifft man sich irgendwo im Urwald wieder. Joachim Günther ({6}) Die F.D.P. möchte Sie, Frau Ministerin, auffordern, die gegenwärtige Krise der EU-Kommission zu nutzen, um für eine Neuordnung der Verhältnisse zwischen den EU-Staaten und in der EU selbst zu sorgen. Wir brauchen eine klare Arbeitsteilung, die aufeinander richtig abgestimmt ist. Nicht über mehr finanzielle Mittel ist mehr Einfluß zu erreichen, sondern durch politische Entscheidungen. Man muß einmal den Mut haben, Positionen in Weltbank, regionalen Entwicklungsbanken und anderen Entscheidungsgremien verstärkt mit deutschem Personal zu bestücken bzw. dies zumindest zu versuchen. ({7}) Zusammengefaßt kann ich sagen, daß der Einzelplan 23 noch nicht alle Möglichkeiten einer effektiven Entwicklungshilfe aufzeigt. Aber wir sichern zumindest unsere Unterstützung zu. Danke. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion das Wort.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, nach der Durchsicht des Einzelplans 23 war ich - das möchte ich meinen Erörterungen gleich voranstellen - doch ziemlich enttäuscht. Das hat vor allem damit zu tun, daß ich den meisten Äußerungen von Ihnen, Frau Ministerin, aus den letzten Monaten auch konzeptionell zustimmen konnte und ich es für unabdingbar im Sinne einer nachhaltigen und solidarischen Entwicklung in allen Teilen der Welt halte, daß die bisherigen Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit evaluiert und im Sinne einer internationalen Strukturpolitik transformiert werden. Gleiches gilt für die Frage der Schuldenpolitik und - um auch die EU-Ebene anzusprechen - für die laufenden Verhandlungen im Rahmen des LoméNachfolgeprozesses, wo aus Sicht der PDS ein deutliches Zeichen gegen das Ansinnen gesetzt werden muß, die EU/AKP-Zusammenarbeit künftig über Freihandelsabkommen zu strukturieren. Natürlich fand auch die Verpflichtung im Koalitionsvertrag unsere Zustimmung, dem international vereinbarten Ziel von 0,7 Prozent am Bruttosozialprodukt für Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit wieder näherkommen zu wollen und den bisherigen Abwärtstrend umzukehren. Denn die Erblast der alten Bundesregierung mit einem Anteil von 0,28 Prozent am Bruttosozialprodukt war nicht nur außen- und entwicklungspolitisch ein Skandal; auch moralisch war das eine Bankrotterklärung. ({0}) Aber welche Konsequenz haben Sie daraus gezogen oder sollte ich sagen: ließ man Sie daraus ziehen, Frau Ministerin? Welche konkreten Schritte wurden eingeleitet, um der internationalen Verantwortung eines der reichsten Länder auch tatsächlich gerecht zu werden? Ich habe dabei nicht den entwicklungspolitischen Zauberstab erwartet - das nicht! Was ich aber erwartet habe; war eine Gewichtsverlagerung in Ihrer Regierungspolitik, waren Phantasie und Kreativität und der Bruch zumindest mit einem Teil der bisherigen Konzepte und der bisherigen Praxis. Aber genau das ist leider nicht zu erkennen: nicht im Haushalt und nur äußerst beschränkt in der Schuldenfrage. Was das Gewicht innerhalb der neuen Regierungspolitik betrifft, ist die Trendwende, wenn überhaupt, nur zu erahnen. Erinnern Sie sich etwa an das unwürdige Gedränge Ihres Kollegen Fischer im Rahmen der deutschen Delegation zur Ministerrunde in Dakar, das nicht nur zu einer merkwürdigen Kompetenzverteilung geführt hat, sondern das man auch als ein politisches Signal werten könnte: mehr Fischer und dafür weniger Wieczorek-Zeul. Wenn das so sein sollte, bedauere ich das sehr; das sage ich Ihnen ganz ehrlich. ({1}) Doch nun zum Haushalt. Auf Grund der kurzen Redezeit nenne ich nur Stichpunkte mit Beispielcharakter; denn die eigentlichen Debatten stehen in den nächsten Wochen erst noch an. Erstens. Der Haushaltsansatz für 1999 bleibt trotz zunehmender regionaler Krisen, sich verschärfender Ernährungsprobleme und dem sich verstetigenden Prozeß der wirtschafts-, entwicklungs- und infrastrukturpolitischen Abkoppelung großer Teile der sogenannten dritten Welt hinter dem Ist-Stand des Haushalts 1998 zurück. Selbst die Steigerung im Einzelplan 23 im Vergleich zum Soll für 1998 entspricht nicht einmal dem Wachstum des Gesamthaushaltes. Er fällt damit weiter zurück, wohl auch im Vergleich zum Bruttosozialprodukt. Ich kann meinem Kollegen von Schmude in dieser Frage leider nur recht geben. Zweitens. Insgesamt kann man zudem feststellen, daß nicht nur die Höhe des Haushalts, sondern auch seine Struktur nahezu gleichgeblieben ist, quasi Sprangersche Handschrift trägt. Wo sind die neuen Ansätze, die Alternativen? Wo bleibt Ihre politische Entschlossenheit, mit der Sie in der Öffentlichkeit bisher für das Anliegen einer modernen und vor allem effizienteren Entwicklungszusammenarbeit und für die Korrektur bisheriger Fehlentwicklungen aufgetreten sind, etwa wenn es um die Kritik der Politik der direkten und indirekten Exportförderung deutscher Unternehmen als wesentliches Element der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit geht? Drittens. Was wurde aus Ihrem Anspruch in der Koalitionsvereinbarung, für die Reform und Stärkung der Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen mehr Verantwortung übernehmen zu wollen? Kürzung des Beitrages für UNDP um 25 Prozent - bereits mehrfach angesprochen -, leichte Kürzung für UNIDO, starke Einschnitte bei Beiträgen zur Globalen Umweltfazilität und keine Anhebung - auch das ist ein Signal - für das Frauenförderprogramm UNIFEM der UNDP, obwohl Sie doch zu Recht mehrfach darauf hingewiesen Joachim Günther ({2}) haben, welche Bedeutung den Frauen im Rahmen entwicklungspolitischer Maßnahmen zukommt. Auch die Schrödersche Schuldeninitiative, die, bevor sie auf dem G-7/G-8-Gipfel überhaupt eingebracht wird, schon zahlreiche öffentliche Vorschußlorbeeren erhalten hat, ist als angekündigte Trendwende viel zu zaghaft, weil im Haushalt nur minimale Konsequenzen gezogen wurden. Wie ist es etwa mit der Forderung unter anderem der Erlaßjahrkampagne, die haushaltsrechtlichen Bestimmungen dergestalt zu verändern, daß auch unabhängig vom Pariser Club Schuldenerlasse bilateral vorgenommen werden können? Was ist mit den DDRSchulden, die auch nach den heutigen Aussagen von Staatssekretärin Eid auf einer WEED-/Terre-deshommes-Veranstaltung ein Antagonismus sind?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, ich bitte, zum Schluß zu kommen.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bin so gut wie fertig. Warum soll auch weiterhin der Schuldendienst an den Finanzminister und nicht in einen Fonds für Projekte der Armutsbekämpfung oder des Umwelt- und Ressourcenschutzes fließen? Wir werden diese Fragen im einzelnen in den nächsten Wochen erarbeiten. Deshalb nur noch einen Satz: Es gibt auch abseits der wirtschaftsliberalen Globalisierungsdoktrin ein internationales Denken und Handeln. Die Frage einer gerechten Weltwirtschaftsordnung steht neben der Menschenrechtsfrage in dessen Zentrum. Diesem grenzüberschreitenden, solidarischen Denken zum Durchbruch zu verhelfen muß Anspruch unserer Entwicklungspolitik sein, oftmals auch erst werden. Dabei steht die rotgrüne Bundesregierung in einer hohen Verantwortung. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich von der CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn man es nicht hören will, muß es wiederholt werden: Der Haushalt sackt gegenüber dem Ist des Jahres 1998 ab. Ich kann das nicht ändern. Ich kenne die Schwierigkeiten, sich mit dem Finanzminister zu unterhalten, aus eigener Erfahrung. Ich will das nicht weiter ausbreiten. Aber zumindest, was den beamteten Staatssekretär betrifft, befinden Sie sich in einer guten Kontinuität. Wir hatten unsere Schwierigkeiten; Sie haben Ihre Schwierigkeiten. Aber die Fakten sind nun einmal, wie sie sind. Deshalb müssen sie noch einmal wiederholt werden: Der Einzelplan 23 1998 weist genau 7,916 Milliarden DM aus; der jetzt vorliegende Haushaltsplan sieht 7,8 Milliarden DM vor. Ich gebe zu, ich war in Mathematik schlecht; dennoch sind das 116 Millionen DM weniger. Das sind die Fakten. Von einer Steigerung kann also nicht die geringste Rede sein. Folgendes kommt hinzu. Die Sache mit STABEX ist völlig überflüssig. Herr von Schmude hat darauf hingewiesen, jetzt wird aus Ihrem Hause selbst - Frau Ministerin, vielleicht sind Sie noch nicht darüber informiert - angeregt, die 100 Millionen DM nicht vorzusehen. Reden Sie darüber noch einmal mit dem Finanzminister, der dem BMZ etwas aufdrücken möchte, was überhaupt nicht erforderlich ist. Ich wiederhole es: Tatbestand ist, daß die Mittel von der EU nicht benötigt werden. Wie soll man dem deutschen Steuerzahler erklären, daß wir Geld überweisen, für das wir einen Kredit aufnehmen müssen, das bei der EU auf die hohe Kante gelegt wird, und die EU dafür Zinsen bezieht? Das können Sie niemandem erklären. ({0}) Das sind die Fakten. Deshalb ist es auch nicht notwendig, die Summen entsprechend auszuweisen. Wir sind gerne bereit, uns über Zwischenschritte zu unterhalten. Auf jeden Fall werden wir beim EEF bei den Haushaltsberatungen einen drastischen Kürzungsvorschlag unterbreiten. ({1}) Immer wieder klang heute durch, daß diskutiert würde, schrittweise den Anteil der multilateralen Ausgaben am Haushalt zugunsten der bilateralen zurückzuführen. Ich möchte alle Kollegen sehr sorgfältig daran erinnern, daß es sich um einen gemeinsamen Beschluß des Haushaltsausschusses aus der vorletzten Legislaturperiode handelt. Es kann keine Rede davon sein, daß das ein Einfall der damaligen Koalition gewesen sei; das war im damaligen Haushaltsausschuß einvernehmlich beschlossen. Wenn man das ändern will, dann muß der Haushaltsausschuß eine bestimmte Korrektur vornehmen. Auch sonst stimmt es nicht: Der Anteil des Multilateralen ist - durch manchmal sehr großzügige Zusagen des früheren Bundeskanzlers gegenüber den Franzosen - gerade im EEF nachhaltig angestiegen, so daß wir von dem Ziel, unter 30 Prozent zu kommen, noch weit entfernt sind. Wenn jetzt plötzlich im Zusammenhang mit dem UNDP geklagt wird, so muß ich sagen: Das hat uns in der Tat der Finanzminister der alten Regierung aufgedrückt. Aber warum haben Sie es nicht geändert? Sie haben doch angekündigt, wie wichtig Ihnen die multilateralen Organisationen sind. Wenn man alles besser machen will, kann von Erblast überhaupt keine Rede sein. Hätten Sie es doch besser gemacht! Sie haben es aber nicht gemacht, also muß man Ihnen das entsprechend vorwerfen. Als nächstes möchte ich einen Bereich ansprechen, der uns große Sorgen macht und der auch im Haushalt das eine oder andere widerspiegelt: Das ist die Situation in Afrika. Wir müssen feststellen, daß die Bundesregierung hilflos, zum Teil auch ratlos vor den Problemen steht, wobei ich einräume, daß niemand ein Patentrezept zur Lösung der Probleme in Afrika hat. Im zuständigen Fachausschuß ist aber zum Beispiel die präzise Frage der Opposition „Was machen Sie eigentlich, wenn die militärischen Interventionen einer Reihe von afrikanischen Staaten fortgesetzt werden, mit der EntwicklungsCarsten Hübner hilfe?“ nicht beantwortet worden. Simbabwe zum Beispiel sind sogar vor kurzem noch einmal 55 Millionen DM zugesagt worden. Wie soll man es dem deutschen, dem europäischen Steuerzahler oder überhaupt den Armen auf dieser Welt erklären, wenn Millionen und Abermillionen aus dem direkten und aus dem verdeckten Staatshaushalt eines Landes wie Simbabwe für ein militärisches Abenteuer im Kongo bereitgestellt werden und wir - möglicherweise nicht nur wir Deutschen alleine, sondern die internationale Gebergemeinschaft - das im Haushalt ausgleichen? Darauf muß eine Antwort gegeben werden. Die Bundesregierung verweigert bisher diese Antwort. Wenn ein Staat wie Angola, dessen Erdöleinnahmen im offiziellen Staatshaushalt überhaupt nicht auftauchen, irgendwo militärisch interveniert, müssen daraus Konsequenzen für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit gezogen werden. Auch darauf erwarten wir in absehbarer Zeit eine Antwort der Bundesregierung. ({2}) Frau Ministerin, wir hatten Ihnen das Angebot zur kooperativen Zusammenarbeit gemacht. Im Grundsatz steht dieses Angebot noch, es ist aber keine Einbahnstraße. Damit spreche ich ein etwas schwieriges Problem an. Was - „in Gottes Namen“ kann man in diesem Zusammenhang als Theologe nicht sagen - hat Sie eigentlich geritten, gegen alle Gewohnheiten der Personalpolitik im BMZ bei der Neubesetzung der Abteilungsleiter nicht einen einzigen CDU-Mann zu berücksichtigen? Die alte Administration hat immer einen Repräsentanten Ihrer Partei berücksichtigt. Ich halte das für einen miesen Stil. ({3}) Überlegen Sie noch einmal, ob das die Voraussetzung für eine konstruktive Zusammenarbeit ist. Bisher ist der Bereich der Entwicklungspolitik immer noch einer gewesen, der nicht in den klassischen parteipolitischen Streit hineingezogen worden ist. Bisher ist die Zusammenarbeit im AWZ hervorragend, dafür möchte ich mich bei allen Kollegen ausdrücklich bedanken. Ich darf aber auch die Bundesministerin bitten, durch ihre Personalentscheidung atmosphärisch einen Beitrag zu einer konstruktiven und soliden Zusammenarbeit zwischen Opposition und Regierung zu leisten. ({4}) Ein Punkt sollte bei der grundsätzlichen Debatte über unsere Entwicklungspolitik noch angesprochen werden. Wir müssen in Zukunft stärker darauf achten, daß unsere Partnerländer eine größere Eigenverantwortung übernehmen. ({5}) Diesem Punkt haben wir seit vielen Jahrzehnten, aus welchen Gründen auch immer - ich will gar nicht an die Zeit des kalten Krieges zurückdenken, in der es machtpolitische Überlegungen waren -, nicht die ausreichende Aufmerksamkeit gewidmet. Deshalb begrüße ich durchaus, was Sie zu „good governance“ gesagt haben. Wir müssen darauf bestehen - anders macht Entwicklungshilfe keinen Sinn, und wird Entwicklung nicht möglich -, daß unsere Partnerländer die Rahmenbedingungen, die Voraussetzungen für Entwicklung schaffen. Eine Frage müssen wir intensiver diskutieren: Ist es eigentlich unsere Aufgabe, in einem Schwellenland wie zum Beispiel Indien die Armutsbekämpfung mit deutscher Entwicklungshilfe zu finanzieren, während dieses Land Geld für militärische Operationen hat und sich verweigert, selber eine durchgreifende Armutsbekämpfung zu betreiben? ({6}) Mein Freund Christian Ruck sagt immer, wenn wir diese Frage diskutieren: Wenn wir es nicht machen, wer macht es dann? Die machen es doch nicht. Dazu kann ich nur sagen: Hier müssen alle politischen und sonstigen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um unsere Partnerländer an ihre Eigenverantwortung zu erinnern. ({7}) Es kann nicht sein, daß ärmere Entwickungsländer nicht die ausreichenden Ressourcen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen, für Basisgesundheitssysteme, für die Grundbildung und für die primitivsten Formen von Wohnungsbau zur Verfügung stellen, obwohl sie diese Ressourcen haben, während wir gleichzeitig in einem zunehmenden Maße korruptive Strukturen in unseren Partnerländern feststellen müssen. Das heißt, wir appellieren, die Eigenverantwortung unserer Partnerländer stärker als bisher zu einem Grundsatz unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zu machen. Ein letztes kurzes Wort zur Verschuldung: Vielleicht, Frau Ministerin, liegen wir gar nicht so weit auseinander. Auch wir sind dafür, daß der Schuldenberg abgetragen wird. Wir müssen aber sicherstellen, daß wir nicht im Jahre 2005 oder im Jahre 2010 das gleiche Problem haben. Deshalb ist Voraussetzung, daß die Länder sich in diesem Zusammenhang auf Situationen beschränken, in denen Verschuldung wirklich sinnvoll ist. Herr Tietmeyer von der Deutschen Bundesbank hat in einem bemerkenswerten Aufsatz - ich kann Ihnen nur empfehlen, ihn nachzulesen - zu den ethischen und ökonomischen Aspekten von Schuldenerlaß darauf hingewiesen - ich darf zitieren -: Es ist keineswegs sicher, daß ein genereller Schuldenerlaß tatsächlich die Bedürftigen erreichen würde. Was wir aber sicherstellen müssen, ist, daß Schuldenerleichterung die Armen erreicht und nicht die Korrupten. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat erneut die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt nur zwei Minuten Zeit, um einige Punkte richtigzustellen. Zunächst einmal erspare ich mir Kommentare zu dem, was Sie hier gesagt haben, Herr Hedrich. Denn es ist schon eine gewisse Peinlichkeit, wenn diejenigen, die in den letzten Jahren die politische Verantwortung getragen haben, sich hier hinstellen und den Eindruck vermitteln, es sei alles völlig anders. Sie haben wirklich lange genug Zeit gehabt, etwas anders zu machen. ({0}) Ich möchte noch einmal fragen: Wo war eigentlich der Protest derjenigen, als der Waigel-Etat hier vorgestellt worden ist und die UNDP-Kürzungen vorgelegt worden sind? ({1}) Ich möchte an die Adresse derer aus dem CDU-Lager, die hier gesprochen haben - ich danke der F.D.P. dafür, daß sie das hier sehr differenziert betrachtet hat -, sagen: In sechs Jahren ist der Entwicklungsetat, verglichen mit den anderen Etats, um 9 Prozent reduziert worden, unter anderem auch während Ihrer Regierungszeit. Das ist der Etat mit den umfangreichsten Kürzungen und Streichungen gewesen. Wer sich hier hinstellt und nicht ein Stück Eigenverantwortung für die heutige Situation einräumt, der handelt zutiefst unehrlich und heuchlerisch; das muß ich Ihnen wirklich sagen. ({2}) Wir müssen das, was Sie über viele Jahre angerichtet haben, jetzt rückgängig machen. Dafür erwarte ich Ihre Unterstützung und kein Herumgemäkel. Um es einmal klarzustellen: Nach dem Vorschlag Waigels sollte der Anteil des Entwicklungshaushalts am Gesamthaushalt 1,65 Prozent betragen. Nach unserem Vorschlag liegt der Anteil des Entwicklungshaushalts am Gesamthaushalt bei 1,7 Prozent. ({3}) Das ist die einzig präzise Aussage zu den Relationen, die man da treffen kann. Alles andere ist der Versuch, eine Sache schlechtzureden, die Sie selbst in Ihrer Regierungszeit nie hinbekommen haben. Dann möchte ich noch einiges zu den Zahlen sagen. Man kann natürlich nicht, wie es der eine oder andere gemacht hat, die Ist-Zahlen 1998 mit den Soll-Zahlen 1999 vergleichen. Das ist ein Vergleich von Äpfeln und Birnen. Jeder weiß - zumindest auch Herr Hedrich -, daß in den Ist-Zahlen in diesem Bereich auch nicht abgeflossene Mittel enthalten sind. Die Ist-Zahlen 1998 und die Ist-Zahlen 1999 kann man vergleichen. Man kann aber nicht die Ist-Zahlen 1998 mit den Soll-Zahlen 1999 vergleichen. Wer das tut, argumentiert nicht, sondern versucht, Stimmung zu machen, und erweckt falsche Vorstellungen. Zum Schluß möchte ich etwas an die Adresse derjenigen sagen, die Lomé angesprochen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Mandat für Lomé ist im letzten Herbst erteilt worden, also nicht zu Zeiten der jetzigen Bundesregierung, sondern zu Zeiten der früheren. Ich bin gehalten, entsprechend diesem Mandat im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft zu verhandeln. Man kann sich da auch etwas anderes vorstellen. Aber ich bin gehalten, mich daran zu orientieren. Über jede andere Frage zur Afrikapolitik, über Details zu Lomé bin ich gern bereit zu diskutieren. Aber ich sage vor allem an die Adresse der CDU: Es ist mehr Ehrlichkeit und mehr Anstand im Umgang mit der Geschichte, die Sie beim Entwicklungshaushalt selbst zu verantworten haben, erforderlich. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin hat die Kollegin Adelheid Tröscher von der SPD-Fraktion das Wort. Bitte schön, Frau Tröscher.

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie so oft findet die Debatte über Entwicklungspolitik zu später Stunde statt. Aber wir wissen, wie wichtig wir sind, und wir werden immer wichtiger. Wir wollen die Entwicklungspolitik entlang den Leitlinien einer globalen Strukturpolitik reformieren, weiterentwickeln und effizienter gestalten. Wir wollen natürlich auch die Eigenverantwortung stärken, Herr Hedrich, die Korruption bekämpfen und „good governance“ belohnen. Um in diesen Politikbereich eine Leitlinie hineinzubringen, dazu hatten Sie allerdings viel Zeit. Die neue Bundesregierung hat Wort gehalten. Wir sind stolz darauf, daß hier einiges gelungen ist, und sind auch zuversichtlich, daß noch Weiteres auf den Weg gebracht werden wird. Als einen ganz zentralen Punkt ihrer Arbeit haben die Koalitionsparteien vereinbart, den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes umzukehren und vor allem die Verpflichtungsermächtigungen kontinuierlich und maßvoll zu erhöhen. Auch in diesem Punkt haben wir Wort gehalten. Wir haben den Abwärtstrend des Einzelplans 23 gestoppt und die Grundlage für den Aufwärtstrend gelegt. Vor allen Dingen wollen wir Klarheit in den Haushalt bringen, also die Schattenhaushalte auflösen, damit wir wirklich mit den Zahlen rechnen können, die der Haushaltsplan ausweist. ({0}) Wir haben die systematischen Kürzungen der alten Bundesregierung im Einzelplan 23 gestoppt, die Mittel insgesamt erhöht und die Eingriffe vor allem bei den Verpflichtungsermächtigungen beendet. Das ist ein gutes und richtiges Signal der neuen Bundesregierung an unsere Partnerländer im Süden und im Osten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, von besonderer Relevanz ist auch, daß die Aufsplittung der entwicklungspolitischen Aufgaben in unterschiedlichen Ressorts nunmehr aufgehoben wird und hier für mehr Kohärenz gesorgt werden kann. Das BMZ - darum beneiden uns einige in der CDU sehr - ist insgesamt gestärkt worden. Dies war auch dringend erforderlich. Wir machen wieder eine globale Strukturpolitik, was in den letzten Jahren nicht der Fall war. ({1}) Die neue Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die globalen Rahmenbedingungen inhaltlich mitzugestalten und ihre Aufgaben und Verpflichtungen im Rahmen von multilateralen Institutionen wie der Weltbank, des IWF und der Vereinten Nationen verstärkt wahrzunehmen und zu intensivieren. So wurde beispielsweise - das ist auch schon gesagt worden - die Ausstattung des afrikanischen Entwicklungsfonds um rund 100 Millionen DM erhöht. Das ist, wenn wir gerade an den afrikanischen Kontinent denken, von ganz besonderer Bedeutung. Außerdem werden erstmals 50 Millionen DM für die Entschuldungsinitiative der Weltbank ausgewiesen, und zur Erfüllung des Montrealer Protokolls werden ebenfalls weitere Mittel bereitgestellt. So etwas nennen wir eine Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit. Sie können davon ausgehen, daß die neue Bundesregierung die Effizienz der multilateralen Finanzierungsmaßnahmen durch entwicklungsund sozialverträgliche Strukturanpassungsprogramme und durch eine bessere Verzahnung mit den bilateralen Programmen erhöhen wird. Daran hat es in der letzten Zeit gefehlt. ({2}) Noch ein Wort zu UNDP: Wir haben stets betont, daß wir für eine Reform und eine Stärkung der Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen eintreten. Dies ist und bleibt so. Wieviel Mittel nun an UNDP fließen, werden die laufenden Haushaltsberatungen zeigen. Unsere Haushälter haben signalisiert - wir haben das mit großer Freude wahrgenommen -, daß sie in diesem Punkt geprächsbereit sind. ({3}) Wir hoffen, daß dabei eine Erhöhung um 25 Millionen DM herausspringt. Wir werden auf jeden Fall daran arbeiten und zusammen mit den Haushältern ganz bestimmt eine Lösung finden, die auch UNDP gefallen wird. In den zukünftigen Haushalten werden die UNDPMittel erhöht werden. Eine Zusammenarbeit mit UNDP kann auch unserer eigenen bilateralen Entwicklungspolitik nur guttun. ({4}) Sie haben von den Altlasten gehört, die wir zu tragen haben. Wir bleiben aber bei unserem Ziel, unser Engagement bei den internationalen Organisationen zu verstärken, wobei, wie gesagt, UNDP besonders zu erwähnen ist. Das, was Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in den letzten Jahren unter anderem bei UNDP gekürzt haben, werden wir wieder rückgängig machen. In den letzten zwei Jahren waren es allein 45 Millionen DM; das ist natürlich schon ein stolzer Betrag. In der Koalitionsvereinbarung hatten SPD und Grüne weiterhin festgelegt, daß wir das Bewußtsein für internationale Zusammenhänge stärken wollen und deshalb ein besonderes Gewicht auf die entwicklungspolitische Arbeit der NROs, der Nichtregierungsorganisationen, legen und deren Arbeit verstärkt fördern wollen. Im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit kommt nämlich den NROs eine hohe Bedeutung zu. Wir haben das wiederholt gesagt, und ich sage es fast in jeder Rede. Ich denke, die NROs sind in der Entwicklungszusammenarbeit unverzichtbar. ({5}) Ihre der Partnerschaft verpflichtete Arbeit zielt darauf ab, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und die vorhandenen Potentiale der Partner in den Entwicklungsländern zu nutzen. Ich möchte deswegen an dieser Stelle auch einmal all jenen kirchlichen Organisationen und den politischen Stiftungen, lokalen wie überregionalen Organisationen und all den vielen Nord-Süd-Foren meinen besonderen Dank und meine Anerkennung für die von ihnen täglich geleistete Arbeit aussprechen. ({6}) Wir müssen unsere Anstrengungen intensivieren, die Bevölkerung durch Informations- und Bildungsarbeit über die Zusammenhänge internationaler Politik und Interessen Deutschlands aufklären. Demokratie lebt unter anderem auch vom Vertrauen der Bürger in die Qualität politischen Handelns. Ich bin deshalb sehr dankbar, daß die neue Bundesregierung die Mittel für die konkrete Projektarbeit der privaten Träger erhöht hat, daß vor allem der Ansatz bei der Inlandsarbeit für die entwicklungspolitische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit gegenüber 1998 - da war der Abwärtstrend besonders drastisch - um fast 40 Prozent erhöht wird. Wir werden das in den nächsten Jahren kontinuierlich weiter tun. Dies ist ein guter Schritt in die richtige Richtung und wird die Zusammenarbeit mit den NROs stärken helfen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Einzelplan 23 ist ein überzeugender Schritt in die richAdelheid Tröscher tige Richtung, Entwicklungspolitik zu einer globalen Strukturpolitik weiterzuentwickeln und aufzuwerten. Insgesamt kann man sagen: Die Mittel sind erhöht worden, das Ministerium wurde gestärkt, und die richtigen Schwerpunkte wurden gesetzt. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 25. Februar, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.