Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Mit großen Worten hat die Koalition vor einigen
Wochen den Gesetzentwurf der Öffentlichkeit präsentiert.
Von einem Meilenstein, ja sogar von einem Paradigmenwechsel in der deutschen Ausländerpolitik war die Rede.
In der Tat hat dieses Gesetz eine überragende Bedeutung
für die Zukunft unseres Landes. Sie nehmen nämlich
tatsächlich eine völlige Veränderung des Kurses der deutschen Ausländer- und Zuwanderungspolitik vor. Dieses
Gesetz, würde es denn in Kraft treten, würde in der Tat die
deutsche Gesellschaft in wenigen Jahren stark verändern.
Gut ist der Titel des Gesetzes; er hat allerdings einen
gravierenden Nachteil: Er hat mit dem Inhalt relativ wenig zu tun. Das dürfte aber auch der Zweck sein.
({0})
Begriffe wie Steuerung und Begrenzung sollen der Bevölkerung das Gesetz schmackhaft machen und den Eindruck vermitteln, die Bundesregierung habe das Ziel, die
nach wie vor starke Zuwanderung nach Deutschland spürbar zu reduzieren. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall.
Auch hier gilt: Entscheidend ist nicht, was auf einem Gesetz draufsteht, sondern entscheidend ist, was in einem
Gesetz drinsteht.
({1})
Das Gesetz verfolgt ja gerade nicht das Ziel, die Zuwanderung zu reduzieren, sondern das Ziel, sie auszuweiten.
Noch gilt im Ausländerrecht der Grundsatz, dass der
Stopp der Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften
und die Begrenzung der Zuwanderung im öffentlichen Interesse liegen. Diese politische Grundsatzentscheidung,
die nach wie vor richtig ist, soll durch dieses Gesetz ausdrücklich aufgehoben werden.
Ich zitiere:
Zu den öffentlichen Interessen gehören nicht länger
eine übergeordnete, ausländerpolitisch einseitige
Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung
oder der Anwerbestopp. Um eine an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes orientierte flexible Steuerung der Zuwanderung aus Erwerbsgründen zu ermöglichen, wird in diesem Bereich auch der dem
gesamten Ausländerrecht zugrunde liegende Grundsatz der einseitigen Zuwanderungsbegrenzung aufgegeben.
Das ist der Inhalt des Gesetzes. Dies hat nichts mit dem zu
tun, was der Innenminister hier eben erzählt hat.
({2})
Im Gegensatz zur Überschrift verfolgt dieser Gesetzentwurf das Ziel, sowohl mehr ausländischen Arbeitnehmern - keineswegs, wie oft behauptet, nur hoch qualifizierten - den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu
ermöglichen als auch bei der Zuwanderung aus humanitären Gründen neue Bleiberechte zu schaffen, was eine
Ausweitung des Familiennachzugs einschließt.
Herr Kollege Dr. Struck, vor wenigen Wochen hat Ihnen Ministerpräsident Stoiber in der Sendung „Sabine
Christiansen“ unter Bezugnahme auf den Gesetzestext
vorgehalten, dass sich durch diesen Entwurf die Zuwanderung nach Deutschland erhöhen würde. Sie haben das
heftig bestritten und am 28. November in diesem Hause
erklärt:
Wir sind darüber einig ..., dass wir eine Zuwanderung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen nur für so
genannte High Potentials brauchen. Es wird zu keiner zusätzlichen Ausländerschwemme kommen, die
Herr Beckstein und Herr Stoiber suggerieren.
({3})
Es ist unanständig, mit solchen Ängsten zu arbeiten.
({4})
Herr Kollege Dr. Struck, dieser Vorwurf fällt nun auf
Sie zurück.
({5})
Nur § 19 des Gesetzes betrifft Hochqualifizierte. § 18
spricht ganz allgemein von „der Beschäftigung“ eines
Ausländers.
({6})
Dort ist weder von einer besonderen beruflichen noch von
einer wissenschaftlichen Qualifikation die Rede.
({7})
§ 20 soll die Zuwanderung in so genannten Auswahlverfahren selbst dann ermöglichen, wenn überhaupt kein
konkretes Arbeitsmarktbedürfnis besteht, ja sogar ohne
Nachweis auch nur eines einzigen Arbeitsplatzangebotes.
Nicht Herr Stoiber oder Herr Beckstein argumentieren unanständig,
({8})
sondern diejenigen, die nur halbe Wahrheiten sagen.
({9})
Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bürsch?
Selbstverständlich.
Herr Bosbach, es war ja
heute schon von Leseschwäche die Rede. In Abs. 2 des zitierten Paragraphen Wolfgang Bosbach ({0}): Welcher?
- des § 20 des Zuwanderungsgesetzes, über das wir heute diskutieren, - steht:
Das Auswahlverfahren erfolgt im wirtschaftlichen
und wissenschaftlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland und dient der Zuwanderung qualifizierter Erwerbspersonen, von denen ein Beitrag zur
wirtschaftlichen Entwicklung und die Integration in
die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten sind.
Exakt.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es einen Abs. 2 gibt, der zur Wahrheitsfindung
beiträgt?
Herr Dr. Bürsch,
nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass Sie weder lesen noch
zuhören können.
({0})
Ich habe gerade gesagt, dass die Zuwanderung nach dem
Auswahlverfahren selbst dann möglich ist, wenn kein
konkretes Arbeitsplatzangebot - geschweige denn ein Arbeitsvertrag - nachgewiesen werden kann. Das haben Sie
mit Ihrer Wortmeldung dankenswerterweise gerade ausdrücklich bestätigt.
({1})
Die Grünen sind - Kompliment! - da schon ehrlicher;
denn sie verheimlichen nicht, was mit diesem Gesetz geplant wird. Ein Originalzitat von Kerstin Müller:
Mit dem Zuwanderungsgesetz wird Deutschland
endlich ein Einwanderungsland.
({2})
Dieses Gesetz soll demnach die Zuwanderung nicht begrenzen.
Eine solche Politik wird nicht nur von einer breiten
Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt - fast zwei Drittel
wollen weniger und nicht etwa mehr Zuwanderung -, eine
solche Politik kann auch nicht mit der Zustimmung von
CDU und CSU rechnen.
({3})
Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland
({4})
und kann es aufgrund seiner historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auch nicht werden.
({5})
- Es gibt die Institution des Zwischenrufes. Sie aber kultivieren die Institution des Zwischenbrüllens, Herr Kollege Stiegler. So können wir hier nicht miteinander umgehen.
({6})
Man kann doch nicht ernsthaft die Ansicht vertreten,
dass wir einen Mangel an Zuwanderung hätten. Wir haben
in den vergangenen Jahrzehnten Menschen aufgenommen
wie kaum ein anderes Land auf dieser Welt. Alleine nach
der Wiedervereinigung - ({7})
- Warum ist es Ihnen eigentlich so peinlich,
({8})
wenn man unbestreitbare Tatsachen vorträgt,
({9})
von denen Sie wissen, dass sie stimmen? Das ist auch der
Grund, warum Sie panische Angst davor haben, dass wir
über Zuwanderung und Integration im Wahlkampf sprechen.
({10})
Sie möchten nämlich nicht, dass herauskommt, was Sie
vorhaben. Das ist der Grund.
({11})
Wir müssen jedes Jahr eine Anzahl von Menschen in
der Größenordnung der Einwohnerzahlen von Städten
wie Nürnberg oder Dortmund integrieren. Wir haben
18 Jahre lang, von 1955 bis 1973, so genannte Gastarbeiter angeworben. Aber wir haben schon Anfang der
70er-Jahre festgestellt, dass eine zu starke Zuwanderung
nicht nur die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes, sondern auch die Integrationskraft unseres Landes überfordert.
({12})
Es war Willy Brandt, der damals gesagt hat, dass wir sehr
sorgsam überlegen müssen, wo die Aufnahmefähigkeit
unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft
und Verantwortung Halt gebieten.
({13})
Am 23. November wurde dann von der sozialliberalen
Koalition die weitere Zuwanderung von Gastarbeitern aus
Nicht-EG-Ländern gestoppt. Damals, im Jahre 1973, lebten in unserem Land 4 Millionen Ausländer, von denen
knapp 2,6 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Heute sind es 7,3 Millionen Ausländer,
von denen nur noch gut 2 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.
Natürlich ist die Veränderung dieser Relation auch eine
Folge des starken Familiennachzuges nach 1973. Aber
das ändert doch nichts an der Tatsache, dass der Anteil der
ausländischen Erwerbslosen doppelt so hoch ist wie ihr
Anteil an der Bevölkerung und dass der Anteil der ausländischen Sozialhilfeempfänger dreimal so hoch ist wie
ihr Anteil an der Bevölkerung. Diese Zahlen ändern wir
nicht mit mehr Zuwanderung, sondern nur mit mehr Integration.
({14})
Angesichts der Zahl von knapp 4 Millionen registrierten Arbeitslosen plus 1,5 Millionen im zweiten Arbeitsmarkt muss doch die Vermittlung, die Umschulung sowie
die Weiterqualifizierung deutscher und ausländischer Arbeitnehmer vor dem weiteren Zuzug auf den deutschen
Arbeitsmarkt stets Vorrang haben.
({15})
Natürlich ist es richtig, dass wir uns an dem weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe beteiligen müssen.
({16})
Wir würden uns selber schaden, wenn wir uns nicht darum
bemühen würden, dass auch ausländische Spitzenkräfte
mit besonderen wissenschaftlichen Qualifikationen und
beruflichen Fähigkeiten hier in Deutschland arbeiten.
({17})
Das sind Menschen, die uns weiterhelfen. Aber dafür
müssen wir doch nicht das gesamte geltende Recht vom
Kopf auf die Füße stellen.
({18})
Wir müssen doch nicht etwas völlig Neues schaffen und
die Steuerungsfunktion des Visumverfahrens aufgeben.
Es ist einfach falsch, wenn behauptet wird, dass die Gewinnung von Spitzenkräften nach geltender Rechtslage
unmöglich sei. Das hat bis vor kurzem auch der Innenminister nicht anders gesehen. In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 7. Januar haben Sie, Herr Schily, in einem Interview auf die Feststellung „Die Wirtschaft sagt auch,
dass sie Zuwanderung benötigt“ geantwortet:
Wenn mir Siemens sagt, wir brauchen soundso viele,
bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein
Zuwanderungsgesetz. Das geht schon mit dem geltenden Ausländergesetz.
({19})
Wieso soll das heute nicht mehr stimmen? Warum haben
Sie vor zehn Minuten von dieser Stelle aus das Gegenteil
gesagt?
Natürlich ist es volkswirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch problematisch, dass wir auf der einen Seite alles
in allem mehr als 5 Millionen Arbeitslose haben und auf
der anderen Seite viele hunderttausend offene Stellen
nicht besetzen können. Aber es ist einfach falsch, zu behaupten, dass es sich hierbei nur um Stellen handelt, für
die man eine ganz besondere berufliche oder wissenschaftliche Qualifikation benötigt.
({20})
Selbst im Boom-Jahr 2000 konnte das Institut für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung keinen generellen
Fachkräftemangel feststellen. Partielle Mangellagen insbesondere in Schlüsselbranchen und bei Schlüsselqualifikationen sind zwar zu beobachten, bei hoher Unterbeschäftigung derzeit jedoch nicht das Kernproblem am
deutschen Arbeitsmarkt.
({21})
Dann muss das Kernproblem ein anderes sein. In vielen Fällen dürfte die Unbesetzbarkeit offener Stellen daran liegen, dass die Differenz zwischen der staatlichen
Transferleistung, den Sozialleistungen und den zu erwartenden Erwerbseinkommen so gering ist, dass es
sich für zu viele bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht
lohnt, eine Arbeit aufzunehmen. Es besteht da aber kein
Handlungsbedarf in der Ausländerpolitik, sondern es besteht Bedarf an einer klugen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Am Monatsende muss der mehr in der Tasche haben,
der arbeiten geht.
({22})
Es kann doch nicht richtig sein, lediglich regionale Arbeitsmarktprüfungen vorzunehmen. Das Arbeitskräftepotenzial muss doch bundesweit ausgeschöpft werden,
um die Mobilität der Arbeitnehmer zu fördern und um
staatliche Transferleistungen zu vermindern.
({23})
Wie oft haben wir in den letzten Monaten gehört, dass
wir aus wirtschaftlichen und demographischen Gründen Zuwanderung brauchten. Das hört sich so an, als hätten wir bis heute überhaupt keine gehabt. Wer so argumentiert, meint doch nicht Zuwanderung, sondern mehr
Zuwanderung. Das ist auch das Ziel des Gesetzentwurfes.
Der Innenminister sagte vor kurzem:
Ich glaube aber nicht, dass wir derzeit zusätzlich aus
wirtschaftlichen oder demographischen Gründen
Zuwanderung brauchen.
({24})
Diese nach wie vor richtige Erkenntnis steht genau im Widerspruch zu dem Gesetzentwurf.
({25})
Dieser Gesetzentwurf beinhaltet ellenlange Ausführungen zur demographischen Entwicklung in unserem Land.
({26})
Das ist in der Tat eine politische und eine gesellschaftliche Herausforderung, aber doch nicht bezüglich der Zuwanderung, sondern für die Familienpolitik. Eine bessere
Familienpolitik ist das Gebot der Stunde.
({27})
Natürlich müssen wir - Herr Schily, Sie haben darauf
hingewiesen - auch in Zukunft unsere humanitären Verpflichtungen erfüllen. Daran gibt es doch überhaupt keinen Zweifel.
({28})
Das stellt doch niemand infrage. Bis vor wenigen Tagen
haben Sie selbst noch gesagt, dass das deutsche Recht
keine Schutzlücken hat. Das stimmt. Warum soll das jetzt
nicht mehr gelten? In den vergangenen Jahrzehnten haben
wir wie kaum ein anderes Land aus humanitären Gründen
Menschen in Deutschland aufgenommen. Allein in den
letzten zehn Jahren haben wir doppelt so viele Asylbewerber wie die Vereinigten Staaten, viermal so viel wie
England und sechsmal so viel wie Frankreich aufgenommen. Wir haben 345 000 bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen,
({29})
mehr, als alle anderen Länder in der Europäischen Union
zusammen.
({30})
Deswegen sollten wir an dieser Stelle auch einmal sagen,
dass wir kein ausländerfeindliches, sondern ein ausgesprochen ausländerfreundliches Land sind.
({31})
Unsere Aufnahme- und Integrationskraft ist aber nicht
unbegrenzt. Wir können weder jedem humanitären Anliegen Rechnung tragen noch jeden Wunsch der deutschen
Wirtschaft nach mehr Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte erfüllen.
({32})
Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung. Wir haben einen erkennbaren Mangel an Integration. Deswegen ist
mehr Integration und nicht mehr Zuwanderung das Gebot
der Stunde.
({33})
Wer mehr Integration fordert, muss auch mehr Integration fördern. Es ist gut, dass der Gesetzentwurf diesen
Gedanken endlich aufgreift.
({34})
Er bleibt aber auf halber Strecke stehen. Zwar soll die
Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtend
sein, es gibt aber für diejenigen, die dieser Verpflichtung
nicht nachkommen, keine wirksamen Sanktionen.
({35})
Dadurch wird doch die Bedeutung der Teilnahme an ei-
nem solchen Kurs stark relativiert. Wir sollten die Bedeu-
tung aber nicht abwerten, sondern aufwerten
Ludwig Stiegler [SPD]: Exakt das tun wir!)
und die Betroffenen motivieren, ihre Integrationsbemühungen mit Nachdruck zu verfolgen.
({36})
Das gilt vor allen Dingen für das Erlernen der deutschen
Sprache. Das ist die Schlüsselqualifikation für Integration in Deutschland schlechthin.
({37})
Herr Innenminister, der Satz, in dem es um das Lesen
mit verbundenen Augen geht, hat mir wirklich nicht gefallen. Sie selbst müssten doch mit bestem Beispiel vorangehen. Das, was Sie zum Nachzugsalter für Kinder
gesagt haben, ist nur halb richtig, deswegen im Ergebnis
falsch. Natürlich wird durch den Gesetzentwurf die geltende Altersgrenze von 16 auf 14 Jahre gesenkt. Die Altersgrenze von 16 Jahren gilt aber nach geltendem Recht
nicht, wenn das ausländische Kind, das nach Deutschland
zurückkommt, die deutsche Sprache beherrscht.
({38})
Das Kind kann dann nämlich bis zum vollendeten 18. Lebensjahr einreisen.
Sie haben nicht nur die Altersgrenze von 16 auf
14 Jahre gesenkt, Sie haben auch die Anforderungen an
die deutschen Sprachkenntnisse gesenkt. Nach Ihren
Vorstellungen muss das Kind zukünftig nicht mehr die
deutsche Sprache beherrschen, sondern nur noch „ausreichende“ Sprachkenntnisse besitzen, also unterdurchschnittliche, die unter dem Niveau der Kinder im vergleichbaren Alter liegen.
({39})
Warum sagen Sie das nicht an dieser Stelle? Dieser Vorwurf trifft Sie selber.
({40})
Herr Schily, wenn wir die Senkung des Nachzugsalters
für Kinder fordern, ist das keine Schikane. Das dient doch
dem Interesse der Kinder selber, die hier geboren worden
sind, dann in zu vielen Fällen zur Erziehung und Schulausbildung ins Heimatland der Eltern zurückgeschickt
worden sind und anschließend bis zur Vollendung des
16. Lebensjahres wieder einreisen konnten. In diesen Fällen haben die Erziehung und die Schulausbildung weit
überwiegend im Ausland stattgefunden und nicht in
Deutschland. Das vermindert die Integrationschancen, die
Lebenschancen der Kinder dramatisch. Daran können wir
kein Interesse haben.
({41})
Herr Schily, Sie haben in den vergangenen Wochen
mehrfach, auch an dieser Stelle, betont, dass Sie sich um
einen Konsens mit der Union bemühen wollen. Wenn das
Ihr ernstes Anliegen ist, dann müssen Sie diesen
Gesetzentwurf grundlegend ändern.
({42})
Sie müssen einen Gesetzentwurf vorlegen, der den Zuwanderungsdruck nicht erhöht, sondern ihn mindert, der
den Integrationserfordernissen gerecht wird, der vor allen
Dingen den Interessen unseres Landes dient. Nur für diese
Politik, nicht für die, die Sie hier vorgestellt haben, können Sie mit der Zustimmung der Union und der Bevölkerung rechnen.
({43})
Ich erteile jetzt Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Meine Damen und Herren! Es wird Sie nicht verwundern, dass ich das etwas anders bewerte als Herr
Bosbach.
({0})
Wir sind der Auffassung, dass dieses Zuwanderungsgesetz, das wir heute hier vorlegen, ein Meilenstein auf
dem Weg zu einer modernen Einwanderungspolitik in
Deutschland ist. Ich will noch einmal sagen - der Herr
Innenminister hat bereits darauf hingewiesen -: Für
meine Partei ist das Thema Einwanderung und Asyl ein
zentrales Thema. Wir waren 1991 die erste Fraktion, die
ein Einwanderungsgesetz in den Bundestag eingebracht
hat. Deshalb bin ich sehr stolz, dass es uns mit diesem
Gesetz gemeinsam gelungen ist, jetzt, zehn Jahre später,
endlich anzuerkennen: Deutschland ist ein Einwanderungsland.
({1})
Dafür haben wir alle sehr lange gestritten.
({2})
Herr Bosbach, natürlich bedeutet es einen Paradigmenwechsel, dass wir endlich mit der alten Lebenslüge Schluss machen, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist, Zuwanderung offensiv gestalten und
Integration fördern. Wir gestalten in der Tat nicht nur die
Zuwanderung, also Arbeitsmigration, offensiv und steuern sie, sondern wir schaffen mit diesem Gesetz erstmals
auch einen Anspruch auf Integration. Das hat es in der
Bundesrepublik noch nicht gegeben und das wird ein
wirklicher Quantensprung in der Integrationspolitik dieser Gesellschaft sein.
({3})
Drittens schlagen wir wichtige humanitäre Verbesserungen für Flüchtlinge vor, zum Beispiel die Anerkennung nicht staatlicher Verfolgung. Das zeigt: Diese Regierung redet nicht nur, sie handelt auch.
Dass Handlungsbedarf besteht, Herr Bosbach, das
steht doch wohl außer Frage. Die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Gewerkschaften, die Zuwanderungskommission unter Leitung von Frau Süssmuth, sie alle haben uns
ganz klar aufgefordert, Einwanderung in Deutschland
endlich zu steuern.
Nun behaupten Sie und auch einer der K-Kandidaten in
spe, ein gewisser Herr Stoiber, mit dem vorgelegten Zuwanderungsgesetz würden Einfallstore auf dem Arbeitsmarkt zulasten von Arbeitslosen und heimischen Arbeitnehmern geöffnet. Ich kann nur sagen: Mit dieser
Behauptung wird die Bevölkerung wirklich absichtlich in
die Irre geführt. Das ist völliger Unsinn.
({4})
Wir nehmen mit diesem neuen Zuwanderungsgesetz
eine sehr vorsichtige Öffnung für Zuwanderung vor, und
zwar streng orientiert an den Bedarfen des Arbeitsmarktes, durch die Regionalisierung der Arbeitsmigration und zweitens demographisch sogar erst ab 2010. Das
ist so vorsichtig, dass die Wirtschaftsverbände der Meinung sind, das reiche nicht.
Nun haben Sie gestern beschlossen, dass Sie zur Anwerbestoppverordnung zurück wollen. Da wird sich die
Wirtschaft sicher freuen! Der Ex-DIHT-Chef Hans Peter
Stihl meint dazu: Wir können keine Sympathien für die
CDU/CSU-Position aufbringen. So viel sozusagen zur
Wirtschaftskompetenz der Union.
Ich will das hier noch einmal sehr deutlich sagen: Die
Erfahrungen mit der Greencard haben gezeigt, dass gerade die Zuwanderung von Hochqualifizierten auch neue
Arbeitsplätze schafft. Im Zusammenhang mit der Greencard sind zwei bis drei neue Arbeitsplätze im Umfeld geschaffen worden. Sie bringt also Impulse für den Arbeitsmarkt.
Herr Bosbach, ich habe mir gestern Abend - das finde
ich nämlich sehr interessant - die Homepage des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung
angeschaut.
({5})
Und siehe da: Dort werden ausländische Pflegekräfte gesucht, und zwar umfassend, bis hin zu Praktikumsplätzen,
weil man keine Deutschen dafür findet.
({6})
Dazu heißt es in einer Pressemitteilung: „Bayern übernimmt damit eine Vorreiterrolle, um dem Fachkräftemangel in der Altenhilfe wirksam begegnen zu können.“
({7})
Dazu kann ich nur sagen: Es ist doch alles Heuchelei, was
Sie hier vorbringen. Sie wissen es besser.
({8})
Wir brauchen Zuwanderung trotz der Arbeitslosigkeit,
weil es einen Fachkräftemangel gibt.
Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?
Herr Bosbach hat auch die Homepage gelesen. Ja,
bitte.
Frau Kollegin
Müller, Sie haben gerade die Anwerbestoppverordnung
aus dem Jahre 1973 genannt. Dann ist Ihnen sicherlich
auch bekannt, dass es eine Anwerbestoppausnahmeverordnung gibt.
({0})
In dieser Anwerbestoppausnahmeverordnung sind ganz
ausdrücklich unter anderem Krankenschwestern und Altenpfleger aufgeführt.
({1})
Voraussetzung ist allerdings, dass sie bei einer Einreise
über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache
verfügen, eine Berufsausbildung haben und aus Europa
kommen.
Ist Ihnen bekannt, dass das geltende Recht also sehr
wohl die Möglichkeit vorsieht, Krankenschwestern und
Altenpfleger in der Bundesrepublik Deutschland arbeiten
zu lassen?
({2})
Herr Bosbach, das ist mir bekannt. Aber ich finde
ungeheuerlich, was Sie hier eben wieder behauptet haben.
Sie behaupten, es gebe keinen Bedarf an Fachkräften, und
unser Gesetz sei an diesem Punkt falsch.
({0})
- Doch, genau das haben Sie gerade wieder behauptet! Ich
finde einfach, die Zuwanderung dringend gesuchter Fachkräfte gegen Arbeitslose auszuspielen oder sie mit Asylmissbrauch in einen Topf zu werfen, das ist gefährlich und
falsch. Dieses Zitat ist nicht von mir, sondern von Herrn
Rogowski, dem Präsidenten des BDI.
({1})
Dann zur Integration. Was haben Sie eigentlich dagegen einzuwenden, dass wir einen Anspruch auf Integration
schaffen? Eigentlich müssten Sie an dieser Stelle das Gesetz aufs Heftigste begrüßen. Natürlich ist das so: Integration ist nicht zum Nulltarif zu haben und wir müssen gemeinsam über die Kostenfrage reden. Integration ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe. Das haben wir auch in dem Gesetz so festgehalten. Sie muss also von Bund und Ländern
gemeinsam getragen werden. Auch hier gilt wieder: Wer
nicht integriert, den kommt das in der Zukunft teuer zu stehen. Genau das hat doch die PISA-Studie gezeigt. Hier liegen große Versäumnisse, und zwar aller staatlichen Ebenen. Deshalb müssen wir das jetzt gemeinsam anpacken,
statt hier ein solches Gezänk vom Zaun zu brechen.
({2})
Es ist richtig: Wir erkennen mit diesem Gesetz endlich
nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung an,
nicht als Asylgrund, sondern im Rahmen der Genfer Konvention. Das ist keine grüne Spinnerei, das ist auch nicht
besonders radikal. Das ist schlicht europäische Praxis. Fast
alle Länder in Europa haben inzwischen die nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung anerkannt.
Der UNHCR, der Hohe Flüchtlingskommissar in
Deutschland, fordert das seit langem von uns, weil das
den Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention
entspricht - und nicht nur das. Ich habe das noch einmal
nachgelesen: Die Beschlüsse Ihrer eigenen Zuwanderungskommission, wie sie von Peter Müller auf einer Tagung des UNHCR dargestellt worden sind, fordern für
diese Flüchtlinge ein Daueraufenthaltsrecht. Genau das
tut diese Koalition. Wir tun das, was in den Beschlüssen
Ihrer Zuwanderungskommission steht.
({3})
Ich habe den Eindruck: Von all dem wollen Sie jetzt
nichts mehr wissen. Nach dem Motto „Was interessiert
mich mein Geschwätz von gestern!“
({4})
Stattdessen wird demagogisch behauptet, das führe zu einer massiven Ausweitung der Zuwanderung. Zuwanderer
würden also vermehrt kommen, wie Sie sagen, und dann
direkt Sozialhilfe erhalten. Das ist schlicht falsch.
Ich möchte Sie bitten, sich noch einmal den Brief Ihres
Kollegen Schwarz-Schilling sehr gut durchzulesen. Der
ist, so glaube ich, an Sie, Herr Bosbach, und an Herrn
Marschewski gerichtet. Da wird sehr genau, sehr gründlich und sehr sachlich argumentiert, wie es sich mit der
nicht staatlichen Verfolgung verhält.
({5})
Sie versuchen hier Volksverdummung zu betreiben. Es ist
nämlich so: Flüchtlinge, die heute zu uns kommen, dürfen
wir nach internationalem Recht nicht abschieben. Sie erhalten zurzeit den Status der Duldung und landen deshalb
in der Sozialhilfe. Von uns werden sie ein gesichertes Aufenthaltsrecht bekommen und dann können sie arbeiten.
Es ist also genau umgekehrt, wie auch Herr SchwarzSchilling in seinem Brief wunderbar darlegt. Auch ist es
nicht so, dass es einen Pull-Faktor gibt, also eben nicht so,
dass, wenn wir nun eine entsprechende Regelung vorsehen, mehr Flüchtlinge zu uns kommen. Dass das nicht der
Fall sein wird, zeigen die Erfahrungen.
Beispiel Somalia. Dort sind 98 Prozent der Frauen von
wirklich brutalen Genitalverstümmelungen betroffen; wir
haben das bereits hier im Deutschen Bundestag - übrigens
parteiübergreifend - kritisiert. In den letzten fünf Jahren
haben nur zwei Frauen aus Somalia hier in Deutschland
deswegen einen Asylantrag gestellt. Erzählen Sie also
doch nicht der Öffentlichkeit, Frauen würden zu Tausenden nach Deutschland kommen, wenn wir endlich das
menschenrechtlich Notwendige tun!
({6})
Ich muss Ihnen sagen: Die Debatte ist an dieser Stelle
unter jedem Niveau. Da wird behauptet, wir wollten jede
geschlechtsspezifische Diskriminierung anerkennen, also
auch die, dass die Frauen in Afghanistan nicht Auto fahren dürfen. Es geht hier - darauf will ich noch einmal hinweisen - um die massive Bedrohung von Leib und Leben
der Frauen in Somalia und Afghanistan.
({7})
Das Niveau der aktuellen Debatte, die Argumente, mit denen Sie hier versuchen, den Menschen, der Gesellschaft
Sand in die Augen zu streuen, finde ich wirklich unerträglich.
({8})
- Ja, aber sie erhalten nur den Status der Duldung.
Gerade an dieser Stelle sollten Sie noch einmal in sich
gehen und sich Ihre Ablehnung gut überlegen. Vielleicht
hören Sie doch auf den Rat der EKD oder der katholischen Kirche. Oder vielleicht denken Sie doch noch einmal über den Rat des Herrn Geißler nach, der in einem
Brief appelliert, dass eine solche Position mit dem christlichen Menschenbild der CDU nicht zu vereinbaren ist.
Da hat Kollege Geißler Recht.
({9})
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem die
Zuwanderung modernisiert und Integration gefördert
wird sowie notwendige humanitäre Verbesserungen für
Flüchtlinge vorgesehen sind. Wir haben uns vorgenommen, das in dieser Legislaturperiode durchzusetzen. Sie
müssen sich jetzt entscheiden, ob Sie dem Blockadekurs
von Herrn Stoiber folgen oder ob Sie mit uns sprechen
wollen. Inzwischen haben Sie ja beschlossen, dass überhaupt keiner mehr mit uns sprechen darf.
({10})
Herr Müller darf keine Gespräche mehr mit uns führen.
Herr Beckstein wurde zurückgepfiffen. Herr
Schönbohm wurde sogar aufgefordert, zurückzutreten,
falls Ministerpräsident Stolpe es wagt, im Bundesrat
zuzustimmen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist keine
Gesprächsbereitschaft. Mit so einer Linie folgen Sie
dem Blockadekurs von Herr Stoiber. Das finde ich
unverantwortlich.
({11})
Herr Stoiber hat angekündigt, die Bundestagswahlen
zu einer Volksabstimmung über die Zuwanderung zu machen. Herr Bosbach, ich sage Ihnen: Ich habe keine Angst
davor, im Wahlkampf über dieses Thema zu diskutieren.
Denn nicht wir, sondern Sie werden alle gesellschaftlichen Kräfte, die Wissenschaft, die Gewerkschaften, die Wirtschaft und die Kirchen gegen sich haben.
({12})
Davor brauchen wir keine Sorge zu haben. Wir haben alle
Argumente auf unserer Seite.
Ich befürchte: Dies wird keine lockere Diskussion,
sondern - das haben wir in Hessen gesehen - ein ganz zynischer Wahlkampf auf dem Rücken der hier lebenden
Migrantinnen und Migranten und Flüchtlinge. Sie wollen
die Situation der Flüchtlinge hier in diesem Land für Ihren
Stimmenfang nutzen.
({13})
Ich finde es unverantwortlich, dass Sie einen solchen Antiausländerwahlkampf betreiben wollen.
Auch ich will an dieser Stelle - ich kann es Ihnen nicht
ersparen - mit einer der vernünftigen Stimmen aus der
Union, mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard
von Weizsäcker, enden.
({14})
- Ich kann Ihnen das nicht ersparen. Auch in der CDU gibt
es viele Vernünftige, die leider zurzeit nicht genügend zu
Wort kommen dürfen. - Er hat in der „Welt“ geschrieben:
Gefühle ernst zu nehmen ist notwendig. Gefühle
auszunutzen, sie für die Macht zu instrumentalisieren, das ist ein schwerer Missbrauch, der sich auf
Dauer rächt.
Das sehe auch ich so. Ich kann nur an die Ministerpräsidenten der Länder und an die Vernünftigen in der Union
appellieren: Verweigern Sie sich diesem unverantwortlichen Blockadekurs und setzen Sie mit uns dieses vernünftige Zuwanderungsgesetz durch!
Danke schön.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Zuwanderungspolitik der FDP beruht erstens
auf einer gesteuerten und begrenzten Zuwanderung nach
Maß aufgrund der Bedürfnisse des Arbeitsmarktes, zweitens auf der Erfüllung humanitärer Verpflichtungen und
drittens auf der zentralen politischen Aufgabe der Integration von Ausländern.
({0})
Meine Damen und Herren, die politische Diskussion in
Deutschland zu diesem Thema war lange geprägt von der
Lebenslüge, dass Deutschland kein Einwanderungsland
sei. Aber ist nicht der Streit darüber, ob damit nur gemeint
Kerstin Müller ({1})
war, dass Deutschland kein Einwanderungsland im klassischen Sinne sei, ein rein akademischer und damit müßiger? Denn rein praktisch gesehen besteht doch seit langem ein legitimes Bedürfnis, die begrenzte und gesteuerte
Einwanderung nach Deutschland an den eigenen Interessen zu orientieren.
({2})
Diese einfache Erkenntnis erschien vielen nicht populär.
Deswegen wollten bis weit in die laufende Legislaturperiode hinein weder die SPD noch die CDU/CSU das
Thema anpacken.
({3})
Allein die FDP-Bundestagsfraktion hat es als erste Fraktion im Bundestag gewagt, ein Zuwanderungsgesetz einzubringen.
({4})
- Das können Sie nicht negieren, Herr Stiegler.
({5})
Die Situation, dass dies nahezu ein Tabuthema gewesen ist, ist ein wenig aufgebrochen worden durch die mutige und zukunftsweisende Berliner Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau vom 12. Mai 2000. Er hat ein
durchdachtes Einwanderungskonzept angemahnt. Es
schien so, nachdem die Süssmuth-Kommission im Sommer eine hervorragende Vorarbeit geleistet hat,
({6})
an der - das darf ich erwähnen - übrigens auch die frühere
Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen beteiligt war, als ob die Zeit nun reif sei für die endlich notwendige gesetzliche Lösung des Problems. Denn die
Süssmuth-Kommission hat zu allen drei genannten Bereichen - Arbeitsmigration, Erfüllung humanitärer Verpflichtungen und Integrationspolitik - wichtige Anstöße
geliefert. Leider ist es der Politik in der Folgezeit nicht gelungen, ihre Führungsaufgabe - das wäre auch eine
Führungsaufgabe der größten Oppositionsfraktion wahrzunehmen und für ein modernes Zuwanderungsgesetz genügend Verständnis in der Bevölkerung zu wecken.
Stattdessen droht nun das Thema ungelöst in den Wahlkampf hineingezogen zu werden. Denn Vorurteile gegen
eine Zuwanderungspolitik lassen sich offensichtlich
leicht mobilisieren.
({7})
Die FDP hält demgegenüber den Entwurf des Bundesinnenministers für eine geeignete Diskussionsgrundlage - ohne dass wir deswegen in allen Einzelheiten mit
Ihren Vorstellungen, Herr Schily, konform gehen würden.
Man muss sich durchaus zunächst mit dem nahe liegenden Einwand auseinander setzen, wieso denn bei 4 Millionen Arbeitslosen überhaupt ein Gedanke auf Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt verschwendet
wird. Es ist aber eine belegte und belegbare Tatsache, dass
trotz hoher Arbeitslosigkeit über 1 Million offener Stellen
({8})
über Monate hinweg nicht besetzt werden können.
({9})
Dies betrifft keineswegs ausschließlich, wie die SPD
lange Zeit gemeint hat, den Bereich Höchstqualifizierter.
Vielmehr reicht dieser Bedarf gerade auch in den Bereich
mittelständischer Unternehmen hinein - natürlich regional und branchenmäßig ganz unterschiedlich -, die
dringend auf Facharbeiter angewiesen sind.
({10})
Sie wissen doch, was passiert: Jetzt können diese Unternehmen Aufträge nicht annehmen, weil sie keine
Arbeitskräfte bekommen. Sie können Wachstumschancen nicht wahrnehmen. Dadurch werden die bestehenden
Arbeitsplätze gefährdet. Das ist die Situation, auf die wir
eine Antwort geben müssen.
({11})
Herr Michelbach, das ist natürlich regional und branchenmäßig verschieden. Das sieht im Handwerk vielleicht anders als im Dienstleistungsbereich oder im produzierenden Gewerbe aus. Es wird wenig Zuwanderung
in Mecklenburg-Vorpommern bedürfen, aber aus Bayern
und Baden-Württemberg kommen sehr wohl massive Anforderungen. Wer daher hierauf eine Antwort verweigert,
schadet den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands.
({12})
Wenn Herr Seehofer nach der CSU-Vorstandsklausur
in Wildbad Kreuth gesagt hat, wir von der CSU machen
keine Gesetze für die Wirtschaft, dann kann ich nur antworten: Auch wir machen keine Gesetze für die Wirtschaft, wir machen Gesetze für diejenigen, denen wir
Chancen am Arbeitsmarkt eröffnen wollen; denn Zuwanderung führt nicht zur Verdrängung einheimischer
Arbeitskräfte, sondern schafft neue wirtschaftliche Dynamik und neue Arbeitsplätze und nützt daher allen.
({13})
Das weiß im Übrigen die CSU natürlich ganz genau.
Gerade die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft hat
sich besonders nachdrücklich für eine gesteuerte und begrenzte Öffnung des Arbeitsmarktes eingesetzt. Ist denn
schon vergessen, dass der CSU-Generalsekretär Thomas
Goppel Minister Schily nach Vorstellung seines Zuwanderungsgesetzes sogar die Mitgliedschaft in der CSU angetragen hat?
({14})
Davon will die CSU mittlerweile nichts mehr wissen.
Aber, Herr Kollege Bosbach, man muss sehr wohl die
Frage aufwerfen, wieso denn dann die bayerische Sozialministerin Christa Stewens um Krankenschwestern aus
Kroatien wirbt und der bayerische Innenminister Günther
Beckstein die Anwerbung von Pflegekräften aus der Slowakei ankündigt. Es besteht doch ein Unterschied zwischen dem, was Sie sagen, dass es keinen Bedarf gebe,
und dem, was die Bayerische Staatsregierung macht.
({15})
Sie berufen sich auf Ausnahmeverordnungen, die es gibt.
Aber die Frage ist doch, ob wir uns hier von Ausnahmeverordnung zu Ausnahmeverordnung weiterhangeln oder
ob endlich ein Gesamtkonzept in Form eines Zuwanderungsgesetzes kommt.
({16})
Kollege Stadler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?
Ja.
Herr Kollege
Stadler, Sie haben die Wirtschaft angesprochen. Können
Sie zur Kenntnis nehmen, dass es die Wirtschaft pauschal
gar nicht gibt?
({0})
Können Sie auch zur Kenntnis nehmen, dass die arbeitsintensiven Betriebe, insbesondere im Mittelstand, eine
Zuwanderung in die Sozialsysteme nicht wollen?
Sind Sie bereit, folgende Zahlen zur Kenntnis zu nehmen, die auch Ihnen zu denken geben sollten? 1973 wurde
mit 4 Millionen Ausländern in Deutschland und 2,5 Millionen sozialversicherungspflichtigen ausländischen Beschäftigten ein Anwerbestopp verfügt. Im Jahr 2000 haben wir 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland und nur
noch 2 Millionen Sozialversicherungspflichtige, also
85 Prozent mehr an ausländischen Mitbürgern und
19 Prozent weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigte als 1973. Ihre Darstellung der Situation der
Wirtschaft, insbesondere bei den arbeitsintensiven Betrieben des Mittelstandes, passt also überhaupt nicht. Sie können hier nicht pauschalisieren.
Herr Kollege Michelbach, ich
bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, was Sie
sagten. Ich darf Sie aber darauf hinweisen, dass Sie meinen Ausführungen offensichtlich nicht genau zugehört haben.
({0})
Ich habe ausdrücklich betont, dass es nicht darum geht,
den deutschen Arbeitsmarkt für eine Zuwanderung in
breitem Stil zu öffnen, sondern dass das Konzept vorsieht,
differenziert nach Branchen und Regionen genau nach
dem Bedarf des Marktes die Zuwanderung zuzulassen,
({1})
damit nämlich der Situation, die Sie beschrieben haben,
entgegengewirkt wird. Wir wollen, dass dadurch neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen.
({2})
Wir wollen, wie das gerade viele Vertreter der Wirtschaft
fordern, Wachstumschancen zulassen.
Wir sagen allerdings auch: Zuwanderung ist kein Allheilmittel für eine verfehlte Bildungs-, Familien- und
Wirtschaftspolitik.
({3})
Selbstverständlich steht an erster Stelle die längst überfällige Reform des Bildungswesens in Deutschland, um
unserer Jugend optimale Berufschancen zu bieten. Ohne
Zweifel müssen die Bedingungen für die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf verbessert werden.
({4})
Zwischenbemerkung: Dazu gehört auch die Diskussion in
Bayern über die endlich fällige Einführung von Ganztagsschulen, damit Frauen besser einem Beruf nachgehen
können.
({5})
Wir dürfen bei der Qualifizierung von Arbeitslosen
nicht nachlassen. Es wäre wünschenswert, wenn es gelänge, die Mobilität innerhalb Deutschlands zu erhöhen.
({6})
All diese Ziele sind richtig und bleiben vorrangig. Aber
auch Zuwanderung in den Arbeitsmarkt ist ein Mosaikstein in einem Gesamtkonzept für mehr Beschäftigung in
Deutschland.
Jede Zuwanderung ist untrennbar mit der Zielsetzung
der Integration von Migrantinnen und Migranten verbunden. Die FDP hält diesen Gesichtspunkt für so überragend wichtig, dass nach unserer Vorstellung Integration
als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen werden
sollte.
({7})
Immerhin geht der Gesetzentwurf von Herrn Schily mit
den dort vorgesehenen Maßnahmen, insbesondere der
Vermittlung der deutschen Sprache als wichtiger Basis
der Kommunikation, in die richtige Richtung.
Schließlich gehört in ein Gesamtkonzept auch das Bekenntnis zur Erfüllung humanitärer Verpflichtungen, insbesondere aus dem Asylgrundrecht. Wenn jetzt aber eine
Zuwanderungsmöglichkeit auf den deutschen Arbeitsmarkt neu eröffnet wird, muss zugleich klargestellt werden, dass beide Zugangswege - Arbeitsmigration und
Asyl - einander ausschließen. Für wirklich politisch Verfolgte bleibt es uneingeschränkt beim Grundrecht auf
Asyl. Aber viele, die bisher mangels Alternative aussichtslose Asylanträge gestellt haben, müssen wissen,
dass sie sich damit künftig eine Chance auf Zuwanderung
in den Arbeitsmarkt verbauen. Nur wenn man beide Wege
konsequent trennt, ist eine Verlagerung bisher aussichtsloser Asylanträge auf die neu geschaffene Möglichkeit der
Zuwanderung in den Arbeitsmarkt erreichbar. Dieses von
der FDP vorgeschlagene Steuerungselement hat Herr
Minister Schily in sein Konzept übernommen.
({8})
Im Bereich der humanitären Verpflichtungen ist viel
über die Frage nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung diskutiert worden. Unser Verfassungsexperte, Edzard Schmidt-Jortzig, vertritt ebenso wie die
FDP-Bundestagsfraktion seit langem die Auffassung,
dass es schon nach der Genfer Flüchtlingskonvention geltendes Recht ist, diesem Personenkreis Abschiebeschutz
und Flüchtlingsstatus zu gewähren. Eine Ausweitung der
Asylgründe ist somit mit der gesetzlichen Klarstellung
nicht verbunden.
({9})
Vielmehr wird die geltende Rechtslage bestätigt. Dem
stimmen wir ausdrücklich zu.
({10})
Im Zuge der Ausschussberatungen hat die FDP noch
Diskussionsbedarf bei Detailfragen. Das gesamte Verfahren bei der Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen erscheint uns in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung noch zu bürokratisch ausgestaltet. Die
Kostenverteilung bei den Integrationsmaßnahmen muss
noch gelöst werden. Wir halten übrigens eine zumutbare
Eigenbeteiligung der Migrantinnen und Migranten durchaus für akzeptabel.
({11})
Da auf dem Arbeitsmarkt trotz der hohen Arbeitslosigkeit eine dramatische Not besteht, sehen wir nicht ein,
dass das Gesetz erst am 1. Januar 2003 in Kraft treten soll.
Wir würden es vorziehen, es schon zum 1. Juli 2002 in
Kraft zu setzen. Bei gutem Willen aller Beteiligten, Herr
Kollege Bürsch, sind diese und andere Punkte sicherlich
lösbar.
Insgesamt sagt die FDP: Ein modernes Zuwanderungskonzept ist in unserem eigenen Interesse längst
überfällig.
({12})
Ich erteilte dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor der Behandlung der einzelnen Paragraphen dieses Gesetzentwurfs steht für uns
alle die spannende Frage: Welchen Platz nimmt dieses
Thema in der gesellschaftlichen Diskussion, insbesondere
im Wahljahr 2002, ein? Was diese Frage angeht, liegt der
Ball ganz eindeutig im Feld der Union. Wir registrieren:
Dieses Feld der Union ist ein sehr weites Feld. Wir wissen noch nicht genau, wie es abgesteckt ist.
Die Union hat natürlich Recht, wenn sie uns alle immer
wieder ermahnt, die Sorgen und die Probleme, die die
Menschen im Zusammenhang mit der Zuwanderung haben, sehr ernst zu nehmen. Das geht völlig in Ordnung.
Nur, wie sieht verantwortungsvolle Politik in einer solchen Situation aus? Verantwortungsvolle Politik zu machen heißt angesichts der Probleme der Menschen, aufklärend zu wirken, und heißt nicht, die Sorgen der
Menschen für eigene politische Interessen zu nutzen.
({0})
Wir brauchen eine sachliche Einwanderungsdebatte statt
einer Polarisierung in der Gesellschaft. Wenn Herr Bosbach
den gravierenden Vorwurf gegenüber der Koalition erhebt,
das Einwanderungsrecht dürfe nicht vom Kopf auf die
Füße gestellt werden, dann heißt das nur, dass er sich damit
zufrieden gibt, wenn es weiter auf dem Kopf steht.
({1})
Kollege Claus, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?
Ja, gerne.
Herr Kollege
Claus, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass dieser Punkt in
der Tat an den Innenminister geht. Er hat an meinem Versprecher eine diebische Freude gehabt und ihn zum Anlass genommen, den Parlamentarischen Geschäftsführer
seiner Fraktion zu sich nach vorne zu bitten. Ich wollte
selbstverständlich sagen, dass es angesichts dessen, was
er hier vorgestellt hat, nicht notwendig sei, das geltende
Ausländerrecht von den Füßen auf den Kopf zu stellen.
Ansonsten hätten Sie mit Ihrer Kritik völlig Recht gehabt.
Ich darf Sie also darum bitten, meinen offensichtlichen
Versprecher zu entschuldigen.
Dann ist das ausgeräumt, Herr
Kollege. Ich habe durch Ihre Zwischenfrage zudem erfahren - das war mir vorher entgangen -, dass der Bundesinnenminister Ihren Versprecher mit „diebischer Freude“ zur Kenntnis genommen hat.
({0})
Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren von der
Union, aber nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass Sie
mit solchen Aussagen wie „Hier werden die Schleusen
geöffnet“, mit Schlagwörtern wie „Kinder statt Inder“,
mit Begriffen wie „Überfremdung“ oder mit solchen Aktionen wie der Unterschriftensammlung in Hessen nicht
für die Aufklärung, sondern für die Polarisierung der Gesellschaft verantwortlich sind.
({1})
Sie wissen doch genauso gut wie wir: Die Jugendforschung macht uns immer wieder darauf aufmerksam, dass
Jugendliche sehr genau spüren, wenn Erwachsene die demokratische Grundsubstanz beschädigen. Alltagsrassismus, dem wir heute allenthalben begegnen, kommt nicht
aus dem Nichts. Wenn in einem Aufsatz über das Leben
mit und von Ausländern in Deutschland eine 14-Jährige
- ich glaube, sie kommt aus Sachsen - den Satz schreibt:
„Am besten wäre es, wenn es auf der ganzen Welt keine
Ausländer mehr geben würde“, dann muss ich feststellen,
dass auch so etwas nicht aus dem Nichts kommt. Deshalb
dürfen wir das Einwanderungsgesetz nicht zum Mittelpunkt eines Lagerwahlkampfes machen. Deshalb gilt
auch für die CDU/CSU: Es gibt auch für Sie keinen
Zwang, den Kalten Krieg im Wahlkampf fortzusetzen.
Nun hat der Bundesinnenminister zu verstehen gegeben, dass er sich bereits sehr weit in Richtung der Union
bewegt habe.
({2})
- Das ist in der Tat so. - Aber aus unserer Sicht ist es unverantwortlich, wenn die Union an dieser Stelle bewusst
eine Spaltung herbeiführen will und mühsam und krampfhaft nach Argumenten sucht, die dies rechtfertigen.
({3})
Pikant ist allerdings auch, wenn die Grünen an die
Adresse der Union sagen: Wir machen doch alles, was ihr
wollt. Ich möchte den Grünen in aller Bescheidenheit einen Rat geben. Folgenden Spruch sollten Sie vielleicht in
nächster Zeit vermeiden: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.
({4})
Wir werden uns sicherlich darauf einstellen müssen,
dass der vorliegende Gesetzentwurf Komplikationen verursachen wird, und zwar auch im Bundesrat. Ich möchte
Ihnen nur so viel sagen: Die PDS hat sich auf die zu erwartenden Komplikationen eingestellt.
Sie - ich meine vor allen Dingen die Kolleginnen und
Kollegen, die schon sehr viel länger im Bundestag als ich
sitzen - streiten sich noch immer über die Frage: Ist
Deutschland nun ein Einwanderungsland oder nicht?
Das ist ein von vielen als sehr theoretisch empfundener
Streit. Ich sage Ihnen dazu: DDR-Bürger, die zum Empfang ihres Begrüßungsgeldes ausgereist sind und aus der
abgeschotteten in die offene Gesellschaft gekommen
sind, haben bereits bei diesem ersten Akt der Begegnung
gemerkt: Das ist ein Einwanderungsland.
Ich will die Probleme nicht kleinreden. Der Globalisierungsdruck überfordert natürlich viele. In solch
schwierigen Situationen haben oft einfache Antworten
Konjunktur. Uns fordert das Grundgesetz aber dazu auf,
an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Diese
Willensbildung entsteht nicht durch fertige Antworten.
Moderne Einwanderungspolitik muss Schubladendenken
überwinden. Diesem Schubladendenken begegnen wir
aber auch hier, auch im Entwurf der Koalition. Darin wird
auf der einen Seite gesagt, qualifizierte Fachkräfte seien
nützlich und willkommen, und auf der anderen Seite wird
vor „gefährlichen Zuwanderern“ gewarnt. Der Entwurf,
mit dem wir es heute zu tun haben, enthält diesen diskriminierenden Ansatz leider auch.
Wir kritisieren Ihren Entwurf auch weiterhin, weil das
Flüchtlings- und Asylrecht nicht modernisiert, sondern
zum Teil verschlechtert wird. Illegal hier lebenden Menschen wird nicht wirklich geholfen. Diese Kritik - das
wissen Sie - gibt es auch aus den Kirchen, aus den Verbänden, aus der Süssmuth-Kommission. Für den Familiennachzug haben Sie bürokratische Hürden errichtet.
Bundesinnenminister Schily hat sich jetzt offenbar vorgenommen, alle diese anstehenden Probleme im Bundestag
im Schnellverfahren zu lösen.
Nun wird auch der Bundesinnenminister, obwohl ihm
Eitelkeit ja völlig fremd ist, festgestellt haben, dass er mit
seiner Politik Eindruck gemacht hat. Ich will Ihnen aber
eines sagen: Spätestens mit der Formel, dass „law and order“ sozialdemokratische Werte seien, haben Sie es übertrieben, Herr Bundesinnenminister.
({5})
Die PDS-Alternativen in der Zuwanderungspolitik
beruhen im Wesentlichen auf drei Grundsätzen. Wir wollen erstens ein individuelles Einwanderungsrecht, das mit
verständlichen Regeln für die hierzulande Lebenden und
für die Menschen, die einwandern wollen, klarstellt, wie
das funktionieren kann, welche Rechte und auch welche
Pflichten damit verbunden sind.
Wir wollen zweitens den Schutz und die Hilfe für Menschen in Not weiter ausgestalten. Ich will nur an Folgendes erinnern: Parallel zum Europäischen Rat in Laeken
begehen wir den 50. Jahrestag der Verabschiedung der
Genfer Flüchtlingskonvention. Dabei nehmen wir sehr
wohl als positiv zur Kenntnis, dass Sie im Entwurf die geschlechtsspezifische Verfolgung als Abschiebehindernis
aufgenommen haben, und unterbreiten Ihnen mit unserem
Antrag den weiter gehenden Vorschlag, diese auch als
Asylgrund anzuerkennen.
({6})
Wir sagen drittens: Einwanderung muss als Integration
gestaltet werden, und zwar als zweiseitiger Prozess. Da
sind auf der einen Seite die Pflichten der Migrantinnen
und Migranten, auf der anderen Seite aber auch die Aufgaben der Aufnahmegesellschaft. Hierzu brauchen wir
sehr viel mehr, als Sie es in Ihrem Entwurf andeuten: einen wirklichen Dialog der Kulturen, diskriminierungsfreie Integration, eine kommunale Empfangspolitik,
Orientierungshilfen im Gemeinwesen, besseren Zugang
zu sprachlicher Bildung. Dass Ihr gut hundertseitiger Entwurf dem Thema Integration nur zwei Seiten widmet,
Herr Bundesinnenminister, ist bereits ein Beleg dafür,
dass die Lösung dieses Problems vernachlässigt wurde.
({7})
Meine Damen und Herren, erinnern wir uns an
Deutschland vor nur 60 Jahren! Hass auf alle anderen
Völker und Kulturen dieser Welt war Staatsräson. Diejenigen, die fliehen wollten und fliehen konnten, brauchten
Hilfe und haben sie erfahren. Wenn Deutschland heute in
eine neue außenpolitische Rolle hineinwächst und über
diese auch bei diesem Zuwanderungsgesetz diskutiert,
dann ist es gut, dass wir uns erinnern: Wir alle haben
Deutschland vor 60 Jahren nicht vergessen.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Rüdiger Veit, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Pädagogik, in der ich allerdings als Fachmann nicht zu Hause bin, gilt die Wiederholung als wichtiges Merkmal der Vertiefung und des
Lernprozesses. Diese Bemerkung richte ich nicht so sehr
an die FDP-Fraktion - das will ich gern konstatieren -,
sondern eher an die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Ich erinnere daran, dass zwischen 1954 und heute rund
31 Millionen Menschen nach Deutschland kamen, die
keinen deutschen Pass hatten. Im gleichen Zeitraum haben 22 Millionen Menschen Deutschland wieder verlassen. 9 Millionen Menschen sind geblieben. Wie man angesichts dessen noch behaupten kann, Deutschland sei
kein Einwanderungsland, ist mir einigermaßen schleierhaft.
({1})
Bei dieser Gelegenheit darf ich auf die Tradition hinweisen: Um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert suchten die Hugenotten aus dem absolutistischen Frankreich
im aufgeklärten Preußen Zuflucht.
({2})
- Lieber Herr Kollege, zur damaligen Zeit machten die
Hugenotten etwa ein Drittel der Berliner Bevölkerung
aus.
({3})
Es gibt noch eine andere Tradition, auf die ich - nicht
ganz ohne Hintergedanken - hinweise: In der Zeit zwischen 1871 und 1914 arbeiteten in den Zechen des Ruhrgebiets immerhin eine halbe Million polnischer Arbeiter,
die dadurch halfen, den Wohlstand zu mehren.
({4})
- Die Erwähnung des Namens des innenpolitischen Sprechers und seiner Herkunft an dieser Stelle hatte ich mir eigentlich nicht vorgenommen; aber sie ist durch einen Zwischenruf angedeutet worden.
({5})
Im Laufe des letzten Jahres ist die Erkenntnis bei uns
allen allmählich in die Hirne getröpfelt - darüber war ich
eigentlich ganz froh -, dass Deutschland in der Tat ein
Einwanderungsland ist und wir alle gut beraten sind, dem
gesetzlich Rechnung zu tragen. Es gab sehr verdienstvolle
Vorarbeiten, sowohl von der von Frau Dr. Süssmuth geleiteten Kommission - sie war allerdings von einer inneren Distanz zur CDU/CSU-Fraktion begleitet, die heute
noch nicht einmal geklatscht hat, als sie gelobt wurde - als
auch von der Müller-Kommission und von der von dem
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, Ludwig
Stiegler, geleiteten Kommission.
Ich möchte kurz zurückblenden, wie wir zu dem heutigen Gesetzentwurf gekommen sind. Nachdem die Ergebnisse der Kommissionen vorgelegen haben - auch unsere
Fraktion hat das am 6. Juli beschlossen -, erhielt der
Bundesinnenminister den Auftrag, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, der möglichst das Einverständnis der
CDU/CSU in diesem Haus und der von ihr regierten bzw.
mitregierten Bundesländer erhält. Dem ist Bundesinnenminister Schily nachgekommen. Dabei hat er sich unmittelbar nach der Pressekonferenz aus München die Drohung eingefangen, das CSU-Parteibuch übersandt zu
bekommen. In der Zwischenzeit - vielleicht wegen des
ersten Landeslistenplatzes der bayerischen SPD - ist das
zum Bayerischen Verdienstorden - zu dieser Verleihung
gratulieren wir - mutiert.
Wenn Sie, Herr Kollege Bosbach, meinen, hier eine
völlige Kurskorrektur beklagen zu müssen, bedauere
ich das, weil ich Sie beispielsweise in einer Diskussion
im Hessischen Rundfunk zum Thema Staatsbürgerschaftsrecht, das damals im parlamentarischen Beratungsverfahren war, als einen überaus sachlichen, kompetenten und eigentlich eher - wenn ich das einmal so sagen
darf - liberal-konservativen Kollegen kennen gelernt
habe. Diesen Eindruck habe ich nach Ihrem heutigen Beitrag leider nicht mehr.
({6})
Am 7. November haben wir in den Koalitionsfraktionen über einen Kabinettsentwurf abgestimmt, der im Wesentlichen von den folgenden Elementen getragen ist: Wir
wollen ein Jahrzehnt der Integration; wir wollen Qualifizierung und Beschäftigung aller bei uns in Deutschland
bereits lebenden Mitbürger, egal welchen Pass sie haben,
und wir wollen Arbeitsmigration von Höchstqualifizierten - ich dachte bisher, dieser Punkt sei unstreitig. Im
Übrigen ist der „Instrumentenkasten aufgebaut“, - um die
Worte des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden
Ludwig Stiegler zu benutzen -, aber wie wir ihn einsetzen, ist noch nicht geklärt. Vielleicht kommen wir in einem Jahr zu dem Ergebnis, dass die Zuwanderungsquote
bei 0 liegen soll; vielleicht wird sie aus demographischen
Gründen erst ab dem Jahr 2010 erheblich höher sein müssen. Diese Entscheidung muss von Fall zu Fall und den
Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entsprechend getroffen
werden.
({7})
Im Einzelnen wird mein Kollege Michael Bürsch hierauf
eingehen.
Eine Bemerkung, mit einem kleinen Seitenhieb an den
Kollegen Dr. Stadler in Vertretung der so lange Jahre mit
in der Regierung gewesenen FDP versehen, kann ich mir
nicht ersparen. Wir haben heute eine demographische
Entwicklung zu beklagen, an deren Ende womöglich
steht, dass 2050 in Deutschland rund 20 Millionen Menschen weniger leben werden. Diese Entwicklung ist darauf zurückzuführen, dass die Geburtenrate bei uns im europäischen und erst recht im internationalen Vergleich
dramatisch zurückgegangen ist. Das ist vor allem in Ostdeutschland nach der Wende zu beobachten. Und warum? Weil die Vorgängerregierung - die FDP war leider immer
mit dabei - eine Familienpolitik betrieben hat, die vom
Bundesverfassungsgericht letztendlich sogar als verfassungswidrig verworfen worden ist. Wer Familien mit Kindern in der Vergangenheit nicht entsprechend finanziell
ausgestattet hat, der sollte heute nicht darüber Klage
führen, wenn wir versuchen, das nicht nur zu reparieren,
sondern einen Teil der demographischen Probleme unserer Gesellschaft - aber eben nur einen Teil und keinesfalls
alle - auch durch gesteuerte Zuwanderung, auf dem Wege
der Arbeitsmigration zu regeln. Alles andere wäre heuchlerisch.
({8})
Ich wende mich nun der Frage humanitärer Verpflichtungen zu. Bitte gehen Sie davon aus - das sage ich
auch und gerade an die CDU/CSU gerichtet -, dass wir,
wenn der ursprüngliche Koalitionsentwurf oder auch der
erste Entwurf des Bundesinnenministers in Reinkultur
Gesetzentwurf geworden wäre, aus unserer Sicht eine
ganze Reihe von Dingen lieber anders und weitergehend
geregelt hätten. Ich meine unter anderem den Kindernachzug, der bereits angesprochen worden ist, den Nachzug ausländischer Familienangehöriger außerhalb der
Kernfamilie zu Deutschen, einen in der Tat verbesserten
Schutz vor Ausweisung hier geborener und/oder aufgewachsener Ausländer und einen familienfreundlichen Status für Konventionsflüchtlinge. Wir hätten uns darüber hinaus gut eine verbesserte Härtefallregelung vorstellen
können. Wir hätten uns auch vorstellen können, dass man
die Residenzpflicht nicht ausgeweitet hätte und auch nicht
den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes, um nur einige Punkte zu nennen. Dass das, was sowohl der Bundesinnenminister vorgelegt hat und was wir
als Koalitionsfraktion im Regierungsentwurf mitgetragen
haben, eben nicht Rot-Grün in Reinkultur geworden ist,
hat damit zu tun, dass wir diese Aufgabe mit Ihnen zusammen lösen wollen und von vorneherein auf Sie und
Ihre Vorstellungen ein Stück weit zugegangen sind. Das
betrifft auch und gerade die Frage des Familiennachzugs.
Sie haben Folgendes noch nicht verstanden - das muss
ich so deutlich sagen -: Durch das neue Aufenthaltsgesetz, durch die neuen ausländer- und asylrechtlichen Vorschriften insgesamt wird kein einziger Flüchtling mehr
nach Deutschland kommen als das heute der Fall ist. Aber
was ist das Entscheidende - und das, haben Sie nicht verstanden -? Wir wollen den Status dieser Flüchtlinge entscheidend verbessern. Wir wollen den 260 000 bisher nur
geduldeten ausländischen Menschen in Deutschland eine
vernünftige Perspektive geben. Wenn wir sie auf Dauer
schon nicht abschieben können, dann wollen wir ihnen
eine Aufenthaltserlaubnis geben, die sie befähigt, zu arbeiten und sich hier zu integrieren.
Ich will ein Beispiel bringen: Vor wenigen Wochen erst
lernte ich den ehemaligen Leiter der Stadtwerke von
Kabul kennen, wenn man das so vergleichen kann. Er ist
seit 1993 in Deutschland, mit einer Duldung - ohne Perspektive, mit Residenzpflicht, mit der Notwendigkeit, sich
alle drei Monate bei der Ausländerbehörde vorstellen zu
müssen. Das, so denke ich und darin sollten wir uns alle einig sein, sollte abgeschafft werden, damit diese Menschen
endlich eine Perspektive bekommen. Das gilt im Übrigen
auch für die GFK-Flüchtlinge, die, wenn es nach den Vorstellungen der Koalition und des Bundesinnenministers
geht, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen und die dann
alsbald eine Niederlassungserlaubnis erhalten werden.
Lassen Sie mich zum Schluss einige Sätze zum Thema
Familiennachzug sagen. Vor was haben Sie eigentlich
Angst? Die Personengruppe derer, die zwischen 16 und
18 Jahre alt sind und die als diejenigen infrage kommen,
die nach Deutschland nachziehen können, umfasst - das
wissen wir aus der Kindergeldstatistik der Bundesanstalt
für Arbeit - höchstens 10 000 Kinder. Dabei ist noch nicht
einmal klar, ob sie alle kommen wollen. Wir reden beim
Kindernachzug insgesamt von 18 000 Kindern, die alljährlich, so auch im letzten Jahr, nachgezogen sind. Da
frage ich mich gerade hinsichtlich der ungünstigen demographischen Entwicklung und schlechten Geburtensituation bei uns in Deutschland: Warum, mit Verlaub, haben
Sie denn ausgerechnet vor diesen 18 000 oder 10 000 Kindern Angst? Warum wollen Sie nicht gemeinsam mit uns
das Unterfangen angehen, sie hier mit zu integrieren und
entsprechende Angebote zu machen? Dazu gibt es immerhin eine differenzierte Regelung.
({9})
Ich bin jedenfalls froh, meine Damen und Herren, dass
es in Ihren Reihen Politiker wie Christian SchwarzSchilling, Norbert Blüm, Heiner Geißler und Rita
Süssmuth - die Herr Zeitlmann leider schon als „diese
Dame“ bezeichnet hat, so groß ist mittlerweile die Distanz
geworden - gibt, die das im Bereich nicht staatlicher und
geschlechtsspezifischer Verfolgung ähnlich sehen wie
wir.
Ich werde den Eindruck nicht los - damit muss ich leider zum Schluss kommen -, dass viel dran ist an einer Karikatur zu dem Thema, die ich in einer der Berliner Zeitungen gesehen habe. Dort beraten die Führungsspitzen
der Union über die Frage, „Wie gehen Sie denn mit der
Zuwanderung in dem Gesetz um?“, und Herr Stoiber flüstert ihnen ein: „Das ist doch ganz einfach: Bei jedem
Schritt, den Bundesinnenminister Otto Schily auf uns zugeht, gehen wir einen Schritt zurück. Auf diese Art und
Weise bleibt die Distanz immer die gleiche.“
Das wäre kein gutes Beispiel für die weitere parlamentarische Beratung. Ich appelliere abschließend an Sie:
Versuchen Sie, mit uns gemeinsam zu Lösungen zu komRüdiger Veit
men. Bitte beachten Sie, dass wir längst einen Schritt auf
Sie zugegangen sind,
({10})
dass es insbesondere im humanitären Bereich nicht mehr
Zuwanderung gibt, sondern nur eine vernünftige Verbesserung des Status. Sie haben gesagt, es läge auch in Ihrem
Interesse, nicht die Sozialkassen zu belasten, sondern Arbeit und Integration zu ermöglichen. Auch deswegen wollen wir den wesentlich verbesserten Aufenthaltsstatus für
die betreffenden Menschen hier in Deutschland.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat Kollege
Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Herr Bundesinnenminister, wenn ich die Mehrforderungen des Kollegen Veit höre, muss ich Ihnen sagen: Sie haben es nun wirklich nicht leicht mit dieser SPD-Fraktion.
Das Ergebnis ist doch klar. Der rot-grüne Entwurf für das
Zuwanderungsgesetz führt zu mehr Zuwanderung, die Integration ist unzureichend geregelt und die Zuwanderung
wird durch diesen Entwurf nicht begrenzt.
({0})
Dieser Entwurf steht daher in krassem Widerspruch zum
Konzept der Union, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Dieses Konzept haben wir ohne Widerspruch gebilligt.
({1})
Natürlich sagen auch wir Ja zu mehr qualifizierter Zuwanderung. Da gibt es natürlich Bedarf. Ich stimme mit
dem Kollegen Wolfgang Bosbach völlig überein. Aber wir
wollen auch Zuwanderungssteuerung, Zuwanderungsbegrenzung und vor allen Dingen Integration.
Ihr erster Gesetzentwurf, Herr Bundesinnenminister,
konnte noch als Diskussionsangebot an uns verstanden
werden. Was jetzt auf dem Tisch liegt, zeigt eindeutig:
Selbst die Kompetenz des Bundesinnenministers dieses
Landes zählt offenbar nicht viel, wenn es um den Erhalt
dieser zerstrittenen rot-grünen Koalition geht. Deswegen
kann Ihr Gesetzentwurf in der vorliegenden Form von der
Union auf keinen Fall akzeptiert werden.
({2})
Ihr Gesetzentwurf, Herr Schily - oder der der Fraktion - ist unzureichend, weil er kein einheitliches Gesamtpaket arbeitsmarktpolitischer, familienpolitischer
und sozialpolitischer Maßnahmen enthält. Zur Bewältigung der demographischen Probleme in unserem Land
bedarf es einer Vielzahl von Maßnahmen. Wir müssen die
familienpolitischen Leistungen anheben. Kinder zu haben
darf in diesem Lande kein Grund für Armut sein.
({3})
Hier müssen Sie entsprechende Leistungen erbringen.
Wir müssen die Bildungssysteme stärken.
({4})
Wir müssen das vorhandene Erwerbspotenzial ausnutzen.
Kollege Marschewski,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, im Augenblick nicht. - Eines ist klar: Zuwanderung
allein löst diese Probleme nicht. Deswegen darf Zuwanderung kein Alibi sein
({0})
für einen Verzicht auf eigene nationale Anstrengungen zur
Lösung dieser Grundprobleme.
Ihr Gesetzentwurf, Herr Schily, bietet auch keine sachgerechten Lösungen zur Arbeitsmigration. Sie fordern
weder, dass Qualifikation und Ausbildung der eigenen
Bevölkerung der Zuwanderung vorzugehen haben, noch
verlangen Sie ein echtes Arbeitsmarktbedürfnis. Bei Millionen von Arbeitslosen in Deutschland ist es für niemanden in der deutschen Bevölkerung verständlich und auch
nicht verantwortbar, die Arbeitsmigration unquotiert
selbst in alle einfachen Arbeitmarktsegmente vorzusehen,
({1})
ohne Bundestag und Bundesrat zu fragen, ohne überregionale Steuerung, allein durch die Arbeitsausschüsse von
181 Arbeitsämtern in diesem Lande. Das ist keine vernünftige Regelung!
({2})
Es ist uns nämlich nur zu gut bekannt, dass aus Gastarbeitern, die helfen sollten, vorübergehende Engpässe
auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden, Millionen Daueranwesende, verteilt auf mehrere Generationen, geworden
sind - das ist die Wahrheit -, davon rund 1 Million heute
arbeitslos.
Nein, meine Damen und Herren, auch manche Sprecher der Wirtschaft kommen an diesen Tatsachen nicht
vorbei. Ich zitiere die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
- wirklich kein wirtschaftsfeindliches Blatt -:
Der Bundesverband der Deutschen Industrie kann …
nicht mehr bestreiten, dass zurzeit eine Einwanderung von Arbeitskräften nicht notwendig ist.
So Paul Hefty; und weiter: Weder Unternehmer noch ihre
Verbände werden sich an der Rückführung von Migranten
beteiligen, die
sie selbst aus konjunkturellen Gründen und in Wellen auf Kosten der Sozialversicherung freisetzen.
Nein, meine Damen und Herren, auch diesen Sprechern
der Wirtschaft wird es nicht gelingen, ihre speziellen
eigenen Interessen zum Gemeinwohl dieses Landes umzudeuten,
({3})
wie es auch Ihnen, Herr Bundesinnenminister, nicht gelingen wird, das Gesetz als Zuwanderungsbegrenzungsgesetz zu verkaufen. Sie haben ja auf Seite 144 ausdrücklich gesagt - Kollege Bosbach hat darauf hingewiesen -:
Sie nehmen Abstand vom Gebot der Zuwanderungsbegrenzung.
Die Konsequenzen sind offensichtlich: Durch die
Gleichstellung von Personen, die Abschiebeschutz genießen, mit Asylberechtigten wird die Drittstaatenregelung zumindest zum Teil unterlaufen. Dabei hat allein diese Drittstaatenregelung zur Reduzierung der Zahl
der Asylbewerber von 450 000 auf 100 000 geführt.
Wenn Sie diese Regelung quasi aufheben, steigt doch die
Zahl an Asylbewerbern gerade deswegen wieder an.
Durch die Schaffung von Daueraufenthalten von
260 000 zur Ausreise Verpflichteten mit so genannter Duldung werden darüber hinaus die Zuzugsanreize nach
Deutschland erheblich gesteigert. Das ist doch so! Vor allen Dingen erhöht sich durch den dann möglichen Familiennachzug der Zuzug auch zahlenmäßig.
Gleiches wird im Zuge der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Personen, die unter so genannter geschlechtsspezifischer Verfolgung leiden, eintreten. Ich
habe Verständnis dafür, den Status dieser Frauen zu überprüfen; das will auch meine Fraktion. Recht hat aber auch
die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, wenn sie schreibt:
Die „nicht staatliche“ sowie die „geschlechtsspezifische“ Verfolgung
- wie in Ihrem Entwurf, Herr Schily als Abschiebeschutz
- mit Daueraufenthaltsrecht anzuerkennen ist ein systematischer Fehler, der in
Verbindung mit der Familienzusammenführung unübersehbare Weiterungen nach sich ziehen kann und
wird.
Diesen Fehler haben Sie akzeptiert, Herr Bundesinnenminister, obwohl in Ihrer eigenen Stellungnahme vom
23. Juni 2000 zu lesen ist:
Eine asyl- oder ausländerrechtliche Schutzlücke zum
Nachteil von Frauen besteht nicht.
Soweit Sie, Herr Bundesinnenminister. Das hat übrigens
auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
bestätigt.
Frau Kollegin Müller, da Sie auf Europa verwiesen haben, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass auf Seite 11
dieses Gutachtens des Bundesinnenministers wörtlich
steht:
Kein Mitgliedstaat in Europa lässt aber geschlechtsspezifische Verfolgungen an sich für eine Flüchtlingsanerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention ausreichen, wenn es an einer Verbindung zu
einem asylerheblichen Merkmal fehlt.
Das ist die Regelung; das sagt selbst der Bundesinnenminister. Der Bereich ist abgeschlossen.
Kollege Marschewski,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kerstin
Müller?
Bitte schön.
Herr Marschewski, ich möchte Sie noch einmal
auf den von mir erwähnten Brief des Kollegen SchwarzSchilling hinweisen, der ja auch an Sie gegangen ist. Da
heißt es auf der Seite 4 zu dem von Ihnen jetzt erhobenen
Vorwurf, wir würden damit eine Erweiterung des Asylrechts vornehmen:
Es sind keine Anhaltspunkte bekannt, dass die Anerkennung der nicht staatlichen geschlechtsspezifischen Verfolgung eine zunehmende Zahl von Asylsuchenden zur Folge hat. Ein prägnantes Beispiel
hierfür ist Kanada, das weltweit eine Vorreiterrolle
bei der geschlechtsspezifischen Anerkennung spielt.
Im Jahre 1999 haben sich von über 30 000 Asylsuchenden nur 195 auf geschlechtsspezifische Verfolgung berufen.
Das Somalia-Beispiel hatte ich Ihnen ja schon genannt.
Herr Marschewski, geben Sie mir Recht, dass vor dem
Hintergrund dieser Zahlen und Erfahrungen in allen Ländern der Welt, die geschlechtsspezifische Verfolgung anerkannt haben, Ihre Behauptung, dies sei eine Ausweitung
des Asylrechts und ziehe zusätzliche Einwanderung nach
sich, einfach falsch ist?
Frau Kollegin Müller, ich gebe Ihnen nicht Recht; denn
dieser Asylgrund bietet Anreize.
Herr Kollege Schwarz-Schilling ist ein guter Freund
von mir und hat erhebliches Fachwissen.
({0})
Aber in diesem Bereich deutscher Innenpolitik hat der
Bundesinnenminister Recht, denn er ist auf diesem Gebiet
kompetent. Was er zu diesem Thema schreibt, entspricht
der Wahrheit. Auch wir vertreten diese Position, weil es so
im Ausländerrecht steht.
({1})
Meine Damen und Herren, im Gegensatz zu uns steuern und begrenzen Sie die Zuwanderung nicht. Die Familiennachzugsregelungen werden nicht begrenzt und es
gibt auch nicht weniger Asylbewerber. Auch die Zahl der
Bürgerkriegsflüchtlinge wird nicht begrenzt.
({2})
Erwin Marschewski ({3})
Dies hat folgenden Grund: Wenn wir das Pledging-Verfahren anwenden, dann werden die Bürgerkriegsflüchtlinge wie gehabt ins Asylverfahren strömen. Dann wird es
keine Begrenzung geben, obwohl der Bundesinnenminister den Innenministern der Länder gesagt hat, es müsse
eine gerechte Lastenverteilung in Europa geben. Die hat
es eben nicht gegeben, weswegen auch diese Zahl größer
werden wird.
Wenn Sie dies in Europa nicht erreicht haben, Herr
Bundesinnenminister, wie wollen Sie dann eigentlich verhindern, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie
und die Mindeststandardrichtlinie im Asylverfahren letzten Endes durchgesetzt werden? Wenn dies beschlossen
wird, wird das Asylrecht auf den Kopf gestellt.
Wir waren es doch nicht, die gesagt haben, die Grenze
der Belastbarkeit sei überschritten. Das hat der Bundesinnenminister selbst gesagt. Wir stimmen ihm zu. Allerdings müssen diesen Worten auch Taten folgen, meine
Damen und Herren. Die Belastbarkeit ist gerade deswegen überschritten, weil die Integration vieler Zuwanderer
noch nicht gelungen ist.
Kollege Marschewski,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Schily?
Bitte schön, Herr Bundesinnenminister.
Herr Kollege Marschewski, Sie
haben wieder die europapolitischen Fragen angesprochen. Wir haben ja schon vor geraumer Zeit versucht, uns
darüber zu verständigen. Ich erinnere Sie noch einmal daran, dass unter der - ({0})
- Entschuldigung, auch Ihre Fragen, zum Beispiel die von
Herrn Bosbach, wurden so eingeleitet, wie ich es jetzt
ebenfalls handhabe.
({1})
Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie in der alten Regierung eine Lastenteilung im Hinblick auf die Bosnienflüchtlinge nicht erreicht haben, sondern die weitaus überwiegende Zahl dieser Flüchtlinge - es waren 350 000 - in
unser Land gekommen ist? In der Kosovo-Krise dagegen
haben wir eine Lastenteilung im Pledging-Verfahren erreicht, sodass von den 90 000 Flüchtlingen aus Mazedonien nur etwa 10 000 bis 15 000 nach Deutschland gekommen sind. Welches System hat denn nun funktioniert,
Ihres oder unseres?
Die Tatsache, dass Frankreich und andere Staaten in
der Europäischen Union eine Quotenregelung nicht akzeptieren - das taten sie weder zu Ihren Regierungszeiten
noch tun sie es zu unseren noch werden sie es in Zukunft
tun -, kann uns doch nicht von der Verpflichtung befreien,
eine andere Lösung zu suchen. Eine solche Lösung, in der
dieses Pledging-Verfahren vorgesehen ist, haben wir jetzt
mit Zustimmung aller europäischen Staaten in der Richtlinie gefunden. Wollen Sie - das ist jetzt meine Frage,
Herr Kollege Marschewski - auch Ihre europapolitische
Kompetenz völlig verleugnen, wenn Sie sich gegen alle
Staaten der Europäischen Union stellen, die dieses Verfahren abgesegnet haben?
({2})
Herr Bundesinnenminister, Sie haben den Innenministern
der Länder zugesagt, zu einem gerechten Lastenverteilungsverfahren zu kommen. Das Pledging-Verfahren
- es sieht vor, dass ein Flüchtling sagen kann, in welches
Land er möchte, dieses Land ihn aber ablehnen kann, was
wir in der Vergangenheit getan haben - führt mit Sicherheit dazu, dass diese Menschen Asyl in Anspruch nehmen
und deshalb ins Asylverfahren drängen. Das ist keine Begrenzung, Herr Bundesinnenminister.
Wir wollen eine gerechte Lastenverteilung in Europa.
Obwohl es in der Vergangenheit Schwächen bei der Anwendung des § 32 a gegeben hat, weil sich Bund und Länder eben nicht einig waren, so meine ich doch, dass die
alte Lösung nicht schlechter war als die neue Lösung, die
in der Tat dazu führt, dass Bürgerkriegsflüchtlinge en
masse nach Deutschland kommen.
Sie begrenzen nicht im Bereich der Bürgerkriegsflüchtlinge; Sie begrenzen nicht im Bereich des Asyls, wo
von Änderungen ebenfalls kaum die Rede sein kann; Sie
begrenzen nicht im Bereich des Familiennachzuges. Deswegen ist Ihr Gesetz, Herr Bundesinnenminister, ein
Zuwanderungserweiterungsgesetz, kein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz. Das aber wollen die Bevölkerung und
auch wir.
({0})
Herr Kollege
Marschewski, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Schily?
Bitte schön, Herr Bundesinnenminister.
Herr Kollege Marschewski, Entschuldigung, aber ich glaube, Sie haben das PledgingVerfahren nicht begriffen.
({0})
Das Pledging-Verfahren bedeutet natürlich nicht, dass Sie
jemanden zwingen können - das will ja auch wohl niemand -, bei uns Schutz zu suchen. Das Pledging-Verfahren bedeutet nur, dass die Staaten beim Vorliegen einer
Bürgerkriegssituation erklären, in welchem Umfang sie
bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen.
Das und nichts anderes ist der Inhalt des Pledging-Verfahrens. Das führt zu einer vernünftigen Lastenverteilung,
Erwin Marschewski ({1})
wie wir sie schon bei der Kosovo-Krise vorexerziert haben. An diesen Tatsachen dürfen Sie nicht vorbeisehen.
Ich frage deshalb: Sind Sie in der Lage, die Tatsachen zur
Kenntnis zu nehmen?
({2})
Ich nehme die Tatsachen zur Kenntnis. Ich sehe aber keine
Möglichkeit, dass wir den Flüchtlingen die Aufnahme
verweigern können, wenn sie aufgrund einer Bürgerkriegssituation zu Tausenden nach Deutschland kommen
und ins Asylverfahren drängen. Das ist doch der Grund,
Herr Bundesinnenminister.
({0})
Deswegen haben wir § 32 a geschaffen.
({1})
Wir haben mit Ihnen über Ihren Entwurf diskutiert. Wir
werden Ihnen 70 bis 80 Änderungsvorschläge unterbreiten. Wir wollen als Union eine Zuwanderungsregelung
und vor allen Dingen eine Zuwanderungsbegrenzungsregelung. Wir erwarten, dass Sie uns entgegenkommen.
Gestern Abend gab es dafür aber ein schlechtes Beispiel:
Wir werden morgen über das Terrorismusbekämpfungsgesetz debattieren. Sie haben uns an einem Tag mit einem
Berg von Anträgen überfallen. Wir haben 32 substanziierte Anträge vorgelegt. Sie haben aber jeden Antrag
abgelehnt. Ich sage Ihnen: Das darf es bei der Zuwanderungsregelung nicht geben. Wir brauchen in diesem Land
eine Zuwanderungsregelung, aber vor allen Dingen eine
Zuwanderungsbegrenzungsregelung.
Herr Bundesinnenminister, ich habe es Ihnen schon
einmal gesagt: Sie dürfen nicht zum einfachen Parteisoldaten werden. Es geht um das Wohl unseres Volkes
({2})
und nicht um das Wohl dieser brüchigen Koalition aus
SPD und Grünen.
({3})
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt kaum ein innenpolitisches
Thema, das sich so wie dieses Thema anbietet, Emotionen
hervorzurufen, Ängste zu schüren und vor allen Dingen
durch Doppelbödigkeit falsche Eindrücke in der Bevölkerung zu erwecken, die vermieden werden könnten. Wir
haben das in der Debatte um das Thema „Ausländer und
Einwanderung“ sehr deutlich erlebt.
Es gab unglaubliche Schwankungen: Ein Tiefpunkt
wurde durch die Unterschriftenaktion in Hessen erreicht,
der sich auf die generelle Stimmung gegenüber Ausländern in unserem Land übertragen hat. Dann gab es eine
sehr gute Phase, als zwei Kommissionen zu einer sehr
großen Sachlichkeit in der Gesellschaft beigetragen haben. Nun fürchte ich, dass wir am Anfang einer dritten
Phase stehen, in der wieder das Schüren von Ängsten die
Oberhand bekommt.
({0})
Von Ihrem Fraktionsvorsitzenden Merz ist in die Debatte eingebracht worden - Sie scheinen sich jetzt darauf
festzulegen -, dass wir vor allen Dingen ein Begrenzungsgesetz bräuchten. Das erweckt den Eindruck, als ob
wir bisher keine Begrenzung der Zuwanderung vorgenommen hätten. Das ist absolut absurd;
({1})
denn jedes Ausländerrecht beinhaltet immer die Festlegung, wer das Recht hat, zu kommen, und gleichzeitig
werden durch das Ausländerrecht natürlich auch Grenzen
für diejenigen festgelegt, die nicht das Recht haben, zu
kommen. Es wäre also ein Streit um des Kaisers Bart,
wenn man sachlich diskutieren wollte. Wenn Sie mit den
Begrenzungsregelungen das Ziel dieses Gesetzes, nämlich die Einwanderung auch im Interesse unseres Landes
zu gestalten, auf den Kopf stellen wollen, indem Sie sagen, dass es bei jeder Prüfung eines Zuwanderungsanspruchs vor allen Dingen darum geht, die Zuwanderung
möglichst von uns fern zu halten, dann brauchen wir kein
neues Gesetz.
Als Ausländerbeauftragte - ich habe die Aufgabe, zu
möglichst viel Rationalität in dieser Debatte beizutragen möchte ich noch einmal sehr eindringlich auf die
Zuwanderungszahlen hinweisen, mit denen wir es
tatsächlich zu tun haben. Im Jahr 2000 sind etwa 648 000
Ausländer ins Land gekommen; das ist in der Tat eine beträchtliche Zahl. Es sind aber auch 562 000 Ausländer
wieder gegangen. Das heißt, dass wir einen Saldo von
86 000 Menschen bei einer Bevölkerungszahl von 82 Millionen haben.
Seit Jahren arbeitet im Bundestag die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“. Wir als Politiker haben die Aufgabe, in dieser Kommission vorausschauend
für dieses Land zu handeln. Vorausschauend zu handeln
heißt auch, der Entwicklung, dass der Altersdurchschnitt
der Bevölkerung extrem steigt - das bringt große Schwierigkeiten für die sozialen Sicherungssysteme mit sich, hebelt die Balance zwischen Alt und Jung aus und führt
schon jetzt zu einem großen Fachkräftemangel und einem
Mangel an Innovation auf unserem Arbeitsmarkt -, frühzeitig entgegenzuwirken.
({2})
Auf diese Ausgangsanalyse konnten sich sowohl die
Süssmuth- als auch die Müller-Kommission verständigen. Wenn wir bereit wären, auf dieser Basis sachgerecht
zu diskutieren und nicht anhand der Ausländerfrage
Kanzlerkandidaturen, die Aufstellung für die nächsten
Wahlen etc. durchzuexerzieren,
({3})
dann hätten wir wirklich die Chance auf einen breiten
Kompromiss in diesem Haus. Wir haben die Verpflichtung dazu; denn die Ausländer, die Migranten, werden es
spüren, wenn die Stimmung in diesem Land aufgeheizt
wird.
({4})
Ich möchte noch eine zweite Zahl nennen, um Ihnen zu
zeigen, wie ideologiebeladen diese Debatte ist; es geht um
den Kindernachzug. Sie erwecken den Eindruck, als ob
die Kinder der Migranten erstens ständig hin und her pendeln und zweitens dieses Land geradezu überschwemmen
würden. Daran knüpfen Sie die Forderung, das Kindernachzugsalter abzusenken. Im Jahr 2000 sind etwa 4 800
türkische Kinder zugewandert. Bezogen auf einen Jahrgang bedeutet das einen Zuzug von 289 Kindern. Diese
sind zu ihren Eltern nach Deutschland gekommen, weil
vielleicht die Großeltern nicht mehr zur Verfügung standen oder die Tante nicht mehr da war. Wollen Sie wirklich
einen so weit reichenden Einschnitt in individuelle
Entscheidungen - es geht darum, wie Familien zusammenleben - vornehmen, um diese 289 Kinder abweisen zu
können? Meine Damen und Herren, das belegt, dass es
vor allen Dingen um eine ideologische Auseinandersetzung geht.
({5})
Die allseits geschätzte und erfahrene Kollegin Barbara
John - sie ist die dienstälteste Ausländerbeauftragte der
Republik - sagt, dass der Kindernachzug faktisch abgeschlossen ist und es nicht mehr um die Frage des Nachzugs, sondern darum gehe, welche Integrationsmöglichkeiten und -leistungen unsere Gesellschaft - sie ist
Bildungs- und Qualifikationsträger - denen anbieten
kann, die schon hier sind. Das ist die eigentliche Herausforderung. Es gibt viele Versäumnisse - auch in der Politik der vergangenen Jahre. Neben der Gestaltung der Einwanderung sollten wir dieses Thema angehen, und zwar
nicht nur durch dieses Bundesgesetz, sondern auch durch
die Politik der Länder und der Kommunen; denn das ist
wahrhaft eine große Herausforderung.
Einwanderungsgesellschaften stehen vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Das sollten wir nicht
wegreden. Aber als Teil der Europäischen Union, einer
Region, die demnächst 27 Staaten haben wird, werden wir
mit dem Faktum Einwanderung leben müssen, es im eigenen Interesse positiv gestalten müssen, weil wir sonst
Unfrieden im Land schaffen, den dann niemand von Ihnen politisch wieder einfangen kann.
Schönen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Bürsch, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe an meine geschätzte Kollegin Marieluise Beck gerne an. Es gibt zwei
Möglichkeiten, Politik zu machen: auf der Grundlage von
Emotionen oder auf der Grundlage von Fakten. Als ruhiger Norddeutscher neige ich zu der zweiten Variante und
will am Ende der Debatte versuchen, zu den Fakten zurückzukommen.
Fakt ist: Es besteht Reformbedarf und Handlungsbedarf. Fakt ist auch: Die Union, die Opposition, hat keinen
Gesetzentwurf zu diesem Thema vorgelegt. Die Regierungsfraktionen haben einen Entwurf vorgelegt, der drei
Säulen enthält. Nicht alle konnten ihn lesen. Das ist bei
der Fülle des Materials aus dem Innenministerium nicht
jedem möglich gewesen.
Erste Säule: Zuwanderung. Die entscheidende Neuerung ist die Möglichkeit, Arbeitsmigration nach den Bedürfnissen der Wirtschaft und unseres Arbeitsmarktes zu
steuern. Das ergibt sich aus allen Paragraphen in diesem
Gesetz. Dazu werden qualifizierte Ausländer und Studierende gesicherte Aufenthaltstitel bekommen.
Zweite Säule: Integration. Erstmals regeln wir einen
gesetzlichen Mindestrahmen für die Integration. Ausländer, die zu uns kommen, um dauerhaft in Deutschland zu
leben, bekommen einen Rechtsanspruch auf die Teilnahme an einem Integrationskurs.
Dritte Säule: Aufenthaltsrecht. Ein entscheidender
Fortschritt, der heute nicht benannt worden ist, ist die
deutliche Vereinfachung des Aufenthaltsrechts. Das hat
viele Vorteile für die Anwendung des Gesetzes, aber vor
allem für die Rechtssicherheit der Betroffenen.
Es ist schon viel über die Fakten zum Thema Einwanderung gesagt worden. 31 Millionen Menschen sind seit
1954 zu uns gekommen. 30 Prozent aller Kinder an deutschen Schulen stammen aus zugewanderten oder kürzlich
eingebürgerten Familien. An manchen Schulen sind es sogar 60 Prozent und mehr. Allein Türken haben in Deutschland etwa 50 000 Betriebe gegründet und 200 000 Arbeitsplätze geschaffen. Das ist die Realität in Deutschland.
({0})
Eine Politik, die prinzipiell auf die Abwehr von Einwanderern setzt, ist einem Land mit unserer internationalen Orientierung nicht angemessen.
({1})
Eine solche Politik der Abschottung wäre im Zeichen der
Globalisierung auch zum Scheitern verurteilt. Das sehen
Marieluise Beck ({2})
Unternehmen, Kirchen und viele gesellschaftliche Gruppen in Deutschland so. Im Grunde müssten wir mit Stolz
auf unser Markenzeichen „Made in Germany“ eine neue
Einwanderungspolitik à la „Made in Germany“, eine Migrationspolitik, die in die Zukunft weist, erfinden.
Die systematische Förderung von Bildung, Fortbildung und Qualifizierung wird nicht ausreichen, um den
Arbeitskräftemangel zu beheben. Darauf haben verschiedene Vorredner hingewiesen. Für die nächsten Jahre besteht allerdings nach allen Prognosen der Bundesanstalt
für Arbeit überhaupt kein Anlass, irgendwelche Horrorszenarien zu entwerfen.
({3})
Es wird keine unbegrenzte Zuwanderung geben. Seriöse
Schätzungen sprechen von einem Bedarf von 10 000 bis
20 000 ausländischen Spitzenfachkräften, die wir in den
nächsten zehn Jahren benötigen. Die gesteuerte, qualifizierte Zuwanderung von Fachkräften gefährdet nicht die
Arbeitsplätze im Inland, im Gegenteil: Sie schafft neue
Arbeitsplätze.
Um es klar zu sagen: Die Zuwanderer werden auf der
Grundlage des neuen Gesetzes zu uns kommen, um
Lücken zu füllen, nicht, um einheimische Arbeitnehmer
zu verdrängen. Das sind die Fakten.
({4})
Stichwort Integration: Integration ist ein Prozess, der
sowohl von den Zuwanderern als auch von den Menschen
in Deutschland gegenseitige Anerkennung und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, verlangt.
({5})
Integration ist aber nicht nur ein Angebot, sondern damit ist auch eine Erwartung verbunden: Wer zu uns nach
Deutschland kommt, der soll die demokratisch festgelegten Regeln nach dem Leitbild unseres Grundgesetzes akzeptieren. Diese Regeln bieten einen weiten Raum für
kulturelle Vielfalt. Sie sichern die Freiheit des Glaubens,
sie sichern die Rechte von Minderheiten. Richtig ist aber
auch, dass diese Regeln Grenzen setzen, die niemand unter Hinweis auf seine Herkunft und seine religiöse Überzeugung außer Kraft setzen darf. Deshalb - auch das muss
einmal deutlich gesagt werden - setzt unser Integrationskonzept auf das Prinzip „Fördern und Fordern“. Ausländer, die dauerhaft in Deutschland leben, werden in Zukunft einen Rechtsanspruch auf die Teilnahme an einem
Integrationskurs erhalten, der 600 Stunden Sprachkurs
und 30 Stunden Einführung in die Rechtsordnung, die
Kultur und die Geschichte Deutschlands umfasst.
Die viel zitierte PISA-Studie hat uns Defizite im Bildungswesen vor Augen geführt. Es besteht auch dort erheblicher Handlungsbedarf, und zwar gerade bei den Bildungschancen sozial benachteiligter Kinder. Zu den
schwierigsten Aufgaben wird dabei die Förderung von
Kindern aus Zuwandererfamilien gehören. Anderen europäischen Staaten gelingt es nach dieser Studie offensichtlich besser, die Auswirkungen der sozialen Herkunft zum
Beispiel auf die Lesefähigkeit auszugleichen.
Ein Hinweis auf die Zahlenlage: Bei uns in Deutschland stellen ausländische Kinder 17,3 Prozent der Hauptschüler und 14,9 Prozent der Sonderschüler, aber nur
3,9 Prozent der Gymnasiasten. Jedes dritte ausländische
Kind bei uns besucht nur eine Haupt- oder Sonderschule.
Es lässt sich doch an fünf Fingern abzählen, welche Chancen diese Kinder mit einer solchen Schulbildung später
auf dem Arbeitsmarkt haben werden. Hier entwickelt sich
ein gewaltiger sozialer Sprengstoff in den Migrantenfamilien und an der Stelle müssen wir etwas tun.
({6})
Das Zuwanderungsgesetz gibt hier mit dem Integrationskonzept die richtige Richtung vor. Es wird erstmals
ein gesetzlicher Rahmen geschaffen, der vor allem bei den
Sprachkenntnissen ansetzt. Von dieser Neuregelung werden gerade Kinder der Zuwandererfamilien profitieren.
An sie ist dieses Angebot auch gerichtet.
Der Bund wird seiner Verantwortung nachkommen
müssen und sich an den Kosten angemessen beteiligen.
Ich könnte mir vorstellen, dass er sich zur Hälfte beteiligt.
Es spricht aus meiner Sicht auch überhaupt nichts dagegen - das ist schon von dem Kollegen Stadler gesagt worden, Unternehmen und solche Ausländer an den Kosten zu
beteiligen, die einen finanziellen Beitrag zu diesen Integrationskursen leisten können.
Es geht bei der Integration aber nicht nur um Geld. Es
geht nicht nur um Sprachkurse, so wichtig dieser Teil des
Angebots an Ausländer auch ist. Ein Großteil der Integrationsleistungen wird schon bisher völlig unabhängig von
staatlicher Steuerung erbracht. Verbände, Initiativen und
auch einzelne engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger
leisten auf diesem Gebiet eine vorzügliche Arbeit, für
welche wir Dank und Anerkennung schulden.
({7})
Doch damit ist es meiner Meinung nach nicht getan.
Dieses bürgerschaftliche Engagement gilt es zu fördern
und zum Beispiel durch eine Verbesserung der praktischen Rahmenbedingungen weiter zu mobilisieren. Die
Zivilgesellschaft kann nicht Ausfallbürge für den Staat
sein, auch nicht in dem Bereich der Integration; aber ohne
bürgerschaftliches Engagement wird Integration auch
nicht gelingen können.
({8})
Unser Konzept für eine neue Zuwanderungspolitik
wird nicht dadurch infrage gestellt, dass unsere offene Gesellschaftsordnung, unsere Lebensart der Freiheit durch
einen fundamentalistischen, durch einen Menschen verachtenden Terrorismus herausgefordert wird. Es ist viel
darüber gesprochen, viel darüber geschrieben worden. In
einer globalisierten Welt, in einem Zeitalter neuer Technologien und neuer Kommunikationstechniken, welche
die Welt viel enger zusammenrücken lassen, ist es eine
Ironie der Geschichte, dass wir nun auf eine fast archaische Empfindung zurückgeworfen werden, nämlich auf
die Angst vor dem anderen, der sich von uns durch Hautfarbe oder durch Religion unterscheidet. Unsere Aufgabe
als Politiker, als Verantwortungsträger ist es, solchen
Ängsten durch Aufklärung, aber sicherlich auch durch
entschlossenes Handeln gegen Terrorismus entgegenzuwirken.
({9})
Das neue Zuwanderungsgesetz wird mehr Steuerung
und mehr Sicherheit ermöglichen. Aber es setzt darüber
hinaus auch ein wichtiges Zeichen: Wir bleiben eine offene, eine freie Gesellschaft. Wir bieten denen, die mit einer guten Ausbildung und der Motivation zu uns kommen,
in unserem Land etwas zu erreichen - gleich, welcher
Herkunft sie sind und mit welcher Hautfarbe und welcher
Religion sie zu uns kommen -, eine Heimat. Wir bieten
ihnen an, dass sie zu uns gehören können. Denn wir
führen keinen Krieg der Kulturen. Wir treten für das ein,
was man als „Weltinnenpolitik“ bezeichnet, für das Miteinander aller Kulturen und Kontinente. Anders - um
es pathetisch zu sagen - werden wir nicht überleben können.
({10})
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten setzen auf die Überzeugungskraft der Fakten. Wir plädieren
dafür, dieses Thema mit Vernunft und Augenmaß zu bearbeiten und zu einem guten Ende zu bringen. Ich bin sicher: Damit werden wir nicht nur die Köpfe, sondern auch
die Herzen der Menschen gewinnen.
Für manche noch zögerlichen Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU rufe ich eine Lebensweisheit von
Immanuel Kant in Erinnerung, die ihnen die Zustimmung
erleichtern wird. Kant hat einmal gesagt: „Ich kann, weil
ich will, was ich muss.“ Das heißt auf Deutsch: Sie von
der CDU/CSU müssen realisieren, dass wir Zuwanderung
und Integration brauchen. Sie wollen der Zukunft dieses
Landes nicht im Wege stehen. Deshalb können Sie gar
nicht anders, als zuzustimmen. So einfach ist das.
({11})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland,
nämlich genau 61 Prozent, wollen nicht mehr, sondern
weniger Zuwanderung. Im Gegensatz dazu ist in dem von
Rot-Grün präsentierten Gesetzentwurf mehr Zuwanderung angestrebt. Schon aus diesem Grund lehnen wir, die
CDU/CSU-Fraktion, zusammen mit der überwältigenden
Mehrheit der Deutschen diesen Gesetzentwurf ab.
({0})
Deutschland ist eines der ausländerfreundlichsten Länder. Wir haben mehr Ausländer als alle anderen europäischen Industriestaaten und im Vergleich dazu weniger
ausländerfeindliche Straftaten. Wir haben mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen als der ganze Rest Europas zusammen.
Herr Kollege Uhl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Edathy?
Nein. Ich habe eine
Redezeit von nur 5,5 Minuten.
Die Zeit
für die Beantwortung der Zwischenfrage wird Ihnen nicht
angerechnet.
Das weiß ich. Aber
das stört meine Rede.
Kurzum, es ist einfach unanständig, wenn immer wieder
insinuiert wird, die Deutschen seien ausländerfeindlich.
Derzeit haben wir in Deutschland mehr als 7 Millionen
Ausländer. Umso wichtiger ist es, Frau Beck, vorrangig
diese 7 Millionen Menschen zu integrieren. Dabei werden
wir feststellen, dass Integration sehr teuer ist. In Ihrem
Gesetzentwurf steht über die wahren Kosten der Integration nichts.
({0})
Es gibt viel zu viele Ausländer, die hier auf Dauer leben wollen, sich aber jahrelang weigern, Deutsch zu lernen. Wir können das nicht länger hinnehmen. Doch auch
nach dem vorliegenden Gesetzentwurf hat ein Ausländer,
der keinerlei Integrationsbereitschaft zeigt, ausländerrechtlich, Herr Schily, nichts zu befürchten. Auch aus diesem Grund lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
Spätestens bei den Kindern dieser integrationsunwilligen Ausländer, die in Parallelgesellschaften aufwachsen,
stellen wir dann Folgeschäden fest: Ohne Deutsch gelernt
zu haben, haben sie natürlich keinen Schulabschluss,
ohne Schulabschluss keine Berufsausbildung, ohne Berufsausbildung keinen Arbeitsplatz und ohne Arbeitsplatz
gleiten sie dann sehr häufig - dies ist kein Wunder - in die
Kriminalität ab. Wir alle kennen die Zahlen der jugendlichen ausländischen Serienstraftäter vorwiegend aus der
Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien. In allen
westdeutschen Großstädten gibt es solche Fälle.
In unseren Großstädten gibt es Hauptschulklassen, in
denen die verbliebenen deutschen Schüler eine exotische
Minderheit darstellen. Es gibt Wohnblöcke, ja ganze
Straßenzüge, in denen kaum ein Deutscher lebt. Wer integriert denn da wen?
Wenn wir schon diese partiellen Überfremdungen nicht
rückgängig machen können - das wissen wir -,
({1})
so müssen wir wenigstens weitere Fehlentwicklungen
dieser Art verhindern. Wir haben die Aufgabe, den sozialen Frieden zu sichern und solchen Überfremdungen
Vorschub zu leisten. All Ihre multikulturellen Träume sind
doch in Wirklichkeit wie Seifenblasen zerplatzt.
({2})
Deswegen sagen wir: Integration hat Vorrang vor weiterer
Zuwanderung.
({3})
Wer es mit Integration ernst meint, der muss auch beim
Nachzugsalter von Kindern konsequent sein. Türkische
Eltern handeln unverantwortlich, wenn sie ihre Kinder im
schulpflichtigen Alter gezielt unserem Kulturkreis entziehen und sie in einer Koranschule ihres ostanatolischen
Heimatdorfes erziehen lassen. Der deutsche Staat muss
darauf bestehen, dass Ausländerkinder, die auf Dauer hier
leben wollen, echte Integrationschancen bekommen. Das
heißt, sie müssen Deutsch lernen und hier zur Schule gehen.
({4})
Aus diesem Grunde lehnen wir bei Kindern ein Nachzugsalter von über zehn Jahren ab.
Man kann über Zuwanderung nicht reden, ohne den
heimischen Arbeitsmarkt analysiert zu haben. Zuwanderung kann den Arbeitsmarkt durchaus bereichern, aber
auch eine große Belastung darstellen. Ein paar Tausend
exotische Zuwanderungsfälle von Computerfachleuten
oder indischen Spezialitätenköchen sind doch niemals der
Kern eines solchen Zuwanderungsgesetzes. Das ist und
bleibt ein Randthema. Dieses Zuwanderungsgesetz, über
das wir heute diskutieren, muss Massenzuwanderung in
den deutschen Arbeitsmarkt begrenzen.
({5})
Dieses Gesetz muss die Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme verhindern. Dies tut dieses Gesetz eben
gerade nicht, Herr Kollege.
({6})
Zu den bald 4 Millionen ausgewiesenen Arbeitslosen
müssen wir noch die verdeckte Arbeitslosigkeit und die
stillen Reserven hinzuzählen. So kommen wir heute
schon auf fast 7 Millionen Arbeitslose in Deutschland.
Hier in Berlin sind 42 Prozent der Türken im arbeitsfähigen Alter arbeitslos. In München ist bereits jeder zweite
Sozialhilfeempfänger ein Ausländer. Wer bei diesen Zahlen weitere Arbeitskräfte massenhaft ins Land holen will,
schadet Deutschland.
({7})
Die Arbeitsmarktprobleme in Deutschland müssen
gelöst werden. Stattdessen ergreift die Bundesregierung
die Flucht in eine Zuwanderungspolitik nach Gutsherrenart.
({8})
Einzelne Branchen, die laut schreien und eine entsprechende Lobby haben, bekommen willige und billige Arbeitskräfte aus dem Ausland.
({9})
Der Skandal ist nicht, dass wir - damit komme ich zum
Schluss ({10})
Pflegekräfte für unsere Krankenhäuser aus dem Ausland
holen. Der Skandal ist, dass es die Regierung nicht geschafft hat, die annähernd 40 000 arbeitslosen Pflegekräfte in Deutschland in Lohn und Brot zu bringen.
({11})
Der noch größere Skandal ist, dass wir Jahr für Jahr völlig ungelernte Erntehelfer aus dem Ausland zur Weinlese
und zum Spargelstechen holen müssen.
({12})
Trotz großspuriger Ankündigungen des Bundeskanzlers war diese Regierung nicht in der Lage, die arbeitsfähigen Arbeitslosen vor die Wahl zu stellen, entweder
zumutbare Arbeit anzunehmen oder Kürzungen der Arbeitslosenhilfe hinzunehmen.
Senken Sie, meine Damen und Herren, endlich die
Zahl der Arbeitslosen! Erst danach können wir uns darüber verständigen, ob und wie viel Zuwanderung wir in
Deutschland brauchen.
({13})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen
Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion.
Herr Kollege Uhl, die Zeit,
die für eine Kurzintervention zur Verfügung steht, reicht
sicherlich nicht aus, um all den demagogischen Äußerungen entgegenzutreten, die Sie hier vorgebracht haben. Ich
will hier aber einen Aspekt aufgreifen, der für die Öffentlichkeit interessant sein wird, insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sowohl Sie als auch der Kollege Marschewski dem Innenausschuss des Deutschen
Bundestages angehören und dass auch der Kollege
Bosbach zumindest bis zu seiner Wahl als stellvertretender Vorsitzender Ihrer Fraktion dem Innenausschuss angehört hat.
({0})
Angesichts Ihrer strikten, fast grundsätzlich gegen Zuwanderung gerichteten Äußerungen frage ich mich, wie
es zu erklären ist, dass die CDU/CSU im Innenausschuss
des Bundestages 1999 einen Antrag eingebracht hat, aus
dem ich Ihnen gleich einen Satz zitieren möchte.
Dabei möchte ich es bewenden lassen, weil dieser Satz
beispielhaft deutlich macht, dass Sie wider besseres Wissen darauf setzen, Vorbehalte, die es in der Bevölkerung
gibt, zu missbrauchen. Ich glaube durchaus, dass man
Vorbehalte ernst nehmen muss. Man darf sie aber nicht
missbrauchen. Der Satz aber, den ich zitieren möchte,
macht deutlich, dass Sie das tun.
Die CDU/CSU hat im Innenausschuss des Deutschen
Bundestages 1999 einen Antrag gestellt. Dort heißt es
wörtlich:
Die demographische Überalterung unserer Gesellschaft erfordert eine Zuwanderung jüngerer Menschen.
Ich weiß nicht, wie das mit dem, was Sie hier gesagt
haben, zusammenpasst. Es passt eben nicht zusammen.
({1})
Ich bedaure, dass Sie die Gelegenheit, eine sachliche Aussprache über einen vernünftigen Gesetzentwurf zu führen,
nicht genutzt haben, sondern ganz im Gegenteil künstliche Fronten aufgebaut haben, von denen ich persönlich
geglaubt habe, sie seien in den Sommermonaten längst
überwunden worden.
Ich kann nur an alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus appellieren, die Regelung von Zuwanderung so
wichtig zu nehmen, wie es dieser Frage gebührt, sie nicht
der Parteitaktik anheim fallen zu lassen, sondern sie sachlich und nüchtern zu behandeln. Der Gesetzentwurf des
Bundesinnenministers bzw. der Koalition ist dafür eine
gute Grundlage.
({2})
Zur Erwiderung hat Herr Uhl das Wort.
Herr Kollege
Edathy, es ist schön, dass Sie das Thema demographische Entwicklung in Deutschland im Zusammenhang
mit der Zuwanderung ansprechen. Dieser Themenkomplex hat alle Kommissionen nachhaltig beschäftigt. Und
es ist uns allen zusammen kalt den Rücken heruntergelaufen, als klar wurde, welche Zuwanderungszahlen man
bräuchte, um diese demographische Entwicklung zu stoppen oder ihr gar gegenzusteuern.
({0})
Es war davon die Rede, dass 3 Millionen Menschen pro
Jahr zu uns kommen müssten, um das Verhältnis von arbeitenden zu nicht arbeitenden Menschen in ein vernünftiges Verhältnis in der Bevölkerungspyramide zu bringen.
Als Sie diese Zahlen gehört haben, waren selbst Sie erschrocken. Jetzt sagen Sie: Wir wollen natürlich keine Zuwanderung, um die demographische Entwicklung zu korrigieren. Das kann allenfalls als Randerscheinung
behilflich sein. Aber auch Sie haben das Ziel nicht mehr
im Auge - das sagen selbst Sie. Vergessen wir also das
Thema, die demographische Überalterung durch Zuwanderung stoppen zu wollen.
({1})
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wenn wir dieses Problem, das natürlich ein großes Problem ist, lösen wollen:
Wir müssen entweder mehr Kapital für die Altersversorgung einsetzen oder wir sorgen für mehr Kinder, um die
Altersversorgung zu sichern.
({2})
Das heißt, wir müssen das Thema familienpolitisch und
nicht durch massenhafte Zuwanderung nach Deutschland
lösen.
({3})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/7387, 14/7465, 14/6641 und
14/7810 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d sowie Zu-
satzpunkt 4 auf:
6. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Gudrun Kopp, Ina Albowitz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Konsumenten- und Investorenvertrauen stärken - Wachstumskrise mit strukturellen Reformen überwinden
- Drucksache 14/7454 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Rainer Brüderle, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Neue Wachstumschancen mit durchgreifenden
wirtschaftspolitischen Reformen schaffen -
Blitzprogramm für die deutsche Wirtschaft
- Drucksachen 14/6446, 14/7214 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Peter Rauen, Dr. Angela Merkel, Friedrich
Merz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Zehnpunkteprogramm zur Wiederbelebung
der deutschen Wirtschaft und des Arbeits-
marktes
- Drucksachen 14/6436, 14/7213 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Gunnar Uldall
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gunnar Uldall, Matthias Wissmann,
Wolfgang Börnsen ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Konjunkturabschwung stoppen - Wachstumskräfte stärken
- Drucksachen 14/6161, 14/7215 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ditmar
Staffelt, Dr. Axel Berg, Rolf Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Werner Schulz ({5}),
Andrea Fischer ({6}), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN
Für eine stetige, verlässliche und beschäftigungsfördernde Wachstumspolitik - kein konjunkturpolitischer Aktionismus
- Drucksache 14/7808 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner für die
antragstellende FDP-Fraktion hat der Kollege Rainer
Brüderle das Wort.
({8})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere aus dem Leitartikel der „Süddeutschen Zeitung“ von
gestern, einer Zeitung, die Grün-Rot wahrlich sehr wohlgesonnen ist. Da steht:
In der Innenpolitik ... herrscht Stillstand, ja Rückschritt. Die prekäre Lage ist hinreichend beschrieben
worden. Rot-Grün will die Legislaturperiode mit einer kohlschen Arbeitslosenzahl beschließen...
Weiter heißt es dort:
... der normale Wähler empfindet die „größte Steuerreform der Geschichte“ keineswegs als eine Minderung der hohen Abgabenlast.
So weit der Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“.
({0})
Die Überschrift lautet: „Der Kanzler überdehnt sich“.
Das ist richtig; denn er ist zwar außenpolitisch erfolgreich, aber in der Wirtschaftspolitik geschieht nichts. Die
deutsche Wirtschaftspolitik braucht - ich sage es mit einem Schlagwort - mehr Reagan und weniger Brüning.
Angesichts des dramatischen Wachstumseinbruchs in
Deutschland ist es grundverkehrt, Herr Eichel, einen
buchhalterischen Zahlenausgleich zu betreiben. Wir brauchen eine mutige Steuersenkung, Deregulierung und
Strukturreformen.
({1})
Das Konjunkturbarometer steht auf Sturm. Die Rezession
steht vor der Tür. Im dritten Quartal ist das deutsche Wirtschaftswachstum geschrumpft. Das Gleiche droht im laufenden Quartal.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung spricht
von 4,4 Millionen Arbeitslosen in diesem Winter. In dieser Situation fordert die IG Metall bis zu 7 Prozent höhere
Löhne. Das ist geradezu ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die einen Arbeitsplatz wollen oder Angst um ihren
Arbeitsplatz haben. Ich frage mich manchmal, auf welchen Wegen sich die Spitzenfunktionäre der Gewerkschaften bewegen. Manche distanzieren sich davon; Herr
Schmoldt von der IG Chemie hat dies postwendend getan.
Vielleicht spielt aber auch das Machtgerangel in der
IG Metall eine Rolle.
Statt etwas zu tun, mauert Grün-Rot. Untätigkeit versteckt sich hinter dem europäischen Stabilitätspakt. Die
Regierung kann nichts dafür, dass sich die Weltkonjunktur verschlechtert hat. Aber sie kann etwas dafür, dass uns
dies so hart trifft,
({2})
dass die Weltkonjunktur so stark auf unsere Wirtschaft
einwirkt. Sie haben es nämlich versäumt, bei guter Weltkonjunktur den Haushalt von der Ausgabenseite her zu
konsolidieren, und daher müssen Sie jetzt die Investitionsquote in den Keller fahren und die Steuern erhöhen.
Sie hatten nicht einmal einen kleinen Haushaltspuffer für
das Sicherheitspaket, sondern mussten auch dafür die
Steuern erhöhen. So viel zum Buchhalternimbus.
({3})
Wenn wir jetzt nicht schnell auf den Wachstumspfad
zurückkehren, wird die Neuverschuldung weiterhin erVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
heblich ansteigen. Sie schaffen eine Konsolidierung des
Haushalts nicht, indem Sie Steuern erhöhen oder die
Ausgaben zurückführen, sondern nur, indem Sie den Mut
haben, Steuerentlastungsschritte vorzuziehen, und eine
aktive Politik betreiben, die die Wirtschaft in Schwung
bringt. Auf diese Weise wird ein Schuh für Konsolidierung daraus.
({4})
Wenn wir in die Rezession abgleiten, wird - wie nach
jeder Rezession - die Sockelarbeitslosigkeit weiter ansteigen. Das muss verhindert werden. Deshalb muss der
Passivität von Grün-Rot ein Wachstumspaket gegenübergestellt werden. Wir müssen schnell handeln. Deshalb haben wir ein Blitzprogramm vorgeschlagen.
({5})
- Sie sollten besser etwas tun.
Herr Staffelt, da Sie mir vielleicht nicht glauben - ich
würde das bedauern, weil ich Sie persönlich mag -,
möchte ich den Präsidenten des Ifo-Instituts, Herrn Professor Sinn, zitieren.
({6})
- Dass Sie schreien, verstehe ich, aber es hilft Ihnen nicht,
vor allen Dingen hilft es den Arbeitslosen nicht.
({7})
- Herr Staffelt, Ihr Nachbar schreit. Beruhigen Sie Ihn
einmal ein bisschen! Zuhören schafft mehr Erkenntnis.
Professor Sinn vom Ifo-Institut hat in einem „Spiegel“Interview gesagt: Wann ist die Zeit zum Handeln, wenn
nicht jetzt. - Da hat er Recht.
({8})
Grün-Rot kann auch nicht auf die äußeren Umstände
verweisen - am Ende sind wieder die Amerikaner
schuld -, um zu entschuldigen, dass sie nichts tun. Es lässt
sich doch klar belegen: Der Ölpreis ist sehr niedrig, die
Zinsen sind auf einem Tiefstand. Länder wie Holland, die
einen doppelt so hohen Exportanteil wie Deutschland haben, haben ein um 1 Prozent höheres Wirtschaftswachstum als Deutschland. Großbritannien, mit ähnlicher Exportstruktur wie Deutschland, hat vom zweiten auf das
dritte Quartal hinsichtlich des Wachstums wieder zugelegt. Wir müssen die Fakten nüchtern zur Kenntnis nehmen. Es hilft kein Gesundbeten oder Gesundreden. Es
darf keine Konjunkturlegende gebildet werden. Die Fakten müssen auf den Tisch, man muss sie zur Kenntnis nehmen und seine Handlungen danach ausrichten.
Die Stunde der Wahrheit ist da. Wir plädieren für ein
Vorziehen der Schritte der Steuerreform und für eine radikale Steuervereinfachung. Wir haben ein klares Steuersystem vor Augen: 15, 25 und 35 Prozent. Herr Finanzminister, Sie müssen einfach die Erkenntnis umsetzen:
Weniger ist mehr. Wenn Sie den Menschen durch niedrigere Steuersätze mehr Geld lassen, können Sie Ihre Einnahmen besser sichern, als wenn Sie die Steuern erhöhen.
Auf diese Weise können Sie nicht mehr Wachstum erreichen und mehr Arbeitsplätze schaffen.
({9})
Mit Ihrem Weg, Steuern zu erhöhen, konsolidieren Sie die
Krise, aber nicht den Haushalt.
Ich frage Sie: Warum versuchen Sie nicht, mit Abschlagszahlungen auf Steuersenkungen in Form von
Steuerschecks die Wirtschaft zu stabilisieren? Immer
wenn ich Ihnen diesen Vorschlag unterbreite - ich habe
das wiederholt getan -, weisen Sie gleich darauf hin: Die
Amerikaner haben das Ende August/Anfang September
so gemacht. Aber das hat nur zu einer Erhöhung der Sparquote geführt. Das funktioniert also nicht. - Herr Eichel,
Sie müssen doch bedenken, dass am 11. September etwas
Entscheidendes geschehen ist. Deshalb wirkten die vor
dem 11. September getroffenen Maßnahmen anders.
Außerdem tut es der US-amerikanischen Volkswirtschaft
ganz gut, wenn die Sparquote wenigstens bei 4 Prozent
liegt; denn vorher war die Sparquote negativ. Frankreich
versucht, in bescheidenem Umfang ähnliche Maßnahmen
umzusetzen.
Ich kann nur sagen: Der psychologische Effekt von
Steuerschecks wäre toll. Man muss sich das einmal vorstellen. Die Bürger bekämen einen Brief von Hans Eichel,
etwa mit folgendem Wortlaut: Ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie Steuern zahlen und dass wir mit Ihren Steuern unser Gemeinwesen finanzieren können. Wir meinen
es mit der Entlastung der Bürger ernst. Wir wollen die
überhöhten Steuern und Abgaben herunterfahren. Damit
Sie spüren, dass wir es ernst meinen, schicken wir Ihnen
eine Vorauszahlung als Abschlagszahlung in Höhe von
1 000 DM. - Das wäre ein neues Erlebnis für die deutschen Bürger. Da Wirtschaftspolitik viel mit Psychologie
zu tun hat, wäre so etwas eine große Chance, die Konjunktur zu beleben.
Ich sage Ihnen: Die Finanzierung solcher Abschlagszahlungen ist machbar. Sie müssen nur ein Sparpaket II
beschließen. Sie haben ja auch im Rahmen Ihrer ersten
Steuerreform das Sparpaket I mit einem Volumen von
30 Milliarden DM beschlossen. Damals haben Sie gesagt:
Alle Ressorts müssen 7,4 Prozent einsparen. Sie haben
also damals keine Liste, in der die einzelnen Sparmaßnahmen aufgeführt sind, vorgelegt, sondern einfach die
Vorgabe gemacht: Spart ein! Ich fordere Sie auf: Sie müssen im Zusammenhang mit der nächsten Steuerreform,
die jetzt vorgezogen werden soll, ein Sparpaket II vorlegen, mit dem Sie die Ausgaben zurückführen.
({10})
Auch Sie sollten ein Stück weit - das haben andere
auch geschafft - auf den Selbstfinanzierungseffekt von
steuerlichen Entlastungen vertrauen. Wenn Menschen
wieder mehr Geld haben, dann können sie auch mehr ausgeben. Wenn Betriebe feststellen, dass es aufwärts geht
und dass sie entlastet werden, dann sind sie optimistisch,
investieren und bringen die Wirtschaft voran. Die Verunsicherungspolitik und das schlechte Klima, das durch das
Hin und Her von Grün-Rot in Deutschland verursacht
wurde, gehören zu den Kernpunkten für die momentane
Misere.
({11})
Konzeptionslos, kurzatmig, unsystematisch und widersprüchlich - so lässt sich Ihre Politik beschreiben. Bisher gab es nur selektive Einzelmaßnahmen: Bei Holzmann hilft der Kanzler mit Steuerzahlergeld. Es gibt eine
Greencardflut: Immer dort, wo es ein Problem gibt, gibt
es eine neue Greencardregelung. Jetzt soll es auch eine
Greencardregelung für Pflegekräfte geben. Rente gibt es
nach Kassenlage. Es herrscht ordnungspolitische Beliebigkeit. Die Verlängerung des Briefmonopols zwingt
deutsche Unternehmen, ihre Werbesendungen in das benachbarte Ausland schaffen zu lassen, um sie zum Beispiel von Holland oder Dänemark nach Deutschland zu
schicken, weil die Monopolpreise in Deutschland überzogen sind und sich nicht an den Marktgegebenheiten orientieren.
Weitere Stichwörter sind: Tariftreuegesetz, Subventionierung von Ökostrom und der Kraft-Wärme-Kopplung.
Herr Müller nannte das in einer mutigen Stunde die „Pennerprämie“. Es gibt immer neue Belastungen für Bürger
und Wirtschaft: Ökosteuer, Dosenpfand, Bauabzugsteuer.
Diese Belastungen schaffen ein hartes Klima, in dem die
kleinen und mittleren Unternehmen kein Vertrauen haben
und deswegen nicht investieren. Bedenken Sie: Der Hoffnungsträger in Deutschland für mehr Arbeit ist doch der
Mittelstand, sind die kleinen und mittleren Unternehmen!
Das können Sie doch täglich in der Zeitung lesen.
({12})
Es sind doch die großen Unternehmen, die 5 000, 10 000,
15 000 oder sogar 20 000 Arbeitsplätze abbauen.
Wenn Sie die Mitbestimmungsregelungen verschärfen,
die „Zwangsteilzeit“ einführen und die Möglichkeiten für
befristete Arbeitsverhältnisse beschränken, dann dürfen
Sie sich nicht wundern, wenn ein Klima entsteht, das von
Attentismus, Skepsis, Sorgen, ja sogar von Ängsten geprägt ist. In einem solchen Klima können keine neuen
Arbeitsplätze geschaffen werden.
Die strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes haben Sie nicht angepackt. Im Gegenteil: Sie haben sie noch
verschärft. Es muss wieder ein Stück weit mehr Marktcharakter in den Arbeitsmarkt hineingebracht werden. Sie
können von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt im
Osten Deutschlands lernen, wie es gemacht werden muss.
Vom Arbeitsmarkt in Ostdeutschland zu lernen heißt
schlauer zu werden; denn dort fallen 70 Prozent der Arbeitsverhältnisse nicht unter das geltende Tarifvertragsrecht, weil es nicht anders geht.
({13})
- Herr Dr. Staffelt, anderenfalls gäbe es in Ostdeutschland
noch mehr Arbeitslose. Natürlich ist es rechtswidrig,
wenn - das ist in Ostdeutschland häufig der Fall - Tarifverträge nicht eingehalten werden. Die Gewerkschaften
wissen das genau. Sie können morgen früh klagen; denn
das ist klar rechtswidrig. Aus guten Gründen geht keine
Gewerkschaft und auch sonst niemand, der am 1. Mai mit
großen Parolen durchs Land marschiert, an dieses Thema
heran. Man weiß genau: Wer im Osten an diese Situation
Hand anlegt, verdoppelt die Arbeitslosigkeit dort.
({14})
Das ist eine Notwehrreaktion der Beschäftigten und der
Betriebe dort, damit sie überhaupt noch eine Chance haben. Man muss das Korsett öffnen, muss es ein Stück weit
den Betriebsräten, den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung überlassen, Entscheidungen zu finden, muss
die Flächentarifverträge auf Rahmenbedingungen reduzieren und Spielraum geben, damit die Betriebe dort eine
Chance haben, Arbeitsplätze zu erhalten und wieder neue
Arbeitsplätze zu schaffen.
({15})
Das können sie nicht, wenn Sie sagen: Wir wollen Wachstum und dann werden die Probleme auf dem Arbeitsmarkt gelöst. - Die Wahrheit ist anders. Wenn Sie auf
dem Arbeitsmarkt nichts tun, dann wird sich auch bei veränderter Wachstumssituation die Beschäftigung nicht erhöhen.
Herr Kollege Brüderle, kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Ich bin beim letzten Satz,
Herr Präsident. - Sie müssen den Arbeitsmarkt liberalisieren und öffnen, weil Sie nur dann den Wachstumskräften zum Durchbruch verhelfen. Das ist umso notwendiger, als die Regierung auch bei den Lohnnebenkosten ihr
Ziel völlig verfehlt hat.
Vielen Dank.
({0})
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Bundesminister Hans
Eichel.
({0})
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Solange die Konjunktur schlecht läuft - sie läuft zurzeit
schlecht -, werden wir solche Debatten haben, weil Sie
den Versuch unternehmen werden, daraus für sich - das
ist aus Ihrer Sicht verständlich - politisches Kapital zu
schlagen. Sie täuschen sich aber. Sehr geehrter Herr
Brüderle, das fängt bereits bei Ihrer Überschrift „Mehr
Reagan“ - das habe ich mit Vergnügen gelesen - „und
weniger Brüning“ an. Sie haben nicht begriffen, was wir
machen,
({0})
und offensichtlich wissen Sie auch gar nicht, was Reagan
gemacht hat.
({1})
Das einzig Positive, das von Reagan bleiben wird, ist
das Star-Wars-Programm, das politisch ein paar Probleme
hat, mit dem aber in der Tat den neuen Technologien in
den Vereinigten Staaten zum Durchbruch verholfen worden ist, und zwar zu einer Zeit, zu der Sie in der Regierung waren und das nicht gemacht haben.
({2})
Ansonsten stehen Reagan und Bush für eine weitaus
höhere Staatsverschuldung,
({3})
also für das genaue Gegenteil von dem, was Sie gesagt
haben.
({4})
Anfang der 90er-Jahre gab es als Ergebnis der
Reagan/Bush-Ära 15 Prozent mehr Staatsschulden und
ein Defizit von mehr als 4 Prozent. Erst Bill Clinton hat
mit einer Politik der Ausgabenbegrenzung und der Steuererhöhung - sowohl die Körperschaftsteuer als auch die
Einkommensteuer wurden erhöht - gemeinsam mit Alan
Greenspan den turn-around in den Vereinigten Staaten geschafft. Das ist die Wahrheit. Sie haben es überhaupt nicht
begriffen. Sie wissen noch nicht einmal, wovon Sie reden.
({5})
Wir machen eine andere Politik. Wir betreiben Konsolidierung mit Steuersenkung. Verehrter Herr Brüderle, an
dieser Ecke fängt es nun in der Tat an, bei Ihnen völlig unmäßig zu werden.
({6})
Am Dienstag hat der Vermittlungsausschuss getagt, in
dem wiederum Steuergesetze auf der Tagesordnung standen, und da können wir für Ihre Partei gleich den Wahrheitstest machen. Dort hat es mit Ausnahme von Herrn
Thiele, aber unter Beteiligung all der Landesregierungen,
in denen Sie den Wirtschaftsminister stellen, ein einvernehmliches Ergebnis gegeben. Dort hat keine Landesregierung die Auffassung vertreten, dass irgendeine zusätzliche Steuersenkung möglich ist. Alle haben darauf
bestanden, dass aber auch jede Mark, um die die Steuern
noch gesenkt werden, irgendwie gegenfinanziert wird.
Das ist Ihre politische Praxis dort, wo Sie selbst in der Regierung sitzen, wie das in Mainz, in Wiesbaden und in
Stuttgart der Fall ist. Deswegen ist alles, was Sie hier erzählen, so unglaubwürdig.
({7})
Meine Damen und Herren, wir wollten beim Arbeitsmarkt weiter sein. Dass die Zahl der Arbeitslosen in diesem Jahr über 4 Millionen liegen wird - das habe ich hier
gesagt -, macht uns in der Tat sehr viel Kopfzerbrechen.
({8})
Die Frage ist nur, inwieweit es Ihnen zusteht, sich als Kritiker aufzuspielen, wenn man bedenkt, was wir von Ihnen
im Winter 1998 übernommen haben.
({9})
- Ja, das wollen Sie nicht hören! - Wir werden aus dieser
Konjunkturkrise mit weniger Arbeitslosen herauskommen, als das bei Ihnen je der Fall gewesen ist.
({10})
Bei Ihnen waren es 4,8 Millionen Arbeitslose, also knapp
unter 5 Millionen. Wir werden aus dieser Konjunkturkrise
in jedem Fall mit 500 000 bis 600 000 weniger Arbeitslosen herauskommen, als wir von Ihnen übernommen haben, meine Damen und Herren. Das ist die schlichte Wirklichkeit!
({11})
Sie werden die 1 Million zusätzlichen Arbeitsplätze,
die in den letzten zwei Jahren entstanden sind - übrigens
sind noch im dritten Quartal 20 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden -, nicht wegdiskutieren können. Zwar
wird die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze ein bisschen abflachen; aber der Kern dessen, was wir erreicht haben, wird bleiben.
Es ist nicht so, dass wir nicht alles daransetzen, um voranzukommen. Damit komme ich auf die These zu sprechen, die Sie, lieber Herr Brüderle, in Bezug auf Brüning
aufgestellt haben. Was Sie gesagt haben, ist völlig falsch.
Sie sind offenbar nicht einmal in der Lage, den Haushalt
zu lesen: Der Haushalt des Jahres 2002 - wir haben ihn
hier diskutiert und verabschiedet - enthält Steuerentlastungen für Bund, Länder und Kommunen in der Größenordnung von insgesamt 19 Milliarden DM; das sind
0,45 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Kein Land in
Europa hat für das Jahr 2002 eine solche Steuerentlastung
wie wir durchgeführt. Ich erinnere an das Kindergeld,
({12})
an die Folgewirkungen der Steuerreform, die im Jahre
2002 eintreten, und an die Entlastungen, die erst am
Dienstag im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und
Bundestag verabschiedet worden sind.
Anders als Sie behaupten, enthält dieser Haushalt ein
hohes Maß an Investitionen. Der Umfang der Investitionen ist höher als der des Jahres 1998. Die einzige
Umbuchung besteht darin, dass wir aus den Investitionsfördermitteln für die ostdeutschen Länder Sonderbundesergänzungszuweisungen gemacht haben. Das geschah nur deswegen, weil die ostdeutschen Länder über
diese Mittel allein verfügen wollten. Sehr verehrter Herr
Brüderle, das müsste eigentlich liberalem Denken entsprechen; denn dadurch wird die Eigenverantwortung gestärkt und es werden mehr Chancen für die weiter wirtschaftliche Entwicklung geschaffen.
({13})
Dieser Haushalt - übrigens, Sie haben diesen Bereich
kaputtgespart - sorgt für mehr Investitionen in die Bildung.
({14})
- Doch, selbstverständlich! Schauen Sie sich einmal an,
was Sie mit dem BAföG in Ihrer Regierungszeit gemacht
haben.
({15})
In der vorigen Debatte wurde in einem Zwischenruf
danach gefragt, was in der Familienpolitik alles fehlt. Wer
hat denn die Familienpolitik wieder vorangebracht?
({16})
- Haben Sie sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingehandelt, nach dem Ihre Familienpolitik die Familien verfassungswidrig besteuert hat, oder wir?
({17})
Dieser Haushalt enthält zusätzliche Mittel für Investitionen in Höhe von 4 Milliarden DM. Hinzu kommt
noch das Städtebauprogramm im Rahmen des Aufbaus
Ost. Aber ich möchte etwas zur Politik in Ihrer Regierungszeit sagen. Wir leiden noch heute unter den 1,5 Billionen DM Schulden, die wir von Ihnen übernommen haben. 300 Milliarden DM davon stammen aus der Zeit der
sozial-liberalen Koalition, die fast bis zum Ende 1982 regiert hat; 300 Milliarden DM stammen aus der Zeit von
Ende 1982 bis zur Herstellung der deutschen Einheit und
900 Milliarden DM stammen aus der Zeit danach. Das
heißt, dass während Ihrer Regierungszeit Schulden in
Höhe von 1,2 Billionen DM gemacht worden sind.
Ihr einziger Vorschlag für ein Konjunkturprogramm ist
jetzt, wie Sie in Ihrer Vorlage formulieren, die vorhandenen Schulden um neue Schulden in Höhe von 52 Milliarden DM zu vergrößern;
({18})
schließlich mache das gar keinen Unterschied. Mit dieser
Politik sind Sie in der Tat weder europafähig noch zukunftsfähig.
({19})
Den Konsolidierungskurs - da liegt das Problem - hätten Sie längst einleiten müssen, wie es die anderen Länder in Europa gemacht haben. Ich freue mich nicht darüber, dass das Defizit in diesem Jahr 2,5 Prozent betragen wird. Allerdings werden wir im nächsten Jahr nicht
die von der Kommission geschätzten 2,7 Prozent erreichen; das Defizit wird deutlich geringer sein.
({20})
- Wenn wir unsere Politik nach Ihren Vorstellungen ausrichteten, dann hätten wir den Stabilitätspakt in Europa,
für den unter anderem auch unser Land gesorgt hat, gebrochen! Wenn Sie mit der Konsolidierung ein paar Jahre
früher angefangen hätten, dann wäre die Situation besser.
({21})
Erst durch die von uns eingeleitete Konsolidierung sind
wir in der Lage, die Maastricht-Kriterien einzuhalten.
Verehrter Herr Brüderle - eigentlich würde ich Ihnen
gerne Adam Smith vorhalten -, sagen Sie den Menschen
doch, dass die Haushaltskonsolidierung und die deutsche
Einheit nicht durch Steuerschecks vom Finanzamt finanziert werden, sondern durch harte Arbeit von uns allen.
Was für eine unsinnige Politik wollen Sie?
({22})
Herr Kollege Eichel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Matthias Wissmann?
Ja, sicher
erlaube ich eine Zwischenfrage von Matthias Wissmann.
Bitte
schön, Herr Wissmann.
Herr Bundesfinanzminister, ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass wir
uns in einer Debatte über Konjunktur, Arbeitsmarkt und
wirtschaftspolitische Konzeptionen befinden und dass Sie
bis jetzt eine ausschließlich finanzpolitische Rede gehalten haben? Könnte dies nicht auch ein Hinweis darauf
sein, dass es eine wirtschaftspolitische Strategie dieser
Regierung - der Wirtschaftsminister redet ja gar nicht ({0})
überhaupt nicht gibt?
({1})
Verehrter
Herr Wissmann, darf ich Sie darauf hinweisen, dass meine
Rede noch gar nicht zu Ende ist?
({0})
Das scheint Ihnen entgangen zu sein. Mir ist der Grund
Ihrer Intervention zu diesem Zeitpunkt unklar.
Jetzt möchte ich Ihnen den genauen Unterschied
nennen: Unsere wirtschaftspolitische Konzeption, Herr
Wissmann, besteht darin, ein langfristiges Konzept zu erstellen und nicht in den kurzfristigen Aktionismus und die
Windmacherei von Herrn Brüderle zu verfallen.
({1})
Vielmehr folgen wir einem konsequenten Konsolidierungskurs, den Sie übrigens selber auch einmal vertreten, aber nie durchgehalten haben.
({2})
Das machen wir nun konsequent Jahr für Jahr.
Wenn Sie heute Zeitung gelesen haben, wissen Sie,
dass
Dass der Konsolidierungskurs durchgehalten wird, ist die Voraussetzung
dafür, dass die Geldpolitik in der Europäischen Union
ihren wachstumsfördernden Beitrag leisten kann. Genau
das verspielen Sie mit Ihrer Art von Aktionismus.
({0})
Im Übrigen ist Ihnen offenkundig entgangen, dass unser wirtschaftspolitischer Kurs vom Sachverständigenrat
genau so für richtig gehalten wird. Er teilt unsere Auffassung nicht in allen Punkten, aber er teilt erstens die wirtschaftspolitische Grundlinie und befürwortet zweitens,
dass wir eine Steuer- und Abgabensenkung vorgenommen
haben, eine Steuer- und Abgabensenkung, die Sie nie hinbekommen haben. Diese ist aber das Äußerste dessen, was
möglich ist; das ist kein kurzfristiger Aktionismus: Steuersenkungen über den Zeitraum von zwei Wahlperioden stehen bereits im Gesetz. Herr Brüderle, eine solche Langfristigkeit und ein solches Durchhaltevermögen haben Sie bei
Ihrem Aktionismus niemals zustande gebracht.
({1})
Ein weiterer Punkt ist, dass wir - das ist eine Verbesserung der Staatstätigkeit und der Budgettätigkeit - Zinsausgaben in Ausgaben umwandeln, die für Zukunftsinvestitionen wichtig sind. So haben wir für den Aufbau
Ost mit dem Solidarpakt II Sicherheit für den Zeitraum
von 20 Jahren geschaffen. Kann man das noch längerfristiger anlegen? Zudem haben wir die Bildungsausgaben
ordentlich erhöht, und zwar seit 1999 - wenn ich das
BAföG einbeziehe - um über 21 Prozent. Dies wird künftigen Wohlstand schaffen.
({2})
Wir setzen also eine langfristige Politik gegen Ihren kurzatmigen Aktionismus.
({3})
Dazu gehört selbstverständlich auch die Rentenreform.
Das erste Mal in einer Wahlperiode sinken die Lohnnebenkosten, wenn auch nicht so weit, wie wir es wollten.
({4})
- Hören Sie mal, Sie haben sie doch nur gesteigert. Sind
nun 41,2 Prozent weniger als 42,3 Prozent oder nicht? Das
ist das kleine Einmaleins, Herr Merz.
({5})
Dies ist natürlich längst noch nicht alles. Da ist zum
Beispiel unsere Rentenreform. Davon kann sich das
ganze übrige Kontinentaleuropa - jedenfalls die großen
Länder - ein Stück abschneiden, was Sie übrigens auch
dem neuen Bericht der EU-Kommission entnehmen können. Deutschland hat als einziges Land mit dem zusätzlichen Element der kapitalgedeckten Zusatzeigenvorsorge genau den richtigen Reformweg beschritten. Diesen
Reformweg haben andere noch vor sich und er war auch
nicht ganz einfach durchzusetzen.
Was den Arbeitsmarkt betrifft, werden wir mit dem
Job-Aqtiv-Gesetz und einer großen Vermittlungsinitiative
zusätzliche Chancen schaffen.
({6})
Wenn es so ist, wie die Wirtschaft behauptet, nämlich dass
es viel mehr freie Stellen gibt, als sie gemeldet hat, müssen wir dafür sorgen, dass diese gemeldet werden, damit
die Menschen über die Vermittlungsinitiativen zu den
Stellen kommen.
({7})
Fordern, fördern, mehr qualifizieren - das wollen wir. Was
steht eigentlich in Ihrem Antrag im Zusammenhang mit
dem Arbeitsmarkt? - Kündigungsschutz weg, ABM runter.
({8})
- Kündigungsschutz ordentlich lockern, den Arbeitnehmern ordentlich Druck machen.
({9})
Das können Sie hier erzählen, verehrter Herr Brüderle;
das ist aber nicht unsere Politik, um das mit aller Klarheit
zu sagen.
({10})
In Ihrem Antrag steht: ABM runter. Das wird spannend.
({11})
Sie müssen - über die Effizienz müssen wir noch reden
und das tun wir auch - in die ostdeutschen Länder - dorthin, wo noch keine Chancen vorhanden sind - gehen und
denen sagen: Wir streichen euch die ABM-Stellen. Das
müssen Sie dort vertreten und nicht so schamhaft hier als
Straffung der Arbeitsmarktpolitik darstellen. Dann wären
Sie schon ein ganzes Stück ehrlicher. Weiterhin müssen
wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen.
Das ist der nächste Schritt, den ja übrigens Walter Riester
schon vorbereitet und der am Anfang der nächsten Wahlperiode stehen wird.
Ich nenne weiter die Gesundheitsreform mit dem Ziel
der Eingrenzung der Lohnnebenkosten oder unsere
Bemühungen, den europäischen Kapitalmarkt möglichst
schnell zu vereinheitlichen - das wird gerade heute wieder auf der Tagesordnung von Ecofin stehen - und den europäischen Energiemarkt zu vollenden, weil das Wachstumsprogramme sind. Deutschland will in all diesen
Bereichen die Entwicklung vorantreiben: das unterscheidet uns manchmal von anderen. Deswegen sage ich ganz
ausdrücklich: Wir sind mit dieser Politik,
({12})
die langfristig angelegt ist, auf dem richtigen Wege. Genau das hat uns der Sachverständigenrat auch bescheinigt.
Es ist eine Politik gegen Aktionismus und für Stetigkeit.
Das wirkt sich auch aus. Ich sage noch einmal: So traurig es ist, wenn wir in diesem Winter auf über 4 Millionen
Arbeitslose kommen, es wird das erste Mal in der Nachkriegszeit sein, dass wir aus einem Konjunkturtal mit
deutlich weniger Arbeitslosen herausgehen als in allen
früheren Perioden.
({13})
Das sind schlicht die Zahlen. Sie sind ja nicht einmal in
der Lage, Zahlen zur Kenntnis zu nehmen.
Ich sage Ihnen auch, meine Damen und Herren:
Schwarzmalerei wird Ihnen nicht helfen. Es ist offenkundig, dass die Sondereffekte des 11. September abklingen.
Das ist richtig so und es ist eine Folge der Politik der internationalen Gemeinschaft, an der diese Bundesregierung intensiv mitwirkt: Wir müssen den Terrorismus konsequent bekämpfen, aber so, dass dadurch nicht an
anderer Stelle Schäden entstehen.
Wir werden zu normalen ökonomischen Verhältnissen
zurückkehren. Das wird auch deutlich, wenn man im Unterschied zu Herrn Sinn die Prognosen der Institute, die in
der Regel eigentlich viel pessimistischer sind, in seine Betrachtungen einbezieht, nämlich die Prognosen des Kieler
Instituts für Weltwirtschaft oder des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim; beide sind
sehr renommierte Institute. Es ist offenkundig, dass wir
nicht so tief untergehen werden, wie Sie es vielleicht für
politische Zwecke gerne sehen würden, sondern dass die
Auftriebskräfte neben allen negativen Elementen, die wir
auch haben, wieder deutlich stärker werden.
Es ist ja wahr, dass der Ölpreis ein Konjunkturprogramm ist. Es ist wahr, dass die Inflationsrate sinkt. Es ist
wahr, dass die Menschen durch die Steuerentlastungen
jetzt spürbar mehr Geld im Portemonnaie haben. Es ist
wahr, dass die Zinsen niedrig sind und nur wegen unserer
Konsolidierungspolitik auch die Europäische Zentralbank
diesen Weg gehen kann. Es ist auch wahr, dass nun im
zweiten Monat in Folge die Automobilkonjunktur ordentlich angezogen hat. Es ist auch wahr, dass das Konsumklima in diesem Dezember deutlich besser ist als vor einem Jahr. Reden Sie das doch nicht klein! Wenn die
Wirtschaftspolitik zur Hälfte Psychologie ist, dann muss
man neben den negativen Nachrichten, die es gibt und die
ich als Finanzminister niemals bestreite - weil ich meinen
Haushalt immer auf einer soliden Basis machen will auch die positiven Nachrichten nennen, selbst dann, Herr
Brüderle und meine sehr verehrten Damen und Herren
von der Opposition,
({14})
wenn es Ihnen nicht ins politische Geschäft passt.
({15})
Deswegen sage ich: Ich bin sehr sicher, dass wir mit
unserer Politik, die konsequent, langfristig und stetig angelegt ist und die die Rahmenbedingungen verbessert,
besser fahren als mit Ihrem kurzatmigen Aktionismus,
dass wir mit dieser Politik in Europa, in der Wissenschaft
und übrigens auch bei den Menschen im Lande mehr Unterstützung finden als mit kurzatmiger Schuldenmacherei
und dass wir mit dieser Politik besser aus dieser Krise
herauskommen als mit Ihren Rezepten.
({16})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Heinrich
Kolb von der FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Minister Eichel, ich
habe mit Interesse Ihren Ausführungen zugehört. Sie bedürfen eines unmittelbaren Widerspruchs. Ich will Ihnen
hier ganz deutlich sagen: Ich finde es dreist, wie Sie in
diesen Tagen, da die rot-grüne Regierung den Offenbarungseid ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik ablegen muss, hier aufgetreten sind. Ihnen stand die
Ratlosigkeit förmlich ins Gesicht geschrieben.
({0})
Der Glanz, den Sie zeitweise als Sparminister der Nation glaubten für sich vereinnahmen zu können, verblasst.
Sie sollten nie vergessen - Sie haben auch heute wieder
die alte Regierung beschimpft -, dass die 100 UMTSMilliarden, die Sie einkassiert haben und von deren Zinsvorteilen Sie noch heute profitieren, auf Maßnahmen
zurückzuführen sind, die gegen den Widerstand der damaligen SPD-Fraktion in diesem Hause beschlossen
worden sind. Die Liberalisierung im Bereich der Telekommunikation war die Voraussetzung dafür, dass die
Versteigerung diese Erlöse bringen konnte.
({1})
Sie haben davon gesprochen, dass die Beiträge zur Sozialversicherung gesenkt würden. Herr Minister Eichel,
darf ich Sie in Abwesenheit des Bundesarbeitsministers
- sein Staatssekretär ist immerhin da - daran erinnern,
dass die Rentenbeiträge im nächsten Jahr 19,1 Prozent
betragen werden und dies nur deshalb der Fall ist, weil Sie
mit einem Gesetz zur Neubestimmung der Schwankungsreserve einen weiteren Anstieg um 0,3 Prozentpunkte vermieden haben?
({2})
Herr Eichel, darf ich Sie auch daran erinnern, dass die
Einnahmen aus der Ökosteuer in diesem Jahr 28 Milliarden DM betragen und im nächsten Jahr 36 Milliarden DM
betragen werden? Ein Beitragspunkt in der Rentenversicherung entspricht 17 Milliarden DM. Das heißt, an der
Tankstelle werden zusätzlich zwei Beitragspunkte in die
Rentenversicherung einbezahlt
({3})
und wir haben de facto gegenüber 1998 einen Anstieg der
Beiträge, die für die Sozialversicherung erbracht werden
müssen.
({4})
Sie haben, wahrscheinlich nicht ohne Grund, kein Wort
zu dem Antrag gesagt, den Rot-Grün heute hier vorlegt.
Worthülsen und heiße Luft sind Ausdruck völliger Konzeptionslosigkeit.
({5})
Schlimm finde ich, dass Sie etwas Politik der ruhigen
Hand nennen, was in Wirklichkeit Ausdruck von mangelnden Rezepten und mangelnden Ansätzen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist.
Herr Minister Eichel, Sie sollten nicht Reagan vorwerfen, er habe nichts zustande gebracht.
({6})
Reagan hatte den Mut, in einer für sein Land schwierigen
Situation Steuersenkungen umzusetzen, und diese Steuersenkungspolitik hat mit dem erforderlichen und immer
auch einzukalkulierenden zeitlichen Nachlauf Früchte getragen. Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten in den
letzten Jahren eine derart günstige Haushaltssituation hatten, wäre ohne die richtungsweisenden Entscheidungen
von Reagan nicht denkbar gewesen. Diesen Mut sollten
Sie haben.
Herr Kollege Kolb, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Darf ich einen Schlusssatz sagen?
Nein.
Dann bitte ich um Beantwortung dieser Fragen.
({0})
Herr Kollege Eichel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur ein
paar Dinge sachlich richtig stellen:
Erstens. Am Ende der Regierungszeiten von Reagan
und Bush gab es ein laufendes Defizit in Höhe von
4,4 Prozent des Staatshaushaltes. Bill Clinton musste als
Erstes eine Konsolidierung auf der Ausgabenseite einleiten und Steuererhöhungen vornehmen, um das Defizit der
Ära Reagan/Bush zu beseitigen. Das ist die Wirklichkeit.
Zweiter Punkt. Am Ende Ihrer Regierungszeit lag der
Rentenversicherungsbeitrag bei 20,3 Prozent. Sie hätten
ihn auf über 21 Prozent anheben müssen - Sie waren drauf
und dran -, wenn Sie nicht mit unserer Zustimmung die
Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt erhöht und die
Einnahmen daraus ausschließlich der Rentenkasse zugute
hätten kommen lassen. Das sollten Sie einmal zu Ihrer
Rechnung hinzuaddieren.
({0})
- Natürlich, Sie haben das doch oben draufgetan und
brauchten unsere Hilfe, weil Sie sonst gar nicht in der
Lage gewesen wären, den Anstieg des Rentenversicherungsbeitrages auf über 21 Prozent zu verhindern.
({1})
Drittens. 20,3 haben wir von Ihnen übernommen, bei
19,1 sind wir jetzt. Das entspricht einer Senkung um
1,2 Prozentpunkte. Das hat es in keiner Wahlperiode vorher gegeben.
({2})
Selbst wenn wir das, was wir lesen, unterstellen, nämlich
dass die Krankenversicherungsbeiträge um 0,3 bis
0,5 Prozentpunkte erhöht werden, bleibt es bei dem Ergebnis, dass die Sozialversicherungsbeiträge zum ersten
Mal in Deutschland nach dem Krieg am Ende einer Wahlperiode deutlich niedriger liegen als zuvor. Das ist der
schlichte Sachverhalt. Den können Sie durch nichts widerlegen.
({3})
Als
nächster Redner hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer sich ein kurzes Bild über den Zustand der Wirtschaftspolitik in diesem Lande verschaffen
wollte, der hätte während der Rede des Bundesfinanzministers nur auf die Regierungsbank gucken müssen. Da
steht hier in einer wirtschaftspolitischen Debatte der Finanzminister, die Regierungsbank ist gähnend leer
({0})
und oben sitzt ein gelangweilter Staatssekretär aus dem
Arbeitsministerium und liest Zeitung.
({1})
Da vorne sitzt auch noch ein Bundeswirtschaftsminister,
dem man schon körperlich anmerkt,
({2})
dass er mit der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung
nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben will. - Das
sieht man Ihnen doch an, so wie Sie da sitzen.
({3})
Offensichtlich, Herr Müller, haben Sie Schwierigkeiten,
mit dieser SPD-Bundestagsfraktion überhaupt noch dahin
gehend übereinzukommen, dass Sie in einer solchen Debatte reden dürfen.
({4})
Da Sie aber aus Ihren beiden Wirtschaftsberichten, die Sie
geschrieben haben und in denen manches Richtige steht,
vielleicht doch noch etwas zu dieser Debatte beitragen
wollen, biete ich Ihnen an, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ihnen Redezeit zur Verfügung stellt, damit
Sie hier deutlich machen können,
({5})
was Sie von der Lage in Deutschland wirklich halten.
({6})
Das geht dann zur Not zulasten der Kollegen Schauerte
und Hinsken. Beide bieten Ihnen das aber gerne an,
({7})
weil wir wissen, dass Sie dann, wenn Sie einmal etwas sagen oder schreiben dürfen, hin und wieder auch das Richtige sagen und schreiben.
Ich weise nur auf einen Sachverhalt hin: Sie haben in
Ihrem letzten Wirtschaftsbericht - für den Jahreswirtschaftsbericht sind Sie ja nicht mehr zuständig; den erstellt der Finanzminister - geschrieben, dass Sie es für
richtig halten, die Staatsquote in diesem Land auf 40 Prozent zu senken. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, Herr
Müller. Aber die Realität sieht in diesem Lande doch völlig anders aus: Wir sind bei einer Staatsquote von über
48 Prozent. Diese Staatsquote steigt tendenziell wieder,
aber nicht, weil Sie, Herr Eichel, die Steuern und die Sozialversicherungsbeiträge senken, sondern deswegen,
weil die Steuern steigen und weil Sie die Sozialversicherungsbeiträge mit Ihrer Ökosteuer quersubventionieren.
Das ist der tatsächliche Befund.
({8})
Herr Eichel, ich kann es Ihnen auch noch ein bisschen
genauer sagen, was die von Ihnen eben angesprochenen
Sozialversicherungsbeiträge, insbesondere die Rentenversicherungsbeiträge, angeht. Natürlich liegt der Rentenversicherungsbeitrag gegenwärtig bei 19,1 oder
19,3 Prozent. Aber tatsächlich läge er nicht um 0,5 oder 2,
sondern um ganze 8 Prozentpunkte höher, wenn der Teil,
der über Steuern finanziert wird, über Beiträge finanziert
würde;
({9})
denn aus Ihrem Haushalt, Herr Eichel, werden im nächsten Jahr 141 Milliarden DM an Subventionen in die
Rentenversicherung gezahlt. Das entspricht 8 Beitragspunkten. So sieht die tatsächliche Lage der Rentenversicherung in Deutschland aus; das hat mit den Zahlen, die
Sie hier vorgetragen haben, nichts zu tun.
({10})
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler, der es
auch nicht für nötig befindet, an dieser Diskussion teilzunehmen,
({11})
hat zu Beginn dieser Legislaturperiode das Bündnis für
Arbeit zum wichtigsten Projekt - so hat er sich ausgedrückt - dieser Legislaturperiode erklärt. Gleich, wer von
Ihnen noch das Wort nimmt - vielleicht spricht ja noch der
Bundeswirtschaftsminister -, ich möchte von den nachfolgenden Rednern
({12})
zu diesem wichtigsten Projekt dieser Legislaturperiode
etwas hören. Vor allem möchte ich wissen, warum das für
diese Tage geplante Treffen des Bündnisses für Arbeit abgesagt wurde.
({13})
- Entschuldigung, man kann ja mit den Tarifvertragsparteien reden, man kann auch mit denen reden, die in diesem Lande für Arbeitsmarktpolitik Verantwortung tragen.
Ich bin immer dagegen gewesen, dass Verantwortung verschoben wird. Aber man kann miteinander reden. Für Sie
war es das wichtigste Projekt dieser Legislaturperiode.
({14})
Was ist aus diesem Projekt eigentlich geworden?
Warum ist das Treffen des Bündnisses für Arbeit in diesen
Tagen abgesagt worden? Dafür hätte ich gerne eine Erklärung, meine Damen und Herren. Geben Sie hier keine
ab, dann bleiben wir dabei, dass in Wahrheit nur eine Person in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik in
Deutschland den Taktstock in der Hand hält. Das ist nicht
der Bundeskanzler, dass sind auch nicht die Gewerkschaften, sondern das ist der Vorsitzende der IG Metall,
({15})
der offensichtlich dafür gesorgt hat, dass dieses Bündnis
für Arbeit nicht mehr zusammentritt.
({16})
Es mag ja sein, dass Sie sich im Vorfeld der Wahlen
wieder den Gewerkschaften nähern müssen. Aber noch ist
es so, dass die Richtlinien der Politik in diesem Lande der
Bundeskanzler und nicht der Vorsitzende der IG-Metall
bestimmt. Deswegen wollen wir, dass in der Wirtschaftspolitik Klarheit darüber besteht, was in den nächsten zehn
Monaten bis zur Bundestagswahl in diesem Lande geschieht. Darüber müssen Sie in dieser Debatte Auskunft
erteilen, meine Damen und Herren.
({17})
Nun werden Sie, Herr Eichel, nicht müde, ständig über
die Verschuldung, über die Lasten aus der Vergangenheit
und über die guten Aussichten in der Zukunft mit Zahlen,
die Sie immer wieder hier referieren, zu berichten. So haben Sie es heute Morgen wieder getan. Ich will Ihnen
zunächst noch einmal sagen - das mag Ihnen nicht gefallen; ich wiederhole es aber trotzdem -, dass die 900 Milliarden DM an zusätzlicher Staatsverschuldung in
Deutschland nur ausschließlich deshalb bestehen, weil
nach den Jahren 1989/90 nicht die deutsche Einheit zu finanzieren war, sondern die Überwindung der deutschen
Teilung und die Erbfolgelasten von 40 Jahren real existierendem Sozialismus.
({18})
Die Tatsache, dass Sie das nicht nur heute nicht, sondern
zu keinem Zeitpunkt erwähnen, wenn über diesen Sachverhalt gesprochen wird, beweist, dass Sie mit der
deutschen Einheit damals und auch heute nichts am Hut
gehabt haben bzw. haben, selbst wenn Sie sich hier hinstellen und Krokodilstränen vergießen.
({19})
Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang noch einen zweiten Punkt sagen. Sie können natürlich mit Ihren
Zahlen schön jonglieren. Die Wahrheit ist aber, dass Sie
den Bundeshaushalt nicht über die Ausgabenseite sanieren, sondern dass Sie versuchen, ihn über die Einnahmenseite zu sanieren. Sie haben ständig steigende Staatsausgaben. Nur in einem einzigen Jahr Ihrer vierjährigen
Regierungstätigkeit gab es eine sinkende volkswirtschaftliche Steuerquote. Das ist in dem laufenden Jahr 2001 deshalb der Fall, weil in diesem Jahr die Körperschaftsteuer
geradezu wegbricht. Sie nehmen viel weniger Körperschaftsteuer ein, als Sie es ursprünglich selbst geplant haben. Deswegen sinkt in diesem Jahr die volkswirtschaftliche Steuerquote. In den beiden vorangegangenen Jahren
lag sie höher und sie wird im nächsten Jahr wieder ansteigen. Damit ist endgültig das Märchen von der sinkenden Steuerbelastung in Deutschland widerlegt. Die Steuern sinken nicht, sie steigen.
({20})
Lassen Sie mich einige Bemerkungen zu den Wachstumsraten, zu der Exportlage und zu den Ausrüstungsinvestitionen machen. Ich spreche diese Punkte deshalb an,
weil Sie hier immer wieder behaupten - heute haben Sie es
zwar nicht getan; aber in der Haushaltsdebatte haben Sie
es gemacht -, dass man in Deutschland ein viel höheres
wirtschaftliches Wachstum hätte, wenn man die furchtbare Lage der Bauindustrie nicht einbeziehen müsste.
Herr Eichel, wir haben in diesem Jahr in den drei abgelaufenen Quartalen trotz sinkender Zahlen eine außergewöhnlich gute Lage im Export: erstes Quartal 11,1 Prozent, zweites Quartal 9,4 Prozent und drittes Quartal
3,8 Prozent. Der Export, den Sie für das einbrechende Wirtschaftswachstum verantwortlich machen, ist für Deutschland tatsächlich immer noch die Konjunkturstütze.
Der Bundeskanzler hat uns hier vor gut einem Jahr darüber belehrt, dass die aussagefähigen Daten bei den Ausrüstungsinvestitionen zu suchen sind. Er hat am 29. November 2000 in der Haushaltsdebatte erklärt:
Im Vergleich zum Oktober 1999 stiegen die Ausrüstungsinvestitionen in Deutschland - diese sind ein
ganz wichtiger Indikator für das, was zukünftig in
der Wirtschaft passieren wird - um sage und schreibe
fast 9 Prozent ...
Dafür hat er sehr viel Beifall von SPD und Grünen bekommen.
Angesichts der Tatsache, dass die Zukunftsinvestitionen - wie der Bundeskanzler hier gesagt hat - zuverlässig
darüber Auskunft geben, wie sich die Volkswirtschaft in
den nächsten Wochen und Monaten entwickeln wird,
möchte ich Ihnen sagen, wie sich die Ausrüstungsinvestitionen in den ersten drei Quartalen dieses Jahres entwickelt
haben - in Preisen von 1995, so wie die Statistiken erstellt
werden -: erstes Quartal noch plus 3,4 Prozent, zweites
Quartal minus 1,2 Prozent und drittes Quartal minus
6,1 Prozent.
({21})
Herr Bundesfinanzminister und vielleicht interessiert
es auch Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister: Sagen Sie
doch einmal etwas zu der Tatsache, dass nicht der Export
dafür verantwortlich ist, dass das Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland zusammenbricht, und dass Sie
aufgrund der rückläufigen Ausrüstungsinvestitionen - sie
sagen nämlich etwas über die Binnenkonjunktur aus - mit
Ihrer Wirtschaftspolitik im Jahre 2002 keine Chance haben werden, aus dieser Wachstums- und Beschäftigungsschwäche in Deutschland herauszukommen. Sagen Sie
einmal etwas dazu!
({22})
Auch wenn Sie die deutsche Einheit und die Konsequenzen daraus nicht interessieren, wäre es vielleicht doch
richtig gewesen, in dieser wirtschaftspolitischen Debatte
wenigstens ein oder zwei Sätze zur Lage in den neuen
Ländern zu sagen.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Ihnen wurde nicht nur
die Grundsatzabteilung entzogen und bis zum heutigen
Tage - wohl entgegen den Versprechungen, die Ihnen gemacht wurden - nicht wieder zurückgegeben, sondern
auch die Europaabteilung wurde Ihrem Haus unter dem
Amtsvorgänger von Herrn Eichel entzogen. Auch diese
haben Sie bis zum heutigen Tage nicht zurückbekommen.
Vielleicht interessiert Sie der Sachverhalt, den ich ansprechen möchte; vielleicht sagen Sie gleich etwas dazu. Wenn
wir richtig informiert sind, beabsichtigt die EU-Kommission, in den nächsten Wochen den so genannten multisektoralen Beihilferahmen drastisch zu verändern. Dahinter
verbirgt sich die generelle Genehmigung für große Investitionsvorhaben in der gesamten Europäischen Union. Dieser Beihilfekodex soll für ganz Europa geändert werden.
Dies würde auch und vor allem die neuen Länder treffen. In den letzten Jahren fielen 25 Großprojekte in ganz
Europa - neun davon in den neuen Ländern - in diesen
Beihilferahmen. Ich hätte gerne eine Auskunft der Bundesregierung darüber, wie sie die Verhandlungen über die
Veränderung dieses Beihilferahmens, welche insbesondere
die neuen Länder betreffen wird, in Brüssel führt. Wenn
das, was in Brüssel geplant wird, nämlich eine 50-prozentige Kürzung bzw. Einschränkung des Beihilferahmens,
Wirklichkeit wird, dann können Sie in Zukunft Großvorhaben in den neuen Bundesländern, wie zum Beispiel das
neue VW-Werk, das der Bundeskanzler gestern in Sachsen
feierlich eingeweiht hat, vergessen. Herr Bundeswirtschaftsminister, ich hätte gerne eine Auskunft darüber, wie
die Bundesregierung bezüglich dieses Beihilferahmens
für die neuen Länder in Brüssel verhandelt.
({23})
Liebe Frau Gesundheitsministerin Schmidt, da wir wenigstens die Ehre Ihrer Anwesenheit haben, möchte ich in
diesem Zusammenhang einen Sachverhalt ansprechen, der
uns in diesen Tagen beschäftigt und der auch etwas mit der
konjunkturellen Entwicklung und der Wirtschaftspolitik in
diesem Land zu tun hat. Vor einigen Wochen wollten Sie
ein Kostendämpfungsgesetz für das Gesundheitswesen,
weil Ihnen - in Ihrem Ressort - die Beitragssätze für die
gesetzliche Krankenversicherung davongaloppieren. In
fast allen gesetzlichen Krankenversicherungen wird es
nach dem Jahreswechsel zu einer Beitragssatzsteigerung
in einer Größenordnung zwischen 0,5 und 1 Prozentpunkt
kommen. Sie wollten ein solches Gesetz machen und haben es in veränderter Form in den Deutschen Bundestag
eingebracht. In diesen Tagen verhandeln Sie mit den Unternehmen der forschenden Pharmaindustrie über einen
Sonderbeitrag in Höhe von 400 Millionen DM, den diese
an die gesetzlichen Krankenkassen zahlen sollen.
({24})
Herr Eichel und Frau Schmidt, ich wüsste gerne von Ihnen, was für eine Leistung dies ist und wie Sie sie nennen.
Wie soll diese in den Unternehmen verbucht werden?
Ich sage Ihnen: In diesen Minuten findet im Untersuchungsausschuss eine Fortsetzung Ihres Spieles gegen
den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl statt. Es
geht Ihnen dabei darum, was in Leuna und Buna angesiedelt worden ist.
({25})
Meine Damen und Herren, der Ablasshandel, den Sie
mit diesen 400 Millionen DM planen, ist eine Zumutung
für die gesamte Republik. Das hat mit einer geordneten
Gesetzgebung nichts mehr zu tun.
({26})
Frau Schmidt, Sie lassen sich hier eine von Ihnen als
richtig erkannte Gesetzgebung abkaufen, indem die betroffenen Unternehmen 400 Millionen DM zahlen sollen.
({27})
Sie, Herr Eichel, wissen bis zum heutigen Tag nicht, auf
welches Konto dieses Geld eingezahlt werden soll, erklären aber gleichzeitig, dass es Betriebsausgaben der Unternehmen sind. Somit wird das, was Sie für richtig halten, zur Hälfte von den Ländern mitfinanziert. So kann
man in diesem Lande keine Politik machen. Wir sind
keine Bakschisch-Republik, Herr Minister Eichel und
Frau Ministerin Schmidt.
({28})
Meine Damen und Herren von der Regierung, das, was
der Bundesverteidigungsminister in diesen Tagen plant,
nämlich den Abschluss eines internationalen Vertrages
über die Lieferung von 73 Flugzeugen des AirbusKonsortiums an die Streitkräfte, ist der letzte verzweifelte
Versuch, die Konjunktur in diesem Lande anzukurbeln.
Lieber Herr Finanzminister Eichel, offensichtlich bereiten
Sie sich gerade auf die nächste Kurzintervention vor.
({29})
Vielleicht können Sie in Ihrer Eigenschaft als Haushaltsminister zu diesem Sachverhalt dann auch noch einmal etwas sagen.
Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
hat der Regierung, also dem Verteidigungsminister, für
diese Anschaffung einen Betrag von 10 Milliarden DM
genehmigt. Davon können Sie 42 Flugzeuge anschaffen.
Wie kommt ein Mitglied dieser Bundesregierung dazu, in
diesen Tagen einen Vertrag über 73 Flugzeuge abzuschließen, obwohl es einen genau gegenläufigen Beschluss des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages gibt, und zwar mit der rot-grünen Mehrheit, nicht
mit der Opposition? Wir haben den Antrag gestellt, für
eine entsprechende Verpflichtungsermächtigung zu sorgen, den Sie abgelehnt haben. Gleichzeitig schließt der
Verteidigungsminister einen solchen internationalen Vertrag.
({30})
Ich sage Ihnen das, weil diese Bundesregierung offensichtlich überhaupt nicht mehr gewillt ist, sich an die parlamentarischen Regeln, an die Haushaltsordnung und an
das, was im Grundgesetz über Haushaltsklarheit und
Haushaltswahrheit niedergelegt ist, zu halten,
({31})
weil Sie dazu übergehen, zu machen, was Sie wollen, hier
mit Zahlen zu operieren, die keiner Überprüfung standhalten, und die Wirtschaftspolitik in die Hände eines
Fiskalministers zu legen, der mit der Wirtschaftspolitik
nichts, aber auch gar nichts am Hut hat und der gleichzeitig ein Ausmaß an Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Lage am Arbeitsmarkt aufweist, die für die Deutschen insgesamt erschreckend ist.
({32})
Deswegen zum Schluss noch einmal in aller Ruhe:
Wenn Sie es nicht schaffen, die strukturellen Probleme
auf unserem Arbeitsmarkt, die strukturellen Verwerfungen der Steuerpolitik zu beseitigen, wenn Sie es nicht
schaffen, eine Politik für Wachstum und Beschäftigung in
diesem Lande zugunsten des ersten und nicht zugunsten
des zweiten und dritten Arbeitsmarktes durchzusetzen,
dann haben Sie keine Chance, das Ziel, das wir alle für
richtig halten, nämlich mehr Beschäftigung und weniger
Arbeitslosigkeit in Deutschland, zu erreichen. Dieses
Land hat eine bessere Politik, eine Wirtschaftspolitik für
den ersten Arbeitsmarkt, für Wachstum und Beschäftigung, verdient und nicht Leute, die sich hier hinstellen
und nach Belieben mit Zahlen jonglieren, die keiner Überprüfung mehr standhalten.
({33})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Werner Schulz von Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Rezession beginnt in den Köpfen“, sagt Lothar Späth in der
heutigen Ausgabe der „Bild“-Zeitung. Er muss das in der
Vorahnung Ihrer heutigen Rede gesagt haben, Herr Merz.
({0})
- Sie sollten schon zuhören, wenn Sie solche provokativen Reden halten.
({1})
Ich befürchte, angesichts des immer näher rückenden
Wahltermins, Kollege Glos, und seit die Union auf dem
Bundesparteitag in Dresden und über alle Kanäle das
Thema Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zum Wahlkampfthema erklärt hat,
({2})
steigt die Unredlichkeit in dieser Debatte.
({3})
Was hat es für einen Sinn und wo ist die Redlichkeit,
wenn Sie dem Bundeswirtschaftsminister Redezeit anbieten, obwohl Sie genau wissen - die Rednerliste liegt auf
Ihrem Platz -, dass der Bundeswirtschaftsminister in dieser Debatte noch reden wird? Was soll dieser Trick?
({4})
Wo ist die Redlichkeit, wenn Sie von der Quersubventionierung über Ökosteuer sprechen? Als Sie noch an der
Regierung waren und Ihr Fraktionschef Wolfgang
Schäuble und Ihre Umweltministerin Angela Merkel war,
hieß das Modell, das wir praktizieren, Aufkommensneutralität. Genau das Modell wollten Sie umsetzen.
({5})
Da können Sie den Kopf schütteln, wie Sie wollen; vielleicht haben Sie das damals nicht mitbekommen.
({6})
Es war im Grunde genommen das gleiche Prinzip: auf
der einen Seite eine Ökosteuer einzuführen und dadurch auf der anderen Seite die Lohnzusatzkosten, die
Lohnnebenkosten, zu senken. Damals hieß das nicht
Quersubventionierung, sondern Aufkommensneutralität.
Zum Bündnis für Arbeit. Seit wann interessieren Sie
sich denn für das Bündnis für Arbeit? Bisher haben Sie
das rigoros abgelehnt.
({7})
Ich sage das einmal etwas salopp: Sie haben offensichtlich ein neues Feindbild im „Zwickel“. Das ist wahrscheinlich Ihr Problem.
({8})
Zu den ausländischen Direktinvestitionen. Ist Ihnen
denn verborgen geblieben, dass sich in den letzten zwei
Jahren die ausländischen Direktinvestitionen verdoppelt
haben, dass aus amerikanischer Sicht Deutschland der interessanteste Investitionsstandort in Europa ist?
({9})
Das ist Ihnen offensichtlich verborgen geblieben und es
interessiert Sie auch nicht. Ich habe den Eindruck, dass
sich von der Erwartungsstrategie her die Opposition in
Kriegsgewinnler und Krisengewinnler zerlegt. Das ist die
Situation, in der Sie sich im Moment befinden.
({10})
Und was die deutsche Einheit betrifft, so haben Sie
darauf eine sehr selbstgefällige Sicht. Sie interessiert nur
die eigene Erfolgsbilanz. Sie ist groß und ich will sie nicht
in Abrede stellen. Sie ist vor allen Dingen auf der politischen Habenseite groß. Aber auf der wirtschaftspolitischen Seite haben wir mit der deutschen Einheit und ihrer
Fehlfinanzierung heute noch zu kämpfen, Kollege Merz.
({11})
1990 standen die Lohnnebenkosten bei 35 Prozent. Als
wir die Regierungsverantwortung übernommen haben,
waren die Lohnnebenkosten bei fast 43 Prozent. Darin
sind die verdeckten Finanzierungen der deutschen Einheit, also die versicherungsfremden Leistungen, enthalten. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, zur Krankenversicherung und zur Rentenversicherung sind
gestiegen. Wir bemühen uns, diese Lohnzusatzkosten
heute unter 40 Prozent zu bekommen; das ist außerordentlich schwierig. Sie müssen dazusagen, dass Sie die
gesamten 90er-Jahre genutzt haben, um genau diesen
Kostenfaktor zu erhöhen und damit Arbeit teuer zu machen, und dass Sie damit die Arbeitslosigkeit angeheizt
haben.
Nehmen wir beispielsweise das Wirtschaftswachstum. Sie haben es heute nicht angesprochen, aber es
gehört zum Standardrepertoire von Ihnen und auch vom
Kollegen Brüderle, dass Deutschland die rote Laterne
beim Wirtschaftswachstum in Europa hat,
({12})
was nicht der Fall ist. Nein, Finnland steht an letzter
Stelle.
({13})
- Minus 0,4! Schauen Sie in die Statistik! Allerdings
stimmt es mich nicht froh, dass wir den vorletzten Platz
haben.
Das Wirtschaftsministerium sagt, dass uns der Spezialfall Baukonjunktur bzw. die Rezession der Baubranche
etwa 0,6 Prozent kostet. Der BDI sagt, ungefähr 0,8 Prozent macht allein die Rezession in der Baubranche aus.
({14})
- Es freut mich, dass Sie alle mitsprechen. Das macht es
leicht, hier zu reden. - Das heißt, wir hätten ohne die Rezession in der Baubranche ein Wirtschaftswachstum von
1,5 Prozent, in Ostdeutschland sogar von 2,5 Prozent.
Wir haben das Problem, dass Sie im Glauben an ein
zweites Wirtschaftswunder mit Steuerabschreibungen vor
allen Dingen eine Baukonjunktur, einen Bauboom angeheizt haben. Diese verfehlte Investitionspolitik kann man
heute noch überall bewundern: überdimensionierte Kläranlagen, Einkaufszentren auf der grünen Wiese, Büropaläste, Leerstände im Wohnungsbereich. Alles das sind
Fehlfinanzierungen, Fehlallokationen von Kapital, die in
den 90er-Jahren passiert sind. Und natürlich erleben wir
momentan eine Krise in der Bauindustrie, die Kapazitäten
abbaut. Das gehört mit zur Bilanz der deutschen Einheit.
({15})
Nehmen wir die ökologische Marktwirtschaft, Herr
Kollege Merz. Es war interessant, das auf Ihrem Parteitag
zu verfolgen. Sie haben dort die „neue soziale Marktwirtschaft“ ausgerufen. Das einzig Neue, was dabei war, war,
dass die ökologische Marktwirtschaft, die Sie vorher noch
im Programm hatten, gefehlt hat, dass sie nicht mehr dabei ist, dass Sie das nicht wirklich ernsthaft betreiben.
Schauen wir uns an, was diese Regierung 1998 übernommen hat: einen extrem hohen Schuldenberg. Wir haben Haushaltssanierung betrieben und sie ist erfolgreich
gelaufen. Wir haben zum ersten Mal den Marsch in den
Schuldenstaat gestoppt, sodass wir in der Lage sind, diese
Lasten nicht den künftigen Generationen zu überlassen.
Natürlich haben wir eine Steuerreform durchgeführt,
die sich sehen lassen kann. Schauen Sie sich an, wo der
Spitzen- und der Eingangssteuersatz heute stehen. Es kam
in diesen drei Jahren zu einer Senkung um 5 Prozent. Das
ist kein kleiner Betrag. Die Entlastung für die Steuerzahler durch diese Steuerreform beträgt allein in diesem Jahr
45 Milliarden DM.
Sie schlagen jetzt ein Vorziehen der nächsten Stufen
der Steuerreform vor. Ich bitte Sie: Sie haben dafür gesorgt, dass die Steuerreform beinahe nicht durch den Bundesrat gekommen wäre.
({16})
Werner Schulz ({17})
- Natürlich! Sie haben sie blockiert. - Letztendlich ist es
mithilfe von Rheinland-Pfalz gelungen, diese Steuerreform überhaupt hinzubekommen.
Sie haben das Gutachten des Sachverständigenrates
genauso gelesen wie ich. Ein Vorziehen der nächsten Stufen wird abgelehnt, weil dies nicht finanzierbar ist. Auch
Ihre Steuerschecks werden abgelehnt. Zu Ihrem Hinweis
auf § 26 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, in dem
in einer außerordentlichen Situation bestimmte Möglichkeiten vorgesehen sind, sagt der Sachverständigenrat
ganz klar: Diese außerordentliche Situation ist nicht gegeben. Sie liegt nicht vor. - Er bestätigt vielmehr die Politik der Bundesregierung. Kein hektischer Aktionismus,
sondern Stetigkeit, Fortsetzung des wirtschaftspolitischen
Kurses, den wir eingeschlagen haben, ist jetzt nötig. Dazu
gehört Verlässlichkeit in der Steuerpolitik, die wir aufgelegt haben.
({18})
Das gilt natürlich auch für das Bündnis für Arbeit, Herr
Kollege Merz. Das Bündnis für Arbeit hat doch bisher
durch moderate Lohnabschlüsse dazu beigetragen, dass
wir beispielsweise im letzten Jahr ein relativ gutes
Wirtschaftswachstum hatten.
Zu der Situation, mit der wir momentan zu kämpfen
haben, ist zu sagen: Die Wirtschaftsflaute ist auf dem Tiefpunkt angelangt. In den nächsten Monaten werden wir erleben, dass es wieder aufwärts geht; der Bundesfinanzminister hat darauf hingewiesen. Das Institut für
Weltwirtschaft in Kiel hat ebenso wie alle anderen Prognosen, die uns vorliegen, deutlich gemacht, dass wir in
der nächsten Jahreshälfte mit einem Anspringen der Konjunktur zu rechnen haben, natürlich nicht in dem Maße,
wie wir das bisher gehofft haben. Aber die weltwirtschaftliche Konjunkturlage hat nun einmal Einfluss
auf unsere Wirtschaft. Die Verbindung zwischen der Entwicklung der Konjunktur in den USA und in Deutschland
ist wesentlich enger, als wir alle in diesem Hause uns das
vorgestellt haben. Vor allen Dingen sehen wir: Es gibt eine
Globalisierung der Erwartungshaltungen, eine Globalisierung des Vertrauens in Investitionen, in Konsumverhalten und dergleichen. Im Moment haben wir in gewisser Weise mit neuen Übertragungsmechanismen zu
kämpfen.
({19})
- Selbstverständlich ist das so. Das erheitert Sie sehr; aber
das steht so sinngemäß im Gutachten des Sachverständigenrates. Ich möchte Sie bitten, das zur Kenntnis zu nehmen, wenn Sie darüber sprechen, woran es liegt, dass wir
uns in einer solchen Misere befinden, und wenn Sie aus
dieser Situation keinen einseitigen Nutzen ziehen wollen.
Diesen Eindruck habe ich allerdings.
Wenn Sie sich die Arbeitsmarktpolitik einmal genau
anschauen, dann sehen Sie, dass wir uns auf diesem Gebiet wahrlich mühen. Das Job-Aqtiv-Gesetz wird im
nächsten Jahr Impulse bringen. Wir werden gerade für
Langzeitarbeitslose Eingliederungspläne erstellen. Wir
werden das Kombilohnmodell, das Sie so sehr preisen,
ausweiten. In Rheinland-Pfalz sind damit gute Erfahrungen gemacht worden. Es bietet sich an, das Modell auf
Sachsen-Anhalt zu erweitern.
Das sind Beispiele, wie wir der strukturell verfestigten
Arbeitslosigkeit auf den Leibe rücken. Natürlich würde es
sich für das Bündnis für Arbeit anbieten - eigentlich ist es
jetzt Zeit für ein Bündnis für Arbeit -, Lohnzuwächse zu
beschließen, die im Rahmen des Produktivitätsfortschrittes liegen und sich an der Inflationsrate orientieren.
Das sind Fragen, die in den nächsten Wochen und Monaten geklärt werden. Wir werden natürlich auch in unseren Anstrengungen bezüglich der Strukturreformen
- dazu hat uns der Sachverständigenrat aufgefordert nicht nachlassen. Schauen Sie sich einmal an, welche Dynamik allein durch die Steuerreform des nächsten Jahres
in der Wirtschaft entstehen wird. Bisher hat das ganze
Programm noch gar nicht begonnen. Ab Januar nächsten
Jahres werden Erlöse aus der Veräußerung von Betriebsbeteiligungen - übrigens auch solche beim Mittelstand steuerfrei gestellt, und zwar sowohl bei Kapitalgesellschaften als auch bei Personengesellschaften. Das
haben wir im Rahmen der Reinvestitionsrücklage geklärt.
Das sind Effekte, bei denen wir damit rechnen können,
dass sie zusammen mit der anspringenden Konjunktur positiv wirken werden. Wir alle müssen doch an solchen
Koppelungseffekten interessiert sein. Wichtig für uns ist,
dass wir unseren Standort nicht schlechtreden. Ich habe
den Eindruck, dass Sie im Moment - sicherlich durch den
Wahlkampf verführt - versuchen, die mehr oder weniger
schlechten Indikatoren der letzten Wochen und Monate zu
nutzen, um daraus wahlkampfpolitisch Profit zu ziehen.
Aber auch wenn Sie sich schon oft genug in polemischer Weise darüber erheitert haben: Wir werden mit ruhiger Hand an unserem Wirtschaftskurs festhalten und ihn
mit kühlem Kopf fortsetzen. Wir werden dafür sorgen,
dass die Wirtschaft wieder an Fahrt gewinnt.
Ich danke Ihnen.
({20})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Rolf Kutzmutz von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Als spätestens ab Mitte dieses Jahres die
Wachstumsraten der Wirtschaft nach unten korrigiert
wurden, gab es hektische, zum Teil auch heftige Reaktionen. Forderungen nach einem Vorziehen der Steuerreform,
die man vorher abgelehnt hatte, wurden laut. Es wurde
nach Blitz- und anderen Programmen gerufen; dabei kamen neue, aber auch eine Vielzahl von alten Vorschlägen,
die wir alle x-mal diskutiert haben, zuletzt gestern im
Wirtschaftsausschuss, und die wir, weil sich die Entwicklung fortgesetzt hat, noch oft diskutieren werden, fürchte
ich.
Weil Anträge nicht zu helfen schienen, griff die Union
zur Feder und schrieb ihre Forderungen in Gedichtform
auf. Da wir in der Vorweihnachtszeit sind, will ich Ihnen
Werner Schulz ({0})
vier Zeilen dieses Gedichtes nicht ersparen. Da ist zu lesen:
Mit Arbeit und Wirtschaft wird es öder. Doch der tut
nix, dieser Schröder! Und so dröhnt es durch die
Lüfte: Schröder Gerd, komm aus der Hüfte.
({1})
Den Rest erspare ich mir.
({2})
- Angesichts der Heftigkeit der Auseinandersetzung wäre
es vielleicht ganz gut gewesen, das hier einmal vorzutragen. Das hätte vielleicht den Druck etwas herausgenommen.
({3})
Die Koalition dagegen mahnt - auch in dem heute vorgelegten Antrag -, nicht in Aktionismus zu verfallen. Sie
sieht sich und die Regierung auf einem guten Weg und
hofft auf ein Anspringen der Konjunktur nahezu von alleine. Nur, in Zeiten blühender Konjunktur kann fast jeder
regieren.
({4})
Wenn es allerdings, wie gegenwärtig, zu den beschriebenen negativen Entwicklungen kommt, dann muss auch
gehandelt werden. Dabei hat, Herr Staffelt, Aktivwerden
nichts mit Aktionismus zu tun. Jetzt nichts zu tun, jetzt zu
warten, ob und wie sich die Lage entwickelt, ist aus meiner Sicht falsch.
Auch die Rezepte, die CDU/CSU und FDP in den vorgelegten Anträgen empfehlen, halte ich für untauglich.
Sie waren in der Vergangenheit untauglich und sie werden
auch jetzt untauglich sein.
({5})
Ich bleibe dabei: Steuersenkungen schaffen nicht per se
mehr Arbeitsplätze. Denn, Herr Brüderle, das stimmt ganz
sicher: Wenn Sie den Menschen einen Brief schreiben, in
dem Sie ihnen mitteilen, dass sie jetzt Steuern zurück bekommen und deswegen mehr in der Tasche haben werden,
dann wird der eine oder andere vielleicht mehr Weihnachtsgeschenke kaufen. Aber die Geschenke an die Wirtschaft in Höhe von mehr als 40 Milliarden DM waren
eben keine Konjunkturanreize, haben nicht zu mehr Arbeitsplätzen geführt,
({6})
sondern im Gegenteil zu dem, was wir jetzt beklagen.
Hier wurden bereits viele Vorschläge gemacht; vieles
haben wir mehrfach gehört. Auch ich kann es Ihnen nicht
ersparen, dass ich wiederhole, was wir fordern, um Impulse für Wirtschaftswachstum auszulösen.
Erstens fordern wir wieder und wieder wachsende statt
sinkende kommunale Investitionspauschalen. Damit
wird wirklich etwas für Handwerk und Gewerbetreibende
in Städten und Gemeinden getan. Sie sind es schließlich
in erster Linie - darin stimmen wir voll überein -, die
Arbeitsplätze schaffen und junge Leute ausbilden.
Ihnen, Herr Merz, möchte ich an dieser Stelle Folgendes sagen: Ich stimme mit Ihnen überein, dass wir die multisektoralen Beihilfen - die Sie im Zusammenhang mit
Ostdeutschland angesprochen haben - überprüfen sollten,
damit der Osten nicht hinten runter fällt. Aber BMW ist aus
meiner Sicht kein gutes Beispiel. BMW bekommt Beihilfen in Höhe von 345 Millionen Euro. BMW hat einen Gewinn nach Steuern von mehr als 1 Milliarde Euro. Und
BMW gehört zu 50 Prozent drei Personen, die ein Privatvermögen von 20 Milliarden haben. Wenn das nicht Perlen vor die Säue geworfen ist, dann weiß ich auch nicht.
({7})
Es geht darum, die öffentliche Investitionstätigkeit
zu aktivieren. Denn Investitionsbedarf gibt es allerorten:
im Verkehrsbereich, bei der sozialen Infrastruktur, bei der
Wasserversorgung, im Umweltschutz. Allein die Erhöhung des Anteils öffentlicher Investitionen am Bruttoinlandsprodukt auf den europäischen Schnitt würde
dazu führen, dass zusätzliche Mittel in Höhe von 30 Milliarden DM eingesetzt werden könnten. Das sind doch
nicht nur finanzielle Mittel; das ist Arbeit, das ist Kaufkraft, das sind Arbeitsplätze.
({8})
Dennoch bleibt die Beschaffung und Verteilung öffentlicher Mittel nur die eine Seite der Medaille. Ähnlich oft
wie die kommunale Investitionspauschale haben wir hier
gefordert - und entsprechende Anträge eingebracht -, den
Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Leistungen,
insbesondere Reparaturleistungen, auf 7 Prozent zu senken. Das bedeutete mehr Reparaturen, brächte mehr Arbeit im Handwerksbereich und würde manchem Handwerksbetrieb das Überleben sichern. Ich glaube, dass der
anfängliche Verlust an Steuermitteln durch den Gewinn
kompensiert würde, den wir durch den Erhalt von Handwerksbetrieben erreichen würden.
({9})
Zweitens. Ich bin der Überzeugung, dass eine bessere
Zahlungsmoral und ein Chancen wahrendes Insolvenzrecht private Initiative und Kreativität für neue, zusätzliche Arbeitsplätze viel eher als noch so niedrigere Steuern
oder noch so große staatliche Ausgabenprogramme freisetzen. Ich habe über die Pleitewelle gesprochen. Insofern
kann ich den Antrag, den die Koalition heute vorlegt und
der vor Lob nur so sprudelt, nicht verstehen. Ich kann mir
nur verwundert die Augen reiben.
Natürlich haben Sie ein so genanntes Zahlungsbeschleunigungsgesetz beschlossen und das Insolvenzrecht novelliert. Aber wir haben Ihnen, wie viele andere
auch, schon damals gesagt: Diese Beschlüsse sind halbherzig und werden nicht funktionieren. Die Praxis hat das
bestätigt. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr Verzicht auf die morgige Debatte über den Entwurf eines Tariftreuegesetzes hat damit zu tun, dass Sie
bei diesem Punkt nicht schon wieder auf halbem Weg stehen bleiben wollen.
({10})
Ein Tariftreuegesetz bei öffentlichen Aufträgen ist begrüßenswert. Es bringt aber nur etwas, wenn zugleich die
Finanzausstattung der öffentlichen Auftraggeber deutlich
verbessert wird. Sonst ist entweder die Tariftreue nicht
durchsetzbar, weil sich niemand daran hält, oder es gibt in
diesem Land künftig noch weniger öffentliche Aufträge
und damit auch Arbeitsplätze, so dass Sie dann mit Ihrer
Politik leider das Gegenteil von dem erreichen, was Sie eigentlich gedacht und gewünscht haben. Weder gäbe es einen fairen Wettbewerb noch gesicherte Arbeitsplätze.
Drittens. Es wird gesagt: Konkurrenz belebt das Geschäft. Obwohl ich manchen Zweifel an der Rolle von
Banken habe, wünsche ich mir, dass dies endlich auch für
die Konkurrenz zwischen den Banken gilt und damit die
Kapitalbeschaffung für Existenzgründer und Kleinunternehmer deutlich verbessert wird. Wenn nämlich das Privileg der so genannten Hausbanken für die Beantragung
von Wirtschaftsfördermitteln endlich fallen würde, hätten
wir in diesem Bereich eine deutliche Verbesserung.
Basel II kann noch so umfassend nachgebessert werden. Ich bin davon überzeugt: Die Kreditinstitute werden
sich aus Renditegründen dennoch weiter aus diesem Bereich zurückziehen. Sie werden die Mittelstandsfinanzierung nicht weiter vornehmen. Eine direkte öffentliche Beteiligung, natürlich in atypischer stiller Form, wie auch
eine umfassendere Risikoübernahme für Mitarbeiterbeteiligungen wären ein finanziell machbarer Weg aus dieser Misere. Auf diesen Feldern ist die Regierung ebenso
gefordert wie bei der Definition neuer Märkte durch
rechtliche Gebote oder Verbote.
Die aktuelle Auseinandersetzung mit der EU-Kommission um die Stromsteuerausnahme ist doch nur die
Spitze des Eisbergs, der das vom Bundeskanzler kreierte
Selbstverpflichtungs- und Verbändevereinbarungsunwesen hoffentlich versenken wird. Statt Wirtschaftsvereinbarungen zugunsten weniger muss es endlich wieder um
Wirtschaftspolitik für alle gehen.
In diesem Zusammenhang muss ich noch einmal auf
das erwähnte Tariftreuegesetzesprojekt zurückkommen.
Es muss schon zu denken geben, dass die Koalition am
Mittwoch kurz nach 12 Uhr ihren Gesetzentwurf
übermittelt hat, um am Abend die Debatte darüber abzublasen, nachdem am Mittwochvormittag BDI-Präsident
Rogowski per Presseerklärung bereits alle Welt über das
Scheitern des Projekts informiert hatte. Dass die Grünen
ausgerechnet dieses Gesetz nehmen, um als Sprachrohr für
den Osten fungieren zu wollen, halte ich schlicht für fatal.
({11})
Abschließend ein vierter Punkt. Vor fast zwei Jahren ist
von der PDS zum Ausbau und zur Sicherung von KraftWärme-Kopplung der Entwurf eines Zertifikathandelsmodells auf Basis einer allmählich ansteigenden KWKQuote eingebracht worden. Damit gäbe es einen Rahmen
für den tatsächlichen Ausbau dieser dezentralen und umweltverträglichen Energieerzeugung. Das passt zwar einigen Verbändevertretern nicht. Es wäre aber gerade für
überwiegend mittelständische Ausrüster und Dienstleister
eine Konjunkturspritze ohne einen einzigen Steuercent
und zu niedrigeren volkswirtschaftlichen Kosten.
Arbeitsplätze schaffen, die Wirtschaftskraft über faire
Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer stärken, ohne Staat und Gesellschaft zu ruinieren - das ist
machbar. Man muss es nur wollen.
({12})
Das Wort
hat jetzt der Bundesminister Werner Müller.
({0})
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie ({1}): Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Merz hat extra betont, es handle sich
hier um eine wirtschaftspolitische Debatte.
({2}): Und da dürfen Sie
reden? - Michael Glos [CDU/CSU]: Also wa-
ren Sie doch nicht vorgesehen!)
Herr Merz, ich habe mir erlaubt, während Ihrer Rede
ein paar Stichworte aufzuschreiben. Die wirtschaftspolitische Debatte bestreiten Sie mit Stichworten zum
Spendenausschuss Kohl, zum gesetzlichen Gesundheitswesen und zur Flugzeugbeschaffung der Bundeswehr. Das ist eine Konfettitüte, aber kein wirtschaftspolitisches Konzept.
({3})
Zweitens. Ich empfinde es persönlich als sehr angenehm, wenn Sie sich Sorgen um meine Position machen.
Ich darf Ihnen aber versichern: Ich mache mir keine Sorgen um meine Position; Sie sollten das daher auch nicht
tun. Ich mache mir aber Sorgen um Ihre Position.
({4})
Konzentrieren Sie sich darauf, dass Sie Ihr Amt weiter
ausüben dürfen.
Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Regierung
spricht jetzt zur Sache!)
Drittens. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass
Sie mir Redezeit Ihrer Fraktion zugesagt haben. Sonst
wäre die ohnehin vorgesehene Redezeit noch etwas ausgeweitet worden.
({5})
Allerdings wurde Ihre Zusage von Ihren Fraktionskollegen nicht eingehalten. Ich habe die zugesagte Redezeit
nicht bekommen.
({6})
Ich sage deswegen deutlich: Solche Versprechungen sind
wir gewöhnt. Eben versprochen, eine Minute später schon
gebrochen.
({7})
Herr Bundesminister,
darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Herr Eichel hat
sich entschuldigt, weil er zum Ecofin-Rat nach Brüssel
reisen muss.
Bitte schön, Herr Bundesminister.
({0})
Nun zur Sache selber:
({0})
Ich erlebe immer wieder, dass man in wirtschafts- und
finanzpolitischen Diskussionen nicht sagen darf, wo wir
gestartet sind. Ich habe dafür Verständnis, dass Sie diese
Debatte unter dem Stichwort Analyse meiden. Ich darf Ihnen aber sagen: Ohne Analyse wird man keine vernünftige Konzeption machen können.
({1})
Die Analyse ist relativ einfach - ich mache das in ganz
dürren Worten: Sie haben in den 80er- und 90er-Jahren in
folgender Weise Politik betrieben: Staatsausgaben hoch,
Subventionen hoch, dadurch Verschuldung hoch, Steuern
hoch, Abgaben hoch. So einfach kann man das darstellen.
({2})
Wir müssen diesen Trend umkehren und wir werden
ihn umkehren: Die Staatsausgaben wachsen weitaus
langsamer, wir werden die Neuverschuldung auf Null senken und die Steuerbelastung vermindern. Wir müssen
endlich wieder eine Nation werden, die mit ihrem Haushalt nur so viel ausgibt, wie sie einnimmt - eine Grundmaxime, mit der jeder Bürger leben muss. Auch wir werden diese Grundmaxime erfüllen.
({3})
Bezogen auf diese Grundmaxime betreiben wir unsere
Wirtschaftspolitik, die ich Ihnen gern in den Grundzügen
erläutere. An unserer Wirtschaftspolitik wird jeden Tag
gearbeitet, auch im nächsten Jahr und in den folgenden
Jahren. Das Wichtigste ist eine Politik für den Mittelstand. Welche Probleme hat der Mittelstand? Der Mittelstand muss stärker an den technologischen Fortschritt angebunden werden. Wir geben in diesem Zusammenhang
im nächsten Jahr über 1 Milliarde DM für etliche Programme zur Förderung des Mittelstandes und zur Technologieförderung aus.
({4})
Als Zweites ist für den Mittelstand wichtig: Er muss
sich stärker exportorientiert verhalten. Die Globalisierung darf am Mittelstand nicht vorbeigehen. Deswegen
müssen wir das gesamte Exportinstrumentarium mittelstandstauglicher machen. Wir müssen den Mittelstand
auffordern, Auslandsmessen zu besuchen. Wir haben für
diesen Zweck auch Fördermittel bereitgestellt.
({5})
Als Drittes müssen wir erreichen: Die Digitalisierung
der Wirtschaft darf am Mittelstand nicht vorbeigehen.
70 Prozent des Mittelstandes haben heute einen Internetanschluss, nur 15 Prozent der Mittelständler nutzen das
Internet aktiv, etwa für Marketing oder Einkauf. Infolgedessen haben wir 26 Kompetenzzentren für E-Commerce
aufgebaut, damit sich der Mittelstand dezentral über die
Möglichkeiten des Internets informieren kann.
Als Nächstes wollen wir sicherstellen, dass sich der
Mittelstand, der in Deutschland überwiegend fremdfinanziert ist, längerfristig ohne Verschlechterung der Kreditkonditionen finanzieren kann, Stichwort: Basel II.
({6})
Wir haben einige Sonderprojekte für den Mittelstand initiiert. Ich weise darauf hin, dass der Tourismus in
Deutschland 280 Milliarden DM Umsatz macht und
annähernd 3 Millionen Beschäftigte hat. Wir fahren
- durchaus erfolgreich - Sonderprogramme, um den
Standort Deutschland für den Tourismus attraktiv zu machen.
({7})
Schließlich gehört zur Mittelstandsförderung auch,
dass wir eine vernünftigte Politik mit dem Handwerk und
für das Handwerk machen. Wir wollen an der grundsätzlichen Rechtsordnung für das Handwerk nichts ändern,
haben aber beispielsweise erreicht, dass die Anwendung
der Handwerksordnung flexibler wird. - Das war ein
Komplex.
Der nächste Komplex: Wirtschaftspolitik muss sich darum kümmern, dass wir weiterhin eine exportstarke Nation bleiben. Das heißt, wir müssen unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsfähigkeit darauf achten, dass die
politische Unterstützung für unsere Exportwirtschaft in
etwa vergleichbar mit der ist, die das Ausland ihrer jeweiligen Exportwirtschaft angedeihen lässt. Deswegen haben
wir eine Revision vorgenommen. Wir haben im Ministerium eine Anlaufstelle für die politische Unterstützung
von Exportprojekten jeder Größenklasse geschaffen, von
Projekten des Mittelstandes bis hin zu milliardenschweren Großprojekten.
Des Weiteren - das tun wir seit unserem Regierungsantritt ständig - bearbeiten wir alle Länder, denen wir
keine Hermesbürgschaften für die Absicherung von Exporten geben, systematisch dahin gehend, dass
Hermesbürgschaften wieder möglich sind. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele nennen.
Als ich mein Amt antrat, gab es keine Hermesbürgschaften für Exporte nach Russland und in den Iran. Wir haben
den Weg dafür freigemacht, dass die Exporte in beide Länder wieder mit Hermesbürgschaften abgesichert werden
können. Wir geben großvolumige Hermesbürgschaften für
Exporte nach Russland. In diesem Jahr haben wir Exporte
in den Iran im Wert von 1,6 Milliarden DM verbürgt. So
werden wir Land für Land, egal, ob es sich um ein großes
oder kleines Land handelt, abarbeiten. All das, was wir als
Hinterlassenschaft vorgefunden haben, wird systematisch
aufgearbeitet. Nach vier Jahren werden wir den allermeisten
Ländern wieder Exportbürgschaften geben können.
({8})
Wir brauchen mehr Informationen über die Exportmärkte. Deswegen haben wir eine Bundesagentur für
Außenhandelsinformation aufgebaut, die der deutschen
Wirtschaft zur Verfügung steht.
({9})
- Sie müssen einmal zuhören. Das ist das, was wir machen. Das ist unsere Konzeption. Das ist Wirtschaftspolitik in der Sache.
({10})
Ein weiteres Thema ist die Digitalisierung der Wirtschaft. Dafür ist ein kompatibler Rechtsrahmen notwendig. Wir müssen beispielsweise für E-Commerce und für
die digitale Signatur - das ist bereits geschehen - einen
solchen Rahmen schaffen.
Ein anderes wichtiges Feld ist die Energiepolitik;
denn eine funktionierende Energieversorgung ist eine
zentrale Voraussetzung sowohl für jedermann als auch
insbesondere für die mittel- und langfristige Wirtschaftsentwicklung. Vor diesem Hintergrund haben wir beispielsweise den langen Streit über die Kernenergie dahin
gehend befriedet, dass die Nutzung dieser Energie in der
längerfristigen Perspektive ausläuft und durch die Nutzung anderer Energien ersetzt wird.
({11})
Wir fördern die regenerativen Energien in erheblichem
Ausmaß.
({12})
- Herr Merz, zu dem Energiebericht haben Sie für heute
Nachmittag eine Debatte angezettelt. Sie haben mich in
Ihrem entsprechenden Antrag aufgefordert, endlich den
Energiebericht vorzulegen. Ich habe diesen Bericht vorgelegt. Darüber führen wir später eine Debatte.
({13})
- Ich rede heute Nachmittag dazu. Sie sind eingeladen,
mir dann noch einmal zuzuhören.
({14})
Wir haben enorme Anstrengungen unternommen, um
die Erdölversorgung so sicher wie möglich zu machen.
Wir wollen, dass sich die Strompreise vernünftig entwickeln.
({15})
Wir haben auf dem deutschen Strommarkt für Wettbewerbsvorteile in der Größenordnung von 15 Milliarden DM gesorgt. Einen Teil davon verwenden wir für die
Förderung der Erzeugung von Strom aus regenerativen
Energieträgern.
Meine Redezeit geht zwar langsam zu Ende. Aber ich
möchte noch kurz auf die Industriepolitik zu sprechen
kommen. In der Industriepolitik müssen wir beispielsweise dafür sorgen, dass in der mittelfristigen Perspektive
Deutschland als Standort für die Chemieproduktion interessant bleibt.
({16})
Das erfordert im Rahmen der EU enorme Anstrengungen.
Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass die Luftfahrtforschung in unserem Land so attraktiv bleibt, dass der
A 380 wie vorgesehen gebaut und gefördert werden kann.
({17})
Wir haben des Weiteren das Thema Werften in Arbeit.
Ich gebe zu, es ist etwas enttäuschend, dass die Wiedereinführung der Werftenhilfe wegen des Widerstandes
Frankreichs verschoben werden musste. Aber immerhin
haben wir in diesem Jahr regeln können, dass die Begrenzung der Kapazitäten der Werften durch Quoten hinfällig
ist. Dieses Damoklesschwert schwebt nun nicht mehr
über den ostdeutschen Werften.
({18})
Stichwort Steinkohle: Die Steinkohleförderung ist
schon von sich aus energiepolitisch bedeutsam. Aber sie
ist erst recht für die deutsche Industrie energiepolitisch
bedeutsam; denn Deutschland ist weltweit führend in der
Entwicklung von Steinkohlefördertechniken.
({19})
Es wird weltweit immer mehr Steinkohle abgebaut. Infolgedessen gibt es auf dem Weltmarkt eine riesige Nachfrage nach Steinkohlefördertechniken und nach Verstromungstechniken, die die Umwelt so wenig wie möglich
belasten. Deutschland ist in beiden Disziplinen führend.
Der Weltmarkt fragt, wie gesagt, die entsprechenden
Techniken in großem Umfang nach.
({20})
Das alles ist konkrete Wirtschaftspolitik. Das geschieht
Jahr für Jahr. Das steht nicht jeden Tag in den Schlagzeilen;
das ist auch nicht notwendig. Es reicht, wenn einmal in den
Schlagzeilen steht: „Der Körperschaftsteuersatz ist enorm
gesenkt worden“ oder: „Die Einkommensteuer wird gesenkt“. So etwas steht groß in den Zeitungen. Mit diesen
Maßnahmen haben wir für die dringend notwendigen Rahmendaten gesorgt. Aber das ist nun erledigt. Die Stufen der
Steuerreform sind gesetzlich bis 2005 festgelegt.
Ich möchte den Rest meiner Redezeit verwenden, um
darauf hinzuweisen, dass manchmal auch Gesetze gemacht werden müssen, denen der Wirtschaftsminister etwas skeptisch gegenübersteht.
Ich bin nicht unbedingt der Meinung, dass man ein
Tariftreuegesetz zwingend braucht. Die Fälle, die mir
immer wieder vorgelegt werden, lassen aber wohl keinen
anderen Weg zu. Ich weiß auch nicht, was wir machen
sollen, wenn es in der Wirtschaft systematischen Mehrwertsteuerbetrug gibt. Wieso muss die Politik eigentlich
durch Verordnungen etc. regeln, was in der Wirtschaft
- sagen wir einmal - an Beschiss läuft? Wenn die Wirtschaft nicht in der Lage ist, den Betrug bei den Sozialabgaben, den Betrug bei der Mehrwertsteuer etc. selbst in
den Griff zu bekommen, dann bleibt wohl kein anderer
Weg. Staatliche Regulierung ist das Spiegelbild mangelnder Selbstregulierung der Wirtschaft.
({21})
Wenn wir ein Tariftreuegesetz machen, dann natürlich auch deshalb, weil Bayern es gemacht hat und weil
Bayern im Bundesrat den Bund aufgefordert hat, das
gleichfalls zu machen. Noch einmal: In unserem Land kann
nicht toleriert werden, dass Busfahrer, die von irgendwoher
kommen, für 5 DM pro Stunde angestellt werden. Auch Betrug bei den Sozialabgaben kann nicht toleriert werden.
Zum Thema Schwarzarbeit. Wer macht denn Schwarzarbeit? Am meisten klagt das deutsche Handwerk über die
Schwarzarbeit. Ich darf Ihnen versichern: Ich arbeite
nachts und auch am Wochenende nicht schwarz.
({22})
Ich kenne auch niemanden in der Bundesregierung, der
das tut. Schwarzarbeit wird von Fachleuten gemacht.
Wenn das Handwerk die Schwarzarbeit bekämpfen will,
dann soll das Handwerk Schwarzarbeit in den eigenen
Reihen bekämpfen.
({23})
Wenn dafür ein Rechtsrahmen notwendig ist, dann - das
biete ich ausdrücklich an - werden wir ihn schaffen. Die
Handwerksordnung regelt bisher nur, wie man in die Handwerksrolle eingetragen wird. Wie man aus ihr wieder ausgetragen wird, das regelt sie noch nicht. Ich bin bereit, den
Rechtsrahmen dafür zu schaffen, dass man jedes schwarze
Schaf im Handwerk aus der Handwerksrolle streichen kann.
({24})
Alle diese Dinge in der Wirtschaft müssen geregelt werden, zur Not eben durch den Gesetzgeber.
Alles in allem: Die wirtschaftliche Lage ist nicht so
schlecht, wie Sie sie darstellen. Sie werden erleben, dass
wir im nächsten Jahr langsam wieder in einen Aufschwung hineinkommen,
({25})
wahrscheinlich zu langsam; aber der Aufschwung wird da
sein. In den vier Jahren, in denen wir regiert haben werden, werden wir im Schnitt etwa 1,71 Prozent Wirtschaftswachstum gehabt haben. Sie haben von 1992 bis
1998 im Schnitt 1 Prozent gehabt.
({26})
Sie standen schon von 1992 bis 1998 am europäischen
Ende. Aber das darf man Ihnen nicht sagen.
Vielen Dank.
({27})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Rainer
Brüderle das Wort.
Herr Minister Müller, Sie haben eine Reihe von Einzelmaßnahmen genannt. Natürlich
ist es gut, wenn es Messeförderung oder Technologieförderung gibt. Aber der Kernpunkt für den Mittelstand ist
doch, dass man ihm die Möglichkeit gibt, neue Entwicklungen anzupacken. Da hilft es nicht, wenn Sie bei der Innovationsförderung nach Gutsherrenart einen Zuschuss
gewähren. Notwendig ist es, dem Mittelstand von den
Rahmenbedingungen her, durch steuerliche Entlastung,
durch Entbürokratisierung, grundsätzlich die Hände
frei zu machen, damit er das Notwendige anpacken kann.
Das muss der Kernpunkt einer Mittelstandspolitik sein.
({0})
Die Fülle von technischen Einzelmaßnahmen soll davon
ablenken - so kommt es mir jedenfalls vor -, dass die
Grundorientierung nicht stimmt.
Ihr Satz „Das Handwerk soll die Schwarzarbeit bekämpfen“ ist bemerkenswert.
({1})
Das ist genauso wie bei der Bauabzugsteuer. Der Staat
macht Gesetze, die nicht praktikabel sind, die nicht
anwendbar sind, überzieht bei der Abgabenquote - dem
durchschnittlichen Arbeitnehmer werden von 1 DM Mehrverdienst 67 Prozent abgezogen - und als Belohnung
dafür, dass man solche Horrorbedingungen bekommen
hat, soll man für die Bekämpfung des Unsinns, der Gesetzeskraft erlangt hat, auch noch selbst verantwortlich
sein. Das deutsche Handwerk hat es nicht verdient, dass
man es so behandelt. So können Sie das nicht anpacken!
({2})
Zum Tariftreuegesetz: Dazu haben Sie gesagt, dem
„Beschiss“ in der Wirtschaft solle damit entgegengewirkt werden. Vorhin hat Herr Eichel den Zustand in
der Bauwirtschaft beklagt. Kollege Schulz hat gesagt,
dass das ein Kernpunkt der Wirtschaftsmisere ist. Mit dem
Tariftreuegesetz nehmen Sie den ostdeutschen Baubetrieben doch jede Chance.
({3})
Die leben nur deshalb, weil sie außerhalb des Tarifvertragsrechts agieren. Keine der Gewerkschaften geht da
ran - aus gutem Grund. Den Betrieben nehmen Sie jetzt
jede Chance, weil sie zu den Konditionen des Tariftreuegesetzes gar nicht anbieten können. Damit schließen Sie
die ostdeutschen Baubetriebe von öffentlichen Aufträgen
aus. Dabei geht es denen schon dreckig genug.
({4})
Jetzt nehmen Sie ihnen das bisschen Chance, das sie noch
haben, auch noch weg. Diese Betriebe haben nur die
Chance, mithilfe besserer Konditionen und anderer Einstellungen auf den Markt zu kommen.
Nicht überall, wo „sozial“ draufsteht, lieber Herr
Müller, ist auch „sozial“ drin. Sie sollten - mich besorgt,
dass das nicht so ist - das ordnungspolitische Gewissen
dieser Regierung sein. Dass manches Detail im Ministerium für Fehlentwicklungen sorgt, ist bedauerlich; aber der
Vertreter des Bereichs Wirtschaft sollte mit der Stimme der
Vernunft - er nennt sich schließlich Wirtschaftsminister
und nicht „Handwerksbeschimpfungsminister“ - angesichts solcher Regelungen aufstehen und sagen: So nicht!
({5})
Herr
Bundesminister, wollen Sie erwidern?
Ja.
({0})
Bitte
schön.
Herr Brüderle, wenn bei Ihnen der
Eindruck entstanden ist, ich sei ein „Handwerksbeschimpfungsminister“, dann sage ich Ihnen deutlich: Korrigieren Sie Ihren Eindruck! Ich besuche wöchentlich
Meisterfeiern. Ich weiß, wovon ich spreche.
({0})
- Gestern war ich auf einer Meisterfeier in Rostock.
({1})
Dort habe ich vor 400 oder 500 Personen haargenau dasselbe gesagt. Das Handwerk beklagt die Schwarzarbeit.
Das ist richtig. Es ist phänomenal, dass Sie den Hinweis
darauf in Ihrer heutigen Rede ausgelassen haben;
({2})
denn Sie reden meistens - das entspricht Ihnen - über die
Schattenwirtschaft. Wer macht in diesem Land denn
Schwarzarbeit? Ich tue es nicht und Sie tun es auch nicht.
Ich frage allerdings Schwarzarbeit auch nicht nach; mehr
sage ich dazu nicht.
Wenn das Handwerk tatsächlich unter Schwarzarbeit
leidet - Klammer auf: das ist so, Klammer zu -, dann
muss man mit den Handwerksbetrieben darüber reden,
wie in ihren eigenen Reihen die Schwarzarbeit bekämpft
werden kann. Ich habe gesagt, dass ich dafür gerne helfend zur Verfügung stehe. Wenn Sie mich als „Handwerksbeschimpfungsminister“ titulieren, weil ich darauf
hinweise, dass Schwarzarbeit auch von Fachleuten gemacht wird, dann kann ich Ihnen wirklich nicht helfen.
Um es deutlich zu sagen: Ich will dem Handwerk helfen,
und zwar nicht mit dummen Sprüchen.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Minister Müller, wir
wären Ihnen sehr dankbar dafür, wenn Sie dem Handwerk
nicht mit dummen Sprüchen, sondern mit klugen Entscheidungen helfen würden.
({0})
Doch davon können wir wirklich wenig feststellen. Sie
haben Ihre Rede mit der Bemerkung begonnen, dass Sie
sich keine Sorgen um Ihre Position machen. Diese Frage
ist völlig unerheblich. Außerdem wissen wir, dass Sie gut
versorgt sind.
({1})
Ihre Aufgabe ist es, sich Sorgen um die Wirtschaft und die
Arbeitsplätze in Deutschland zu machen.
Sie sagten, dass Sie Ihre Rede mit einer vernünftigen
Analyse beginnen wollen. Ich konnte diese Analyse nicht
im Ansatz erkennen.
({2})
Seitdem die Grundsatzabteilung nicht mehr in Ihrem
Hause angesiedelt ist, ist offensichtlich jede analytische
Fähigkeit abhanden gekommen.
({3})
Am Ende Ihrer Rede sagten Sie nur: Wir wollen, wir müssen, wir sollten, wir planen.
Nach dreieinhalb Jahren werden Sie an Ihren Ergebnissen gemessen. Was ist dabei herausgekommen? Um es
wirklich polemisch zu formulieren und gleich am Anfang
klarzustellen: Ihre Politik ist nicht nur parteilos, sondern
sie ist auch nutzlos, zwecklos, ratlos, konzeptionslos und
sie ist ein Schaden für Deutschland, für unseren Standort,
für Arbeitsplätze, Wohlstand, Gewinne und alle Veränderungen, die wir brauchen.
({4})
Die Ergebnisse sind eindeutig: Alles, was schlecht ist,
alles, was die Menschen nicht brauchen können und was
sie nicht haben wollen, vermehrt sich zurzeit, nämlich die
Steuerquote, die Verschuldung, die Abgabenhöhe, die
Energiepreise, die Zahl der Arbeitslosen und die Pleiten.
All diese Elemente vermehren sich kontinuierlich. Sie
und die Sprecher der SPD stellen sich hier hin und sagen:
Wir wollen an unserem erfolgreichen Kurs der Politik der
ruhigen Hand langfristig festhalten. Wie passt das denn
zusammen? Wenn sich die Dinge so entwickeln, muss
man bereit sein, nachzudenken, zu korrigieren und nach
neuen Ansätzen zu suchen. Sie verweigern die Wahrnehmung der Realität. Das ist unerträglich und schädlich.
Deswegen sage ich noch einmal: parteilos, ratlos, nutzlos.
({5})
Die Dinge, die wir haben wollen, gehen nach unten:
Wachstum, Investitionen, Realeinkommen, Renteneinnahmen. All dies geht nach unten. Die Bilanz ist verheerend. Sie war schon - wir haben das Zehnpunkteprogramm schon im Juni eingebracht - lange vor den
Terroranschlägen verheerend. Diese Bilanz war angelegt
und hat nur sehr wenig mit dem zu tun, was in Amerika
passiert ist. Sie ist dadurch vielleicht ein wenig verschlimmert worden; aber die Abwärtsbewegung war bereits durch Ihre katastrophalen Fehlentscheidungen im
Umgang mit Wirtschaft und Mittelstand in Zement gegossen.
({6})
Lassen Sie mich ein Bild bezogen auf die Arbeitslosigkeit nennen, Herr Minister Müller. Wir haben in
Deutschland 3,3 Millionen Selbstständige. Wenn die Mut
haben und wissen, dass es nach vorn geht, wenn die Optimismus haben und sich jeder vor diesem Hintergrund
theoretisch dazu durchringen könnte, einen Mitarbeiter
einzustellen, hätten wir in Deutschland zu wenig Arbeitslose. Wenn diese 3,3 Millionen Selbstständigen
aber Sorge haben, sich schlecht behandelt fühlen, unzufrieden sind, Zukunftsangst haben und sich jeder von ihnen überlegen würde, einen zu entlassen, hätten wir
nicht genug Wasser im Rhein, um den Brand der Verdoppelung der Arbeitslosigkeit löschen zu können. Das
ist die Situation.
Genau diesen 3,3 Millionen Unternehmern in Deutschland verweigern Sie bei Ihrer Steuerreform konsequent
steuerliche Vorteile. Sie sagen: Die können nicht weglaufen wie die Großen; deswegen bekommen sie die Vorteile erst im Jahre 2005. Diejenigen, die weglaufen können, bekommen sie schon im Jahre 2002.
({7})
Der Mittelstand hat lebenslänglich Deutschland; also
kann man ihn schlechter behandeln. Das ist Ihre Politik.
({8})
Deswegen kommen wir auf diesem Weg nicht weiter.
Sie müssen umkehren und neu anfangen, falls Sie das
theoretisch, intellektuell und durchsetzungsmäßig in Ihrer
Parteistruktur, für die Sie trotz aller Parteilosigkeit stehen,
leisten können.
Zum Wachstum: Wir haben die rote Laterne. Natürlich
sind die Konjunkturläufe rauf- und runtergegangen. Zum
Beispiel ist Deutschland heute von der Entwicklung in
Amerika weniger abhängig als jemals zuvor.
({9})
Wir exportieren mittlerweile in die GUS-Nachfolgestaaten so viel wie in die amerikanischen und kanadischen Wirtschaftsräume: in beide Blöcke etwa für
90 Milliarden Dollar. Hier ist etwas ganz Neues hinzugekommen. Die Gewichte haben sich verschoben. Dennoch scheinen wir abhängiger zu sein. Sie warten auf das
Wunder von Amerika. Warum muss denn eigentlich immer Amerika die Lokomotive sein? Kann nicht auch einmal Europa und in Europa Deutschland die Lokomotive
sein? Wäre das nicht auch ein Beitrag zur uneingeschränkten Solidarität, anstatt zu warten, dass die Amerikaner das machen?
({10})
In Amerika wird das World Trade Center zerstört und
Amerika lockert die Rahmenbedingungen für seine Wirtschaft. Was aber macht Deutschland? Deutschland ist
weltweit das einzige Land, das auf die Terroranschläge
mit Steuererhöhungen reagiert. Dies geschieht geradezu
reflexhaft. Sie können nicht anders, als über Steuererhöhungen zu denken und zu planen. Was da passiert, ist unerträglich falsch!
({11})
Sehen wir uns einmal die Wirtschaftswachstumsdaten
an: Seien Sie heilfroh, dass es noch ein paar ordentlich regierte Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland
gibt.
({12})
Ohne Bayern, ohne Baden-Württemberg und ohne
Hessen hätten wir in Deutschland ein regelrechtes Minuswachstum. Dort, wo wir regieren - sowohl in den neuen
als auch in den alten Bundesländern -, ist das Wirtschaftswachstum doppelt so hoch wie in den von Ihnen
regierten Bundesländern. Rot-Rot lässt noch einmal extra
grüßen. Herr Staffelt, herzlichen Glückwunsch zur
Berliner Entwicklung!
({13})
Da bekommen Sie richtig Spaß. Was Sie mit Ihrer Koalition falsch machen, wird sehr wahrscheinlich der Rest
der Republik finanzieren müssen. Ich sehe das schon
kommen. Über diese Frage lassen Sie uns einmal diskutieren.
({14})
Dort, wo Rot-Rot regiert, sind die Arbeitslosenzahlen
doppelt so hoch und ist das Wachstum doppelt so schlecht.
Das bestätigt: Von Wachstum und Wirtschaftswachstum
verstehen wir mehr.
Herr Kollege Schauerte, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Luft?
Nein. Dazu möchte
ich wirklich sagen: Das ist für mich Luft. Das möchte ich
nicht.
Gnädige Frau, die Verschuldung in Deutschland, über
die wir hier reden, ist zum größten Teil durch die Beseitigung der Schäden entstanden, die Sie mit Ihren Freunden vorher angerichtet haben. Das ist der Punkt.
({0})
Lassen Sie mich an der Stelle noch etwas zur Verschuldungslage sagen, weil Herr Eichel das ja in Pepitamanier immer wieder kleinkariert vorträgt. Was haben wir
bei der Wiedervereinigung denn gemacht? Wir haben die
Wiedervereinigung aus drei Quellen bezahlt, aus den einzigen Quellen, die der Staat hat.
({1})
Die erste Quelle sind die Beiträge, die zweite sind die
Steuern und die dritte ist die Verschuldung.
({2})
In allen drei Quellen haben wir Veränderungen beschließen müssen, um die Wiedervereinigung zu bezahlen. Ich frage Sie jetzt einmal ganz redlich: Welche Quelle
allein hätten Sie denn genommen?
({3})
Hätten Sie keine Verschuldung gemacht? Hätten Sie die
Steuern nicht erhöht? Hätten Sie die Beiträge gesenkt?
Oder was hätten Sie gemacht? Es ging nur im Dreiklang,
es war nicht anders möglich. Es ist unredlich, diese Frage
der Verschuldung so zu behandeln, wie Sie es tun. Sie ist
für eines der besten Projekte der deutschen Geschichte
entstanden, die Wiedervereinigung.
({4})
Darauf sind wir stolz und wir sind nicht bereit, den Kopf
unter den Arm zu nehmen. Es war nicht anders möglich.
Ich warte auf kluge Vorschläge, wie Sie es gemacht hätten.
Ich sage noch einmal: Die Entwicklung ist besorgniserregend.
({5})
Ändern Sie den Kurs und reden Sie sich nicht mit dem
Hinweis auf die Bauwirtschaft heraus, damit da keine
falschen Legendenbildungen entstehen, Herr Müller und
Herr Eichel.
({6})
Auch wenn wir die Bauwirtschaft herausrechnen, kommen wir zu diesem Ergebnis. Die EU hat in den ersten drei
Quartalen des Jahres 2001 ein durchschnittliches Wachstum von 1,8 Prozent, Deutschland hat 1,6 Prozent Wachstum, Frankreich 2,1 Prozent, Italien 1,8 Prozent, Spanien
2,2 Prozent. Selbst wenn wir die Bauwirtschaft herausrechnen, bleibt Deutschland nach drei Jahren sozialdemokratischer und grüner Wirtschaftspolitik Schlusslicht.
({7})
Die wirtschaftsstärkste Nation im EU-Raum hat die rote
Laterne, das ist ein Armutszeugnis sondergleichen. Wir
reden über Ihre Arbeitslosen, wir reden über Ihre Pleiten,
über 33 000 wirtschaftliche Zusammenbrüche.
Herr Kollege
Schauerte, Sie reden jetzt in der Zeit Ihres Nachredners.
({0})
- Ich bin dankbar, dass Herr Müller unsere Zeit nicht bekommen hat. Das wäre sein persönliches Unglück gewesen. Er hätte sich ja um Kopf und Kragen geredet, wenn
er noch mehr Zeit gehabt hätte.
Ich breche ab.
({1})
Wir haben 33 000 Pleiten und allein deswegen über
500 000 Arbeitslose. Handeln Sie, korrigieren Sie Ihre
falschen Politikansätze. Sonst wird der Wähler handeln
und Sie am 22. September mit guten Gründen abwählen.
({2})
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Frau Kollegin Luft das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. Herr Kollege Schauerte, wenn Sie mit meinem Namen
spielen und meinen, ich sei für Sie Luft: Sie sind für mich
wirklich schauerlich.
({0})
Das nur nebenbei.
Sie haben offenbar verschlafen, in den letzten Monaten
die Arbeitslosenstatistiken der einzelnen Bundesländer
zu verfolgen. Sonst hätten Sie so eben nicht behaupten
können, die rot-rot regierten oder rot-rot tolerierten Länder seien in der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen nach
wie vor die Schlusslichter. Ich darf Sie darauf hinweisen,
dass die Arbeitslosenquote des Freistaates Sachsen, seit
elf Jahren allein von der CDU regiert, inzwischen nur
noch 0,5 Prozentpunkte hinter der Arbeitslosenquote von
Mecklenburg-Vorpommern liegt, nämlich bei 17 Prozent,
Mecklenburg-Vorpommern hat 17,5 Prozent. Ich darf Sie
darauf hinweisen, dass das Bundesland Sachsen-Anhalt,
SPD-regiert und von der PDS toleriert, gegenüber dem
Monat November des letzten Jahres die Arbeitslosigkeit
um 0,6 Prozentpunkte senken konnte, was man von CDUregierten Ländern nicht sagen kann.
Zweitens. Wenn Sie auf Schulden aus der Vergangenheit anspielen, muss ich Sie darauf hinweisen, dass
Berlin, die deutsche Hauptstadt, inzwischen 80 Milliarden DM Schulden hat. Das ist im Übrigen das Vierfache
dessen, was die DDR netto an Auslandsschulden hatte.
Die Schulden allein der Bundeshauptstadt sind viermal so
hoch wie die Auslandsschulden der DDR und davon
stammt die Hälfte aus den Wohnungsbauschulden WestBerlins. Dieses West-Berlin wurde jahrzehntelang von der
CDU regiert.
({1})
Darauf darf ich Sie hinweisen. Sie dürfen bitte nicht jede
Debatte dazu nutzen, neue Legenden zu spinnen. Die
glaubt Ihnen inzwischen niemand mehr.
({2})
Herr Schauerte,
möchten Sie antworten?
Nein.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf zunächst einmal feststellen, dass ich leider Gottes nicht viel Neues
gehört habe und vor allem eines konstatieren musste: Offenbar hat die gesamte Opposition nicht eine Minute darauf verwandt, das Gutachten des Sachverständigenrates zu lesen,
({0})
das sehr wohl Auskunft darüber gibt, wie es mit der Gestaltung der Wirtschafts- und Finanzpolitik durch diese
Regierung aussieht.
({1})
Dass das alles noch mit einer Polemik garniert wird, die
die Sozialdemokratie und die deutsche Einheit in ein
Licht rücken, das ahistorisch ist, kann nicht akzeptiert
werden und ist eine Sauerei, Herr Merz. Das merken Sie
sich einmal!
({2})
Diesen Versuch haben Sie hier schon einmal unternommen. Unter Demokraten ist es eine Unverfrorenheit, dieses immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen.
({3})
Sie haben sich an einer Stelle der Auseinandersetzung zu
stellen, nämlich bei der Frage, ob bei dem Dreiklang, von
dem hier gesprochen wurde, nicht falsche Akzente gesetzt
wurden, ob nicht diejenigen, die die Beiträge zur Rentenversicherung zahlen, durch die deutsche Einheit übermäßig belastet worden sind,
({4})
ob nicht Steuerabschreibungstatbestände geschaffen worden sind, die überdimensioniert waren und heute allerorten zu Pleiten und Pannen führen.
({5})
Das sind Fragen, mit denen Sie sich ehrlicherweise auseinander setzen müssen. Dann können wir gerne wieder
ins Gespräch kommen.
Ich will ein Weiteres anführen - auch dieser Punkt wird
immer wieder bei Polemiken vorgetragen -, nämlich dass
wir nach den Ereignissen des 11. September im Gegensatz zu allen anderen Staaten Steuererhöhungen realisiert
haben. Niemand in der deutschen Wirtschaft, an der
Spitze die Präsidenten und Vorstände der deutschen Großund Außenhandelsverbände, hat behauptet, dies sei unerträglich. Das wird in der Wirtschaft gar nicht diskutiert.
Das ist selbstverständlich und fällt überhaupt nicht auf.
({6})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Diese Maßnahme dient dazu, uns in die Lage zu versetzen, das eigentliche Esse zu finanzieren, nämlich unsere
eigene Sicherheit, und draußen dort helfen zu können, wo
wir helfen wollen, um den Weltfrieden zu bewahren.
({7})
Lassen Sie mich zur Sache zurückkommen: Sie, meine
Damen und Herren, haben - das muss man hier einmal
aufarbeiten - sich noch vor wenigen Wochen hingestellt
und gesagt: Wir brauchen Konjunkturprogramme.
({8})
Von all Ihren Rednerinnen und Rednern haben wir gehört,
dass sie die Steuerreform vorgezogen haben wollen.
({9})
Schauen Sie bitte einmal in das Gutachten des Sachverständigenrates. Selten hat es eine so einmütige Aussage
gegeben: Keine Konjunkturprogramme, kein Vorziehen
der Steuerreform - das ist das Urteil der Experten. Daran
sollten Sie sich, meine Damen und Herren, einmal ausrichten.
({10})
Der Titel des Gutachtens heißt - der Kollege Schulz hat
das im Wirtschaftsausschuss sehr schön entwickelt - „Für
Stetigkeit - gegen Aktionismus“. Das, was Sie hier vortragen - schauen Sie sich Ihre Anträge an -, ist nichts anderes als blinder Aktionismus. Sie leiern altbekannte Vorschläge herunter, die sie im Übrigen schon vor 1998
längst hätten umsetzen können.
({11})
Wir jedenfalls befinden uns in bester Gesellschaft: mit
dem Internationalen Währungsfonds, mit der OECD und
mit der EU. Ich sehe überhaupt gar keinen Grund, diese
Gesellschaft zu verlassen und sie etwa gegen Ihre auszutauschen. Das würde uns gerade noch fehlen.
Wir brauchen also Vertrauen auf stabile Rahmenbedingungen und kein Stop-and-Go.
Ich will es zusammenfassen: Hätten wir die Steuerreformstufen vorgezogen, dann hätte das 45 Milliarden DM weniger für den Haushalt bedeutet. Hätten wir
den Spitzensteuersatz weiter abgesenkt, wären das weitere 5 Milliarden DM weniger gewesen. Das macht
50 Milliarden DM weniger für den Bundeshaushalt. Dies
ist durch nichts aufzufangen. Ich sage Ihnen: Wer auf
Pump lebt, der gefährdet Vertrauen, bringt keine entscheidenden Impulse und beschädigt die Position der
deutschen Wirtschaft und der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Konzert.
({12})
Ich will hier darüber hinaus ausdrücklich das Bekenntnis zum Ausdruck bringen, dass wir sehr wohl analog zu
den Aussagen des Sachverständigenrats handeln wollen.
Der Bundesminister für Wirtschaft hat es deutlich gemacht: Mit der Konsolidierung, mit der Steuerreform und
natürlich auch mit dem, was wir in Sachen Rentenreform
und an Akzentuierung im Bereich von Bildung und Forschung realisiert haben, ist unsere Politik darauf gerichtet,
Anreize für mehr Wagnisbereitschaft, Leistung und Lernen zu mobilisieren. Ihnen, meine Damen und Herren von
der Opposition, gleiten ja immer wieder genau die Maßnahmen durch die Hände, die wir hier durchgezogen haben: Solidarpakt II, „Bauen jetzt“, Verzicht auf Abschreibungstabellen, Schuldrechtsmodernisierung sowie ein
neues Übernahmegesetz und damit die Schließung einer
wichtigen Gesetzeslücke.
Der Bundeskanzler hat - Sie waren dabei - erst vor
zwei Tagen beim Zentralverband des Deutschen Handwerks sein persönliches Engagement in Sachen Basel II
erklärt. Ich finde, es ist ein ganz wichtiger Akzent, dass
der Regierungschef sich hinter unsere Forderung stellt,
dem Mittelstand international unter die Arme zu greifen.
({13})
Wir müssen aber - blenden Sie das bitte nicht aus auch erwarten, dass sich die Unternehmen in die Pflicht
nehmen lassen. Es darf nicht sein, dass sich die Unternehmen nach dem 11. September kurzerhand von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trennen und dieses Vorgehen
mit diesem unsäglichen Ereignis verbrämen, in Wahrheit
aber nichts weiter tun, als harte Rationalisierung durchzuziehen. Ich fordere darüber hinaus auch ganz entschieden, dass sich die Unternehmerinnen und Unternehmer
endlich auch der Frage der Überstunden annehmen und
Überstunden da, wo es irgend geht, reduzieren.
({14})
Lassen Sie sich noch mit einem weiteren Punkt konfrontieren. Wir hatten im Jahr 2000 ein dynamisches
Wachstum von 3 Prozent. Haben Sie sich einmal angeschaut, wie die Wachstumsraten in den 90er-Jahren waren? Ich habe einmal herausgesucht, wie es für Deutschland in den 90er-Jahren im Vergleich stand. Natürlich hat
Deutschland eine schwache Position in Sachen Wachstumsraten gehabt, und zwar wegen der Probleme, die die
deutsche Einheit als eines der größten Investitionsprogramme, die es gibt, mit sich gebracht hat. Dies aber heute
nach dem Motto auszuschlachten, wir stünden hinter Italien, ist durch nichts gerechtfertigt; denn Sie selbst haben
ausweislich dieser Statistiken über Jahre hinweg hinter
Italien rangiert, was Ihre Wachstumsraten betrifft. An dieser Stelle gibt es also ein strukturelles Problem, das auch
etwas mit der besonderen Lage in Deutschland zu tun hat,
nicht aber eines, das wir als hausgemacht auf einzelne Regierungen abwerfen können.
Jetzt will ich - gerade vor dem Hintergrund des Weihnachtsfestes, das uns bevorsteht - auch noch die positiven
Dinge nennen.
({15})
Das „Handelsblatt“ von gestern hat mit einer wunderbaren Überschrift - „Konjunktur vor der Wende“ - Ihre Debatte eigentlich obsolet gemacht.
({16})
Da heißt es so schön, der konjukturelle Tiefpunkt in
Deutschland sei nach Einschätzung des Kieler Instituts
für Weltwirtschaft erreicht. Auch eine Umfrage des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung unter Analysten und Anlegern signalisiert, dass die Konjunkturwende nahe ist. Es wird darüber hinaus gesagt: Wenn die
Wirtschaft die Talsohle erst einmal durchschritten hat,
wird sie kräftig wachsen. Der Stimmungsaufschwung sowie die expansivere Geldpolitik ließen erwarten, dass die
Unternehmen dann zurückgestellte Investitionen nachholten.
Gleichzeitig kommen mit der Erholung der US-Konjunktur im zweiten Quartal kraftvolle Impulse aus
der Auslandsnachfrage.
Dies hat mit dem, was Sie hier an Horrorszenarien verbreiten, überhaupt nichts zu tun. Ich jedenfalls verlasse
mich mehr auf die Aussagen der Wissenschaftler als auf
die Polemik der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion.
({17})
Auch das von Ihnen angesprochene vermeintliche Abkoppeln der Wirtschaft Deutschlands von der Wirtschaft
der USA ist sozusagen blanke Theorie. Es ist richtig, dass
wir prozentual weniger unmittelbar in Deutschland
produzierte Waren in die USA exportieren als früher. Aber
es gibt in Nordamerika Beteiligungen deutscher Unternehmen und deutsche Tochtergesellschaften, die natürlich
ganz stark an der Konjunktur in Nordamerika hängen und
deren Geschäftsergebnisse sich auf unser Gesamtergebnis
auswirken.
Auch hier sollten wir die Abhängigkeit der europäischen und speziell auch der auf Export orientierten deutschen Wirtschaft nicht klein reden. Sie ist vorhanden. Wir
werden mit den nordamerikanischen Volkswirtschaften
gemeinsam im nächsten Jahr wieder in eine Wachstumsphase hineinkommen, die sowohl bei der Arbeitslosigkeit
als auch bei dem, was die wirtschaftliche Entwicklung
insgesamt betrifft, positiv zu Buche schlagen wird.
Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes sagen:
Herr Brüderle, Sie haben einzelne Maßnahmen wie zum
Beispiel das Blitzprogramm angesprochen.
({18})
Das hört sich beinahe so an, als wenn es aus dem Sagenbereich käme.
({19})
Prüfen Sie es einmal nach! Sie sagen einfach, dass die Regelungen zur Bauabzugsteuer nicht funktionieren. Auch
ich stehe der Bürokratie skeptisch gegenüber und habe
deshalb die Finanzämter angerufen.
({20})
Ich habe erfahren, dass es offenbar funktioniert: Man
stellt einen formlosen Antrag und innerhalb weniger Tage
bekommt man eine Freistellungserklärung. Ein Stück
mehr Ordnung am Arbeitsmarkt und ein Stück mehr Wettbewerb im Mittelstand hilft doch mehr, als es schadet.
Bauen Sie hier nicht Pappkameraden auf, die mit den Realitäten überhaupt nichts zu tun haben!
({21})
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die
Aufmerksamkeit.
({22})
- Ich weiß, Herr Müllermeister. Aber nicht ich bin der
größte Feind Ihres Gewerbes, sondern - wie Sie vor
kurzem gesagt haben - der Bäckermeister. Deshalb übergebe ich jetzt an den Bäckermeister. Er wird Ihnen schon
sagen, wo der Hammer hängt.
Danke.
({23})
Wenn das mit
den Worterteilungen so weiter geht, brauchen wir keinen
Präsidenten mehr. Herr Hinsken, Sie haben also das Wort.
Werte Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Staffelt, Sie haben
Ihrem Namen alle Ehre gemacht.
({0})
Sie haben mir den Staffelstab übergeben. Warum? - Weil
Sie wussten, dass Sie mit positiven Äußerungen über das
Handwerk besser ankommen, als es dies dem Bundeswirtschaftsminister Müller heute geglückt ist.
({1})
Er hat es nämlich versäumt, die richtigen Worte für das
Handwerk als tragende Säule der Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu finden. Herr Müller, ich bin
darüber enttäuscht, dass Sie in Ihrer Rede die Bedeutung
des Handwerks nicht so herausgestellt haben, wie es sich
gehört.
Die heutigen Reden von Herrn Finanzminister Eichel,
von Herrn Wirtschaftsminister Müller oder von Ihnen,
Herr Staffelt, waren schöne Weihnachtsgeschichten. Sie
waren aber leider viel zu schön, um wahr zu sein.
({2})
Sie sind völlig realitätsfern. Sie sagen seit einem halben
Jahr das Gleiche und versuchen, die Wirtschaft gesundzubeten. Aber Sie mussten Monat für Monat scheibchenweise zugeben, dass es bei uns bergab geht und dass Sie
nicht in der Lage sind, die richtigen Rezepte anzuwenden,
damit es bei uns in der Bundesrepublik Deutschland endlich wieder aufwärts geht, wie wir es brauchen und wie es
das Volk erwartet.
({3})
Herr Minister Müller, in Ihrem Ministerium wurden
letzte Woche die weihnachtlichen Friedensäußerungen
sehr tief gehängt. Offensichtlich haben nicht nur die Kerzen, sondern es hat der ganze Weihnachtsbaum gebrannt.
({4})
Schließlich haben Sie eine Reihe von Terminen - zum
Beispiel mit Firmen und vor allen Dingen die Großveranstaltung zum Jahr des Tourismus 2001 in Füssen sowie
das Friedensessen des Handwerks - abgesagt. Herr Minister Müller, ich frage mich, ob das, was ich der Presse entnehmen musste, dass Sie nämlich die SPD-Fraktion aufgrund der müllerschen Äußerungen durch Ihre
Abwesenheit vor Ort abstrafen wollten, zutrifft.
({5})
Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir sagen würden,
warum Sie nicht hingegangen sind; denn wenn Sie auf
diesen Veranstaltungen gewesen wären, hätten Sie gehört,
dass Sie gerade mit Ihren Äußerungen zur Schwarzarbeit
völlig daneben liegen. Herr Minister Müller, es hilft doch
nichts, mit führenden Repräsentanten des Handwerks und
der Wirtschaft über das Problem der Schwarzarbeit nur zu
reden; damit ist es nicht getan. Es muss gehandelt werden;
das haben Sie und diese Bundesregierung aber nicht.
({6})
Ich möchte an das anknüpfen, was unser Fraktionsvorsitzender, Friedrich Merz, so treffend gesagt hat: Es ist
traurig, wenn wir feststellen müssen, dass das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik Deutschland in
diesem Jahr nur noch bei 0,6 Prozent liegt und dass im
kommenden Jahr, im Jahre 2002, nur 0,7 Prozent erwartet
werden. Meine Damen und Herren, was ist das anderes als
eine Rezession? Sie versuchen, diese hier wegzureden.
Das gelingt Ihnen aber nicht, weil die Fakten eine eindeutige Sprache sprechen.
Ich finde es unglaublich, dass Deutschland gerade
beim Wirtschaftswachstum weit abgeschlagen hinter
Griechenland, Spanien, Frankreich und Italien liegt. So
etwas hat es noch nie gegeben. Es ist eine einmalige Leistung dieser Bundesregierung, die Wirtschaftsnation
Deutschland so weit nach hinten gebracht zu haben.
({7})
In keinem anderen Land der gesamten Europäischen
Union gibt es eine höhere Arbeitslosigkeit als in den
neuen Bundesländern; sie beträgt dort nämlich leider
17,8 Prozent. Das Land mit der europaweit zweitniedrigsten Arbeitslosigkeit ist Spanien mit 12,9 Prozent, also
knapp 5 Prozentpunkte weniger. Sie sehen diese Probleme
nicht. Es wird darüber gesprochen, dass das Thema Aufbau Ost zur Chefsache gemacht wird. Zu Beginn der Regierungszeit von Gerhard Schröder wurde hinausposaunt,
dass man das Notwendige machen wird, sodass Jugendliche einen Arbeitsplatz finden werden und die Arbeitslosigkeit beseitigt wird. Wie sieht das Ergebnis aus? Jetzt,
nach gut drei Jahren Gerhard Schröder, gibt es in den
neuen Bundesländern leider 125 000 Arbeitslose mehr als
damals.
({8})
Selbst beim Sparen sind wir Schlusslicht in Europa. In
keinem anderen Land der EU laufen die Einnahmen und
Ausgaben des Staates so weit auseinander wie bei uns.
Ebenso belegen wir - weltweit betrachtet - bei den Neugründungen nur noch den 22. Platz der wichtigsten 29 Industriestaaten. Wir sind weit abgeschlagen. Wir stehen sogar hinter Ungarn, hinter Polen und hinter Indien. Es ist
eine bedauernswerte Feststellung, dass Sie es mit Ihrer
Politik leider so weit gebracht haben.
({9})
Diese Länder strengen sich an, legen ihre Hände nicht
in den Schoß und warten nicht auf Onkel Sam aus Amerika.
Ich meine, dass bezüglich dessen, was Herr Eichel
heute gesagt hat, noch einiges zurechtgerückt werden
muss. Nach einer Studie der EU liegt die effektive Steuerlast für Unternehmen in Deutschland nämlich europaweit an der Spitze; das ist bedauernswert. Sie haben danach gefragt, wo denn die Fehler lägen, die die Regierung
gemacht habe.
({10})
Ich sage Ihnen: Die Zahl der Unternehmensgründungen
sank seit 1998 um 50 000. Das allein bedeutet einen Verlust von 150 000 bis 200 000 Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik Deutschland. Auf der einen Seite haben Sie
dann beklagt, dass die Steuergelder nicht genügend sprudeln würden. Auf der anderen Seite verweisen Sie immer
wieder auf die riesengroße Steuerreform, die Sie durchgeführt haben, und verschweigen in diesem Zusammenhang ganz und gar, dass Sie allein in diesem Jahr 45 Milliarden DM mehr an Steuern einnehmen, als es im
Jahre 1998 der Fall war.
({11})
Obwohl das Säckel so gefüllt ist, nehmen Sie nicht davon
Abstand, weitere Erhöhungen bei der Tabaksteuer, der
Versicherungsteuer und der Ökosteuer vorzunehmen,
damit weitere 9 Milliarden DM hereinkommen.
({12})
Ich meine, das ist keine Politik aus einem Guss. Sie
müssen vor allen Dingen sehen - gerade in der Weihnachtszeit soll doch das Herz für den Schwächeren schlagen -, dass jeder vierte deutsche Arbeitnehmer in der Zwischenzeit Angst um seinen Arbeitsplatz hat.
Meine verehrten Damen und Herren, wir müssen insgesamt gesehen umdenken. Es ist unmöglich, wenn nur
noch 39 Prozent der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig sind.
Schauen wir doch einmal ins Nachbarland Schweiz.
Herr Kollege
Hinsken, jetzt müssen Sie aber doch auf die Zeit achten.
Dort sind 70 Prozent in
dieser Altersgruppe noch erwerbstätig.
Ich hätte gern noch vieles gesagt, weil ich meine, dass
es wichtig wäre, den Regierungsparteien einiges ins
Stammbuch zu schreiben;
({0})
aber die Zeit lässt das nicht zu. Deutschland hat es verdient, eine bessere Regierung zu bekommen. In zehn Monaten wird alles anders werden. Wir werden das Volk wissen lassen, dass wir es besser als Sie können.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7454 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache
14/7214 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Ti-
tel „Neue Wachstumschancen mit durchgreifenden
wirtschaftspolitischen Reformen schaffen - Blitzpro-
gramm für die deutsche Wirtschaft“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6446 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
PDS gegen die Stimmen der FDP und einiger Abgeordne-
ter der CDU/CSU bei Enthaltung anderer Abgeordneter
der CDU/CSU angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU zu einem Zehnpunkteprogramm zur Wieder-
belebung der deutschen Wirtschaft und des Arbeitsmark-
tes. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/6436 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie auf Drucksache 14/7215 zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Konjunktur-
abschwung stoppen - Wachstumskräfte stärken“. Der
Ausschuss empfiehlt, auch diesen Antrag abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange-
nommen worden.
Zusatzpunkt 4. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 14/7808 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist diese
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 h sowie
die Zusatzpunkte 5 a bis 5 c auf:
32. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmengesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 14/7260 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 20. Mai 1999 des Übereinkommens
zur Gründung der Europäischen Fernmeldesatellitenorganisation „EUTELSAT“ ({1})
- Drucksache 14/7544 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Seemannsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksachen 14/7760, 14/7797 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die Landwirtschaftliche Rentenbank
- Drucksache 14/7753 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({4})
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen GemeinErnst Hinsken
schaft über die Etikettierung von Fischen und Fischereierzeugnissen ({5})
- Drucksache 14/7726 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela
Marquardt, Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Zensur im Internet verhindern - Kein Einsatz
von Filtern an öffentlichen Terminals - Für eine
Kennzeichnungspflicht beim Einsatz von FilterTechnologien
- Drucksache 14/6128 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({6})
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
g) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte im Völkerrecht und im internationalen Bereich
- Drucksache 14/7483 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Änderung der Gemeinsamen Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für
den Ausschuss nach Art. 77 des Grundgesetzes
({8})
- Drucksache 14/119 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
ZP 5a)Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur
Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes
- Drucksache 14/7755 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung von Abkommen über Soziale Sicherheit
und zur Änderung verschiedener Zustim-
mungsgesetze
- Drucksache 14/7759 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Karl-Josef Laumann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Arbeit nicht durch übermäßige Sozialversicherungsbeiträge teurer machen
- Drucksache 14/7782 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Zu Tagesordnungspunkt 32 c liegt inzwischen auf Drucksache 14/7797 die Gegenäußerung der
Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates
vor, die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll.
Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
diese Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 33 a bis
33 c und 33 e bis 33 j sowie den Zusatzpunkten 6 a bis 6 i.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen zwar keine Aussprache, aber doch eine Abstimmung vorgesehen ist.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des
Bundeszentralregistergesetzes zu erweitern und als Zusatzpunkt 6 j ohne Aussprache aufzurufen. - Ich sehe, Sie
sind einverstanden. Dann ist das auch so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 33 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes
- Drucksache 14/7093 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({12})
- Drucksache 14/7820 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel ({13})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Darüber stimmen wir zunächst ab. Wer stimmt für den
Änderungsantrag auf Drucksache 14/7838? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt worden mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der PDS, die zugestimmt hat.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung angenommen worden mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP.
Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7839
vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP.
Tagesordnungspunkt 33 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({15}), Rainer
Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Senkung des Entgelts für die Beförderung von
Briefsendungen im Geltungsbereich der Exklusivlizenz nach § 51 Postgesetz
- Drucksachen 14/4417, 14/7819 Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller ({16})
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4417 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP.
Tagesordnungspunkt 33 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Postumwandlungsgesetzes
- Drucksache 14/7027 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({18})
- Drucksache 14/7553 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Uwe-Jens Rössel
Der Haushaltsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/7553, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in dritter Lesung angenommen worden mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition.
Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache 14/7829 vor. Wer
stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP.
Tagesordnungspunkt 33 e:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes
- Drucksache 14/3830 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({20})
- Drucksache 14/6915 Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Schröter
Margarete Späte
Hans-Joachim Otto ({21})
Dr. Heinrich Fink
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen worden mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU
und PDS bei Enthaltung der FDP.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Lesung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und PDS bei Enthaltung
der FDP angenommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Tagesordnungspunkt 33 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({22})
Übersicht 10
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/7527 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 323 zu Petitionen
- Drucksache 14/7685 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 323 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 33 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 324 zu Petitionen
- Drucksache 14/7686 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 324 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 33 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 325 zu Petitionen
- Drucksache 14/7687 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 325 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
angenommen worden. Die PDS hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 33 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 326 zu Petitionen
- Drucksache 14/7688 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 326 ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, PDS und FDP gegen die Stimmen
von CDU/CSU angenommen worden.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 6 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 327 zu Petitionen
- Drucksache 14/7799 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 327 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses mit Ausnahme der PDS, die sich enthalten hat, angenommen worden.
Zusatzpunkt 6 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 328 zu Petitionen
- Drucksache 14/7800 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 328 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen worden. Die PDS hat sich enthalten.
Zusatzpunkt 6 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 329 zu Petitionen
- Drucksache 14/7801 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 329 ist mit dem soeben festgestellten
Stimmverhalten angenommen worden.
Zusatzpunkt 6 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 330 zu Petitionen
- Drucksache 14/7802 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 330 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses, also ohne Gegenstimmen und Enthaltungen, angenommen worden.
Zusatzpunkt 6 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 331 zu Petitionen
- Drucksache 14/7803 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 331 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition
angenommen worden.
Zusatzpunkt 6 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 332 zu Petitionen
- Drucksache 14/7804 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 332 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Zusatzpunkt 6 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 333 zu Petitionen
- Drucksache 14/7805 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 333 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Zusatzpunkt 6 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 334 zu Petitionen
- Drucksache 14/7806 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 334 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses mit Ausnahme der CDU/CSU, die dagegengestimmt hat, angenommen worden.
Zusatzpunkt 6 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 335 zu Petitionen
- Drucksache 14/7807 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 335 ist gegen die Stimmen der PDS
mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen worden.
Zusatzpunkt 6 j:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes ({36})
- Drucksache 14/6814 ({37})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({38})
- Drucksache 14/7837 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Erika Simm
Ronald Pofalla
Hans-Christian Ströbele
Jörg van Essen
Sabine Jünger
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
CDU/CSU mit den Stimmen des übrigen Hauses ange-
nommen worden. Es gab keine Enthaltungen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung angenommen worden mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, PDS und
FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU.
Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({39}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten
Einsatz auf mazedonischem Territorium zum
Schutz von Beobachtern internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des politischen Rahmenabkommens
vom 13. August 2001 auf der Grundlage des
Ersuchens des mazdonischen Präsidenten
Trajkovski vom 3. Dezember 2001 und der
Resolution Nr. 1371 ({40}) des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen vom 26. September
- Drucksachen 14/7770, 14/7816 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({41})
Christian Schmidt ({42})
Dr. Helmut Lippelt
Wolfgang Gehrcke
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({43})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/7826 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Titze-Stecher
Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktionen der FDP und der PDS jeweils fünf Minuten erhalten sollen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist auch
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
Herr Bundesminister Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir können drei Monate nach Beginn der Operation
Fox feststellen, dass es in Mazedonien beeindruckende
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Fortschritte gibt. Das ist Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung. Wir haben einen Bürgerkrieg verhindert. Die
Waffen schweigen. Der verfassunggebende Reformprozess ist abgeschlossen. Die Wiederherstellung der Herrschaft des Rechtes in Mazedonien geht schrittweise
voran.
Auch das Vertrauen zwischen den Ethnien wächst
langsam wieder. Das drückt sich unter anderem aus in der
Auflösung der albanischen UCK, trotz der Verzögerungen
in dem Verfassungsprozess. Die ersten Amnestien sind
ausgesprochen. Alles das ist unabdingbare Voraussetzung
für die Reintegration der vorherigen Kämpfer in die mazedonische Gesellschaft. Das Wachstum des Vertrauens
zwischen der slawischen und der albanischen Bevölkerung ist im Übrigen von überragender Bedeutung. Denn
nur dann wird ein dauerhafter Weg aus der Krise heraus
gefunden und das Risiko eines Bürgerkrieges ausgeschlossen.
({0})
Allerdings, dieser Prozess ist bei allen Fortschritten,
die ich jetzt mit Stichworten beschrieben habe, noch nicht
so weit vorangekommen, dass man auf eine Sicherheitspräsenz verzichten könnte. Wir wollen nämlich die positiven Entwicklungen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Vor diesem Hintergrund will ich darauf aufmerksam
machen, dass wir im Deutschen Bundestag über die Fragen zu Mazedonien und den Balkan insgesamt häufiger
gesprochen, teilweise gestritten haben und stets unsere
Besorgnisse und Befürchtungen zum Ausdruck gebracht
haben. Mich berührt es in eigenartiger Weise - ich vermute, das geht nicht nur mir so -, wenn ich die Debatten
betrachte, die vor mehr als drei Monaten geführt wurden,
und mir dann das Ergebnis ansehe, das wir heute haben.
Wichtig ist, dass wir jetzt - wie sich das abzeichnet - für
die Verlängerung dieses Mandates eine sehr breite Zustimmung im Deutschen Bundestag bekommen.
Das ist auch gerechtfertigt. Denn die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in ganz
Mazedonien bedarf weiterer Anstrengungen. Dazu
gehören die fünf Pilotprojekte der Europäischen Union
und der OSZE zur Übernahme von Verantwortung durch
eine multiethnische mazedonische Polizei in den mehrheitlich albanisch besiedelten Gebieten. Dazu gehört die
koordinierte Rückkehr der Flüchtlinge in jene Krisengebiete, ohne dass daraus ein Potenzial für neue Spannungen entsteht. Dazu gehört, dass ein Sicherheitsvakuum
vermieden wird.
Für all das stehen Beobachter der Europäischen Union
und der OSZE zur Verfügung. Sie haben herausragende
Bedeutung bei der Wiederherstellung normaler Lebensverhältnisse. Andererseits bedürfen diese Beobachter des
Schutzes; denn die Verhältnisse in Mazedonien sind noch
nicht so stabil, als dass man auf diesen Schutz verzichten
könnte. Deshalb hat die mazedonische Regierung die
NATO gebeten, die entsprechende Task Force Fox um
drei Monate fortzusetzen. Das zeigt, welches Vertrauen
sich die NATO in Mazedonien mittlerweile erworben hat.
Das sage ich auch mit Blick auf die deutschen und französischen Streitkräfte, die die Hauptlast dieses Einsatzes
tragen. Sie haben eine ausgezeichnete Arbeit geleistet und
verdienen höchsten Respekt und ausdrückliche Anerkennung.
({1})
NATO und Europäische Union haben im Übrigen von
Anfang an mit großer Klarheit und großer Kontinuität,
aber auch Berechenbarkeit zusammengearbeitet. Sie haben ihre Verantwortung wahrgenommen. Wir können es
jetzt als gemeinsamen Erfolg verbuchen, dass in einer Region nach vier blutigen Balkankriegen, nach Millionen
von Vertriebenen und nach immer noch nicht gezählten
Toten Südosteuropa eine wirkliche Perspektive für sich
selbst und mit Blick auf Europa hat.
({2})
Ich füge hinzu, dass das Engagement in Mazedonien
im Rahmen dieses über mehr als ein Jahrzehnt dauernden
Prozesses zum ersten Mal in eigentlich idealtypischer
Weise unser Verständnis von präventiver Sicherheitspolitik widerspiegelt, wie es sich übrigens auch in dem Stabilitätspakt für Südosteuropa ausdrückt.
Der Beitrag der Bundeswehr wird unverändert sein.
Das gilt für ihren Umfang von bis zu 600 Soldaten und für
ihre Führungsrolle im Rahmen dieses Mandates. Das ist
- ich wiederhole es - eine besondere Auszeichnung für
die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr und ihr professionelles Auftreten. Ich sage das auch mit Blick auf manch
andere Debatte; denn das Erreichte in Mazedonien nicht
aufs Spiel setzen zu wollen bedeutet, dass man in der Region insgesamt - in Bosnien, im Kosovo und in Mazedonien - das Engagement aufrechterhalten und die Fähigkeiten beibehalten muss, um diesen Erfolg zu sichern und
den Weg in die Zukunft friedlich und sicher zu gestalten.
Wenn wir in Deutschland bereit, willens und fähig
sind, in den derzeitigen Größenordnungen diesen Beitrag
für eine europäische Perspektive und eine friedliche Entwicklung auf dem Balkan durchzuhalten, dann ist das
auch in Verbindung mit anderen Aufgaben, die sich der
Bundeswehr und ihrer Erneuerung stellen, eine feste Leitplanke bei der Bemessung von Fähigkeiten, die man an
anderer Stelle braucht.
Das gilt für die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ebenso wie für Friedensstabilisierung in anderen
Staaten, zum Beispiel in Afghanistan. Was wir - deshalb
schneide ich diesen Punkt an - zur Befriedung und Stabilisierung der Strukturen von Staat und Gesellschaft beitragen, ist nämlich auch ein elementarer Beitrag zur Verständigung und zum friedlichen Zusammenleben von
Christen und Moslems - in Mazedonien und auch in anderen Staaten Südosteuropas. Was wir dort zur Stabilisierung und zum friedlichen Zusammenleben leisten, was
wir an Perspektiven, persönlicher Sicherheit und wirtschaftlichen Möglichkeiten entwickeln, ist auch ein gutes
Beispiel dafür, dass man trotz unterschiedlicher Ethnien,
Kulturen oder Religionen friedlich und mit gemeinsamen
Zukunftsaussichten zusammenleben kann.
Ich sage das auch vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass die innermazedonischen Konflikte ihre politisch-ethnische und soziale Natur haben. Was wir dort in einem
mittel- und langfristigen Prozess zur Überwindung dieser
Konflikte und Schwierigkeiten beitragen, ist ein Hinweis
darauf, dass die internationale Staatengemeinschaft nicht
nur in Südosteuropa ein gutes Beispiel schafft, sondern
die Fähigkeiten hat - und diese weiterentwickeln will -,
um im Zusammenwirken aus politischen, ökonomischen,
kulturellen, gesellschaftlichen und, wo notwendig, militärischen Fähigkeiten für eine friedliche, am besten immer durch präventives Handeln geprägte Perspektive zu
sorgen.
({3})
Ich bedanke mich bei allen Fraktionen - mit Ausnahme
der einen -, dass sie den Antrag der Bundesregierung unterstützen, und zwar nicht wegen der Unterstützung für
die Bundesregierung, sondern wegen der Unterstützung
für die Soldaten der Bundeswehr und deren Familien sowie wegen der Unterstützung für eine friedliche und sichere Perspektive in Südosteuropa als einen unverzichtbaren Teil unseres gemeinsamen Kontinentes, die damit
gewährleistet werden kann.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Andreas Schockenhoff.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir teilen Ihre
Auffassung, Herr Minister, dass in Mazedonien Fortschritte erzielt worden sind, dass aber der politische Prozess noch nicht so weit fortgeschritten ist, um auf eine Sicherheitspräsenz verzichten zu können. Deshalb ist es
richtig, dass die Parlamentswahlen verschoben wurden.
Richtig ist auch, dass eine Geberkonferenz für Mazedonien verschoben wurde, nachdem sich das Parlament entgegen den Forderungen von NATO und EU noch nicht auf
ein neues Gesetz zur kommunalen Selbstverwaltung einigen konnte.
Herr Minister, Sie haben unseren Beitrag zur Stabilisierung Südosteuropas herausgestellt. Das ist durchaus
richtig. Wir dürfen aber nicht den Eindruck erwecken, als
ob wir oder das Mandat der NATO diese Stabilisierung
leisten könnten. Die NATO steht nicht im Mittelpunkt der
Konfliktlösung, sondern begleitet einen Prozess, den die
Konfliktparteien vor Ort leisten müssen. Bei ihnen bleibt
die politische Verantwortung. Was Sie zur Prävention gesagt haben, ist doch etwas, was wir uns manchmal einreden. Die Wahrheit ist: Die Konfliktprävention hat trotz
beachtlicher finanzieller Leistungen vor allem der EU,
aber auch der OECD und des Stabilitätspakts nicht die Ergebnisse gebracht, die wir uns gewünscht haben.
Der mazedonische Präsident hat am Wochenende gesagt, es werde keine Verlängerung des Mandats über den
6. März hinaus erforderlich sein. Das hoffen auch wir. Wir
müssen deshalb den Druck auf die Parteien aufrechterhalten, damit sie zu wirklichen Lösungen bereit sind.
({0})
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Das große
Manko der internationalen Balkanpolitik besteht darin,
dass wir kein politisches Ordnungskonzept für die Region haben. Wir wissen auch, wie eng die Frage des Konflikts in Mazedonien mit der albanischen Frage zusammenhängt. Und die albanische Frage hängt mit dem Status
des Kosovo zusammen, der Status des Kosovo wiederum
mit der serbischen Frage. Solange wir kein politisches
Ordnungskonzept für die gesamte Region Südosteuropa
haben, werden wir immer wieder in die Situation kommen, international mit militärischer Präsenz ein neues
Ausbrechen von Konflikten zu verhindern. Deshalb brauchen wir ein realistisches Gesamtkonzept, auch angesichts der Tatsache, dass wir international woanders stärker militärisch gefordert sind und daher die Präsenz, die
wir auf dem Balkan haben, in der Bedeutung und in dem
Umfang langfristig nicht aufrechterhalten können.
Zurzeit sind 7 500 Soldaten auf dem Balkan, und zwar
in Bosnien, im Kosovo - wir müssen das Mandat im Frühjahr verlängern, weil das bisherige Mandat nicht ausreichen wird; wir wissen das heute schon - und in Mazedonien. Herr Minister, Sie haben gestern gesagt, insgesamt
seien 60 000 Soldaten gebunden; das betrifft die Soldaten,
die in Ausbildung sind, die im Ausland sind und die zur
Auswechslung bestehender Truppenkontingente bereitstehen. Nachdem wir gestern im Auswärtigen Ausschuss
gefragt haben, wie denn das Afghanistan-Kontingent
aussehen solle - die Schutztruppe, über die wir nächste
Woche zu bestimmen haben -, hat uns der Außenminister
gesagt, darüber habe sich die Bundesregierung noch keine
Gedanken gemacht, weil es noch kein Mandat gebe. Zum
gleichen Zeitpunkt haben Sie, Herr Minister Scharping,
eine Pressekonferenz gegeben und gesagt, die Schutztruppe umfasse 8 000 Soldaten, wovon 2 600 durch die
Bundeswehr gestellt würden.
({1})
- So steht es in der Zeitung.
({2})
- Entschuldigung, ich glaube nicht alles, was in der Zeitung steht. Aber wenn der Außenminister sagt, die Bundesregierung habe sich noch keine Gedanken über den Afghanistan-Einsatz gemacht,
({3})
und wenn zur gleichen Zeit sein Amtskollege Scharping
auf einer Pressekonferenz erklärt, das Kontingent für den
Afghanistan-Einsatz umfasse 8 000 Soldaten, dann muss
ich Ihnen sagen - Entschuldigung, dass ich das so deutBundesminister Rudolf Scharping
lich tue -: Sie lassen sich vielleicht so abspeisen, aber wir
nicht.
({4})
Wir haben ein Recht darauf, dass die Regierung uns informiert. Vor allem haben die Soldaten und ihre Familien
ein Recht darauf, dass wir öffentlich darüber diskutieren,
in welchem Umfang und für welche politischen Ziele wir
sie einsetzen werden.
In dem Zusammenhang muss ich auf zwei Dinge hinweisen. Zurzeit stehen - unser Fraktionsvorsitzender
Friedrich Merz hat heute schon Stellung zu dem genommen, was gestern im Haushaltsausschuss lief - für die
Soldaten, die wir in den Einsatz schicken, noch nicht einmal die notwendigen Transportkapazitäten zur Verfügung. Die Bundeswehr braucht dringend neue
Transportflugzeuge als Ersatz für die über 30 Jahre alten
Transalls. Der Bundeskanzler hat die Anschaffung neuer
Transportflugzeuge auf internationaler Ebene wiederholt
zugesagt, ohne seinen Worten Taten folgen zu lassen.
Herr Minister Scharping, Sie haben gesagt, dass Sie
den Vertrag über die Anschaffung neuer Transportflugzeuge unterschreiben könnten, wenn Sie eine entsprechende Verpflichtungsermächtigung bekämen. Eine
solche Verpflichtungsermächtigung würde Bundestagsabgeordnete, die bis jetzt noch nicht einmal gewählt sind,
in ihrem Abstimmungsverhalten in der nächsten Legislaturperiode binden!
Damit war das Hin und Her aber noch nicht beendet.
Sobald die Äußerung von Herrn Scharping über den
Ticker lief, hat der haushaltspolitische Sprecher der Grünen erklärt, dies sei eine Brüskierung des Parlaments. Das
Geld sei nicht vorhanden.
So können Sie weder mit der Industrie noch mit den
Soldaten umgehen. Sie können auch nicht einen Bundestag binden, der noch gar nicht gewählt ist.
({5})
Deswegen fordern wir Sie auf: Legen Sie einen Nachtragshaushalt vor, in dem Sie solide, verlässlich und berechenbar darlegen, wie Sie die Bundeswehrsoldaten, die
wir in den Einsatz schicken, ausstatten und wie Sie ihren
Einsatz finanzieren wollen.
Ich muss auch noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Herr Außenminister, der Kollege Rühe hat Sie in der
Haushaltsdebatte in der vorletzten Woche gefragt, welches politische Konzept dem Einsatz der Soldaten, die wir
zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit einem Mandat ausgestattet haben, zugrunde liege. Das müssen nicht nur wir wissen, wenn Sie unsere Zustimmung
haben wollen. Vor allem die Soldaten - ich sage es noch
einmal -, die mit unserem politischen Mandat ausgestattet sind und die auf ihren Einsatz warten, haben ein Recht
darauf, zu erfahren, wohin sie geschickt werden.
Es soll nun offenbar ein ABC-Spürtrupp mit 800 Soldaten entsandt werden. Die internationale Terrorismusbekämpfung konzentriert sich im Moment auf Afghanistan. Es gibt in Afghanistan Terroristen. Es gibt dort meines Wissens keine Massenvernichtungswaffen. Deswegen sage ich Ihnen, Herr Minister - Sie werden nachher
das Wort ergreifen -, noch einmal: Wir wollen von Ihnen
wissen - die Bundesregierung hat einen entsprechenden
Antrag vorgelegt -, wofür und wo genau diese 800 Soldaten eingesetzt werden sollen.
Wir wissen, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, einen Antrag auf Ihrem Parteitag gestellt
haben, wonach Soldaten nicht außerhalb von Afghanistan
zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus eingesetzt werden dürfen. Frau Präsidentin, Sie haben in einem
Interview mit dem „Stern“ gesagt, wenn dagegen verstoßen werde, dann sei die Koalition zu Ende. So verstünden Sie diese Selbstbindung. Ich sage Ihnen: Es darf
nicht sein, dass aufgrund innerparteilicher Befindlichkeiten einer Koalitionsfraktion die Soldaten darüber im Unklaren gelassen werden, wofür und wo wir sie einsetzen
werden und welche politische Zielsetzung sich mit Ihrem
Mandat verbindet.
({6})
Wir halten die Verlängerung des Mandats für den Einsatz in Mazedonien für erforderlich. Wir gehen davon aus,
dass es zeitlich begrenzt ist, und wünschen, dass so viel
Druck auf die Konfliktparteien ausgeübt wird, dass im
März kommenden Jahres eine erneute Verlängerung nicht
mehr notwendig sein wird. Nach unserer Meinung hat die
Bundeswehr mit ihren Einsätzen ihre Grenzen erreicht.
Wir wollen, dass es eine verlässliche Finanzierung und
eine gute Ausstattung der Bundeswehr gibt. Eine motivierte Bundeswehr setzt voraus, dass wir informieren,
dass es Transparenz darüber gibt, wofür Sie die Bundeswehr einsetzen wollen.
Wir werden schon nächste Woche wieder zusammenkommen, um im Deutschen Bundestag über ein weitaus
umfangreicheres Mandat für die Bundeswehr zu befinden. Sie haben jetzt noch wenige Tage Zeit, vor der deutschen Öffentlichkeit, vor den Soldaten und vor ihren Familien endlich klar zu machen, wofür und an welchem Ort
die Bundeswehr zum Einsatz kommen soll.
Sie bekommen unsere Unterstützung. Voraussetzungen
sind: Klarheit, Offenheit, Transparenz, Berechenbarkeit.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesaußenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der erfolgreichen Verabschiedung der Verfassungsänderungen
ist es gelungen, in Mazedonien, einem Schlüsselland auf
dem Balkan, eine Entwicklung einzuleiten, die verspricht,
dass wir tatsächlich in der Lage sein werden, eine weitere
blutige Runde auf dem Balkan zu verhindern.
In Mazedonien sind keinesfalls bereits alle Probleme
gelöst, aber wir können heute schon feststellen, dass es ein
Beispiel für eine keineswegs unriskante, aber doch mehr
und mehr von Erfolg gekrönte Präventionspolitik der
Bundesregierung auf dem Balkan darstellt.
Wir haben mit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens
erlebt, wie ein blutiger und gewaltbereiter Nationalismus
nicht zögerte, die Furien des Krieges in Europa wieder zu
entfesseln. Es hat ethnische Säuberungen und Massenvergewaltigungen gegeben. Allein in Bosnien liegen
250 000 Menschen in Massengräbern. Millionen von
Flüchtlingen sind dem nationalistischen Irrsinn zum Opfer
gefallen. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, meine Damen
und Herren, dann ist es die Tatsache - ich werde nicht
müde, dies zu betonen -, dass wir die präventive Politik, die
wir Europäer gemeinsam mit unseren Partnern des atlantischen Bündnisses auf dem Balkan umgesetzt haben, nicht
bereits im Jahr 1992 auf dem Balkan umsetzen konnten.
({0})
Es war eine bittere Lektion, bitter vor allem für die unschuldigen Opfer, bitter für ihre Familien, bitter für die betroffenen Menschen und die Länder in der Region, bitter
aber auch für Europa, für uns alle. Wir können allerdings
feststellen, dass diese Lektion - ich denke, das gilt für fast
alle hier im Hause - gelernt wurde und die notwendigen
Konsequenzen gezogen wurden, Konsequenzen, die bedeuten, dass der Einsatz militärischer Macht nicht vermeidbar ist, dass er aber Ultima Ratio ist, dass der Einsatz
militärischer Macht politische Konflikte nicht lösen kann,
aber dort, wo es anders nicht mehr geht, wenn sich Gewalt
und Mord breit machen und ein gewaltbereiter Nationalismus meint, eine verwerfliche Politik umsetzen zu können,
die Voraussetzungen für ihre Lösbarkeit schafft.
Wir haben in diesem Hause über diese Einsätze oft und
lange gestritten. Der erste Mazedonien-Einsatz war noch
hochstreitig, die zweite Entscheidung, nämlich über die
Operation Amber Fox, war nicht mehr streitig. Wir können heute feststellen, dass die politischen Vorgaben umgesetzt wurden.
Jetzt geht es darum, ein Vakuum zu verhindern. Jetzt
geht es darum, die weitere Implementierung der Verfassungsänderungen und der Amnestievereinbarung zu begleiten. Die Voraussetzungen dafür sind, denke ich, nun
gegeben. Ein Schreiben von Präsident Trajkovski mit dem
Ersuchen um Verlängerung für die Dauer von drei Monaten liegt vor. Wir hoffen, dass die Operation dann auslaufen kann. Sicher kann ich Ihnen das heute nicht sagen,
nur: Die Alternative, nämlich eine erfolgreiche Operation
abzubrechen, bevor die politischen Bedingungen, die ihre
geordnete Beendigung ermöglichen, geschaffen wurden,
kann man allen Ernstes nicht wollen. Deswegen hat der
NATO-Rat am 6. Dezember die Verlängerung beschlossen. Ich bitte Sie alle hier um Ihre Zustimmung zur Verlängerung dieses Mandats, damit wir die erfolgreiche
präventive Politik in Mazedonien fortführen können.
Ich bedanke mich.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Mit Ausnahme der notorischen Neinsager
von der PDS
({0})
werden wir heute erneut einem Antrag der Bundesregierung auf Entsendung der Bundeswehr in einen Auslandseinsatz mit großer Mehrheit zustimmen. Wir, die
FDP-Fraktion, halten die Verlängerung des Mandats für
erforderlich. Wir sind der Auffassung, dass ohne das erste
Mazedonien-Mandat zum Einsammeln der Waffen dieses
Mandat nicht möglich gewesen wäre.
({1})
Daher bitte ich diejenigen Abgeordneten der Regierungsfraktionen, die damals so entschieden dagegen gewesen
sind, uns jetzt einmal ein wenig dankbar dafür zu sein,
dass wir ihnen die Möglichkeit gegeben haben, heute der
Verlängerung des Friedenseinsatzes zuzustimmen. Ich erinnere Sie daran, dass Sie damals keine eigene Mehrheit
aufbieten konnten und dass es zum ersten Einsatz, zumindest was die Beteiligung der Bundeswehr angeht, nicht
gekommen wäre, wenn nicht wir aus der Opposition heraus diesem Einsatz zugestimmt hätten.
({2})
Ich habe an uns alle eine sehr ernsthafte Bitte: Lassen
Sie uns dafür sorgen, dass diese Beschlüsse nicht zur
Routine werden.
({3})
Wir sollten uns jedes Mal, wenn wir zu einem solchen Beschluss aufgerufen sind, daran erinnern: Es geht um Leben und Tod. Wir schicken Soldaten in einen gefährlichen
Einsatz. Der Einsatz in Mazedonien ist weit weniger gefährlich, als es der in Afghanistan sein wird, über den wir
nächste Woche zu beraten und zu beschließen haben, aber
vergessen wir nicht: Die Soldaten setzen bei jedem Einsatz ihr Leben aufs Spiel! Unsere Gedanken sollten auch
in dieser Stunde bei den Soldaten und ihren Angehörigen
sein, denen wir einen herzlichen Dank aussprechen.
({4})
Es besteht - der Kollege Schockenhoff hat darauf hingewiesen - natürlich ein Zusammenhang zwischen jedem
dieser Bundeswehreinsätze. Dabei geht es zum einen um
die Kapazitäten, um die Ausrüstung und um die
Gefährdungslagen; zum anderen geht es darum, wie eine
Bundesregierung mit dem Parlament umgeht. In der Tat
war das, was die Bundesregierung erst gestern im Hinblick auf die Behandlung des Parlaments vorgeführt hat
- man soll ja mit der Vokabel Skandal etwas zurückhaltend umgehen -, zumindest höchst eigenartig.
({5})
Der Außenminister hat vor dem Auswärtigen Ausschuss - der für die Formulierung des Antrags, mit dem
über diese Einsätze entschieden wird, federführend zuständig ist - in geradezu volmerschen Ausmaßen - mit
Verlaub, Herr Fischer - herumgeeiert und blieb die Antwort auf jede Frage schuldig. Zur gleichen Zeit gab der
Verteidigungsminister eine Pressekonferenz, auf der er
diejenigen Antworten gab, die Herr Fischer dem Auswärtigen Ausschuss nicht geben wollte. Was ist denn das für
ein Parlamentsverständnis?
({6})
Ich appelliere an die Kollegen aus der Koalition: Sie
müssen darüber einmal ein wenig nachdenken! Aber bei
den Grünen ist eh alles zu spät. Sie schicken niemals mehr
irgendwelche einfachen Abgeordneten in die Debatten;
vielmehr redet immer der Einzige, den sie dafür noch haben, nämlich Herr Fischer, der immer wieder spricht.
({7})
Ich habe lange keinen Vertreter der Fraktion der Grünen
zu solchen Themen sprechen hören.
({8})
Herr Scharping hat mit Recht darauf hingewiesen, dass
wir in Mazedonien eine unerwartet erfreuliche Entwicklung beobachten können. Was gleichwohl nach wie vor
fehlt - auch darauf hat der Kollege Schockenhoff hingewiesen -, ist ein umfassendes politisches Konzept zur
Lösung der Probleme auf dem Balkan. Machen wir uns
nichts vor: Diese Gegend stellt nach wie vor ein Pulverfass dar. Der Kosovo-Status ist nach wie vor ungeklärt. Es
gibt erfreuliche Entwicklungen: Slowenien und auch
Kroatien sind inzwischen stabile Demokratien. In Serbien
ist eine hoffnungsvolle demokratische Entwicklung in
Gang gekommen. In Mazedonien ist die Lage - auch dank
der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft - stabiler geworden.
Was wir aber noch nicht haben, ist eine grundlegende
Planung für das, was auf dem Balkan stabilisierend weiter zu geschehen hat. Natürlich ist der Stabilitätspakt erfreulich. Natürlich muss sich die Geberkonferenz darum
bemühen, die wichtigsten materiellen Lücken notdürftig
zu schließen, die dringendste Hilfe zu leisten. Aber das ersetzt nicht ein politisches Gesamtkonzept, das von der
Regelung der politischen Fragen, der Menschenrechtsfragen und der Minderheitenfragen bis hin zu wirtschaftlichen Konstrukten versucht, eine Lösung für diese Region zu finden, die im gesamteuropäischen Interesse liegt.
Jetzt noch ein hoffnungsvoller Gedanke zum Schluss.
Berufen Sie, Bundesregierung, doch im Rahmen der Europäischen Union die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Südosteuropa ein. Ich glaube, hier
könnte nach dem Modell der damaligen KSZE wirklich
Vernünftiges bewirkt werden.
({9})
Auch bitte ich Sie - sosehr wir jetzt, auch mit der Bundeswehr, im Rahmen der NATO aktiv werden -, doch die
europäische Komponente stärker in den Vordergrund zu
rücken. Laeken wird sich mit einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik beschäftigen. Wir als Europäer,
die wir diese Einsätze in Mazedonien bestritten haben,
haben schon etwas geleistet, was eigentlich zu den
Petersberg-Aufgaben der Europäischen Union gehört.
Hier müsste Laeken ein deutliches Signal setzen, dass wir
das, was jetzt schon erfolgreich gemacht worden ist, in die
europäischen Strukturen überführen.
In diesem Sinne wünsche ich, dass wir hier eine große
Mehrheit finden. Ich wünsche aber insbesondere, dass die
Soldaten, die wir jetzt wieder in den Einsatz schicken, heil
und gesund zu uns zurückkehren können.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es war zu erwarten, dass die
Bundesregierung die Mazedonienfrage als Propaganda
für eine erfolgreiche Außenpolitik benutzt. Es ist nicht
originell, was die Kollegen Fischer und Scharping hier gemacht haben. Ich will Ihnen entgegenhalten, dass auch Sie
lernen sollten, dass erfolgreiche Militäraktionen noch
lange kein Nachweis für erfolgreiche Politik sind.
({0})
Wenn man diese Bilanz aufmacht, wird man auch einige andere Tatsachen nicht verschweigen dürfen:
Deutschland hat in den drei Jahren Rot-Grün zweimal aktiv mit anderen Staaten zusammen Krieg geführt, und
zwar gegen Jugoslawien und Afghanistan. Das gilt es festzuhalten. Deutsche Soldaten sind oder waren in
Bosnien, im Kosovo, in Mazedonien, in Osttimor und in
Afghanistan. Ich muss fragen - da Sie hierüber die Auskunft verweigern -, ob ich Dschibuti und Oman dazusetzen muss, ob ich nach dem Irak, nach Kuwait fragen
muss. Die Bundesregierung täuscht die Öffentlichkeit.
Wir wollen endlich wissen, wo deutsche Soldaten stationiert sind oder stationiert werden sollen. Darüber hat der
Kollege Schockenhoff schon gesprochen.
({1})
Die außenpolitischen Debatten landen bereits nach
zwei, drei Sätzen immer wieder bei der Militärfrage. Das
steht mittlerweile im Zentrum. Gestern sprach der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zur Europapolitik einen halben Satz zu sozialen Fragen, aber drei
Seiten zur europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Jede
Regierungserklärung endet darin, dass die außenpolitische Fähigkeit an der Fähigkeit festgemacht wird, Soldaten zu entsenden. Außenpolitik darf aus meiner Sicht
nicht zur Militärpolitik verkommen. Das muss endlich
wieder getrennt werden.
({2})
Die deutsche Außenpolitik ist in weiten Teilen Militärpolitik, was sie nicht sein sollte. Deswegen kann man
die Mazedonien-Entscheidung nicht nur an einer Einzelfrage festmachen, sondern muss dies von der politischen
Linie abhängig machen. Wir haben Nein zur Entsendung
der Truppen gesagt und sagen selbstverständlich auch
Nein zur Verlängerung des Mandats.
({3})
Wenn wir uns aber die Einzelfragen ansehen, was man
ja tun soll und was ich auch wichtig finde, ist doch festzuhalten: Mazedonien wäre der klassische UN-BlauhelmFall gewesen. Beide Konfliktparteien waren einverstanden. Was wir aber in Mazedonien haben, ist ein
Nato-Einsatz.
Man muss auch einmal fragen, ob man die mazedonische Regierung mittlerweile als eine Regierung mit beschränkter Souveränität bezeichnen soll, wenn hier unwidersprochen berichtet wird, unter welchen politischen
Druck Mazedonien gesetzt worden ist und dass die Geberkonferenz immer noch nicht stattgefunden hat, weil
man dieses Druckmittel der Finanzen behalten will. Mit
einer solchen Politik wird nicht stabilisiert, sondern destabilisiert. Wenn Sie das zur Weltpolitik machen wollen:
Bitte sehr, machen Sie so weiter. Dann erntet man das,
was man gesät hat.
({4})
Ich würde auch mit dem Jubel darüber, dass Deutschland endlich Leitnation geworden ist, vorsichtiger umgehen. Mir geht es auf den Keks, ich habe damit nichts am
Hut. Ich würde es zumindest nicht als besonders bedeutsam herausstellen und damit indirekt auch begründen
wollen, dass man ein eigenes Interesse daran hat, solche
Einsätze fortzusetzen. Natürlich will Deutschland damit
auch seine gewachsene Souveränität beweisen.
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass eine Entwaffnung der Konfliktparteien in Mazedonien in der Tat
nicht stattgefunden hat. Hier werden Gerüchte verbreitet.
Ich fasse zusammen: Politisch ist wenig gelöst, die
Außenpolitik wird weiter in Richtung Militärpolitik
betrieben, die Konfliktsituation auf dem Balkan wird
nicht entkräftet. Dazu gehörten eben eine Albanien-Politik, ein Konzept für den Konsovo und ein Konzept für
Jugoslawien und Serbien, was mehr ist, als nur Druck auszuüben. Aus allen diesen Gründen werden wir nicht zustimmen.
Nun soll man vor Weihnachten ja auch etwas Versöhnliches sagen. Ehrlich gesagt, fällt mir das, was die Regierung angeht, schwer.
({5})
Ich habe lange gesucht, ob ich Ihnen nicht ein anspruchsvolles Weihnachtsgedicht mit auf den Weg geben kann.
Ich fand das Weihnachtsgedicht von Hoffmann von
Fallersleben angemessen, das ich Ihnen nicht vorenthalten will:
Morgen kommt der Weihnachtsmann,
kommt mit seinen Gaben.
Trommel, Pfeife und Gewehr,
Fahn‘ und Säbel und noch mehr,
ja, ein ganzes Kriegesheer
möcht‘ ich gerne haben.
Danach agiert offensichtlich diese Regierung. Trommel,
Pfeife und Gewehr, ein ganzes Kriegesheer möchte sie
einsetzen, und das möglichst weltweit. Das ist eben nicht
unsere Politik. Unsere Politik ist konträr und diese Politik
werden wir hier im Parlament auch weiterhin vertreten.
({6})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten
Einsatz auf mazedonischem Territorium.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte Sie,
bei der Stimmabgabe wie immer sorgfältig darauf zu ach-
ten, dass die Stimmkarten Ihren Namen tragen. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgese-
henen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den
Stimmurnen besetzt? - Urne 1 ist noch nicht besetzt. -
Urne 2 ist auch noch nicht besetzt. - Jetzt sind beide Ur-
nen besetzt. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe damit die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der nament-
lichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir setzen jetzt die Beratungen fort, und ich rufe
die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d sowie die Zusatz-
punkte 8 bis 13 auf:
7. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Rudolf Bindig, Angelika Graf
({1}), Hanna Wolf ({2}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Kerstin Müller ({3}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Prävention und Bekämpfung von Frauenhandel
- Drucksachen 14/6540, 14/7539 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf ({4})
Dr. Erika Schuchardt
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Rudolf Bindig, Lilo Friedrich ({5}),
Angelika Graf ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der AbgeWolfgang Gehrcke
ordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Irmingard
Schewe-Gerigk, Claudia Roth ({7}), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung
im In- und Ausland
- Drucksachen 14/5285, 14/6682 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann
Gröhe, Annette Widmann-Mauz, Monika
Brudlewsky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Im Namen der „Ehre“ - Gewalt gegen Frauen
weltweit ächten
- Drucksache 14/7457 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Fischbach, Peter Weiß ({9}), Erika
Reinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Gegen die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Kindern
- Drucksache 14/7610 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Hübner, Rosel Neuhäuser, Sabine Jünger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Kinder vor sexueller Ausbeutung schützen Kindersextourismus bekämpfen
- Drucksache 14/7793 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Hermann Gröhe, Maria Eichhorn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen
in der Bundesrepublik Deutschland und weltweit bekämpfen
- Drucksache 14/7783 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika
Reinhardt, Dr. Maria Böhmer, Hermann Gröhe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Rechte der Frauen in Afghanistan durchsetzen
und stärken - Frauen an politischen Prozessen
beteiligen
- Drucksache 14/7784 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Graf ({12}), Ursula Burchardt, Kerstin
Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD, der Abgeordneten Irmingard ScheweGerigk, Rita Grießhaber, Dr. Angelika KösterLoßack, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ina
Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke,
Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Teilnahme von Frauen am Friedensprozess in
Afghanistan
- Drucksache 14/7815 ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Spirale der Gewalt in Tschetschenien durchbrechen
- Drucksache 14/7795 ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({13}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Tschetschenien-Resolution der VNMenschenrechtskommission
- Drucksachen 14/3186, 14/7809 Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Bindig
Hermann Gröhe
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Rudolf Bindig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Debatte zum diesjährigen Internationalen Tag der Menschenrechte, der bereits
am 10. Dezember war, haben wir uns seit längerer
Zeit vorgenommen, die Rechte von Frauen in den
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Mittelpunkt zu stellen. Die Ereignisse des 11. September
erfordern es jedoch, sich auch generell mit der Lage der
Menschenrechte in einer Zeit zu befassen, die von terroristischen Gewalttaten und ihrer intensiven und aktiven
Bekämpfung geprägt ist. Die freiheitlichen Gesellschaften
stehen vor der Herausforderung, den Kampf gegen den
Terrorismus so zu führen, dass die Menschenrechte nicht
beeinträchtigt werden oder gar auf der Strecke bleiben.
Zu Zeiten des kalten Krieges gab es immer die Versuchung, jenen Staaten, welche bereit waren, sich dem eigenen Lager zuzuordnen, einen Menschenrechtsrabatt zu
gewähren, das heißt, nicht so genau hinzusehen, wie die
innere Struktur aussieht. Dies hat dem Menschenrechtsgedanken geschadet und ihn geschwächt. Jetzt, da sich
eine Staatenkoalition gegen den Terror zusammengefunden hat, besteht wieder die Gefahr, dass wegen des
gemeinsamen Ziels der Terrorismusbekämpfung Menschenrechtsstandards relativiert werden. Diese Versuchung muss im Keim erstickt werden; gerade jetzt
brauchen wir eine streitbare Koalition für die Menschenrechte.
({0})
Eine solche Koalition für die Menschenrechte muss auf
Folgendes achten:
Erstens. Dort, wo im unmittelbaren Konfliktgeschehen
Gewalt unumgänglich ist, müssen strikt der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit eingehalten und das humanitäre
Kriegsvölkerrecht beachtet werden.
Zweitens. Bei der Zusammenarbeit mit anderen Staaten im Rahmen der Koalition gegen den Terrorismus dürfen die Menschenrechte nicht gegen andere Ziele aufgerechnet werden. Allen Versuchen von Staaten, sich
missliebiger oppositioneller Personen oder Gruppen mit
dem Hinweis auf deren terroristisches Potenzial zu entledigen, ist vehement entgegenzutreten. Gewaltsames
oder nicht verhältnismäßiges Vorgehen staatlicher Organe
gegen politisch Andersdenkende sowie gegen religiöse
und ethnische Minderheiten, die für ihre Rechte eintreten,
ist nicht zu rechtfertigen.
({1})
Muslimische Uiguren in China, Oppositionelle in
Simbabwe, Tschetschenen oder Palästinenser dürfen nicht
Opfer der internationalen Strategie gegen den Terrorismus werden.
({2})
Drittens. Ebenso wenig dürfen völkerrechtlich anerkannte Menschenrechtsstandards im Lichte der Terroranschläge relativiert werden. Nicht akzeptabel sind
beispielsweise Überlegungen in Großbritannien, eingegangene Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ruhen zu lassen. Nicht nachvollziehbar ist die Diskussion in US-amerikanischen
Medien, ob es nicht legitim sei, von inhaftierten Terroristen Informationen auch durch Folter zu erlangen. Menschenrechtlich äußerst problematisch ist auch die Ankündigung des amerikanischen Präsidenten, Terroristen den
Prozess nicht vor Zivilgerichten machen zu wollen, sondern vor Militärgerichten ohne Berufungsmöglichkeit und
mit eingeschränkten Verteidigerrechten. Ich frage mich:
Was sind völkerrechtliche Konventionen wert, wenn sie
just im Krisenfall außer Kraft gesetzt werden sollen?
({3})
Viertens. Deshalb müssen wir auch in Deutschland
wachsam sein und dürfen uns nicht für vermeintlich mehr
Sicherheit mit weniger Menschenrechten begnügen. Es
muss alles getan werden, damit erreichte Grund- und
Menschenrechte nicht eingeschränkt werden. So bedarf
es einer sorgfältigen Abgrenzung von terroristischen Aktivitäten und legitimem politischen Widerstand. Eine
Weitergabe von personenbezogenen Daten im Rahmen
der internationalen Kooperation darf nicht dazu führen,
dass Betroffene bei einer Rückkehr gefährdet sind oder
dass Betroffenen Folter bzw. grausame und unmenschliche Behandlung oder gar die Todesstrafe droht.
Es ist eine gute Tradition in diesem Hause, dass wir in
menschenrechtlichen Fragen eine möglichst breite gemeinsame Basis suchen. Das darf uns nicht daran hindern,
klar zu machen, wo es Probleme und Differenzen gibt.
Seit Jahren haben wir Menschenrechtspolitikerinnen und
Menschenrechtspolitiker aller Fraktionen uns intensiv mit
schwierigen Fragen des Ausländer- und Asylrechts befasst. Gemeinsam waren wir im Kern der Auffassung,
dass geschlechtsspezifische Verfolgungsgründe und
nicht staatliche Verfolgung eine stärkere Berücksichtigung finden sollten.
({4})
Für uns Menschenrechtler war es doch eigentlich gemeinsam immer wieder klar, dass der Not leidende
Mensch, dem Verfolgung, Quälerei oder gar Folter droht,
nicht verstehen kann, dass seine Rechtsstellung davon abhängen soll, ob der Peiniger ein staatlicher, quasi-staatlicher oder nicht staatlicher Akteur ist.
Nun endlich hat ein Innenminister in einem Gesetzentwurf dieses Problem aufgegriffen und hat Vorschläge
unterbreitet, nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer
Verfolgung mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Und was
geschieht? Gerade gegen diese Bestimmungen wird von
einigen führenden CDU- und CSU-Leuten polemisiert
und unter Appell an einfache Instinkte Stimmung gemacht. Ich bitte Sie von den Unionsparteien, die Sie sich
im Menschenrechtsbereich engagieren: Treten Sie diesem
Verhalten entgegen! Machen Sie Ihren Einfluss geltend,
damit wir gemeinsam einen Fortschritt erreichen können!
({5})
Um klar zu machen, dass es auch in Zeiten gemeinsamen Kampfes gegen den Terrorismus auch für wichtige Partnerländer keinen Menschenrechtsrabatt geben
kann, haben wir für diese Debatte einen EntschließungsRudolf Bindig
antrag zur Lage in Tschetschenien mit dem Titel „Die
Spirale der Gewalt in Tschetschenien durchbrechen“
vorgelegt. Leider muss festgestellt werden, dass der
Tschetschenienkonflikt jetzt in seinen dritten Winter
geht. Ein Ende des von beiden Seiten mit aller Härte geführten Partisanenkrieges ist nicht in Sicht. Auch und
gerade eine differenzierte Betrachtung des Konfliktes
führt zu der Erkenntnis, dass nur einige Gruppen der
tschetschenischen Kämpfer mit dem internationalen radikal-islamischen Terrorismus verbunden sind. Eine
pauschale Gleichsetzung von Tschetschenen und Terrorismus ist nicht zulässig.
({6})
Es gibt auch historisch begründete lokale Ursachen dieses
Konfliktes, die vom Willen der Tschetschenen nach weitgehender Selbstverwaltung geprägt sind.
Das russische Vorgehen in der Region stand und steht
nicht im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht der
Europäischen Menschenrechtskonvention und mit dem
OSZE-Verhaltenskodex zu politischen und militärischen
Aspekten der Sicherheit. Bis heute reißen Meldungen
über schwere und zum Teil systematische Menschenrechtsverletzungen durch russische Sicherheitskräfte,
aber auch durch tschetschenische Kämpfer nicht ab. Insbesondere bei so genannten Säuberungsaktionen werden
ganze Dörfer durch russische Sicherheitskräfte überfallen und ausgeplündert. An Straßensperren sind Zivilisten
Demütigungen und schweren Übergriffen an Leib und
Leben sowie an Hab und Gut ausgeliefert. Weitgehende
Rechtlosigkeit der Opfer und Straflosigkeit für die Täter
steigern das Klima der Gewalt.
Durch meine eigene Arbeit als Berichterstatter des Europarates für die Russische Föderation und als Mitglied
einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Parlamentariern
der Russischen Föderation und des Europarates zu Tschetschenien konnte ich mich wiederholt - erst in der letzten
Woche erneut - über die menschenrechtliche Lage in
Tschetschenien informieren. Es gibt eine merkwürdige
Mischsituation von Maßnahmen zur Verhinderung, Reduzierung, Aufklärung und sogar Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen einerseits und von Berichten
über neue Menschenrechtsverletzungen durch russische
Militärkräfte andererseits.
So kann der Beauftragte des russischen Präsidenten
zur Förderung der Menschenrechte in Tschetschenien,
Kalamanow, darlegen, dass er mehr als 22 000 Beschwerden und Anklagen aufgenommen und dokumentiert hat
und die Fälle, die kriminellen Charakter haben, an die zivilen und militärischen Staatsanwälte weitergeleitet hat.
Die Staatsanwaltschaften haben einige Hundert Fälle untersucht. Es sind schon einige Verurteilungen zu Mord,
Vergewaltigung, Misshandlung, Raub und Ausplünderung ergangen. In vielen Fällen allerdings konnte angeblich kein Täter ermittelt werden. Die Strafen sind eher gering oder sind suspendiert worden.
Obwohl es Anordnungen gibt, dass bei Säuberungsaktionen Vertreter der Staatsanwaltschaft und der lokalen Administration beteiligt werden sollen, um weitere Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden, wird dies immer wieder
aufs Gröbste missachtet. Während also Staatsanwälte untersuchen und Dekrete und Erlasse mit der Zielsetzung getätigt
werden, die Menschenrechtslage zu verbessern, werden
gleichzeitig unter Missachtung dieser Anordnungen neue
schwere Menschenrechtsverletzungen begangen.
Die Verantwortung liegt eindeutig bei der russischen
Regierung. Sie muss für eine Beachtung der eigenen
Rechtsordnung sorgen und eine Beachtung der international eingegangenen Verpflichtungen durchsetzen. Da dieses nicht hinreichend geschieht, fordern wir die Bundesregierung erneut auf, gemeinsam mit den Partnern in der
EU darauf hinzuwirken, dass bei der 58. Tagung der UNMenschenrechtskommission die Lage in Tschetschenien
in geeigneter Weise - sei es in einer Resolution, sei es in
einem chairman’s statement -, sei es wieder auf die Tagesordnung gesetzt wird.
({7})
Beim Besuch eines Flüchtlingslagers mit Binnenflüchtlingen in Tschetschenien mussten wir feststellen,
dass sich die Bedingungen gegenüber der Lage vor einem
Jahr deutlich verschlechtert haben. Hier Abhilfe zu schaffen gehört zu den elementaren humanitären und menschenrechtlichen Anliegen. Auch auf diesem Gebiet muss
die russische Regierung an ihre eigene Verantwortung erinnert werden. Auch müssen Wege gesucht werden, mit
den bewährten Trägern der humanitären Hilfe eine Besserung zu erreichen.
Damit der Bundestag in der Frage der menschenrechtlichen und humanitären Lage in Tschetschenien klar Stellung bezieht, möchte ich Sie bitten, dem Entschließungsantrag, den wir dazu vorgelegt haben, zuzustimmen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Bevor ich die
nächste Rednerin aufrufe, gebe ich Ihnen das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu dem vorherigen
Tagesordnungspunkt bekannt: Abgegebene Stimmen 615.
Mit Ja haben gestimmt 574, mit Nein haben gestimmt 35.
Es gab sechs Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist
damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 614;
davon
ja: 573
nein: 36
enthalten: 6
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({2})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Ursula Burchardt
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({6})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({7})
Harald Friese
Arne Fuhrmann
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({8})
Angelika Graf ({9})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({10})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({11})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({12})
Walter Hoffmann
({13})
Iris Hoffmann ({14})
Frank Hofmann ({15})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Volker Jung ({16})
Johannes Kahrs
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({17})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({18})
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({19})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({20})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({21})
Jutta Müller ({22})
Christian Müller ({23})
Franz Müntefering
Volker Neumann ({24})
Gerhard Neumann ({25})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Dr. Edelbert Richter
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Michael Roth ({26})
Birgit Roth ({27})
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({28})
Ulla Schmidt ({29})
Silvia Schmidt ({30})
Dagmar Schmidt ({31})
Wilhelm Schmidt ({32})
Dr. Frank Schmidt
({33})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({34})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({35})
Brigitte Schulte ({36})
Reinhard Schultz
({37})
Volkmar Schultz ({38})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({39})
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Simone Violka
Ute Vogt ({40})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({41})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({42})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({43})
Helmut Wieczorek
({44})
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({45})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({46})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({47})
Waltraud Wolff
({48})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({49})
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Klaus Bühler ({50})
Hartmut Büttner
({51})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Peter H. Carstensen
({52})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({53})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({54})
Axel E. Fischer ({55})
({56})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({57})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({58})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({59})
Gerda Hasselfeldt
Hansgeorg Hauser
({60})
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({61})
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({62})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({63})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({64})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({65})
({66})
Dr. Martin Mayer
({67})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Hans Michelbach
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({68})
Elmar Müller ({69})
Bernd Neumann ({70})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Eduard Oswald
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({71})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({72})
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth ({73})
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Dr. Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({74})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({75})
Andreas Schmidt ({76})
Michael von Schmude
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Gerhard Schulz
Diethard Schütze ({77})
Clemens Schwalbe
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Johannes Singhammer
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({78})
Michael Stübgen
Dr. Rita Süssmuth
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Arnold Vaatz
Andrea Voßhoff
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß ({79})
Gerald Weiß ({80})
Heinz Wiese ({81})
Hans-Otto Wilhelm ({82})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({83})
Volker Beck ({84})
Angelika Beer
Grietje Bettin
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({85})
Joseph Fischer ({86})
Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger
Kerstin Müller ({87})
Winfried Nachtwei
Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({88})
Werner Schulz ({89})
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({90})
Margareta Wolf ({91})
FDP
Ina Albowitz
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nach Karl
Jaspers ist Hoffnungslosigkeit schon die vorweggenommene Niederlage. Die heutige Debatte zum Tag der
Menschenrechte und der Besuch der Trägerin des Weimarer Menschenrechtspreises, Shahnaz Bokhari, in Deutschland sind für mich Signale der Hoffnung. Wir alle bekräftigen, dass die Menschenrechte von Frauen und Mädchen
unveräußerliche Bestandteile der allgemeinen Menschenrechte sind. Im Kampf um die Durchsetzung der Frauenrechte als Menschenrechte bringen wir unsere Hoffnung
zum Ausdruck. Wenn man den Gedanken von Karl Jaspers
aufnimmt und weiterführt, könnte man zu folgender These
gelangen: Hoffnung ist auch schon ein erster Schritt zum
Erfolg.
Wir sind uns einig und wir haben den Traum, dass die
Durchsetzung der Menschenrechte speziell für Frauen
und Mädchen gelingen kann. Wir dürfen nicht ablassen,
daran zu arbeiten, dass dieser Traum Wirklichkeit wird.
Die Realität ist aber erschreckend grausam. Die Anschläge von New York und Washington waren Terrorakte
gegen die Zivilisten und Anschläge auf die zivilisierte
Welt. Uns allen werden die schrecklichen Ereignisse des
11. September zeitlebens vor Augen sein. Dank des mutigen und besonnenen Kampfes der USA und ihrer Verbündeten konnte Afghanistan vom Taliban-Regime befreit
werden. Im Zuge dieses internationalen Kampfes gegen
den Terrorismus wurde das Elend der Frauen in Afghanistan unter den Taliban sichtbarer denn je.
Seit der Machtübernahme der Taliban wurden Frauen
in Afghanistan Opfer von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen. Fanatiker haben im Namen von Religion und Kultur die Bildung und Ausbildung von
Mädchen untersagt, die medizinische Versorgung für
Frauen eingestellt und die Arbeit von Frauen außerhalb
des Hauses verboten. Die elementaren Grundrechte der
Frauen wurden missachtet, Menschenrechtsverletzungen
an Frauen standen auf der Tagesordnung der Taliban.
Manchmal schien es uns, als hätten die Taliban den
Frauen das Atmen unter ihren Schleiern verboten.
Einige Frauen, so wie die Mitglieder der RAWA, beweisen Mut. Trotz Lebensgefahr setzen sie sich für die Freiheit
ihres Landes und für die Freiheit der Frauen ein und kämpfen dafür. Diesen Kampf müssen wir alle mit großem Nachdruck unterstützen; denn er ist noch lange nicht gewonnen.
({0})
Für meine Fraktion steht dabei fest: Ohne die aktive Beteiligung von Frauen ist in Afghanistan kein dauerhafter
Friede und keine Demokratie möglich. Deshalb fordern
wir die Bundesregierung und insbesondere Frau MinisteVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({1})
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({2})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Klaus Kinkel
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({3})
Detlef Parr
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Dr. Guido Westerwelle
Nein
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
Manfred Carstens ({4})
Norbert Otto ({5})
Willy Wimmer ({6})
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Ursula Lötzer
Heidemarie Lüth
Pia Maier
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Christine Ostrowski
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Enthalten
SPD
Gudrun Roos
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Monika Knoche
Hans-Christian Ströbele
PDS
Manfred Müller ({7})
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des
Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({8})
Behrendt, Wolfgang* Bierling, Hans-Dirk** Prof. Dr. Blank, Joseph-Theodor** Lörcher, Christa*
SPD CDU/CSU CDU/CSU fraktionslos
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung der NATO
rin Wieczorek-Zeul, die heute, wie wir sehen, nicht hier
sein kann, auf,
({9})
diesen Frauen eine umfassende Hilfe zukommen zu lassen.
Darunter verstehen wir neben schnellen Hilfsmaßnahmen
aber auch langfristige Programme im Bildungs- und Gesundheitsbereich; denn dort sind sie dringend notwendig.
„Die Zukunft des Planeten hängt von den Frauen ab“ das hat der diesjährige Friedensnobelpreisträger Kofi
Annan bei seiner Eröffnungsrede der Frauenkonferenz
„Peking plus 5“ im letzten Jahr in New York gesagt. Dieser Satz ist nach den Ereignissen des 11. September aktueller denn je. Lassen Sie uns gemeinsam daran mitwirken, die Zukunft unseres Planeten aktiv und positiv zu
gestalten. Dabei gibt es viel zu tun. Der Horrorkatalog
der Menschenrechtsverletzungen an Frauen beschränkt
sich nämlich längst nicht mehr nur auf Afghanistan.
Es liegt mir am Herzen, an dieser Stelle zwei äußerst
gravierende Menschenrechtsverletzungen an Frauen anzusprechen, zu denen die Unionsfraktion aktuell zwei
weitere Anträge vorgelegt hat. Zum einen geht es um die
so genannten Schandemorde und zum anderen um die
Genitalverstümmelungen.
Ich habe Shahnaz Bokhari eingangs bereits erwähnt,
ihren Mut und ihre bewundernswerte Stärke allerdings
noch nicht. Wie sie als Leiterin eines Frauenhauses in Pakistan anderen Frauen geholfen hat und hilft, verdient unseren uneingeschränkten Respekt, unsere Anerkennung
und unsere Unterstützung.
({10})
Der Weimarer Menschenrechtspreis ist Ausdruck dafür.
Viele Frauen, die bei ihr Zuflucht gefunden haben, wurden von ihren Ehemännern grausam verstümmelt.
Getötet im Namen der Ehre:
Ihre Familie verdächtigte sie, mit dem Nachbarn eine
Liebesbeziehung zu haben. Deshalb musste Ghazala
sterben. Der Mörder war ihr eigener Bruder. Er zündete sie an; sie starb eines qualvollen Todes. Ihr
nackter, verbrannter Körper lag zwei Stunden lang
unbeachtet auf der Straße, weil niemand etwas damit
zu tun haben wollte.
So heißt es in einem Bericht von Amnesty International.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Fall von
vielen. 5 000 Frauen und Mädchen werden nach UNSchätzungen jährlich im Namen der Ehre ermordet, zum
Selbstmord gezwungen, gesteinigt, verbrannt oder mit
Säure übergossen. Dabei müssen sie den Ehebruch noch
gar nicht begangen oder sich mit einem männlichen Nachbar gar nicht unterhalten haben. Allein der Verdacht oder
das Gerücht, sich nicht an den traditionellen Verhaltenskodex gehalten zu haben, reicht aus, um Frauen zu
Opfern der meist familiären Selbstjustiz zu machen.
Mit diesem Antrag möchten wir die Öffentlichkeit
auch für diese Schandemorde wachrütteln. Es muss etwas
gegen diese Frauen verachtenden Menschenrechtsverletzungen unternommen werden; denn es geht nicht um abstrakte Opferzahlen, es geht um Namen, um Gesichter
von Frauen, die ermordet oder verstümmelt worden sind,
und es geht darum, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen und angemessen dafür bestraft werden.
({11})
Die Länder, in denen so genannte Schandemorde begangen oder gar offiziell zugelassen werden, müssen vonseiten der Bundesregierung nachdrücklich aufgefordert
werden, ihre internationalen Verpflichtungen einzuhalten.
168 Staaten sind dem Übereinkommen zur Beseitigung
jeder Form von Diskriminierung der Frau der Vereinten Nationen inzwischen beigetreten, zum Beispiel auch
Pakistan. Aber der Beitritt allein reicht nicht aus; das Abkommen muss auch umgesetzt werden.
({12})
Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit müssen
auch in den Bereichen Bildung und Justiz größere präventive Anstrengungen zur Verhinderung von Schandemorden unternommen werden. Sie sind gefordert, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank! Unterstützen
Sie spezielle Projekte wie die von UNIFEM oder von der
Juristenvereinigung für Menschenrechte „Mizan“! Ein
falsches Verständnis der so genannten Familienehre
gehört in die Mottenkiste der ausgedienten Mythen, aber
nicht in die Gerichtssäle dieser Welt.
({13})
130 Millionen Mädchen und Frauen leiden weltweit an
den Folgen von Genitalverstümmelung. Für mich ist
Genitalverstümmelung ein Akt der Folter. Sie kann nicht
mit der Berufung auf eine Religion oder Kultur gerechtfertigt werden. Der Deutsche Bundestag hat am 8. Mai
1998 fraktionsübergreifend ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung alle Möglichkeiten einsetzen soll, um die Genitalverstümmelung weltweit zu
bekämpfen. Mit unserem aktuellen Antrag bekräftigen
wir diesen wichtigen Appell an die Bundesregierung. Wir
erwägen zudem einen verbesserten ausländerrechtlichen
Aufenthaltsstatus für die Frauen, bei denen die Dauerhaftigkeit ihres Aufenthalts absehbar ist.
({14})
Deshalb können Sie sich Ihre Ratschläge, auch wenn sie
gut gemeint sind, wirklich sparen, Herr Bindig.
Es ist gut, dass die Bundesrepublik Deutschland in manchen Ländern schon Projekte zur Bekämpfung der Genitalverstümmelung unterstützt. Doch dies sind erste Schritte.
Ihre Anstrengungen bei Regierungsverhandlungen sind sehr
auf den Schwerpunkt Westafrika beschränkt. Meines Erachtens werden auch die Möglichkeiten des Drucks auf alle
Länder, in denen Genitalverstümmelung weiter toleriert
wird, nicht nachhaltig genug ausgeschöpft. Zudem ist die
finanzielle Unterstützung der Projekte zur Bekämpfung
der Genitalverstümmelung noch nicht ausreichend. Dies geben Sie in der Antwort auf die Anfrage an die Bundesregierung auch selbst zu. 5,8 Millionen DM, die von Ministerin
Wieczorek-Zeul für das Jahr 2000 angekündigt wurden,
sind auf vier Jahre gestreckt worden, statt sie in einem einzigen Jahr einzusetzen. Ich denke, dies spricht für sich.
Es geht darum, die Beschlüsse der Weltfrauenkonferenz umzusetzen. Die Länder, die damals das Schlussdokument und alle anderen Vereinbarungen der Pekinger
Weltfrauenkonferenz und der Konferenz „Peking plus 5“
in New York akzeptiert haben, müssen von uns täglich an
die gemachten Versprechungen und Verpflichtungen erinnert und ermahnt werden. Die Bundesregierung muss in
ihren internationalen Beziehungen noch nachdrücklicher
als bisher auf die Durchsetzung der Frauenrechte als Menschenrechte hinwirken.
({15})
Es geht aber auch um den Kampf gegen die Genitalverstümmelung in der Bundesrepublik Deutschland.
Es kann nicht sein, dass in unserem Land Fälle der Genitalverstümmelung entdeckt werden, ohne dass etwas dagegen getan werden kann. Deshalb muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass Genitalverstümmelung von
den Staatsanwaltschaften in der Bundesrepublik von sich
aus, also ex officio, verfolgt wird.
Achten Sie bitte
auf die Zeit.
Ich komme
zum Schluss.
Genitalverstümmelung ist nämlich nicht nur ein Verstoß gegen die Menschenwürde; sie ist eine schwere Körperverletzung im Sinne des Strafgesetzbuches.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist nicht genug,
zu wissen; man muss es auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen; man muss es auch tun. Wir alle wollen,
dass Frauenrechte als Menschenrechte weltweit respektiert und umgesetzt werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich muss noch
etwas aus der vorigen Debatte - es war die Wirtschaftsdebatte - nachtragen. Ich bin von den Protokollanten darauf hingewiesen worden, dass der Abgeordnete Hans
Georg Wagner den Begriff „Volksverhetzer“ benutzt hat.
Das entspricht nicht parlamentarischem Brauch. Dafür
muss ich ihm einen Ordnungsruf erteilen.
Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat die
Abgeordnete Christa Nickels.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Nach dem 11. September wird nichts mehr so sein, wie
es war.“ Dieser Satz hat sich ebenso in unsere Köpfe eingebrannt wie die schrecklichen Bilder der brennenden
Twin Towers in New York.
Wir Bürger der westlichen Hemisphäre hatten uns zumindest in unserem alltäglichen Lebensgefühl in einer
Welt eingerichtet, in der es normal zu sein schien, dass wir
weder Hunger noch Krieg, noch organisierte Grausamkeiten selber zu erdulden haben. Bei allem Engagement
haben wir in einer Mischung aus Überforderung und Verdrängung hingenommen, dass andernorts auf unserem
Planeten Menschen massenhaft um Hab und Gut, Gesundheit, Würde, Leib und Leben gebracht wurden und
dass sich Politik auch im Namen unserer Interessen in den
verschiedensten Regionen der Welt nicht gescheut hat,
Teufel mit Beelzebub austreiben zu wollen.
Wir haben nach dem Ende der Blockkonfrontation die
Friedensdividende für uns eingefordert und dabei hingenommen, dass ganze Weltregionen einer Erosion staatlicher und institutioneller Ordnung anheim fielen.
Schreckensszenarien in Ländern wie Sierra Leone, Somalia, Ruanda oder dem Kongo in den 90er-Jahren, denen
viele Hunderttausend Menschen zum Opfer fielen, haben
uns aufgewühlt und betroffen gemacht, aber bei weitem
nicht so wie die Ereignisse am 11. September. Warum?
Ich glaube, wir haben erst am 11. September kollektiv begriffen, was Globalisierung tatsächlich bedeutet: Es gibt
auf Dauer keine Zonen „geteilter Sicherheit“. Chaos, Terror, Ausbeutung und Verfolgung in einem Teil der Welt
betreffen über kurz oder lang uns alle.
Der 11. September stellt die Menschenrechtspolitik vor
neue Herausforderungen. Afghanistan zeigt, dass zusammenbrechende staatliche Ordnungen Brutstätten für Menschenrechtsverletzungen sind - bis hin zur Gefährdung des
Weltfriedens. In solchen „schwarzen Löchern der Ordnungslosigkeit“ fällt der Staat als Garant von Rechtsstaatlichkeit und Adressat von Menschrechtspolitik aus. Deshalb
ist der Aufbau von Zivilgesellschaften in diesen Ländern so
wichtig und deshalb brauchen wir „nation building“. Solange stabile, legitimierte Regierungen fehlen, bleiben internationale Menschenrechtskonventionen wirkungslos.
Den auf dem Petersberg ausgehandelten Zweijahresplan zum politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes und die Einigung auf eine Übergangsregierung hätte noch vor wenigen Wochen niemand
so für möglich gehalten. Dieser Prozess ist nicht frei von
Risiken. Er kann scheitern. Er mutet dem geschundenen
afghanischen Volk ungeheuer viel zu; aber er gibt ihm
auch seine Würde zurück, gerade weil er auf die Kraft und
den Willen der Afghanen setzt, ohne sie allein zu lassen.
({0})
Zu dieser Unterstützung gehört unabdingbar eine vom
UN-Sicherheitsrat mandatierte Schutztruppe. Nur so kann
verhindert werden, dass Warlords umgehend die Macht an
sich reißen und das Land in einen Vor-Taliban-Zustand
zurückfällt.
Die Problematik von Ländern, in denen die Regierung
entweder die Kontrolle über Bürgerkriegsparteien oder
marodierende Banden verloren hat oder sich nur noch
mittels der Unterdrückung von Teilen der Bevölkerung an
der Macht halten kann, zeigt aber auch, wie dringlich die
Anerkennung nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung ist.
({1})
Unser Menschenrechtsausschuss hat gleich zu Beginn
dieser Legislaturperiode mit einer viel beachteten Anhörung dafür gesorgt, dass dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Ich bin froh, dass die hartnäckigen Bemühungen dazu geführt haben, diese
Fluchtgründe in den Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz
aufzunehmen. Ich setze darauf, dass diese menschenrechtliche Notwendigkeit die erforderlichen Mehrheiten
findet. Angesichts der parteiübergreifenden Empörung
über die desolate Menschenrechtslage der Frauen in Afghanistan kann ich mir wirklich kein Scheitern mehr vorstellen; es sei denn, man hätte nur Krokodilstränen geweint.
({2})
Dass Menschenrechte auch Frauenrechte sind, war für
viele politische Entscheidungsträger hierzulande eine Erkenntnis, mit der man sich schmücken konnte, wenn man
vor Frauenverbänden aufzutreten hatte, die aber ansonsten irrelevant war. Dann kam der 11. September 2001 und
die Augen der Weltöffentlichkeit richteten sich auf Afghanistan. Seitdem kann man täglich in den Medien erfahren, was Menschenrechtsverletzungen an Frauen bedeuten.
Die Taliban haben ihre Macht von Anfang an auch dadurch stabilisiert, dass sie Frauen und Mädchen systematisch entrechtet haben. Begründet wurde diese Menschenrechtsverletzung durch den Verweis auf Religion und
Kultur. Tatsächlich aber erfüllen sie gezielt eine machterhaltende Funktion. Gewalt gegen Frauen und die gewaltsame Festschreibung eines tradierten Frauenbildes reduzieren und fixieren die Frau auf den Status eines
ausbeutbaren Objekts und werden als brutales Instrument
genutzt, um religiöse, soziokulturelle und ethnische Identität herzustellen. Darum ist es unabdingbar, dass die
Frauen und Mädchen Afghanistans von Anfang an aktiv
und gleichberechtigt am Friedens- und Wiederaufbauprozess teilnehmen können.
({3})
Zugleich darf uns die Situation in Afghanistan nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschenrechtsverletzungen
an Frauen auch in vielen anderen Staaten der Erde gang
und gäbe sind: in Ländern wie zum Beispiel Pakistan,
Saudi-Arabien, Ägypten, Bangladesch, in der Türkei und
in zahlreichen afrikanischen Staaten. In den vorliegenden
Anträgen werden mit Genitalverstümmelungen und
Schandemorden lediglich zwei besonders drastische
Formen der Gewalt angeprangert. Das Muster, das diesen
systematischen Angriffen auf die Menschenwürde von
Frauen zugrunde liegt, ist immer dasselbe: Die Taten
selbst werden als kulturelle oder religiöse Bräuche gerechtfertigt und deshalb von den Regierungen zwar nicht
erlaubt, aber geduldet. Die Taten selbst werden verschwiegen. Die Opfer werden mundtot gemacht und die
Täter straflos gestellt. Diese Unkultur der Straflosigkeit
muss endlich beendet werden.
({4})
Der Internationale Strafgerichtshof wird dringend gebraucht. Die Terrorismusbekämpfung darf nicht zu einer Aufweichung von Menschenrechtsstandards führen.
Warnzeichen - Kollege Bindig hat darauf hingewiesen gibt es aber leider viele. Die britische Regierung hat einen
Entwurf für ein Notstandsgesetz vorgelegt, in dem unter
anderem die Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen ohne
Anklage oder Verfahren vorgesehen ist, eine Maßnahme,
die gegen Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt.
Am 13. November 2001 hat US-Präsident George
Bush eine Verfügung unterzeichnet, mit der er sich das
Recht vorbehält, ausländische Terroristen vor ein Militärgericht statt vor ein Strafgericht zu stellen. Vor nicht allzu
langer Zeit haben die westlichen Demokratien Staaten wie
China, Ägypten oder Peru noch wegen heimlicher Prozesse und des Einsatzes von Militärgerichten kritisiert.
Wenn nun die USA als eine der größten, angesehensten
und ältesten Demokratien der Welt zu rechtsstaatlich und
menschenrechtlich bedenklichen Mitteln im Kampf gegen den Terrorismus greifen, dann machen sie selbst die
Verletzung von Menschenrechten in den Staaten, in denen
wir noch um die Anerkennung von Menschenrechten
kämpfen müssen, salonfähig, obwohl die USA zu deren
Verteidigung in den Kampf gegen Osama Bin Laden und
sein Terrornetzwerk gezogen sind. Alarmieren muss uns
auch die Tatsache, dass die Biowaffenkonferenz in Genf
soeben am Verhalten der USA gescheitert ist.
Nicht von der Hand zu weisen ist auch die Gefahr, dass
die stillschweigend geduldete Untätigkeit von Regierungen angesichts von Menschenrechtsverletzungen jetzt
noch größer wird oder diese Untätigkeit gar als Mittel der
Terrorbekämpfung legitimiert wird. Darum fordern die
Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die erfreuliche Intensivierung der deutsch-russischen Beziehungen nach dem Besuch von Präsident Putin
dazu zu nutzen, gegenüber Russland darauf zu drängen,
dass die russische Regierung ihre internationalen Verpflichtungen einhält und auch in Tschetschenien die Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch die Streitkräfte sicherstellt.
({5})
Nach dem 11. September brauchen wir weltweit nicht
weniger, sondern mehr Menschenrechte.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt
die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Ende des Jahres 2001 geschehen in vielen Regionen dieser Welt Menschenrechtsverletzungen in unterschiedlichster Form: Diskriminierung von Minderheiten, Vertreibung, Folter, Mord, Zerstörung und immer wieder
Vergewaltigungen, Frauenhandel, Zwangsprostitution,
Verschleppung von Frauen, Ermordung von Frauen in den
islamischen Staaten, da sie angeblich die Familienehre
verletzt haben, Genitalverstümmelungen, Unterdrückung
bis hin zur totalen Entrechtung von Frauen.
Frauenrechte sind Menschenrechte. Diese Botschaft
der UN-Weltfrauenkonferenzen wird nach wie vor von
vielen Machthabern, von vielen Staaten und auch von
großen Teilen der Zivilbevölkerung nicht wirklich ernst
genommen. Gerade deshalb haben wir zum Schwerpunkt
der heutigen Debatte anlässlich des Tages der Menschenrechte, der am Montag, dem 53. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, war, die Situation von
Frauen gemacht.
Die Menschenrechtssituation in Afghanistan war eben
kein Beweggrund für die Militäroperation „Enduring
Freedom“. Das vollständige Verdrängen der afghanischen
Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und aus der Arbeitswelt, von Mädchen aus den Schulen sowie von kranken Frauen aus den Krankenhäusern war in den letzten
fünf Jahren schmerzliche Realität, aber kein Anlass, zum
Beispiel eine Allianz gegen die Verletzung von Frauenrechten zu schmieden.
Der Allianz gegen die Terroranschläge in den USA
kommt jetzt eine große Chance zu. Aber sie birgt auch Gefahren. An dieser Antiterrorallianz, die zu schmieden
mühsam genug war, sind einige Staaten beteiligt, in denen
massive Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Lassen
Sie mich hier nur Pakistan und Saudi-Arabien erwähnen.
Gefahren birgt die Antiterrorallianz, weil die Unterscheidung zwischen Terroristen und legitimen Freiheitskämpfern verwischt zu werden droht. Gefahren birgt sie, weil
beim Vorgehen gegen Terroristen grundlegende Normen
des Völker- und Menschenrechts außer Kraft gesetzt werden können. Gefahren birgt sie, weil die Menschenrechte
zur Nebensache zu geraten drohen. Das, meine Damen
und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir
nicht zulassen, weder in Tschetschenien noch in der
Volksrepublik China, weder in Pakistan noch in SaudiArabien.
({0})
Die Chancen für Afghanistan ergeben sich daraus,
dass die für Frauen jahrelang aussichtslose Menschenrechtssituation positiv verändert werden kann. Die
Chance eines absehbaren Endes der massiven Militärschläge liegt darin, dass Frauen im Rahmen der islamischen Kultur wieder am gesellschaftlichen Leben partizipieren können und vor allem den Friedensprozess und die
Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen mitgestalten können. Wir sind uns alle einig: Ohne
die Beteiligung von Frauen wird es keine stabile Neuordnung in Afghanistan geben.
({1})
Dies wird zu Recht in dem Gruppenantrag, an dem die
FDP mitgewirkt hat, unter anderem gefordert.
Der Geberkonferenz für Afghanistan nächste Woche
kommt große Bedeutung zu. Denn sie muss mit ihren Entscheidungen deutlich machen, dass Frauen am Wiederaufbau beteiligt werden und Projekte mit dem Ziel des Zugangs von Frauen und Mädchen zu Bildung, Erwerbsarbeit und medizinischer Versorgung Priorität haben müssen. Die Geberkonferenz muss die Koordinierung der vielen guten Initiativen und kompetenten NGOs unterstützen, damit die ausreichend zur Verfügung stehenden
Gelder angesichts des bevorstehenden Winters rechtzeitig
die Menschen erreichen, die in den letzten Jahren Not gelitten haben und jetzt noch Not leiden.
({2})
Die Frauen in Afghanistan haben in den letzten Jahren
mit am meisten gelitten. Das war für sie besonders erniedrigend, weil sie andere Zeiten erlebt hatten. Sie hatten teil am gesellschaftlichen Leben, haben in der Verwaltung, in der Regierung gearbeitet, und zwar zu einem
hohen Prozentsatz. Sie haben in den letzten Jahren unter
dem Talibanregime nicht aufgegeben, sondern mit ihren
sehr begrenzten Möglichkeiten versucht, wenigstens etwas Bildung, Wissen und Sprachkenntnisse jungen
Mädchen und anderen Frauen zu vermitteln. Auch deshalb muss den Frauen in Afghanistan für die Zukunft eine
entscheidende Schlüsselrolle zukommen.
({3})
Lassen Sie mich zu einem zweiten Problemfeld, zu
dem die FDP-Bundestagsfraktion einen Antrag eingebracht hat, einige Worte sagen, nämlich dem auch vom
Kollegen Bindig angesprochenen Tschetschenien-Konflikt. Die FDP-Fraktion hat schon mit ihrem Antrag im
April letzten Jahres zur vorletzten UN-Menschenrechtskonferenz auf die Menschenrechtsverletzungen beim Vorgehen des russischen Militärs hingewiesen. Wir sind uns
hier im Hause einig, dass sich alle am Tschetschenienkonflikt Beteiligten natürlich an das Völkerrecht, an humanitäre Verpflichtungen und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu halten haben.
Leider ist es nicht gelungen, diesen Antrag so rechtzeitig zu beraten, dass er zur vorletzten UN-Menschenrechtskonferenz vom Bundestag als Signal nach Genf
hätte gesandt werden können. So blieb nichts anderes
übrig, als ihn durch den Änderungsantrag „Tschetschenien nicht vergessen“ zu aktualisieren. Ich darf konstatieren, dass es in vielen Punkten mit dem später von den Koalitionsfraktionen eingereichten Entschließungsantrag
Übereinstimmungen gibt. Ich sehe die FDP-Fraktion als
Initiator dafür, dass es zu diesem Entschließungsantrag
gekommen ist.
({4})
Wir stimmen ihm im Wesentlichen wegen zwei Punkten nicht zu. Deshalb hat es im letzten Moment keine Einigung gegeben; unsere Forderungen gehen über die in
dem Antrag der Koalitionsfraktionen hinaus. Wir fordern
nämlich zum Ersten, dass die völkerrechtliche ZulässigSabine Leutheusser-Schnarrenberger
keit des russischen Vorgehens in Tschetschenien im Rahmen des NATO-Russland-Rates thematisiert wird.
({5})
Das ist auch richtig: Denn wenn man zusammen Schlitten
fährt, wenn man sich ohne Schlips umarmt, kann man unter guten Nachbarn diese Themen dort ansprechen, wo sie
hingehören.
({6})
Zum Zweiten fordert die FDP, dass sich die Bundesregierung für eine unabhängige Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien einsetzt und
ein Schritt zur Aufarbeitung und Bewältigung dieses Konfliktes getan wird.
({7})
Aber auch in den westlichen Staaten müssen natürlich
Hausaufgaben erledigt werden. Ich möchte an dieser Stelle
ein Wort zur Bedeutung des Internationalen Strafgerichtshofs sagen. Ich hoffe, dass der entsprechende Vertrag
2002 von den 60 Staaten ratifiziert wird, die notwendig
sind, damit er in Kraft tritt. Aber dass gerade die Vereinigten Staaten von Amerika die Einrichtung dieses Strafgerichtshofs dezidiert ablehnen, sogar zu verstehen geben,
dass die Staaten, die den Internationalen Strafgerichtshof
unterstützen, möglicherweise mit Sanktionen zu rechnen
hätten, ist kein gutes Signal für die Durchsetzung der Menschenrechte in den nächsten Jahren. Es besteht die große
Gefahr, dass inzwischen zur Selbstverständlichkeit gewordene Errungenschaften zum Schutz der Menschenrechte
wie die Verurteilung von Folter und die Mindeststandards
von Angeklagten vor Gericht wieder aufgegeben werden.
Deshalb hätte ich mir gerade zu diesem Vorgehen und
diesen Ankündigungen aus den Vereinigten Staaten eine
öffentlich deutlich wahrnehmbare Kritik der Bundesregierung gewünscht, die darauf hätte hinweisen sollen,
dass dieser Weg unserer Freunde in Amerika falsch ist und
die Gefahr in sich birgt, elementare Grundlagen der
Rechtsstaatlichkeit zu zerstören.
Leider kann ich zu den anderen Anträgen nicht ausgiebig
Stellung nehmen. Aber ich darf ein Wort sagen: In der Bewertung und Analyse der Genitalverstümmelung, des Frauenhandels und der Zwangsprostitution sind wir uns einig.
Ich wünsche mir, dass dies auch für die daraus zu ziehenden
Konsequenzen der Fall wäre; denn dann sollte im
Ausländergesetz das festgeschrieben werden, was wir jetzt
alle als unstreitig anerkennen, nämlich - das ist heute Morgen in der Debatte zum Zuwanderungsgesetz gesagt worden - dass Frauen, die unter diesen fürchterlichen Dingen
leiden und die vor Verfolgung, Ausweisung und Abschiebung geschützt werden müssen, zwar nicht unbedingt als
Asylbewerber behandelt werden müssen, aber zusammen
mit dem Aufenthaltsrecht einen Flüchtlingsstatus erhalten
sollten.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Internationale Tag der Menschenrechte hat uns erneut ins Bewusstsein gebracht, in welch
starkem Maße Frauen in aller Welt immer noch brutal
unterdrückt werden und entrechtet sind. Nach Angaben
der Vereinten Nationen werden jährlich 4 Millionen
Mädchen und Frauen in Ehe und Sklaverei verkauft, rund
5 000 werden Opfer so genannter Ehrenmorde. In vielen
Ländern der Erde haben Frauen kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung, werden ihnen Bürgerrechte und politische Einflussnahme vorenthalten. Bekanntlich haben die UN-Konferenzen der 90er-Jahre die
Verletzung von Frauenrechten klar als Menschenrechtsverletzung definiert.
Die unglaublichen Menschenrechtsverletzungen an
Frauen und Mädchen in Afghanistan waren seit vielen
Jahren bekannt. Sie haben am meisten unter der Herrschaft der Taliban gelitten. Spät - Frau LeutheusserSchnarrenberger hat bereits darüber gesprochen -, aber
ich denke, nicht zu spät, kam der internationale Aufschrei
über die Geschlechterapartheid des Talibanregimes, die in
dieser Form einmalig war.
Wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass dieses
Thema nicht wieder von der politischen Agenda verschwindet.
({0})
Es ist ermutigend, dass unmittelbar nach einer Veranstaltung der überparteilichen Fraueninitiative Berlin zu den
Frauenrechten in Afghanistan am 28. November ein interfraktioneller Antrag zur Teilnahme von Frauen am
Friedensprozess in Afghanistan zustande gekommen ist.
Die Entwicklung in den letzten Tagen und Wochen kann
uns nur darin bestärken, die Einbeziehung von Frauen in
den weiteren Prozess lautstark und mit Nachdruck zu fordern. Die UN-Sicherheitsratsresolution 1325, die eine
stärkere Einbindung von Frauen in friedensschaffende
und friedenserhaltende Prozesse einfordert, bietet dafür
eine gute Grundlage.
An unserem Antrag ist mir besonders wichtig, dass wir
finanzielle Zusagen an frauenspezifische Wirtschaftsförderungskonzepte binden wollen und finanzielle Mittel insbesondere in die Programme und Projekte fließen
sollen, die Frauen und Mädchen unterstützen; denn hier
können wir direkt Druck machen und sind nicht auf bloße
Appelle angewiesen. Wir sollten uns deshalb recht schnell
darauf verständigen, wie wir die Umsetzung dieser Forderung in den kommenden Monaten überprüfen können.
Am 4. und 5. Dezember fand in Brüssel ein Gipfeltreffen afghanischer Frauen für Demokratie statt, auf dem
über 50 Frauen aus den verschiedenen religiösen, kulturellen und ethnischen Gruppen über die Zukunft ihres
Landes diskutiert und einen Forderungskatalog aufgestellt haben. Auch sie verlangen, jede internationale,
einschließlich der finanziellen, Hilfe daran zu binden,
dass die Rechte der Frauen entsprechend beachtet werden.
Ich bedauere, dass sich die Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU nicht dem interfraktionellen Antrag angeschlossen, sondern einen separaten Antrag eingebracht
haben, gerade weil er im Wesentlichen die entsprechenden Forderungen enthält. Sie haben in ihrem Antrag ganz
besonders die Bedeutung der Frauenorganisation RAWA
hervorgehoben und deren Unterstützung eingefordert.
Dem können wir uns natürlich nur anschließen; denn
RAWA hat über Jahre den wohl effektivsten zivilen Widerstand gegen das Talibanregime geleistet. Allerdings
sollte nicht unerwähnt bleiben, dass RAWA von Anfang
an auf das Schärfste gegen das US-Bombardement protestiert hat und auch entschieden gegen eine Beteiligung der
Nordallianz an einer zukünftigen Regierung Stellung bezogen hat.
In den vergangenen Jahren hatten verfolgte afghanische Frauen keine Chance, in der Bundesrepublik Asyl
und damit einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu bekommen. Sie wurden zwar geduldet, erhielten aber kein Asyl.
Das UN-Flüchtlingswerk hat diese Woche erneut darauf
aufmerksam gemacht, dass Deutschland immer noch eines der wenigen westlichen Länder ist, das nach wie vor
bei geschlechtsspezifischer Verfolgung kein Asyl gewährt. Der Handlungsbedarf in dieser Frage war uns lange
genug bekannt. Auch wenn die Regierungskoalition diesbezüglich zu Recht darauf hinweist, dass in dem Entwurf
eines Zuwanderungsgesetzes, der heute zur Debatte stand,
das Problem endlich angepackt wird, muss an dieser
Stelle darauf verwiesen werden, dass dem Bundestag bereits seit Frühjahr 1999 ein Antrag der PDS-Fraktion zur
Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtursachen als
Asylgrund vorliegt.
({1})
Lassen Sie mich noch kurz auf die anderen Anträge, die
heute auf der Tagesordnung stehen, eingehen: Wir begrüßen den Antrag der Koalition zur Bekämpfung des
Frauenhandels. Er enthält viele wichtige Forderungen,
ist aber an einer Stelle noch etwas zögerlich. Ich denke,
wir brauchen nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch auf
nationaler Ebene eine Neudefinition von Frauenhandel.
Derzeit gelten als Opfer von Frauenhandel nur Frauen, die
in die Prostitution gebracht werden. Ausbeuterische, sklavenartige Arbeitsbedingungen finden wir aber auch dort
vor, wo Frauen in andere ungeschützte Arbeitsverhältnisse gebracht werden. Deshalb müssen wir den juristischen Begriff des Frauen- und Menschenhandels im Strafgesetzbuch ausweiten.
Zum Antrag der CDU/CSU mit dem Titel „Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen in der Bundesrepublik Deutschland und weltweit bekämpfen“: Wir sind sehr
wohl der Auffassung, dass Genitalverstümmelung als
Begriff in das Strafgesetzbuch gehört. Die derzeitige Formulierung lässt zu große Interpretationsspielräume zu.
Auch die Menschenrechtsorganisation Terre des femmes
und der Bund Deutscher Kriminalbeamter fordern eine
Präzisierung. Darüber hinaus fordert die PDS, dass drohende Genitalverstümmelung als geschlechtsspezifische
Verfolgung zu einem Anspruch auf Asyl führen muss. Darum bemühen sich seit Jahren viele Frauenorganisationen.
Die PDS hat zur heutigen Debatte über die Menschenrechte einen Antrag zum Schutz von Kindern vor sexueller Misshandlung und zur Bekämpfung von Kindersextourismus eingebracht. Bekanntlich findet kommende
Woche in Yokohama der zweite Weltkongress gegen kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern statt. Seit
dem ersten Kongress 1996 hat sich das Problem der sexuellen Ausbeutung von Kindern weiter verschärft. Zwei
Drittel der damals beteiligten Staaten haben bis heute
keine nationalen Aktionspläne vorgelegt. Die Bundesregierung muss sich in Yokohama unbedingt dafür einsetzen, dass endlich konkrete Umsetzungsmaßnahmen sowie ein Kontrollmechanismus vereinbart werden, damit
es nicht wieder nur bei Absichtserklärungen bleibt.
({2})
Zwei Millionen Kinder arbeiten nach Schätzung von
UNICEF als Prostituierte. Kinder werden wie Ware
gehandelt. Kinderpornos sind bekanntlich billig herzustellen und einfach zu verbreiten. Zwar ist in der Bundesrepublik seit 1993 auch der sexuelle Missbrauch im Ausland strafbar. Es gab allerdings im Laufe von vier Jahren
ganze 51 Ermittlungsverfahren, obwohl schätzungsweise
10 000 Deutsche pro Jahr mit dem Ziel in das Ausland fahren, Sex mit Kindern zu haben. Hier klafft noch immer
eine riesige Lücke zwischen Androhung der Strafverfolgung und Gesetzesanwendung. Die polizeiliche und die
justizielle Zusammenarbeit mit dem Ausland muss verbessert werden. Wir brauchen dringend mehr Prävention
und Aufklärungsarbeit. Die NGOs müssen gerade in diesem Bereich besonders unterstützt werden.
Menschenrechte weltweit durchzusetzen, gerade auch
die von Frauen, bedarf noch eines langen Kampfes, der allerdings mit zivilen Mitteln geführt werden muss.
Danke.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Graf.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade vor dem Hintergrund der Ereignisse vom 11. September und der Reflexion über die Möglichkeiten der Krisenprävention
muss der Menschenrechtspolitik weltweit ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Menschen, deren Rechte wegen ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihrer Religion, aber auch
wegen ihres Geschlechtes mit Füßen getreten werden,
sind leicht zu radikalisieren. Deshalb ist es ein guter
Brauch dieses Hohen Hauses, in zeitlicher Nähe zum Tag
der Menschenrechte eine Debatte über diese Politik zu
führen.
({0})
Mehr als zehn Anträge und Ergebnisse von Anfragen
zur Verletzung der Menschenrechte von Frauen und Kindern werden heute hier behandelt. Schon die Anzahl zeigt,
dass es konkrete Anlässe für eine solche Debatte leider gePetra Bläss
nug gibt. Dass zum Beispiel den afghanischen Frauen
unter der Herrschaft des Talibanregimes elementarste
Menschenrechte wie das Recht auf Bildung oder die medizinische Versorgung verweigert wurden, ist inzwischen
weiten Kreisen der Bevölkerung bekannt. Eine radikale
und antiurbane Ideologie hat in diesem seit 20 Jahren von
Krieg gezeichneten Land alles bekämpft, was wir Zivilisation nennen: den Wert des Individuums, die persönliche
Freiheit, das Vergnügen. Es ist traurig, dass es der Zerstörung von Monumenten des Weltkulturerbes und des
Anschlags vom 11. September bedurft hat, um die Weltöffentlichkeit auf die Menschenrechtslage in diesem Land
hinzuweisen.
({1})
Vorher haben die Zustände in diesem Land leider kaum
das Interesse der westlichen Medien geweckt. Zumindest
war das meine Erfahrung nach der Reise einer Frauendelegation des Menschenrechtsausschusses zu den Taliban
und zur Nordallianz vor anderthalb Jahren.
Wir hätten viel von den erschütternden Gesprächen mit
afghanischen Frauen berichten können. Die Burka, die die
Frauen unfähig macht, sich ungehindert zu bewegen, und
die ihnen auch die Luft zum Atmen nimmt, kann man
durchaus als Symbol sehen, sozusagen als persönliches
Gefängnis, in dem diese Frauen festgehalten wurden. Wir
hätten auch viel von dem bewundernswerten stetigen
Kampf der deutschen Hilfsorganisationen berichten können, die seit Jahren unter extrem schwierigen Bedingungen in Afghanistan tätig waren, um insbesondere auch allein stehende Frauen vor dem Verhungern zu bewahren.
Leider wollte es damals aber niemand hören.
Nun gilt es, die Chancen des Wiederaufbaus im materiellen, aber auch im politischen Bereich zu nutzen. Mehr
als 95 Prozent der afghanischen Frauen sind Analphabetinnen. 25 Prozent von ihnen sind Witwen, die allein für
die Familie sorgen müssen.
Noch ein Aspekt ist wichtig. Bei den Gesprächen, die
ich damals in Kabul mit Frauen geführt habe, klagten
viele, insbesondere die gebildeten unter ihnen, ihre Söhne
behandelten sie als Ergebnis der Erziehung in den Koranschulen buchstäblich wie den letzten Dreck. Schulprojekte wie die der Hilfsorganisation HELP - ich sage das
deshalb, weil der Vorsitzende dieser Organisation hier in
der ersten Reihe sitzt - sind deshalb in Zukunft wichtiger
denn je.
({2})
Das Auswärtige Amt und das BMZ unterstützten diese
Projekte.
Wer eine dauerhafte Friedens- und Sicherheitsstruktur
in der Region aufbauen will, der muss ein Zeichen setzen
und die Frauen daran aktiv beteiligen. Wer Wirtschaftskraft zum materiellen Wiederaufbau in dieses bettelarme,
geschundene Land bringen will, der muss mit der Beendigung der systematischen Benachteiligung und Unterdrückung der Frauen Afghanistans eine Voraussetzung
dafür schaffen.
Wichtig ist es dranzubleiben. Das zeigen die Medienberichte. Ein Bild in der „SZ“ vom 10. Dezember zum
Beispiel zeigte afghanische Frauen in der Burka hinter einem Gitterzaun im Kampf um Nahrungsmittel. Das war
ein aktuelles Bild, keines aus der Zeit des Talibanregimes.
Auch die Fernsehberichterstattung zeigte vor wenigen Tagen Kämpfer der Nordallianz, die Frauen, weil sie nicht
völlig verschleiert waren, von den Nahrungsmitteln wegprügelten.
Leider hat die Konferenz auf dem Petersberg nur wenigen Frauen die Möglichkeit gegeben, sich an den wichtigen Vorarbeiten zur politischen und wirtschaftlichen Zukunft Afghanistans aktiv zu beteiligen. Die Einsetzung
einer Frau für die Leitung eines Ministeriums in der Übergangsregierung ist zweifellos ein Schritt in die richtige
Richtung. Dennoch sind VN, EU und auch die nationalen
Regierungen gefordert, darauf zu drängen, dass die Förderung und Einbeziehung von Frauen aktiv betrieben
wird, und so weit wie möglich eigene Anstrengungen
dazu zu unternehmen.
Ich freue mich deshalb sehr, dass es einer fraktionsübergreifenden Fraueninitiative - Frau Bläss hat schon
drauf hingewiesen - gelungen ist, mit dem vorliegenden
interfraktionellen Antrag zu zeigen, dass dieses Thema eigentlich kein Thema für parteipolitische Auseinandersetzungen ist.
({3})
Umso bedauerlicher ist allerdings, dass es nicht gelungen
ist, die CDU/CSU davon zu überzeugen, sich an diesem
Antrag zu beteiligen.
Lassen Sie mich noch kurz in der Region, besser gesagt: im Nachbarland Pakistan, bleiben. Wir setzen uns
seit geraumer Zeit mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen an Frauen, dem „honour killing“ oder den so
genannten Schandemorden, auseinander. Für mich steht
fest: Die Burka und „honour killing“ sind zwei Seiten der
gleichen archaisch-grausamen Medaille.
({4})
Eine mutige Frau, Shanaz Bokhari, hat in Rawalpindi
unter Einsatz der eigenen Unversertheit Frauen, die aus so
genannten Gründen der Ehre von ihren Männern, Vätern,
Brüdern verbrannt, mit Säure übergossen, mit Elektroschocks gefoltert worden sind, in ihr Haus aufgenommen und hilft ihnen, dort zu überleben. Ich habe das selbst
gesehen. Die Stadt Weimar hat Frau Bokhari auf Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion - Frau WidmannMauz, das nur zur Klarstellung dazu, wer die Urheberschaft hat - den Menschenrechtspreis verliehen. Ich
gratuliere auch von dieser Stelle Frau Bokhari noch einmal ganz herzlich.
({5})
Angelika Graf ({6})
Von der Ferne Südostasiens in unsere unmittelbare
Nähe: Auch hier in Deutschland leben Frauen, die Männern hilflos ausgeliefert sind, die ihre Rechte nicht geltend
machen können. Sie werden von gewissenlosen Schleppern nach Westeuropa gebracht, um hier das immer noch
steigende Bedürfnis nach billiger Sexdienstleistung
- dazu gehören auch ausbeuterische Arbeitsverhältnisse
und Zwangsheirat - zu befriedigen. Frauenhandel ist das
Stichwort. Der so genannte Schattenbericht des bundesweiten Koordinierungskreises gegen Frauenhandel und
Gewalt an Frauen im Migrationsprozess, KOK, ist übervoll von erschreckenden aktuellen Informationen zu diesem Thema. Unser Antrag, den wir hier heute behandeln,
fordert alle politischen Ebenen - EU, Bund, Länder und
Kommunen - auf, bei der Bekämpfung dieses Phänomens
konsequent tätig zu werden.
Die Sache selbst ist nicht neu. Früher kamen die Frauen
aus Lateinamerika und Südostasien; heute werden die meisten dieser jungen Frauen im Gebiet des ehemaligen Ostblocks angeworben. Die Schlepper haben also relativ
kurze Wege. Der Markt boomt, das Geschäft ist lukrativ
und für Zuhälter bzw. Schlepper relativ risikolos. Man
schätzt, dass circa 120 000 Frauen jährlich nach Westeuropa gebracht werden und der Jahresgewinn aus diesem
Geschäft bei 7 bis 13 Milliarden Dollar liegt. Das ist ein
wesentlich höherer Gewinn als der aus dem Drogenhandel.
Deutschland ist bei diesem Geschäft gleichzeitig Zielland und Transitland. Die Frauen werden unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angeworben und kommen
- zum Teil mit Touristenvisen, zum Teil ohne Visum - legal oder illegal über die Grenze. Nach dem Grenzübertritt
wird ihnen der Pass abgenommen, sie werden eingesperrt,
geschlagen, vergewaltigt und - übrigens auch in Hinblick
auf die im Heimatland lebende Familie - bedroht.
Etablissements, in denen solche Frauen angeboten werden, gibt es überall in der Bundesrepublik. Glauben Sie
niemandem, der sagt: Bei uns gibt es so etwas nicht.
Wenn die Frauen bei einer Razzia aufgegriffen werden,
sind sie in strafrechtlicher Hinsicht nicht nur Opfer, sondern sie haben sich auch wegen unerlaubten Aufenthalts
und unerlaubter Erwerbstätigkeit strafbar gemacht; sie
sind also Täterinnen. Ihnen droht die sofortige Ausweisung bzw. Abschiebung. Bestenfalls wird ihnen eine Ausreisefrist eingeräumt, damit sie als Zeuginnen aussagen
können. Die Frauen sind oft nicht so schnell imstande, den
Entschluss zur Aussage als Zeugin zu fassen, weil sie unter einer Traumatisierung leiden, Scham empfinden, bereits schlechte Erfahrungen mit staatlichen Stellen in
ihrem Heimatland gemacht haben oder die Zuhälter bzw.
Schlepper sie bedrohen. Ein Zeugenschutzprogramm, das
die Aussagebereitschaft dieser Frauen unterstützt, sowie
Qualifizierungsprogramme vor der Rückkehr in das Herkunftsland wären nötig, um die Mafiastrukturen der Netzwerke, die zu ihrer Verschleppung geführt haben, zu zerschlagen und den Drehtüreffekt zu verhindern.
Um das Vertrauen der Frauen zu gewinnen, ihnen zu
helfen und die Netzwerke ihrer Peiniger zu zerschlagen,
ist es unumgänglich, dass jedes Bundesland eine ausreichende Anzahl von Beratungsstellen gewährleistet. Ich
habe einige dieser Beratungsstellen selbst besucht. Viele
der Mitarbeiterinnen bangen derzeit um die Finanzierung
und damit um die Kontinuität ihrer Arbeit. Der Antrag
enthält die Anregung, einen Teil der Gewinne aus diesem
schmutzigen Geschäft, die bei verbesserter Aussagebereitschaft der Frauen vermehrt abgeschöpft werden
könnten, zur Finanzierung der Beratungsstellen einzusetzen. Dann wären - so hoffen wir zumindest - vielleicht
auch die Bundesländer Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern, in denen es bisher keine solche Beratungsstelle gibt, in der Lage, diese wichtige Aufgabe zu
unterstützen.
Ich bitte Sie alle sehr herzlich um Zustimmung für unsere beiden Anträge.
({7})
Nächster Redner ist
Herr Kollege Dr. Heiner Geißler für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat
Herr Habermas gesagt:
Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt
eine spürbare Leere.
Ich bin der Letzte, der dem widersprechen möchte. Wir haben einen Trend zur Transzendenz. Der französische Soziologe Gilles Kepel sagt aber, die religiösen Extremisten
seien weltweit auf dem Vormarsch. Das ist die andere Seite.
Wir haben keinen „Clash of Civilizations“; aber innerhalb der Religionen sind die Fundamentalisten immer
stärker geworden. Die Fundamentalisten aller Couleur
wollen die Welt wieder auf eine sakrale Grundlage stellen: Die Islamisten betreiben die Reislamisierung; christliche Charismatiker träumen von der Rechristianisierung;
amerikanische Erweckungsbewegungen - zumindest einige ihrer Mitglieder - erschießen Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, beherrschen inzwischen weite Teile der
amerikanischen Parteiapparate und nehmen mit den modernen Mitteln einer Fernsehkirche gezielt und erfolgreich Einfluss auf die amerikanische Politik. Wir haben
eine Hinduisierung mit Geschlechtsdiskriminierung
und Geschlechtskriminalisierung von unglaublichem
Ausmaß. Die Intoleranz ist die Waffe des Fundamentalismus und sie richtet sich immer zuerst gegen die Frauen.
({0})
Geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen
sind eine besonders scheußliche Waffe gegen die Frau.
Deswegen müssen Frauen, die dieses Schicksal erleiden, auf
der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention bei uns einen rechtlich gesicherten und gefestigten Status haben.
({1})
Wir müssen uns mit der Theologie beschäftigen. Nicht
alle Missstände gehen auf bewussten Missbrauch der Religion zurück, aber die weit verbreiteten, jahrhundertealten grundsätzlich negativen Bewertungen und DiskrimiAngelika Graf ({2})
nierungen der Frauen ergeben sich aus den Vorurteilen
und Irrtümern der moraltheologischen Lehrgebäude.
Männliche Theologen und Schriftgelehrte haben sie - zumindest sehr oft - gegen den eigentlichen Sinn der Lehre
errichtet.
Das, was wir im Christentum erlebt haben, ist die Folge
der Übernahme der Gnosis des Manichäismus einer - im
christlichen Sinne - Irrlehre. Die Verfemung des Sexuellen, seine Isolierung von der Ganzheitsbetrachtung des
Menschen, die grundsätzliche Pönalisierung des Geschlechtlichen haben Leid und Elend über die Menschheit
und vor allem die Frauen gebracht. Das spüren wir noch
heute.
Heute ist es ein bisschen anders, man kann vielleicht
schon sagen: grundsätzlich anders. Aber die gleichberechtigende Beschreibung des eigentlichen Wesens der
Frau, die aber immer wieder zur Differenzierung des anderen Geschlechts herhalten muss, darf nicht durch eine
neu erfundene Rollenverteilung zur De-facto-Benachteiligung führen.
Im Zusammenhang mit den Begriffen und ihren Inhalten möchte ich noch etwas aufgreifen, was uns dauernd begegnet; gerade auch im Zusammenhang mit dem, was die
Taliban machen. In allen Zeitungen steht, es seien Gotteskrieger, die so etwas tun. Es sind keine Gotteskrieger,
({3})
sondern diese Leute missbrauchen den Namen Gottes genauso wie die Kreuzritter, die Inquisitoren und die Hexenverbrenner.
({4})
Deswegen sollten Vertreter von christlichen Kirchen
auf den Weltfrauenkonferenzen auch nicht Arm in Arm
mit den Ayatollahs Resolutionen zugunsten der Frauen
ablehnen.
({5})
Die kommen möglicherweise beim Jüngsten Gericht in
Schwierigkeiten.
({6})
In dieser Zeit des zunehmenden Fundamentalismus
brauchen wir keine Theologisierung - die haben wir
schon gehabt - von Staat und Politik. Diese Theologisierung hat mit gepfählten Indios, Kreuzrittern, verbrannten
Ketzern und Hexen, erschlagenen Juden und gesteinigten
Frauen eine Blutspur hinterlassen. Wir brauchen vielmehr
eine Renaissance der Aufklärung - davon bin ich überzeugt -, eine Erweckung der Fähigkeit, jederzeit selbst zu
denken, wie Kant sagte,
({7})
und die globale Anerkennung eines Menschenbildes, das
die Unantastbarkeit der Würde des Menschen beinhaltet,
unabhängig davon, ob jemand Weißer oder Schwarzer ist,
aber auch unabhängig davon, ob jemand Mann oder Frau ist.
Im Übrigen ist dieses Bild identisch mit der menschenund frauenfreundlichen Botschaft des Evangeliums. Dieser Rabbi von Nazareth - Frau von Rennesse hat ihn in einer anderen Debatte liebevoll, aber theologisch nicht ganz
einwandfrei so genannt - kannte die Erniedrigung, die Armut, die Abhängigkeit und die Not der Frauen in der patriarchalischen jüdischen Gemeinde und die Hilf- und Wehrlosigkeit von Frauen als Opfer einer Scheidung, ihre
Situation als Witwen, ihr Elend als so genannte Dirnen, ihre
Verzweiflung als angeschuldigte Ehebrecherinnen. Das alles ist Bestandteil der Aussagen dieses Menschen gewesen.
Es gibt eine berühmte Geschichte im Evangelium, wie er
vor 2 000 Jahren eine Frau vor dem Schicksal der Steinigung
bewahrt hat, das heute noch Hunderte von Frauen erleiden
müssen, oft mit der Variante, dass sie bis zur Brust in den
Sand eingegraben werden. Dann werden sie aber nicht mehr
gesteinigt, sondern man fährt mit Bulldozern über sie oder
schüttet Petroleum über sie aus und zündet sie an.
Wir dürfen bei dieser Betrachtung auch den Islam nicht
außen vor lassen. Annemarie Schimmel, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, war bestürzt, dass
sie wegen des Buches von Salman Rushdie viele erwachsene Männer habe weinen sehen. Grund zum Weinen - darüber hat sie leider nichts gesagt - haben 500 Millionen
Frauen in den islamischen Ländern, deren Entrechtung mit
der Islamisierung voranschreitet, die ihrerseits wieder
durch Koranschulen vorangetrieben wird, die zum Beispiel
von der saudi-arabischen Regierung finanziert werden.
Es gibt eine weltweite zum Teil brutale Diskriminierung der Frauen. In allen Anträgen ist das völlig richtig,
exakt und gut beschrieben worden. In vielen Staaten sind
sexuelle Folter, Vergewaltigung, Verstümmelung und Verstoßung an der Tagesordnung und zudem rechtlich sanktioniert. Was wir an Deklassierung, Demütigung, Verachtung und frauenspezifischer Verfolgung auf der ganzen
Welt erleben, schreit im wahrsten Sinne des Wortes zum
Himmel. Aber die zivilisierte Welt schaut nach wie vor
weg. Wir begründen ja das militärische Eingreifen in Afghanistan bis auf den heutigen Tag fast ausschließlich mit
der Bekämpfung des Terrorismus, anstatt öfter über das
Ziel zu reden, die Frauen dort zu befreien.
({8})
Das Argument müsste eigentlich auch bei der GrünenFraktion eine durchschlagende Wirkung haben.
Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte von
Frauen richtet sich vor allem an die Adresse der Weltreligionen. Ohne die Weltreligionen ist die langfristige Befreiung der Frauen von der Diskriminierung nicht zu
schaffen. Aber anstatt theologisch immer neue Gründe für
eine Bevormundung der Frauen zu erfinden und ihre heiligen Schriften immer wieder gegen die Frauen auszulegen, sollten die großen Weltreligionen endlich die Gleichberechtigung der Frauen im gemeinsamen Weltethos der
Religionen verankern.
({9})
Das Wort hat die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jahrzehntelang wurden die Menschenrechte afghanischer
Frauen mit Füßen getreten. Die traumatischen Auswirkungen von Unterdrückung und Folter werden sie lebenslang
begleiten. Zwar sieht es momentan so aus, als hätte Afghanistan eine reelle Chance auf Frieden, dennoch sind die Lebensperspektiven von Frauen mehr als unsicher. Dabei haben afghanische Frauen bis in die 80er-Jahre hinein eine
große Rolle im öffentlichen Leben ihres Landes gespielt:
Sie stellten 70 Prozent der Lehrer, 40 Prozent der Ärzte, die
Hälfte der Regierungsangestellten. Im Jahre 1977 waren
15 Prozent der Parlamentssitze in Kabul mit Frauen besetzt.
Zur gleichen Zeit waren es in Deutschland 7 Prozent.
Umso schlimmer war der Schock, als 1994 die jetzige
Nordallianz die Schleierpflicht und das Verbot außerhäuslicher Arbeit durchsetzte. 1996 wurden Frauen durch
die Taliban unter die Burka gezwungen und ihrer elementarsten Grundrechte beraubt. Mit dem Ende des Talibanregimes ist nun die Voraussetzung für die Beendigung der
Menschenrechtsverletzungen geschaffen.
Der erste Stein für einen demokratischen Wiederaufbau des Landes wurde auf dem Petersberg gelegt. Voraussetzung für eine Demokratie ist aber, dass Frauen, die
60 Prozent der afghanischen Bevölkerung ausmachen,
beim Friedensprozess und beim Aufbau des Landes eine
entscheidende Rolle spielen.
({0})
So sieht es auch die UN-Resolution 1325 vor.
Um das Vertrauen aller Frauen in Afghanistan in eine
neue Regierung zu stärken, müssen Frauenrechte durchgesetzt werden und Frauen in entscheidenden Gremien sitzen. Dass in die Übergangsregierung zwei Ministerinnen
berufen wurden, eine davon, Simas Hamar, als Frauenministerin, die vor 14 Tagen in Deutschland war, lässt hoffen.
Aber auch die Vereinten Nationen und der EU-Beauftragte müssen sich aktiv für Frauenrechte einsetzen. Hilfsprogramme müssen Strukturen schaffen, durch die die Umsetzung der Menschenrechte wie auch die politische und
soziale Gleichberechtigung dauerhaft verankert werden. In
diesem Zusammenhang freue ich mich, dass schon nächste
Woche die ehemalige Frauenbeauftragte des Auswärtigen
Amtes, Ursula Müller - sie sitzt auf der Tribüne -, als deutsche Sonderkoordinatorin in Kabul tätig werden wird. Gerade bei der Vergabe von Wiederaufbaumitteln müssen besonders Projekte gefördert werden, die Frauen und
Mädchen zugute kommen.
({1})
Zugangsbarrieren zu Bildung, medizinischer Versorgung
und Erwerbsarbeit müssen aufgehoben werden. Exilafghaninnen, die sich für eine bestimmte Zeit zum Beispiel als Ärztin oder als Lehrerin an der Entwicklung ihres Landes beteiligen wollen, brauchen unsere Unterstützung ebenso wie die Frauenorganisationen vor Ort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur in Afghanistan leiden Frauen unter massiven Verletzungen ihrer Menschenrechte. Weltweit leiden 130 Millionen Frauen an genitaler Verstümmelung und jährlich werden erneut
2 Millionen Mädchen Opfer dieses grausamen Rituals. Als
ich 1998 in Bonn mit der UN-Sonderbotschafterin Waris
Dirie aus Somalia ihr autobiografisches Buch „Wüstenblume“ vorstellte, war das Thema bei uns noch ein Tabu.
Heute ist unsere Gesellschaft sensibilisiert. Schätzungsweise 21 000 bedrohte Mädchen leben hier bei uns. Auch
in Deutschland muss, wie 1999 von der Sendung „Report“
aufgedeckt, Ärzten das Handwerk gelegt werden.
({2})
Genitalverstümmelung ist verboten und stellt eine
schwere Körperverletzung dar. Wir müssen Frauen, die
wegen drohender Genitalverstümmelung aus ihrem Heimatland fliehen, schützen. Es ist daher gut, dass ihnen
durch das neue Einwanderungsgesetz ein Flüchtlingsstatus zuerkannt wird. Ich bin froh, Frau Widmann-Mauz,
dass Sie das gerade akzeptiert haben. Ich wäre froh, wenn
Sie gemeinsam mit Herrn Geißler und vielen anderen, die
ja gerade hier geklatscht haben, dafür kämpfen könnten,
dass wir das im Einwanderungsgesetz verankern.
({3})
Daneben wollen wir aber auch den Frauen in ihrer Heimat helfen. Darum hat die Bundesregierung - gerade auch
der Menschenrechtsbeauftragte Poppe hat sich dafür eingesetzt - knapp 6 Millionen DM für Maßnahmen in Westund Ostafrika vorgesehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein
weiteres trauriges Kapitel einer modernen Form der Sklaverei ansprechen, den Frauenhandel. 1,8 Milliarden DM
Profit werden hier bei uns in diesem menschenverachtenden Geschäft erzielt. Frauen werden als Ware deklariert
und Deutschland ist das Hauptabnehmerland. Mit
falschen Versprechungen werden die Frauen nach
Deutschland verschleppt und in den meisten Fällen zur
Prostitution gezwungen. Die internationale Organisation
für Migration hat im Auftrag der EU ermittelt, dass jährlich circa 500 000 Frauen aus Osteuropa nach Westeuropa
verschleppt werden. Die Gefahr für die Menschenhändler,
entdeckt und bestraft zu werden, ist gering. Abhängigkeitsverhältnisse und illegaler Aufenthaltsstatus machen
es den Frauen fast unmöglich, die Händler anzuzeigen.
Noch immer werden sie nicht als Opfer von Menschenhandel, sondern als Täterinnen eingestuft, die gegen
das Ausländergesetz verstoßen haben. In den europäischen Gefängnissen sitzen mehr Opfer von Menschenhandel als Menschenhändler, sagt ein EU-Bericht.
Das dürfen wir nicht länger dulden.
({4})
Daher hat die Bundesregierung Opfern von Menschenhandel einen Abschiebeschutz von mindestens vier
Wochen eingeräumt.
Wir müssen aber noch mehr erreichen. Um alle Delikte
tatsächlich erfassen zu können, ist eine umfassendere Definition von Frauenhandel nötig. Die Vizepräsidentin Kollegin Bläss hat in ihrem Beitrag darauf hingewiesen. In
unserem Antrag steht tatsächlich, dass wir nicht die EU
auffordern wollen, sondern in unserem Strafgesetzbuch
vorsehen wollen, dass neben der sexuellen Ausbeutung
auch Arbeitsverhältnisse ausbeuterischer Art und
Zwangsverheiratung als Tatbestände aufgenommen werden. Daneben ist aber auch ein ausreichender Opfer- und
Zeuginnenschutz mit einem Bleiberecht, mindestens bis
zum Abschluss des Verfahrens, notwendig. Ich sage noch
eines: In ihrem Heimatland gefährdete Opfer müssen
auch auf Dauer bei uns hier leben und arbeiten können.
({5})
Durch konsequente Gewinnabschöpfung können die Länder die beschlagnahmten Gewinne der Menschenhändler
für die Entschädigung der Opfer nutzen. Es gibt eine
Reihe von Beratungsstellen, die froh wären, wenn sie darüber die Finanzierung bekämen.
Mit dem sehr umfangreichen Maßnahmenkatalog des
Antrages der rot-grünen Koalition werden wir auch der
Kritik des Frauenrechtsausschusses der Vereinten Nationen gerecht. Ich habe gehört, auch die CDU/CSU wird
dem Antrag zum Frauenhandel zustimmen. Ich bin froh
darüber, dass wir bei diesen Themen eine so große Übereinstimmung haben.
Ich danke Ihnen.
({6})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich denke, dass ich im Namen aller spreche, wenn ich an dieser Stelle Frau Müller, die unserer Debatte beiwohnt, viel Kraft, Energie und vor allem Erfolg
in ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit wünsche.
({0})
Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Maria Eichhorn für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Niemand darf in
Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden. Sklaverei und Sklavenhandel sind in all ihren Formen verboten. Obwohl dieses Verbot in Art. 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben ist, hat der
Handel mit Menschen, vor allem mit Frauen, in den letzten Jahren weltweit zugenommen. Frauenrechte sind
Menschenrechte.
Die Befreiung Afghanistans vom Talibanregime durch
die USA und ihre Alliierten bietet die Chance, die Rechte
in Afghanistan wieder herzustellen und damit auch die
Rechte der Frauen durchzusetzen und zu stärken. Frauen
hatten unter einer unbeschreiblich grausamen Politik der
Talibanherrschaft in Afghanistan zu leiden. Sie waren völlig entrechtet und wurden aus dem öffentlichen Leben
verbannt. Eine aktive Beteiligung der Frauen in Afghanistan ist für den Wiederaufbau und die Demokratisierung des Landes unerlässlich.
({0})
Dass es zu keinem gemeinsamen Antrag gekommen
ist, ist schon mehrfach angesprochen worden. Für unsere
Seite gibt es eine ganz einfache Erklärung: Wir hatten unseren Antrag bereits fertig gestellt, als das Ansinnen von
Frau Schewe-Gerigk - ich glaube jedenfalls, dass sie es
war - zu uns gelangt ist.
({1})
Wir haben uns dann entschieden, unseren Antrag beizubehalten, weil wir der Meinung waren, dass er weitreichender ist.
Meine Damen und Herren, Frauenhandel ist als moderne Form der Sklaverei eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen überhaupt. Ausländische Frauen werden als Ehefrauen in Katalogen oder im Internet
gehandelt, in die Prostitution gezwungen oder illegal als
billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Nach internationalen
Schätzungen verschleppen Menschenhändler jedes Jahr
bis zu 700 000 Frauen und Kinder. Nach Schätzungen der
EU-Kommission werden allein aus den mittel- und osteuropäischen Staaten jährlich 120 000 Frauen und Kinder in
die Europäische Union gelockt. Der Frauenhandel hat
sich besonders in den letzten Jahren zu einem lukrativen
Geschäft entwickelt, aus dem international operierende
Täter bei geringem Risiko für sich selbst enorme Profite
schlagen. Unsere Gesellschaft und die internationale
Staatengemeinschaft müssen den Drahtziehern dieses Geschäfts das Handwerk legen.
({2})
Die Bekämpfung des Frauenhandels ist äußert schwierig. Die Hauptursachen sind zum einen die Perspektivlosigkeit bzw. die Armut der Frauen in den Herkunftsländern, zum anderen die Nachfrage in den Zielländern, zum
Beispiel nach Prostituierten oder billigen Arbeitskräften.
Die steigenden Zahlen, aber auch jedes Einzelschicksal
verdeutlichen die Dringlichkeit, gegen den Menschenhandel vorzugehen.
Da die Problematik des Frauenhandels verschiedene
Politikfelder, Adressaten und Ebenen betrifft, hat die
CDU/CSU-Regierung bereits im Frühjahr 1997 eine bundesweite Arbeitsgruppe „Frauenhandel“ eingerichtet. Ein
wichtiges Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Organisationen zu
verbessern und ihre Arbeit zu koordinieren. Ferner wurden Informationsmaterialien für Frauen in den Herkunftsländern herausgegeben und über Nichtregierungsorganisationen sowie über die deutschen Botschaften vor Ort
verteilt.
Die Erarbeitung eines Kooperationsmodells für einen
speziellen Zeuginnenschutz für diejenigen Frauen, die
nicht in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden können oder wollen, gehört ebenfalls zu den Schwerpunkten der Arbeitsgruppe „Frauenhandel“.
Die vorgelegten Ergebnisse zeigen, dass die hier entwickelten Maßnahmen für den Schutz der Frauen von erheblicher Bedeutung sind. Insofern ist es positiv, dass die
Bundesregierung mit dem Antrag „Prävention und
Bekämpfung von Frauenhandel“ die bislang erfolgreich
geleistete Arbeit dieser Arbeitsgruppe weiterführen will
und unterstützt. Deswegen stimmen wir Ihrem Antrag,
den Sie heute vorlegen, zu.
({3})
Bei der Verabschiedung Ihres Gesetzes zur Regelung
der Rechtsverhältnisse von Prostituierten haben Sie jedoch die große Chance, jenen Prostituierten zu helfen, die
als Opfer von Menschenhandel diesem Gewerbe nachgehen, völlig außer Acht gelassen.
({4})
Sie haben ein Gesetz für nur rund 5 Prozent der Prostituierten gemacht. 50 Prozent der Prostituierten, die als Illegale vielfach Opfer von Menschenhandel werden, interessierten Sie bei diesem Gesetz überhaupt nicht.
({5})
Es ist ein Skandal, dass Sie einerseits mit der Abschaffung
der Sittenwidrigkeit die Prostitution verharmlosen, aber
andererseits den Ärmsten keinerlei Hilfe angeboten haben.
Prostitution macht nicht an Grenzen halt. Deshalb ist
die Europäische Union gefordert, im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit den mittel- und osteuropäischen
Staaten auch auf die Thematik Sextourismus einzugehen
und sich mit der Situation der Frauen in der Prostitution
auseinander zu setzen.
({6})
Darüber hinaus müssen die mittel- und osteuropäischen
Staaten im Rahmen des Erweiterungsprozesses der EU
aufgefordert werden, einen Rechtsrahmen im Hinblick
auf die Prostitution zu schaffen. Vom Sextourismus betroffen sind nicht nur Frauen, sondern auch Kinder. Gerade durch Sextouristen aus den reichen Ländern werden
schwerste Verbrechen begangen. Den Kindern bleiben
meist psychische und physische Schäden für ihr ganzes
Leben.
Weltweit sind über 2 Millionen Kinder Opfer von sexueller Ausbeutung. Wir fordern daher im vorliegenden
Antrag die Bundesregierung auf, Maßnahmen gegen die
sexuelle Ausbeutung und gegen den Missbrauch von Kindern zu ergreifen. Dazu gehört, dass Sie sich für ein
schnelles und effektives Engagement im Rahmen des gemeinschaftlichen Vorgehens der EU-Mitgliedstaaten einsetzen.
Wichtig ist die Unterstützung von Projekten zur beruflichen Förderung und zur sozialen Integration von Kindern, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind.
Wir fordern dringend konkrete Maßnahmen zur Prävention und Therapie von jugendlichen Tätern.
Auf dem ersten Weltkongress gegen die gewerbsmäßige sexuelle Ausbeutung von Kindern im Jahre 1996
wurde durch 122 Staaten eine Erklärung unterzeichnet,
mit der ein Durchbruch im gemeinsamen internationalen
Vorgehen gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung
von Kindern gelang. Dem Weltkongress folgte im März
2001 die nationale Nachfolgekonferenz gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern. Hierzu wurden auch Herangehensweisen und Konzepte für eine effektive Bekämpfung der kommerziellen sexuellen
Ausbeutung von Kindern erörtert. Es müssen nun konkrete Strategien entwickelt werden, um Kindern, die von
den grausamen Verbrechen betroffen sind, helfen zu können. Die Realisierung der dort entwickelten Strategien
lässt bis heute auf sich warten.
Die Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen gegen den sexuellen Missbrauch durch das Sechste Gesetz
zur Reform des Strafrechts erfolgte bereits in der letzten
Legislaturperiode unter der Regierung von CDU/CSU
und FDP. Jetzt ist es an Ihnen, meine Damen und Herren
von der Bundesregierung, weitere Schritte zu tun.
({7})
Neben einer verbesserten grenzüberschreitenden Kooperation ist es notwendig, die Öffentlichkeit auf das Leid
betroffener Kinder aufmerksam zu machen. Dazu gehört,
dass auch auf die Strafbarkeit der Tat, auch wenn sie im
Ausland begangen wurde, hingewiesen und die Anzeigebereitschaft als Zeuge geweckt wird. Nur so kann Kindesmissbrauch auch außerhalb der Länder, in denen er
stattgefunden hat, strafrechtlich verfolgt werden.
In fast allen Wortbeiträgen ist bereits über die Genitalverstümmelung als eine der schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen gesprochen worden. Sie ist ein
Akt der Folter für Mädchen und Frauen, der keineswegs
durch die Berufung auf eine Religion oder Kultur gerechtfertigt werden kann. Das Nötige dazu wurde auch
von meiner Fraktion bereits ausgeführt.
Meine Damen und Herren, Frauenrechte sind Menschenrechte. Die Verletzung elementarer Menschenrechte
ist ein globales Problem. Wir fordern Sie daher auf, dass
Sie nationale Lösungsansätze suchen und insbesondere
für ein gemeinsames Handeln auf europäischer und darüber hinaus auch auf internationaler Ebene Sorge tragen.
Nur so werden wir weiterkommen.
({8})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Hanna Wolf für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist bezeichnend, dass wir uns in der heutigen Menschenrechtsdebatte
auf die Menschenrechte von Frauen konzentrieren. Der
Grund ist, dass die Menschenrechte von Frauen am meisten gefährdet sind. Es heißt aber auch, dass es um die
Menschenrechte aller - auch um die von Männern und
Kindern - besser gestellt ist, wenn die Menschenrechte
von Frauen gesichert sind.
({0})
Diese Erkenntnis ist noch nicht sehr alt. Eine gute Entwicklungshilfe richtet sich aber bereits jetzt danach.
Ich spreche heute zu zwei Themen, die Millionen von
Frauen existenziell bedrohen, wie sehr, können wir uns
kaum vorstellen: Es geht um die Männerherrschaft in Afghanistan und um die Genitalverstümmelung in vielen
Ländern Afrikas.
Afghanische Frauen hatten nicht nur unter den Taliban zu leiden; die Mudschahidin vor ihnen hatten die
Frauen auf ihre Weise terrorisiert. Afghanische Frauen
hatten in ihrer Geschichte nur selten Gelegenheit, aus ihrer eingesperrten Lage herauszukommen. Von 1964 bis
1992 waren die Frauen immerhin - laut Verfassung - den
Männern gleichgestellt. Die fundamentalistische Unterdrückungswelle - erst durch die Mudschahidin, dann
durch die Taliban - machte diese positiven Ansätze zunichte.
Die damalige EU-Kommissarin, Emma Bonino, widmete den Internationalen Frauentag am 8. März 1998 den
afghanischen Frauen. Er fand eine breite Unterstützung bei Frauen. Die offizielle Politik ergriff jedoch keine wirklich konkreten Maßnahmen. Erst die Empörung über die
Zerstörung der Buddha-Statuen ergriff auch die höchsten
Ebenen. Ich bin mir sicher, dass nichts weiter geschehen
wäre, wenn nicht der Terror in dieser unvorstellbaren
Weise in die USA getragen worden wäre.
({1})
Wenn heute die Zukunft von Frauen in Afghanistan
besser erscheint, dann nur, weil die internationale Gemeinschaft einen massiven Druck auf die Verhandlungsführer auf dem Petersberg ausgeübt hat.
({2})
Es ist auch in Zukunft unerlässlich, dass dieser Druck
weiter aufrechterhalten wird und dass den Stammesführern klar gemacht wird, dass die Zukunft ihres Landes
ohne eine gleichberechtigte Teilhabe der Frauen an Gesundheit, Bildung, Wirtschaft und Politik auch für sie verspielt ist.
({3})
In den Köpfen der Mehrzahl der afghanischen Männer
muss ein Umdenken stattfinden. Die Frauen tragen noch
heute die Burka; sie werden ihre Gründe haben. Es gibt
noch heute Bilder von Männern, die Frauen wie Vieh vom
Markt in Kabul wegprügeln. Diese Art der Männerherrschaft darf nicht Kultur, Tradition oder Religion genannt
werden; denn Unterdrückung von Frauen ist Terror gegen
Frauen.
({4})
Die internationale Gemeinschaft muss die beiden Ministerinnen in der Übergangsregierung, Sima Samar und
Suhaila Seddiki, bedingungslos unterstützen. Afghanische Frauenorganisationen, die bisher in der Illegalität arbeiten mussten, verdienen unsere uneingeschränkte Unterstützung und unseren Dank für ihren Mut.
In einem halben Jahr tritt die traditionelle Große Versammlung, die Loja Dschirga, zusammen. Frauen müssen in
ihr einen wesentlichen Part spielen. Wenn das nicht gelingt,
dann sollte eine eigene Konferenz der afghanischen Frauen
abgehalten werden, deren Beschlüsse umzusetzen sind;
denn 65 Prozent der afghanischen Bevölkerung sind Frauen.
Die Burka steht für die physische und psychische Unterdrückung der afghanischen Frauen. Ein rostiges Messer oder ein Schabestein stehen für die Unterdrückung der
Frauen in vielen Ländern Afrikas. Im Namen von Kultur,
Tradition und Religion werden damit Mädchen ohne Narkose und hygienische Vorkehrungen an den Genitalien
unvorstellbar verstümmelt.
Der Kampf gegen die Genitalverstümmelung ist keine
Erfindung westlicher Frauen. Seit 1975 rückt dieses Thema
immer mehr ins Zentrum der Weltfrauenkonferenzen. Dennoch werden noch immer 2 Millionen Mädchen jährlich an
den Genitalien verstümmelt. Bei der radikalsten Form liegt
die Todesrate bei 30 Prozent.
Einige Länder haben die Genitalverstümmelung inzwischen auch offiziell verboten. In ihren Lageberichten
gehen die deutschen Botschaften ausführlich auf diese
Thematik ein. Bei bilateralen Regierungsverhandlungen
wird verdeutlicht, dass Frauenrechtsverletzungen verurteilt werden. Von 1999 bis 2002 werden von der Bundesregierung 5,8 Millionen DM für Projekte zur Überwindung der Genitalverstümmelung zur Verfügung gestellt.
Frauengruppen werden in ihrem Kampf unterstützt. Die
praktische Durchsetzung von Verboten ist nicht immer
leicht. Deshalb sind Initiativen notwendig, wie sie die
deutsche Entwicklungshilfe unterstützt.
Seit Heidi Wieczorek-Zeul Ministerin ist, unterstützt
sie die Menschenrechte von Frauen als zentrales Ziel ihrer Entwicklungspolitik.
({5})
Ich möchte ihr dafür heute ausdrücklich danken und ihr
viel Erfolg in Afghanistan wünschen, wo sie sich gerade
aufhält.
In die schreckliche Bilanz der Frauenrechtsverletzungen fallen auch die so genannten Ehren- oder Schandemorde, denen jährlich rund 5 000 Frauen und Mädchen
zum Opfer fallen. Die CDU/CSU thematisiert dies in
ihrem Antrag und ich stimme ihren Forderungen zu.
Es ist ein logisches Prinzip, dass Probleme in den Ländern bekämpft werden, in denen sie auftreten. Es gibt jedoch Situationen, in denen Regierungen nicht willens
oder in der Lage sind, die Verfolgung von Frauen in ihren
Ländern zu verhindern. Für diese Fälle will die Bundesregierung einen Aufenthaltstitel wegen der Verfolgung
aufgrund des Geschlechts sichern. Sie kann sich unter anderem auf deutsche Verwaltungsvorschriften oder auch
Hanna Wolf ({6})
auf die UNO-Sonderkonferenz „Frauen 2000“ in New
York berufen, wo die Genitalverstümmelung als Gewalt
gegen Frauen und als Verletzung der Menschenrechte verurteilt wurde.
Ich finde es deshalb empörend, wenn der bayerische
Ministerpräsident Stoiber genau gegen diesen Aufenthaltstitel bei geschlechtsspezifischer Verfolgung polemisiert
und eine massenhafte Zuwanderung an die Wand malt.
({7})
Erstens ist das menschenverachtend und zweitens können
die meisten Frauen ohnehin keine langen Fluchtwege auf
sich nehmen. Das wurde heute schon betont.
Aber auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kaschiert ihre ablehnende Haltung bei geschlechtsspezifischer Verfolgung damit, dass die Opfer schon heute geschützt seien. Die jetzige Bundesregierung hat sehr viel
zum verbesserten Schutz beigetragen. Aber mit dem angestrebten neuen Aufenthaltsstatus wird gerade diesen
Opfern eine Zukunftsperspektive eröffnet. Der Kollege
Heiner Geißler hat in seiner Rede heute noch einmal unterstrichen, dass sie durch unser Zuwanderungsgesetz einen besseren Status bekommen. Sie alle haben doch selber schon einmal einstimmig einer Entschließung
zugestimmt.
({8})
Damals haben Sie, Frau Eichhorn, noch gefordert, aus geschlechtsspezifischer Verfolgung einen Asylgrund zu machen. Jetzt wollen Sie sie nicht einmal anerkennen und
den Status verbessern.
({9})
So doppelzüngig kann man nicht reden. Sie können nicht
bei Menschenrechtsdebatten so etwas fordern und bei Abstimmungen über Gesetze, mit denen wir etwas verändern
wollen, dagegen stimmen. Das geht nicht.
({10})
- In diesem Antrag tun Sie so, als wenn alles schon bestens geregelt wäre. Es ist besser geworden, das kann
man Gott sei Dank sagen, aber der Status, den wir jetzt anstreben, bedeutet eine wesentliche Verbesserung der
Zukunftsperspektive. Ich bitte Sie herzlich, sich hier nicht
vor einen Karren spannen zu lassen, da Sie doch in dieser
Debatte zum Ausdruck gebracht haben, wie engagiert Sie
bei diesem Thema sind.
({11})
Man kann nur mit einer Zunge reden, nicht mit zweien.
({12})
Unsere Aufgabe ist es, in einer sich globalisierenden
Welt die globale Wertegemeinschaft zu unterstützen, wie
sie sich in der UNO manifestiert. Dafür haben sie und
ihr Generalsekretär Kofi Annan diese Woche den
Friedensnobelpreis erhalten. Dazu gratuliere ich auch von
dieser Stelle sehr herzlich.
({13})
Ich verbinde damit die Erwartung, dass die UNO in ihren
Bemühungen um Menschenrechte von Frauen nicht nachlassen wird.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen „Prävention und Bekämpfung von Frauenhandel“, Drucksache 14/7539. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/6540 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7457, 14/7610 und 14/7793 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7783 mit
dem Titel „Genitalverstümmelung an Mädchen und
Frauen in der Bundesrepublik Deutschland und weltweit
bekämpfen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7784 mit
dem Titel „Rechte der Frauen in Afghanistan durchsetzen
und stärken - Frauen an politischen Prozessen beteiligen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen
von CDU/CSU- und PDS-Fraktion abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP und der PDS auf Drucksache 14/7815 mit dem Titel „Teilnahme von Frauen am
Friedensprozess in Afghanistan“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 12: Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 14/7795 mit dem Titel „Die Spirale der
Gewalt in Tschetschenien durchbrechen“. Wer stimmt für
Hanna Wolf ({0})
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Antrag ist bei Enthaltung von CDU/CSU-, FDP- und
PDS-Fraktion angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/7809 zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für eine
Tschetschenien-Resolution der VN-Menschenrechtskom-
mission“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/3186 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU- und FDP-Fraktion bei Enthaltung der PDS
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie
Zusatzpunkt 14 auf:
8.a) Beratung des Zwischenberichts der Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgung unter
den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung“
Teilbericht zu dem Thema:
Nachhaltige Energieversorgung auf liberalisierten Märkten: Bestandsaufnahme und Ansatzpunkt
- Drucksache 14/7509 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold ({2}),
Dr. Peter Paziorek, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Energiebericht sofort veröffentlichen - Energiekonzept vorlegen
- Drucksache 14/7287 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Walter
Hirche, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Energiebericht für eine energiepolitische
Grundsatzdebatte nutzen
- Drucksache 14/7814 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Dr. Werner
Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Dass der Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung“ des
Deutschen Bundestages und der Energiebericht meines
Hauses heute hier parallel diskutiert werden, begrüße ich
ausdrücklich. Beide Berichte kennzeichnet, unabhängig
von ihren jeweiligen Schwerpunkten, Zielsetzungen und
Zeithorizonten - der Energiebericht geht bis 2020, die Enquete-Kommission macht sich Gedanken über 2050 -, ein
gemeinsames Grundverständnis, und zwar die Feststellung, dass eine zukunftsfähige Energiepolitik Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit gleichrangig im Auge haben muss; denn nur dann ist
sie wirklich nachhaltig.
({0})
Gemeinsam ist auch die Erkenntnis: Wenn sehr ehrgeizige Klimaschutzziele erreicht werden sollen, muss die
deutsche Volks- und Energiewirtschaft einen massiven
Strukturwandel durchlaufen. Ich füge hinzu: Deshalb ist
hier ein internationaler Gleichschritt so wichtig.
({1})
Keine moderne Volkswirtschaft schüttelt einen solchen
Strukturwandel wirtschaftlich oder technisch einfach so
aus dem Ärmel.
Wie schwer es national und weltweit ist, die ökologisch
angestrebte Stabilisierung bzw. Absenkung des CO2-Ausstoßes voranzubringen, zeigt ein Blick auf Zahlen. Innerhalb der EU haben bislang nur Deutschland und das Vereinigte Königreich substanzielle CO2-Minderungserfolge
aufzuweisen.
({2})
Die EU in ihrer Gesamtheit füllt diese eingesparten Emissionen aber leider wieder mit Mehremissionen auf. Darum sage ich: Wer heute mittel- und langfristig allein für
Deutschland eine Absenkung der CO2-Emissionen um
40 bis 50 Prozent anstrebt, ist zu einer gründlichen Auseinandersetzung über die konkreten Voraussetzungen und
Konsequenzen verpflichtet.
({3})
Ich habe zwei mögliche Entwicklungspfade bis zum
Jahr 2020 von erfahrenen Instituten, von Prognos und
dem Bremer Energieinstitut, durchrechnen lassen. Wir
sollten nicht nur die umweltpolitischen Folgen des Nichtstuns im Klimaschutz kennen, sondern auch wissen, welche ökonomischen Lasten wir beim Strukturwandel in der
Energieversorgung bewältigen müssen und welche Sicherheitsrabatte wir zahlen. Denn wir sind ein Energieimportland.
({4})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Ich möchte hier nicht im Einzelnen auf diese beiden
Szenarien eingehen; das ist im Energiebericht nachzulesen. Wichtig aber ist ein Ergebnis: Der Versuch, in
Deutschland isoliert eine nationale 40-prozentige Minderung der CO2-Emissionen zu erreichen, würde dem globalen Klimaschutz kaum nutzen.
({5})
Er würde aber die Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit unserer deutschen Energieversorgung erheblich
beeinträchtigen.
({6})
Wir müssten nämlich weitgehend auf die Nutzung der
Kohle, insbesondere der heimischen Kohle, verzichten.
Die Folge wäre, dass wir nicht nur im Verkehrs- und
Raumwärmesektor, sondern auch im Bereich der Stromerzeugung stärker von der Importenergie Erdgas abhängig
würden oder die Stromerzeugung zu beachtlichen Teilen
ins Ausland verlagerten. Die Gefahr von Importpreissteigerungen mit entsprechenden Auswirkungen auf das
volkswirtschaftliche Wachstum steigt damit erheblich.
Auch die Kosten einer isolierten, nationalen Klimaschutzpolitik für die Volkswirtschaft, die dann auch den
privaten Verbraucher träfen, müssen erwähnt werden.
({7})
Natürlich kann man einwenden, dass solche Szenarien
die Wirklichkeit nicht vollkommen abbilden. Aber solche
Modellrechnungen klären komplexe Handlungszusammenhänge und sind präzise genug, um sicher zu sein. Eine solche Strategie wäre schwerlich als nachhaltig zu bezeichnen.
({8})
Ob wir sie letztlich dennoch verfolgen, bleibt natürlich
einer politischen Entscheidung überlassen. Mir geht es
einzig und allein darum, für eine solche Entscheidungsfindung eine Diskussionsgrundlage zu schaffen.
Ich halte es für notwendig, dass die Gesellschaft in
Kenntnis der Konsequenzen energiepolitischer Strategien
über diese entscheidet und ihre Kosten dann auch akzeptiert. Gleichzeitig geht es mir natürlich auch darum, Wege
zu finden, wie wir möglichst ehrgeizige Klimaschutzziele
zu tragbaren Kosten und möglichst geringen Belastungen
für die Sicherheit der Energieversorgung, für die Volkswirtschaft und für den Einzelnen erreichen können.
({9})
Nach meiner Überzeugung gibt es zahlreiche so genannte No-Regret-Strategien, die absehbare Risiken minimieren, aber gleichwohl zur Zielerreichung beitragen.
„No-Regret“ ist beispielsweise die Steigerung der Energieproduktivität der deutschen Volkswirtschaft bei gleichzeitig stetigem Wirtschaftswachstum. Davon profitiert sowohl
die Versorgungssicherheit als auch die Umwelt.
({10})
Insbesondere auf der Nachfrageseite liegen die Potenziale
für eine Energieeinsparung, namentlich im privaten Bereich.
Der Klimaschutz wird vor allem von einer stärkeren
europäischen und internationalen Ausrichtung unserer
Energiepolitik profitieren. Denn zurzeit heißt Klimaschutz in Europa leider vor allem eines: Deutschland
übernimmt bei einem Anteil von nur 25 Prozent am europäischen Sozialprodukt im Rahmen der Lastenverteilung
drei Viertel, also 75 Prozent der Kioto-Verpflichtungen
bis 2008/2012. Während bei uns die CO2-Emissionen von
1991 bis heute um rund 160 Millionen Tonnen gesenkt
worden sind, sind sie in den übrigen 14 Mitgliedstaaten
um insgesamt 100 Millionen Tonnen gestiegen.
Der Lösung des globalen Klimaproblems werden wir
nur dann näher kommen, wenn sich auch andere Länder
stärker den Klimaschutzanforderungen stellen.
({11})
Nur dann werden sich im Übrigen auch die von uns entwickelten Klimaschutztechnologien tatsächlich exportieren lassen. Denn nur wenn auch im Ausland Klimaschutz
praktiziert wird, werden unsere Technologien Exportmöglichkeiten bekommen.
({12})
Die in verschiedenen Studien prognostizierten Arbeitsplatzeffekte setzen voraus, dass die Nachfrage nach Klimaschutz auch außerhalb Deutschlands entsteht.
Bei diesen Anmerkungen zu den Chancen einer Energiepolitik, die über den nationalen Tellerrand reicht, will
ich es belassen. Ich möchte noch einmal sagen: Lesen Sie
den Energiebericht!
Einen Punkt will ich zum Abschluss noch hervorheben:
Vermeidbare Risiken sollten wir uns im Energiebereich
nicht leisten; denn der Einfluss der Energiepolitik auf das
volkswirtschaftliche Wachstum und auf die Arbeitsplätze
ist außerordentlich hoch. Immerhin ist der Wertschöpfungsbeitrag des Energiesektors höher als der der chemischen Industrie, und sein innovatorisches Potenzial strahlt
in viele Segmente der Volkswirtschaft aus. Ohne eine zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung sind die industrielle Entwicklung sowie der Weg in die Informationsgesellschaft und in eine umweltfreundliche Technik
wohl nur schwer denkbar.
({13})
Das will ich nicht; ich denke, das wollen wir alle nicht.
Hier liegen dann auch bei allen Differenzen im Detail unsere Gemeinsamkeiten.
Vielen Dank.
({14})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeswirtschaftsminister, die Gemeinsamkeiten zwischen dem
Zwischenbericht der Enquete-Kommission und Ihrem
Energiebericht sind mit dem Satz, den Sie mühsam heraussuchen mussten, um Gemeinsamkeiten feststellen zu
können, dann wohl auch erschöpft. Wenn man die Reaktionen der Koalitionsfraktionen auf den Energiebericht,
den Sie vorgelegt haben, sieht und sich den Text des Zwischenberichtes - so wie er jedenfalls von der Mehrheit gesehen wird - insgesamt zu Gemüte führt, stellt man fest,
dass dazwischen Welten liegen.
Die Kritik an Ihrem Energiebericht macht deutlich,
dass es auf Ihrer Seite eine entscheidende Schwäche gibt:
Für Ihren durchaus von Vernunft und von Perspektiven
geprägten Energiebericht haben Sie keine Mehrheit innerhalb der Koalitionsfraktionen.
({0})
- Ich glaube schon, dass ein Minister, der hier für die Bundesregierung einen Energiebericht vorlegt, eine Mehrheit
innerhalb der Regierungskoalition haben sollte.
Der Energiebericht bestätigt in weiten Teilen die Kritik, die CDU und CSU von Anfang an hier vorgetragen haben. Sie selber haben am Anfang Ihrer Amtszeit gesagt,
nach 1991 müsse es eine neue Energiepolitik geben. Nach
drei Jahren haben Sie dafür immer noch keine Perspektiven entwickelt. Sie haben im Energiedialog, der durchaus zu einem Energieprogramm führen sollte, zwar die
Perspektiven für ein Energieprogramm im Verbund von
30 Organisationen, Verbänden und großen Firmen mit auf
den Weg bekommen; aber eine Umsetzung des Energiedialogs in ein Energieprogramm, wie versprochen, ist von
Ihnen nicht vorgenommen worden.
Seit Anbeginn Ihrer Amtszeit zieht sich eine Schwäche
durch die Energiepolitik dieser Bundesregierung: Sie sind
an Ihrem eigenen Anspruch „Wer aussteigt, muss auch sagen, wo er einsteigt“ im Prinzip gescheitert. Bis heute haben Sie keine, auch nicht ansatzweise, an den Kriterien,
die Sie selbst vorgelegt haben, orientierte Perspektive für
2020 aufgezeigt.
({1})
Der Energiedialog, Herr Minister, hat im Übrigen das,
was Sie aufschreiben, schon längst zum Inhalt. Der Kollege Hirche und ich haben nicht zuletzt durch unsere Intervention sichergestellt, dass gerade am Anfang des Papiers über den Energiedialog steht: Dieser Dialog
beantwortet die Fragen, die sich für die Klimapolitik der
Bundesrepublik Deutschland durch den Ausstieg aus der
Kernenergie ergeben, nicht.
Auch Ihr Energiebericht zeigt das Problem auf, gibt
aber keine Antworten. Das aber ist doch die große Frage,
die wir von Anfang an gestellt haben: Welche Konsequenzen hat der Ausstieg aus der Kernenergie und wie
kann er CO2-neutral vonstatten gehen? Die Zusatzkosten
von über 500 Milliarden DM, die Ihr Energiebericht dafür
ausweist, sind nicht neu. Alle, die sich mit der Frage des
Ausstiegs aus der Kernenergie und einem CO2-neutralen
Ausstieg beschäftigen, hätten Ihnen diese Zahlen schon
vor Jahren vorrechnen können.
Gleichwohl ist diese Koalition - dies haben Sie nicht
verhindern können - immer weiter von ihren eigenen Postulaten abgewichen. Diese Bundesregierung war es, die
auf die Große Anfrage der CDU/CSU zur Energiepolitik
im Jahre 1999 im Jahre 2000 geantwortet hat: Wir wollen
eine staatsferne, subventionsfreie, am Wettbewerb orientierte Energiepolitik. Unter Ihrer Ägide sind daraus immer
mehr Subvention und immer mehr Eingriffe des Staates
geworden. Die Krönung ist, dass im Nachhaltigkeitsrat
sogar feste Zahlen für einzelne Technologien vorgegeben
werden. Dies ist ein krasser Widerspruch zu Ihren Postulaten einer subventionsfreien, wettbewerbsorientierten
Energiepolitik, die versucht,die ökonomischen, ökologischen und sozialen Fragen im Sinne der Nachhaltigkeit
miteinander zu verbinden.
({2})
- Richtig: Das ist die Vielfalt in der Regierung.
Ich denke, dass wir mit Ihrem Bericht letztendlich nur
feststellen können, wo die Schwächen der Energiepolitik
der jetzigen Koalition und der Bundesregierung liegen.
Sie haben nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen,
dass wir in der Klimapolitik unsere europäischen Nachbarn mehr in die Pflicht nehmen müssen. Ich habe das
von dieser Stelle aus bei einer klimapolitischen Debatte
dem Bundesumweltminister und diesen Koalitionsfraktionen schon einmal gesagt: Die eine Seite dieses
Hauses hat sich gütlich daran getan, verbal auf den amerikanischen Präsidenten einzudreschen. Nun hat Europa
seine Bilanz zur CO2-Emissionseinsparung seit 1990 vorgelegt. Wie sieht die Realität aus? Alle europäischen Länder außer Großbritannien, Deutschland und Luxemburg
haben im Vergleich zu 1990 ein Plus von bis zu 9 Prozent
bei der CO2-Emissionen stehen.
({3})
- Auch das kann man noch nachweisen. Darauf will ich
jetzt verzichten.
Deswegen wäre es im Interesse Deutschlands in der Tat
dringend geboten, dass wir nicht nur auf die amerikanische Politik einwirken, sondern - gerade in Anbetracht
der jetzt zur Debatte stehenden Rahmenrichtlinie für den
Emissionshandel, die diejenigen, die tätig geworden sind,
noch bestrafen wird - in Europa endlich dafür sorgen,
dass Klimapolitik nicht nur in Deutschland, sondern auch
bei unseren europäischen Nachbarn stattfindet. Dazu
muss diese Bundesregierung eine entsprechende Initiative
ergreifen.
Nach Ihren Kostenrechnungen ergeben sich im Szenario I fiskalische Zusatzkosten von 1 220 Milliarden DM
bis 2020 oder 61 Milliarden DM per annum. Die Situation
verschärft sich um die bereits bekannten Zahlen, wenn
man von einem Reduktionsziel von 40 Prozent gegenüber
1990 ausgeht. Sie erinnern sich, dass Ihnen die CDU/CSU
im Energiedialog angeboten hat, die Zielzahlen auf die
des Kioto-Protokolls zu korrigieren. Darauf sind Sie nicht
eingegangen. Heute sind Sie Gefangener Ihrer eigenen
Ansprüche. Dies reicht bis zu den Interventionen beim
KWK- und dem Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Es ist ja nicht so, dass alle gleichmäßig viel bezahlen.
Die Kämpfe zwischen Eichel und Monti in Sachen Ausnahmen bei der Ökosteuer sowie die hier von Herrn
Jung ganz locker vorgetragene Tatsache, dass im KWKGesetz die energieintensiven Betriebe geschont werden
und die Kosten auf Mittelstand und Tarifkunden verteilt
werden, widersprechen Ihren energiepolitischen Grundsätzen. All das haben Sie nicht verhindern können.
({4})
Wenn ich mir auf der anderen Seite ansehe, welche
langfristigen Handlungsorientierungen Sie selber für richtig halten, so könnte man sich auf die Kriterien Energieeffizienz und langfristige Orientierung der Energiebesteuerung ohne Wettbewerbsverzerrung verständigen.
Immerhin haben wir Ihnen die Bilanz in den letzten zehn
Jahren hinterlassen, dass die Energieeffizienz um jährlich
2 Prozent gesteigert wurde. Dass wir neben die Angebotsorientierung eine Nachfrageorientierung setzen sollten,
ist unbestritten. Es ist ebenso unbestritten, dass wir die
technologischen Innovationen zur Energieumwandlung
und Energienutzung forcieren sollten.
Aber was ist mit den fortgeschrittenen Kraftwerkstechniken? Diese Seite des Hauses - darin liegt der erste
krasse Widerspruch zum Bericht der Enquete-Kommission - will nicht nur aus der Kernenergie aussteigen, sondern auch aus der Energieerzeugung durch Kohle. Mit
uns können Sie in Deutschland eine fortgeschrittene Energieerzeugung durch Kohle - nicht zuletzt im Hinblick
auf den weltweiten Verbrauch von Kohle, auf den wir
nicht verzichten können - betreiben.
Zu den subventionsfreien Energieversorgungsstrukturen habe ich Ihnen das Notwendige gesagt. Sie sind nicht
auf dem Weg in die Subventionsfreiheit, sondern auf dem
Weg zu immer mehr Subventionen. Die Frage ist, wie
lange das bestehende System noch dazu in der Lage ist,
die Subventionen für die Bereiche, die subventioniert
werden müssen, zu erwirtschaften.
Braun- und Steinkohle sind in der Stromerzeugung unverzichtbar. Das ist nicht nur Ihre Auffassung, Herr Minister, sondern auch die des Bundeskanzlers. Das wird aber
auf der linken Seite des Hauses ganz anders gesehen. Ich
sage: Zu Recht nehmen Sie die Außenwirtschaftspolitik
in Ihren Bericht mit auf. Ich vermisse aber auch dort - genauso wie in vielen anderen Ansätzen, auch in der EnqueteKommission - eine Auseinandersetzung mit den Johannesburg-Zielen und eine Antwort auf die Frage, was angesichts
von 2 Milliarden Menschen, die ohne Zugang zu Energie
sind, außerhalb Deutschlands zu leisten ist. Antwort auf
diese Fragen gibt auch Ihr Energiebericht nicht. Solche
Themen müssen aber in einer Zeit, in der wir darüber diskutieren, wie wir weiteren 2 Milliarden Menschen Zugang
zu Energie verschaffen können, stärker herausgearbeitet
werden. Diese Zielsetzung hat eine gewaltige Dimension,
und zwar nicht wegen ihrer Technologieorientierung, sondern weil dies in Bezug auf das einzusetzende Kapital eine
gewaltige Herausforderung darstellt, bei der weder der Entwicklungsetat noch irgendein anderer Haushalt dieses Landes einen entscheidenden Beitrag leisten kann. Es müssen
neue Wege beschritten werden, wenn es gelingen soll. Wir
richten unseren Blick auf Monterrey.
Einen letzten Punkt: Sie fordern verlässliche und langfristige energiepolitische Rahmenbedingungen. Ich kann
Ihnen nur sagen - gerade vor dem Hintergrund der Presseerklärungen der rot-grünen Koalition zu dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission -: Es wird deutlich, dass man nicht auf einen Konsens aus ist. Es ist bis
heute vollkommen klar, dass nicht innerhalb einer Legislaturperiode die Mehrheit entscheidet, wie die Energieversorgung der nächsten 40 Jahre aussieht. Es wäre wünschenswert, wenn - an Ihrem Bericht orientiert - ein
Konsens zustande käme, an dem sich alle, die in Deutschland in Energietechnik und Energiewirtschaft investieren
wollen, langfristig, auch über Regierungswechsel hinaus,
orientieren können. Ihr Bericht liefert eine Grundlage.
Die rot-grüne Koalition besteht darauf, dass sie allein entscheidet, was im Jahre 2050 passiert. So lässt sich nicht
eine gemeinsame Energiepolitik für Deutschland machen.
Herzlichen Dank.
({5})
Jetzt spricht die Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Grill, ich kann mich erstens nicht daran erinnern,
dass die schwarz-gelbe Koalition in ihrer Regierungszeit
in Energiefragen sehr konsensfähig gewesen wäre; im Gegenteil.
({0})
- Aber nicht mit uns.
({1})
Zweitens. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen
werfen: Sie werfen uns vor, dass wir in der einen oder anderen Frage streitbar über die zukünftige Entwicklung,
über das, was im Jahr 2020 oder im Jahr 2050 geschehen
wird, diskutieren. Diesen Vorwurf kann ich, ehrlich gesagt, nicht ernst nehmen, kommt er doch von einer Partei,
die sich wie die Kesselflicker über den nächsten Kanzlerkandidaten streitet.
({2})
Herr Grill, ich finde es besonders schade, dass Sie als
Vorsitzender der Enquete-Kommission „Nachhaltige
Energieversorgung unter den Bedingungen der GlobaliKurt-Dieter Grill
sierung und der Liberalisierung“ so gut wie gar nicht über
unsere Arbeit, die lang und mühselig war, gesprochen haben. Das finde ich, wie gesagt, sehr schade. Das werde ich
anders machen.
({3})
In dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission
machen wir sehr deutlich, dass Klimaschutz eine brandaktuelle Aufgabe ist. Die UN hat sehr deutlich gemacht
- davor hat sie schon früher immer gewarnt -, dass wir
aufgrund unseres Verhaltens in der Vergangenheit die Veränderungen des Klimas nicht mehr aufhalten, sondern deren Auswirkungen nur noch begrenzen können. Es wird
sogar gesagt, dass schon die ganze Welt vom Treibhauseffekt betroffen ist. Es wird prognostiziert, dass die Zahl
der Dürren zunehmen wird - die Zahl der Flächen, auf denen Nahrungsmittel angebaut werden können, hat sich
schon jetzt reduziert -, dass nicht nur die Zahl der Stürme,
sondern auch deren Stärke zunehmen wird, dass es viele
Überschwemmungen und dergleichen geben wird. Schon
heute gibt es mehr Flüchtlinge aus Umweltgründen als
aus jedem anderen Grund. Deswegen ist es im ureigenen
Interesse der Weltstabilität und einer Weltinnenpolitik,
eine aktive Klimaschutzpolitik zu machen.
({4})
Deswegen sind solche Ziele wie das, den Umfang der
CO2-Emissionen bis 2050 um 80 Prozent zu reduzieren,
zwar ambitioniert, aber keine grüne Marotte. Sie sind vielmehr eine wissenschaftlich begründete Notwendigkeit.
Die Frage ist: Spielt Deutschland im Bereich des Klimaschutzes tatsächlich, wie immer gesagt wird, die große
Vorreiterrolle? Wir machen das zwar immer daran fest, indem wir darauf verweisen, dass der Umfang der CO2Emissionen in Deutschland schon um 15,8 Prozent reduziert worden ist. Aber wenn man sich die weltweite
Entwicklung einmal genau anschaut, dann stellt man fest,
dass es Länder gibt, die schon wesentlich mehr erreicht
haben, sofern man nur das Kriterium der Reduktion heranzieht. Russland zum Beispiel hat seit 1990 den Umfang seiner CO2-Emissionen um 40,3 Prozent reduziert,
die Ukraine um 53,5 Prozent.
({5})
- Sie lachen natürlich, weil Sie wissen, dass diese starken
Reduktionswerte mit dem Zusammenbruch des realen
Sozialismus zusammenhängen. Deswegen stimmt es auch
- das kann niemand leugnen -, dass ein Teil der Reduktion in Deutschland teilweise durch den Zusammenbruch
des realen Sozialismus, auf die stärkeren Effekte in den
fünf neuen Bundesländern, zurückzuführen ist. Das ist ein
Fakt, das man nicht hinwegreden kann.
({6})
- In Westdeutschland ist die Energieeffizienz gesteigert
worden. Aber der Umfang der CO2-Emissionen ist faktisch nahezu gleich geblieben, weil die Energieeffizienzsteigerung durch das Wachstum aufgefressen worden ist.
Im letzten Jahr ist der Umfang der CO2-Emissionen in
Gesamtdeutschland wieder gestiegen. Damit liegt
Deutschland voll im Trend, wie ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt: Spanien konnte den Umfang seiner
CO2-Emissionen nur um 3,8 Prozent reduzieren. Schweden schaffte lediglich ein Reduktion von 7,3 Prozent.
Auch Großbritannien konnte den Umfang seiner CO2Emissionen nicht entscheidend reduzieren. Luxemburg
nimmt mit einer Reduktion von 48,6 Prozent eine Sonderstellung ein. Natürlich sind wir - das gilt erst recht,
seitdem Rot-Grün an der Regierung ist - in der Erreichung unserer Klimaschutzziele engagiert. Durch Förderung der erneuerbaren Energien, von KWK und der Altbausanierung haben wir Sachen angestoßen, die
tatsächlich eine aktive Klimaschutzpolitik bedeuten und
die in der Zukunft auch greifen werden. Aber wir sind sehr
überheblich, wenn wir angesichts einer Reduktion von
15,8 Prozent behaupten würden, dass Deutschland der
einzig wahre Vorreiter in Sachen Klimaschutz in der Europäischen Union sei. Das ist Deutschland trotz der bisherigen Anstrengungen nämlich nicht.
Ich frage Sie jetzt einmal anders herum: Haben die
Anstrengungen, die wir bisher zum Beispiel bei den erneuerbaren Energien unternommen haben, zum Nachteil
des Standortes Deutschlands gereicht, wie immer behauptet wird?
({7})
Ich behaupte: Im Gegenteil!
({8})
Sie, Herr Grill, haben hier noch einmal die Kohle verteidigt. Ich sage Ihnen: In Bund und Land zusammen werden jedes Jahr Subventionen für die Steinkohle in Höhe
von 8 Milliarden DM gezahlt.
({9})
Das schafft 50 000 Arbeitsplätze. Das EEG verursacht lediglich Kosten in Höhe von 1 Milliarde DM.
Es hat in einer Zukunftsbranche, einer Branche, die
große Exportmöglichkeiten aufweist, 120 000 neue Arbeitsplätze geschaffen.
({10})
Wenn man das einmal vergleicht, dann kann man sagen:
Eine Klimaschutzstrategie schafft Arbeitsplätze, schafft
Innovation und ist deswegen auch gut für den Standort
Deutschland.
({11})
Wenn wir über Versorgungssicherheit sprechen, dann
müssen wir zur Kenntnis nehmen: Wir werden in der Tat
mehr Gas importieren müssen. Aber wenn man die Kohlestrategie wählt, dann muss Deutschland nach der Prognos-Berechnung absolut gesehen - nicht relativ, weil
man auf Kohle setzt; aber die absolute Zahl ist entscheidend dafür, wie abhängig man ist - mehr Gas importieren
als bei der Klimaschutzstrategie.
({12})
Deswegen ist die richtige Antwort auf die Frage der Versorgungssicherheit und die Frage, wie man Importabhängigkeit reduziert: Energie einsparen und auf die heimischen Energieträger Sonne, Wind und Biomasse setzen.
({13})
Im Zwischenbericht haben wir einen weiteren Bereich
aufgegriffen. Die Einführung von Wettbewerb muss ein
ganz wichtiger Punkt einer aktiven Energiepolitik sein.
Auch in der Diskussion in der Energie-Enquete-Kommission haben wir festgestellt, dass der freie Netzzugang,
wie er im Energiewirtschaftsgesetz gefordert ist, noch
lange nicht Realität ist. Die Normalität ist vielmehr: je
kleiner der Anbieter und je kleiner der Kunde, umso mehr
Behinderung beim Netzzugang. Deswegen ist es notwendig, mit einer aktiven Energiepolitik für einen fairen Netzzugang zu sorgen.
Die aktuelle Diskussion um immer weitergehende Fusionen im Energiebereich muss uns, finde ich, auf etwas
aufmerksam machen. Wir müssen darauf achten, dass es
nicht zu einer so starken Konzentration kommt, dass wir
sozusagen wieder in eine Monopolsituation zurückrutschen.
({14})
Beides zusammengefasst bedeutet - das sagen wir im
Zwischenbericht der Energie-Enquete-Kommission ganz
deutlich -, dass Wettbewerb und Regulierung kein Widerspruch sind, sondern dass gerade im Energiebereich
eine Regulierung, beim Netzzugang zum Beispiel oder
auch durch das Kartellamt, das darauf achtet, dass bei den
Fusionen eine bestimmte Grenze nicht überschritten wird,
dazu beiträgt, die Wettbewerbsintensität zu erhöhen. Da
bewegen wir uns auch langsam aus den Gräben heraus.
Wir haben früher gesagt: Wir brauchen eine Regulierungsbehörde und eine Netzzugangserlaubnis. Sie haben
gesagt: Regulierung ist des Teufels.
({15})
Wir kommen jetzt langsam in eine offenere Diskussion.
Wir sagen: Wir wollen keine große Behörde schaffen,
aber wir wollen die Probleme angehen und den Netzzugang tatsächlich auch gewährleisten.
({16})
Abschließend möchte ich insbesondere meinen Kollegen Wissenschaftlern in der Enquete-Kommission, die
ja heute nicht anwesend sind, für ihre Arbeit danken, und
zwar allen, denen der CDU/CSU, der FDP, der PDS genauso wie denen der rot-grünen Koalition.
({17})
Sie leisten ehrenamtlich, fast unbezahlt, unglaublich viel
Arbeit. Ohne sie wäre unsere Arbeit in der Enquete-Kommission nicht möglich.
Als Zweites ein Dank an die Mitarbeiter des Sekretariats, die hier anwesend sind. Ich weiß, dass wir alle
nicht ganz einfach sind, dass uns in der Enquete-Kommission auch manche Streits begleiten. Bei den Mitarbeitern des Sekretariats möchte ich mich dafür bedanken,
dass sie immer die Ruhe bewahren.
Danke.
({18})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Kurt-Dieter Grill
das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Aufgrund der Formulierung,
die Frau Hustedt auf mich bezogen gebraucht hat, möchte
ich nur festhalten, dass ich zu dem Antrag der CDU/CSUFraktion „Energiebericht sofort veröffentlichen - Energiekonzept vorlegen“ und nicht als Vorsitzender der Enquete-Kommission gesprochen habe. Ich habe leider nicht
verhindern können, dass diese beiden Punkte zusammengezogen worden sind; sie hätten eine getrennte Behandlung verdient. Das wollte ich ausdrücklich festhalten, damit es keine Irrtümer darüber gibt, in welcher Funktion
ich am Rednerpult gestanden habe.
Frau Kollegin Hustedt
zur Erwiderung.
Ich mache es kurz: Ich finde es einfach schade, dass
Sie Ihre Prioritäten so setzen, dass Ihnen die aktive
Auseinandersetzung wichtiger ist als Ihr Amt als Vorsitzender dieser Enquete-Kommission. Darüber habe ich
mein Bedauern zum Ausdruck gebracht.
({0})
Wir fahren in der Debatte fort.
Jetzt spricht der Kollege Walter Hirche für die FDP.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein erstaunlicher Vorfall,
dass es erst einer Plenarsitzung des Deutschen Bundestages bedarf, damit der Energieminister der BundesregieMichaele Hustedt
rung den Mitgliedern der Enquete-Kommission einmal
sagen darf, wie er die Energieentwicklung beurteilt.
Ich verstehe „Enquete-Kommission“ eigentlich so,
dass man sich zusammensetzt und über die Partei- bzw.
Fraktionsgrenzen hinweg mit den Sachverständigen diskutiert. Als die Enquete-Kommission dabei war, einen
Bericht abzufassen, hat das zuständige Mitglied der Bundesregierung seinen Energiebericht vorgelegt. Daraufhin
war es für mich selbstverständlich, beim Vorsitzenden den
Antrag auf Anhörung des zuständigen Ministers in der
Enquete-Kommission zu stellen. Das hat die rot-grüne
Mehrheit abgelehnt.
({0})
- Im Obleutegespräch. Im Obleutegespräch wurde dieser
Vorschlag abgelehnt. Das bedaure ich.
Aber, Herr Berg, aufgrund Ihres Zwischenrufs möchte
ich Folgendes sagen: Ich würde es begrüßen, wenn Sie
heute die Zusage machten, dass wir mit Herrn Müller
nachträglich diskutieren.
({1})
In allem gelten die zwei Hauptsätze der schwäbischen Betriebslehre: „Was koschts?“ und „Wer zahlt’s?“. Deswegen begrüße ich, dass auch die Kollegin Hoffmann von
der SPD, die dem Wirtschaftsausschuss angehört, die
ganze Zeit hier war; schließlich muss man die Dinge nicht
nur unter Umwelt-, sondern auch unter Wirtschaftsgesichtspunkten sehen.
Ich füge aber hinzu: Das ist nicht der einzige Fall - das
muss ich leider in der Öffentlichkeit sagen -, dass die
Mehrheit mit abweichenden Vorstellungen, etwa denen
der Minderheit zu Datengrundlagen, nach dem Motto
„Das wollen wir nicht“ verfahren hat. Wir haben drei Sitzungen gebraucht, um ein Minderheitsszenario, das von
bestimmten Annahmen über die Kosten von konventionellen Techniken ausgeht, überhaupt rechnen lassen zu
können.
({2})
Ich muss in aller Deutlichkeit sagen: Das ist nicht in Ordnung.
({3})
Angesichts der Auffassung Ihrer Mehrheit können Sie
Ihre Szenarien gerne rechnen lassen. Frau Hustedt hat die
Wissenschaftler so hervorgehoben. Unsere Sachverständigen sagen: Wir haben andere Zahlen. Da Sie die Öffentlichkeit dadurch in die Irre führen, dass Sie so tun, als
ginge es immer nur um die Kernenergie, will ich sagen:
Es ging ganz konkret um die Kosten im Zusammenhang
mit der Braunkohle in Deutschland. Nach Ihren Vorstellungen waren als Investitionskosten für neue Braunkohlekraftwerke 3 000 DM je Kilowatt anzusetzen, während
unsere Experten gesagt haben: Das ist für 1 800 DM zu
machen. Wenn man im Hinblick auf die Kosten einer
Technologie fast das Doppelte ansetzt, dann kommt man
natürlich zu völlig anderen Schlussfolgerungen. Es gehört
sich einfach, unterschiedliche Daten in unterschiedlichen
Szenarien zu rechnen.
({4})
Ich freue mich, dass nach drei Sitzungen jetzt wenigstens
ein Minderheitsszenario gerechnet werden kann.
Bezüglich der Arbeit der Enquete-Kommission stelle
ich vier Punkte fest:
Erstens. Entgegen der bisherigen Linie von Rio bis zu
allen anderen Enquete-Kommissionen geben Sie die
Gleichrangigkeit der drei Ziele „wirtschaftlich“, „sozial“
und „ökologisch“ auf. Sie postulieren einen einseitigen
Vorrang der Ökologie. Das ist eine Absage an die Definition von Nachhaltigkeit, wie sie in Rio getroffen worden ist.
({5})
Zweitens. Aus den Daten des IPCC, des zuständigen
weltweiten Fachgremiums, greift sich Rot-Grün lediglich - das wird alles in Englisch ausgedrückt - die Worstcase-Szenarien, das heißt die schlimmsten Szenarien,
heraus, also den nach IPCC-Kriterien wenig wahrscheinlichen, negativen Extremfall, und nutzt dies unter dem
Vorwand der Vorsorge als willkommene Begründung für
so genannte - das entnehme ich der Pressemeldung von
Herrn Berg - „impulsgebende Staatseingriffe“.
Es ist aber unzulässig, dann, wenn mehrere Szenarien
angeboten werden und sich die Institutionen nicht für einen Weg entscheiden, auf eines zuzugehen und die anderen beiseite zu schieben. Wir hatten Ihnen angeboten, das
mittlere Szenario zu rechnen, weil dann die Bundesrepublik Deutschland im Sinne eines „no regret“ - wie der
Wirtschaftsminister gesagt hat - Entscheidungen hätte
treffen können, um eine Vorsorgepolitik im Einklang mit
ihren volkswirtschaftlichen Möglichkeiten betreiben zu
können.
Drittens sage ich: Die Datengrundlage ist einseitig ausgerichtet. Ich habe das Beispiel Braunkohle genannt.
Viertens. Wirtschaftsminister Müller hat erfreulicherweise darauf hingewiesen, dass Sie auf die internationale
Einbettung der deutschen Energiepolitik an vielen Stellen verzichten. Sie und wir alle hier müssen wissen: Der
auf der Welt bestehende Energiehunger, zum Beispiel in
den Entwicklungsländern, wird bestimmt nicht mit subventionierten Energien,
({6})
sondern nur mit hoch entwickelten Effizienztechnologien
gestillt. Das unterschlagen Sie in diesem Zusammenhang.
({7})
Der Wirtschaftsminister hat dargelegt, dass die Realisierung des 40-Prozent-Ziels auf dem Weg, den Sie gehen
wollen, 500 Milliarden DM kostet. Er hat nicht das
40-Prozent-Ziel infrage gestellt, sondern dass Sie unbedingt diesen Weg gehen und unserer Volkswirtschaft diese
enormen Kosten auftürmen wollen; und dies in einer Situation, in der wir aufgrund der Arbeitsmarktsituation, der
Entwicklung des Bundeshaushaltes und der Eigenkapitalsituation der Unternehmen sowie der Einkommenssituation der Arbeitnehmer wirtschaftliche und soziale Erwägungen anstellen sollten.
Ich finde, es ist nicht in Ordnung, dass Sie sich - jedenfalls bisher - geweigert haben, über die Perspektiven des
Energieberichts der Bundesregierung in der Kommission zu reden. Ich würde mich freuen, wenn das nachgeholt werden könnte.
({8})
Es ist völlig unstreitig, dass wir auch für die Generationen nach uns sowie auf dem Globus insgesamt eine Verantwortung haben. Lassen Sie uns das daher nicht mit einseitigen Szenarien rechnen, sondern bringen Sie eine
entsprechende Vielfalt auch in den Bericht hinein. Ich
stelle fest: In den unterschiedlichen Voten der EnqueteKommission lassen sich zwei Sichtweisen erkennen. - Das
ist auch legitim und das will ich überhaupt nicht bestreiten.
Das muss die Öffentlichkeit nur wissen. - Die eine, die rotgrüne Sichtweise, ist die vom Dogma der schlimmstmöglichen Annahmen, von Pessimismus und Untergangsstimmung.
({9})
- Herr Brinkmann, sonst hätten Sie nicht vom IPCC das
unwahrscheinliche Negativszenario gewählt.
({10})
Sie mussten das tun, um zu dem Instrument vom Staatsdirigismus zu kommen.
({11})
Dieser Auffassung setzen wir nicht einfach die geringstmögliche Änderung entgegen - das wäre ein bisschen billig -, sondern wir sagen: Lassen Sie uns gemeinsam einen mittleren Pfad anstreben, damit insgesamt
Realismus herrscht. Der Bundeswirtschaftsminister teilt
diese Auffassung. Ich gehe davon aus, dass der Bericht die
Auffassung der Bundesregierung widerspiegelt, wie das
im Vorwort des Berichts von Herrn Müller ausgeführt
wird. Ich begrüße es, dass der Bundeskanzler auf diese
Weise deutlich gemacht hat, dass dies die Linie der künftigen Energiepolitik ist. Ich würde mir wünschen, dass die
Diskussion darüber dann in der Enquete-Kommission geführt wird.
Deutschland hat sich verpflichtet - lassen Sie mich damit schließen -,
Herr Kollege Hirche,
jetzt muss ich Sie bremsen. Sie haben die Redezeit weit
überschritten.
- eine Vorreiterrolle in der
EU zu spielen. Die Grenze liegt nach den Bonner Empfehlungen inzwischen sogar bei über 100 Prozent, weil
andere Länder - Frankreich und Spanien - Nachschläge
in Bezug auf einen höheren CO2-Ausstoß bekommen haben. Das ist nicht in Ordnung. Auch wir Abgeordnete sind
wie die Minister verpflichtet, Schaden vom deutschen
Volke abzuwenden. Das bedeutet, dass wir die wirtschaftlichen Folgen von Entscheidungen genauso wie die ökologischen und sozialen Folgen abwägen müssen.
({0})
Lassen Sie uns das neu versuchen.
({1})
Jetzt spricht für die
PDS-Fraktion der Kollege Rolf Kutzmutz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicher ist es ein Zufall, aber für mich
schon ein bemerkenswerter, dass wir heute den Zwischenbericht der Energie-Enquete-Kommission und Forderungen nach einem langfristigen Energiekonzept debattieren und sich am selben Tag Koalition und Regierung
zum wiederholten Male mit einigen Verbandsvertretern
auf ein seit zwei Jahren auf der politischen Agenda stehendes Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz zu einigen versuchen.
({0})
- Davon bin ich nicht so überzeugt.
Er macht das Dilemma der Regierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen insbesondere im Energiebereich deutlich. Statt politische Konzepte für langfristige
und unverzichtbare Klimaschutzziele ohne Verlust an
Lebensqualität vorzulegen, Konzepte also, die die Nachhaltigkeit des Energiesystems im Zeitalter von Liberalisierung und Globalisierung sichern könnten, finden
tagespolitisch motivierte Kungelrunden mit aus meiner
Sicht zum Teil umweltpolitisch fatalen Folgen statt.
({1})
Natürlich plädieren auch wir für die Einbeziehung von
Sachverstand aus der Wirtschaft in die Vorbereitung und
Qualifizierung politischer Entscheidungen. Wir finden es
aber abenteuerlich, wenn das Parlament zum bloßen
Notariat von Vereinbarungen eines kleinen intimen Herrenkreises reduziert werden soll, von Vereinbarungen, die
erstens zulasten Dritter geschlossen werden, nämlich zulasten der Masse der Stromverbraucher wie auch vieler
Entwickler und Produzenten neuer effizienter Produkte
und Technologien, und zweitens in ihrer Bindung völlig
einseitig sind.
BDI-Präsident Rogowski und die Vertreter anderer
Verbände können sich zu viel verpflichten, umsetzen
müssten es ihre Mitgliedsunternehmen. Hier gilt wie in
politischen Parteien: Kein Mitglied kann für die Unterschrift seines Parteivorsitzenden persönlich haftbar gemacht werden. Kurzum: Der Staat verteilt Geschenke; ob
die Gesellschaft dafür eine Gegenleistung der Beschenkten erhält, bleibt letztlich dem Prinzip Hoffnung
überlassen.
Wir meinen: An die Stelle des Diktats so genannten
Konsenses muss endlich wieder konzeptionell fundierte
und demokratisch legitimierte Politik treten.
({2})
Dazu könnte die Enquete-Kommission wichtige Voraussetzungen schaffen. Nur leider scheinen sich die anderen
Fraktionen in einem Punkt einig zu sein, dass nämlich
langfristige Klimaschutzziele kaum noch eine Rolle
spielen. Natürlich gibt es zwischen ihnen einen taktischen
Streit. Morgen werden wir ihn bei der Debatte über ein
Gesetz zur jahrzehntelangen Betriebsgarantie für
Atomkraftwerke wieder erleben. Sarkastisch hat kürzlich
einmal jemand gesagt: Die Betriebsgarantie hat eine so
lange Laufzeit, dass manches Atomkraftwerk das Ende
der Garantie wahrscheinlich nicht erleben dürfte.
Es ist schon bezeichnend, dass sich in der EnqueteKommission weder die Regierungsparteien noch die konservative Opposition eindeutig über die Nichtnachhaltigkeit des gegenwärtigen globalen wie des nationalen
Energiesystems äußern wollten.
({3})
- Lieber Kollege, ich bin Vertreter, und wenn wir mal eine
so große Fraktion haben wie ihr, dann geht ein Vertreter
auch dann hin, wenn die anderen da sind. Also rede nicht
so einen Blödsinn, halte dich jetzt zurück.
({4})
Die PDS musste sie in einem Sondervotum auf die entsprechenden Ergebnisse des Wissenschaftlergremiums
der Klimarahmenkonvention aufmerksam machen, die
Sie alle nicht wahrhaben wollen, ebenso auf die Tatsache,
dass Nachhaltigkeit weder durch Liberalisierung noch
durch Globalisierung im Selbstlauf zustande kommt.
Für eine diesem Ziel angemessene Re-Regulierung liegen die Vorschläge meiner Fraktion seit August auf dem
Tisch. Die mit der Globalisierung weiter verschärfte Spaltung der Welt, auch in Energiereiche und Energiearme,
muss endlich durch eine neue Entwicklungszusammenarbeit überwunden werden. Die Industrieländer als Hauptverantwortliche des bisherigen Klimawandels müssen
den umfassenden Einstieg der Entwicklungsländer in ein
Solarenergiezeitalter bezahlen. Das käme im Übrigen
allen Seiten am billigsten, durch Verzicht auf zentrale
Netze und das Ermöglichen eigenständiger ländlicher
Entwicklung.
Meine Damen und Herren, leider bleibt bisher nur ein
Fazit: Umrisse einer konsistenten Energiepolitik sind
bisher weder in der Regierungspolitik noch in der Energie-Enquete-Kommission sichtbar geworden. Die Regierungsfraktionen konnten in ihrer Zerstrittenheit keine
gemeinsame Energiestrategie entwickeln. Die konservative Opposition hat keine überzeugenden Antworten auf
die Herausforderung des Klimawandels und hält - aus
meiner Sicht wider besseres Wissen - an der Hochrisikotechnologie Kernkraft fest.
({5})
Die PDS hat andere energiepolitische Vorstellungen.
Dazu gehört das Festhalten an langfristigen klimapolitischen Zielen, die auch durch den sofortigen Ausstieg aus
der Atomenergie, den Ausbau des Anteils erneuerbarer
Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung und die Regulierung der liberalisierten Energiemärkte zugunsten lokal
und regional effizienter Energieproduktion und -verwendung erreicht werden können. Dazu gehört auch die Unterstützung der Entwicklungsländer in der Schaffung einer nachhaltigen dezentral organisierten Energiebasis.
Das sind aus unserer Sicht wesentliche Bestandteile für
eine verantwortliche Energiepolitik des 21. Jahrhunderts.
({6})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Axel Berg für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Regierungskoalition hat sich
immer wieder ernsthaft um Konsens in der EnqueteKommission bemüht.
({0})
Herr Hirche, die Enquete macht keine Tagespolitik. Deswegen haben wir gesagt, dass der Bundeswirtschaftsminister erst dann in unsere Runde kommen soll, wenn unsere Szenarien vorliegen. Erst dann macht es Sinn, mit
ihm zu sprechen, wenn wir seine mit unseren Szenarien
vergleichen können.
Einiges ist uns gelungen, aber es gab auch viele faule
Kompromisse. Das ist schon wahr. Leider war das bei den
Themen Globalisierung und Liberalisierung auch der
Fall: Erst haben wir wochenlang diskutiert und mühsam
Kompromisse gefunden, doch dann meinten Sie, meine
Herren von der CDU/CSU und FDP, ein Minderheitsvotum nach dem Motto abgeben zu müssen: Globalisierung
und Liberalisierung sind prima, der Markt wird es schon
richten. Wenn man bei diesen Themen so platt wie die Opposition von rechts argumentiert, dann besitzt man bei realen Herausforderungen keine Handlungsfähigkeit mehr.
({1})
Wir von der SPD haben versucht, ein recht differenziertes Bild der Globalisierung zu zeichnen. Wir werden
uns weiterhin mit den positiven und den negativen Aspekten des Prozesses auseinander setzen und ihn, soweit es in
unseren Möglichkeiten steht, auch gestalten. Natürlich
führt das zu der Frage: Wo liegen für ein Hochtechnologieland wie Deutschland die Chancen in diesen Prozessen? Man wird doch diesem Thema nicht dadurch gerecht,
dass man, wie die CDU/CSU es tut, einfach behauptet:
Globalisierung ist prima.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war ein mühsamer
Weg, ein paar Gemeinsamkeiten zu finden. Nach wie vor
trennt uns in der Nachhaltigkeitsdebatte sehr viel von
der Opposition. Die wichtigsten Punkte sind dabei die
Themen Naturschranken, Gleichrangigkeit der drei Dimensionen des Nachhaltigkeitsbegriffs und Atomenergie.
Wir kommen doch nicht daran vorbei, dass letztendlich
der Mensch in die Abläufe der Natur eingebunden ist. Daher führt auch kein Weg, so unangenehm er auch sein
mag, an der Erkenntnis vorbei, dass die drei Dimensionen
der Nachhaltigkeit eben nicht gleichrangig sein können.
({3})
Wenn Grundregeln der Ökologie nicht beachtet werden, wird sich die Natur in Form von Schäden rächen, die
wir später unter Einsatz von viel Geld wieder reparieren
müssen, wenn es denn überhaupt geht. Beim Ozonloch
beispielsweise scheint die Menschheit die Notbremse gerade noch rechtzeitig gezogen zu haben; dieses Problem
scheinen wir in den Griff zu bekommen. Beim Erhalt der
Artenvielfalt haben wir schon verloren. In der Gesundheitspolitik predigen wir immer: Vorbeugen ist besser als
Heilen. Bei Energiefragen hat diese Forderung schon fast
den Ruch von Ketzerei, weil sie mit Eingriffen in die üblichen Einflusssphären und das Business as usual verbunden ist. Wir von der SPD wollen niemandem etwas wegnehmen, aber wir erwarten, dass das Primat der Politik in
einer Frage beachtet wird, die für das Überleben der
ganzen Menschheit wichtig ist.
({4})
Der Versuch der CDU/CSU, die Alternative „Atomenergie oder Klimawandel“ nach dem Motto aufzubauen,
mit einem Restrisiko müssten wir nun einmal leben, ginge
allenfalls noch an, wenn wir keine Optionen hätten. Nur
ist der Punkt: Es gibt jede Menge Optionen. Alle sind bereits erfunden und hochinteressant. Sie von der rechten
Opposition bieten dem Kranken die Wahl zwischen Pest
und Cholera an, obwohl es doch eigentlich um die Wahl
zwischen Pest und Gesundheit ginge.
Dennoch möchte ich hier auch betonen, dass es sehr
wohl bemerkenswerte Übereinstimmungen in der Enquete-Kommission gab, so zum Beispiel in der Feststellung, dass unser Energiesystem nicht nachhaltig ist. Diese
konsensuelle Erkenntnis ist von großer Bedeutung, denn
sie fordert uns alle zum Handeln auf. Weiterhin sind wir
uns einig, dass ein zentrales Schlüsselelement für die
Nachhaltigkeit die Internalisierung der externen Kosten ist. Unter diesen Vorzeichen verstehe ich umso weniger, warum die Opposition nach wie vor gegen die Ökosteuer ist.
({5})
Die Klimakatastrophe hat bereits begonnen. Zwei Drittel
des Treibhauseffekts sind vom Menschen gemacht. Für
Klima- und Ressourcenschutz zu kämpfen ist Friedenspolitik und Krisenprävention: Wir haben jetzt die Wahl, entweder Milliarden in Armeen zu stecken, um unsere Öltanker zu
schützen, jedenfalls solange es noch Öl gibt, oder mit dem
gleichen Geld Technologien weiterzuentwickeln, um Effizienz zu erhöhen, erneuerbare Energien voranzubringen und
Energie, zum Beispiel auch durch Wärmedämmung, einzusparen. Wenn wir das alles tun, schaffen wir Profite und Jobs
im Inland und erobern neue Exportmärkte.
({6})
Wir verringern unsere Abhängigkeit vom Ausland, schonen die Umwelt und unsere Zahlungsbilanz.
Ziel der SPD ist und bleibt es, die Kohlendioxidemissionen in Deutschland von 1990 bis 2020 um 40 Prozent
und bis 2050 um 80 Prozent zu reduzieren; das ist schlicht
ein Gebot für das Überleben der Menschen auf diesem
Planeten. Das sagen übrigens auch die 500 besten Wissenschaftler der Welt, die im Intergovernmental Panel on
Climate Change versammelt sind.
Angesichts der langfristigen Reinvestitionszyklen auf
dem Energiesektor müssen wir jetzt konsequent die Weichen in Richtung Nachhaltigkeit stellen. Die Bedenkenträger finden sich - man glaubt es kaum - auf der rechten
Seite bei der Opposition.
({7})
Wo gibt es denn so etwas? Früher dachte ich immer, dass
die Opposition die Regierung jagt; aber unsere Opposition bremst ununterbrochen.
Doch nun zurück zu unseren Gemeinsamkeiten: Fossile
Energieträger sind zwar noch reichlich vorhanden. Wenn
wir sie aber alle verbrauchen - in diesem Punkt sind wir
uns in der Kommission einig -, haben wir eine schlechte
Luft. Das ist so ähnlich wie bei einem opulenten Buffet:
Wenn man zu viel isst, liegt es einem schwer im Magen.
Die Schwellen- und Entwicklungsländer wollen auch am
Buffet teilnehmen, was auch in Ordnung ist. Wenn aber
alle in gleicher Weise an dem Buffet teilnehmen, wird uns
irgendwann das ganze Restaurant um die Ohren fliegen.
Deswegen liegt in der Energiepolitik eine so wichtige
Aufgabe. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen zu
Wohlstand kommen und Hunger und Armut auf der Welt
besiegt werden. Dies kann nur gelingen, wenn wir nachhaltige, zukunftsfähige Lösungen finden. Ansonsten wird
die Erde kaputtgehen und mit ihr die Menschen.
Meine Damen und Herren, Aufgabe der Industrie wird
es in den nächsten Jahren sein, Produkte zu entwickeln,
die sich durch geringeren Verbrauch bei effizienterer
Leistung und durch die Nutzung erneuerbarer Energien
auszeichnen. Herr Grill, Sie irren: Niemand sperrt sich gegen Clean-Coal-Technologies. Selbstverständlich sind
wir für die besten Technologien.
({8})
- Ich habe nichts davon mitbekommen, dass jemand in der
Enquete-Kommission gesagt hätte, dass das Quatsch ist.
({9})
- Dann weisen Sie es mir nach! Ich bin anderer Meinung;
ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.
({10})
Es geht nicht nur darum, dass die Industrie weniger
Rohstoffe verbraucht und ihren CO2-Ausstoß mindert
- das tut die Industrie bereits -, sondern auch darum, dass
sie schon aus Eigeninteresse darauf setzt, dass Güter und
Dienstleistungen der Zukunft innovativ und emissionsmindernd sind, die sich dann auch verkaufen lassen. Die
Industrie der erneuerbaren Energien ist jetzt noch ein
kleines Pflänzchen; um es heranwachsen zu lassen, gibt es
staatliche Subventionen. Aber politische Unterstützung
gibt es nur so lange, bis die erneuerbaren Energien selbst
reife Früchte tragen.
Die Innovationen der Industrie werden nicht zuletzt
mit Blick auf die Kioto-Instrumente zum Exportschlager
Deutschlands werden; davon bin ich überzeugt.
Herr Kollege Berg,
ich muss Sie jetzt an die Redezeit erinnern.
Ein letzter Satz: Neue Ideen und
unser Wissen sind der wichtigste Rohstoff unserer Zukunft. Ich hoffe, dass wir in unserem Endbericht etwas besser zusammenkommen werden, als es bisher der Fall war.
Ich danke Ihnen.
({0})
Jetzt spricht der Kollege Franz Obermeier für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Berg, Ihre Rede war
amüsant.
({0})
Es war ihr deutlich anzumerken, dass Sie den Sinn der Enquete-Kommission überhaupt noch nicht erfasst haben.
({1})
Sie haben dargelegt, dass Sie in den Sitzungen eine große
Konsensbereitschaft an den Tag gelegt hätten. Sie haben
sich sogar dazu verstiegen, uns vorzuwerfen, dass wir an
dem Kapitel „Globalisierung und Liberalisierung“ mitgearbeitet, zum Schluss aber ein abweichendes Papier vorgelegt hätten. Ich weiß auch, dass Sie sich nur schwer an
Vorgänge erinnern können, die ein paar Tage zurückliegen. Bei der Behandlung dieses Kapitels haben wir schon
im Plenum Auseinandersetzungen geführt. Sie haben Ihre
Mehrheit ausgenutzt, was uns veranlasst hat, uns selbst zu
positionieren.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, wir haben nie gesagt, dass
Globalisierung immer prima ist. Unsere Formulierung zu
diesem Thema lautet: Die Globalisierung beinhaltet für
die Menschen enorme Chancen, aber auch Risiken. Die
Aufgabe der Regierungen ist es, einen entsprechenden
Rahmen zu schaffen, damit die Risiken gemindert werden
können, so es überhaupt möglich ist.
({3})
Es gibt im Rahmen der gesamten Auseinandersetzungen in der Enquete-Kommission ein ganz zentrales
Konfliktfeld, nämlich dass Rot-Grün nicht bereit ist, die
Gleichrangigkeit der drei Dimensionen des Leitbildes
der Nachhaltigkeit zu akzeptieren.
({4})
Ich sage Ihnen von Rot-Grün: Sie stehen mit dieser Auffassung völlig alleine.
({5})
Es gibt den Abschlussbericht der Enquete-Kommission
„Schutz des Menschen und der Umwelt“ aus der 13. Legislaturperiode, in dem diese Gleichrangigkeit eindeutig
enthalten ist.
Weiter nenne ich den Abschlussbericht des Energiedialogs 2000. Herr Bundesminister, ich darf daraus zitieren:
In der Praxis bedeutet die Verwirklichung des
Nachhaltigkeitsprinzips, dass ökonomische, ökologische und soziale Aspekte gleichermaßen beachtet
werden.
Auch der Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung gibt
uns in unserer Auffassung in seinem Dialogpapier vom
15. November dieses Jahres Recht. Dort steht geschrieben:
Nachhaltige Entwicklung heißt, den nachfolgenden
Generationen in Deutschland und in der Welt ein
intaktes ökologisches, soziales und ökonomisches
Gefüge zu hinterlassen und dabei Umweltgesichtspunkte gleichberechtigt mit sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu berücksichtigen.
Weiter heißt es:
Nachhaltigkeitsstrategien sind keine Umweltpläne.
Sie sind mehr. Sie wollen alle drei Dimensionen der
Nachhaltigkeit umsetzen. Zwischen den drei Dimensionen Ökologie, Soziales und Wirtschaft besteht
eine gegenseitige Abhängigkeit. Keine Säule kann
isoliert stehen, um das „Haus der Nachhaltigkeit“ zu
tragen.
({6})
Ein generelles „Primat der Ökologie“ gibt es ebenso
wenig wie einen grundlegenden Vorrang des Wirtschaftens oder sozialer Belange.
Diese drei Dokumente sind Beleg Ihrer Schieflage in
dieser Frage.
({7})
Das Primat der Ökologie ist ein Kernproblem in unserer gesamten Auseinandersetzung in der Enquete-Kommission. Sie wollen nicht akzeptieren, dass wir drei
gleichrangige Dimensionen haben, die wir in einem
Diskussionsprozess gegeneinander abwägen und dann darüber demokratisch entscheiden sollten.
Als dritten Punkt nenne ich: Ihr Blick, den Sie in der
Enquete-Kommission bei jeder Sitzung an den Tag legen,
ist viel zu sehr auf die nationale Energiebetrachtung eingeengt. Wir müssen begreifen, dass Energiepolitik global
zu sehen ist. Wenn wir die Klimafrage wirklich ernst nehmen, dann müssen wir uns mit den globalen Themen auseinander setzen.
Es ist heute schon einmal gesagt worden: Deutschland
trägt zur CO2-Emission nur ganze 3,6 Prozent bei. Wir
müssen sehen, dass es Länder auf der Welt gibt, die einen
enormen wirtschaftlichen Aufschwung haben werden. Ich
nenne nur die beiden Länder - es gibt noch eine ganze
Reihe anderer Länder - China und Indien. Wenn es uns
nicht gelingt, mit modernsten Technologien eine bezahlbare und ausreichende Energieversorgung für diese Länder zu installieren, dann können wir in Deutschland die
Klimaprobleme zwar auf Null zurückführen, wir werden
aber das Weltklimaproblem nicht in den Griff bekommen.
({8})
Wenn der Bundeswirtschaftsminister in seinem Energiebericht feststellt, dass wir uns nicht „vom Vorreiter
zum Einzelgänger“ entwickeln dürfen, dann hat er natürlich Recht; denn Einzelgänger mag niemand. Streber sind
auf der Welt nicht beliebt. Ein solches Verhalten können
wir uns nicht leisten. Wir müssen sehen, dass wir mit unseren Zielen, mit unseren Technologien und mit unseren
Instrumenten eine vernünftige Energiepolitik auch für die
Länder machen, die sich jetzt wirtschaftlich entwickeln.
Als vierter Punkt stört mich an Rot-Grün ganz massiv,
dass Sie bei allen Diskussionen immer technikbezogen
diskutieren.
({9})
Bezüglich der Rolle des Staates sagen Sie immer, dass er
sich ganz konkret auf einzelne Techniken konzentrieren
soll, um mithilfe dieser entsprechende Ziele zu erreichen.
Diese Art des Staatsdirigismus ist völlig unangemessen.
Der Staat sollte sich auf das Festlegen von Rahmenbedingungen beschränken.
Nun komme ich zur rot-grünen Strategie der drei E:
Einsparung, Effizienz und erneuerbare Energien. Bei der
Einsparung und der Effizienzsteigerung gibt es Potenziale. Die zurückliegende Zeit hat bewiesen, dass es in
diesen Bereichen gut weitergehen kann und dass die gesamte technologische Entwicklung in beiden Bereichen
dazu führen wird, dass auch der Verbrauch von Primärenergie und -energieformen zurückgehen kann.
Sie tun gelegentlich so, als ob die CDU/CSU keine erneuerbaren Energien fördern will.
({10})
Erneuerbare Energien wurden schon zu Zeiten der KohlRegierung massiv gefördert. Wir stehen noch heute zur
Förderung der erneuerbaren Energien.
Wir müssen aber auch zusehen, dass die Fördermenge
- die Förderung muss volkswirtschaftlich rentabel sein nicht zu groß wird, damit es durch die erneuerbaren
Energien nicht zu einer echten Belastung kommt. RotGrün sage ich: Auch die Energiekosten sind ganz entscheidend für den volkswirtschaftlichen Erfolg eines
Landes. Es wird häufig unterschätzt, dass auch die Energiepreise ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Erfolg sind.
({11})
- Die Theorie, dass Öl immer teurer wird - auch durch
Sonderereignisse -, wird aktuell widerlegt. Es gibt also
überhaupt keinen Grund, dies heute zu sagen.
Ich möchte noch ein Wort zur Kohle sagen: Wer sagt,
dass man in Deutschland aus der fossilen Energie aussteigen werde, muss wissen, dass damit ein Technologiebereich tangiert wird, der in bestimmten Bundesländern
unseres Landes eine erhebliche Rolle spielt.
({12})
Deutschland ist in der Kohletechnologie - sowohl in der
Gewinnung als auch in der Verarbeitungstechnologie mit an der Weltspitze. Wir unterstützen Rot-Grün nicht,
wenn sie propagiert, dass sie aus der Kohletechnologie
aussteigen wird.
({13})
Als kleine Nachhilfe für meinen Kollegen Berg erinnere ich an den Antrag des Sachverständigen Wodopia,
der in der Enquete-Kommission mit der Mehrheit von
Rot-Grün abgelehnt wurde. Wir als Minderheit haben für
diesen Antrag gestimmt. Herr Berg, ich empfehle Ihnen,
dass Sie das Protokoll noch einmal nachlesen, damit Sie
sich das wieder vergegenwärtigen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein Wort
zur Rolle des Staates sagen: Der Staat soll nach unserer
Auffassung geeignete Rahmenbedingungen vorgeben
und nicht in spezielle Energietechnologien eingreifen. Er
muss marktwirtschaftlichen Instrumenten den Vorzug geben. Ich denke beispielsweise an den gesamten Bereich
der Selbstverpflichtung. Er muss zusehen, dass es funktioniert. Darüber hinaus muss er das Ordnungsrecht als
Ultima Ratio betrachten. Die Entscheidungen, welche
Technologien entsprechend dieser Anreize wirklich zum
Einsatz kommen, sollten dem Markt und den Akteuren
überlassen werden.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein Wort zur
Enquete-Kommission, bezogen auf den internen Bereich,
sagen.
Das müsste aber aufgrund der Zeit wirklich nur eines sein.
Es sind nur noch ein
paar Sätze.
Nein, ein Satz.
Ich möchte mich bei
den Sachverständigen für die weitgehend sehr sachbezogene Arbeit bedanken. Ich habe auch allen Grund, mich
bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekretariats für ihre vorzügliche Arbeit, die sie für uns leisten, zu
bedanken.
Herzlichen Dank.
({0})
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Monika Ganseforth für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Warum es so lange
gedauert hat und wie schwer es war, diesen Bericht zu erarbeiten, spiegelt die heutige Debatte wider.
Ich möchte aber gleich am Anfang meiner Rede auch
im Namen meiner Fraktion allen, die in der EnqueteKommission mitgearbeitet haben, vor allen Dingen den
Wissenschaftlern, den wissenschaftlichen und sonstigen
Mitarbeitern, danken. Es war wirklich eine schwierige Arbeit.
({0})
Es gibt eine inzwischen über 20-jährige Tradition der
Energie-Enquete-Kommissionen. In der 9. Wahlperiode,
ab 1980, gab es die Enquete-Kommission „Zukünftige
Kernenergiepolitik“. In der 11. und 12. Wahlperiode, von
1987 bis 1994, haben die Klima-Enquete-Kommissionen
im Dialog zwischen Wissenschaft und Politik, wie es sich
für Enquete-Kommissionen gehört, die Grundlagen für
die Lösung der Probleme aufgrund der Treibhausgasemissionen gelegt, die notwendigen und möglichen Maßnahmen für die Bereiche Energie, Verkehr, Landwirtschaft
und Wälder festgelegt und für den Bundestag Empfehlungen ausgesprochen.
Inzwischen, besonders nach dem Regierungswechsel
vor drei Jahren, wurde damit begonnen, diese Empfehlungen umzusetzen. Minister Müller hat vorhin in seiner
Rede darauf hingewiesen, dass in diesen drei Jahren eine
ganze Menge passiert ist.
Wir müssen aber nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen der neuen Enquete-Kommission feststellen,
dass wir national und vor allen Dingen international von
einer nachhaltigen Energieversorgung noch sehr weit entfernt sind. Da sind wir uns auch einig. Wir könnten aber
mit der Arbeit in der Enquete-Kommission weiter sein,
wenn nicht von der rechten Seite des Hauses leider immer
wieder versucht würde, alte, verlorene Schlachten erneut
zu schlagen.
({1})
Dazu gehört zum einen der Streit um die Zukunft der
Atomenergie.
({2})
Es kostet sehr viel Zeit und Kraft, in der Enquete-Kommission über Jahre immer wieder darüber zu diskutieren.
In der Vergangenheit hat der Streit über diese Energie, deren Anteil an der Primärenergie in Deutschland etwas
mehr als 10 Prozent beträgt, die Erarbeitung der Maßnahmen für eine konsistente Energienutzung und -bereitstellung in Deutschland blockiert.
({3})
Wir waren der Meinung, dieser Streit müsste jetzt beendet
sein; aber Sie tragen ihn leider wieder in die EnqueteKommission hinein.
({4})
- Wenn Sie das nicht mehr machen wollten, wäre das sehr
schön. Ich denke nur an die Szenarien, von denen Sie und
auch Herr Hirche gesprochen haben. Das ist evident und
das können Sie nicht wegdiskutieren.
({5})
Ein zweites Beispiel dafür, dass die alten Schlachten
erneut geschlagen werden - auch da waren wir, wie ich
denke, schon einmal weiter -, ist, dass Sie anfangen, die
Risiken durch die Klimaveränderungen zu hinterfragen
und zu verharmlosen. Die Wissenschaft weist nach wie
vor mit großer Mehrheit nachdrücklich darauf hin, dass
das Energierisiko nicht kleiner geworden ist, sondern dass
sich der Verdacht, dass wir ein großes Risiko eingehen, erhärtet hat, dass es Naturschranken gibt, die man nicht
ohne dramatische Folgen für unsere Erde und für die
nachfolgenden Generationen überschreiten darf.
Sie erkennen diese Naturschranken nicht an. Das ist
eine neue Qualität der Diskussion.
({6})
Selbst die Kompromissformulierung, die wir Ihnen angeboten haben, wie in vielen anderen Bereichen statt von
Naturschranken lieber von Leitplanken zu sprechen, da
diese Bezeichnung vielleicht etwas weicher ist, haben Sie
nicht akzeptiert. Damit sind wir wieder einen großen
Schritt rückwärts gegangen. In den alten Klima-EnqueteKommissionen, denen ich angehört habe, waren wir uns
über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass es diese Naturschranken gibt.
({7})
Dies hat uns in der Kommission viel Zeit und Kraft gekostet. Dabei ist eigentlich alles klar. Eine nachhaltige
und zukunftsfähige Energiepolitik muss ökonomische,
ökologische und soziale Aspekte gleichermaßen berücksichtigen - das ist richtig -, aber sie muss auch die Naturschranken beachten, die auf der ökologischen Seite gegeben sind, was durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse
untermauert wird. Das ist ein Fakt, der auch von Ihrer
Seite anerkannt werden müsste, dem Sie sich aber verschließen.
Zwischen den drei Säulen Ökonomie, Ökologie und
Soziales gibt es in weiten Bereichen Übereinstimmung.
Sie stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern sind
weitgehend deckungsgleich. Eine nachhaltige Energiepolitik muss zum Beispiel auf Atomenergienutzung mit
ihren Risiken verzichten. Sie muss auf lange Sicht aus den
fossilen Energien aussteigen. Sie muss Energieeffizienz
in der gesamten Energiekette erzielen. Dazu gehören beste Kraftwerkstechnik genauso wie eine vernünftige Isolierung der Gebäude und beste Geräte. Es hieß vorhin, die
Energieproduktivität habe unter Ihrer Regierung um
2 Prozent im Jahr zugenommen. Wir liegen Gott sei Dank
inzwischen deutlich höher, aber es reicht noch nicht. Die
Energieeffizienz muss noch verbessert werden.
Schließlich muss der forcierte Ausbau der erneuerbaren Energien in der ganzen Palette erfolgen. Dazu gehört
Wind, dazu gehören Wasser, Biomasse, Geothermie. Alles, was auf diesem Gebiet zu holen ist, muss entwickelt
und auf den Markt gebracht werden. Das ist sowohl ökonomisch als auch ökologisch und auch sozialverträglich
und nachhaltig. Dass eine solche nachhaltige, zukunftsfähige Energieversorgung, also die Energiewende, nicht
allein national, sondern international umgesetzt werden
muss, versteht sich von selbst.
Ich möchte den wichtigen Spruch wiederholen, den ich
zum ersten Mal von Willy Brandt gehört habe, der aber
wahrscheinlich anderswoher stammt und heute noch
wichtig ist: „Global denken, lokal handeln!“ Darin bildet
sich meiner Meinung nach die Aufgabe der Energie-Enquete-Kommission ab. Das macht deutlich, was wir unter
„nachhaltig“ und „zukunftsfähig“ verstehen.
Ich hoffe, dass wir im Fortgang der Arbeit weniger
Kontroversen und mehr Gemeinsamkeiten im Interesse
dieser Maxime haben.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ulrich Kasparick.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Für die Zuhörer kurz zur Erklärung: Was Sie hier erleben, ist der Versuch der Auswertung eines Zwischenberichts einer Kommission. Sie
merken vielleicht, dass die Art der Diskussion, die die
Kommissionsarbeit in der letzten Zeit bestimmt hat, hier
fortgesetzt wird. Das ist nicht immer ganz zielführend.
Ich möchte dem, was bereits von den Kolleginnen und
Kollegen gesagt worden ist, noch einen Gedanken hinzufügen und insbesondere an die Adresse der Kollegen unserer Fraktion sagen: Wir müssen uns in der nächsten Zeit
verstärkt auf einen Bereich konzentrieren, den wir in der
ersten Periode der Enquete-Kommission nach meinem
Eindruck noch nicht deutlich genug bedacht haben. Das
ist die Frage: Woran wollen wir eigentlich messen, dass
wir in unserer Gesellschaft innovationsfreudig sind, und
wie wollen wir unsere FuE-Politik neu ausrichten?
({0})
Ein Indikator - so haben wir gemeinsam in der Enquete-Kommission formuliert - ist zum Beispiel der Mitteleinsatz. Wie viel Mittel geben wir, um die Forschung
im Bereich effizienter Technologien zu verbessern? Wenn
man sich die Statistiken ansieht, sind wir - so muss ich
vorsichtig sagen - erst am Beginn eines Weges. Der Wissenschaftsrat hat 1999 in einem Gutachten zur Energieforschung festgestellt, was wir alle wissen - aber ich will
es hier wiederholen -: dass die Energieforschung, die
Energietechnologien, die Energiewirtschaft in Deutschland nicht nachhaltig sind. Das hat mit falschen Entscheidungen zu tun, die in der Vergangenheit gefällt worden
sind. Und weil in der Vergangenheit falsche Entscheidungen in der Energiepolitik gefällt worden sind, müssen wir
jetzt umsteuern. Wir brauchen einen deutlichen Mittelaufwuchs insbesondere im Bereich der Effizienztechnologien und der Energiespartechnologien.
In der Enquete-Kommission ist der Streit immer um
die Frage gegangen, wie wir eigentlich Angebots- und
Nachfrageseite miteinander in die Balance bringen wollen. Wir haben auch heute in den Redebeiträgen im Wesentlichen von der Angebotsseite her diskutiert. Wir müssen aber noch sehr viel stärker als in der Vergangenheit
darüber nachdenken, was wir eigentlich im Energiedienstleistungsbereich und bei der Effizienz tun müssen.
({1})
Ein weit reichender Klimaschutz - so hat die EnqueteKommission formuliert - bei gleichzeitigem Atomausstieg ist nur erreichbar, wenn die durchschnittliche Steigerung der Energieeffizienz pro Jahr um mindestens 1 bis
1,5 Prozent höher liegt als der historische Trend, der bei
etwa 1,6 Prozent liegt. Das heißt im Klartext: Wir müssen
das Tempo etwa verdoppeln. Das wiederum bedeutet: Wir
müssen in der Forschungspolitik wirklich neue Prioritäten
setzen. Das muss haushaltswirksam werden. Deswegen
sage ich das auch an uns, an die Regierungsfraktionen:
Wir müssen dazu einen Beitrag leisten. Denn wir dürfen
nicht übersehen, dass der gesamte Bereich der Energieforschung, über den wir sprechen, nach dem Urteil des
Wissenschaftsrates mittlerweile ein Volumen hat, das so
groß ist wie das der Biotechnologie. Wir sprechen über einen mittlerweile hochindustriellen Wirtschaftszweig, der
der Informations- und Kommunikationstechnologie
gleichwertig ist. Es geht um einen milliardenschweren
Markt, der in Deutschland leider völlig zersplittert gehandhabt wird.
Es gibt erste Ansätze, dagegen vorzugehen. Ich freue
mich, dass insbesondere das Bundesministerium für Bildung und Forschung in diesem Bereich vorangeht,
({2})
das Gespräch mit den Kollegen aus den anderen Ministerien sucht und dass man versucht, neue Querschnittsaufgaben zu formulieren. Das Gespräch zwischen den Häusern muss vorangebracht und verbessert werden, weil uns
die Zersplitterung, die wir in Deutschland in der Energieforschung haben, nicht weiterhilft. Sie ist nicht zielführend. Deswegen wollen wir als Parlamentarier dabei
helfen, dass der Dialog auf diesem Gebiet vorankommt
und wir zu zielführenden Beschlüssen kommen.
Der Wissenschaftsrat hat 1999 - an der Situation hat
sich nichts Wesentliches geändert - im Bereich der Energieforschung für die folgenden drei Jahre, also bis 2002,
einen Mittelaufwuchs um 30 Prozent auf der Basis des
Einsatzes von 1997 vorgeschlagen. Wir sind von diesem
Ziel weit entfernt.
Ich möchte zum Schluss noch eine kurze Bemerkung
machen: Wir Parlamentarier sollten uns für die Zukunft
vornehmen, das, was wir zurzeit auf der europäischen
Ebene erleben, nämlich dass wir in der Energieforschung
sozusagen den Kalten Krieg, den viele für beendet gehalten haben, fortsetzen, zu beenden. Ich finde, es wäre eine
sehr reizvolle parlamentarische Aufgabe, dafür zu kämpfen, dass wir den Euratom-Vertrag nun endlich unter parlamentarische Kontrolle bekommen,
({3})
um dann die Frage zu beantworten: Wofür wollen wir eigentlich welche Mittel ausgeben? Das sollte uns allen ins
Stammbuch geschrieben werden. Das ist eine sehr reizvolle Aufgabe und ich freue mich darauf.
({4})
Ich beende damit die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/7509 zur federführenden Beratung an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie und an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu überweisen.
Die Vorlagen auf Drucksachen 14/7287 und 14/7814 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 15 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der PISA-Studie sowie zur Umsetzung der
Empfehlungen des Forums Bildung
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Ernst Dieter Rossmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kürzel PISA
steht für die größte Bildungsstudie, die es jemals gegeben
hat. Daran waren mehr als 200 000 Schülerinnen und
Schüler im Alter von 15 Jahren in 31 Ländern beteiligt.
Die Ergebnisse sind für Deutschland leider ein lehrreiches
Desaster, weshalb diese Studie mit Recht in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit und in der Politik viel Rezeption gefunden hat.
Es ist gut, dass auch der Bundestag darüber diskutiert.
Denn die Ergebnisse, die ich in sieben Punkten knapp ansprechen möchte, sagen aus: Wir haben in Deutschland im
Vergleich zu anderen Nationen in dieser Welt, was speziell die Lesekompetenz, aber auch andere Kompetenzen im
mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich angeht,
einen Stand, der sich leider im unteren Sechstel bewegt.
Wir haben in Deutschland vor allen Dingen eine Gruppe
von mehr als 20 Prozent junger Menschen, die ein niedriges Niveau an Lesekompetenz und Bildungskompetenz im
weiteren Sinne aufweisen. Wir haben in Deutschland eine
besonders große Streuung an Leistung, ohne dass wir uns
an der Spitze besonders hervortun. Wir haben im Vergleich
zu anderen Ländern offensichtlich ein Schulsystem, das
durch eine starke Trennung nicht dafür sorgt, die Selektion,
die sich in der Gesellschaft abbildet, aufzuheben. Wir haben in Deutschland ungenügende Leistungen bei der Integration von zuwandernden Familien und deren Kindern.
Außerdem gibt es in Deutschland speziell ein Problem hinsichtlich der Geschlechter: Junge Männer sind offensichtlich nicht besonders leseinteressiert und -kompetent.
Diese Studie stellt Sachverhalte dar, die schon länger
in unserer Gesellschaft Unbehagen verursacht haben,
auch bei Bildungspolitikern, und zwar durch die TIMSSStudie und weitere Untersuchungen in anderen Feldern
untermauert. Daher ist es gut, wenn wir uns in der Diskussion hierauf nicht parteipolitisch einstellen, sondern
wenn wir hiermit unaufgeregt und vor allen Dingen kooperativ umgehen.
An dieser Stelle können wir auf das von unserer Bildungsministerin eingeleitete und - das will ich ausdrücklich sagen - von anderen Bildungspolitikern konstruktiv
aufgenommene Forum Bildung zurückgreifen. Die Arbeit
dieses Forums Bildung in über zweieinhalb Jahren hilft
uns jetzt. Es sind schon Handlungsfelder, Leitlinien und
Schwerpunkte beschrieben worden. Die Frühförderung
und speziell die Sprachförderung, die Individualisierung
der Förderung, die Benachteiligtenförderung, die Erhöhung der Unterrichtsqualität, die Erweiterung der Gestaltungsspielräume der Schulen und schließlich auch die
Lehrerbildung wurden in den Mittelpunkt gerückt.
({0})
Auf der Grundlage der zwölf Empfehlungen, die ich
hier gebündelt habe, hat sich die Kultusministerkonferenz
relativ schnell
({1})
- und gut - auf eine Zusammenstellung von sieben Handlungsmöglichkeiten, deren Verwirklichung jetzt kurzfristig eingeleitet werden soll, einlassen können. Dies
geschah parteiübergreifend; dies möchte ich hier ausdrücklich sagen, um nicht mit billiger parteipolitischer
Münze zu zahlen. Die Kultusministerkonferenz hat aber
auch gesagt, dass es dabei nicht belassen werden darf. Damit nimmt sie den Geist des Forums Bildung auf.
Dieser Geist muss für uns zweierlei bedeuten: Jeder
muss das Seinige tun. Der Bund sollte nicht über die
Schulen und über die Länder reden; die Länder sollten
vom Bund nichts Unbilliges erfahren. Wir müssen die Zuständigkeiten wahren, aber im Rahmen der Zuständigkeiten auf beiden Feldern aktiv werden. Wir sollten das nicht
vorschnell tun. Es muss uns eine Mahnung sein, dass der
Bildungsforscher Jürgen Baumert, Projektleiter für
Deutschland, gesagt hat, am meisten beunruhigten ihn
jetzt die Menschen, die behaupten, sie hätten Patentrezepte.
In Übereinstimmung mit der KMK und dem Forum
Bildung sage ich: Wir müssen diese Studie genau lesen
und daraus weitere Fragen ableiten. Damit sind wir von
der sozialdemokratischen Seite bei einem ersten Handlungsfeld, das die Zuständigkeit des Bundes berührt: der
Verstärkung der Bildungsforschung.
Ein zweites Handlungsfeld, das die Zuständigkeit des
Bundes berührt, ist die Verstärkung der Bemühungen um
Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit im Sinne
von Bildungsbeteiligung auch schwächerer sozialer
Schichten mit einem geringeren Bildungsstand. Dafür haben wir in der Praxis schon sehr viel getan.
Ein drittes Feld ist heute Morgen im Zusammenhang
mit dem Zuwanderungsgesetz diskutiert worden: Wie gehen wir mit den Anforderungen an Schüler um, die
sprachlich, die kulturell, die schulisch zu integrieren sind?
Welche Beiträge dazu können Länder und Bund gemeinsam erbringen?
PISA zeigt uns, dass andere Länder in Europa diesen
Prozess offensichtlich erfolgreich gestalten konnten. Sie
haben ihre Bildungsanstrengungen auf längere Sicht so
konzentriert, dass sie kein lehrreiches Desaster haben, wie
es Deutschland jetzt erleben musste. Hermann Lange, der
Zuständige in der Kultusministerkonferenz, hat es so auf
den Punkt gebracht: Die gute Botschaft von PISA ist, dass
man die Schule und das Bildungswesen verbessern kann wenn man es gemeinsam und langfristig tut und sich nicht
an kleinen Widerhaken zerstreitet.
In diesem Geiste möchten wir diese Debatte führen und
auch in Handlung umsetzen.
Danke.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Volquartz.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Sind deutsche Schüler doof?“ Diese Frage stellt der
„Spiegel“ in dieser Woche in seiner Titelstory. Sie kommen - davon sind wir sicher alle gemeinsam überzeugt nicht dümmer auf die Welt als Schülerinnen und Schüler
in den übrigen Ländern. Wir Bildungspolitiker müssen allerdings die Bedingungen dafür schaffen, dass sie es in
den ersten 15 Jahren ihres Lebens auch nicht werden, damit der Rest des Lebens gut funktionieren kann.
Wir wissen allerdings nicht erst seit der letzten Woche,
seit Ergebnisse der PISA-Studie vorliegen, welche
Schwierigkeiten wir seit Jahren in den Schulen durchgängig haben. Hätte man mehr Praktiker vor Ort gefragt, dann
würden sich einige heute vielleicht nicht wundern. Viele,
die tatsächlich damit umgehen, wundern sich nicht.
Wir haben gestern im Bildungsausschuss über die Ergebnisse des Forums Bildung diskutiert. Insgesamt - darauf ist schon hingewiesen worden - hat das Forum Bildung zwölf Empfehlungen für die Bildung in Deutschland
ausgesprochen. Viele dieser Empfehlungen betreffen die
Schulen. Mit Blick auf PISA sind vor allem die Empfehlungen hervorhebenswert, die dazu aufrufen, unsere Kinder früher und individueller zu fördern und zu fordern.
({0})
Allerdings soll dies nicht, wie das jetzt geplant ist, in
den Kindertagesstätten geschehen. Dazu wären Vorschulen notwendig. Es ist besonders bedauerlich, dass beispielsweise in Schleswig-Holstein unter einer rot-grünen
Regierung die Vorschulen abgeschafft worden sind. Das
lässt sich mit diesen Ergebnissen schlecht in Einklang
bringen.
Französische Kinder sind in der Regel mit fünf Jahren
alphabetisiert, deutsche mit durchschnittlich sieben Jahren. Ich muss Ihnen deshalb nicht sagen - Sie wissen es
auch -, wer bei PISA besser abgeschnitten hat. Wir müssen also umdenken. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich,
dass sich anscheinend auch in Ländern, in denen Sozialdemokraten regieren,
({1})
die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass man Kindern nicht
die Kindheit raubt, wenn man ihnen bereits in der Grundschule Wissen vermittelt.
({2})
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. In Seth im Kreis
Segeberg in Schleswig-Holstein ist vor drei Jahren
tatsächlich der Vorschlag gemacht worden, die Grundschulklassenstufen von 1 bis 4 aufzulösen und nur noch
Lerneinheiten zu bilden, in denen die älteren Kinder die
jüngeren Kinder mit unterrichten. Das, Frau Ministerin,
wäre sicher auch nach Ihrem Empfinden nicht der richtige
Weg, um mehr Leistung zu bringen.
({3})
- Ich kann verstehen, dass Sie sich aufregen.
Es ist daher richtig, dass erfahrene Kultusminister im
Forum Bildung darauf dringen, endlich wieder die LeisDr. Ernst Dieter Rossmann
tungsbereitschaft der Kinder schon in der Grundschule zu
wecken. Es ist absolut nicht im Interesse der Kinder, wenn
wie in Schleswig-Holstein die Schulen entscheiden können, ob sie ab Klassenstufe 3 Noten geben oder nicht. Wir
brauchen Vergleichbarkeit. Deshalb muss dies verbindlich sein. Daher plädieren wir des Längeren schon dafür,
dass ab Ende der Klassenstufe 2 Noten erteilt werden.
({4})
Auch das ist ein Weg, um den Eltern und den Kindern klar
zu machen, wo sie stehen, damit sie das nicht raten müssen.
Bei der PISA-Studie liegen, wie schon gesagt, überdurchschnittlich viele deutsche Schülerinnen und Schüler
im untersten Leistungsbereich. Es kommt deshalb darauf
an, die weniger Leistungsstarken individuell zu fördern
und die Starken zu fordern.
Ein Viertel der deutschen Schülerinnen und Schüler
haben bei PISA extrem schwache Leseleistungen gezeigt.
Ohne Lesekompetenz kann man aber schwer weitere erforderliche Kompetenzen erwerben. Was sind die Ursachen dafür, dass dieser Mangel an Lesekompetenz vorhanden ist? Immer weniger Schülerinnen und Schüler
bzw. Kinder lesen in ihrer Freizeit. 42 Prozent der
15-Jährigen empfinden Lesen als Zumutung. In immer
mehr Familien ersetzen Fernseher und Videospiele die
Bücher.
Dieser Realität müssen wir uns stellen. Deshalb müssen wir in den Schulen zwar nicht technikfeindlich werden, aber parallel dem Sprechen, dem Diskutieren, dem
Lesen und auch dem Gedichtelernen wieder eine größere
Aufmerksamkeit widmen. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Ergänzung dazu.
({5})
Weil eben schon in der Grundschule die Weichen gestellt werden, muss dort auf die Kulturtechniken Lesen,
Schreiben und Rechnen ganz besonderer Wert gelegt
werden. Das alles wissen wir eigentlich seit Jahrzehnten.
Das ist keine Neuigkeit. Aber wir sollten doch in allen
Ländern wieder stärker darauf achten.
Wir sollten auch ein Phänomen, das wir derzeit erleben, nutzen: das Harry-Potter-Phänomen. „Harry Potter“
ist für die Kinder eine tolle Geschichte. Das ist etwas, was
sie lesen und was man als Leseanreiz nehmen sollte.
({6})
Herr Tauss, lassen Sie die Kollegin zum Ende kommen.
Herr Tauss, da sind
wir ausnahmsweise unterschiedlicher Meinung.
Ich begrüße es, dass das Forum Bildung ebenso wie die
KMK den Weg einschlagen wird, mehr für die Leistung
der Kinder zu tun und sich für mehr Ganztagsschulen, die
in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen,
einzusetzen.
Frau Kollegin,
Sie haben nur fünf Minuten Redezeit und haben bereits
mehr als sechs Minuten gesprochen.
Frau Präsidentin,
ich komme zum Schluss: Wir brauchen motivierte Lehrerinnen und Lehrer. Dafür wollen wir alle kämpfen.
({0})
Wir wollen die Lehrer nicht - wie Gerhard Schröder - als
faule Säcke beschimpfen. Es sind positive Kräfte, die für
unsere Kinder arbeiten. In diesem Sinne lassen Sie uns
alle zusammenarbeiten.
Danke.
({1})
Ich möchte darauf hinweisen, dass in den Aktuellen Stunden wirklich
nur fünf Minuten gesprochen werden soll, damit es Schlag
auf Schlag geht. Es sind keine richtigen Reden, die hier
gehalten werden.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske.
Keine richtigen Reden - danke für die Ermutigung, Frau
Präsidentin.
Ich wollte auch nicht über Hagrid und Dumbledore,
Flitwick und andere sprechen, obwohl es durchaus sinnvoll wäre, das zu tun. Ich will, um dem Ernst der Sache
gerecht zu werden, sagen: Das Erschreckende an dieser
Studie ist, dass wir im Bereich der Lesekompetenz - im
umfassenden Sinne von „literacy“ - so große Schwierigkeiten in Deutschland haben. Wir haben diesen Bereich in
Deutschland lange für einen spezifischen Kompetenzbereich gehalten. Die kritische Aneignung von Wissen ist
aber leider nicht in dem Maße verwirklicht, wie wir uns
das alle gewünscht haben.
Als Zweites müssen wir die Grundeinsicht. „Nur wer
über Lesekompetenz verfügt, kann sich eigenständig fortbilden.“ zur Grundlage unserer gesamten Bildungspolitik
machen. Das bedeutet, dass dem Lesen ein wesentlich
höherer Stellenwert zugemessen werden muss. Ich finde
es gut, dass wir heute zu diesem Thema eine Aktuelle
Stunde haben. Es ist nicht nur ein landespolitisches, sondern auch ein bundespolitisches Thema.
Wir sollten allerdings - Frau Kollegin, dies klang bei
Ihnen etwas heraus - versuchen, nicht wieder die alten
Grabenkämpfe zu führen.
({0})
Die PISA-Studie hat uns nämlich gelehrt, dass wir bei vielen Themen sozusagen Schattenkonflikte geführt haben.
Die Frage, ob das Abitur nach zwölf oder 13 Jahren erreicht wird, oder die Frage nach einem eingliedrigen oder
dreigliedrigen Schulsystem sind bestenfalls randständige
Probleme und keinesfalls der Kern des aufgezeigten Problems.
({1})
Die Frage ist: Was sollen wir jetzt tun? Ich glaube, wir
haben in Deutschland ein Unterrichtssystem, das sich über
Jahrzehnte entwickelt hat. Es geht von der Vorstellung aus,
dass alle Kinder in der gleichen Zeit das Gleiche lernen
sollen. Das ist schon bei Erich Kästner in seiner Ansprache
zum Schulbeginn nachzulesen. Bei ihm heißt es:
Da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach Größe sortiert.
Das ist zwar heute nicht mehr ganz der Fall, aber auch
heute wird noch davon ausgegangen, dass Gleichaltrige in
ihrem Lernprozess gleich weit sind, gleiche Kapazitäten
haben und nach gleichen Kriterien gefördert werden müssen. Das ist aber nicht der Fall.
Wir brauchen in unseren Schulen eine Pädagogik, die
der Unterschiedlichkeit der Kinder stärker gerecht wird.
Das erfordert von den Lehrerinnen und Lehrern die Fähigkeit zur Diagnose des unterschiedlichen Förderbedarfs
der Kinder. Die Unterschiedlichkeit des Förderbedarfs
muss sich auch im Unterricht widerspiegeln. Die Kinder
müssen nach ihrer Individualität gefördert werden. Das ist
sicherlich ein starkes Argument für den Ausbau von Ganztagsschulen, aber nicht im Sinne von nachmittäglichen
Verwahranstalten, sondern als Institutionen, in denen Bildung betrieben wird.
({2})
Das wirklich Beängstigende an dieser Studie - das ist
das eigentliche Problem - ist jedoch, dass sie aufzeigt, wie
sozial selektiv unser Bildungssystem ist. Wir hätten das
alle miteinander nicht geglaubt. Es ist beispielsweise so,
dass 50 Prozent der Kinder von Eltern der obersten Einkommens- und Bildungsschicht ein Gymnasium besuchen, wohingegen nur 10 Prozent der Kinder von Eltern,
die zum unteren Viertel gehören, höhere Schulen besuchen. Das heißt: Die soziale Selektion unseres Bildungssystems ist zu hoch. Das kann nicht in unser aller Interesse
liegen. Das müssen wir ändern.
({3})
Die Frage ist, welches Konzept von Schule wir verfolgen. Vielleicht sollte man ex negativo sagen, welche Art
von Schule wir nicht haben wollen. Ich komme in diesem
Zusammenhang noch einmal auf Erich Kästner zurück,
der dies in seiner Ansprache zum Schulbeginn wirklich
sehr schön beschrieben hat. Ich zitiere wörtlich:
Früchtchen seid ihr, und Spalierobst müsst ihr werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken
wird man euch ab morgen! So, wie man´s mit uns getan hat. Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation, - das ist der Weg, der vor euch
liegt. Kein Wunder, dass eure Verlegenheit größer ist
als eure Neugierde.
Das ist eine Form von Schule, die wir nicht wollen.
({4})
Wir wollen eine Schule, in der der Unterricht nicht im
45-Minuten-Takt abläuft, sondern sich der Zeitrahmen an
den Unterrichtsinhalten orientiert. Wir wollen eine Schule,
die den Schülern möglichst umfassende Erfolgserlebnisse
ermöglicht. Wir wollen eine Schule, in der die Lehrer gemeinsam die Verbesserung des Unterrichts in Angriff nehmen, also eine Kultur der Supervision. Es ist sehr wichtig,
dass sich ein Lehrer darüber informiert, wie seine Kollegin
oder sein Kollege den Unterricht gestaltet; denn nur dann
kann er neue Erkenntnisse in den eigenen Unterricht einfließen lassen. Wir wollen eine Schule, die Leistungsforderungen mit einem lernunterstützenden Klima verbindet. Wir
wollen eine Schule, in der sich Lehrer und Schüler gleichermaßen wohl fühlen. Wir wollen, dass es um die Schule
herum soziale Netzwerke, Freiwilligenarbeiten, Patenschaften und anderes mehr gibt. Wir wissen, dass solche Maßnahmen vor allen Dingen für die Migranten wichtig sind.
Zum Schluss bleibt mir noch nur zu fragen: Was kann
der Bund tun? Erstens. Im Bereich der Bildungsforschung
müssen Antworten auf die Fragen gefunden werden,
warum es so große Unterschiede gibt und wo die Ursachen
dafür liegen. Hier hat der Bund eine Aufgabe zu erfüllen.
Zweitens. Der Bund muss auch mit dafür sorgen, dass
die Lehrqualität verbessert wird. Hier sollten Bund und
Länder eng zusammenarbeiten. Wir sollten das SinusProgramm zur Verbesserung des naturwissenschaftlichen
Unterrichts, das wir damals als Antwort auf die TIMSSStudie verabschiedet haben, ausdehnen.
Wir sollten uns des Weiteren Gedanken darüber machen, wie die Lehreraus- und vor allen Dingen die Lehrerweiterbildung verbessert werden kann;
({5})
denn es ist ja nicht so, dass man dann, wenn man einmal
Lehrer ist, für alle Zeiten alles weiß. Wenn man ein guter
Lehrer sein will, dann muss man auch selber immer lernen. Das ist wichtig.
({6})
Ich möchte nur noch sagen - ich bin sofort fertig, Frau
Präsidentin -: Ähnlich wie meine Vorrednerin bin auch
ich der Meinung, dass der Beruf des Lehrers einer der
wichtigsten in einer Gesellschaft ist. Wir sollten deswegen diesem Beruf mehr Wertschätzung entgegenbringen.
Wir sollten aber auch eine Kultur der Weiterbildung einfordern. Der Prozess des Lernens ist niemals abgeschlossen. Auch als Lehrer ist man immer Lernender.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer hätte das gedacht, aber die PISAStudie bestätigt es: Das Volk der Dichter und Denker hat
Lesen und Schreiben verlernt.
({0})
Das ist für mich das schlimmste Zeugnis, das man Bildungspolitikern eines Landes ausstellen kann. Das ist für
mich als Bildungspolitikerin die bitterste Nachricht, die
ich mir überhaupt vorstellen kann. Aber alles Debattieren
- nicht nur im Bundestag, sondern auch in den Landtagen
und in der Öffentlichkeit wird über die Ergebnisse der
Studie diskutiert - nützt nichts; denn nicht Debattieren,
sondern Handeln ist nach den Ergebnissen der PISA-Studie angesagt!
({1})
Bildung ist ein Freiheitsthema. Durch eine gute Ausbildung eröffnen wir jungen Menschen neue Lebenschancen. Bildung ist auch die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Ich frage mich nach den Ergebnissen der
PISA-Studie in der Tat: Wie sozial gerecht ist unser Bildungssystem eigentlich noch, wenn man - wie auch in der
16. Sozialerhebung des Studentenwerkes - nachlesen
kann, dass von 100 Kindern, die von ihrer sozialen Herkunft her aus den unteren Schichten der Gesellschaft
kommen, gerade einmal 33 auf das Gymnasium gehen
und nur noch acht die Hochschule besuchen?
({2})
Hier muss noch sehr viel getan werden, wenn wir - das ist
unser Anliegen - für Chancengleichheit in der Bildung
sorgen wollen.
({3})
Angesichts der Tatsache, dass das deutsche Bildungssystem in den letzten Jahren und Jahrzehnten Jugendliche
- sie machten immerhin einen Anteil von 12 Prozent aus -,
die keine Berufsausbildung haben, und Schulabgänger - ihr
Anteil lag bei 20 Prozent -, die nicht ausbildungsfähig sind,
hervorgebracht hat, muss man fragen: Was haben wir in den
vergangenen Jahren falsch gemacht? Bei der Beantwortung
dieser Frage müssen wir ehrlich miteinander umgehen. Wir
sollten fernab aller ideologischen Scheuklappen, Frau
Volquartz, die Diskussion darüber führen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Nur dann werden wir die
Zukunftsfähigkeit und die Qualität unserer Schulen verbessern.
({4})
In der Tat kommt es darauf an - das ist die wichtigste
Erkenntnis, die meine Fraktion und ich aus der PISA-Studie gewonnen haben -, dass wir als Bildungspolitiker im
Bund deutlich machen: Wir brauchen einen nationalen
Bildungsgipfel. Wenn die Bildungs- und Kultusminister
der Länder mit ihren zum Teil richtigen Ansätzen bildungspolitischer Reformen nicht weiterkommen, weil sie
von den Finanzministern der Länder blockiert werden,
dann darf man sich doch einmal fragen, warum das so ist.
Hier kann man nur an die Ministerpräsidenten und den
Bundeskanzler appellieren, das Thema Bildung zur Chefsache zu erklären.
Namens meiner Fraktion fordere ich die Finanzminister der Länder auf, Investitionen in die Köpfe endlich
ernst zu nehmen
({5})
und in den Haushalten Freiräume für Zukunftsinvestitionen zu schaffen.
({6})
Das sage ich auch ganz gezielt noch einmal an die Bundesregierung. Frau Bulmahn, Sie haben wirklich ehrlichen Herzens versucht, diesen Weg zu gehen, aber diese
kleine Kraftanstrengung reicht, glaube ich, nicht aus. Wir
brauchen eine große Kraftanstrengung für Zukunftsinvestitionen.
({7})
Wir müssen - das haben wir hier immer deutlich gemacht noch mehr in Bildung investieren. Auch das ist eine wichtige Erkenntnis aus der PISA-Studie.
Wir müssen uns darüber hinaus auch über Strukturen
unterhalten. Die Arbeitsweise der Kultusministerkonferenz muss von Grund auf reformiert werden. Mit dem
Einstimmigkeitsprinzip bei der Beschlussfassung werden
wir nicht weiterkommen. Nicht der kleinste gemeinsame
Nenner zwischen den Bundesländern, sondern das größte
gemeinsame Vielfache muss unsere Bildungspolitik bestimmen.
({8})
Zu Recht haben wir gefordert - auch das ist eine Erkenntnis aus der PISA-Studie -, dass es einen nationalen
Bildungsbericht geben muss, damit man endlich vergleichbare Daten hat. Konsequente Weiterentwicklung
und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf
der Grundlage verbindlicher Standards, das muss jetzt sichergestellt werden. Daher gibt es Anlass, denke ich, dass
dieses Hohe Haus einen gemeinsamen Antrag für einen
nationalen Bildungsbericht auf den Weg bringt.
Wir wollen auch die Arbeit der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung
stärken. Sie muss stärker als bisher in die Erarbeitung
grundlegender Bildungsprogramme und in die Durchführung von Modellprojekten wie dem derzeit laufenden
Modellprojekt „Naturwissenschaftlicher Unterricht“ einbezogen werden.
Liebe Frau Volquartz, ich habe Ihre Argumentation,
was gerade die pädagogischen Ansätze und die Erziehung
im Kindergartenbereich anbelangt, mit großem Befremden gehört. Eines ist durch die PISA-Studie klar geworden: Wir müssen mehr für den Elementar- und den
Primarbereich tun. Nach meiner Kenntnis besuchen mehr
als 90 Prozent der Kinder in Belgien, Spanien, Frankreich,
Italien, Luxemburg, den Niederlanden und im Vereinigten
Königreich - anders als in Deutschland - bereits im Alter
von vier Jahren einen Kindergarten oder eine Vorschuleinrichtung.
({9})
Das war letztlich auch eine Ursache dafür, dass diese Kinder bessere Leistungen aufzuweisen haben als Kinder im
deutschen Bildungssystem. Auch hier ist Handeln gefragt.
Auch das erfordert eine finanzielle Kraftanstrengung. Da
dürfen wir nicht nur reden, sondern da müssen wir auch
handeln.
({10})
Frau Kollegin,
das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für den Hinweis.
Zu diesem Thema gäbe es noch viel mehr zu sagen.
Lassen Sie mich bitte nur noch einmal den Appell an Sie
richten, dieses Thema ideologiefrei zu diskutieren
({0})
und nicht ständig ideologische Debatten anzuzetteln, Herr
Tauss;
({1})
denn solche werden die Bildungspolitik in Deutschland
ganz bestimmt nicht verbessern.
({2})
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Plötzlich zieht hektische
Betriebsamkeit in die Bildungsamtsstuben.
({0})
Es ist hart: Internationale Bildungsforscher haben dem
deutschen Bildungswesen ein sattes „versetzungsgefährdet“ ins Zeugnis geschrieben. Ausfälle auf der ganzen Linie. Schlagartig werden die Apologeten der Haushaltskürzungen und Lehrerstelleneinsparungen aktiv, mahnen
umgehend Reformen an und stellen sich an die Spitze der
Bewegung: Haltet den Dieb! Plötzlich wissen alle ganz
genau, was wir eigentlich brauchen. Die Heuchelei kennt
keine Grenzen.
Geht jetzt ein Ruck durch die Gesellschaft? Ich weiß
nicht, aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben:
Kaum einer hat die 800 Seiten schon wirklich analysiert.
Auf der anderen Seite: Was ist an den Ergebnissen der
PISA-Studie neu? Vieles ist seit Jahren bekannt. Nun redet sich eine Ebene damit heraus, dass die andere Ebene
die Verantwortung trage. Das geschieht nach dem Motto:
Schraps hat den Hut verloren - wer hat ihn? Die Bildungsministerin kann nicht viel machen, weil die Länder
zuständig sind. Stattdessen gibt es viel Papier mit Empfehlungen aus den Konsensrunden des Forums Bildung
und viele Modellprojekte.
Auch die Kultusministerkonferenz hat sehr schnell
zentrale Handlungsfelder ausgemacht: von der besseren
Förderung lernschwacher Schüler über das Erkennen
„schwacher Leser“ bis hin zu neuen Schul- und Lernzeitregelungen und der Verpflichtung zur Weiterbildung für
Pädagogen. Andere Rezepte, die durch die Medien geistern, plädieren für mehr Wettbewerb, weil das egalitäre
deutsche System nichts bringe, oder sie versteigen sich
gar zu der Diagnose, dass der hohe Ausländeranteil die
deutschen Durchschnittswerte drücke. Wie es scheint, ist
keine Schlussfolgerung zu abwegig, als dass nicht im
Schweinsgalopp oberflächliche Begründungszusammenhänge hergestellt würden. Ich finde, so geht das nicht.
Die Befunde sind zu gravierend, als dass sie durch eilig zusammengestrickte Patentrezepte und ein Herumdoktern an Symptomen behoben werden könnten. Herr
Kollege Rossmann, Sie haben Recht: Eine Anhörung
kann uns Politikern und Politikerinnen auch dazu dienen,
genau das Gegenteil davon zu tun.
Auf dem Prüfstand steht nicht nur das deutsche Schulsystem, sondern das Bildungssystem insgesamt. Sicher ist
es nicht falsch, früher und besser zu fördern, praxisnäher
zu unterrichten, Lehrer besser auszubilden usw. Das
Wichtigste aber, was die Studie meiner Meinung nach zutage gefördert hat, ist, dass es kein Argument für das in
Deutschland favorisierte mehrgliedrige System gibt; denn
selbst die so „Ausgelesenen“ erreichen nur knappe
Durchschnittswerte. Wer sich ein bisschen auskennt, der
weiß: Ohne Breite gibt es keine Spitze. Frühzeitige Separierung hilft also weder den Begabten noch dem Durchschnitt. Im Gegenteil: Die Schülerschaft wird gespalten
und soziale Schichtungen werden reproduziert.
PISA macht deutlich, dass eine hohe Gesamtleistung
und eine geringe Leistungsstreuung gleichzeitig erreicht
werden können. Auch wenn Leistungsunterschiede verschiedene Ursachen haben können - vom sozioökonomischen Hintergrund über Schulressourcen bis hin zu
Curricula und Unterrichtsorganisation -, so werden sie
doch in einigen Ländern innerhalb der Schulen aufgefangen. Für Deutschland gilt dagegen ein signifikanter
Zusammenhang zwischen Leistungsunterschieden und
Schulformen; denn innerhalb der Schulen wurden relativ
homogene Leistungen festgestellt.
Offensichtlich produziert die Selektion einen gravierenden Mangel an individueller Förderung. Im Mittelpunkt steht nicht das Kind mit seinen individuellen Fähigkeiten, Neigungen und Lernmöglichkeiten, sondern
häufig seine so genannte Passgenauigkeit für die eine oder
andere Bildungseinrichtung. Ebendieses Aussortieren erklärt die schockierenden PISA-Befunde für Deutschland:
Spitzenwerte bei der Diskrepanz zwischen guten und
schlechten Schülern und beim Zusammenhang zwischen
sozialem Hintergrund und Bildungserfolg.
Das ist das eigentliche Politikum: Es gibt kein Land, in
dem ungünstige Bildungsvoraussetzungen aufgrund der
sozialen Herkunft so stark wie in Deutschland durchschlagen. Verstärkt wird dieser Effekt durch den unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Status der verschiedenen Schulen. In stärker integrierten
Systemen ist dieser Zusammenhang nicht so deutlich ausgeprägt. Schulpolitik und Schulen können also eine entscheidende Rolle beim Ausgleich sozioökonomischer Benachteiligungen spielen.
({1})
Der internationale Vergleich zeigt eindrucksvoll, dass
ein insgesamt hohes Leistungsniveau durchaus mit der
Förderung aller Leistungsgruppen durch langes gemeinsames Lernen in integrierten Systemen vereinbar ist.
Dazu braucht es Bedingungen: vom Kindergarten mit
pädagogischem Auftrag - was etwas anderes ist als eine
Vorschule, wie sie an der Küste gerade abgeschafft wurde,
Frau Volquartz - bis hin zu qualifiziertem und motiviertem Personal und den entsprechenden Lehr- und Lernbedingungen. Mit weniger Geld, wie es die Finanzminister kürzlich vorgeschlagen haben, ist das alles
allerdings nicht zu machen, es sei denn, Deutschland will
auch auf dem Gebiet der Bildungsfinanzierung die
Schlusslaterne übernehmen.
Die Botschaft muss also heißen: individuelle Förderung für alle statt Auslese, und das von Anfang an. Hier
schließt sich der Kreis: Am Ende sind wir uns wieder einig. Wir müssen gemeinsam überlegen, was jetzt die
wichtigsten Aufgaben sind, die es relativ zügig zu lösen
gilt - allerdings nicht in Schnellschüssen -, und was mittel- und längerfristige Aufgaben sind. Wir müssen das
Problem an der Wurzel packen, statt länger an Symptomen herumzudoktern.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Bildungssystem ist dringend reformbedürftig. Dieses Ergebnis der
PISA-Studie muss uns alle alarmieren. Ein Land mit der
wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Deutschlands
gehört in die internationale Spitzengruppe der Bildungsnationen und darf sich nicht mit OECD-Mittelmaß oder
gar mit einer Position darunter zufrieden geben.
({0})
Welche Mängel hat unser Bildungssystem?
Erstens. In allen drei untersuchten Bereichen liegen die
Ergebnisse für die 15-Jährigen in Deutschland unter dem
OECD-Durchschnitt. Besonders gravierend und besonders erschreckend finde ich, dass über 20 Prozent der
deutschen Schülerinnen und Schüler beim Verstehen von
Texten - denn darum geht es im Kern - nur die niedrigste
Leistungsstufe erreichen oder diese sogar verfehlen.
({1})
Zweitens. In kaum einen anderem Land wird so früh
differenziert wie bei uns. Es fallen aber auch in kaum einem anderen Land die Leistungen von starken und
schwachen Schülerinnen und Schülern so weit auseinander wie bei uns. Anderen Ländern ist es offensichtlich erheblich besser gelungen, Spitzenleistungen mit einem insgesamt höheren Leistungsniveau zu verbinden.
Drittens. Unser Schulsystem produziert nicht nur
schwache Leistungen, es ist auch ungerechter als die
meisten anderen. In kaum einem anderen vergleichbaren
Land entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den
Schulerfolg und den Bildungsweg und damit auch über
Lebenschancen.
Viertens. Bei der Förderung von Kindern und Jugendlichen ausländischer Herkunft schneiden Staaten mit einer
ähnlichen Einwanderungsstruktur erheblich besser ab als
Deutschland. Das größte Problem ist dabei wiederum die
unzureichende Lesekompetenz - betreffend das Verstehen
von Texten -, also das Fehlen einer grundlegenden Fähigkeit, die für die Integration in unsere Gesellschaft unerlässlich ist.
Das sind die wichtigsten und wesentlichsten Ergebnisse.
Die Mängel, die ich genannt habe, sind uns aber seit
längerem bekannt. Bereits die Vorgängeruntersuchung,
die TIMSS-Studie, hat gezeigt, dass wir unser Bildungswesen grundlegend erneuern müssen, dass wir auch die
Weichen anders stellen müssen. Genau aus diesem Grund
habe ich vor zwei Jahren die Verantwortlichen in den Ländern, die Länderminister - egal, ob von CDU oder SPD -,
die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, Wissenschaftler
und auch Jugendliche sowie Vertreter der Kirchen im
Forum Bildung an eine Art runden Tisch zusammengeholt. Sie können sicher sein: Es war keine leichte Aufgabe.
({2})
Im Forum haben wir eines geschafft - das ist ein Gut,
das wir uns erhalten sollten -: Wir haben die politischen
Grabenkämpfe wirklich eingestellt. Die Grabenkämpfe
sind ad acta gelegt worden.
({3})
Wir haben über die Zuständigkeitsgrenzen hinweg gemeinsam Empfehlungen erarbeitet, die von allen unterstützt und getragen werden und von denen wir alle sagen:
In diese Richtung muss es gehen; diese notwendigen Veränderungen müssen wir in den kommenden Jahren erreichen.
Wir können es uns nicht noch einmal leisten, über Jahre
hinweg darüber zu diskutieren, ob man das Abitur in
zwölf oder in 13 Jahren erreichen sollte.
({4})
Das sind offenbar nicht die Kernfragen. Das zeigt die
PISA-Studie ganz deutlich. Deshalb gilt es jetzt, diese
wichtigen Ergebnisse, die wir auf dem Tisch liegen haben,
zügig umzusetzen und nicht die nächsten zehn Jahre damit zu verbringen, zu erörtern, ob das nun zu 90 oder zu
95 Prozent richtig ist.
({5})
Denn dies würde bedeuten - lassen Sie mich das klar
sagen -, dass wir Lebenschancen von Hunderttausenden
von Jugendlichen wieder verspielen und nicht ausreichend ausschöpfen.
Ich habe gesagt, die Empfehlungen liegen auf dem
Tisch. Der wichtigste Punkt ist, dass unsere Kinder nicht
erst in der Lehre oder auf der Universität, sondern schon im
Kindergarten und in der Grundschule stärker gefördert und
gefordert werden müssen. Die Neugier und die Wissbegier, die Kinder in diesem Alter haben, müssen auch befriedigt werden. Wir müssen darauf eingehen. Gerade hier
müssen ihre sprachlichen Fähigkeiten gefördert werden.
Ich sage ganz offen: Ich würde mich sehr freuen, wenn Eltern ihren Kindern zu Weihnachten ein tolles Buch schenken - egal, ob Harry Potter oder Erich Kästner.
({6})
Mit einem flächendeckenden Netz von Ganztagsschulen - auch das hat die Studie gezeigt - können wir soziale
Ausgrenzung und Bildungsbarrieren abbauen. Wir können damit auch Sprachkompetenz erhöhen und individuelle Begabung, die wir brauchen, besser fördern. Lernen
braucht Zeit, auch das ist eigentlich eine Grundweisheit.
Ganztagsschulen leisten außerdem einen wichtigen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
({7})
Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss und
ohne anerkannte Berufsausbildung muss dringend gesenkt werden. 1998 blieben 15 Prozent der Jugendlichen
und der jungen Erwachsenen bei uns ohne abgeschlossene
Berufsausbildung. Diesen Menschen müssen wir mit
guten Qualifizierungsangeboten eine zweite und, wenn
nötig auch eine dritte Bildungschance geben, wie wir es
mit dem JUMP-Programm auch tun.
({8})
Wir wollen das Bildungspotenzial junger Ausländer
besser erschließen. Grundfertigkeiten wie Lesen und
Schreiben der deutschen Sprache sind dafür eine entscheidende Voraussetzung.
Wir müssen die Chancen der neuen Medien im Klassenzimmer besser nutzen; denn es ist kein Widerspruch,
mit den neuen Medien zu arbeiten und zu lesen. Eine Ausund Weiterbildungsoffensive für unsere Lehrerinnen und
Lehrer ist dafür sicherlich eine ganz wichtige Voraussetzung. Es ist selbstverständlich, dass diejenigen, die lehren, sich natürlich auch weiterbilden müssen.
Die schwierige Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern
- ich stimme den Kollegen, die das gesagt haben, zu braucht mehr gesellschaftliche Anerkennung.
({9})
Wir dürfen unsere Schulen nicht allein lassen. Wenn ich
sage, dass Leben in die Schulen gebracht werden muss, so
heißt das gleichzeitig, dass sich auch diejenigen, die in der
Kommunalpolitik, in den Betrieben, in den Vereinen und
Organisationen Verantwortung tragen, für Kinder und Jugendliche und damit auch für Schulen mitverantwortlich
fühlen müssen.
Last, but not least: Wir wollen unseren Schulen mehr
Selbstständigkeit geben, sie vom bürokratischen Ballast
befreien und sie durch mehr Eigenverantwortung für ihre
schwierige Aufgabe, für die Zukunft stärken.
({10})
Wie wichtig und notwendig all dies ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigen die Länder, die die besten Ergebnisse erreicht haben: Finnland in Europa, Kanada
international. In diesen Ländern sind all die Voraussetzungen gegeben, die ich genannt habe. Wir können also
von anderen Ländern lernen, was wir besser machen können.
({11})
Ich habe nur einige der Punkte genannt, auf die wir uns
im Forum Bildung verständigt haben. Die Verständigung
auf gemeinsame Ziele - lassen Sie mich das noch einmal
sagen - ist ein riesiger Erfolg. Eine solche Verständigung
hat es in den 80er- und 90er-Jahren nicht gegeben. Ich
wünsche mir, dass dieses Fundament erhalten bleibt und
dass wir auf dem Weg, den ich beschrieben habe, weiter
vorangehen können. Die Bundesregierung wird dies tun.
Wir haben mit dem neuen BAföG dafür Sorge getragen, dass Bildungsbarrieren aufgrund finanzieller Verhältnisse abgebaut werden, dass Bildungsbarrieren für Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien verringert
werden. Wir haben mit dem Sofortprogramm JUMP und
mit dem Ausbildungskonsens Jugendlichen eine zweite
und eine dritte Chance gegeben. Wir haben mit den Sozialpartnern die berufliche Bildung modernisiert und wir
haben viele Modellversuche finanziert, um gerade den Jugendlichen, die es in der Schule nicht geschafft haben, einen Anschluss zu bieten. Wir haben erheblich mehr Geld
in Bildung und Forschung investiert, allein in den letzten
Jahren bis 2002 über 20 Prozent. Dieser Weg ist richtig
und diesen Weg gilt es jetzt fortzusetzen.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, PISA
steht für uns in Deutschland heute nicht mehr nur für eiBundesministerin Edelgard Bulmahn
nen schiefen Turm, sondern zugleich für ein Bildungssystem mit schwerer Schlagseite. Dem Turm dürfen wir getrost seine Schlagseite lassen, aber in der Bildung müssen
wir vieles gerade rücken. Die Bundesregierung wird das
auch in den kommenden Jahren mit Nachdruck und Energie tun.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Bärbel Sothmann.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst
TIMSS, nun PISA - das Ergebnis: eine deutsche Bildungskatastrophe. „Nicht zukunftsfähig“ heißt es. Das ist
nichts Neues.
Die deutschen Jugendlichen liegen im bisher größten
internationalen Leistungsvergleich abgeschlagen weit
hinten. Getestet wurden die Lesekompetenz sowie die
mathematische und die naturwissenschaftliche Grundbildung. Bei der Lesekompetenz geht es um die Fähigkeit,
angelesenes Wissen kreativ bei realistischen Alltagsproblemen einsetzen zu können. Frau Ministerin, Sie haben
das eben auch eindrucksvoll gesagt.
Bemerkenswert ist, dass der Leistungsabstand in
Deutschland zwischen den leistungsschwächsten und leistungsstärksten Jugendlichen am größten unter allen
OECD-Staaten ist. Deutschland gelingt es also anscheinend nicht wie anderen Ländern, die schwachen Schüler
zu fördern und die Bildungsdefizite von sozial schwachen
Familien auszugleichen. Dieses Bild passt gut zu den Klagen deutscher Unternehmen und Hochschulen, dass die
deutschen Schulabgänger allzu oft nicht einmal richtig lesen, schreiben und rechnen können - und dies im Zeitalter der Globalisierung, im Zeitalter der Wissens- und Informationsgesellschaft, in einer Zeit, in der das
Schlagwort vom lebenslangen Lernen den Takt angibt,
({0})
in einem Land, das kaum Rohstoffe hat, dessen Kapital
zumindest bisher in seinen Köpfen bestand, in einem
Land, das als Hightechland mit Spitzenprodukten „Made
in Germany“ Weltruf erlangt hat.
Die Folgen des Bildungsnotstands: Der jetzt schon bestehende Fachkräftemangel wird sich weiter verschärfen,
wir werden den internationalen Anschluss im Hightechbereich verlieren und uns letztendlich auch von unserer
Wohlstandsgesellschaft verabschieden müssen, wenn es
so weitergeht.
({1})
Meine Damen und Herren, unsere Jugendlichen sind
nicht dümmer als die Jugendlichen in anderen Ländern.
Sie haben diese Ohrfeige nicht verdient. Deshalb müssen
wir jetzt schnell und sachgerecht handeln. An guten Ratschlägen fehlt es ja nicht. Die Kultusministerkonferenz
hat kurz nach Veröffentlichung der PISA-Studie Anfang
Dezember verschiedene Konsequenzen zur Verbesserung
der schulischen Situation vorgeschlagen, die ganz deutlich die Handschrift der Union tragen.
({2})
Die CDU hat übrigens mit ihren bildungspolitischen
Leitsätzen bereits Ende letzten Jahres den Aufbruch in die
lernende Gesellschaft gefordert.
({3})
- Ich weiß nicht, ob Sie sich, Herr Tauss, noch entsinnen.
Anscheinend nicht.
Wir alle wissen: Erfolgreiches Lernen setzt Erziehung
voraus. Diese Erziehung beginnt im Elternhaus.
({4})
- Sie stören mich.
({5})
Deshalb sind Kompetenz und Erziehungsfähigkeit der
Eltern durch Beratung und Weiterbildung zu stärken.
({6})
Die Vorschulerziehung im Kindergarten muss verbessert
werden. Bereits hier müssen wir Kinder aus Zuwandererfamilien, sozial schwächer gestellte sowie lernschwache
Kinder besser integrieren. Gezielter Deutschunterricht ist
besonders für Kinder aus Zuwandererfamilien ein Muss.
({7})
In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, Herr Tauss,
das Alter für den Familiennachzug von Kindern aus Zuwandererfamilien auf zehn Jahre zu senken. Später ist
nämlich eine Integration kaum noch oder überhaupt nicht
mehr möglich.
({8})
Bereits in der Grundschule muss auch wieder mehr auf
die Leistung geschaut werden. Es muss Schluss sein mit
der Auffassung, Kinder brauchen keine Zensuren. Das
Motto muss lauten: Fördern und fordern!
({9})
Wir brauchen Mindeststandards zur Sicherung der Unterrichtsqualität und spätestens beim Abitur bundesweit vergleichbare Leistungsbewertungen wie in anderen Staaten.
Die Lehrinhalte müssen praxisorientierter sein. Sie sind
vor allem auch den Erfordernissen der Arbeitswelt anzupassen. Neben Lesen, Schreiben und Rechnen müssen
auch Fremdsprachen und Schlüsselqualifikationen wie
Lernfähigkeit, Selbstständigkeit und Medienkompetenz
so früh wie möglich vermittelt werden. Denn reines Fachwissen veraltet heute viel zu schnell; das wissen wir alle.
Wir brauchen außerdem mehr Ganztagsunterricht, eine
bessere Eliteförderung, mehr und besser aus- und fortgebildete Lehrer, eine Unterrichtsgarantie und mehr Geld
für die Bildung, mehr Investitionen in die Bildung.
Dass Maßnahmen wie diese greifen, zeigt das Beispiel
anderer Staaten, aber auch von einigen unionsregierten
deutschen Bundesländern, zum Beispiel von Bayern und
Baden-Württemberg.
({10})
Die Leistungen der Schüler sind dort offensichtlich besser
als in vielen rot-grün-regierten Ländern, Herr Tauss.
({11})
Ich bin sicher, dass die für 2002 erwarteten Ergebnisse der
PISA-Studie für die einzelnen Bundesländer dies bestätigen werden.
So peinlich die PISA-Studie ist, meine Damen und
Herren, sie zeigt uns den Weg, wie auch unsere Jugend
wieder für den internationalen Wettbewerb fit werden
kann. Ich hoffe sehr, dass der Schock von PISA jetzt einen harten Wettbewerb zwischen den Bundesländern um
das leistungsfähigste Schulsystem auslöst. Das wünsche
ich uns und den Schülern.
({12})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Sothmann, mit dem Satz „Sie stören mich“
haben Sie uns fast eine Lehrvorführung von Frontalunterricht und Abmeierei gegeben, wie es sie hoffentlich nur
noch an wenigen Schulen Deutschlands gibt.
({0})
Ich glaube, dass die Schule in unserem Land vor allem
an einem krankt: an zu viel Beharrungsvermögen. Deswegen bin ich sehr froh darüber, dass das, was die Frau
Ministerin hier über das Forum Bildung gesagt hat, uns
zumindest die Chance eröffnet, dass es damit ein Ende hat
und dass es Bewegung gibt, zumal wir uns an diesem
Punkt offensichtlich einig sind.
({1})
An der Debatte, die wir heute führen, finde ich problematisch - das hat mit dem Ergebnis der Studie zu tun -,
dass Pluralismus und Beförderung der freiheitlichen Bürgergesellschaft, die in der Schule zu Hause sein sollten,
angesichts fehlender Primärfähigkeiten fast in den Hintergrund treten. Auch das muss Thema dieser Debatte
sein.
Das Bildungssystem in Deutschland braucht mehr
Wettbewerb. Das sage ich nicht, weil Olaf Henkel dies zufällig heute sagte, sondern weil wir mit den Ergebnissen
der PISA-Studie die Quittung für Qualitätsstau, für fehlenden Mut und für Gleichmacherei zulasten der Schwachen erhalten haben. Dabei geht es übrigens nicht darum,
Bildung zu privatisieren, sondern darum, die bildungspolitische Verantwortung des Staates effektiv zu organisieren. Dieser Aspekt ist für die Zukunft entscheidend. Gerade in Ostdeutschland ist die Entwicklung von einem
staatlich-zentralistisch organisierten Bildungssystem hin
zu einem pluralistischen Bildungssystem mit mehr pädagogischer Freiheit wichtiger denn je. Schaut man sich
an, wie gering ausgeprägt die Zustimmung zur Demokratie unter jugendlichen Schülerinnen und Schülern in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland ist, dann
wird deutlich, wie wichtig es ist, die Demokratie in unseren Schulen zu stärken.
Die Entwicklung von Demokratieverständnis in der
Schule ist für die Entwicklung der Demokratie im Staat ausschlaggebend. Auch die Zahlen über rechtsextreme Einstellungen und vor allen Dingen über das Hinnehmen solcher
Einstellungen bei Jugendlichen, aber auch in der Schule
selbst sprechen eine eindeutige und alarmierende Sprache.
Wir brauchen Schulen, die kreativ und frei sein können
und sich nicht an Vorschriften messen. Die Ministerin hat
auf die Autonomie der Schule hingewiesen. Da geht es um
Eigenverantwortung sowie um Transparenz der Angebote
und Leistungen der Schulen, die sich dem Vergleich stellen müssen. Da geht es um Gestaltungsfreiheit, um eigene
Entscheidungsrechte bis hin zur Personalhoheit. Die einzelne Schule kann nur qualitätssichernd arbeiten, wenn
sie wirklich Verantwortung übernehmen kann.
({2})
Der Staat kann dafür nur Rahmenbedingungen schaffen,
damit alle Schülerinnen und Schüler gleiche Bildungschancen erhalten und Bildungshindernisse abgebaut werden.
Wir haben heute einen Anteil der Hortbetreuung an unseren Schulen von gerade einmal 30 Prozent, obwohl wir
genau wissen, dass die Schule als Ganztagsschule mit entsprechenden Erziehungskonzepten den Anspruch erfüllt,
nicht nur Lern-, sondern auch Lebensort zu sein. Natürlich tragen die Elternhäuser Verantwortung. Aber da, wo
sie sie nicht wahrnehmen oder nicht wahrnehmen können,
steht der Staat in der Pflicht.
Angesichts der Tatsache, dass es inzwischen Länder
gibt, die jedes Kind am Anfang der Schulzeit mit einem
Musikinstrument ausstatten, sollten wir uns zumindest
fragen, was damit für Erfolge erzielt werden. Denn die
Fähigkeit zur Gemeinsamkeit wird beispielsweise auch
durch gemeinsames Musizieren erlernt.
({3})
Frau Ministerin, ich glaube, das ist mindestens so wichtig
wie die Einführung von Computern an allen Schulen.
({4})
Das ist nur ein Beispiel.
Können wir denn wirklich wollen, dass Kinder aus sozial schwachen oder aus Migrantenfamilien zwar beim
gruseligsten Fernsehfilm von „RTL“ mitreden können,
nicht aber, wenn es um den goldenen Drachen der
Weisheit, um den kleinen König Dezember oder um die
Qualität von Nimbus 2000, dem Flugbesen von Harry
Potter, geht?
Es gibt noch ein anderes Thema, das den Osten
Deutschlands betrifft. Es geht nämlich um die Frage, wie
gesellschaftlicher Wandel gestaltet wird. Es gibt einen
Stau an den Schulen im Osten. Die Lehrerinnen und Lehrer in Ostdeutschland, von denen sich einige wirklich
bemühen, etwas voranzubringen, haben wenig Chancen,
dieses tatsächlich zu tun, weil sie in Lehrerkollegien arbeiten, die sich seit zehn Jahren nicht mehr verändert und
damit nicht verjüngt haben, weil sie in Lehrerkollegien arbeiten, deren alte Methoden nur sehr mühsam durch neue
ersetzt werden, bei denen Demokratie keine Rolle spielt
und bei denen reine Wissensvermittlung stattfindet. Hier
muss in der Tat etwas geschehen - und zwar sehr schnell,
sonst haben wir die Zukunft der ostdeutschen Länder auch
an dieser Stelle verbaut. Es geht um Erziehungsziele wie
die Fähigkeit zur Gemeinschaft und Selbstbestimmung,
wie die Vermittlung der Fähigkeit, Konflikte zu verarbeiten und die eigene Leistungsfähigkeit sowie eigene Leistungsgrenzen zu kennen.
Gerade in den ostdeutschen Ländern wird es auf Pluralismus ankommen. Es wird ferner darauf ankommen,
auch freie Schulen - also Schulen, die nicht in staatlicher
Trägerschaft sind - zu fördern und mit Finanzmitteln
auszustatten, die es ermöglichen, dass nicht weiter Schulgeld bezahlt werden muss. Wenn man sich einmal die Erfolge dieser Schulen im Rahmen der PISA-Studie ansieht,
dann kann man sagen, dass dort gerade die Fähigkeiten
vorhanden sind, deren Fehlen wir sonst beklagen. Vielleicht wird uns das weiterhelfen.
Ich habe meinen Sohn angerufen und gefragt, was wir
tun sollen, wenn uns nichts mehr einfällt, um aus dem
vorhandenen Reformstau herauszukommen. Er hat gesagt: Sagt einfach Alohomora. - Das ist der Zauberspruch,
der alle Türen öffnet.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Brigitte Wimmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen
und Herren von der Union, wer die Ergebnisse der PISAStudie so einseitig parteipolitisch interpretiert, der trägt
garantiert nicht zur Lösung der Probleme bei.
({0})
Dazu passt auch, wie in den „Stuttgarter Nachrichten“
zu lesen war, dass für den bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber die schlechten Ergebnisse offensichtlich damit
zu erklären sind, dass in Deutschland zu viele türkische
Kinder zu wenig Deutsch können.
Auch andere Industrieländer haben eine hohe Zahl von
Ausländerkindern in der Schule, die zu Hause oft eine andere Sprache sprechen als die, die in der PISA-Studie untersucht wurde. Gleichwohl gelingt es Ländern wie Norwegen, Schweden, Österreich und der Schweiz, bei fast
gleichen Problemen eine deutlich bessere Förderung hinzubekommen. Mögliche Erklärungen sind: mehr Förderung schon im Kindergarten,
({1})
Ganztagsschulen, in denen die Kinder länger am Tag mit
anderen Kindern die Sprache des Gastlandes sprechen,
({2})
sowie spezieller Förderunterricht.
Frau Volquartz und Frau Sothmann, auch der Ruf nach
mehr Benotung hilft uns nicht weiter.
({3})
Sie nehmen zum Beispiel schlichtweg nicht zur Kenntnis,
dass es Finnland - ein Land, das mit am besten abgeschnitten hat - den einzelnen Schulen bis zur neunten
Klasse überlässt, ob sie überhaupt und wie sie benoten.
Sie interpretieren einseitig parteipolitisch, sodass es fast
unerträglich ist.
({4})
Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass die von
den Kindern in die Schule mitgebrachten Probleme - es
geht um die Probleme der Orientierung und die Probleme
aufgrund der häuslichen Beanspruchung - den Unterricht
belasten und einen über den Unterricht hinausgehenden
Aufwand verlangen. Von daher trägt es sowohl bei den Eltern als auch bei den Schülern und den Lehrern zur Frustrierung bei, wenn Sie nur mehr Erziehung und Leistung
einfordern, gleichzeitig aber die Bedingungen, unter denen Schule stattfindet, nicht verändern. Wir müssen doch
die Bedingungen, aufgrund deren es zu schlechten Ergebnissen kommt - dies müssen wir zur Kenntnis nehmen -,
ändern.
({5})
- Eben. Wir dürfen es aber nicht so einseitig interpretieren, wie Sie das machen. Das führt in die Irre.
Es ist schlichtweg nicht zu übersehen, dass in all den
Ländern, die besser abschneiden, Ganztagsschulen die Regel sind. Die Menschen in der Bundesrepublik und speziell in den Ländern, in denen Ihre Partei regiert, sind wirklich arm dran, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
({6})
In Baden-Württemberg zum Beispiel sind ganze 112 von
den 4 500 allgemeinbildenden Schulen Ganztagsschulen.
Wenn das nicht ärmlich ist, dann weiß ich nicht, was man
als ärmlich bezeichnen kann.
({7})
In Bayern und zugegebenermaßen auch in einigen sozialdemokratisch regierten Ländern sieht es nicht viel besser aus.
({8})
- Nein, nicht in allen. Es gibt einige Länder - ich nenne
als Stichworte Hamburg, Bremen und Rheinland-Pfalz -,
in denen die Ergebnisse hier sehr viel besser sind.
Deswegen bin ich sehr froh, dass das Forum Bildung in
Gestalt der Ministerin gemeinsam mit Herrn Zehetmair
geschrieben hat:
Lebenschancen werden zunehmend durch den Grad
von Bildung und Qualifizierung bestimmt. Die Folgen von Chancenungleichheit in Bildung und Ausbildung sind daher heute erheblich einschneidender
als vor 30 Jahren.
Das Bildungssystem hat die Voraussetzungen dafür
zu schaffen, dass alle Menschen, unabhängig von
ihrem Geschlecht, ihrem sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund und ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft, Bildungsangebote wahrnehmen
können, die ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechen. Förderung von Chancengleichheit bedeutet insbesondere die Überwindung von Barrieren, die
einer gleichberechtigten Teilnahme an Bildung und
einer optimalen Förderung entgegenstehen.
Dafür sind Ganztagsschulen hervorragend geeignet, weil
sie ein anderes pädagogisches Konzept haben.
({9})
Ganztagsschulen wären unzulänglich, wenn es durch
sie nur zu einer Verlängerung der Schule bis in den Nachmittag hinein kommen würde. Mithilfe der Ganztagsschulen besteht die Chance, durch eine andere Struktur
des Unterrichts, der Freizeit und des sozialen Lernens eine
Schule zu realisieren, die den heutigen Bedürfnissen der
Kinder angemessen ist. Dazu sind freilich die Erarbeitung
eines anderen Schulkonzepts und die Erweiterung des
Lehrerkollegiums notwendig. Ich bin zum Beispiel davon
überzeugt, dass das Lehrerkollegium dann auch sehr viel
mehr sozialpädagogisch ausgebildet werden muss.
Zum Schluss möchte ich auf einen Bericht in der „Berliner Morgenpost“ vom Dienstag hinweisen. Dort steht
ein wunderschöner Bericht über die Wilhelm-von-Steuben-Gesamtschule in Potsdam. Eine Schülerin sagt auf
die Frage, was sie denn von ihrer Schule halte:
Ganz toll. Hier kann ich lernen und gleichzeitig
Hausaufgaben machen. Komme ich dann nach
Hause, habe ich meine Freizeit.
Das findet sie und das finden ihre Eltern gut. Die Schulleiterin sagt: „Vom guten Schulklima profitieren alle.“
({10})
Für die SPD-Fraktion sage ich: Wir sind Bundesbildungspolitiker, umsetzen müssen es die Länder - das ist
wohl wahr. Wir können aber Wünsche und Bitten äußern.
Deshalb kann ich nur sagen: Kolleginnen und Kollegen in
den Ländern, Bildungspolitiker und Finanzpolitiker, interpretiert die PISA-Studie bitte dahin gehend, dass wir
mehr Ganztagsschulen brauchen, weil diese einen Beitrag
zur Chancengleichheit in unserem Land leisten.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Axel Fischer.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! „Unser Bildungssystem genießt traditionell einen guten Ruf.“ So lautet der
erste Satz der Präambel zu den abschließenden Empfehlungen des Forums Bildung von Ende November dieses
Jahres.
Eine Woche später war es schon vorbei mit den Illusionen vom vermeintlich guten Ruf unseres Bildungssystems; denn mit der PISA-Studie hat die OECD Deutschland den Kassenzettel für die 68er ausgestellt, zumindest
im Bildungsbereich.
({0})
Die Feststellungen von Tatbeständen in der PISA-Studie
sind in der Tat Momentaufnahmen einer langfristigen Entwicklung, die nicht überrascht. Einige Vorrednerinnen
und Vorredner haben darauf schon hingewiesen.
({1})
Wenigstens den verantwortungsbewussten pädagogischen Führungskräften selbst war klar, dass durch die
ständige Verschlechterung der Rahmenbedingungen das
Lernen der Schüler erschwert wird.
({2})
Schuldig an dem heutigen Desaster ist sicherlich nicht
nur eine Gruppe allein. Die Wertestrukturen, wie sie
früher bestanden, haben sich verändert, bestehen so nicht
mehr.
({3})
Die Schule ist insofern ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Notwendig ist daher - darauf weise ich besonders
hin - eine ehrliche, ideologiefreie Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung, insbesondere aber der Entwicklung des Bildungssystems in den vergangenen
30 Jahren.
Brigitte Wimmer ({4})
Die Lehrer sind als Erziehungsersatz für das fehlende,
ehemals Werte vermittelnde Elternhaus überfordert. Die
Anzahl der intakten Elternhäuser nimmt seit Jahrzehnten
ab. Wir müssen wissen - das ist wichtig -, dass Lehrer
nicht die Versäumnisse des Elternhauses ausgleichen können.
({5})
Die Schulpolitiker haben schließlich im Einvernehmen
mit den Gewerkschaften, Lehrerverbänden, Elternbeiräten usw. - es waren alle dabei - die Spaßschule eingeführt.
({6})
In den Grundschulen wurden die Noten abgeschafft, eingeführt wurden Spielecken statt Lernangeboten, Kuscheln statt Motivieren, menschliche Nähe statt Leistungsanreizen.
({7})
- Ich glaube schon, dass Sie das nicht hören wollen, aber
es sind Tatsachen.
({8})
Ehrliche Benotungen gibt es nur noch selten, allenfalls
noch „gut“ und „sehr gut“, wie übrigens auch bei Arbeitszeugnissen. Die Noten sind daher, wo noch vorhanden, nicht mehr ehrlich und haben ihre Funktion als
Leistungsbarometer und insbesondere als Leistungsanreiz
für die Schüler verloren.
Die Bildungspolitiker haben in der Vergangenheit
durch ständige Veränderungen die schulische Unterforderung von Schülern zum Leitbild erhoben. Die verbreitete
Orientierung der Lernziele und der Förderung an den
Letzten in den Klassen unterfordert natürlich viele
Schüler.
Nicht umsonst hat die „Bild“-Zeitung am 6. Dezember
geschrieben - ich zitiere -:
({9})
Kinder wollen lernen,
({10})
es gibt keine unmotivierten Erstklässler. Dazu werden sie erst gemacht: von Lehrern und von einem
Schulsystem, dem Leistung verdächtig zu sein
scheint.
Wo die „Bild“-Zeitung Recht hat, hat sie Recht.
({11})
Der Leistungsgedanke muss also wieder Eingang in die
Schulen finden. Das Motto muss heißen: Fordern, fordern, fordern - und nicht nur fördern.
Die jetzt gemachten wortreichen Verbesserungsvorschläge der Verantwortlichen als Konsequenz aus der
PISA-Studie sind lediglich Versuche, ihr bisheriges Versagen zu vertuschen. Die Schüler sind nicht für die
ideologischen Spielchen der Bildungspolitiker und Verbandsvertreter da, sondern die verantwortlichen Bildungspolitiker und Verbandsvertreter sind dafür da, für
eine ordentliche Bildung der Schüler Sorge zu tragen.
({12})
Jeder junge Mensch hat doch, und zwar ohne Rücksicht auf Herkunft und wirtschaftliche Lage, das Recht auf
eine seinen Begabungen entsprechende Erziehung und
Ausbildung. Daran müssen sich die Verantwortlichen
endlich orientieren, statt ständig zu meinen, durch
Gleichmacherei etwas erreichen zu können. Akzeptieren
Sie endlich, dass es unterschiedliche Niveaus gibt, auch
bei den Menschen, bei Kindern und bei Älteren,
({13})
und betreiben Sie endlich eine vernünftige Elitenförderung!
({14})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christel Humme.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! „Deutschland: Setzen! Sechs!“ mit diesem niederschmetternden Zeugnis der PISA-Studie steht scheinbar unser gesamtes Schulsystem und
- mehr noch - unser gesamtes Erziehungssystem zur Disposition.
„Setzen! Sechs!“ ist auch das Zeugnis für jahrzehntelange ideologisch geprägte Auseinandersetzungen über
unsere bildungspolitischen Leitlinien,
({0})
wie wir sie gerade auch in der vorhergehenden Rede
hören konnten. Opfer sind die heute 15- und 16-jährigen
Schüler und Schülerinnen.
({1})
Das belegt die PISA-Studie eindeutig. Sie sind 1985 geboren, und zwar geboren in eine Gesellschaft, die die Eltern mit ihrem Erziehungsauftrag im Wesentlichen allein
gelassen hat.
({2})
Sie sind Opfer konservativer Leitlinien in der Bildungs-,
aber auch in der Familienpolitik.
Frühkindliche Erziehung in Kindertagesstätten und
Ganztagsschulen galten immer - für manche, wie Herrn
Fischer, bis heute - als Teufelswerk. PISA dagegen wenn Sie diese Studie gelesen hätten, Herr Fischer, wüssten Sie das - belegt: Sie sind die zentralen Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen. Das ist fast überall auf der
Axel E. Fischer ({3})
Welt bekannt. Nur in Deutschland glaubte man jahrzehntelang, mit einem Familienleitbild weiterzukommen, das
nicht zukunftstauglich war und ist. Die Rollenzuweisung
war - und ist bei einigen immer noch - eindeutig: die Mutter als Hüterin der Kinder und der Vater als Ernährer der
Familie. Soziale Kontakte für Kinder mussten privat organisiert werden. Damit blieb die Förderung der Kinder
Privatangelegenheit.
Während sich die einen eine ideologisch geprägte Auseinandersetzung über Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen lieferten, machten andere Kasse: mit einem Nachmittagsangebot an Nachhilfe. Studienkreise, Klubs für
Kids und so weiter glichen gegen Bezahlung aus, was
Schule und Elternhaus nicht vermochten. Kein Wunder
also, wenn PISA belegt, dass in keinem anderen Land die
soziale Herkunft so entscheidend für die Bildungschancen ist wie in Deutschland.
Es ist höchste Zeit zum Umdenken. Wir haben seit der
Regierungsübernahme begonnen, neue Wege in der Bildungs- und in der Familienpolitik zu beschreiten. Für uns
Familienpolitiker und Familienpolitikerinnen ist Chancengleichheit das primäre Ziel. Wir wollen die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf und die Bildungsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen
Herkunft.
Viele Reformen für Familien haben wir bekanntlich
schon verabschiedet. Doch die wichtigste Voraussetzung
für die Umsetzung unserer Ziele ist eine gute Betreuung
und Förderung unserer Kinder in Ganztagseinrichtungen.
Die PISA-Studie bestärkt uns in unseren familienpolitischen Zielen, nimmt sie doch die letzten Zweifel, dass
Eltern Rabenmütter und Rabenväter sind, wenn sie ihre
Kinder in eine Ganztagsbetreuung geben. Ganztagsbetreuung ist nicht nur ein Service für Eltern, sondern insbesondere eine Chance für Kinder. Kindertageseinrichtungen, Horte und Ganztagsschulen sind vor allem Orte
von Bildung und Förderung.
Das Forum Bildung ist schon vor der Veröffentlichung
der PISA-Studie zu gleichen guten Ergebnissen gekommen. Wir haben das ja vorhin hören können.
Bildungspolitik ist Familienpolitik und Familienpolitik ist auch Bildungspolitik. Dabei ist uns klar: Die Verbesserung des deutschen Bildungssystems ist nicht zum
Nulltarif zu haben. Wenn wir den Anschluss an die internationale Spitze gewinnen wollen, müssen wir mehr in
Bildung investieren. Die Bundesregierung kann aber
nicht allein für mehr Ganztagsbetreuung sorgen. Deutschland zum Spitzenreiter in Sachen Bildung zu machen ist
gemeinsame Aufgabe von Gemeinden, Ländern und
Bund. Ein föderatives Gipfeltreffen von kommunalen
Spitzenverbänden, Ländern und Bund wird Anfang des
Jahres 2002 auch dafür die notwendigen Weichenstellungen vornehmen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, Kanada, ein Spitzenreiter in der PISA-Studie, gehörte vor wenigen Jahren
selbst noch zum Mittelmaß. Den Kanadiern ist es innerhalb kurzer Zeit gelungen, ihr Bildungswesen erfolgreich
zu machen. Dabei konzentrierten die Kanadier ihre Anstrengungen besonders auf den Bereich der frühkindlichen Förderung.
Nehmen wir uns an den Kanadiern ein Beispiel! Begreifen wir PISA nicht als niederschmetterndes Zeugnis,
sondern als Chance!
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Friedrich.
({0})
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bewundere solche Kolleginnen wie Frau Wimmer, die uns
schon heute mitgeteilt hat - manche haben gesagt, wir hätten noch nicht alle Informationen zur Kenntnis genommen -: In Finnland ist alles in Ordnung.
({0})
Ich weiß nicht, wie die Verhältnisse in Finnland sind. Laut
„Focus“ - zufällig habe ich mir die entsprechende Seite
herausgerissen - gibt es dort erstens einen ganz geringen
Ausländeranteil. Zweitens steht dort wörtlich:
Nur Kindern, die die Landessprache beherrschen,
wird der Schulbesuch gestattet.
Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber
seien Sie einmal etwas vorsichtiger mit Ihren Aussagen.
Wenn das stimmt, dann sind die dort ja unwahrscheinlich
ausländerfreundlich.
({1})
Warten Sie einmal die Feinanalyse ab, wenn wir die beiden Systeme miteinander verglichen haben.
Kollege Rossmann, der als Erster zu diesem Thema gesprochen hat, hat gesagt, es sei ein Desaster festgestellt
worden. Andere sprechen von einem Schock. Ich möchte
denjenigen Recht geben, die sagen: Das, was jetzt herausgekommen ist, wussten wir im Prinzip.
({2})
Seit 1997 liegt uns die TIMSS-Studie vor, die zu ähnlichen Ergebnissen kam. Ich bin in keinen neuen Schockzustand geraten. Problematische Feststellungen sind vielmehr bestätigt worden. Die Diagnose wird mit jedem
internationalen Leistungsvergleich genauer.
Ich bin dagegen, pauschal zu sagen, wir seien fürchterlich schlecht.
({3})
Unser Durchschnitt ist statistisch gesehen im unteren Mittelfeld angesiedelt. Aber das betrifft nicht alle Schülerinnen und Schüler. Wenn ich es richtig verstanden habe, so
fehlt uns eine ausgesprochene Elite. Das hängt wohl daChristel Humme
mit zusammen - ich will das aber gar nicht fordern -, dass
bei uns kaum Privatschulen existieren.
Darüber hinaus haben wir eine Gruppe Leistungsstarker, die der entsprechenden Größe in anderen Ländern
durchaus vergleichbar ist. Ich entschuldige mich doch
nicht für alles. Es gibt doch nicht nur Versager in unseren
Schulen und den Ländern.
({4})
Das eigentliche Problem ist die zu große Gruppe der
ausgesprochen Leistungsschwachen.
({5})
Diese setzt sich aus Kindern zusammen, die aus so genannten einfachen Verhältnissen und speziell aus Zuwandererfamilien stammen. In diesem Zusammenhang müssen
wir überlegen: Was können wir tun? Mein Kollege Axel
Fischer hat Recht, wenn er sagt - dies ist nicht im Sinne eines Vorwurfes, sondern als objektive Feststellung gemeint -: Als Erstes einmal haben die Familien versagt. Die Schulen schaffen es nicht, diese Dinge aufzuarbeiten
und den Betroffenen zu helfen, über die Barrieren, die
sich ihnen aufgrund ihrer Herkunft stellen, hinwegzukommen. Die Schulen werden es auch nicht bei allen
schaffen. Aber sie müssten bei der Lösung dieses Problems besser werden.
Jetzt ist man sich offensichtlich hinsichtlich des Rezeptes einig, was man am Beschluss der Kultusministerkonferenz und an dem sieht, was Frau Ministerin
Bulmahn mit Herrn Zehetmair und all ihren Kolleginnen
und Kollegen im Forum Bildung verabschiedet hat. Wir
brauchen möglichst früh mehr individuelle Förderung,
vielleicht sogar schon im Kindergarten und in der Vorschule, spätestens aber in der Grundschule; da sind wir
uns doch einig.
Doch es gibt auch gewisse Unterschiede: Frau Ministerin Bulmahn sagt, sie sei gegen eine frühe Selektion.
Frau Böttcher von der PDS hat gesagt, sie sei gegen eine
Auslese. Wenn ich Kinder individuell fördern möchte,
kann ich doch nicht die Leistungsstarken und die Leistungsschwachen in einer Gruppe zusammenfassen.
({6})
An welchem Niveau orientiere ich mich denn dann bei
meinem Unterricht?
Ich muss noch mehr lachen, wenn ich lese: Frau Ministerin Bulmahn ist gegen Selektion. - Gleichzeitig
möchte Niedersachsen die Orientierungsstufe abschaffen.
({7})
Also die Ministerin von Niedersachsen ist da nicht Ihrer
Meinung.
In einem Punkt sind wir uns einig: Wer individuell fördern will, braucht mehr Zeit. Deshalb sind auch wir - da
haben wir uns bewegt - für mehr Ganztagsschulen. Aus
familienpolitischer Sicht geht es eigentlich nur um die
Ganztagsbetreuung, um Frauen zu ermöglichen, Beruf
und Familie zu vereinbaren. Die SPD in Bayern ist für
flächendeckende Ganztagsschulen. Meine Kinder wollen
da nicht hinein; ich will es auch nicht. Eine Ganztagsschulpflicht soll es nicht geben.
({8})
Eine letzte Anmerkung zur FDP. Wir haben in der Bildungspolitik ab und zu Probleme zusammenzukommen.
Die Frau Kollegin Pieper hat gesagt: Wir brauchen einen
nationalen Bildungsgipfel. Beantragt ist ein nationaler
Bildungsbericht. Erwähnt worden ist eine große Offensive. Ich sage dazu:
Erstens. Wir haben gelernt, dass es nicht vor allem um
mehr Geld, sondern um die Inhalte und Ziele von Bildung
geht.
({9})
Darum ist der große Milliardensegen ein ziemlicher Unsinn.
Zweitens. Eine national einheitliche Lösung ist nicht
unbedingt eine gute Lösung. Deshalb bin und bleibe ich
ein Anhänger von Wettbewerb auch zwischen den Schulsystemen der Länder. Die internationalen Vergleichsstudien werden, wie schon die TIMSS-Studie, diesen
Wettbewerb verschärfen. Einige müssen ihre Bildungskonzepte ändern oder der Wähler ändert die Zusammensetzung der entsprechenden Landesregierungen.
Vielen Dank.
({10})
Als Letzter hat
der Kollege Jörg Tauss das Wort.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Friedrich, ich stimme Ihnen zu: Wenn
wir über PISA reden, sollten wir nicht nur dramatisieren.
Was ist geschehen? 15-Jährige wurden einem internationalen Test der Lese-, Rechen- und Schreibkompetenz unterworfen und haben dabei schlecht abgeschnitten. Übrigens, Herr Kollege Fischer, wurden diese Kinder alle
geboren, als gerade Herr Kohl, der „Alt-68er“, regierte.
Zu seiner Regierungszeit gingen sie auch in die Schule.
({0})
Aber lassen wir dies heute einmal beiseite und reden wir
über die tatsächlichen Probleme.
Die Kompetenzen Lesen, Rechnen und Schreiben kann
man erwerben. Ich selbst bin übrigens ein Beispiel dafür,
wie hoffentlich alle hier.
({1})
Ich gebe zu: Das hat in einem gewissen Alter zu Tränen
geführt. Selbstverständlich müssen wir darüber nachdenken, wie wir solche Kulturtechniken - da geht es noch
nicht um Bildung - unseren Kindern besser vermitteln
können, damit sie dann zu besseren Ergebnissen kommen.
Dr. Gerhard Friedrich ({2})
Deswegen halte ich auch Sport und Musik für wichtige
Fächer. Dort lernt man Ausdauer und Konzentration.
({3})
Das sage ich als Mitglied des Kulturausschusses bewusst.
Genau diese Fächer wurden übrigens in Baden-Württemberg, aber nicht nur dort, als Steinbruch genutzt. Auch darüber sollten wir nachdenken und uns nicht mit billigen
Erklärungen aufhalten. Es wurde gerade dort gespart, wo
es im Unterricht um Kreativität geht. Ich halte dies für ein
Problem.
Frau Kollegin Volquartz hat gefragt, warum Finnland
so gut ist. Eine Erklärung dafür ist, dass es dort bereits in
frühen Jahren, im frühkindlichen Bereich, Gruppenarbeit
gibt. Eine Lehrerin, die befragt wurde, wie die Erfolge
dort erzielt würden, hat gesagt: Die Kinder helfen sich gegenseitig. - Genau dagegen haben Sie hier polemisiert.
Das finde ich schade.
({4})
Lassen Sie uns doch einmal solche Dinge anschauen!
Vielleicht können sie uns auch hier weiterhelfen.
Ich glaube, wir sollten jetzt nicht den Selektionsgedanken ideologisch befrachten, wie es von Ihrer Seite geschehen ist. Vielmehr sollten wir uns den anderen Punkten von
PISA zuwenden. Da ist festgestellt worden - ich zitiere
wörtlich -: Es gelingt dem deutschen Schulsystem vergleichsweise schlechter als anderen Schulsystemen, sozial
und familiär bedingte ungünstige Schülervoraussetzungen
auszugleichen. - Das ist die eigentlich schlimme Botschaft
von PISA. Anderes kann man lernen. Aber wenn das System die sozial und familiär bedingten ungünstigen Voraussetzungen der Schüler nicht ausgleicht, dann sollten wir
darüber reden und nicht darüber, wie man schon im frühesten kindlichen Alter über Noten selektieren könnte. Diejenigen, die schlechte Startvoraussetzungen haben, würden nämlich dabei aussortiert. Dieses Aussortieren führt zu
der unglaublichen Spanne, die wir zwischen Leistungsstärkeren und Leistungsschwächeren haben. In keinem Land ist die Differenz zwischen den Leistungsschwächeren und den Leistungsstärkeren so groß wie bei
uns. Das muss doch zu denken geben. Das sollte nicht zu
mehr Selektion, sondern zu mehr Nachdenken führen.
({5})
Was Baden-Württemberg angeht: Ich selbst habe als
Schüler Baden-Württemberg durchlitten. Sie brauchen
mir hier nichts zu erzählen. Ich glaube, jeder hat in
der Schule auch einmal gelitten, nicht nur in BadenWürttemberg. Das gebe ich zu.
Bitte sehen Sie einmal die Fakten: Rheinland-Pfalz war
das Land, das mit Ganztagsschulen begonnen und mit
pädagogischen Konzepten gearbeitet hat. Das ist keine
Aufbewahrung. Nehmen wir einmal das Positive zur
Kenntnis. Dass am Anfang die FDP, Frau Kollegin Flach,
in den Koalitionsverhandlungen dagegen war, ist nicht
schlimm und vergessen.
({6})
Die sozialdemokratisch geführte Regierung hat das durchgeführt.
Der zweite Punkt, Herr Kollege Friedrich, bei dem Sie
meines Erachtens zu völlig falschen Ergebnissen kommen, betrifft die Ausländerfrage. Auch Herr Stoiber nutzt
die Gelegenheit, um gegen den Zuzug zu polemisieren.
Die PISA-Studie sagt nicht, dass wir ein Problem mit Kindern haben, die mit ihren Eltern zu uns kommen. Wir haben ein Problem mit der unzureichenden Integration von
bereits in Deutschland geborenen Kindern. Die Kinder,
die hier geboren sind, Herr Friedrich, werden unzureichend gefördert. Deswegen ist nicht die Zuwanderung das
Problem, sondern die Integration. Daher möchte ich Sie,
wenn es um Integration geht, bitten, mit uns vernünftig zu
sprechen und nicht mit 80 Änderungsanträgen zu versuchen, an Stammtischen gegen Ausländerintegration zu
polemisieren. Das verträgt sich nicht mit der Zukunft.
({7})
Die Frau Ministerin hat dankenswerterweise auf das
Forum Bildung hingewiesen, an dem auch Herr
Zehetmair teilnimmt. Darüber bin ich froh: Wenn er heute
da gewesen wäre, hätte er sich bei manchen Ihrer Ausführungen, Herr Kollege Fischer, vielleicht ein bisschen
geniert. Ich schätze ihn sehr. Er ist ein anständiger Konservativer, mit dem man über Bildungspolitik reden kann
und mit dem man weiter reden muss und sollte.
({8})
- Sie haben doch sicherlich nichts gegen anständige Konservative. Auch ich bin in vielen Punkten nicht mit ihm einer Auffassung.
Es sollte zu keinen Schnellschüssen kommen. Herr
Westerwelle ist heute nicht anwesend. Es fällt übrigens
auf: Er ist bei Bildungsdebatten nie dabei. Er diskutiert
darüber nur in Talkshows. Vielleicht könnte er einmal
kommen. Ich hätte nichts dagegen. Herr Markl von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft hat es auf den Punkt
gebracht: erst denken, dann reden. Das ist das, was ich für
das Protokoll Herrn Westerwelle mit auf den Weg geben
möchte.
Zentralismus ist keine Lösung. Wir sollten vernünftig
über den Wettbewerb der Bundesländer reden. Wir sollten
nicht über Frau Schavans Begriff der Spaßgesellschaft
und über deren Ende reden. Ich selbst habe eine Zeit lang
in Kanada gelebt. Kanada ist eine Spaßgesellschaft.
Trotzdem sind dort die Schülerinnen und Schüler im Ergebnis besser. Schule kann doch auch Spaß machen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir eine Schule haben, die Spaß macht.
({9})
Nicht nur den Schülerinnen und Schülern soll sie Spaß
machen - es gibt auch viel Ärger -, sondern auch den Lehrerinnen und Lehrern.
Was für mich ganz wichtig ist - das würde ich gerne als
letzten Satz anmerken, Frau Präsidentin -: Wir haben
schon bei der Besoldung unserer Lehrer ein Problem. Ein
Gymnasiallehrer wird immer mehr als ein Hauptschullehrer an einer sozialen Brennpunktschule verdienen. Das
kann es nicht sein,
({10})
nicht weil der Gymnasiallehrer zu viel verdient, sondern
weil wir auch die Leistung, die Lehrerinnen und Lehrer an
solchen Schulen bringen, würdigen müssen. Wenn wir das
tun, haben wir insgesamt eine bessere Schule.
({11})
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
({0})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2000
- Drucksache 14/5882 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Heidemarie Lüth.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als Erstes möchte ich mich
bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes der Unterabteilung Petitionen ganz herzlich bedanken.
({0})
An vier Zahlen möchte ich diesen Dank quantitativ,
aber natürlich auch qualitativ belegen. Im Jahr 2000 wurden über 13 000 Petitionen abschließend bearbeitet und
über 20 000 Petitionen wurden neu an den Petitionsausschuss überwiesen. Über 12 000 Nachträge gab es durch
Petentinnen und Petenten und über 7 000 Stellungnahmen
der Regierung mussten bewertet und in guter Qualität in
die Vorbereitung der Arbeit der Abgeordneten eingebracht
werden.
Auch den Kolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses sage ich Dank. Sie haben in vielen Stunden
für Bürgerinnen und Bürger gearbeitet und viel dafür getan, dass das Ansehen des Bundestages bei der Bevölkerung steigt, ohne dass wir deswegen im Rampenlicht
stehen.
({1})
Ich bedanke mich auch für die erfreuliche kollegiale
und konstruktive Atmosphäre im Ausschuss, die mir die
Arbeit als Vorsitzende leicht und angenehm macht.
({2})
Schließlich danke ich dem Ältestenrat, der es nach vielem
Hin und Her ermöglicht hat, den im Juni übergebenen Bericht noch im Jahre 2001 in letzter Sekunde zu beraten,
sodass wir ihn nicht erst im Laufe des Jahres 2002 debattieren müssen.
({3})
Da mir als Vorsitzende zur Einführung nur 5 Minuten
Redezeit zur Verfügung stehen, nur einige Schlaglichter:
Die Arbeit des Petitionsausschusses trägt nicht nur parlamentarischen Charakter, sondern dient der Umsetzung
des Grundrechts auf Petition nach Art. 17. Tausende haben das Petitionsrecht als wesentliches Element demokratischer Teilhabemöglichkeit erkannt. Für uns als Parlamentarier ist diese Arbeit ein Seismograph, der für
unsere gesamte Arbeit unabdingbar ist; denn Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger sind Elemente einer Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzesfolgenkontrolle.
Sie dienen daher der Kontrolle unserer eigenen Arbeit, die
ich persönlich als Hilfe begreife. Ich möchte einen selbstbewussten mündigen Bürger und nicht einen deutschen
Michel mit Schlafmütze.
({4})
Der Jahresbericht macht deutlich: Es gibt Beschwerden, die Unterlassen und Trägheiten im Handeln der Verwaltung aufzeigen, es gibt aber auch Bitten, die auf die
Gesetzgebung zielen. Erstmalig in der Geschichte des
Bundestages hat im vergangenen Jahr die Zahl der Bitten
zur Gesetzgebung mit über 11 000 die der 9 000 Beschwerden überstiegen. Hinzu kommt, dass die Legislativpetitionen eine andere Qualität haben; sie werden oft
nicht im stillen Kämmerlein erdacht. Vielmehr schließen
sich Bürgerinnen und Bürger auf der Grundlage des
Art. 17 Grundgesetz kollektiv zusammen, um sich an die
Volksvertretung zu wenden. Durch Unterschriften und
Postkartenaktionen haben sich 1,3 Millionen Menschen
an uns gewandt. Ich denke, das sollten wir als hohe Wertschätzung unserer Arbeit begreifen.
({5})
Lassen Sie mich noch ein Weiteres sagen: Mit dem Petitionsausschuss sind die Bürgerinnen und Bürger ganz
nah am Parlament; sie sind direkt am Gesetzgeber.
Während ein Bürgerbeauftragter nur ein Vermittler zwischen Bürger und Parlament ist, ist der Petitionsausschuss
Teil des Parlaments und damit Repräsentant. Deshalb ist
unsere Verantwortung in der Bearbeitung der Petitionen
- insbesondere wenn sie gesetzgeberischen Charakter haben - so hoch. Ich denke, das sollten sowohl die Regierung als auch die Fraktionen stärker begreifen. Manche
Petitionen, die wir den Fraktionen zur Kenntnisnahme
überweisen, gehen manchmal den Gang eines Schläfers.
Ein weiterer Gedanke: Im Petitionsausschuss besteht
der unbedingte Wille, jede Petition ordnungsgemäß und
sachgerecht zu bescheiden, auch wenn wir uns im Ausschuss häufig mit ihnen in großen Sammelübersichten im
Schweinsgalopp befassen müssen. Ich möchte aber betonen: Die Masse der Arbeit wird nicht in dem Ausschuss
geleistet, sondern findet im Vorfeld durch den Ausschussdienst und die Berichterstatterinnen und Berichterstatter
statt.
Petenten wollen immer wissen: Was passiert mit meiner Petition, wenn sie positiv beschieden ist und an die
Bundesregierung überwiesen wird? Um das dem Petenten
deutlich zu machen, haben wir in diesem Jahresbericht
erstmals eine Rubrik aufgenommen, die aufzeigt, wie die
Regierung Berücksichtigungs- und Erwägungsbeschlüsse
des Petitionsausschusses und damit des Bundestages umgesetzt hat. In vielen Fällen haben wir positive Ergebnisse
erreicht. Wir alle wissen aber - ich möchte das auch den
anderen Kollegen sagen -: Häufig müssen wir scharf
„nachwaschen“. Denn aufgrund eines Beschlusses des
Bundestages geschieht häufig gar nichts. Vielmehr
schließen sich noch Obleutegespräche an. Regierungsvertreter werden in den Petitionsausschuss nicht eingeladen, sondern geladen, um vor den Mitgliedern des Petitionsausschusses ihre Meinung zu einer bestimmten
Petition zu begründen.
Lassen Sie mich aber auch erwähnen, dass es ein Ministerium gibt, über dessen Verhalten wir häufig nicht nur
betrübt, sondern sogar auch empört sind. Es ist das Haus
des Ministers Schily. Gerade die vielen Petitionen, die
sein Ministerium betreffen, bearbeiten wir mit großer
Sorgfalt und Zurückhaltung. Trotzdem werden die meisten Petitionen, die zur Erwägung oder Berücksichtigung
überwiesen werden, nicht berücksichtigt. Aber vielleicht
hat der Innenminister demnächst einmal die Gelegenheit,
in unseren Ausschuss zu kommen und sich einmal anzuhören, wie wir seine Arbeit bewerten.
({6})
Die Frau Staatssekretärin ist ja ein häufiger Gast in unserem Ausschuss.
({7})
- Ja, auch ein lieber Gast. Das kann ich ausdrücklich bestätigen, Kollegin Müller.
Lassen Sie mich zum Abschluss meiner Rede sagen:
Der Petitionsausschuss muss mehr sein als die oberste
Stelle für Beschwerden. Das wollen und müssen wir auch
sein. Aber der Petitionsausschuss muss noch mehr zur
aktiven Schnittstelle zwischen dem demokratischen Parlament und den sich in Form von Petitionen demokratisch
engagierenden Bürgerinnen und Bürgern werden. Ich
glaube, wir sind im vergangenen und in diesem Jahr in
dieser Hinsicht einen Schritt weitergekommen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Bernd Reuter.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die letzten 21 Jahre meiner Tätigkeit im Petitionsausschuss
Revue passieren lasse, dann komme ich zu dem Ergebnis,
dem sicherlich meine Kolleginnen und Kollegen zustimmen werden: Unser Petitionsrecht hat sich bewährt.
({0})
20 666 Petitionen wurden im Jahr 2000 beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eingereicht.
Das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme von
13 Prozent. Schon der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Biedermann hat in einer Sitzung des
Reichstages im Jahre 1928 gemahnt: „Gegenüber dem
Formalrecht muss das lebendige Recht den Vorrang behaupten.“ Daran arbeiten wir noch heute; denn angesichts
der im Berichtszeitraum 2000 eingereichten über 20 000
Petitionen ist die Mahnung des Kollegen Biedermann bis
heute unverändert aktuell. Das ist aber kein Zeichen von
Demokratieverdrossenheit; Frau Lüth hat in diesem Punkt
vollkommen Recht. Wir können heute feststellen, dass
wir auch mit unserer Arbeit im Petitionsausschuss zur Akzeptanz des Bundestages in der Bevölkerung beigetragen
haben.
Auch ich möchte auf die Bedeutung des Petitionsausschusses hinweisen. Er ist eine gute Schule für neue Abgeordnete. Aber das funktioniert nur dann, wenn erfahrene Kolleginnen und Kollegen sozusagen das starke
Gerippe des Ausschusses bilden. Allerdings ist die Arbeitsbelastung der neuen Kollegen und Kolleginnen sehr
hoch. Deswegen kann ich nicht verstehen, dass bei der
konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages
1998 in Berlin festgestellt wurde, dass die Zahl der Mitglieder des Petitionsausschusses gesenkt werden muss,
weil nicht in ausreichendem Maße Kolleginnen und Kollegen bereit waren, im Petitionsausschuss mitzuarbeiten.
Das kann auf Dauer nicht so bleiben; denn je weniger Abgeordnete im Petitionsausschuss mitarbeiten, desto mehr
muss der einzelne Abgeordnete - ich schaue hierbei vor
allen Dingen den Kollegen Hohmann an - arbeiten.
Deswegen bin ich der Meinung - dafür möchte ich werben -, dass wir mehr junge Abgeordnete, die in das Parlament gewählt werden, für eine aktive Mitarbeit im Petitionsausschuss gewinnen müssen.
Welch hohen Stellenwert schon die Abgeordneten der
Nationalversammlung, die sich 1848 in der Frankfurter
Paulskirche konstituiert hat, dem Petitionsrecht eingeräumt haben, zeigt die Geschäftsordnung für die
Constituierende Nationalversammlung. In § 18 dieser Geschäftsordnung heißt es:
Dem Petitionsausschuss ist ein bestimmter Tag in
jeder Woche zur Vorlegung seiner Berichte einzuräumen. Erst nach völliger Erledigung dieser Berichte kann zur anderweitigen Tagesordnung übergegangen werden.
Auch im Hinblick auf die Tatsache, dass wir erst so lange
Zeit nach der Übergabe des Berichts diskutieren, will ich
diese Regelung nicht wieder einführen. Ein bisschen mehr
Zeitnähe zur Übergabe wäre bei einer solchen Debatte
aber schon angezeigt.
({1})
Bei aller Kritik, die notwendig ist, muss man auch erfreuliche Tendenzen aufzeigen. Zum Beispiel kann man
feststellen, dass die Bundesregierung nach Kräften versucht, die qualifizierten Beschlüsse des Petitionsausschusses umzusetzen. Selbst bei Petitionen, die als Material an die Bundesregierung überwiesen wurden, haben
wir in jüngster Zeit viele positive Rückmeldungen bekommen. Ich will ein Beispiel nennen.
Ein Petent aus Baden-Württemberg setzte sich für den
Bau einer Ortsumgehung ein. Trotz Baureife und Einstufung in den vordringlichen Bedarf konnte die Maßnahme nicht in das Fernstraßeninvestitionsprogramm
aufgenommen werden. Laut Stellungnahme des zuständigen Ministers für Verkehr hat das Land Baden-Württemberg keinen finanziellen Spielraum mehr für dieses neue
Straßenbauvorhaben. Der Ausschuss überwies die Petition im September 2000 dennoch mit der Bitte um bevorzugte Aufnahme in zukünftige Fernstraßeninvestitionsprogramme und siehe da: Im Oktober 2001 konnte der
Staatssekretär mitteilen, dass bereits im April mit der Baumaßnahme begonnen worden war und dass sie 2006 fertig gestellt werden kann. - Das zeigt, dass eine Petition
sehr wohl zum Erfolg führen kann. Wir sind dankbar,
wenn die Regierung das in dieser Form macht. Das war
ein schöner und schneller Erfolg im Interesse der Bürger.
({2})
Natürlich muss man an dieser Stelle auch immer wieder deutliche Worte der Kritik finden. Frau Lüth hat das
schon getan. Zur Ehrenrettung des Ministeriums von Otto
Schily will ich nur sagen: Es gibt nicht selten auch Petitionen, bei denen wir gern helfen wollen, bei denen uns
aber die gesetzlichen Rahmenbedingungen daran hindern
und auch das Ministerium nicht aus dem gesetzlichen
Korsett heraus kann. Solche Petitionen müssen aber dazu
führen, dass das Parlament darüber nachdenkt, Gesetze zu
ändern, damit wir in der Lage sind, den Menschen zu helfen.
({3})
Ich will noch ein Beispiel vortragen, das mich persönlich besonders gefreut hat. Dass wir jetzt eine Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ haben, ist
mit darauf zurückzuführen, dass wir viele Jahre lang eine
große Zahl von Petitionen dazu hatten. Dass es nach langer Zeit gelungen ist, diese Stiftung zu gründen, verdanken wir auch dem Beschluss des Deutschen Bundestages,
der unter dem Druck dieser Petitionen mit großer Mehrheit gefasst worden war. Dass im Sommer dieses Jahres
mit der Auszahlung der Entschädigungen für Zwangsarbeiter begonnen werden konnte und bis Ende dieses Jahres 2,5 Milliarden DM, ein Viertel der Summe, die zur
Verfügung steht, an 600 000 Opfer im In- und Ausland gezahlt werden konnten, ist ein großer Erfolg.
Ich will aber noch etwas Kritik üben. Ich freue mich,
dass noch zwei leibhaftige Vertreter der Bundesregierung
anwesend sind. Das sind aber auch die Treuen, die immer
in den Ausschuss kommen. Ich will diese beiden bitten,
meinen Appell, den ich hier schon im vergangenen Jahr
vorgetragen habe, weiterzugeben. Ich bitte die Damen
und Herren Minister und Staatssekretäre, nicht alles, was
die Ministerialbürokratie aufschreibt, unreflektiert zu unterschreiben. Nicht selten erlebe ich es nämlich, dass das
ein bisschen an der Sache vorbeigeht.
({4})
Am meisten ärgert es uns, wenn wir arrogante Stellungnahmen erhalten nach dem Motto - ich sage es einmal mit
sehr deutlichen Worten -: Da könnte ja jeder kommen.
Was bildet ihr euch eigentlich ein?
({5})
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben dem
Petitionsrecht einen hohen Rang zugewiesen. Deshalb
dürfen die Petenten auch nicht irgendwelche Sanktionen
erleben. Wir haben schon gehört oder gelesen, dass es in
einer großen Bundesbehörde heißt, der Petent würde
großen Schaden erleiden, wenn er seine Petition nicht
zurücknehmen würde. Das muss in Zukunft abgestellt
werden.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch sagen, dass wir im Grunde eine Arbeit leisten, die zwischen
Frust und Lust eingebettet ist.
({7})
Frust ist in der Tat manchmal auch dabei. Aber wir haben
auch Spaß und Freude an dem, was wir tun.
Ich will am Schluss zur Erheiterung noch etwas Kurioses
vortragen, weil wir heute Abend ja so schön unter uns sind.
({8})
Ein Petent fordert ein Verbot der Schneckenfallen mit alkoholhaltigem Bier, da die Schnecken von Igeln gefressen
würden, die sich dann, wenn sie besoffen seien, nicht mehr
zusammenrollten und leichte Beute für andere seien. Igel
stünden unter Naturschutz und Schneckenfallen funktionierten auch mit alkoholfreiem Bier, so schreibt der Petent.
Darum fordert er ein Verbot von Schneckenfallen mit alkoholhaltigem Bier oder den Verkauf des Flaschenbieres
nur mit einem entsprechenden Warnhinweis.
({9})
Ich bin der Meinung, dass wir auch diese Petition ernst
nehmen müssen. Das machen wir.
Ich habe noch den lieben Kolleginnen und Kollegen,
die in so vorbildlicher Weise im Ausschuss wirken, dem
Ausschussdienst und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Fraktionen, die bei der Erledigung der
umfangreichen Arbeit mithelfen, Dank zu sagen.
Auch nach 21 Jahren Mitgliedschaft in diesem Ausschuss ist meine Motivation noch immer hoch, dort mitzuwirken. Ich kann mich den Worten des Bürgerbeauftragten von Rheinland-Pfalz, meines Freundes Ulli Galle,
nur anschließen:
Es ist ein Geschenk, wenn man mit seiner Arbeit anderen Menschen helfen darf!
Schönen Dank.
({10})
Ich gebe
nunmehr dem Kollegen Hubert Deittert das Wort. Er
spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren den Jahresbericht 2000 des Petitionsausschusses. Unser Ausschuss
ist die Nahtstelle zwischen Parlament und Bürger. Die Menschen im Lande sehen das so; denn sie machen von dem Petitionsrecht regen Gebrauch. Wir sind gut beraten, wenn wir
dem Petitionsausschuss im Parlament den Stellenwert zubilligen, der ihm eigentlich zukommt. Dort zeigt sich die
Bürgernähe des Parlaments. Wir können in diesem Ausschuss ein ganzes Stück Politikverdrossenheit aufbrechen.
Die Arbeit im Petitionsausschuss verlangt von uns Abgeordneten einen wahnsinnigen Zeit- und Arbeitsaufwand. Die Medien und die Öffentlichkeit interessieren
sich allerdings nur in Ausnahmefällen dafür; deswegen ist
dieser Arbeitsbereich zur politischen Profilierung wenig
geeignet. Möglicherweise rührt daher das schwache Interesse von Kolleginnen und Kollegen, in diesem Ausschuss mitzuarbeiten. Vielleicht ist der eigentliche Grund
aber auch das frühe Aufstehen am Mittwochvormittag.
Ich denke, dass diese Aufgabe allerdings sehr befriedigend sein kann; zumindest für mich ist sie es. Der Petitionsausschuss ist nämlich eine Stelle, an der man eine
schnelle Rückkopplung hat. Wir beschäftigen uns mit der
gesamten Palette der Politik. Wir bekommen einen unheimlich guten Einblick in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse im gesamten Land.
Für mich ist wichtig, dass es in diesem Ausschuss über
Parteigrenzen hinweg das ehrliche Bemühen gibt, eine
Lösung für den betreffenden Petenten zu finden. In diesem Zusammenhang möchte ich den Kolleginnen und
Kollegen für die Zusammenarbeit herzlich danken. Ein
besonderer Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes; denn ohne ihre gewissenhafte und gründliche Zuarbeit wäre unser Ausschuss
nicht arbeitsfähig. Herzlichen Dank!
({0})
Für das Jahr 2000 ist eine erhebliche Steigerung der
Anzahl der Eingaben - Herr Reuter hat eben die Zahl genannt; es waren 13 Prozent mehr, insgesamt 20 666 Petitionen - zu verzeichnen. Das zeigt, dass die Menschen im
Lande dieses Angebot annehmen. Wir sind gut beraten, es
entsprechend zu pflegen.
Der deutliche Anstieg der Anzahl von Anregungen zur
Gesetzgebung im Verhältnis zu dem von Bitten und Beschwerden ist für mich ein Hoffnungszeichen dafür, dass
sich die Menschen im Lande sehr wohl für Politik interessieren; denn im Hinblick auf bestimmte Gesetzesänderungen oder neue Gesetze bekommen wir sehr konkrete
und konstruktive Vorschläge.
Der Bereich Arbeit und Soziales ist am stärksten frequentiert: Immerhin 44 Prozent der Petitionen haben sich
mit dem Politikfeld des Arbeits- und Sozialministeriums
beschäftigt. Allerdings muss man hierzu immer wieder
feststellen: In der hohen Zahl der Eingaben aus diesem Bereich spiegelt sich eine große Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der augenblicklichen Politik wider.
({1})
Die Bürger haben sich sehr wohl an die großen Versprechungen, die jetzt nicht eingehalten werden, aus dem
Jahre 1998 erinnert. Diese Dinge werden zusätzlich durch
die Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten bestätigt.
Eine große Zahl von Petitionen betrifft die Steuergesetzgebung, vor allem die Ökosteuer. Die Ökosteuer hat viele
Menschen im Land berührt. Argumente sind immer wieder,
dass die Ökosteuer vor allen Dingen die sozial Schwachen
trifft und diese keinerlei Kompensationsmöglichkeiten haben. Dies sind Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger oder Rentner. Die Ökosteuer sei - so sagen viele Petenten - unausgewogen, verkehrs- und umweltpolitisch nicht sinnvoll, sozial
ungerecht. Ich denke, das sollte die Regierung und die
Mehrheitsfraktionen im Deutschen Bundestag einmal zum
Nachdenken bringen. Wenn sie schon nicht auf die Opposition hören, dann vielleicht auf die Bürger.
({2})
Wir haben eine große Zahl von Sammelpetitionen mit
Unterschriftenlisten. Schwerpunkte sind die Bereiche
Kindergeld, Verkehr, das Parteiengesetz, das Psychotherapeutengesetz. Sehr viele Petitionen betreffen - den Bereich hat der Kollege Reuter angesprochen - die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern. Hier haben wir Gott
sei Dank durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung
und Zukunft“ eine zufrieden stellende Lösung gefunden.
Ich denke, das ist ein großer Erfolg der Arbeit des Parlaments, vor allem des Petitionsausschusses.
Es gibt allerdings immer wieder einzelne Petitionen
von deutschen Zwangsarbeitern, die in den letzten
Kriegsjahren oder nach dem Kriege Zwangsarbeit geleistet haben. Für diese haben wir keine zufrieden stellende
Lösung. Ich stelle mit Bedauern fest, dass dieses Thema
für die Koalitionsfraktionen im Ausschuss zu heiß ist, um
es zu diskutieren und nach einer vernünftigen Lösung zu
suchen. Ich gebe zu, das Thema ist unbequem und nicht
einfach, aber es verdient unsere Aufmerksamkeit. Unsere
Anträge wurden im Ausschuss leider immer von der
Mehrheit überstimmt.
({3})
Wenn man einen Blick auf die regionale Herkunft der
Petitionen wirft, stellt man fest, dass interessanterweise
das Saarland mit 102 Petitionen auf 1 Million Einwohner
das Land mit den wenigsten Eingaben ist und beispielsweise Sachsen-Anhalt ein Land mit sehr vielen Eingaben
ist. Hier ist man schon einmal versucht, diese Zahlen mit
der Farbe der jeweiligen Landesregierung zu verbinden.
Dies will ich aber heute nicht vertiefen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben Kontakte
zum Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments
gepflegt. Eine Delegation hat den Deutschen Bundestag
besucht. Es wurde vor allem die europäische Grundrechte-Charta diskutiert. Inzwischen ist das Petitionsrecht
auf europäischer Ebene in Art. 44 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. Ich denke, das
ist ein gutes Zeichen für die weitere Entwicklung Europas.
Lassen Sie mich noch kurz einige Beispiele aus meinem Arbeitsbereich im Ausschuss anführen. Ein Beispiel
ist eine Ortsumgehung in Ratzeburg, Schleswig-Holstein. Diese Petition hat uns lange beschäftigt. Die Bundesregierung und die Landesregierung hatten die Planung
praktisch eingestellt, weil der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestages bemerkt hatte, das Kosten-Nutzen-Verhältnis sei zu ungünstig. Wir haben uns die Sache
vor Ort angesehen und miteinander festgestellt, dass diese
Umgehung dringend notwendig ist, nicht nur zum Schutz
der dort wohnenden Menschen, sondern auch zum Schutz
der historischen Bausubstanz. Bei dem Ortstermin wurde
ein neuer Vorschlag vorgelegt, der sehr viel versprechend
ist. Bundesregierung und Landesregierung haben zugesagt, diesen Vorschlag gründlich zu prüfen und nach Möglichkeit einer Lösung zuzuführen. Ich denke, dies ist ein
hoffnungsvolles Zeichen.
Einen weiteren Ortstermin gab es in Sachsen. Dieser
betraf die Autobahn A 72. Hier gab es gegensätzliche
Auffassungen. In dem Ortstermin zusammen mit den Vertretern des sächsischen Petitionsausschusses wurde eine
Linie gefunden, die wir gemeinsam verfolgen konnten.
Ich will noch ein Beispiel aus meiner Heimatregion ansprechen. Es geht um die A 33. Hier lag eine Sammelpetition mit einer großen Unterschriftenliste vor. Die Bürger
setzten sich für den schnellen Lückenschluss - es geht
noch um etwa 25 Kilometer - dieser Autobahn ein.
({4})
Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat das Planfeststellungsverfahren angehalten. Wir haben diese Petition als Material an die Bundesregierung überwiesen.
Ich habe die Hoffnung, dass das Planfeststellungsverfahren jetzt wieder in Bewegung kommt, nachdem teilweise abenteuerlich über Naturschutzgesichtspunkte
diskutiert worden ist, und dass die Menschen Vorrang
haben vor Fledermäusen, Kammmolchen und sonstigen
Dingen.
Ich unterstreiche: Naturschutz ist wichtig und wird von
mir auch sehr unterstützt. Wenn ich aber zwischen den
Belangen der Menschen und den Belangen der Natur abwägen muss, haben die Belange der Menschen Vorrang.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort
hat der Kollege Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte zum Jahresbericht 2000 musste nach
den fürchterlichen Ereignissen des 11. September mehrfach verschoben werden. Manchen mögen Petitionen angesichts der aktuellen Herausforderungen der Politik daher als Luxus aus einer unbeschwerten Zeit erscheinen.
Aber gerade jetzt müssen wir uns mit dem beschäftigen,
was die Menschen in ihrem Alltag umtreibt. Wenn man
jetzt wieder zu Recht den Ruf nach einer gerechteren Welt
hört, sage ich: Genau daran, an einer gerechteren Welt, arbeiten wir hier im Petitionsausschuss jeden Tag Stück für
Stück und ganz konkret.
Auch die Befassung mit fehlerhaften Rentenbescheiden oder mit Lärmschutz an Schienenwegen trägt dazu
bei, zu demonstrieren, wie wir leben wollen und was wir
uns von niemandem zerstören lassen wollen. Dazu gehört
ein politisches System, das den Willen, die Sorgen und
Nöte eines jeden Einzelnen ohne Ansehen der Person, der
Religion oder der Herkunft respektiert. „Es ist die Demokratie, die als Sprache hören lässt, was bisher nur als
unartikulierter Lärm der Sprachlosen vernommen
wurde“, sagte der Philosoph Platon. In diesem Sinne ist
der Petitionsausschuss Sprachrohr der Bürger und zugleich Hörrohr für das vielleicht manchmal etwas schwerhörige Parlament.
Die parlamentarische Demokratie in Deutschland stellt
die Pflicht des Staates, sich mit Problemen und Bitten, mit
den von den Menschen empfundenen Ungerechtigkeiten
zu befassen, in Art. 17 des Grundgesetzes ganz weit
nach vorne. Es ist gut, festzustellen, dass wir in einem
Land leben, in dem nicht nur der Staat verpflichtet ist, die
Bürger ernst zu nehmen, sondern in dem auch die Menschen ihre staatliche Verfassung beim Wort nehmen und
dieses Recht immer selbstverständlicher und selbstbewusster nutzen. Die Zahl der Eingaben an den Deutschen
Bundestag ist im Berichtszeitraum auf 20 666 Eingaben
gestiegen.
Ich möchte beispielhaft auf einige interessante Petitionen der letzten Zeit eingehen; denn hier leistet der Petitionsausschuss wertvolle und gute Arbeit. Er konnte auch
im zurückliegenden Berichtsjahr - über die zahlreichen
gesetzgeberischen Initiativen hinaus - in vielen Einzelfällen konkret und handfest helfen.
({0})
Eine Petentin aus Nordrhein-Westfalen beschwerte
sich darüber, dass ihr die BfA wiederholt die Gewährung
einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit
verweigert habe. Der Petitionsausschuss schaltete das
Bundesversicherungsamt ein. Aufgrund der Überprüfung
gemäß § 44 Sozialgesetzbuch X stellte die BfA doch noch
einen Zahlungsanspruch auf Rente fest. Die Rente wurde
ab 1. Mai 2000 in Höhe von 1 779 DM gezahlt, die Nachzahlung betrug mehr als 100 000 DM.
Ein Mann nahm den tragischen Tod eines Mädchens
zum Anlass, beim Petitionsausschuss das Verbot von
Frontschutzbügeln an Geländewagen, den so genannten
Bullenfängern, zu fordern. Sie alle kennen diesen unsinnigen Schnickschnack an Geländewagen, die teilweise
wie Panzerfahrzeuge aussehen. Das mag in der argentinischen Pampa zweckmäßig sein; auf unseren Straßen
bedeuten sie nur ein deutlich erhöhtes Unfallrisiko, insbesondere für Kinder. Der Ausschuss sah das auch so und
hat den Bundesverkehrsminister aufgefordert, tätig zu
werden. Es freut mich, dass der Minister im Hinblick auf
eine zügige Verabschiedung einer entsprechenden
EU-Richtlinie tätig geworden ist.
Meine Damen und Herren, in seiner Jahresbilanz
kommt der Ausschuss zu der Feststellung - ich zitiere aus
dem Bericht -, „dass die Bundesregierung nach wie vor
bemüht ist, alle ihr gebotenen Mittel und Möglichkeiten
auszuschöpfen, um ihr zur Berücksichtigung oder Erwägung überwiesenen Petitionen nachzukommen.“ Darüber
freue ich mich, denn das war in der Vergangenheit nicht
immer der Fall. Als Mitglied des Petitionsausschusses
verstehe ich mich jedoch in erster Linie als Anwalt der Petenten, als Anwalt der Bürger und nicht als Vertreter einer
Regierungsfraktion. Darum möchte ich noch den Schlussabsatz des oben angeführten Zitats aus dem Jahresbericht
bringen: Auch wenn das Resümee vor diesem Hintergrund im Berichtsjahr positiv ausfällt, ist der Petitionsausschuss weiterhin darauf bedacht, den Antworten der
Bundesregierung auf Berücksichtigungs- und Erwägungsbeschlüsse besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
Darum bitte ich auch meinen Parteifreund, Bundesumweltminister Trittin, an die Petition zu denken, die Kinder- und Jugendgruppen eingereicht hatten und in der sie
die Bundesregierung aufforderten, stärker als bisher etwas gegen den Ozonsmog zu unternehmen. Der Petitionsausschuss hat dieser Eingabe stattgegeben.
Meine Damen und Herrn, ein starkes Petitionsrecht
und ein starker Petitionsausschuss befördern die praktische, alltägliche Umsetzung von Bürgerrechten in Tausenden von Fällen. Dafür möchte ich mich bei Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dem fleißigen und kompetenten Ausschussdienst und vor allem bei den Bürgerinnen
und Bürgern ganz herzlich bedanken.
Vielen Dank.
({1})
Nun gebe
ich dem Kollegen Günther Nolting, FDP, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Es ist hier schon darauf hingewiesen worden: Im Jahr 2000 hat es fast 21 000 Einzeleingaben gegeben. Das ist in den vergangenen 20 Jahren
der dritthöchste Wert und bedeutet im Verhältnis zum Berichtszeitraum davor eine Steigerung um fast 14 Prozent.
Frau Vorsitzende, ich stimme mit Ihnen überein, dass es
auf der einen Seite erfreulich ist, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an den Petitionsausschuss und damit an
das Parlament wenden. Sie sind also nicht politikverdrossen, sondern vertrauen darauf, dass die Politik ihnen hilft.
Es ist aber, wie ich denke, andererseits auch ein Signal
dafür - das muss man mitberücksichtigen -, dass in unserem Land noch einiges im Argen liegt. Hier muss Abhilfe
geschaffen werden.
({0})
Auch ich will mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes dafür bedanken, dass
diese große Anzahl an Petitionen auch deshalb so zügig
bearbeitet werden konnte, weil die Mitglieder des Sekretariats uns in vorbildlicher Weise zuarbeiten und unsere Arbeit dementsprechend gut vorbereiten. Ich habe die
Feststellung gemacht - ich denke, das kann ich auch insgesamt für den Petitionsausschuss sagen -, dass die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trotz der großen Belastung stets freundlich sind und zügig weiterhelfen. Ich
kann auch hier den Dank wie der Kollege Reuter an die
eigenen Mitarbeiter weitergeben. Auch ihnen gegenüber
muss einmal ein Dank ausgesprochen werden. Genauso
möchte ich mich auch bei der Vorsitzenden bedanken,
dass sie kollegiale Arbeit im Ausschuss ermöglicht.
Schließlich möchte ich mich auch bei allen anderen Kolleginnen und Kollegen dafür bedanken, dass fraktionsübergreifend gearbeitet und Hilfe gesucht wird.
({1})
Ich will noch kurz die Statistik ansprechen: Es ist
schon bemerkenswert, dass bei rund 43 Prozent der Eingaben dem Petenten durch Rat, Auskunft oder Materialbeschaffung sofort geholfen werden konnte und dass in
rund 8 Prozent der Fälle den Anliegen der Petenten entsprochen wurde. Das bedeutet, dass gut 50 Prozent der Petitionen positiv erledigt werden.
Allerdings fällt auch auf, dass im vergangenen Jahr
über 50 Prozent der Petitionen aus den östlichen Bundesländern gekommen sind. Dies ist auf der einen Seite erfreulich, weil es zeigt, dass unsere Mitbürgerinnen und
Mitbürger in Ostdeutschland immer wieder neue Vorschläge und Anregungen auf den verschiedensten Feldern
der Politik einbringen, dass sie sich insofern aktiv an der
Weiterentwicklung unseres Landes beteiligen und damit
auch Demokratie leben. Aber dieser hohe Anteil zeigt
auch, dass die Menschen gerade in Ostdeutschland von erheblichen Sorgen geplagt werden, deren wir uns besonders annehmen müssen.
({2})
Bereits angesprochen wurde die Vielzahl der Petitionen aus dem Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Gegenstand dieser
Petitionen war insbesondere die Einführung der SozialHelmut Wilhelm ({3})
versicherungspflicht für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Als FDP-Bundestagsfraktion haben wir von
Anfang an stets auf die Schwachstellen dieser Regelung
aufmerksam gemacht. Die Praxis hat mittlerweile gezeigt,
dass die Gesetzesänderung weder zu mehr Arbeitsplätzen
noch zu einer nennenswerten Entlastung der Sozialkassen
beigetragen hat. Das haben auch die Petenten gesehen,
weshalb sie diese Regelung kritisieren. Daher fordern wir
die Bundesregierung noch einmal auf, diese unsinnige
Regelung zurückzunehmen.
Meine Damen und Herren, noch ein Satz zur so genannten Ökologiesteuer: Auch hierzu haben wir eine
Reihe von Petitionen bekommen. Die Bürger setzen sich
insbesondere mit der Einführung der Stromsteuer sowie
der Erhöhung der Mineralölsteuer auf Kraftstoffe, Heizöl
und Gas kritisch auseinander, die ja in erster Linie die sozial Schwachen treffen: die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger und die Rentner. Ähnlich benachteiligt sind
auch die Behinderten, die keinen Ausgleich für die Nachteile bekommen, die ihnen dadurch entstehen, dass sie zur
Erhaltung ihrer Mobilität auf das Auto angewiesen sind.
Ebenso häufig sind wir zu Recht dafür kritisiert worden,
dass der ÖPNV nicht in hinreichendem Maße von der so
genannten Ökologiesteuer ausgenommen worden ist.
Deswegen sagen wir dazu - hier stimmen wir mit den vielen Petenten überein -: Die Ökologiesteuer ist sozial ungerecht sowie verkehrs- und umweltpolitisch nicht sinnvoll; sie ist weder „öko“ noch logisch.
({4})
Meine Damen und Herren, als Mitglied des Verteidigungsausschusses möchte ich die Petitionen zur unterschiedlichen Besoldung in Ost und West sowie zur Frage
der Wehrpflicht ansprechen.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert seit langem, die
Besoldung in Ost und West schrittweise anzugleichen;
entsprechende Anträge haben wir eingebracht. Diese Angleichung entspricht dem Leitgedanken der Armee der
Einheit im Jahre zwölf nach der Wiedervereinigung. Die
Bundesregierung hat es bis jetzt nicht geschafft, eine Perspektive für die Angehörigen der Bundeswehr zu schaffen. Die Zielmarke der Regierung endet bei 90 Prozent.
Dabei sind die Arbeitsleistungen, die die Angehörigen der
Bundeswehr in Leipzig oder Rostock erbringen, nicht bei
90 Prozent, sondern wie in Hamburg oder Koblenz bei
100 Prozent angesiedelt.
({5})
- Wenn Sie an dieser Stelle einen Zwischenruf machen,
Frau Kollegin, dann bedenken Sie bitte, dass die Angehörigen der Bundeswehr mit gleicher Ausbildung und
Qualifikation am gleichen Arbeitsplatz arbeiten, aber
nach wie vor unterschiedlich besoldet werden. Hier sind
Sie als Koalition und als rot-grüne Regierung gefragt,
diese Ungleichgewichte endlich abzuschaffen.
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas zur Wehrpflicht sagen. Viele Petenten fordern wie die FDP-Fraktion die Aussetzung der
Wehrpflicht. Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch nicht
mehr zwingend notwendig; damit entfällt auch ihre Legitimation. Die Wehrgerechtigkeit ist nicht mehr gegeben.
Die Wehrpflichtigen werden für die neuen Aufgaben der
Bundeswehr nicht mehr eingesetzt: weder in den Einsatzgebieten auf dem Balkan noch zur Terrorismusbekämpfung im Ausland. Das heißt, auch hier muss die Bundesregierung endlich handeln, und zwar jetzt und nicht erst
dann, wenn eine höchstrichterliche Entscheidung vorliegt. Auch hier sind die Bürgerinnen und Bürger der Bundesregierung bereits ein gutes Stück voraus. Ich hoffe,
dass wir auch hier bald zu Änderungen kommen und den
Anliegen der Petenten Rechnung tragen können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Es spricht
die Kollegin Jutta Müller, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben gehört,
dass sich gemäß der Statistik sehr viele Menschen immer
noch und immer wieder an den Petitionsausschuss wenden. Das freut uns, weil es zeigt, dass ein großes Vertrauen
in dieses Parlament besteht.
Ich möchte heute ein paar Dinge aufgreifen, die mich
immer sehr ärgern. Ich glaube nämlich, dass es sich zum
Teil um Petitionen handelt, die uns eigentlich gar nicht
hätten erreichen müssen. Ich habe mehrfach Akten auf
dem Tisch gehabt, bei denen ich gedacht habe, dass daraus
gar keine Petition hätte werden müssen, wenn man vor Ort
den vorhandenen Spielraum genutzt und die Dinge an Ort
und Stelle geregelt hätte.
({0})
Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele präsentieren, die
zeigen, wie die Praxis aussieht. Ich möchte zunächst einen Bereich als positives Beispiel erwähnen, in dem die
Anzahl der Petitionen drastisch zurückgegangen ist. Es
gab des Öfteren große Probleme bei der Erteilung von
Visa, vor allen Dingen dann, wenn ein Visum im Ausland
abgelehnt wurde. Das Problem hat sich aus der Tatsache
ergeben, dass die Ablehnung nicht begründet wurde. Somit hatte der Antragsteller überhaupt keine Chance, eventuelle Mängel abzustellen.
Nach einem sehr konstruktiven Gespräch im Ausschuss mit dem Staatsminister Volmer - er ist leider heute
nicht anwesend; aber vielleicht können ihm die Kolleginnen und Kollegen Staatssekretäre das ausrichten - waren
wir sehr erfreut, zu erfahren, dass es zwischenzeitlich Veränderungen in der Verwaltungspraxis gegeben hat. Wenn
ein Visum abgelehnt wird, wird die Ablehnung jetzt begründet. Somit haben der Antragsteller oder auch die einladende Familie vor Ort - das sind meistens diejenigen,
die sich an uns wenden - die Möglichkeit, eventuelle
Formfehler zu beheben.
Wir sehen die Wirksamkeit dieser Änderung an der Anzahl der Eingaben. Im Jahre 1999 gab es noch 1 000 Petitionen im Bereich des Auswärtigen Amtes. Diese Zahl ist
für das Jahr 2000 auf unter 400 zurückgegangen. Ich
denke, das hat sehr viel damit zu tun, dass sich die Menschen nicht mehr an den Petitionsausschuss wenden müssen, sondern das vor Ort selber klären können, wenn ein
Besuchervisum abgelehnt wird.
({1})
Zufriedenheit kann man in einigen Gesellschaften nur
schwer allein dann erreichen, wenn man als Frau geboren
wurde. Ob aus religiösem Fanatismus oder ob aus traditionellen Gründen: In einigen Ländern und Regionen dieser Welt gelten die Menschenrechte nicht für Frauen. Darauf weisen uns immer wieder Organisationen wie
beispielsweise Amnesty International schon lange hin.
Der Petitionsausschuss wurde im vergangenen Jahr
noch einmal auf dieses Problem durch eine Petition aufmerksam gemacht, die von mehr als 100 000 Menschen
unterstützt wurde. In ihr wurde gefordert, die frauenspezifische Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen und
den ausländerrechtlichen Abschiebeschutz zu verbessern.
Es gab daraufhin ein sehr langes Verfahren. Wir hatten
dank der Staatssekretärin die Möglichkeit gehabt, im Ausschuss mit dem Präsidenten des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, aber auch mit damit
befassten Entscheiderinnen selbst zu sprechen. Mittlerweile werden die Spielräume besser genutzt. Das neue
Zuwanderungsgesetz, das heute Morgen auf den Weg gebracht wurde, wird - so hoffe ich - dieser Petition Rechnung tragen.
({2})
Nichtsdestotrotz will ich Ihnen noch ein Beispiel präsentieren, das zeigt, wie Verwaltungshandeln manchmal
nicht im Sinne des Bürgers durchgeführt wird und wo wir
sehr viel nachhelfen müssen. In diesem Fall geht es um
ein Ehepaar mit zwei Kindern in Rheinland-Pfalz, also sozusagen die klassische deutsche Familie.
({3})
- Ja, mit zwei Kindern. - Irgendwann hat sich das Ehepaar entschlossen, sich zu trennen. Die Trennung ist einigermaßen gut vonstatten gegangen. Man hat der Einfachheit halber vereinbart, dass der Mann Unterhalt zahlt und
dass das Kindergeld weiterhin über den Arbeitgeber des
Ehemanns ausgezahlt wird und dieser es an seine Ehefrau
weitergibt.
({4})
- Das hat er immer getan. Die Ehefrau hat eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, dass sie das Geld immer bekommen hat.
Diese Ehe wurde nach einem Jahr geschieden. Die
Frau hat neu geheiratet und bei der Familienkasse beantragt, dass das Kindergeld über den Arbeitgeber des neuen
Mannes ausgezahlt wird, woraufhin die Familienkasse
gefragt hat: Scheidung? Die Frau erklärte, dass sie bereits
seit einem Jahr gar nicht mehr bei ihrem Mann sei. Daraufhin sagte die Familienkasse, dass der Mann dann auch
seit einem Jahr zu Unrecht Kindergeld erhalten hat, und
forderte dieses Geld zurück.
Der arme Mensch hat umgehend angerufen und gesagt,
dass das nicht richtig sei. Er habe zwar das Kindergeld bekommen, es aber nicht behalten, sondern weitergegeben.
Er bekam daraufhin die behördliche Auskunft, er möge
doch bitte das Kindergeld an die Familienkasse zurückzahlen - es ging um einen Betrag von 4 000 DM -, seine
Frau könne dann eine Nachzahlung beantragen und es
ihm wieder zurückgeben.
({5})
- Ja, ja. Sie lachen. Dieser arme Mensch hat den Behörden geglaubt und hat das getan. Als die Frau die Nachzahlung beantragt hat, wurde ihr erklärt, dass die Frist für
die Beantragung verstrichen sei, sie hätte diese viel früher
beantragen müssen.
({6})
Somit war das Geld weg.
Jeder, dem man das erzählt hat, hat gesagt: Das kann
doch wohl nicht wahr sein, das ist doch wohl ein Schildbürgerstreich.
An dieser Stelle muss ich mich einmal bei unserer Kollegin Margot von Renesse bedanken, die uns sehr geholfen hat, weil wir wirklich juristischen Beistand in dieser
Sache brauchten. Der Verstand hat uns nämlich gesagt,
dass das alles eigentlich nicht wahr sein kann. Das Ministerium hat uns ständig erklärt, dass das so sein muss.
({7})
- Es war das Finanzministerium; die Vertreter sind heute
nicht anwesend. - Wir haben es mittlerweile geschafft,
dass dieser Mensch sein Geld zurückerhalten hat. Aber
immerhin hat es auch zwei Jahre gedauert.
({8})
- Ich hoffe doch. Es wurde eine einvernehmliche Lösung
gefunden.
Das ist für mich so ein Beispiel, wo ich mich frage, ob
so etwas überhaupt in den Petitionsausschuss kommen
muss. Hätte man das nicht vor Ort anders regeln können?
Ich habe noch ein letztes kleines Beispiel: Es ging um
die Witwe eines Soldaten, die Versorgungsbezüge aus
der Besoldungsgruppe A 14 begehrt hat. Das hat man vor
Ort abgelehnt mit der Begründung, dass der Mann erst
zwei Jahre vor seinem Tod befördert worden sei. Wir haben das nachgeprüft. Es hat sich ergeben, dass der Ehemann bereits sieben Jahre auf diesem Posten tätig war.
Nach dem so genannten Versorgungsreformgesetz und einer Übergangsregelung dazu standen dieser Frau die Versorgungsbezüge selbstverständlich zu. Auch hier frage ich
mich, ob das wirklich der Petitionsausschuss bearbeiten
muss. Die Behörde vor Ort muss doch die Gesetze kennen
Jutta Müller ({9})
und den Leuten helfen können. Sie muss Dienstleister und
Servicezentrum sein.
({10})
Es geht mir nicht darum, die Verantwortung vom Petitionsausschuss auf die jeweils zuständigen Behörden zu
verlagern. Jede Institution muss ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen. Das ist nur möglich,
wenn man sich auf den Bürger zu bewegt. Es scheint in
Behörden eine Reflexhaltung zu geben: Sobald ein Bürger kommt und etwas beantragt, heißt es zunächst, dass
das alles nicht geht. Ich denke, diese Reflexhaltung muss
sich ändern. Wenn der Bürger etwas begehrt, muss gesagt
werden: Wir prüfen einmal, ob das geht, und wenn wir
helfen können, dann tun wir es auch.
Unser Ausschusssekretariat würde dadurch sehr entlastet. Die Kolleginnen und Kollegen des Sekretariats haben sehr viel zu tun und müssen oft auch knifflige Fälle in
angemessener Zeit bearbeiten. Wir werden oft kritisiert,
weil es so lange dauert. - Jetzt leuchtet der Präsident.
({11})
Ich muss
jetzt leider auch eine Reflexhandlung vornehmen.
Ich möchte es
nicht versäumen, mich in einem letzten Schlusssatz beim
Sekretariat für die Zuarbeit zu bedanken; denn diese Vorarbeit ist uns bei der Entscheidungsfindung eine wesentliche Hilfe. Ich denke, dass das auch ein fraktionsübergreifender Standpunkt ist.
Herzlichen Dank.
({0})
Nun gebe
ich das Wort dem Kollegen Martin Hohmann, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Sehr
verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Petitionsausschuss ist nicht der Nabel der Welt. Im Gegensatz zum
Haushaltsausschuss bewegen wir keine Milliarden. Im
Gegensatz zum Innenausschuss beeinflussen wir kein so
hochemotionales Thema wie die Zuwanderung. Im Gegensatz zum Forschungsausschuss stellen wir nicht die
Weichen für revolutionäre technische oder biomedizinische Neuerungen.
Unsere mediale Präsenz und Wirksamkeit ist eher gering. Mit anderen Worten: Man könnte uns für eine graue
Maus unter den Bundestagsausschüssen halten. So sehen
wir uns aber nicht. Denn immerhin wahrt der Petitionsausschuss ein Grundrecht: „das Recht, sich einzeln oder
in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder
Beschwerden ... an die Volksvertretung zu wenden“, wie
es in Art. 17 des Grundgesetzes heißt.
Gewiss ist der Petitionsausschuss keine Superrevisionsinstanz. Der Petitionsausschuss hat auch keine exekutiven Befugnisse, wie das mancher von den Petenten
meint, hofft oder wünscht.
({0})
- Richtig. - Der Petitionsausschuss wird von den oberen
Zehntausend unserer Gesellschaft sicher nicht gebraucht.
Sie verfügen über Geld, Macht, Einfluss und Verbindungen. Nein, der Petitionsausschuss ist eher ein Ausschuss
der kleinen Leute. Er ist oft eine Art Notnagel, eine Art
letzte Instanz. Sagte zu Zeiten Friedrichs des Großen der
Müller von Sanssouci: „Es gibt noch Richter in Berlin“,
so kann heute der Bürger auf den Petitionsausschuss als
letzten Ansprechpartner im offiziellen Berlin hoffen. Jährlich tun das in rund 20 000 Fällen Bürgerinnen und Bürger, die ihre Petitionen hierher schicken.
Über die hier geschilderten Schicksale stehen wir unmittelbar, ständig und in einzigartiger Weise in Verbindung mit den Menschen in unserem Land. Wir sind sozusagen ein vorgeschobener Posten des Bundestages. Wir
sind ein Sensorium für legislative Fehlentwicklungen und
für administrative Härten. Der Staat ist, wie Friedrich
Nietzsche sagt, „das kälteste aller kalten Ungeheuer“.
Dass unser Staat nicht zu einem solchen Ungeheuer degeneriert, dazu gibt es auch den Petitionsausschuss. Aus dieser Aufgabe gewinnen wir unser Selbstbewusstsein.
({1})
Nebenbei gesagt: Die Arbeit des Petitionsausschusses
macht auch Freude, weil sie von allen Kolleginnen und
Kollegen ganz überwiegend sehr sachbezogen wahrgenommen wird. Zu dieser Freude trägt auch unsere Ausschussvorsitzende bei, die ohne Bossallüren zugleich als
Mutter der Kompanie fungiert.
({2})
Die Ausschussentscheidungen werden durch die hervorragende Vorarbeit des Ausschussdienstes mit Freifrau
Dr. von Welck an der Spitze sehr erleichtert.
({3})
Drei Dinge aus der Arbeit des Petitionsausschusses
möchte ich kurz ansprechen: Erstens. Besonders bei Asylrechtsentscheidungen bringen Sie als Kolleginnen und
Kollegen der Regierungsfraktionen uns als Oppositionsabgeordnete manchmal in ein Dilemma. Sie tendieren
nämlich bei Ihren Mehrheitsentscheidungen, so manches
Mal jedenfalls, mehr zu gutmenschlicher Gesinnungsethik als zu Recht und Gesetz. Der Opposition fällt dann
die ungewohnte Aufgabe zu, die rechtlich korrekte Stellungnahme eines rot oder grün geführten Ministeriums
gegen die rot-grüne Ausschussmehrheit zu stützen.
({4})
- So ist das Leben.
Jutta Müller ({5})
Zweitens. Die Petition eines Finanzbeamten aus Fulda
wies auf Arbeitsüberlastung und deswegen verringerten
Gründlichkeitsgrad der Bearbeitung von Steuerbescheiden hin. Zu Recht machte er geltend, dass eine bessere
Personalausstattung der Finanzämter eine Milliardensumme in die Staatskasse bringen würde.
({6})
Drittens. Noch immer ungelöst ist die Wiedergutmachung für verschleppte Deutsche und deutsche Zwangsarbeiter. Am Schicksal von Gustav Ullrich aus Helmstadt
wurde dies deutlich. In sowjetischer Kriegsgefangenschaft wurde er 1948 zu 25 Jahren Zwangsarbeit im Besserungslager verurteilt. In Workuta am Polarkreis und in
der sowjetischen Stadt Asbest hatte er zu schuften. Viele
seiner Kameraden haben das Lager nicht überlebt, viele
sind inzwischen gestorben. Die Missachtung seiner Vergangenheit als deutscher Häftling in sowjetischer Gefangenschaft durch den deutschen Staat hat ihn betroffen gemacht und enttäuscht.
Wenn wir - das ist meine große Bitte an die Regierungskoalition - ausländischen Zwangsarbeitern, die unter dem NS-Regime gelitten haben, Entschädigungen zahlen, dann sollten wir auch deutsche Zwangsarbeiter, die
unter dem Stalin-System gelitten haben, in gleicher Weise
zu berücksichtigen versuchen.
({7})
Gustav Ullrich hat seine Enttäuschung mit ins Grab genommen. Während des Petitionsverfahrens - deswegen
darf ich den Namen hier einmal erwähnen - ist er im letzten Monat verstorben.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, tun
wir bitte gemeinsam etwas für die letzten überlebenden
deutschen Zwangsarbeiter! Tun wir etwas für mehr Gerechtigkeit für die kleinen Leute!
({8})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir haben ja heute alle wunderbare Zitate. Auch ich will
mit einem Zitat beginnen: „Die unangenehmen Düfte der
heiligen Institutionen sind mir in die Nase gestiegen.“
Dies hat der Schriftsteller Hans Henny Jahn einmal geschrieben. Er meinte damit seine Erfahrungen mit Bürokratie und „Gerichtsmaschinen“, wie er es ausgedrückt
hat.
Auch uns im Petitionsausschuss ist im zurückliegenden Berichtsjahr allzu oft der unangenehme Duft aus verstaubten Amtsstuben, von mangelhaften Gesetzen oder
ihrer fehlerhaften Ausführung entgegengeweht. Aber wir
haben keinen Grund, uns angewidert abzuwenden; denn
die Bürgerinnen und Bürger sorgen mit ihren Bitten und
Beschwerden für frische Luft in unserer Demokratie.
({0})
Mit ihren Hinweisen auf Mängel, ihren Bitten um Verbesserung und ihren Forderungen zur Gesetzgebung ermöglichen sie es uns, dem Parlament, eine bessere und
bürgerfreundliche Politik zu machen. In etlichen Fällen
konnten wir, wie der Jahresbericht zeigt, - eine ganze
Reihe von Fällen sind heute in der Debatte auch schon genannt worden - ganz konkret helfen.
Ich möchte an dieser Stelle auf unsere schwierige Arbeit im Bereich des Asyl- und Ausländerrechts eingehen, wo wir einiges erreichen konnten. Ein konkretes Beispiel ist die erfolgreich abgeschlossene Eingabe eines
Vaters, der für drei seiner in der Türkei lebenden Kinder
Visa beantragt hat. Das Auswärtige Amt hatte seine ursprüngliche Weigerung zunächst damit begründet, dass
die Kinder in der Türkei sozial integriert seien und die
Mutter in der Türkei ja die nächste Bezugsperson sei.
Durch das Petitionsverfahren konnte dann aber ermittelt werden, dass die Mutter unbekannt verzogen war und
die drei Kinder inzwischen bei einem Onkel wohnten,
dessen Haus nach einem Erdbeben unbewohnbar geworden war. Nach einer erneuten Prüfung der Sachlage hat
dann die Botschaft in Ankara schließlich die Visa zur Familienzusammenführung für die drei Kinder erteilt. Ohne
den Petitionsausschuss wäre dies ganz sicher nicht geschehen.
Andere Beispiele aus der Arbeit betreffen strukturelle
Verbesserungen. Zu nennen sind die asylrechtlichen Lageberichte des Auswärtigen Amtes, die neu konzipiert und
verbessert wurden. Die Visumspraxis der Auslandsvertretungen wurde liberalisiert. Die Forderung nach Anerkennung der nicht staatlichen und auch der geschlechtsspezifischen Verfolgung ist aufgegriffen worden.
Dennoch kommt der Petitionsausschuss bei der Frage
der Gewährung von Asyl auch immer wieder an seine
rechtlichen Grenzen. In oft sehr bitteren und tragischen
Einzelfällen konnten wir nicht helfen.
Ich will in diesem Zusammenhang ein Beispiel für weiteren dringenden Handlungsbedarf nennen, nämlich die
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in
Deutschland und die Rücknahme der Vorbehalte gegen
die Konvention. Der Ausschuss hat eine entsprechende
Petition der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und anderer
der Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen.
Mit der Umsetzung der Konvention könnten im deutschen
Ausländer- und Asylrecht einige der zahlreichen Schutzlücken geschlossen werden.
Das ist für uns als Parlament und insbesondere als Petitionsausschuss so wichtig, dass wir hier immer wieder
nachsetzen werden.
({1})
So steht es etwa im Widerspruch zu den Bestimmungen
der UN-Kinderrechtskonvention, wenn Kinderflüchtlinge
in der Praxis in Deutschland mehrere Monate in AbschieMartin Hohmann
behaft verbringen und dort wie Erwachsene behandelt
werden. Nach Erkenntnissen des Ausschusses gibt es für
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge keine uneingeschränkte Teilnahme an der sozialen Infrastruktur in
Deutschland. Zum Beispiel erfolgt die gesundheitliche
Versorgung nur eingeschränkt. Die Unterbringung und
Betreuung in Jugendhilfeeinrichtungen nach dem Kinderund Jugendhilfegesetz ist nicht gewährleistet. Insbesondere darf die Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendhilfe nicht länger ein Ausweisungsgrund sein.
({2})
Dieser Schritt ist längst überfällig; denn gerade denjenigen Flüchtlingen, die am meisten auf Schutz angewiesen sind, nämlich Kindern und Jugendlichen, darf die Unterstützung nicht verweigert werden. Kinderflüchtlinge
dürfen in Deutschland nicht länger Kinder ohne Rechte
sein.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Arbeit für
Verfolgte und Flüchtlinge ist in den letzten Wochen, nach
den Ereignissen des 11. September, nicht einfacher geworden und ich habe die große Sorge, dass uns in Zukunft
Erfolge noch schwerer werden. Denn es sind schnell und
leicht gemachte Punkte in der Öffentlichkeit, wenn jetzt
unter dem Eindruck der fürchterlichen Terroranschläge
allenthalben gefordert wird, die Visabestimmungen zu
überprüfen, die Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten
für Flüchtlinge einzuschränken und die Maßnahmen zur
Aufenthaltsbeendigung zu verstärken.
Aber gerade hier dürfen nicht Unschuldige und Unbeteiligte getroffen werden; denn es wird kein einziger Terrorist an seinen Untaten gehindert, wenn Kindern kein Visum erteilt wird, um zu ihren Eltern zu kommen, oder
wenn hier lebende Flüchtlinge nicht ausreichend medizinisch versorgt werden.
({4})
Im Gegenteil: Es kommt gerade jetzt darauf an, eine
humanitäre Orientierung zu bewahren. Ich glaube, dass
der Blick des Petitionsausschusses auf den Einzelfall, auf
das konkrete Schicksal, dabei helfen kann, genau hinzuschauen und nicht pauschal zu urteilen.
({5})
Das Wort
hat die Kollegin Heidemarie Ehlert, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte natürlich mit einem herzlichen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes und an die Kolleginnen und
Kollegen des Petitionsausschusses beginnen. Selbstverständlich haben wir auch im Jahr 2000 eine große Anzahl
von Eingaben der Bürgerinnen und Bürger bearbeitet; die
Zahlen wurden bereits genannt.
Einer der Schwerpunkte unserer Arbeit war wiederum
die Auseinandersetzung mit Problemen und Unzulänglichkeiten im Zusammenhang mit der Herstellung der
deutschen Einheit. Immer wieder beschäftigen uns
Ungerechtigkeiten bei den Renten, im Zusammenhang
mit dem Vermögensgesetz, bei familienrechtlichen Regelungen wie dem Versorgungsausgleich und bei der Anerkennung der beruflichen Biografien in der DDR.
Hier hat meine Fraktion, die PDS, im Bundestag einen
deutlichen Schwerpunkt ihrer Arbeit gesetzt. Ich freue
mich, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger unseren
Einsatz für die innere Einheit Deutschlands anerkennen
und honorieren. Aber die meisten Probleme, mit denen
wir uns im Petitionsausschuss konfrontiert sehen, sind
natürlich keine spezifisch ostdeutschen Probleme. Lärmschutz, Mobbing am Arbeitsplatz, Bau von Umgehungsstraßen, Kindergeld, Versicherungsleistungen und vieles
mehr - einiges wurde bereits genannt - tangieren die Interessen vieler Bürgerinnen und Bürger.
Neben der Bearbeitung der einzelnen Petitionen haben
wir auch die Verantwortung, das parlamentarische Petitionswesen weiterzuentwickeln, die gesellschaftlichen und
politischen Veränderungen zu berücksichtigen, das zunehmende Engagement vieler Menschen am demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess aufzugreifen und umzusetzen.
Gerade im Zusammenhang mit dem weiteren Zusammenwachsen Europas und der bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass unsere parlamentarische
Form der Bearbeitung der Eingaben nicht selbstverständlich ist. Im Gegenteil: Wir sind ein umzingeltes Land,
ringsum in den anderen Staaten überwiegt das Modell von
Bürgerbeauftragten, auch Ombudsleute genannt.
Das Modell der parlamentarischen Petitionsbearbeitung hat in der Bundesrepublik eine lange Tradition. Es
hat sich bewährt und wir sollten an ihm festhalten.
({0})
Ich unterstreiche ausdrücklich die Ausführungen der Vorsitzenden des Petitionsausschusses dazu und zu der besonderen Bedeutung der Legislativpetitionen.
In diesem Zusammenhang unterstreiche ich auch die
besondere Bedeutung der gemeinschaftlich von einer
Vielzahl von Menschen an das Parlament gerichteten Eingaben. Die massenhafte Unterstützung von Legislativpetitionen zeigt uns, wie das Interesse von Bürgerinnen und
Bürgern steigt, aktiv am demokratischen Verfahren mitzuwirken, sich mit Ideen und Vorschlägen einzubringen
und dadurch die Volksvertretungen zu aktivieren. Das
sollten wir nicht nur begrüßen, sondern weiter fördern.
({1})
Nicht das Jammern und Wehklagen über tatsächliche
oder vermeintliche Politikverdrossenheit sind gefragt,
sondern Schritte zur Verbesserung der demokratischen
Mitgestaltungsmöglichkeiten. Deshalb brauchen wir in
der Petitionsarbeit zukünftig noch mehr Transparenz und
Öffentlichkeit. Wir brauchen mehr Dialogmöglichkeiten,
gerade im Bereich der Massenpetitionen. Unser Vorschlag
dafür liegt in Form eines Entwurfes eines Petitionsgesetzes vor.
Im Jahresbericht 2000 haben wir erstmalig das Schicksal der Petitionen dokumentiert, die wir zur Berücksichtigung oder zur Erwägung an die Bundesregierung
überweisen. Auch darauf ist die Vorsitzende des Petitionsausschusses bereits eingegangen. Ich sage dazu ausdrücklich: Wir brauchen mehr Möglichkeiten, als nur die
Ergebnisse festzustellen und zu veröffentlichen. Deshalb
schlagen wir in unserem Gesetzentwurf vor, dass die Bundesregierung vor dem Parlament und vor der Öffentlichkeit begründen und rechtfertigen muss, wenn sie dem Votum des Bundestages nicht folgen will.
({2})
Für die Vielzahl der Petitionen, die der Regierung als
Material und den Fraktionen zur Kenntnis überwiesen
werden, bietet sich eine solche Einzelaufführung nicht an.
Allerdings sollte für Massen- oder Mehrfachpetitionen
und andere Petitionen von überdurchschnittlicher politischer Bedeutung versucht werden, vergleichbare Zusammenstellungen zu fertigen und zu veröffentlichen.
In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen von 1998 wurde ein deutliches Mehr
an Transparenz versprochen. Viele Bürgerinnen und Bürger, die Petitionen einreichen, beziehen sich auf diese Vereinbarung. Hier besteht die Chance, zu zeigen, dass und
in welcher Form Wahlversprechen eingehalten und umgesetzt werden.
Mit Petitionen nehmen die Bürgerinnen und Bürger die
Möglichkeit in Anspruch, die Wahlversprechen der Parteien beim Wort zu nehmen und aus den Reaktionen von
Parlament und Regierung bei den nächsten Wahlen Konsequenzen zu ziehen. Und das - so ein inzwischen geflügeltes Wort - ist auch gut so.
Ich danke.
({3})
Der Kollege
Reinhold Hiller, SPD-Fraktion, hat nun das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Hohmann. Ich kann mich an ungezählte Petitionen in
mehreren Legislaturperioden erinnern, die eine Entschädigung für Zwangsarbeiter, aber auch für andere Opfer
forderten. Leider konnten sie damals nicht umgesetzt werden. Das muss man dieser Regierung anrechnen: Sie hat
das getan, und zwar in dem Wissen, dass es bei einer solchen Gesetzgebung keine Gerechtigkeit für alle geben
kann. Dafür verdient sie ein Lob.
({0})
Hier zeigt sich auch, dass der Petitionsausschuss das richtige Gremium ist, um solche Dinge anzugehen.
Frau Kollegin Ehlert, wenn Sie fordern, dass die Regierung begründen muss, wenn sie bestimmte Petitionen,
die ihr zur Berücksichtigung überwiesen wurden, nicht
umsetzt, dann möchte ich darauf verweisen, dass Sie dies
stets nachlesen können. Denn dies bekommen wir ja
schriftlich geliefert. Dann besteht natürlich die Möglichkeit, sich damit politisch auseinander zu setzen.
Zweitens. Ich möchte Ihnen gerne sagen, dass vom
Prinzip her die Möglichkeit besteht, zu jeder Petition eine
Debatte zu führen. Ich würde es besser finden, wenn Debatten zu konkreten politischen Petitionen stattfinden
könnten. Die Debatten wären dann vielleicht etwas interessanter als die jährlich wiederkehrenden Diskussionen
zum Jahresbericht, die sehr viele Ähnlichkeiten aufweisen.
({1})
Ich bin seit 1983 in diesem Ausschuss, und zwar aus
Überzeugung. Das liegt zum einen daran, dass ich dort
mehr Kollegialität zwischen den Fraktionen feststelle, als
das in anderen Ausschüssen der Fall ist. Man kann manchmal besser gemeinsam Menschen helfen. Zum anderen
hat man durch die Arbeit an den Petitionen - das ist schon
gesagt worden - den direkten Draht zu den Bürgern. Das
ist sehr wichtig. Dazu möchte ich sagen: Es ist sehr ärgerlich, dass die Bearbeitung von Petitionen oft Jahre, ja
Legislaturperioden dauert. Man kann nicht verstehen,
welche Energie man manchmal aufwenden muss, um
manche Dinge aufs richtige Gleis zu bringen.
Die Sache mit dem Kindergeld ist schon angesprochen worden. Sie hat zwei Jahre gedauert. Herr Kollege
Deittert, bei der Ortsumgehung Ratzeburg hat es fast
zehn Jahre gedauert, seitdem der Bundestag den ersten
Beschluss zur Berücksichtigung getroffen hat. Viele Petenten resignieren. Sie fassen überhaupt nicht mehr nach,
weil sie denken: Das Thema ist irgendwo im Sande verlaufen oder verschwunden.
Der erste Ortstermin in Ratzeburg hat deutlich gemacht, dass hier eine Notwendigkeit besteht und dass es
Möglichkeiten der Realisierung gibt, und zwar im Gegensatz zur Befragung des Regierungsvertreters im Ausschuss. Damit sind wir damals nicht weitergekommen.
Ich kann jetzt direkt an den Verkehrsminister appellieren,
dass er diese Petition zum Erfolg führt; denn das ist eine
gute Gelegenheit, hier extra darauf hinzuweisen.
Inzwischen haben wir festgestellt, dass sich alle im
Hause einig sind. Die Möglichkeit, dass hier - ich sage es
einmal so - Ministerialbeamte die Bälle von Kiel nach
Berlin hin und her werfen, besteht nun nicht mehr, nachdem gefordert wurde, dies gemeinsam anzugehen. Dies
ist ein gutes Beispiel für den Petitionsausschuss, dass man
beim Bohren der dicken Bretter lange gemeinsam arbeiten muss, bevor man zum Erfolg kommt.
({2})
Ich kann mich auch an die Petition einer mittelständischen Lübecker Firma aus meinem Wahlkreis erinnern. Es
hat jahrelang gedauert, um eine bürokratische Regelung
zur Begrenzung des Branntweinmonopols - ich will den
Fall gar nicht nennen - aufzuheben. Davon waren circa
50 Arbeitnehmer betroffen, die durch Bürokratenwillkür
um ihren Job gebracht wurden. Der Petitionsausschuss hat
dies in Ordnung gebracht. Ich muss sagen: Die Mitarbeiter sind wieder eingestellt worden. Was kann uns mehr
freuen als das?
Ich muss etwas relativieren. Zu diesem Thema haben
wir einmal eine Debatte gehabt. Ich habe sehr scharfe
Worte für Finanzminister Waigel gefunden. Inzwischen
weiß ich, dass dieses Problem gar nicht zur politischen
Leitung vorgedrungen ist. Darin liegt ein weiteres Problem: Die Dinge, die wir an die Ministerien überweisen,
werden von der politischen Leitung nicht ernst genommen.
Hier ist es jemand gewesen, der offensichtlich Freude
an bürokratischen Verordnungen hatte, die ohne Sinn und
Verstand waren. Die Parlamentarische Staatssekretärin
Hendricks hat dieses Problem gelöst. Das Ergebnis habe
ich Ihnen bereits geschildert.
Gegen solche Probleme bei komplizierten Themen anzukämpfen ist für uns nicht immer leicht. Das ist der entscheidende Moment, wo ich mich auch bei den Mitarbeitern des Ausschussdienstes bedanke, die uns bei diesen
Petitionen helfen.
An diesen Beispielen kann man erkennen, wie viel Geduld notwendig ist, um im Petitionsausschuss erfolgreich
arbeiten zu können. Deshalb ist es besonders ärgerlich
- es hat sich etwas zum Besseren geändert, aber das Problem ist nicht gelöst -, dass die Bundesregierung Berücksichtigungsbeschlüsse nicht umsetzt. Natürlich muss sie
das nicht. Aber wie sollen wir den Bürgerinnen und Bürger erklären, dass es, wenn der Deutsche Bundestag etwas
entscheidet, Vollzugsdefizite gibt? Das ist sehr schwierig.
Ich sage, dass damit die Glaubwürdigkeit in die Politik
insgesamt Schaden nimmt, vielleicht die Bundesregierung weniger, aber dafür das Parlament, das nicht ernst
genommen wird.
Ein weiteres positives Beispiel ist die Möglichkeit der
Sozialversicherung für die Seeleute. Es handelt sich dabei um eine Petition, die schon seit Jahren, über mehrere
Legislaturperioden läuft. Es wird kaum eine Möglichkeit
gefunden, der Eingabe gerecht zu werden. Ich habe erst
heute einen Brief aus dem Finanzministerium bekommen,
wonach es im Zusammenhang mit dieser Petition erneute
Schwierigkeiten gibt. Ich glaube, dass diese Petition nie
erledigt werden wird. Trotzdem konnte bereits vielen
Menschen geholfen werden. Das aufgeworfene Problem
ist bei den Leuten, die politisch mit dieser Materie zu tun
haben, im Bewusstsein. Dazu hat auch dieser Ausschuss
etwas geleistet. Vorwürfe, Beschlüsse des Petitionsausschusses seien nicht umgesetzt worden, treffen sowohl
das Parlament als auch die Regierung.
Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Die Petitionsarbeit ist sehr wichtig für die Menschen direkt. Insofern ist die Arbeit im Petitionsausschuss etwas anders
als die Arbeit in anderen Ausschüssen. Die Arbeit hat auch
eine hohe Erfolgsquote. Das wird oft nicht gesehen, geht
aber aus dem Bericht hervor. Ich habe die Kollegialität bereits angesprochen. Diese ist besonders wichtig, wenn
man in der Opposition ist, weil man ja zunächst die Mehrheit überzeugen muss. Das wissen wir auch, weil wir es
16 Jahre lang erlebt haben; ich habe in diesem Zusammenhang bereits ein Beispiel genannt.
Unsere Arbeit findet international viel Beachtung. Wir
haben sehr oft Besuche von Delegationen, die sich über
die Arbeit unseres Ausschusses informieren wollen. Auch
das ist wichtig.
Das Letzte ist: Die Arbeit macht Freude, weil der Kontakt zu den Betroffenen etwas enger ist als in anderen Ausschüssen. Dies alles sind gute Gründe, allen Beteiligten
im Ausschuss, aber natürlich auch unseren Mitarbeitern
und dem Sekretariat herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit zu sagen.
({3})
Als letzte
Rednerin in dieser Debatte hat nun die Kollegin Katharina
Reiche, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In einem Punkt möchte ich
mich meinen Vorrednern anschließen. Auch ich sage
einen herzlichen Dank an die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Ausschussdienstes, ohne die es diesen
Jahresbericht 2000 nicht gäbe. Je länger ich im Petitionsausschuss mitarbeite, desto mehr weiß ich die unermüdliche, fast schon akribische Arbeit des Ausschussdienstes
zu schätzen. Vielen Dank an Sie, Sie leisten einen wichtigen Beitrag zum Funktionieren unseres Parlamentes, aber
auch einen Beitrag zur demokratischen Kultur in unserem
Land.
Auch ich möchte - Kollege Nolting hat es bereits angesprochen - feststellen, dass der Anteil der Petenten aus
den neuen Ländern, die sich an den Ausschuss wenden,
steigt. Auch dies ist ein Zeichen dafür, dass viele Menschen aus der ehemaligen DDR ihr Recht wahrnehmen,
Entscheidungen zu hinterfragen und überprüfen zu lassen.
Viele wollen mit ihren Vorschlägen aktiv die Demokratie
mitgestalten und versuchen auf diesem Weg, mit der Politik in Dialog zu treten.
Ich möchte Ihnen von einer Petition berichten, die sich
mit dem Rehabilitierungsverfahren eines Bürgers aus den
neuen Ländern beschäftigt und exemplarisch die bis heute
andauernde Ungleichbehandlung der Opfer politischer
Verfolgung in der ehemaligen DDR verdeutlicht. Der Petent war in der ehemaligen DDR wegen kirchlicher Friedensarbeit in politischer Haft und wurde 1984 von der
Bundesrepublik Deutschland freigekauft. Mit seiner Petition forderte er eine Überprüfung der Haftentschädigung
und eine Ehrenpension für Verfolgte der DDR-Diktatur.
Mit einem solchen Anliegen haben sich weit über 40 weitere Bürgerinnen und Bürger an uns gewandt.
Reinhold Hiller ({0})
Dazu kommen Menschen, die in der Sowjetischen Besatzungszone unter Verfolgung und Inhaftierung durch
die sowjetische Besatzungsmacht litten. Wie Sie wissen,
war die Forderung nach einer Ehrenpension in Höhe von
monatlich 1 000 DM sowie eine Erhöhung der Kapitalentschädigung für die Haftopfer von derzeit 600 DM
auf 1 000 DM für Verfolgte der DDR-Diktatur auch Gegenstand eines Gesetzentwurfs, der von der CDU/CSUFraktion eingebracht wurde, nämlich dem 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Die Petition wurde wie der
Gesetzentwurf mit der rot-grünen Mehrheit abgelehnt. Ich
fand es enttäuschend, dass beide Regierungsfraktionen
keinerlei Entgegenkommen gezeigt haben.
({1})
So wurde die Ablehnung der Petition unter anderem damit begründet, dass die Ehrenpension in den Opferverbänden selbst nicht thematisiert worden sei. Ich frage
mich, ob man mit Scheuklappen durch das Land gereist
ist; denn seit 1999 haben sich die Opferverbände wie der
Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur, der Bund der Stalinistisch Verfolgten oder auch der
Kurt-Schumacher-Kreis mehrfach um eine entsprechende
Regelung bemüht. Auch in einer internen Anhörung unserer Fraktion am 8. März dieses Jahres haben die Opferverbände ihre Forderung nach einer Ehrenpension bekräftigt.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben
zeitgleich dem 2. Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz zugestimmt und das 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz abgelehnt. Sie tragen damit die Verantwortung dafür, dass diejenigen, die für Freiheit und
Demokratie unter schwierigen Bedingungen, unter den
Bedingungen einer Diktatur, gekämpft haben, heute leer
ausgehen und teilweise von der Sozialhilfe leben müssen,
während viele ehemalige Privilegierte des SED-Staates
wie unter anderem ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit, die die Diktatur zu verantworten hatten und von
ihr profitierten, die gespitzelt und unterdrückt haben, für
ihr Wirken belohnt werden.
({2})
In diesen Zusammenhang gehört auch die Feststellung,
dass die Opfer der beiden deutschen Diktaturen im vergangenen Jahrhundert von Rot-Grün unterschiedlich behandelt werden. Die Ablehnung der vorhin erwähnten Petition wurde mit dem Hinweis begründet, dass eine
Ehrenpension zu einer nicht sachgerechten Differenzierung im Hinblick auf andere Opfer, insbesondere im Hinblick auf die zur Zeit des Nationalsozialismus Inhaftierten, führen werde. Ich meine, dass es nicht möglich sein
kann, Opfer der SED-Diktatur im Vergleich mit denen
der NS-Herrschaft zu klassifizieren oder zu deklassieren.
So schwierig der Vergleich zwischen beiden Diktaturen
ist: Jeder Tote, Verfolgte oder Verletzte ist einer zu viel.
({3})
Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Eröffnung der
Dauerausstellung über das sowjetische Speziallager
Nr. 7/Nr. 1 im früheren Konzentrationslager Sachsenhausen am vergangenen Sonntag. Ich hätte mir gewünscht, dass bei der Eröffnung dieser Ausstellung, mit
welcher der etwa 60 000 deutschen Gefangenen und der
12 000 Toten gedacht wird, auch hochrangige Vertreter
der Bundesregierung teilgenommen hätten. Das war nicht
der Fall.
Es darf in Deutschland nicht hingenommen werden,
dass sich Opfer der Diktatur und Unrechtsherrschaft der
ehemaligen sowjetischen Besatzungsmacht als Verlierer
und Ausgestoßene fühlen, während die ehemaligen Täter
in das politische Bett von Landesregierungen steigen. Ich
frage mich schon jetzt, wann eventuell ein zukünftiger
PDS-Kultursenator in Berlin die erste Gedenkstätte für
Opfer von DDR-Willkür und des SED-Unrechtsregimes
schließen wird.
Von der jetzigen Entscheidung geht folgendes falsche
Signal aus: Anpassung an ein Regime lohnt sich bis zur
Rente; Widerstand und das Einsetzen für Menschenrechte
bringen Nachteile mit sich. Das ist falsch.
({4})
Es gab kein demokratisches Petitionsrecht in der DDR.
Deshalb sind das Wirken des Petitionsausschusses und die
öffentliche Wertschätzung des Petitionsrechts für alle
Bürgerinnen und Bürger nicht hoch genug einzuschätzen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe
die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a
bis 10 e sowie den Zusatzpunkt 16 auf:
10. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dirk Fischer ({1}), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, Dr. Klaus W. Lippold ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Verkehrsbericht 2000
Integrierte Verkehrspolitik: Unser Konzept
für eine mobile Zukunft
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer
({3}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dr. Klaus
W. Lippold ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Konzept für die zukünftige Finanzierung
der Bundesverkehrswege
- Drucksachen 14/5081, 14/4688 ({5}),
14/5317, 14/7448 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Hasenfratz
Reinhard Weis ({6})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({7}), Dirk Fischer
({8}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Mehr Sicherheit durch Kreisverkehre
- Drucksache 14/7452 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({10}), Eduard Oswald, Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Deutsche Verkehrsinfrastruktur auf EUOsterweiterung vorbereiten
- Drucksache 14/7455 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von streckenbezogenen
Gebühren für die Benutzung von Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen
- Drucksachen 14/7013, 14/7087 ({12})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13})
- Drucksache 14/7822 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Weis ({14})
Albert Schmidt ({15})
Horst Friedrich ({16})
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({17}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/7823 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Uwe-Jens Rössel
Dr. Elke Leonhard
Franziska Eichstädt-Bohlig
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({18}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({19}),
Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz
Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Keine Abgabenerhöhung durch LKW-Maut
- Drucksachen 14/7072, 14/7821 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Weis ({20})
Albert Schmidt ({21})
Horst Friedrich ({22})
ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({23}), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Kfz-Steuer für schwere LKW auf EU-Mindestniveau absenken - schadstoffarme LKW fördern
- Drucksache 14/7325 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({24})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein
Änderungsantrag der Fraktion der PDS sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Stunde vereinbart worden. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
das Wort dem Kollegen Reinhard Weis ({25}) für die
Fraktion der SPD.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir
heute das Gesetz zur Einführung der LKW-Maut auf Bundesautobahnen verabschieden werden.
({0})
Damit machen wir den Weg für eine Neuordnung und eine
Neuorientierung in der europäischen Güterverkehrspolitik frei.
Hinter dem sperrigen Titel „Gesetz zur Einführung von
streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von
Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen“ verbirgt sich durchaus eine verkehrspolitische Revolution.
Wir verabschieden heute ein hoch innovatives Konzept,
das den künftigen Güterverkehr in Europa prägen wird.
Innovativ ist das gesamte Konzept. Wir vollziehen damit
ein Stück weit einen Systemwechsel von der reinen Steuerfinanzierung der Verkehrsinfrastrukturen hin zu einer
zumindest anteiligen Nutzerfinanzierung.
({1})
Die Debatten im Ausschuss haben gezeigt, dass dies von
allen Fraktionen so gesehen wird.
Das Konzept ist einfach und überzeugend. Wer weit
fährt und die Verkehrsinfrastruktur viel benutzt, zahlt
auch mehr. Wer die Bundesautobahnen in höheren Maße
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
abnutzt, zum Beispiele in 40-Tonnen-LKW, entrichtet
eine höhere Gebühr als derjenige, der mit geringerer
Achslast die Straßen weniger beschädigt. Der LKW, der
die Umwelt in hohem Maße mit Schadstoffen belastet,
zahlt mehr als der, der den neuesten Stand der Abgasreinigungstechnik einsetzt. Das Prinzip der Nutzerfinanzierung führt auch endlich dazu, dass die ausländischen
LKW angemessener an der Finanzierung unserer Verkehrsnetze beteiligt werden.
({2})
Innovativ ist der Systemwechsel auch im Hinblick auf
unser erklärtes Ziel, den Güterverkehr auf der Schiene
bis zum Jahr 2015 zu verdoppeln. Man kann es den Skeptikern in Ihren Reihen gar nicht oft genug sagen: Die
Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die
Schiene hat nichts mit Schwärmerei zu tun. Die Wirklichkeit ist, dass der Straßengüterverkehr bislang viel zu billig ist. Dies ist unter anderem ein Grund dafür, dass der
Schienengütertransport bei weitem hinter den an ihn gerichteten Erwartungen zurückbleibt.
({3})
- Es gibt mehrere Gründe. Einen wichtigen Grund habe
ich genannt und das ist die Kostenstruktur. Ein LKW fährt
heute mit einer Jahresvignette zum Preis von 2 500 DM
rund 100 000 Kilometer weit. Ein Güterzug kommt für
diesen Betrag gerade einmal quer durch Deutschland.
({4})
Insofern schafft die LKW-Maut endlich mehr Chancengleichheit zwischen den Verkehrsträgern.
({5})
Innovativ ist die Einführung der entfernungsabhängigen LKW-Maut darüber hinaus auch in technischer Hinsicht. Es ist ein faszinierendes Projekt, auf das unsere
Nachbarstaaten mit großen Erwartungen schauen. Darin
steckt großes Innovations- und Investitionspotenzial. Das
ist ein milliardenschwerer Markt über Europa hinaus.
Wir können stolz darauf sein, dass wir damit dem Anspruch, führende Industrienation in Europa zu sein, gerecht werden.
({6})
Die Mauthäuschenstationen im europäischen Ausland,
an denen jeder von uns schon Stunden seines Urlaubs bei
glühender Hitze zugebracht hat, vielleicht auch eher
durchlitten hat, muten dagegen doch sehr antiquiert an.
({7})
Nüchtern betrachtet gewinnen wir mit der LKW-Maut
neue Investitionsspielräume. Bei etablierten Mauterhebungssystemen werden wir mit Mauteinnahmen von
knapp 7 Milliarden DM jährlich rechnen können. Das von
uns bereits beschlossene Anti-Stau-Programm mit einem
Volumen von 7,4 Milliarden DM, das ab dem Jahr 2003
bis 2007 abgewickelt wird, soll aus diesem Mautaufkommen bezahlt werden. Wer die Zahlen der mittelfristigen
Finanzplanung kennt, weiß, dass diese Ausgaben für die
Verkehrsinfrastruktur tatsächlich on top eingesetzt werden.
Natürlich hat es auch den Wunsch gegeben, eine
Zweckbindung in das Gesetz hineinzuschreiben. Wir haben uns dagegen entschieden. Die Zweckbindung der
LKW-Maut zur Finanzierung von Verkehrsinfrastruktur
lässt sich besser durch die Institution einer Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft darstellen.
({8})
Der Entwurf für ein entsprechendes Gesetz wurde gestern
im Bundeskabinett verabschiedet und wird einen weiteren
Meilenstein bei der Reform der Verkehrspolitik darstellen.
({9})
Natürlich wird die LKW-Maut deutlich in das Preisgefüge des europäischen Transportmarkts eingreifen.
Straßengütertransport ist derzeit zu billig - ich erwähnte
es schon -; er deckt seine Kosten nicht und das kommt einer aufwendigen Subventionierung durch den Steuerzahler gleich. Dies wird sich künftig ändern. Straßengütertransport und damit die Frachtrate wird künftig einen
angemessenen, einen kostenorientierten Preis haben.
An dieser Stelle ist es unvermeidlich, über die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen auf dem europäischen Transportmarkt zu sprechen. Diese Wettbewerbsverzerrungen - wir sind mit dem Gewerbe darüber im
Gespräch gewesen - sind seit Jahren bekannt. Allerdings
sind sie eher schärfer geworden, als dass sie abgebaut
worden wären. Unsere europäischen Nachbarn haben in
den letzten Jahren zu einem Subventions- und Steuerdumpingwettbewerb angesetzt. Jetzt ist der richtige Moment, um die Wettbewerbsbedingungen in Europa für das
heimische Gewerbe fairer zu gestalten.
({10})
Es ist deshalb unabdingbar, eine mit dem EU-Recht verträgliche Lösung zu finden, um die fiskalischen Nachteile
für das deutsche Transportgewerbe abzubauen.
Renommierte Wissenschaftler haben nach profunden
Untersuchungen die durch schwere LKW tatsächlich verursachten Wegekosten auf Bundesautobahnen abgeschätzt. Aufgrund dieser Abschätzungen halten sie bei
einem mittleren Wert eine Mauthöhe von 29,3 Pfennig
- gewöhnen wir uns ruhig schon an die neue Währung:
von 15 Cent - für angemessen. Dieses Gutachten liegt
dem Deutschen Bundestag, zumindest dem Verkehrsausschuss, noch nicht vor. Was wir darüber bisher erfahren
haben, klingt zwar plausibel; gleichwohl wird der Deutsche Bundestag diese Rechnung im Einzelnen noch sehen
wollen. Damit verbinde ich die Bitte an das Ministerium,
uns die entsprechenden Informationen zu geben.
Reinhard Weis ({11})
Bei der Bewertung haben allerdings auch wir die
EU-Richtlinie 1999/62/EG zu beachten. Sie zwingt die
Bundesregierung, bei der Ermittlung der Verkehrswegekosten sozusagen mit dem spitzen Bleistift zu rechnen.
Natürlich gibt es die Idee, die Mauthöhe willkürlich heraufzusetzen, um eine größere Lenkungswirkung zu erzielen oder um einen größeren Spielraum zum Ausgleich
fiskalischer Nachteile des Gewerbes zu gewinnen. Wir
kennen diese Diskussion auch aus der Anhörung zur
LKW-Maut. Das ist nicht realistisch. Die Mauthöhe kann
man nicht aushandeln. Sie muss auch anspruchsvollsten
Überprüfungen standhalten und notfalls gerichtsfest sein.
Nach unseren Erkenntnissen bietet die nun vorgeschlagene Mauthöhe genügend Luft, um neue Investitionsspielräume zu erschließen und gleichzeitig einen Harmonisierungsschritt zu finanzieren. Nach Lage der Dinge
kommt hierfür unter anderem auch eine begrenzte Mineralölsteuerrückerstattung infrage. Die Gespräche über
Umfang und Modell werden mit dem Gewerbe zu intensivieren sein.
Wenn aber der Eindruck erweckt werden soll, dass eine
Vollkompensation für die LKW-Maut angemessen ist,
wie es die FDP in ihrem Antrag und die CDU/CSU in
ihren bisheringen Debattenbeiträgen suggeriert haben, so
ist das unredlich. Das muss ich in Ihre Richtung sagen.
({12})
Die Vollkompensation wird nicht einmal vom betroffenen
Gewerbe selbst gefordert. Es wäre schlicht lächerlich, das
Geld einmal gewissermaßen im großen Topf umzurühren
und dann am Ende alles nur neu zu verteilen.
({13})
Eine volle Abgabenneutralität liefe dem wesentlichen
Zweck der Maut, nämlich der gerechten Wegekostenanlastung, völlig zuwider. Ich empfehle deshalb dringend, den
FDP-Antrag abzulehnen.
Insgesamt hat die rot-grüne Koalition gegenüber dem
heimischen Transportgewerbe eine gute Leistungsbilanz.
({14})
Wir haben einiges dafür getan, die Wettbewerbsverhältnisse zu verbessern:
({15})
Wir haben mit dem Gesetz zur Bekämpfung der illegalen
Beschäftigung die einheitliche Fahrerlizenz geschaffen;
die Bundesregierung hat sich bei den Beitrittsverhandlungen für lange Übergangsfristen stark gemacht;
bei der Anpassung der neuen AfA-Tabellen wurde auf
eine Verlängerung der Abschreibungsfristen verzichtet
und die 30 Milliarden DM Entlastung des Mittelstandes
durch die Steuerreform kommen auch dem mittelständisch organisierten deutschen Verkehrsgewerbe zugute.
({16})
Wir können bei allen Problemen des Transportgewerbes, die wir anerkennen, aber auch nicht darum
herumreden, dass es im Straßengütertransportgewerbe
Überkapazitäten gibt. Eine Marktbereinigung wird
unvermeidlich sein, damit heute noch gesunde unternehmerische Existenzen im Transportgewerbe auch weiterhin
eine gute Perspektive für die Zukunft haben können. Auch
die Finanzierung eines guten Harmonisierungsschrittes
durch die Bundesregierung wird daran nichts ändern.
Um es klar zu sagen: Uns liegt an einem starken Transportgewerbe, das es nicht nötig hat, finanziell sozusagen
auf der Felge zu fahren. Ausflaggung, das heißt ein Verdrängungswettbewerb von deutschen durch ausländische
Nummernschilder, wäre für die deutsche Wirtschaft die
schlechteste aller möglichen Lösungen.
({17})
Verlagerung heißt deshalb Verlagerung auf die Schiene
und nicht Verlagerung auf ausländische LKW.
({18})
Eine letzte ernst zu nehmende Sorge gilt den so genannten Ausweichverkehren. Wir haben deshalb die
Bundesregierung in unserem Antrag gebeten, umgehend
Abhilfe zu schaffen, falls sich der LKW-Verkehr an einzelnen Orten auf nachgeordnete Straßen verlagert.
Wir haben darüber hinaus die Bundesregierung gebeten, dem Deutschen Bundestag erstmals nach zwölf Monaten und dann alle drei Jahre Auskunft darüber zu geben,
ob es zu nennenswerten Ausweichverkehren gekommen
ist und wie die Bundesregierung reagiert hat. Wir hoffen,
damit die Bedenken, die zum Beispiel von der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände vorgetragen wurden, ausräumen zu können. Ich bitte deshalb um
Zustimmung zu unserem Gesetz.
Noch ein Wort zu den Anträgen der CDU/CSU und zu
den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion. Nehmen Sie bitte
endlich einmal zur Kenntnis, was diese Bundesregierung
und die Koalitionsfraktionen seit 1998 zur Herstellung
von Planungssicherheit und zur Finanzierung von Verkehrsinfrastrukturen des Bundes bereits geleistet haben
und auch weiter leisten werden.
({19})
Wir haben die Verkehrsinvestitionen auf Rekordhöhe
gebracht und wir werden sie dort halten. Die letzten Haushaltsjahre belegen das. Die Politik der Vorgängerregierung hatte die Verkehrsinvestitionen im Wesentlichen als
Sparkasse der Nation betrachtet. Das ist Ihre Verantwortung.
({20})
Reinhard Weis ({21})
Damit hat diese Bundesregierung endlich Schluss gemacht. Und mit den bereits verabschiedeten Investitionsprogrammen zur Verkehrsinfrastruktur haben wir Sicherheit über ein Investitionsvolumen von insgesamt
83 Milliarden DM geschaffen.
Schließlich arbeiten wir mit Hochdruck an einer Neuauflage des Bundesverkehrswegeplans.
({22})
Wir werden den alten, völlig unterfinanzierten Bundesverkehrswegeplan nicht einfach fortschreiben, sondern
ihn auf eine neue Grundlage stellen.
({23})
- Das ist wohl wahr, aber Sie wissen, dass Ihrer bis zum
Jahre 2012 oder 2015 gelten sollte.
({24})
Der Deutsche Bundestag wird sich damit befassen, sobald
die Vorarbeiten abgeschlossen sind.
Wir werden auch in den nächsten Jahren unsere Infrastrukturpolitik auf hohem finanziellen Niveau fortsetzen.
Ich bitte Sie deshalb mit gutem Gewissen, die Anträge der
CDU/CSU mit den Drucksachennummern 14/5081 und
14/5317 abzulehnen.
({25})
Gleiches gilt für den Änderungsantrag der PDS-Fraktion, der heute für die zweite Lesung eingebracht worden
ist. In ihm sind die gleichen Argumente für eine Ausweitung der Mautpflicht auf Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen, zur
Begrenzung von Verlagerungseffekten und zur Lenkungswirkung der Maut, die wir schon gestern im Ausschuss
mit unserer Gesetzesbegründung entkräftet haben, enthalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({26})
Ich erteile
dem Kollegen Dirk Fischer, Hamburg, für die CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzmittel für Verkehrsinfrastruktur müssen dem tatsächlichen Bedarf angepasst werden.
({0})
Allein im Straßenbau warten baureife Projekte mit einem
Volumen von über 35 Milliarden DM auf den ersten Spatenstich und die vollständige Durchfinanzierung bis zur
Verkehrsfreigabe.
({1})
Diese Zahlen stammen aus dem Bericht der PällmannKommission, die von Ihrem Minister und nicht von der
Opposition eingesetzt worden ist.
Zur Bewältigung dieser finanziellen Herausforderung
war es sinnvoll, die gewerblichen Nutzer der Verkehrswege stärker an der Finanzierung zu beteiligen. Die
frühere reine Haushaltsfinanzierung reichte für die Finanzbedarfe teurer Infrastruktur nicht mehr aus. Sie
musste durch Nutzerentgelte ergänzt werden.
Der erste Einstieg in die Nutzerfinanzierung war die
zeitbezogene LKW-Gebühr. Die Umstellung auf eine
elektronisch erhobene streckenbezogene LKW-Straßenbenutzungsgebühr ist schon von unserer früheren Bundesregierung eingeleitet worden. Bundesverkehrsminister Wissmann hat wesentliche Vorarbeiten bis hin zur
Lösung der datenschutzrechtlichen Probleme
({2})
und durch den Großversuch auf der A 555 zwischen
Bonn und Köln auch die Erprobung der möglichen technologischen Lösung durchgeführt.
({3})
Über den Grundsatz wird also nicht gestritten.
Allerdings ist Ihr Gesetzentwurf, Herr Minister
Bodewig, ohne die Zweckbindung des Gebührenaufkommens für unsere Straßeninfrastruktur völlig verfehlt.
({4})
Die Erlöse aus der heutigen LKW-Vignette in Höhe
von etwa 800 Millionen DM pro Jahr werden bei der vom
Minister angekündigten Mauthöhe von durchschnittlich
29,3 Pfennig pro Kilometer auf fast 7 Milliarden DM pro
Jahr mehr als verachtfacht. Dieser Hinweis nur, damit
man sich über die Dimension der zusätzlichen Belastung
des Straßengüterverkehrs in unserem Lande klar wird.
Nachvollziehbar sollen aber nach 2003 - also alles nach
der nächsten Bundestagswahl - nur ganze 750 Millionen DM über das Anti-Stau-Programm in den Bundesfernstraßenbau zurückfließen. Das heißt, hier wird kräftig
abkassiert und es gibt wenig zurück.
({5})
Wie viel Geld nach 2003 - also wieder nach der nächsten Bundestagswahl durch - in Wahrheit - viele neue
Konzessionsmodelle, die Sie angekündigt haben, in den
sechsstreifigen Autobahnausbau investiert werden soll, ist
bisher überhaupt nicht erklärt worden.
Reinhard Weis ({6})
Das Ziel der Wegekostendeckung durch die Nutzer
der jeweiligen Verkehrswege ist in Ordnung. Quersubventionierungen zu anderen Infrastrukturbereichen lehnt
meine Fraktion aber strikt ab, da dies dem Prinzip der gerechten Wegekostenanlastung völlig widerspricht.
({7})
Verkehrsträger, deren Einnahmen die Infrastrukturkosten
nicht decken, bedürfen weiterhin einer ergänzenden
Haushaltsfinanzierung.
({8})
Hier sieht der Gesetzgeber ja offenbar überragend wichtige Gründe der Gemeinschaft, warum er dort, anders als
bei der Binnenschifffahrt, die hundertprozentige Wegekostendeckung nicht einfordert.
Schon gar nicht darf die Maut als Wegesteuer für den
Bundeshaushalt missbraucht werden, was von Ihnen auch
beabsichtigt wird.
({9})
Sie ist eben keine Steuer. Die Maut wird nicht ohne Gegenleistung von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen erhoben; das ist die
Steuerdefinition. Vielmehr wird sie aufwandsbezogen für
die Benutzung der Straßeninfrastruktur bezahlt.
Der Minister hat freimütig von einem Kilometersatz
von 29,3 Pfennig gesprochen, aber dem Parlament jede
Auskunft darüber verweigert, auf welcher Kostenstruktur
diese Festlegung beruht und auf welchen Annahmen und
Gewichtungen von Wegstrecke und Zahl der LKW in den
einzelnen Gewichts- bzw. Schadstoffklassen das Einnahmesoll von 6,9 Milliarden DM entwickelt worden ist.
({10})
Es ist eine bewusste Missachtung des Parlamentes,
({11})
jährliche Mauteinnahmen in Höhe von 6,9 Milliarden DM
zu verkünden, dem Fachausschuss aber das zugrunde liegende Rechenmodell vorzuenthalten,
({12})
da die Mauthöhe in Abhängigkeit von Achszahl und Schadstoffklasse bislang noch nicht beziffert werden könne.
({13})
Wie und was haben Sie, Herr Minister, da eigentlich gerechnet?
({14})
Geben Sie zu, dass der Wunsch war, die Einnahmen möglichst hoch zu treiben. Eigentlich habe ich den Eindruck,
die 6,9 Milliarden DM sind Ihnen immer noch zu wenig,
denn der Hauptfeind der rot-grünen Koalition ist nun einmal der LKW.
({15})
Ich sage allen ganz deutlich: Wenn der Wähler Sie am
22. September 2002 nicht hindern würde,
({16})
wären Sie heute in einem Jahr vielleicht schon bei
37 Pfennig pro Kilometer. Dann ginge es munter nach
oben, denn nach den Wahlen sind alle Hemmschwellen
weg.
({17})
Wo bleibt eigentlich der wettbewerbsverträgliche
Ausgleich für das deutsche Transportgewerbe?
({18})
Der Chef des Bundeskanzleramtes, Herr Steinmeier, hat
im letzten Jahr die notwendige Entlastung im Rahmen des
Mautgesetzes für den deutschen Straßengüterverkehr als
Ausgleich für den existenzgefährdenden Anstieg der Mineralölsteuer angekündigt. Im Gesetzentwurf ist aber
überhaupt nichts geregelt worden, auch nicht zeitgleich an
anderer Stelle.
({19})
Wie der Kanzler, so sein Stabschef: Es gilt das gebrochene
Wort.
({20})
Ohne die zwingend erforderliche Entlastung sind Ökosteuer plus Straßenmaut ein Vernichtungspaket für unsere
mittelständischen Güterverkehrsunternehmen.
({21})
Tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Es gibt nur
eines: Die Entlastung muss her, um „gleiche steuerliche
Bedingungen für einen fairen internationalen Wettbewerb
zu schaffen“. Das ist dem Bericht der Pällmann-Kommission, in dem ausdrücklich die Kfz- und Mineralölsteuer
genannt werden, wörtlich entnommen.
Die Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe dürfen sich nicht weiter verschlechtern. Schon heute weist Deutschland unter Berücksichtigung der gesamten Betriebskosten je LKW und
Jahr mit über 195 000 DM den dritthöchsten Wert in der
Europäischen Union auf. Nur Großbritannien und Österreich liegen darüber.
Der Wettbewerbsnachteil deutscher LKW beträgt bis
zu 13 500 DM pro Jahr bzw. bis zu 15 500 DM pro Jahr
unter Einbeziehung von Steuererstattungen anderer EUMitgliedstaaten, wie sie zum Beispiel in Holland üblich
sind. Die Unterschiede bei allen relevanten Steuern und
Gebühren müssen beseitigt werden.
({22})
Wettbewerbsverzerrende Beihilfen und Ausnahmeregelungen müssen verschwinden. Insbesondere muss die
Dirk Fischer ({23})
Kfz-Steuer auf ein EU-Mindestmaß abgesenkt werden.
Auch bei den Abschreibungsregelungen besteht dringend
Harmonisierungsbedarf.
Alle Faktoren müssen auch im Lichte der EU-Osterweiterung gesehen werden. Unumgänglich sind klare
Richtlinien, die in der Übergangszeit Wettbewerbsunterschiede aufgrund niedrigerer Lohnkosten, Sozial- und
Steuerabgaben in den Beitrittsländern ausgleichen.
Glauben Sie nicht, meine Damen und Herren auf der
Regierungsbank, dass Ihr Gesetzentwurf Verkehr von der
Straße auf die Schiene verlagert! Den Zahn hat Ihnen mit
ihren deutlichen Aussagen die Pällmann-Kommission gezogen.
({24})
Vielmehr stehen jederzeit Fahrzeuge aus anderen EUMitgliedsländern und dem osteuropäischen Raum in den
Startlöchern, um zur Aufgabe gezwungene deutsche
LKW zu ersetzen.
Aufgrund internationaler Erfahrungen müssen Bundesautobahnen, die der innerstädtischen Erschließung
dienen, von der Mautpflicht ausgenommen werden. Dies
haben Sie nicht durchdacht und deswegen nicht geregelt;
der Bundesrat hat es moniert. Sie sind nicht darauf eingegangen. In einem Bundesland wie Berlin, wo es aus historischen Gründen einen hohen Anteil an Stadtautobahnen gibt, werden darunter die Lebensqualität, die
Ökologie und die Verkehrssicherheit schwer zu leiden haben.
({25})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Der Gesetzentwurf zur LKW-Maut muss in wesentlichen
Punkten nachgebessert werden, bevor wir ihm zustimmen
könnten.
({26})
In einem Punkt sind Sie uns in letzter Minute gefolgt. Erst
wollten Sie den Schaustellern die Befreiung streichen und
auch noch dieses Gewerbe kaputtmachen. Gott sei Dank
sind Sie uns gefolgt. Andere Änderungen sind unverzichtbar. Wir haben deswegen Änderungsanträge gestellt
und einen Entschließungsantrag vorgelegt.
Die deutsche Volkswirtschaft kann nicht auf den LKW
und die Beschäftigten in den Führerhäusern können nicht
auf ihre Arbeitsplätze verzichten. Deshalb dürfen diese
Betriebe nicht vernichtet werden. Es muss dringend etwas
geschehen, um diese Betriebe zu retten.
({27})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Albert Schmidt aus Hitzhofen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege Fischer, ich glaube, Sie haben
das mit den Schaustellern irgendwie falsch verstanden.
Diese wollten zwar von der LKW-Maut entlastet werden,
aber nicht, dass Sie hier als Schausteller auftreten und versuchen, deren Job nachzuahmen.
({0}) [FDP]: Das könn-
ten Sie im Zweifel besser, Herr Kollege
Schmidt!)
Das Gesetz, das heute auf der Tagesordnung steht und
das wir in zweiter und dritter Lesung beraten und beschließen werden, ist ein Kernstück einer zukunftsfähigen
Mobilitätspolitik. Es handelt sich nicht einfach nur um ein
neues Finanzierungsinstrument, das hier eingeführt werden soll, sondern es geht um eine Neuausrichtung der Verkehrswegefinanzierung in einem ganz zentralen Punkt.
({1})
- Ich glaube, Sie haben noch nicht ausreichend verstanden, dass hier ein Paradigmenwechsel eingeleitet wird,
verehrter Herr Kollege.
({2})
Es handelt sich im Wesentlichen um drei Ziele, die dieses LKW-Maut-Gesetz verfolgt. Erstens geht es darum,
Chancengleichheit im Verkehrsmarkt bei der Wegekostenrechnung zu schaffen und bestehende Wettbewerbsverzerrungen bei der Wegekostenrechnung zu beseitigen.
({3})
Das geschieht mit diesem Gesetz. Die Schienenmaut gibt
es schon lange, nämlich seit der Bahnreform. Nur heißt sie
im Schienenbereich anders; sie heißt Trassenpreis. Die
LKW-Maut gab es bisher nicht, infolgedessen ist es
höchste Zeit, dass endlich auch LKW Kilometer für Kilometer die von ihnen genutzte Fahrbahn und all die Abnutzungserscheinungen, die damit verbunden sind, durch ein
entsprechendes Entgelt bezahlen.
({4})
Das zweite Ziel ist das Ziel der Verursachergerechtigkeit. Die LKW-Maut ist so, wie sie jetzt auch von den
Gutachtern vorgeschlagen wird, keine Fantasierechnung,
sondern eine präzise Auflistung dessen, was an Schäden
entsteht und insoweit an Kosten verursacht wird - nicht
mehr und nicht weniger. Etwas anderes würde in Brüssel
auch gar nicht genehmigt werden.
Der Grundsatz ist ebenso einfach wie klar: Wer abnutzt, bezahlt. Dies bedeutet, dass erstmals auch ausländische LKWs, die von Grenze zu Grenze durch Deutschland donnern und kaputte Straßen hinterlassen, für jeden
Kilometer zur Kasse gebeten werden.
({5})
Die Größenordnung, um die es hier geht, zeigt, dass der
Nachholbedarf enorm ist. Bisher kostet die Jahresvignette
Dirk Fischer ({6})
für einen schweren LKW, einen 40-Tonner, in Deutschland 2 500 oder 2 700 DM; das ist sozusagen der Preis für
die Eintrittskarte in das deutsche Streckennetz. Ein professionell genutzter Truck fährt locker seine 120 000 bis
130 000 Kilometer pro Jahr. Das heißt, der Spediteur zahlt
pro Fahrzeug und Kilometer bisher 2 Pfennig Nutzungsgebühr. Das ist lächerlich gering und deckt niemals die
Kosten. Deswegen haben diejenigen Recht, die sagen, die
Autobahnen seien heute nichts anderes als subventionierte Warenlager,
({7})
weil es billiger ist, das Zeug auf dem LKW durch die Gegend zu fahren, anstatt selbst ein Lager zu unterhalten.
({8})
Das dritte Ziel dieses Gesetzes sind die Verlagerung
von Verkehr von der Straße auf die Schiene und das Binnenschiff sowie die Verkehrsvermeidung, zum Beispiel
die Vermeidung von Leerfahrten. Ich will damit nicht sagen, dass jede Leerfahrt vermeidbar ist; das ist logistisch
gar nicht möglich. Aber wenn erstmals die Nutzung des
Fahrwegs spürbar Geld kostet, werden natürlich ganz andere Kalkulationen von den logistischen Planern angestellt. Dann rechnet es sich im Zweifel sehr wohl, einmal
auf die Schiene oder das Binnenschiff zu gehen, weil man
dort keinen Kostennachteil im Vergleich zur Straße mehr
zu befürchten hat.
Ich füge hinzu, dass die Verlagerung - hier sind wir,
glaube ich, einer Meinung, Herr Kollege Friedrich - nicht
allein durch die Höhe der Maut beeinflusst wird. Das behauptet niemand; in diesem Punkt hat Pällmann Recht.
Nur in dem Dreiklang von fairen Wegekostenrechnungen,
Ausbau des Schienengüterverkehrs und Qualitätsverbesserung auf der Schiene werden wir eine Verkehrsverlagerung bekommen. Ohne LKW-Maut sind wir aber völlig
chancenlos und bekommen nicht einmal einen Einstieg in
die Verlagerung.
({9})
Deswegen geht es hier nicht nur um ein Finanzierungsinstrument, sondern um eine völlig neue Systematik, die neuen Zielen folgt. Im Grunde ist es ein Systemwechsel - das ist vom Kollegen Reinhard Weis schon
angesprochen worden - weg von einer reinen Steuerfinanzierung hin zu einer Nutzerfinanzierung. Ich gehe davon aus, dass dies im Grundsatz unbestritten ist.
Darüber hinaus bietet das Instrument so, wie es in diesem Gesetz und in der folgenden Verordnung ausgestaltet
wird, Feinsteuermechanismen, die wir dringend brauchen. Erstens wird die Erfassung weitgehend automatisch
erfolgen, auch wenn es eine mechanische Einbuchung geben wird. Der Verkehrsfluss wird also nicht aufgehalten.
Zweitens ist das System diskriminierungsfrei. Es wird
also niemand bevorzugt oder benachteiligt.
({10})
Drittens ist das System zielgenau. Das ist entscheidend. Es wird nicht nur nach der Achszahl und dem Gewicht, sondern auch nach den Emissionen differenziert.
Auf diese Weise schaffen wir einen Anreiz für eine technisch-ökologische Innovation.
({11})
Je sauberer der Motor ist und je weniger Emissionen das
Fahrzeug verursacht, desto günstiger schaut die Rechnung aus. Diejenigen, die hierin investieren, werden belohnt; wer seinen alten Stinker behalten will, soll in Gottes
Namen auch dafür bezahlen.
Ich verhehle nicht, dass es für uns, die grüne Fraktion,
auch ein, zwei offene Fragen gibt, die wir genau im Auge
behalten werden. Das erste Problem ist die Beschränkung
der Mauterhebung nur auf die Autobahn. Die Befürchtung,
dass wir insbesondere in hoch belasteten Ortsdurchfahrten
zusätzliche Ausweichverkehre von der gebührenpflichtigen Autobahn auf die gebührenfreie Bundesstraße bekommen werden, ist nicht von der Hand zu weisen.
({12})
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat diese Befürchtung ausgesprochen. Unter dem gegenwärtigen europäischen Recht sehen wir allerdings keine Möglichkeit,
das gesamte Straßennetz ad hoc in ein solches System einzubeziehen.
({13})
Wir sind froh, dass mit der in § 1 des Gesetzentwurfs
enthaltenen Klausel zumindest dort, wo Sicherheitsprobleme auftauchen könnten, die Möglichkeit geschaffen
wird, die klassischen Ausweichrouten auf dem Verordnungswege in die Bemautung einzubeziehen. Wir werden
die Entwicklung hier sorgfältig beobachten. Unser Ziel
ist, nach dem Schweizer Modell das gesamte Straßennetz
verursachergerecht zu bemauten. Der LKW verursacht
doch nicht deswegen weniger Schäden, weil er die Autobahn verlässt und auf der Bundesstraße fährt. Er verursacht so und so Schäden und Kosten und sollte daher eigentlich überall bezahlen.
({14})
Wir werden die Auswirkung der Maut aufgrund ihrer
Höhe, wie sie sich jetzt abzeichnet, sehr genau beobachten. Das Ergebnis muss sich aus einer rationalen Rechnung ergeben und darf sich nicht auf einen Wunschzettel
gründen. Wir wollen in jedem Fall den ökologischen Lenkungseffekt. Deshalb werden wir auf dem Wege eines
Monitorings, also durch das Auswerten der realen Vorgänge, spätestens zwölf Monate nach Einführung - von da
an periodisch alle drei Jahre - gemeinsam im Bundestag
zu überprüfen haben, ob die gesetzten Ziele auf diese
Weise ausreichend erreicht werden.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Verwendung der
Einnahmen sagen. Es ist völlig unbestritten, dass die Einnahmeverluste, die der Bundesfinanzminister durch die
Albert Schmidt ({15})
Abschaffung der LKW-Vignette erleidet, natürlich ausgeglichen werden müssen. Es ist auch völlig unbestritten,
dass die Systemkosten für die Einführung und für die Kontrolle auf Einhaltung der Mautpflicht von den Einnahmen
abzuziehen sind. Aber danach soll der Großteil der Einnahmen in ein integriertes Verkehrssystem reinvestiert
werden, verehrter Herr Kollege Fischer.
({16})
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass am 12. September dieses Jahres die Europäische Kommission in dem aktuellen Weißbuch zur Verkehrspolitik ausdrücklich gesagt
hat, dass es nicht nur richtig und zulässig, sondern auch
zielführend ist, die Reinvestition auf die gesamte Palette
der Verkehrsträger zu verteilen,
({17})
damit die Schiene so ertüchtigt wird - die Kommission
spricht sogar von einer Revitalisierung der Schiene -, dass
sie nachher den Güterverkehr wirklich aufnehmen kann.
Es nützt ja die schönste Bemautung nichts, wenn die Bahn
nicht leistungsfähiger wird. Genau dafür sorgen wir. Wir
erfüllen damit heute schon, was das Weißbuch der EU
vorgibt.
({18})
Ich will noch ein Wort zum Thema Harmonisierung
bzw. Entlastung für das Gewerbe sagen. Ich halte es für
grundfalsch, in einen Subventionswettlauf mit den Niederländern, den Italienern und den Franzosen nach dem
Motto zu treten: Wenn die ihren Unternehmen bei der Mineralölsteuer entgegenkommen, dann tun wir das auch.
Wenn wir so anfangen, führt das zu einem Steuerdumping, das letztlich allen Finanzministern Europas schaden
wird. Im Gegenteil: Wir müssen darauf bestehen, dass die
Beschlüsse des Ecofin-Rates, dass nämlich die Subventionen der anderen Länder zum Jahresende 2002 tatsächlich auslaufen, auch umgesetzt werden. Dann können wir
aber am 1. Januar 2003 nicht mit Subventionen anfangen.
({19})
Lieber Kollege Fischer, sollten aber Zweifel daran bestehen, dass es die Nachbarländer ernst meinen, und sollten sie mit ihren Subventionen weitermachen, dann muss
man von deutscher Seite die Zähne zeigen und deutlich
machen, dass man nicht auf diese Weise mit Beschlüssen
umgehen kann.
({20})
Ich bin sehr dafür, dass die Kraftfahrzeugsteuer im
LKW-Gewerbe auf das europäische Mindestniveau gesenkt wird. Hier besteht Einmütigkeit. Das ist schon deshalb sinnvoll, weil wir die ökologische Steuerungsfunktion über die Differenzierung nach Emissionen künftig in
der LKW-Maut selbst haben werden und dafür die Kraftfahrzeugsteuer nicht mehr brauchen.
({21})
Ich will aber auch hinzufügen, wie es nicht geht. Für
mich ist der intellektuelle Höhepunkt der vorliegenden
Anträge zur LKW-Maut wieder einmal der Antrag der
FDP-Fraktion „Keine Abgabenerhöhung durch LKWMaut“. Denn dort heißt es unter Punkt zwei:
Die Umstellung der Straßenbenutzungsgebühr darf
für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe insgesamt nicht zu einer Abgabenerhöhung führen.
({22})
Die Umstellung soll also belastungsneutral sein. In demselben Antrag steht nur fünf Zeilen weiter unter Punkt vier
die bahnbrechende Forderung:
Die Einnahmen aus der streckenbezogenen LKWMaut sind zweckgebunden für den Straßenbau einzusetzen.
({23})
Liebe Kollegen, wenn die LKW-Maut belastungsneutral eingeführt werden soll, dann gibt es keine Einnahmen.
Man kann doch nicht sagen, sie darf niemanden etwas
kosten, aber es müssen zig Milliarden mehr für den
Straßenbau herauskommen. Das ist Hexeneinmaleins!
Vielleicht sollte ich etwas gnädiger sein; denn es ist
bald Weihnachten und in dieser Zeit darf man sich etwas
wünschen. Man könnte sich zum Beispiel wünschen, dass
es mehr Straßenbau gibt, den niemand bezahlen muss.
Unter diesem Blickwinkel sollte man den Antrag etwas
großzügiger beurteilen.
Wir werden uns solchen Klamaukanträgen nicht anschließen. Wir machen seriöse und berechenbare Politik,
({24})
die ökologisch zielführend, ökonomisch verantwortlich
und verkehrspolitisch sinnvoll ist.
Ich danke und wünsche frohe Weihnachten.
({25})
Jetzt hat der Kollege
Horst Friedrich für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wir
sind uns in dem Ziel, die Finanzierung umzustellen,
durchaus noch einig. Um der Historie tatsächlich Genüge
zu tun, lieber Kollege Weis, möchte ich sagen, dass dies
von uns in der letzten Periode schon angedacht wurde. Ich
erinnere mich allerdings noch an die erregten Zwischenrufe der Kollegin Elke Ferner, die Ihre Vorgängerin
Albert Schmidt ({0})
war und dies als Teufelszeug weit von sich gewiesen und
abgelehnt hat.
({1})
Insofern brauchen Sie uns nicht zu belehren, dass dies ein
Paradigmenwechsel sei. Wir haben eigentlich damit begonnen.
({2})
Herr Kollege Schmidt und Herr Minister Bodewig, Ihr
vorliegender Gesetzentwurf muss sich allerdings daran
messen lassen, ob das, was darin steht, tatsächlich mit
dem korrespondiert, was Sie selbst dem deutschen Gewerbe mehrfach zugesichert haben, dass es nämlich die
entsprechenden Ausgleichsmaßnahmen gibt.
({3})
Wir sind nun schlauer geworden: Wenn man den
durchschnittlichen Fernverkehr eines LKW zugrunde
legt, kann man aufgrund der vor einigen Tagen bekannt
gewordenen Mauthöhe von einer Belastungserhöhung
von rund 30 000 DM im Jahr sprechen. Herr Minister,
nach den von Ihnen bereits in dieser Periode beschlossenen Maßnahmen - Ökosteuer, nicht ausreichende Steuerreform, nicht vorhandene Kompensation der Sozialversicherungsbeiträge, die sich ja erhöhen und nicht
reduzieren - und den Verschlechterungen des Arbeitsrechtes für die kleinen und mittelständischen Transportunternehmer kommt nun der nächste Genickschlag
für das deutsche Gewerbe, nämlich die Umstellung der
LKW-Maut - das ist beschlossen - ohne die entsprechenden Ausgleichsmaßnahmen.
({4})
Herr Minister Bodewig, dies geschieht, während andere
Länder wie Frankreich, Belgien, Italien und die Niederlande ohne jegliche Bedenken - auch gegen jeden EcofinRatsbeschluss - ihr jeweiliges nationales Gewerbe schützen.
({5})
Die Tinte unter dem Treueschwur, keine Ausgleichsmaßnahmen in den Ländern einzuführen, war noch nicht
einmal trocken, als diese Länder genau das beschlossen
haben. Und die deutsche Bundesregierung stellt sich auf
den Standpunkt, dass man sich das bis 2002 einmal ansehen kann, um dann vielleicht mit dem Finger zu drohen
und zu sagen: Wenn ihr dann nicht aufhört, dann führen
auch wir sie vielleicht ein! Für das deutsche Gewerbe ist
es dann wahrscheinlich zu spät.
Herr Minister Bodewig, Sie nehmen dabei billigend in
Kauf, dass Sie als Totengräber für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe in die Geschichte der Verkehrspolitik dieses Landes eingehen werden.
({6})
Das mag in Ihrer persönlichen Bilanz nur ein kleiner Makel sein, für sehr viele der mittelständischen Unternehmer
in Deutschland führt diese Art der Politik aber zum wirtschaftlichen Aus. Deswegen muss ich Ihnen ehrlich sagen, dass mir Ihr Interview in der „Verkehrsrundschau“
vor einigen Tagen als ein klatschender Schlag in das Gesicht der Betroffenen erscheint.
({7})
Dort haben Sie behauptet, dass es Ihnen gar nicht um die
vollständige Schließung einer angeblichen Lücke gehe
- ich betone: angeblichen -, sondern darum, dass der
LKW aus Ihrer Sicht seine Kosten nicht voll deckt. Das
wird durch andere Gutachten zumindest bezweifelt.
Wie leichtfertig Sie die ganze Angelegenheit tatsächlich angehen, ist daran zu sehen, dass Sie verharmlosend
davon sprechen, dass sich durch die Umstellung der
LKW-Maut die Preise für Lebensmittel in Deutschland
nur um 1 Pfennig bis 2,5 Pfennig pro Kilo erhöhen würden und dass der Preis für ein Fernsehgerät - unter der Annahme, dass es vorher 2 000 DM kostet - um 35 Pfennig
steigen würde. Das sei aus Ihrer Sicht nicht wettbewerbsverzerrend. Ja, vielleicht nicht für den Verbraucher,
({8})
aber bestimmt für den deutschen Transportunternehmer.
Herr Minister, ich glaube, dass Sie sich mit dieser Darstellung nun endgültig aus der ernsthaften Diskussion
über die Zukunft des deutschen Transportgewerbes verabschiedet haben. Von den mit der Einführung der LKWMaut von Ihnen mehrfach vollmundig angekündigten
größtmöglichen Harmonisierungsschritten im europäischen Rahmen ist nichts als heiße Luft geblieben. Obwohl Sie zwölf Monate Zeit hatten, sind Sie noch nicht
einmal in der Lage, rechtzeitig und vor allen Dingen
gleichzeitig mit Ihrem Gesetzentwurf zur Umstellung der
Maut die entsprechenden Entlastungsvorschläge vorzulegen. Die von uns bereits mehrfach beantragte Reduzierung der Kfz-Steuer auf das europäisch mögliche Mindestmaß - unter Berücksichtigung moderner Motoren -,
haben Sie in dieser Periode schon zweimal abgelehnt
({9})
und am Mittwoch im Ausschuss bereits zum dritten Mal;
ich nehme an, heute wieder.
Herr Minister, wer soll Ihnen draußen denn noch glauben, dass Sie es mit der von Ihnen selbst angekündigten
Reduzierung der Kfz-Steuer - zuletzt am 18. Oktober, am
Jahrestag des BGL hier in Berlin - noch ernst meinen?
Wer soll Ihnen noch glauben, Herr Minister, dass Sie
ernsthaft an einer weiteren Reduzierung der Mineralölsteuer arbeiten, wenn Sie noch nicht einmal zur Kenntnis
nehmen wollen, dass die Niederlande bereits jetzt angekündigt hatten - ich habe von Ihnen keinen Widerspruch gehört -, mit Einführung der LKW-Maut die Mineralölsteuer um 15 Prozent zu senken - wohlgemerkt in
den Niederlanden, wo bereits seit vielen Jahren Steuerermäßigungen von bis zu 15 Pfennig pro Liter Diesel für das
Gewerbe gewährt werden, ohne dass irgendjemand etwas
dagegen unternimmt.
({10})
Horst Friedrich ({11})
Und das alles geschieht vor dem vagen Hintergrund, dass
man damit Güter auf die Schiene verlagern könne.
({12})
Wenn Sie schon der Opposition im Deutschen Bundestag nicht glauben wollen, dann wäre es doch wenigstens
sinnvoll, sich in aller Ruhe noch einmal die Vorschläge
der Pällmann-Kommission zu Gemüte zu führen, die Sie
selbst bzw. Ihr Haus haben einsetzen lassen.
({13})
Dort haben Sie sehr deutlich aufgelistet bekommen,
warum die Einführung der Maut nach Streckenbezogenheit kein einziges Kilogramm von der Straße auf die
Schiene verlagern wird.
({14})
Das ist und bleibt ideologischer Wunschtraum. Da muss
sich zunächst aufseiten der Bahn Gravierendes verändern.
({15})
Deswegen sage ich Ihnen: Dieses Gesetz bleibt das,
was es von Anfang an war: ein schlichtes Abkassiermodell für das deutsche Straßenverkehrsgewerbe vor dem
Hintergrund, den Straßenverkehr in Deutschland, koste
es, was es wolle, teurer zu machen.
({16})
Sie haben keine Entlastung für das deutsche Straßenverkehrsgewerbe, keine Zweckbindung der Einnahmen, Sie
nutzen das Geld für die Finanzierung anderer Verkehrsträger, und das alles mit einem kleinen zusätzlichen Abgabeopfer für das deutsche Straßenverkehrsgewerbe von
schätzungsweise rund 7 Milliarden DM ab 2003.
Diese Politik, Herr Minister, sind wir nicht bereit mitzutragen. Als Bestattungsunternehmer des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes müssen Sie die Suppe schon allein auslöffeln. Dieses Gesetz werden wir mit großer
Überzeugung ablehnen, weil es aus unserer Sicht ein
falscher Schritt ist, weil Sie dem deutschen Straßenverkehrsgewerbe die Antwort schuldig bleiben, wie Sie es
entlasten wollen. Diese Zusage haben Sie dem Gewerbe
selbst gegeben.
Herr Kollege Weis, ich bin durchaus bereit, bei Gewerbeveranstaltungen in den Wettbewerb mit Rot-Grün
zu treten, wer denn nun die bessere Verkehrspolitik gemacht hat.
({17})
Dieser Diskussion stelle ich mich mit großer Ruhe und
Gelassenheit. Ich glaube, das können wir beruhigter sehen
als Sie; denn Ihre Bilanz ist deutlich schlechter.
({18})
Für die PDS erteile
ich dem Kollegen Winfried Wolf das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Es gab hier
von den Koalitionsparteien große Worte von einem
Glanzstück, das hier vorliege, und von einer Verkehrsrevolution.
({0})
Wir sollten den Gesetzentwurf nüchtern an den Hauptzielen messen, nämlich Chancengleichheit herzustellen und
für Waffenparität zwischen den Verkehrsträgern und eine
wirkliche Anrechnung der realen Kosten zu sorgen.
({1})
Ich glaube, dass wir in der Diskussion über dieses Gesetz einen Vergleich zwischen der Maut als solcher und
der Maut als rot-grünem Gesetz ziehen können. Das erinnert ein bisschen an den Vergleich zwischen dem Sozialismus und der DDR. Es gibt eine Karikatur aus dem
Jahre 1990, die Sie wahrscheinlich gesehen haben, eine
Postkarte, die zeigt, wie Marx und Engels vor den Trümmern der DDR stehen und sagen: „War halt nur so ‘ne
Idee“.
Die Maut ist eine gute Idee, wenn sie wirklich in die
Richtung der Ziele geht, die hier genannt werden; aber ich
denke, dass das nicht der Realität entspricht. Die konkrete
Maut, wie sie hier angedacht ist, ist eine Mischung aus einer Bagatellsteuer - in dieser Auffassung unterscheide ich
mich sehr deutlich von dem Kollegen Friedrich -, weil sie
in der Höhe, die hier debattiert wird, die Ziele in der Realität nicht erreichen kann,
({2})
und aus elektronischer Wegelagerei, sicherlich etwas moderner als in den Mauthäuschen, die genannt worden sind.
Am Ende wird sie auf ein Stück Protektionismus hinauslaufen; dann werden deutsche LKW doch stärker entlastet und ausländische behindert werden.
({3})
Der Verweis in Ihrem Entschließungsantrag, dass es einen beispiellosen Subventions- und Steuersenkungswettlauf unserer Nachbarn gegeben habe, bedeutet doch auch,
dass am Ende, wenn das deutsche LKW-Gewerbe entlastet werden wird, die anderen nachziehen und den Wettlauf verlängern werden.
({4})
Ich glaube, dass die Maut in dieser konkreten Form die
Zielsetzungen nicht realisieren kann, und zwar aus drei
Horst Friedrich ({5})
Gründen. Erstens sind die technischen Parameter die
falschen, zum Beispiel in Bezug auf die Begrenzung ab
12 Tonnen - 50 Prozent der Zerstörungen auf den Straßen
werden von LKW ab 3,5 Tonnen angerichtet -, aber auch
in Bezug auf die relativ fiktive Beschreibung, dass erst die
Achszahl maßgeblich sei und nicht das Gesamtgewicht
für LKW.
({6})
Das Zweite ist - das ist vorhin auch von dem Kollegen
Albert Schmidt genannt worden - die Beschränkung auf
Bundesautobahnen. Es ist ziemlich eindeutig, dass die
Beschränkung zu massenhaftem Ausweichverkehr
führen wird. Es gibt bereits eine Umfrage vom Deutschen
Städtetag, nach der ein Drittel aller befragten Städte konkret beschreiben können, in welchen ihrer Bereiche es
durch die LKW-Maut massenhaften Ausweichverkehr
dieser Art geben wird.
Das Dritte betrifft die Mittelverwendung. Ein Großteil der Einnahmen wird realiter im Rahmen des AntiStau-Programms und damit auch in Richtung des Straßenausbaus und der Verflüssigung des Straßenverkehrs
eingesetzt werden. Ich glaube, dass die CDU/CSU und die
FDP hier beruhigt sein können.
({7})
Ich verweise darauf, dass das Umweltbundesamt ausdrücklich darauf hinwies, dass die Mittel für den Umweltschutz und für andere Verkehrsnetze eingesetzt werden können. Das wäre wirklich zielführend im Sinne von
Verlagerung und im Sinne von Chancengleichheit.
({8})
Sie sagen, die Zielsetzung sei Chancengleichheit und
Verlagerung. Ich möchte darauf hinweisen, dass in Ihrem
Entschließungsantrag steht, dass es mehr Chancengleichheit geben wird.
({9})
Bei all dem, was bisher von Ihnen vorgelegt wurde, ist
klar: Bei der jetzigen Ungleichheit der Verkehrsträger
kann es niemals Chancengleichheit geben.
({10})
Was die Verlagerung betrifft, möchte ich auf den Klartext im Verkehrsbericht, über den wir hier auch diskutieren, hinweisen, in dem auf Seite 46 wörtlich steht: „Der
Straßengüterfernverkehr verzeichnet eine Zunahme bis
2015 um 70,8 Prozent“, und zwar bereits mit Unterstellung einer LKW-Maut. Das heißt, das Ministerium geht
davon aus, dass der Straßenverkehr trotz der LKW-Maut
in den nächsten 15 Jahren um über 70 Prozent wachsen
wird.
Für den Fall, dass jemand ernsthaft sagt, es käme
gleichzeitig zu einem schnelleren Wachstum des Schienenverkehrs: Jeder, der sich konkret die DB Cargo ansieht, weiß, dass das wirklich lächerlich ist. Ich glaube,
dass Kollege Weis, als er über das Ziel einer Verdoppelung des Verkehrs bei der DB Cargo sprach, deswegen
relativ stockend war.
({11})
- Auch andere Unternehmen auf der Schiene werden nicht
das aufholen können, was die DB Cargo verliert.
Zum Schluss. Die PDS ist gnadenlos konstruktiv.
({12})
Wir haben konkrete Änderungsanträge gestellt. Bei konkreten Punkten, von denen auch Sie von der SPD und von
den Grünen wissen, dass genau das die wunden Punkte
sind, haben wir vorschlagen, Abänderungen vorzunehmen, damit aus einer guten Idee eine gute Praxis wird und
es hinterher nicht wieder heißen wird: „War halt so eine
Idee gewesen.“
Danke schön.
({13})
Nun erteile ich der
Kollegin Renate Blank für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Neben der LKW-Maut diskutieren
wir ja heute noch über andere Dinge. Daher komme ich
zuerst auf unseren Antrag „Mehr Sicherheit durch Kreisverkehre“ zu sprechen. Kreisverkehre gewinnen zunehmend an Bedeutung und dienen der Verkehrssicherheit.
Vor allem kleine Kreisverkehrsplätze sind im Vergleich
mit den herkömmlichen Knotenpunkten ohne Lichtsignalanlagen, die sich leider zu Unfallschwerpunkten
entwickelt haben, wesentlich sicherer. Die erhöhte Verkehrssicherheit kommt dabei allen Verkehrsteilnehmern
zugute: Autofahrern, Radfahrern und Fußgängern. Wir
sollten uns deshalb mit einem Sonderprogramm für Kreisverkehrsplätze in Deutschland im Interesse der
Verkehrssicherheit beschäftigen.
({0})
Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag, die
deutsche Verkehrsinfrastruktur auf die EU-Osterweiterung vorzubereiten, soll der Bedarf für Straße und
Schiene erarbeitet und mit den Anrainerstaaten abgestimmt werden.
Ich habe den Eindruck, dass Sie die Infrastrukturanbindung zu den Beitrittskandidaten verschlafen. Wie
sonst könnte es passieren, dass Sie dem Weiterbau der A 6
so wenig Bedeutung beimessen und Bahnchef Mehdorn
erlauben, Zugverbindungen zu streichen? Der Gleisabbau
kommt dann auch noch!
Vielleicht ist Ihnen noch nicht bewusst - vielleicht
wollen Sie es auch nicht wahrhaben -, dass der wachsende
Güterverkehr mit solchen Maßnahmen kaum auf die
Schiene verlagert werden kann, sondern nach wie vor per
LKW auf der Straße stattfindet. Staus mit enormen Kosten sind vorprogrammiert.
Nun zum Bundesverkehrswegeplan und zur Finanzierung von Verkehrsinfrastruktur. Der dritte Verkehrsminister in dieser Legislaturperiode - immerhin hat er es geschafft, ein Jahr im Amt zu bleiben; wer weiß, wie lange
noch, wenn er mit seiner Bahnpolitik weiter zwischen den
Stühlen von Schröder und Mehdorn sitzt - ist und bleibt
ein Ankündigungsminister: Programme, nichts als Programme und seit neuestem ein Maßnahmenpaket, aber
kein Geld, um Staus zu beseitigen und die brachliegende Bauwirtschaft anzukurbeln! 1 Milliarde DM schafft
10 000 bis 12 000 Arbeitsplätze.
Im Verkehrsbericht werden dem Bundesverkehrswegeplan ganze 16 Seiten gewidmet. Leider liegt ein
neuer Bundesverkehrswegeplan immer noch nicht vor,
obwohl man mit dem Versprechen angetreten war, noch in
dieser Wahlperiode einen total überarbeiteten Plan vorzulegen. Jetzt spricht man von 2003 und der Minister wird
zitiert, dass es wahrscheinlich das Jahr 2004 werden wird.
({1})
Sie sollten sich überhaupt keine Gedanken über den
nächsten Bundesverkehrswegeplan machen, ja sogar die
Arbeit daran einstellen; denn den nächsten Bundesverkehrswegeplan werden wieder wir erstellen.
({2})
Totales Chaos herrscht in Ihren Programmen. Oder
sind Sie vielleicht der Meinung, dass es genügt, Programme zu schreiben, um damit die Opposition, die Wirtschaft und die Journalisten zu täuschen? Uns jedenfalls
können Sie nicht hinters Licht führen.
Zu den einzelnen Programmen: Die Maßnahmen des
Investitionsprogramms 1999 bis 2002 enden nicht 2002,
sondern erst 2010 oder noch später. Ein Blick in die Zusammenfassung dieses Programms reicht aus, um das sofort zu erkennen. Bis 2002 sind knapp 5 Milliarden DM
weniger vorgesehen als im gleichen Zeitraum in unserer
Finanzplanung. Aufgrund dieses Programms mit seinem
finanziellen Engpass hagelte es Proteste von allen Bundesländern, die baureife Projekte in der Schublade haben.
Dann sind Ihnen die Erlöse aus der Veräußerung der
UMTS-Lizenzen ins Haus geschneit - die Vorarbeiten
wurden von uns geleistet - und Sie haben mit einem Zukunftsinvestitionsprogramm - vom Verkehrsminister natürlich als tolle Leistung verkündet - den Straßenbauhaushalt für insgesamt drei Jahre um 2,7 Milliarden DM
aufgestockt. Im Vergleich zu unserer Finanzplanung fehlen bis Ende 2002 immer noch rund 2,2 Milliarden DM.
({3})
- Nein, das sind keine Luftbuchungen, sondern das ist die
Wahrheit.
Das Anti-Stau-Programm und das Maßnahmenpaket
„Bauen jetzt - Investitionen beschleunigen“ sind Ankündigungen aus dem vergangenen bzw. aus diesem Jahr und
werden, wenn überhaupt, erst ab dem Jahr 2003 wirksam.
Ich kann mir angesichts dieses Maßnahmenpaketes nicht
verkneifen, darauf hinzuweisen, dass Minister Bodewig
noch im Oktober im Ausschuss weitere private Konzessionsmodelle ausdrücklich ablehnte. Jetzt hat er zehn Projekte aus dem Hut gezaubert, die er der Einfachheit und
Verwirrung halber Betreibermodelle nennt, die aber
nichts anderes als private Konzessionsmodelle sind. Wir
fallen auf dieses Täuschungsmanöver nicht herein.
Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung machen: Frau Staatssekretärin Mertens hat vor kurzem bei
einem Vortrag von den vier in der Verkehrspolitik wichtigen V gesprochen: vermeiden, verlagern, verbessern und
verteuern.
({4})
Bei uns hieße ein V übrigens nicht verteuern, sondern vernetzen, was wesentlich wichtiger und verbraucherfreundlicher ist. Ich füge ein weiteres V hinzu: vernichten. Alle
Programme, die uns vorgelegt wurden, können vernichtet
werden; sie sind und bleiben Makulatur, wenn nicht mehr
Geld für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur zur
Verfügung gestellt wird.
({5})
Zur Erinnerung: Alle Bundesländer, auch die rot-rot
oder rot-grün regierten, haben auf der letzten Verkehrsministerkonferenz im Oktober 2001 einvernehmlich festgestellt, dass für den Straßenbau rund 4 Milliarden DM,
für den Schienenbau rund 3 Milliarden DM und für die
Wasserstraßen 500 Millionen DM an zusätzlichen Mitteln
gebraucht würden, um einen notwendigen und sachgerechten Aus- und Neubau von Verkehrsmaßnahmen zu gewährleisten. Diese Aussage sollte den Verkehrsminister
nachdenklich machen und zum Handeln bewegen. Was
macht er stattdessen? - Er fährt die Propaganda hoch und
die Bauleistungen herunter und lässt sich sogar die in diesem Jahr nicht verbauten Schienenmittel in Höhe von
rund 1,5 Milliarden DM vom Finanzminister abnehmen.
Das zeigt die Schwäche des Ministers und seiner Staatssekretäre.
({6})
Nun erteile ich dem
Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,
Herrn Bodewig, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es gab eine ganze Reihe von Verkehrsministern, die an dem Projekt einer streckenbezogenen
LKW-Gebühr gearbeitet haben. Ich erinnere daran, dass
Bundesminister Warnke 1990 einen Versuch gestartet hat.
Dieser ist übrigens daran gescheitert, dass der EuGH die
Kompensationswirkung als Hinderungsgrund beschrieRenate Blank
ben hat. Ich weise darauf hin, weil das in dieser Debatte
vielleicht eine Rolle spielen könnte.
({0})
Der Vorsitzende Richter hat übrigens damals in seiner Begründung ausdrücklich auf das mangelnde Handling hingewiesen; auch das sollte man sich noch einmal vor Augen führen.
Danach arbeiteten die Minister Zimmermann, Krause,
Wissmann, Müntefering und Klimmt weiter an diesem
Vorgang. Sie alle hatten Recht: Die Maut muss kommen;
denn sie ist notwendig. Deswegen danke ich meinen Vorgängern. Ich freue mich, dass wir es heute schaffen, das
durchzusetzen.
({1})
Herr Fischer, Sie sprachen vom Kollegen Wissmann.
Ich glaube, dass dieser Großversuch in Bonn nicht von
Erfolg gekrönt war und dass Ihnen die politische Kraft
fehlte, eine LKW-Maut nicht nur anzudenken, sondern sie
auch durchzusetzen.
({2})
Die Koalitionsfraktionen handeln anders. Sie setzen ein
wesentlich erfolgreicheres, innovatives technisches Modell ein.
({3})
Ich hatte eben gesagt: Alle Verkehrsminister waren
sich einig, dass die Maut kommen muss. Sie ist nämlich
aus verschiedenen Gründen längst überfällig:
Erstens. Der LKW-Verkehr, und zwar der Schwerlastverkehr, wird damit an der Finanzierung der Wegekosten
beteiligt. Darüber wurde im europäischen Maßstab, aber
auch in Deutschland immer diskutiert. Jetzt wird das umgesetzt.
Zweitens. Wir verbessern die Wettbewerbsgleichheit
zwischen Straße und Schiene. Auch das ist sinnvoll. Herr
Kollege Fischer, den Hinweis auf die Binnenschifffahrt
würde ich noch einmal überdenken; ich verweise auf die
Mannheimer Schifffahrtsakte. Ich glaube, dass Sie da
Ihren Horizont erweitern können.
({4})
Drittens. Erstmalig werden ausländische LKW für die
Nutzung der Autobahnen in Deutschland mit den vollen
Wegekosten belastet. Das hat es nie gegeben. Immerhin
geht es um 20 bis 30 Prozent. Das ist eine wirksame Maßnahme gegen Dumping und Billigangebote.
({5})
Alle drei Punkte haben etwas mit fairem Wettbewerb
zu tun.
Jetzt höre ich, wie Sie Krokodilstränen weinen. Herr
Friedrich, Herr Fischer, Sie sind also die Schutzheiligen
des Gewerbes. Ich finde Ihr kurzes Gedächtnis doch sehr
bemerkenswert. Wer hat denn das Speditionsgewerbe
1995 in die Liberalisierung und in die volle Kabotage getrieben, ohne jegliche Absicherungsmaßnahme und ohne
dem Gewerbe die Chance zu geben, sich auf die neue Situation einzustellen? - Das waren Sie!
({6})
Denken Sie nach! Dann werden Sie erkennen, wie Sie an
der derzeitigen Situation mitgewirkt haben.
({7})
Wir haben umgesteuert. Die Steuerreform der Bundesregierung entlastet auch das Transportgewerbe. Das ist
sehr wichtig. Jeder einzelne Transportunternehmer kann
die Entlastung bei der Einkommensteuer errechnen. Das
sollten Sie nicht wegwischen.
({8})
Weitere Entlastungsmaßnahmen sind bereits ergriffen
worden:
Ich nenne erstens die Beibehaltung der Berücksichtigung der Kosten für die Verpflegung des Personals bei der
Mehrwertsteuererstattung - Stichwort: Vorsteuerabzug.
Das haben wir gemacht.
({9})
Zweitens. Die AfA-Richtlinien berücksichtigen die
Situation des Gewerbes.
Drittens. Ich glaube - jetzt komme ich zum wichtigsten
Punkt -, dass wir mit dem Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr gemeinsam eine Kraftleistung vollbracht haben, die
Sie in Ihrer gesamten Zeit nicht auf den Weg gebracht haben und die die wirksamste Maßnahme gegen eine Wettbewerbsverzerrung ist. Der Einkommensunterschied im
Verhältnis zu bestimmten osteuropäischen Staaten beträgt
nämlich 1:20. Hier haben wir das Gewerbe ganz entschieden geschützt. Das Gewerbe erkennt das übrigens
auch an.
({10})
Trotzdem ist es notwendig, mit dem Gewerbe über eine
europäische Steuerharmonisierung zu sprechen. Das
werde ich tun. Dies habe ich angekündigt; wir werden dies
jetzt umgehend umsetzen. Denn wir müssen die europäische Komponente berücksichtigen. Ich habe eben auf die
europäische Dimension hingewiesen, an der dieses Vorhaben schon einmal gescheitert ist. Ich werde deswegen
sehr deutlich machen: Wir müssen hier EU-kompatible
Regelungen treffen. Das ist das Gebot der Stunde. Das
schützt auch das Gewerbe; denn solche Regelungen haben Bestand.
Ich habe die Senkung der Kfz-Steuer auf das europäische Mindestniveau deswegen angeboten - das müssen
wir mit den Ländern besprechen -, weil sie eine Chance
bietet. Das ist EU-kompatibel; denn ein Element der KfzSteuer, nämlich die Bewertung des Emissionsverhaltens
der Fahrzeuge, ist substanzieller und systematischer Bestandteil der LKW-Maut. Deswegen ist dieser Weg gangbar. Ich appelliere an die Länder, auf einem solchen Weg
mitzugehen. Auch das ist ein Punkt, den wir miteinander
besprechen werden.
({11})
Dann, Herr Fischer, will ich Ihnen beim Erkenntnisgewinn gern helfen. Wegekosten kann man nicht willkürlich
festsetzen. Es gibt eine europäische Richtlinie von 1999,
die Ihnen eigentlich bekannt sein müsste.
({12})
Wegekosten müssen die reale Abnutzung beschreiben, die
durch den Schwerlastverkehr erfolgt.
({13})
Herr Dr. Wolf, auch Ihr Wunsch ist nicht zu realisieren.
Das europäische Recht ist eindeutig. So lange das Weißbuch nicht umgesetzt worden ist - erst als Weißbuch, dann
in einer europäischen Richtlinie, die in nationales Recht
umgesetzt werden muss -, gilt dies. Deswegen werden
wir uns gesetzeskonform verhalten. Denn dies ist notwendig, wenn wir dieses wichtige Projekt realisieren wollen.
({14})
Die Wegekosten wurden von Prognos und dem Institut
für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung der Universität Karlsruhe genau ermittelt. Diese werden sich auf
6,6 Milliarden DM belaufen. Dies bedeutet eine
durchschnittliche Maut von 15 Cent, also 29,3 Pfennig, je
gefahrenen Kilometer. Hier wird noch zwischen 10 Cent
und 17 Cent differenziert. Das heißt, es gibt einen Anreiz,
in emissionsarme Fahrzeuge zu investieren; denn die Differenz zwischen 10 Cent und 17 Cent kann jeder Unternehmer errechnen. Auch Sie sollten das tun. Ich glaube,
dass dies eine ganz wichtige umweltpolitische Steuerungswirkung hat.
({15})
Lassen Sie das Thema Weitergabefähigkeit nicht zu
kurz kommen. Die zu erwartenden Preissteigerungen aus
der Umsetzung der LKW-Maut führen zu einer Preissteigerung von unter 0,15 Prozent. Das ist bei einem Kilogramm Obst 1 Pfennig. Bei einem Fernseher sind es
34 Pfennig.
({16})
- Natürlich. Herr Fischer, das ist doch die Idee der
entfernungsabhängigen LKW-Maut.
({17})
- Herr Fischer, es ist gut.
({18})
Herr Kollege Fischer,
eigentlich hat der Herr Minister das Wort.
({0})
Herr Fischer, Sie dürfen sich weiter ereifern. Es sollte nur nicht von meiner Redezeit abgehen.
Deswegen werde ich jetzt weiterreden.
({0})
Lassen Sie mich noch einmal das Ziel beschreiben. Das
Ziel heißt: Wir wollen den Verkehr bewerten und die Abnutzung von Straßen durch den Schwerlastverkehr endlich berechnen. Das hat eine positive Wirkung; denn diese
Bewertung führt dazu, dass wir mehr investieren können,
und zwar richtig. Es geht um zusätzliche Einnahmen, die
wirksam für den Erhalt und den weiteren Ausbau der Verkehrswege verkehrsträgerübergreifend eingesetzt werden.
Das, Frau Blank, werden wir um das Betreibermodell
ergänzen. - In einer ruhigen Stunde werde ich Ihnen das
erklären.
({1})
Das Betreibermodell hat nämlich die Wirkung, dass wir
zusätzlich privates Kapital zur Lösung von Verkehrsengpässen auf der Basis dieses und anderer Gesetze mobilisieren können. Das ist eine intelligente Lösung. Sie bedauern wahrscheinlich, dass sie Ihnen nicht eingefallen
ist.
Dann will ich noch auf einen Punkt eingehen, den ich
bei Ihrer Diskussion ganz interessant finde: die Frage der
Verlagerung auf das nachgeordnete Straßennetz. Sie wissen, dass wir die LKW-Maut im derzeitigen europäischen
Rechtszustand nur für die Benutzung der Autobahn erheben dürfen. Wir haben die Verlagerungswirkung untersucht. Unsere Institute sagen, dass es eine Bandbreite zwischen 1 und 3 Prozent gibt. Aber weil auch 3 Prozent eine
Belastung sein können, haben wir im Gesetz die Möglichkeit vorgesehen, auch Teile von Bundesfernstraßen
- das lässt das europäische Recht zu - sehr flexibel einzubeziehen, nämlich im Rahmen einer Rechtsverordnung.
Die Struktur dieses Gesetzes ist deswegen so besonders
wichtig, weil wir in der gemeinsamen Arbeit mit den Ländern auf mögliche Verlagerungseffekte schnell reagieren
können.
Nun komme ich zu der Frage: Welche Wirkung wird
die Abgabe auf den Verkehr haben? Wir alle wissen, dass
es ein ungeheures Verkehrswachstum gibt. Studien auf der
Basis des Jahres 1997 mit einem Zeithorizont bis 2015 gehen von 64 Prozent aus. Wir brauchen steuernde Elemente
und können uns Leerverkehre in dem Maße wie bisher
nicht mehr erlauben.
Wir brauchen natürlich die Motivation, dass Transporte gebündelt werden, Laderaum besser genutzt wird
und Transporte mit geringeren Kilometerleistungen zu
realisieren sind. Auch dies ist ein wichtiges Element im
Sinne von verbundenen Verkehren und logistischen Gesamtkonzeptionen.
Ich würde gerne Ihre Art der Oppositionsrechnung etwas näher beleuchten. Sie nehmen einen etwas eigenartigen Vierschritt vor: Sie fordern erstens eine geringe Mauthöhe, weil jede Maut eine Belastung darstellt. Sie fordern
zweitens viele Ausnahmen bei Strecken, die bemautet
werden sollen; Sie haben eben den Stadtring genannt. Das
bedeutet weniger Einnahmen. Drittens fordern Sie die
höchste Geldrückgabe; Sie sprachen eben von Belastungsneutralität. Viertens fordern Sie die höchsten Infrastrukturausgaben, die nur möglich sind. Ich glaube, mit
dieser mathematischen Formel haben Sie es erreicht, der
jetzigen Regierung 1,5 Billionen Bundesschulden zu hinterlassen. Dieses Ergebnis beruht auf der Art des Rechnens, wie Sie es betreiben.
({2})
In diesem Zusammenhang erwarte ich Seriosität. Unsere seriöse Berechnung lautet: Nettomehreinnahmen aus
der Maut werden in ein Anti-Stau-Programm investiert,
das die wichtigsten Engpässe beseitigt. Wir werden durch
Investitionen - in diesem Punkt stimme ich Ihnen, Frau
Blank, zu - Arbeitsplätze sichern, und zwar pro 1 Milliarde DM an Investitionen 10 000 bis 12 000 Beschäftigte.
Ich bin stolz darauf, wenn uns das gelingt, weil wir damit
etwas für die Menschen tun. Das ist unsere Aufgabe.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Fischer und
ebenso Frau Blank haben in der gestrigen Regierungsbefragung vom Hauptfeind Auto gesprochen. Ich denke
nicht in solchen Kategorien.
({3})
Ich denke daran, dass wir ein Verkehrssystem brauchen,
bei dem alle Verkehrsträger optimal zusammenarbeiten.
Ich denke nicht in Kategorien von Feind und Freund. Ich
will die Probleme lösen und zu einem Ergebnis kommen,
das Sie nie zustande gebracht haben.
Vielen Dank.
({4})
Als letztem Redner in
dieser Debatte erteile ich dem Kollegen Wilhelm Josef
Sebastian das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister,
Sie haben davon gesprochen, dass es Schutzheilige des
Gewerbes gebe. Der Heilige Sebastian ist in vielen Regionen Deutschlands zwar Schutzheiliger der Schützen,
aber auch ich will mich hier für das Gewerbe einsetzen.
Sie sagen zu Recht, die Maut müsse kommen. Aber so,
wie Sie sie jetzt planen, ist sie falsch. Der heutige Tag ist
für das Gewerbe ein schlechter Tag; denn auch nach der
zweiten und dritten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung einer streckenabhängigen LKW-Maut ist
festzustellen: Es ist eine politische Fehlleistung der rotgrünen Bundesregierung.
Wir hatten bei der ersten Lesung noch die Hoffnung,
dass sich die Regierungsfraktionen einsichtsfähig zeigen
würden. Wir glaubten, dass die Erkenntnisse aus der Anhörung in den Gesetzentwurf einfließen würden. Wir haben uns in diesem Punkt gewaltig getäuscht. Sie haben
nichts dazugelernt und wollen heute eine Maut einführen,
ohne dafür zu sorgen, dass die betroffene Branche eine
Chance hat, im internationalen Wettbewerb zu bestehen.
({0})
Eine dringend notwendige Umfinanzierung fehlt völlig.
Das ist in der Anhörung - Sie waren dabei - sehr deutlich
so vorgetragen worden.
Die Zeit reicht leider nicht, um in aller Breite auf die
gesamtwirtschaftliche Belastung durch das neue Gesetz
einzugehen. Ich möchte an dieser Stelle jedoch feststellen: Es besteht die große Gefahr - Dirk Fischer hat das
schon vorgetragen -, dass viele kleine mittelständische
Unternehmen in Deutschland sozusagen ins Gras beißen.
Auch wenn auf unseren Straßen von ausländischen LKW
die gleiche Maut zu bezahlen ist, bleibt unter Berücksichtigung der übrigen Abgabenbelastungen der Wettbewerbsnachteil für Betreiber deutscher LKW bestehen. Die
angekündigte Senkung der Kfz-Steuer auf das europäische Mindestniveau ist nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
Sie, Herr Minister, und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, wissen, dass der Schlüssel zur Harmonisierung auf europäischer Ebene die Mineralölsteuer ist. An dieses Thema gehen Sie aber aus
ideologischen Gründen nicht heran. Im Gegenteil: Zur
heutigen Einführung der LKW-Maut kommt noch die Erhöhung der so genannten Ökosteuer zum 1. Januar 2002.
Es gilt, Wege zu finden, die in Übereinstimmung mit
dem europäischen Recht die Benachteiligung des deutschen Gütertransportgewerbes abmildern. Sie wissen,
dass die Vorschläge der Gewerbeverbände im Hinblick
auf die Anrechnung der Mineralölsteuer im Raum stehen.
Wir setzen unsere Hoffnung zumindest darauf, dass die
Prüfung auf europäischer Ebene Ihre Handlungsfähigkeit
hier noch etwas beflügeln wird.
Die von Ihnen vorgesehene Mauthöhe bedeutet für einen durchschnittlichen deutschen LKW eine Abgabenlast
von 33 500 DM pro Jahr - Tendenz steigend -, ohne dass
eine Möglichkeit zur Kostenkompensierung oder zur Umfinanzierung besteht. Die Niederlande haben angekündigt
- das ist schon einmal gesagt worden; ich möchte es trotzdem wiederholen, weil es mir sehr wichtig ist -, bei Einführung einer LKW-Maut die Mineralölsteuer um 15 Prozent zu senken. Frankreich will seine Unternehmen bis
mindestens 2005 nicht mit weiteren Erhöhungen belasten.
Was tun Sie? - Nichts!
Es besteht die große Gefahr, dass viele unserer Transportunternehmen aufgrund der zusätzlichen Belastungen
nicht überleben werden und dass dadurch 100 000 Arbeitsplätze verloren gehen. Die Vorstellung, dass Zusatzkosten auf die transportierten Güter abgewälzt werden
können, ist falsch. Sie haben in Ihrer Propagandaschrift
einige Beispiele mit Bananen, Joghurts, Schuhen und
Fernsehern aufgelistet. Herr Minister, hier haben Sie mit
Zitronen gehandelt! Die Annahme stimmt nämlich nicht.
Die Verlader werden sich den billigsten Transporteur aussuchen. Der wird in Zukunft aus dem Ausland kommen.
({1})
Wer die Hoffnung hat, dass durch die Einführung der
LKW-Maut zukünftig weniger LKW auf bundesdeutschen Autobahnen fahren, hofft vergebens. Es werden genauso viele LKW wie früher fahren. Nur werden weniger
deutsche Nummernschilder auf bundesdeutschen Autobahnen zu sehen sein. Die ausländischen Nummernschilder werden in der Überzahl sein. Angesichts dieser gefährlichen Entwicklung heißt es gegenzusteuern.
({2})
Die Umstellung von der Steuerfinanzierung auf die
Nutzerfinanzierung entspricht zwar auch der - das haben
wir immer wieder deutlich gemacht - von uns gewollten
Richtung. Richtig ist auch die verursachergerechte Anlastung der Wegekosten. Diese muss dann aber für alle Verkehrsträger gelten, also auch für Wasserstraßen und
Schienen. Eine Subventionierung der anderen Verkehrsträger mit dem Aufkommen aus der LKW-Maut lehnen
wir daher grundsätzlich ab. Unser Antrag, dass es keine
Quersubventionen geben darf, wurde von der Regierungskoalition abgelehnt. Sie haben schlicht und einfach
Ihre ordnungspolitischen Hausaufgaben nicht gemacht.
Deshalb versagen Sie in verkehrs- und wirtschaftspolitischer Hinsicht erneut!
Auch wir sind für die Stärkung des Verkehrsträgers
Schiene. Aber das muss politisch gestaltet werden. Herr
Minister, Sie müssen sich mit Ihren Vorstellungen in der
Bahnpolitik durchsetzen. Sie lassen - das sage ich Ihnen
deutlich - die deutsche Straßengüterbranche ausbluten,
weil Sie sich gegen Bahnchef Mehdorn nicht durchsetzen
können. Der Güterkraftverkehr darf nicht zur Melkkuh für
alle anderen Verkehrsträger werden. Aber genau dazu machen Sie ihn. Sie tun weiterhin nichts Wesentliches, um
die Position der deutschen Brummis im globalisierten
Wettbewerb zu verbessern.
Es ist heute kein guter Tag für das Transportgewerbe.
Das vorliegende Gesetz ist unvollständig. Ich sage voraus, dass wir uns schon in allernächster Zukunft wieder
mit diesem Gesetz beschäftigen müssen, damit es - möglicherweise - nachgebessert wird.
Es gab noch andere Dinge - Dirk Fischer hat das deutlich gemacht -, die wir angemahnt haben. Es müssen bestimmte Autobahnabschnitte aus der Mautpflicht herausgenommen werden. Es ist zu befürchten, dass zum
Beispiel in Berlin ein Chaos ausbricht, wenn die Maut auf
der gesamten Stadtautobahn erhoben werden sollte. Andererseits muss auch auf Bundesstraßen, die als Schleichwege genutzt werden können, eine Maut erhoben werden.
Ich denke, hier müssen noch eine Menge Probleme gelöst
werden.
Wir können das Gesetz, das Sie heute verabschieden
werden, nicht mittragen; denn wir halten das Gesetz in der
jetzigen Fassung für falsch.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Abstimmungen,
zunächst zu Tagesordnungspunkt 10 a. Wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 14/7448.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung den Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU zum Verkehrsbericht 2000 der Bundesregierung auf Drucksache 14/5081 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS, Zustimmung von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen sowie Ablehnung von
CDU/CSU und FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/5317 mit dem Titel „Konzept für die zukünftige Finanzierung der Bundesverkehrswege“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkte 10 b und 10 c. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/7452 und 14/7455 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Aussschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 10 d. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Einführung von streckenbezogenen
Gebühren für die Benutzung von Bundesautobahnen mit
schweren Nutzfahrzeugen, Drucksachen 14/7013 und
14/7087.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt unter Buchstabe A seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/7822, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
auf Drucksache 14/7846 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS? - Gegenprobe! - Das hat nicht ganz gereicht. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7848. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei
Enthaltung der FDP abgelehnt.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt unter Buchstabe B seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/7822 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP ist die Entschließung angenommen.
Tagesordnungspunkt 10 e. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/7821, zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine Abgabenerhöhung
durch LKW-Maut“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/7072 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung
der Beschlussempfehlung des Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag
auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und jetzt sofort als Zusatzpunkt 26 aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann rufe ich den Zusatzpunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1}) zu dem Antrag
auf Genehmigung zur Durchführung eines
Strafverfahrens
- Drucksache 14/7863 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt auf Drucksache 14/7863, die Genehmigung zu
erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Nun geht es mit den Überweisungen weiter. Wir kommen zunächst zu Zusatzpunkt 16. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/7325 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung und Ergänzung vermögensrechtlicher
und anderer Vorschriften ({2})
- Drucksache 14/7228 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ich eröffne die Aussprache.
Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.1)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/7228 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert
Geis, Erwin Marschewski ({4}),
Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des
Schutzes der Bevölkerung vor angedrohten und
vorgetäuschten Straftaten
- Drucksache 14/7616 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ich eröffne die Aussprache.
Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.2)
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 2
2) Anlage 3
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/7616 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 sowie Zusatzpunkt 17 auf:
13. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres und anderer Gesetze ({6})
- Drucksache 14/7485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard
Schüßler, Ina Lenke, Ernst Burgbacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Deutschland braucht gesetzliche Rahmenbedingungen für einen allgemeinen Freiwilligendienst
- Drucksache 14/7811 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Ich eröffne die Aussprache.
Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.1)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7485 und 14/7811 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: Ich
eröffne die Aussprache.
14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika
Reinhardt, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Norbert
Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Zusagen zum globalen HIV/Aids- und
Gesundheitsfonds einhalten und Aids-Impfstoffforschung stärker fördern
- Drucksache 14/7438 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss
Ich eröffne die Aussprache.
Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.2)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7438 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Dr. Peter Paziorek, Klaus-Jürgen
Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Globale Strategie gegen Wassermangel als internationales Konfliktpotenzial
- Drucksache 14/7437 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Schmidt ({11}), Adelheid Tröscher, Brigitte
Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({12}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wasser als öffentliches Gut und die Bedeutung
von Wasser in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 14/7484 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ich eröffne die Aussprache.
Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.3)
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 4
2) Anlage 5
3) Anlage 6
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7437 und 14/7484 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/7752 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({14})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ich eröffne die Aussprache.
Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.1)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/7752 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Waffenrechts ({15})
- Drucksache 14/7758 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({16})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung
des Waffengesetzes
- Drucksache 14/763 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({17})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ich eröffne die Aussprache.
Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.2)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/7758 und 14/763 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Winfried Wolf, Uwe Hiksch
und der Fraktion der PDS
Ausbau der Donau zwischen Straubing und
Vilshofen ökologisch gestalten
- Drucksache 14/7196 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Ich eröffne die Aussprache.
Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.3)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7196 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir danken den Abgeordneten, die ihre Reden zu Protokoll gegeben haben.
({19})
Stellen Sie sich vor, sie hätten alle noch reden wollen!
Dann hätten wir lange getagt.
({20})
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Dezember 2001, 9 Uhr,
ein. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.