Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/9/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Vor Ihnen auf dem Tisch liegt heute ein Gesetzeswerk für die Hochschulen in Deutschland, das unsere Wissenschafts- und Forschungslandschaft erheblich verändern wird. Es ist die größte Reform seit den 60er-Jahren, eine Öffnung der Hochschulen. Man kann mit Recht von einer Jahrhundertreform sprechen. Die Bundesregierung reformiert und gestaltet eine Forschungs- und Wissenschaftslandschaft, die lebendig und kreativ ist, in der junge Menschen hervorragend ausgebildet werden und in der spannende Forschung möglich ist. Mit dieser Reform des öffentlichen Dienstrechts an unseren Hochschulen befreien wir den wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland, aber auch die Professorinnen und Professoren aus einem starren und bürokratischen Korsett, ({0}) das aus dem vorletzten Jahrhundert stammt, ins 21. Jahrhundert aber einfach nicht mehr passt. Das langwierige und undurchsichtige Habilitationsverfahren, jahrelange persönliche Abhängigkeiten von Professoren oder Institutsleitern und eine Besoldung, die vor allem das Älterwerden, nicht aber die Leistung honoriert - das alles ist passé. Die Entscheidung, die wir heute treffen, stellt die Weichen neu. Es ist eine Entscheidung darüber, ob wir es ernst damit meinen, unsere Hochschulen zu modernisieren und ihnen die nötigen Freiräume und Verantwortlichkeiten zu geben. Wir leiten damit eine neue Ära an unseren Hochschulen ein: Wir sorgen dafür, dass junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch bei uns schon in ihrer kreativsten Lebensphase mit Ende 20 oder Anfang 30 und nicht erst mit über 40 Jahren wie bisher üblich selbstständig und unabhängig forschen und lehren können. Wir machen Schluss mit einer Besoldung, die Dienstalter honoriert, und honorieren stattdessen Leistung in Lehre und Forschung. ({1}) Spitzenprofessoren erhalten nach diesem Gesetz künftig auch Spitzengehälter. Damit stoppen wir die AbwandeVizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters rung unserer besten Forscherinnen und Forscher und Nachwuchswissenschaftler in andere Länder oder in die Industrie. Außerdem stellen wir Fachhochschulen und Universitäten besoldungssystematisch gleich. Unsere Hochschulen werden damit endlich auch mit Hochschulen in anderen Ländern konkurrenzfähig. ({2}) Die ausführliche und breite Diskussion in der Öffentlichkeit und in den parlamentarischen Gremien bei uns in den letzten Monaten hat gezeigt, dass es über die Ziele und die Notwendigkeit dieser Reform einen breiten Konsens gibt. Wir haben viele Anregungen aus der Diskussion aufgenommen und in den beiden Gesetzentwürfen, dem Fünften Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes und dem Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung, berücksichtigt. Wir können es uns einfach nicht leisten, dass die besten Köpfe ins Ausland abwandern, weil sie dort bessere Bedingungen vorfinden. ({3}) In den 90er-Jahren sind allein 15 Prozent der promovierten Nachwuchswissenschaftler in die USA abgewandert. ({4}) Unsere Hochschulen haben ihnen also offensichtlich gute Voraussetzungen für den weltweiten Wettbewerb um interessante Stellen geboten, aber zu wenig attraktive Stellen im eigenen Land. ({5}) Mit der Einführung der Juniorprofessur schaffen wir deshalb bei uns neue, auch im internationalen Vergleich attraktive Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Die Bundesregierung wird die Länder bei der Einrichtung der ersten 3 000 Juniorprofessuren mit 360 Millionen DM kräftig unterstützen. Das Interesse der Hochschulen an diesem Programm ist überwältigend. Sie reißen sich geradezu um die Juniorprofessuren. ({6}) Wir haben zig Nachfragen ({7}) und wir haben einen wirklichen Wettbewerb der Hochschulen. ({8}) Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Juniorprofessur soll maximal sechs Jahre dauern und wird die Regel sein. Sie ist aber nicht der einzige Weg; lassen Sie mich auch das ganz klar sagen. ({9}) Eine wissenschaftliche Leistung in einer Forschungseinrichtung, sei es am Max-Planck-Institut, am FraunhoferInstitut oder anderen wissenschaftlichen Instituten, an einer Hochschule, in der Wirtschaft oder einer Hochschule im Ausland, stellt eine gleichwertige Voraussetzung für eine Professur dar. ({10}) Deshalb ist ein Teil der Kritik, die geäußert worden ist, einfach nicht passend. Wir haben Anregungen aufgegriffen und eine entsprechende Regelung in den Gesetzestext ausdrücklich aufgenommen. Die Juniorprofessur ist durchweg auf eine wissenschaftliche Arbeit ausgerichtet und nicht nur auf den Erwerb einer formalen Qualifikation. Die Juniorprofessoren verfügen eigenverantwortlich über ein Forschungsbudget und nehmen Lehrverpflichtungen wahr. Künftig haben Professoren damit auch Lehrerfahrung, wenn sie auf eine Lebenszeitprofessur berufen werden. Es wird niemand abstreiten, dass das durchaus sinnvoll ist. In Zukunft wird nicht mehr die abgebende, sondern die aufnehmende Institution entscheiden, ob ein Nachwuchswissenschaftler sich bewährt hat und auf eine Lebenszeitprofessur berufen wird. Dieses Verfahren ist international üblich und macht unser Hochschulsystem damit für deutsche und ausländische Nachwuchswissenschaftler attraktiver. Genau das ist eine Zielsetzung dieses Gesetzes. ({11}) Mit der Möglichkeit des „tenure-tracks“, den wir nach den Beratungen im Deutschen Bundestag aufgenommen haben, ermöglichen wir besonders guten Juniorprofessoren die Fortsetzung ihrer Karriere an der gleichen Hochschule. Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können so ihre berufliche Laufbahn besser planen. Das ist sicherlich besonders wichtig für Wissenschaftlerinnen. Auch damit schaffen wir internationale Vergleichbarkeit sowie mehr Wettbewerbsfähigkeit. Dies wurde von den Hochschulen gewollt; deshalb haben wir es im Gesetz aufgenommen. Die Habilitation ist heute nicht mehr zeitgemäß. Deshalb verliert sie ihre Bedeutung als Königsweg zur Professur. ({12}) Wir verlassen damit endgültig den Sonderweg bei der Besetzung von Professuren. ({13}) Auch die Schweiz und Österreich verlassen im Übrigen diesen Weg. Damit wäre dieser Weg, wenn wir ihn weitergingen, endgültig ein deutscher Sonderweg. Für die Berufung wird künftig das Berufungsverfahren selbst ausschlaggebend sein, wie es im Übrigen auch der internationalen Praxis entspricht. Auch da ist wieder Internationalität unser Grundsatz.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Erika Schuchardt?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Gern.

Prof. Dr. Erika Schuchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002788, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Sie sagen, es sei eine Jahrhundertreform. Aber wie erklären Sie sich, dass die Auffassung der gesamten Hochschulrektorenkonferenz im Widerspruch zu den Aussagen steht, die Sie hier vorstellen? ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Frau Kollegin Schuchardt, Ihre Aussage ist falsch. Die HRK hat sich keineswegs gegen die Dienstrechtsreform gestellt. ({0}) Der zweite Absatz im HRK-Entwurf lautet: Die HRK unterstützt die Ziele der Reform nach wie vor. ({1}) - Doch! Zugleich fordert sie die Länder eindringlich auf, der Gesetzesnovelle der Bundesregierung zum Besoldungsrecht im Bundesrat zuzustimmen. ({2}) Das sagt die HRK. Ich bitte Sie, einmal den gesamten Text zu lesen und im Zusammenhang zu zitieren. Das genau hat die HRK beschlossen. Das hat sie auch ausdrücklich gesagt. ({3}) - Frau Schuchardt, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie in den CDU-regierten Ländern dafür Sorge trügen, dass die Gesetzesnovelle des Bundes angenommen wird, so wie auch wir das tun werden. Darüber würde ich mich wirklich sehr freuen. ({4}) Kein Nachwuchswissenschaftler wird gezwungen, seine Lebensplanung zu verändern. Auch das ist ein falscher Vorwurf. Mit der Übergangsregelung von zehn Jahren stellen wir sicher, dass diejenigen, die bereits habilitiert sind, gerade an einer Habilitationsschrift arbeiten oder diese bereits geplant haben, diese auch zu Ende führen können. Ich habe gehört, dass einige gesagt haben, das sei noch nicht genug. Wollen Sie wahrlich eine Übergangsvorschrift von 20, 30 oder gar 50 Jahren? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. ({5}) Auch für die wissenschaftlichen Mitarbeiter gibt es Verbesserungen. Wir legen keine Jahresfristen für einzelne Qualifikationsabschnitte fest. Die starre Fünfjahresgrenze entfällt. Ab dem Ende des Studiums stehen in Zukunft zwölf Jahre für die Qualifikation zur Verfügung. Damit schaffen wir für den wissenschaftlichen Nachwuchs mehr Sicherheit und Transparenz. Zu einem modernen Dienstrecht gehört vor allem ein modernes Besoldungssystem. Mit dem neuen Dienstrecht setzt die Bundesregierung ganz klar auf Leistung und Engagement. Nicht mehr das Älterwerden, sondern die Qualität der Arbeit soll in Zukunft die Höhe des Gehalts bestimmen. Nur so - davon bin ich zutiefst überzeugt haben unsere Hochschulen die Chance, Spitzenwissenschaftler im Wettbewerb mit ausländischen Hochschulen wie auch im Wettbewerb mit der Industrie durch eine konkurrenzfähige Bezahlung zu gewinnen und zu halten. Ich muss leider feststellen, dass viele eines noch nicht begriffen haben - das gilt auch für die Opposition -: Zukünftig werden die Anfangsgehälter frei ausgehandelt - es gibt keine feste Einstufung in ein Anfangsgehalt mehr -, wie das auch bei Führungskräften aus der Wirtschaft seit langem der Fall ist. ({6}) Wir legen zum Schutz eine Untergrenze fest, unter die bei den Verhandlungen nicht gegangen werden darf. ({7}) Was zählt, sind herausragende Leistungen in Forschung und Lehre, die Übernahme besonderer Funktionen oder Aufgaben in Hochschulgremien, Engagement bei der Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses oder auch Erfolge beim Technologietransfer. Für die individuelle Besoldung gibt es keine starren Grenzen mehr, wenn dies zum Beispiel erforderlich ist, um Spitzenkräfte, die auch von der Wirtschaft oder von ausländischen Universitäten umworben werden, besser zu bezahlen. Unsere Hochschulen werden damit endlich mit Hochschulen in anderen Ländern konkurrenzfähig. Unwahr ist im Übrigen die Behauptung, dass eine Kürzung bei den Ausgaben für Professorengehälter vorgesehen sei. Richtig ist vielmehr genau das Gegenteil, nämlich dass eine solche Kürzung gesetzlich ausgeschlossen wird. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Kostenneutralität garantiert, dass unter dem Strich kein Pfennig weniger für die Professorenbesoldung ausgegeben wird. Die Länder erhalten mit der Dienstrechtsreform die Möglichkeit, ihr Personalbudget jährlich über die normale Besoldungsanpassung hinaus um durchschnittlich 2 Prozent zu erhöhen. Mit anderen Worten: Wir öffnen nach oben; aber wir schließen eine Öffnung nach unten im Gesetzentwurf aus. Auch bei der Ruhegehaltsfähigkeit stellt der vorliegende Gesetzentwurf sicher, dass das bestehende Versorgungsniveau erhalten bleibt. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich wirklich ganz klar sagen: Mit dieser Reform nutzen wir den Generationenwechsel an unseren Hochschulen und packen ein Hauptproblem unseres Hochschulsystems an der Wurzel. Wir geben damit unseren Hochschulen einen kräftigen Modernisierungsschub und wir geben vor allem einen starken Anreiz dafür, dass unsere besten Köpfe nicht mehr ins Ausland abwandern, sondern unsere Hochschulen im 21. Jahrhundert dann auch aktiv gestalten. Vielen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Gerhard Friedrich ({0}).

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, jetzt haben Sie mich in aller Frühe völlig verwirrt. ({0}) Sie haben gesagt, wir sprechen heute über die größte Hochschulreform seit den 60er-Jahren, und gleichzeitig kommt aus meinem Büro ein Artikel aus der Zeitung „Die Welt“ mit einem sympathischen Bild von Ihnen; aber die Überschrift heißt: „Reförmchen pflastern ihren Weg“. ({1}) Irgendetwas kann also nicht stimmen. Frau Ministerin Bulmahn, Sie haben wahrscheinlich vergessen, dass wir vor der letzten Bundestagswahl durch die vierte Novelle zum Hochschulrahmengesetz gemeinsam den Weg für umfassende Hochschulreformen in den Ländern frei gemacht haben. Damals war es allerdings noch üblich, dass sich die Regierung um breite Mehrheiten bemüht hat. ({2}) Das zentrale Leitmotiv dieser Reform war: mehr Leistung und auch mehr Profilierung der einzelnen Hochschulen durch mehr Wettbewerb. Auch wir hatten schon damals vor, in einem weiteren Schritt Leistungen durch die Besoldung zu honorieren. Insofern haben wir eigentlich eine gemeinsame Ausgangsbasis. Wir stimmen auch in vielen anderen Punkten überein. Der zweite Schwerpunkt dieser Novelle ist ja eine Neuregelung der Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Hier teilen wir die Auffassung, dass es erstens sinnvoll ist, den Qualifizierungsweg in Deutschland entsprechend dem, was international üblich ist, zu verkürzen, und dass es zweitens angebracht ist, den Post-docs, also den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach der Promotion, die sich auf eine Professur vorbereiten, die Möglichkeit zu geben, früher selbstständig zu forschen und zu lehren. Deshalb unterstützen wir auch die Juniorprofessur. Für uns ist es ein neuer Weg, zusätzliche wissenschaftliche Leistungen nach der Promotion nachzuweisen. Das Monopol der Habilitation haben wir ja bekanntlich schon früher gemeinsam abgeschafft; sie spielt in einigen Fächern kaum noch eine Rolle. Leider will die Regierungskoalition heute nicht nur einen zusätzlichen Qualifikationsweg aufzeigen und damit auch mehr Wettbewerb erzeugen, sondern gleichzeitig die Habilitation faktisch abschaffen. ({3}) In Ihrem Gesetz steht, dass die Habilitation, diese akademische Prüfung, künftig ein Privatvergnügen des Einzelnen ist, die bei der Berufung keine Rolle mehr spielen darf. ({4}) Um nicht missverstanden zu werden, zählen Sie in einer Ergänzung des § 44 Abs. 2 Satz 1 jetzt auch noch die Alternativen zur Juniorprofessur auf und Sie lassen dabei die Habilitation bewusst weg. Interessant ist, dass man sich für die Professur jetzt auch im gesellschaftlichen Bereich qualifizieren kann. Die Gewerkschaftssekretäre haben also eine bessere Chance bei der Berufung als diejenigen, die sich habilitiert haben. ({5}) Sie können unseren Eckpunkten zur Dienstrechtsreform aus dem letzten Jahr entnehmen, dass wir nicht bereit sind, dafür Mitverantwortung zu übernehmen. Sie haben heute den Eindruck erweckt, als hätten Sie sehr viele Vorschläge aus der Wissenschafts- und Hochschulszene aufgegriffen. Tatsächlich stellen wir aber fest, dass Ihnen ein Bündnispartner nach dem anderen abhanden gekommen ist. ({6}) Ihre Pläne zur Habilitation werden, soweit ich es überblicken kann, eigentlich nur noch von der Mehrheit des Wissenschaftsrates unterstützt. Die Hochschulrektorenkonferenz hat Ihnen in mehreren Punkten - auch in Sachen Habilitation - ausdrücklich die Gefolgschaft verweigert. ({7}) Alle großen Verbände der Hochschullehrer, zum Beispiel auch die Hochschulrektorenkonferenz, fordern mehr Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen Fächerkulturen. Darunter mag der eine oder andere sein, der die Juniorprofessur unterlaufen möchte. ({8}) Wir wollen das jedenfalls nicht. Wir haben Ihnen angeboten, die Vorschrift, die das Unterlaufen verhindert und die bereits in Ihrem Gesetzentwurf enthalten ist, dort zu belassen und Sie zu unterstützen. Hätten Sie weitere Vorschläge gemacht, hätten wir Sie auch dabei unterstützt. Meine Damen und Herren, ich komme zum Besoldungsteil. Wir lehnen die zu niedrigen Grundgehaltssätze ab. Sie haben in Ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates festgestellt, dass es keinen Rechtsanspruch auf Zulagen gebe. Das bestätigen wir. Es darf auch keinen Rechtsanspruch auf Zulagen geben. Es kann doch nicht Sinn von Evaluationsverfahren sein, erst einmal bei allen Professorinnen und Professoren das Niveau des Gehalts auf das in der Verfassung geforderte Niveau anzuheben. Eine ständige Evaluation - jeder evaluiert jeden und danach wird gleichmäßig alles angehoben - kann doch nicht sinnvoll sein. Deshalb muss die in der Verfassung geforderte amtsangemessene Besoldung schon durch die Grundgehälter sichergestellt werden. Wir schlagen vor - ich wiederhole das noch einmal, um die Beträge, die wir genannt haben, zu erklären -, das Grundgehalt W 2 am jetzigen Grundgehalt eines 35-jährigen C-3-Professors und das Grundgehalt W 3 am jetzigen Grundgehalt eines 35-jährigen C-4-Professors zu orientieren. Danach würden wir mit ihnen darüber sprechen, welches zusätzliche Einkommen gewünscht wird. Das muss man sich durch Leistung verdienen; man bekommt es nicht einfach, indem man in eine andere Altersstufe aufrückt. Wer weniger bietet, nimmt in Kauf, dass die Attraktivität des Berufs des Hochschullehrers weiter schwindet. In diesem Gesetzespaket gibt es ohnehin noch eine Regelung, nämlich im Bereich des Ruhestandes, durch die die Gefahr besteht, dass die Attraktivität sinkt. Es steht dort nämlich nicht, dass sich alle gewährten Zulagen auch im späteren Ruhegehalt abbilden. Viele Sachverständige haben uns zu Recht auf die Gefahr aufmerksam gemacht, dass das Versorgungsniveau der Hochschullehrer durch diese Reform sinkt. Deshalb appellieren wir an die Länder, die Möglichkeit zu nutzen, auch befristete Zulagen bei der Feststellung des Ruhegehalts zu berücksichtigen. ({9}) Meine Damen und Herren, wir finden es sehr seltsam, dass uns die Länder mehrheitlich auffordern, ihnen durch ein Bundesgesetz zu verbieten, dass sie mehr Geld für ihre Hochschulen bereitstellen. Das ist ein seltsames Selbstverständnis. Wir finden es aber noch seltsamer, dass sich die Bundesbildungsministerin bereit erklärt, dieses Anliegen auch noch zu unterstützen. ({10}) Wenn Sie sagen würden, dass Sie sich diesen „Diktatoren“, den Finanzministern, beugen müssten, dann hätte ich dafür noch ein gewisses Verständnis. Ich habe aber kein Verständnis mehr dafür, dass Sie diese Brüder dann auch noch loben. ({11}) Dazu möchte ich nur feststellen, dass die Reform an der Kostenneutralität zu scheitern droht. ({12}) Sie setzt nämlich die Bereitschaft der Mitglieder von Kollegialorganen voraus, den Spielraum für eigene Leistungszulagen zu reduzieren, damit Spitzenleute, die hohe Kosten verursachen, eingekauft werden können. Diese Sorge haben wir. Deshalb appellieren wir an den Bundesrat bzw. an die Länder, für diese Reform zumindest in der Übergangsphase mehr Geld bereitzustellen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem Kollegen Dr. Reinhard Loske das Wort.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit dem beginnen, was uns eint, und mit dem enden, worin Unterschiede bestehen. Über drei Punkte gibt es ein Einvernehmen, nämlich erstens darüber, dass die Dauer der Qualifikation des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland zu lang ist, zweitens darüber, dass die Postdoktoranden bei uns im internationalen Vergleich über eine unzureichende Selbstständigkeit verfügen, und drittens darüber, dass bei uns das Erstberufungsalter für Professoren zu hoch ist. Wenn man in Deutschland in den Vorolymp derjenigen aufsteigen will, die vielleicht einmal Professor werden könnten, dann muss man 13 Jahre zur Schule gehen, im Durchschnitt sechs Jahre studieren, im Durchschnitt vier bis fünf Jahre promovieren und sich sechs Jahre habilitieren. Nebenbei orientiert man sich noch anders, bekommt Kinder und geht eventuell einer Berufstätigkeit nach. Dann ist man über 40 Jahre alt, wenn man Professor wird. Wir finden, dass das entschieden zu spät ist. - Das ist der erste Punkt. ({0}) Zum zweiten Punkt: Die Selbstständigkeit unserer Postdoktoranden ist im internationalen Vergleich einfach zu gering. Anlässlich der ersten Lesung habe ich schon gesagt: Ich würde es niemals so weit treiben, von der Habilitation als einem Stadium künstlicher Infantilität zu sprechen, wie das manche böse Zungen tun. Umgekehrt kann ich aber auch nicht akzeptieren, wenn beispielsweise Herr Schiedermair feststellt, die Habilitation sei die Gesellenprüfung. ({1}) Man muss einsehen, dass auch im Hochschulbereich das Zeitalter der Gilden und Zünfte vorbei ist. ({2}) Ich habe eher die Sorge, dass manche glauben, sie würden ihrer Gesellen verlustig gehen. Darum geht es nun wahrlich nicht. Dr. Gerhard Friedrich ({3}) Zum dritten Punkt: Das Erstberufungsalter von Professoren ist zu hoch. Es liegt bei 42 Jahren. Ich bin der Letzte, der nicht zugestehen würde, dass es bestimmte Disziplinen gibt, in denen die wissenschaftliche Produktivität jenseits des Alters von 40 Jahren am höchsten ist. Das kann in bestimmten Geisteswissenschaften sein. Auch geht es nicht darum, dem Jugendkult zu huldigen; das ist nicht der Punkt. Erfahrung ist ein wichtiges Gut. Dies wird auch in der Zukunft gerade in der Lehre so sein. Aber eigenständiges Arbeiten mit allen Rechten und Pflichten eines Professors kann im Alter von Anfang bis Mitte 30 beginnen. Das ist auf internationaler Ebene so und das sollte auch bei uns in Zukunft möglich sein. ({4}) Deswegen sehen wir hier Änderungen vor. Wir wollen, dass an unseren Hochschulen junge Menschen eher in Verantwortung kommen. Jetzt komme ich zum vierten Punkt, der uns besonders am Herzen gelegen hat: Herr Kollege Friedrich, ein Problem an unseren Universitäten ist, dass es eine zu geringe Offenheit des Systems nach außen gibt. Die Vereinigten Staaten, die Sie sonst immer in jeder Hinsicht loben, zeichnen sich beispielsweise gerade dadurch aus, dass Menschen aus unterschiedlichen Bereichen, zum Beispiel aus der Wirtschaft, aus der Politik oder aus anderen gesellschaftlichen Bereichen, temporär an die Universität wechseln und dann wieder in ihren Bereich zurückkehren. Solch eine Kultur der Offenheit und des Quereinstiegs fehlt uns bisher. Das soll mit dem vorliegenden Gesetz möglich gemacht werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Da geht es nicht vorrangig um Gewerkschaftssekretäre, wenngleich ich das nicht grundsätzlich ausschließen will, Herr Kollege Tauss. Vor allen Dingen geht es aber natürlich darum, dass Menschen, die in anderen Bereichen, in der Politik, in der Wirtschaft und an anderer Stelle, Erfahrungen gesammelt haben, an die Universität wechseln können. Warum soll nicht jemand, der bei Amnesty International 20 Jahre lang die Abteilung für Menschenrechte geleitet hat, eine Professur im Bereich internationale Menschenrechte annehmen können? Das kann ich mir sehr gut vorstellen. ({5}) So gesehen tun wir hier einiges. Es geht wahrlich nicht darum, irgendwelche Zugangswege zu diskriminieren. Es geht darum - damit komme ich zur Habilitation -, dass in Zukunft die aufnehmende Institution darüber entscheidet, ob jemand qualifiziert ist, und dass nicht die abgebende Institution eine entsprechende Prüfung abnimmt. Das soll derjenige entscheiden, der den Bewerber aufnimmt. Jetzt zum Stellenwert der Habilitation insgesamt - auch darüber haben wir schon oft gesprochen -: Ich unterstütze wahrlich nicht diejenigen, die die Habilitation durch den Kakao ziehen. Aber ich glaube schon, dass man sagen kann: Wenn sich jemand auch in Zukunft habilitieren will, dann heißt das nichts anderes, als dass er oder sie ein zweites Buch schreibt. Ein guter Wissenschaftler wird seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt immer dadurch erhöhen, dass er ein zweites oder ein drittes Buch schreibt. Insofern liegt hier überhaupt keine Benachteiligung vor. Ganz im Gegenteil: Es ist so, dass die Qualifikation zur Professur nicht mehr durch eine Prüfung, sondern durch eine eigenständige wissenschaftliche Leistung nachgewiesen wird. Das ist der neue, tragende Gedanke unserer Reform. Ich komme abschließend zu denjenigen, die dabei sind, sich zu habilitieren, sich gerade habilitiert haben oder darüber nachdenken, sich zu habilitieren. Man muss ganz klar sagen: Sie sind nicht die Verlierer dieser Reform. Im Gegenteil: In Deutschland ist es so, dass in der nächsten Dekade, in den vor uns liegenden acht bis neun Jahren, sehr viele Türen offen stehen. Ungefähr 50 Prozent der Vollprofessuren werden in diesem Zeitraum ersetzt. Da wir logischerweise in diesem Zeitraum bislang kaum Juniorprofessoren haben und vor 2007/2008 wenig Juniorprofessoren haben werden, ist die Chance für diejenigen, die sich gerade habilitiert haben, im Moment besonders groß. Ihnen stehen alle Türen offen. Sie müssen nur hindurchgehen. Das ist der entscheidende Punkt. ({6}) Ich will einen weiteren Punkt nennen: den Doktorandenstatus. Auch er war uns sehr wichtig. Die Doktoranden haben außer in den Kollegs bisher keinen Status. Das wird in Zukunft anders sein. Sie werden einen Status bekommen. Vor allen Dingen haben wir es als Koalitionsfraktionen im Gesetzentwurf durchgesetzt - das war unserer Fraktion besonders wichtig -, dass nicht nur die Promotionsphase besser strukturiert wird, die Betreuung der Promovierenden besser wird und auch zum Gegenstand der Leistungsbezogenheit der Professorentätigkeit wird, sondern dass ihnen darüber hinaus die Möglichkeit gegeben wird, akademische Schlüsselqualifikationen wie Mittelakquisitionen, Projektmanagement und eigenständige Lehre an den Universitäten zu erlangen. Das ist für die Doktoranden ein wichtiger Fortschritt. Das bereitet sie besser auf das Berufsleben vor. Ich fasse zusammen: Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, werden die deutschen Hochschulen jünger, offener und internationaler. Als Aufgabe muss man in der Tat markieren: Wir Bildungspolitiker müssen aufpassen, dass die Finanzpolitiker in dieser Diskussion nicht die Hegemonie gewinnen. ({7}) Die Ausgaben für Bildung müssen steigen. Das muss unsere gemeinsame Aufgabe sein. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach für die Fraktion der Freien Demokraten.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider wird im Bundestag nicht über die Intentionen einer Reform abgestimmt, Frau Buhlmann; denn diese teilen wir voll und ganz: Verkürzung der Qualifikationsphasen, Attraktivität für Spitzenforscher auch aus dem Ausland, Bezahlung nicht nach Dienstalter, sondern nach Leistung. Das war der auch von Ihnen selbst klar definierte Auftrag bei dieser Reform. ({0}) Genauso klar ist, dass Sie diesen Auftrag nur sehr unzureichend erfüllt haben. ({1}) Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Was Sie uns heute vorlegen, sind ein HRG-Rumpfgesetz und ein Professorenbesoldungsgesetz, welches in wenigen Tagen im Strudel der Bundesratsattacken versinken wird. ({2}) Selbstverständlich ist die Einführung der Juniorprofessur richtig. Auch wir sind der Meinung: Junge Wissenschaftler sollen früher selbstständig forschen können. Aber die von Ihnen gewählte Konstruktion krankt nach Meinung der FDP an ihrer Ausgestaltung. Wie soll neben den Lehrverpflichtungen, den Beteiligungen an Prüfungen usw. eine Profilierung durch Forschung erfolgen? Was soll aus denjenigen werden, die nach sechs Jahren keine Professur erhalten? Was ist außer dem Verlassen der Hochschule die Perspektive? ({3}) Warum gehen Sie mit der Axt an die Habilitation? Sie können herumreden - das haben Sie auch versucht -, wie Sie wollen: Faktisch schaffen Sie die Habilitation ab. Die FDP will auch bei den Qualifikationswegen Wettbewerb. Deshalb wollen wir es den Hochschulen selbst überlassen, ob sie ihren akademischen Nachwuchs über Habilitation, Juniorprofessur oder Qualifikation in der Wirtschaft gewinnen. ({4}) Das ist der entscheidende Unterschied in unserer Denkweise, Frau Bulmahn. Was Sie machen, ist nicht die Autonomie der Hochschulen, sondern das Diktat des Staates. ({5}) Die Unzulänglichkeit Ihrer Gesetzentwürfe betrifft aber auch das ganze Thema Finanzierung. Sie führen die Juniorprofessur ein, ohne die Finanzierung abzusichern. Damit finanzieren Sie sie auf Kosten der Assistentenstellen. Der Einstieg in die leistungsorientierte Bezahlung ist richtig. Trotzdem werden die Hochschulen weiterhin Spitzenwissenschaftler nicht spitzenmäßig bezahlen können. Die Länder ziehen nicht mit. Wenn Sie sich bei den Ländern nicht durchsetzen, Frau Buhlmahn, dann bleibt dieses Gesetz reine Fassade. Das ist der Augenblick der Wahrheit. Sie wissen, dass Geld erforderlich ist, um aus dem Spatz, den Sie im Augenblick in der Hand haben, eine Taube zu machen. Dann müssen Sie, Frau Bulmahn, auch selbst etwas ausgeben. Sie sind zwar nicht der Zahlmeister der Länder, wie Sie das immer so schön formulieren. Aber ohne die notwendige Finanzausstattung pfeift der Wind durch alle Ecken dieses Gesetzes. Hinzu kommen wesentliche Strukturmängel. Das Thema Beamtentum haben Sie nicht angepackt. Das Beamtentum an den Hochschulen hätte längst abgeschafft werden müssen. Sie nehmen außerdem einem großen Teil der Habilitanden und der Promovierenden ihre Zukunftschancen, weil sie einerseits für die Juniorprofessur zu alt sind und weil andererseits die Assistentenstellen abgebaut werden. Frau Bulmahn, Sie haben im Verfahren zum eigenen Gesetzentwurf zahlreiche Änderungsanträge gestellt. Die Anträge der Oppositionsfraktionen wurden rundweg abgelehnt. Bereitschaft zum Kompromiss konnten wir nicht erkennen. ({6}) Wir können damit leben, dass Sie den Kompromiss nicht gesucht haben. Die Betroffenen können es sicherlich nicht. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht die Kollegin Maritta Böttcher.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht das Gerede über die Herstellung der Chancengleichheit, sondern die Herstellung der Chancengleichheit ist Verfassungsgebot. Deshalb stellen wir heute den Antrag, die Erhebung von Studiengebühren im HRG zu untersagen. Frau Ministerin, das ist ein Zitat aus Ihrer Rede zur vierten HRG-Novelle, die Sie kurz vor der letzten Bundestagswahl gehalten haben. Sie haben 1998 eine Weiterentwicklung des HRG versprochen. Davon ist heute keine Rede mehr. Nutzen Sie die Chance und stimmen Sie unserem Änderungsantrag zur Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums zu. Dann können wir auch gemeinsam das neue HRG verabschieden. Die Studierenden warten darauf. ({0}) Noch einmal zurück zum Jahr 1998: Frau Abgeordnete Bulmahn beklagte in der abschließenden Beratung der vierten HRG-Novelle: Studierende haben ein Recht darauf, ihre Anregungen in den Prozess der inhaltlichen und strukturellen Modernisierung der Hochschulen einfließen zu lassen. Dazu gehört auch die aktive Auseinandersetzung mit gesamtgesellschaftlichen Problemen. ({1}) Deshalb wollen wir den Bundesgesetzgeber darauf verpflichten, für ein Mindestmaß an Einheitlichkeit im Bundesgebiet zu sorgen. Die Länder sollten verpflichtet werden, an allen Hochschulen die Bildung von verfassten Studentenschaften zuzulassen. ({2}) Sie haben bis heute keine Zustimmung zu dieser Forderung. Nun meinen SPD und Grüne, der Zeitpunkt dafür sei ungünstig. Ich frage Sie: Welcher Zeitpunkt ist günstiger als der Tag, an dem der Bundestag über die Änderung des HRG entscheidet? ({3}) Stimmen Sie also unserem Gesetzentwurf zu, wenn Sie es wirklich ernst meinen. Auch die vorgelegte Reform des Hochschuldienstrechts ist eine unvollkommene, ja zwiespältige Reform. Die PDS erkennt durchaus an, dass das Fünfte Gesetz zur Änderung des HRG im Hinblick auf die verknöcherte Personalstruktur der Hochschulen eine ganze Reihe von Fortschritten bringt. So begrüßen wir insbesondere die Einführung der Juniorprofessur. Doch Ihr Reformgesetz ist halbherzig. Von den Studierenden war schon die Rede. Darüber hinaus denke ich an die Wissenschaftlerinnen. Nach wie vor kommt an Deutschlands Hochschulen in der höchsten Besoldungsgruppe C 4 auf 17 Professoren nur eine Professorin. Frau Ministerin, ich begrüße es zwar sehr, dass Sie den Anteil der Professorinnen bis 2005 auf 20 Prozent steigern wollen. Aber dann müssen wir endlich zu Maßnahmen kommen, die wirklich greifen. Mit Appellen und gutem Willen der Hochschulleitungen ist es nicht getan. ({4}) Die PDS beantragt daher heute, eine Vorrangregelung in das Hochschulrahmengesetz aufzunehmen, wonach 40 Prozent aller Stellen, insbesondere auch die der neu zu besetzenden Stellen für Juniorprofessoren, für qualifizierte Frauen reserviert werden. Wenn sich Gleichstellung bei Ihnen nicht in Lippenbekenntnissen erschöpfen soll, dann stimmen Sie unserem Antrag zu! Zu den vergessenen Interessengruppen gehören schließlich die rund 100 000 Angehörigen des akademischen Mittelbaus. Wir brauchen neben den Qualifikationsstellen mehr Funktionsstellen, auf denen unbefristet beschäftigte Wissenschaftler Wissenschaft als Beruf ausüben können. Wir fordern Sie daher auf, den Weg in eine tarifliche Regelung der Beschäftigungsbedingungen für das wissenschaftliche Personal freizumachen. Schließlich beklagen die Doktorandinnen und Doktoranden zu Recht, in der Dienstrechtsreform vergessen worden zu sein. Die Einführung eines Doktorandenstatus in das HRG ist zwar schön und gut; worauf es aber vor allem ankommt, ist eine soziale Absicherung. Das Mindeste wäre die Einbeziehung in die gesetzliche Krankenversicherung. Die PDS hat einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt; Sie brauchen also nur noch zuzustimmen. Meine Redezeit ist beschränkt; zum Professorenbesoldungsreformgesetz daher zum Schluss nur soviel: Die PDS begrüßt grundsätzlich das Anliegen einer Stärkung der Leistungsorientierung des wissenschaftlichen Personals. Wir halten es aber für falsch, dieses Ziel über das Beamtenrecht zu verfolgen. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch auf diesem Feld die Tarifpartner am kompetentesten wären, eine wissenschaftsadäquate Lösung zu finden. Ich hätte mir an diesem Punkt von der Bundesregierung etwas mehr Mut zur Deregulierung, das heißt, zu Wissenschaftsautonomie und mehr Partizipation der Betroffenen, gewünscht. Darauf kommt es an. ({5}) Stimmen Sie unseren Änderungsanträgen zu. Dann können wir auch dem vorgelegten Gesetzentwurf zustimmen. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Peter Eckardt.

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kenne keinen Gesetzentwurf, bei dem ich im letzten Jahr soviel diskutiert habe, in Deutschland herumgefahren bin und mit Betroffenen an den Hochschulen gesprochen habe, wie es bei den Entwürfen zu den Hochschulreformen der Fall ist. Herr Thomas Rachel, ich habe bei dieser Gelegenheit sehr viel Zustimmung gefunden. Das trifft sowohl auf die Hochschulrektorenkonferenz als auch auf den Wissenschaftsrat zu. Ich denke, in diesem Punkt gibt es keinen Zweifel. Man muss fairerweise aber auch bekennen, dass es kritische Töne gegeben hat. Diese kritischen Töne haben sich im Wesentlichen auf zwei Faktoren bezogen. Der erste Bereich betraf die perspektivisch vermeintlich schlechter werdende Finanzlage, der zweite Bereich bezog sich auf das Zauberwort „Kostenneutralität“. Um das deutlich zu machen: Mit dem Verweis auf Kostenneutralität wird der Versuch unternommen, bei dieser Reform den gesamten Rahmen der Finanzierung nicht nach unten zu fahren. In § 34 des Entwurfs zum Professorenbesoldungsreformgesetz - Herr Minister Frankenberg, Sie werden ja nach mir noch zu diesem Thema reden - steht ganz deutlich: Überschreitungen des Vergaberahmens sind in Höhe von durchschnittlich zwei vom Hundert zulässig. Sie haben, wenn ich es richtig gehört habe, nach Antritt Ihres Ministeramts formuliert, Sie lehnten Kostenneutralität ab und wollten den Vergaberahmen für die Professorengehälter nach Entscheidung des jeweiligen Landes um jährlich bis zu zwei Prozent ausgedehnt haben. Das halte ich für in Ordnung und denke, dass es in diesem Punkt keinen Dissens geben sollte. Es wäre gut, wenn Sie das aufklärten. In den fünf Minuten, die mir heute Morgen zur Verfügung stehen, kann ich die Diskussion leider nur knapp zusammenfassen und bewerten: Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt und unterstützt die vorgelegten Reformgesetzentwürfe zur Modernisierung der deutschen Hochschulen und wird ihnen zustimmen. ({0}) Um den Erfolg der deutschen Wissenschaft im internationalen Wettbewerb sicherzustellen, wurde diese Reform von allen ernst zu nehmenden Experten schon seit langem gefordert. Sie muss jetzt endlich politisch in die Realität umgesetzt werden. Dies ist unsere Verantwortung. Wir alle sollten daher den Reformplänen zustimmen. Kritische Positionen, die sich mit den vermeintlich sinkenden Chancen beim persönlichen Fortkommen befassen, nehme ich auch heute noch sehr ernst. Sie können aber die Richtigkeit der grundlegenden Strukturveränderungen nicht erschüttern. Diese Reform verschafft der deutschen Wissenschaft und damit auch unserem Land viele neue Chancen und Möglichkeiten. Unsere Wissenschaft und Forschung und damit auch die Qualität der Lehre werden mit diesen Reformen den Weg an die Spitze dieser Welt nicht verfehlen und vorhandene Defizite überwinden. Die Anhörung im Hause sowie die vielen im letzten Jahr zu diesem Thema geführten Gespräche haben gezeigt, dass die Betroffenen an den Hochschulen die Reform nicht nur hinnehmen, sondern sie auch aktiv gestalten und unterstützen werden. In diesem Punkt bin ich mir sehr sicher. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen an den Hochschulen, dieser Reform mit Engagement zu einer erfolgreichen Realisierung zu verhelfen. Auch die Länder sind aufgefordert, in ihrem Entscheidungsbereich, der sehr breit ist, diese Reform zu ergänzen, mit Leben zu erfüllen und sie fortzusetzen. Die Hochschulen waren immer dann sehr erfolgreich, wenn sie mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf die Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft eingegangen sind. Auch dieses Ziel soll durch die Reformgesetze verfolgt werden. Die Habilitation ist eine Prüfungsleistung, die für diese neuen Fähigkeiten sehr entbehrlich ist. In der tausendjährigen Geschichte europäischer Hochschulen hat die Habilitation nur in wenigen Jahren eine Rolle gespielt und sie war auch damals für die akademische Leistungsfähigkeit nicht von besonderer Bedeutung. ({1}) Dass die Habilitation von Herrn Rachel immer noch verteidigt wird - zum Beispiel vorgestern im „Rheinischen Merkur“ -, obwohl viele seiner eigenen Leute völlig andere Positionen vertreten, ist zumindest merkwürdig. Politisch wichtig wäre es vielmehr, alle Gremien und Institutionen an den Hochschulen an unsere Erwartung zu erinnern, dass die Reformen an den Hochschulen dazu genutzt werden, Frauen die gleichen Karrierechancen einzuräumen wie Männern, um den Anteil der Frauen in der Wissenschaft zu erhöhen. Hier wäre ein großes Betätigungsfeld für alle die, die hier Kritik üben. ({2}) Ich fasse zusammen. Die geplanten Änderungen zum Hochschulrahmengesetz und zur Besoldungsreform werden unsere Hochschulen in die Lage versetzen, den internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe erfolgreich zu bestehen. ({3}) - Da werden wir abwarten. Hochschulen sind in der Regel in der Lage, auf das, was ihnen vorgegeben wird, sehr angemessen zu reagieren und so ihren eigenen Erfolg sicherzustellen. ({4}) Ich bitte Sie deshalb, diesen Entwürfen zuzustimmen. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für das Land Baden-Württemberg erteile ich Herrn Minister Professor Dr. Peter Frankenberg das Wort. ({0}) Dr. Peter Frankenberg, Minister ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Hochschulen in Deutschland betreiben Forschung, Entwicklung und Lehre auf hohem Niveau - und das bereits jetzt. Aber es gibt viele Randbedingungen, die die Hochschulen hemmen, international voll wettbewerbsfähig zu sein, und Wettbewerb ist der einzige Motor für Leistung. ({2}) Wenn die Wettbewerbschancen erhöht werden sollen und wenn man schon über ein modernes Dienst- und Tarifrecht redet, dann gehörte dazu, dass zumindest auch die ZVS auf den Prüfstand gestellt wird. ({3}) Wir brauchen keine Detaillösungen, die nicht in das System passen, sondern einen umfassenden Ansatz von Hochschulreform. Wir wollen in der Tat mehr Leistungsanreize im Besoldungssystem und wir wollen eine größere Attraktivität der Hochschulen für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Wir sind uns also über die Ziele einer Reform größtenteils einig, aber nicht über die Ausprägung dieser Reform. Denn wie sonst ist es zu erklären, dass den Gesetzentwürfen der Ministerin Bulmahn eigentlich von allen Seiten, nicht nur von der Opposition, nicht nur von den Ländern, sondern auch von der Wissenschaft - wer die Anhörungen wirklich sorgsam verfolgt hat, weiß das -, eine geharnischte Kritik entgegengestellt wird? ({4}) - Ich kann lesen. Durch diese Gesetze wird sich die Hochschullandschaft in Deutschland erheblich verändern; es fragt sich nur, ob zum Besseren hin. ({5}) Warum die Kritik? Weil diese Reform letztlich zum Gegenteil dessen führen wird, was ihr eigentliches Ziel ist. Wir könnten uns über die Ziele verständigen. Dann sollten wir uns auch über den Inhalt der Reform verständigen können; denn - lassen Sie mich das klarstellen - ich bin nicht gegen eine Reform des Hochschuldienstrechts, ich bin nur gegen diese Reform des Hochschuldienstrechts. ({6}) Es gibt eine berechtigte Kritik der Länder, es gibt eine berechtigte Kritik der Oppositionsparteien und es gibt konstruktive Änderungsanträge der Oppositionsparteien hier im Bundestag. Ich verstehe überhaupt nicht, warum man diese nicht in das Gesetz einbaut; denn diese Anträge sind rein sachlicher Natur. Wenn Sie hier eine Sachdebatte führen, in der Sache argumentieren und das Gesetz in der Sache voranbringen wollen, dann stimmen Sie den Änderungsanträgen zu. Dann kann aus dieser Reform noch etwas Gutes werden. ({7}) Mein erster Kritikpunkt: Wenn man den Gesetzentwurf genau liest, dann stellt man fest, dass die Entwurfsverfasser von einer Kostenneutralität ausgehen. Ein Vergaberahmen ist schön und gut, aber das kommt mir so vor, wie wenn hier ein kleines Bild gekauft, in einen großen Rahmen gestellt und von ihm dann gesagt würde: Jetzt haben wir ein großes Bild. - Der Rahmen nützt mir aber nichts; ich brauche Mittel. Wer aber in der derzeitigen finanzpolitischen Situation in Deutschland glaubt, es stünden mehr Mittel für die Professorenbesoldung zur Verfügung, dem ist wie durch Nebel der Blick versperrt. ({8}) - Es geht nicht um den Finanzminister, sondern um die Wirtschaftskraft dieses Landes. Wir könnten lange darüber diskutieren, wer diese Wirtschaftskraft fördert oder nicht. ({9}) Ich habe, auch in der Öffentlichkeit, folgenden Satz zur Kostenneutralität geprägt: Es gibt einen bulmahnschen Dreisatz, der nicht aufgeht. Man kann nicht den einen, nämlich den Spitzenprofessorinnen und -professoren - es handelt sich um Marktspitzenprofessoren -, sehr viel mehr geben, den anderen aber versprechen: „Es gibt nicht weniger“, und gleichzeitig sagen: Es ist kostenneutral. Diese Arithmetik - da haben unsere Finanzminister Recht - geht nicht auf. ({10}) - Es stimmt, dass das kein richtiger Dreisatz ist. ({11}) Das ist eben das Problem der Arithmetik dieser Reform. ({12}) Zweiter Kritikpunkt: Die vorgesehenen Grundgehälter von 7 300 DM und 8 800 DM können nach dem Gesetz auch nur als Grundgehälter gezahlt werden. Im Hinblick auf die Konkurrenzfähigkeit ist es furchtbar - allein schon aus Gründen der Optik -, dass derartig niedrige Gehälter überhaupt im Gesetz stehen. Es ist dadurch möglich, dass Personen, die erst vor kurzem die Hochschule absolviert haben, mehr verdienen als die Professoren, bei denen sie Examen gemacht haben. Auf die Grundgehälter kommt es wegen des Vergaberahmens an; denn der Vergaberahmen engt die Leistungszulagen ein. Nur 40 Prozent der Zulagen zur Grundvergütung sollen ruhegehaltfähig sein. Aus diesem Grunde wird - wir haben sorgfältig nachgerechnet - das Lebenseinkommen vieler Professorinnen und Professoren in Deutschland in Zukunft abgesenkt sein. ({13}) Ich frage mich, ob wir mit der Absenkung des Lebenseinkommens die Attraktivität des Hochschulsystems in Deutschland für die Professorinnen und Professoren erhöhen werden.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Minister Frankenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Peter Eckardt? Dr. Peter Frankenberg, Minister ({0}): Bitte sehr.

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ist meine Information richtig, dass Sie als Vizepräsident der HRK diesen Reformgesetzen zugestimmt haben? Dr. Peter Frankenberg, Minister ({0}): Diese Information ist nicht richtig. Ich werde auf den Beschluss der HRK nachher noch zu sprechen kommen. Ich war das einzige Präsidiumsmitglied der HRK, das gegen diesen Reformentwurf gestimmt hat. ({1}) Ich werde Ihnen zum Schluss noch erklären, warum das so war. Außerdem werde ich Ihnen meine Interpretation der Beschlüsse der HRK vom 6. November geben. ({2}) - Das ist die richtige Interpretation; schließlich war ich sechs Jahre lang Vizepräsident. Wir haben im baden-württembergischen Wissenschaftsministerium die Konsequenzen dieser Reform sorgfältig durchgerechnet. Ich nenne Ihnen einige Beispiele: Ein zukünftiger W-3-Professor an einer Fachhochschule wird, wenn man die zur Verfügung stehenden Minister Dr. Peter Frankenberg ({3}) Mittel und den Vergaberahmen betrachtet, weniger verdienen, als ein C-3-Professor an einer Fachhochschule heute verdient. Wie soll ich dies unseren Fachhochschulprofessoren als eine attraktive Reform verkaufen? ({4}) Ein anderes Beispiel ist der Wegfall des Übergangs von C 2 nach C 3 an den Fachhochschulen. Für 50 Prozent der Professorinnen und Professoren an den Fachhochschulen ergibt sich daraus eine Schlechterstellung gegenüber ihrem derzeitigen Einkommen. Die Fachhochschulen sind die eigentlichen Verlierer der durch die Bundesregierung initiierten Reform. ({5}) In Ergänzung zu dem vom Kollegen Friedrich angesprochenen Thema Juniorprofessuren, möchte ich noch einen Satz anführen. Die Einführung von Juniorprofessuren ist, wie das Gesetz, im Grunde eine gute Idee; die Ausführung ist allerdings schlecht gemacht: ({6}) Die Grundvergütung ist auch hier starr. Wir brauchen aber flexible Grundvergütungen. Wir können dieses Amt mit dieser Grundvergütung nicht attraktiv gestalten. Die Berufungsverfahren waren auch in der Vergangenheit entscheidend. Im Übrigen sei darauf verwiesen, dass wir bereits heute 50 Prozent der Professuren - auch an den Universitäten - ohne Habilitation besetzen. Es stellt sich die Frage nach den Alternativen. Wir könnten Spitzenprofessoren im außertariflichen Angestelltenverhältnis bezahlen. Ich persönlich sehe nämlich nicht ein, dass man so viel wie Spitzenkräfte in der Wirtschaft zu Bedingungen des Berufsbeamtentums verdienen kann. Auch dieser Frage hätten Sie sich stellen müssen, wenn Sie wirklich eine Reform hätten machen wollen. ({7}) Zum Abschluss noch einige Ausführungen zur Interpretation des Beschlusses der Hochschulrektorenkonferenz vom 6. November. Die Hochschulrektorenkonferenz hat einstimmig erklärt: Wir unterstützen die Reform der Bundesregierung nicht länger. Das ist der entscheidende Satz. ({8}) Ich kann ihn als ehemaliger Vizepräsident der HRK sehr gut interpretieren. Die HRK unterstützt wie wir die Ziele der Reform, ist aber bezüglich der Juniorprofessuren und der Ausgestaltung des Hochschuldienstrechtes der Meinung, dass es so nicht geht und dass die Reform negative Auswirkungen haben wird. Meine Damen und Herren, gehen Sie auf die Änderungsvorschläge der CDU/CSU-Fraktion ein. Verbessern Sie das jetzt vorliegende Gesetz. Wenden Sie Schaden vom deutschen Hochschulsystem ab. Vielen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Peter Enders.

Peter Enders (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002647, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es passt ja richtig gut, dass jetzt nach Herrn Minister Frankenberg ein Innenpolitiker spricht. Ich möchte mich deshalb ganz auf die beamtenrechtlichen Aspekte konzentrieren. Es ist in der Tat so, dass heute schon Professoren als Angestellte beschäftigt werden können. Es liegt ja nun an den Ländern, von welcher Möglichkeit sie Gebrauch machen. Wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass dieses Gesetz zustimmungsbedürftig ist; deshalb kann man nicht an den Wünschen der Länder vorbei ein Gesetz machen. Wenn viele Länder dies nun einmal wünschen, dann müssen wir schauen, ob diese Wünsche ins System passen und umgesetzt werden können. Lassen Sie mich vor allen Dingen auf zwei strittige Sachverhalte eingehen, die Sie angeführt haben, erstens auf das Thema der Grundbezüge: In die Beschlussvorlage, wie sie Ihnen jetzt vorliegt, sind die Besoldungserhöhungen aus den letzten zwei Tarifrunden eingearbeitet worden. Wir müssen also von höheren Beträgen ausgehen. Wenn Sie dann einen Vergleich anstellen, stellen Sie fest, dass diese Verdienstmöglichkeit durchaus der eines C-3-Professors in der sechsten Besoldungsdienstaltersstufe entspricht. Ganz so schlecht ist das also nicht. Hier setzt natürlich dann die Auseinandersetzung darüber an, was Grundbezüge bzw. Mindestbezüge sind. Natürlich können bei einer Berufung schon Zulagen vereinbart werden. Insoweit kommt man da zu vernünftigen Ergebnissen. Die zweite Bemerkung zum Thema der Ruhegehaltfähigkeit: Die 40 Prozent sind ja nicht aus dem hohlen Bauch gegriffen worden. Wenn Sie sich die Struktur der bisherigen Bezüge ansehen, stellen Sie fest, dass die Differenz in der Tat bei den Leistungszulagen liegt, wir uns also von der Ruhegehaltsfähigkeit der Bezüge wieder den alten Besoldungsstrukturen annähern. Auch insoweit ist dieses Gesetz ganz in Ordnung. ({0}) Lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches zum Thema der Leistungsbezüge sagen. Ich finde es in Ordnung und sehe auch keinen Widerspruch zum Art. 5 des Grundgesetzes, in dem es um Freiheit von Wissenschaft und Forschung geht, darin, dass Evaluation durchgeführt wird und Wissenschaftler, die im Bereich der Forschung tätig sind, bewertet werden. Bei der Ausgestaltung der Leistungsbezüge und der Festlegung des Verfahrens sind ja sowieso die Länder gefordert. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass wir anders als in der Dienstrechtsreform von 1997 diesmal eine Verfallsklausel eingeführt haben. Bis zum 31. Dezember 2004 muss das unbedingt von den Minister Dr. Peter Frankenberg ({1}) Ländern umgesetzt werden, sodass wir endlich im Dienstrechtsbereich zu Leistungsbezügen kommen und nicht wie bisher sehr viele Länder dieses Problem einfach vor sich her schieben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den Fachhochschulen sagen. Es ist gerade von Ihnen darauf hingewiesen worden, dass es in der Tat eine ganze Reihe von C-2-Professoren gibt, die im Prinzip auf C-3-Stellen sitzen. Das Verfahren ist so offen, Herr Minister Frankenberg, dass sich auf eine neu ausgeschriebene W-2-Stelle durchaus ein C-2-Professor bewerben und im Rahmen der Verhandlungen während des Berufungsverfahrens Zulagen aushandeln kann, wodurch er nachher genauso gut wie ein C-3-Professor dasteht. Das heißt: Derjenige, der sich bewährt hat, kommt genauso gut weg wie im alten System. Ihren Vorwurf können Sie also nicht aufrechterhalten. ({2}) - Auch diesen Vorwurf nicht. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich damit zum Schluss kommen. Die vorgelegte Dienstrechtsreform ist voll und ganz in sich stimmig. Ich wünsche, dass die Länder sie wirklich umsetzen. Damit ist der Weg in eine Wissenschaftslandschaft des 21. Jahrhunderts frei. Wir kommen in der Tat zur Konkurrenzfähigkeit der deutschen Hochschulen. Lassen Sie uns auf diesem Weg gemeinsam vorangehen! Danke. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für das Land Hessen erteile ich das Wort der Frau Staatsministerin Ruth Wagner. Ruth Wagner, Staatsministerin ({0}): Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So habe ich mir immer meine Zeitzeugenschaft zu Beginn einer neuen Ära, einer Jahrhundertreform vorgestellt. ({1}) Was den heutigen Zeitungen und der öffentlichen Meinung zufolge der großen Mehrheit der deutschen Hochschulen dienen soll, ist ein Reförmchen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, schicken sich an, ein klassisches Gesetz der Halbschwangerschaft zu beschließen. Das ist Tatsache. ({2}) Ich will dies in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht, umreißen. Erstens. Meine Damen und Herren, Sie behaupten, internationale Wettbewerbsfähigkeit herzustellen und die Leistungsfähigkeit der Hochschulen zu erhöhen. ({3}) Das starre Grundgehalt bei der Professorenbesoldung, das Sie vorschlagen und das schon in der ersten Stufe einen Leistungszuschlag verlangt, um das heutige Grundgehalt zu erreichen, ({4}) bedeutet in Wahrheit die Quadratur des Kreises, die auch Sie nicht zu lösen in der Lage sind. ({5}) Wenn Sie als Bundesregierung im Verein mit der Mehrheit Ihrer Finanzminister ({6}) Kostenneutralität sozusagen zur zweiten Säule dieser Reform machen, ({7}) dann werden Sie eine leistungsbezogene Besoldung in Deutschland nicht erreichen. ({8}) Gemeinsam mit meiner Fraktion habe ich den Vorschlag gemacht, aus dem auszubrechen, was in Wahrheit das Handicap einer Besoldungsreform in Deutschland ist, nämlich aus dem deutschen Beamtenrecht. ({9}) Sie, Frau Bulmahn, sagen, frei verhandelte Verträge seien heute möglich. ({10}) Aber doch nicht mit diesen beamtenrechtlichen Vorstellungen! ({11}) Es ist doch nicht wahr. Sie können doch heute niemanden aus Chicago oder Texas bekommen, wenn Sie nicht wirklich auch an die Versorgungsleistungen herangehen. ({12}) Hohe Spitzengehälter verpflichten die Leute dazu, eigenständige Altersvorsorge zu treffen. ({13}) Das können sie nicht, wenn Sie bei diesen Sätzen bleiben. ({14}) Deshalb hat das Land Hessen in den Bundesrat den Vorschlag eingebracht, wenigstens Bandbreiten zu schaffen, die Flexibilität erlauben. Das haben Sie mit Ihrer Mehrheit abgelehnt. ({15}) Ich werde das erneut in den Bundesrat einbringen. Lassen Sie mich zweitens zur Juniorprofessur sagen: ({16}) Ich halte die Schaffung der Juniorprofessur für einen guten zusätzlichen Weg, für ein Modell zur Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Drei von fünf hessischen Universitäten sind in den Modellversuch, den Frau Bulmahn dankenswerterweise eröffnet hat, eingestiegen. ({17}) Wir unterstützen diesen Versuch mit hessischem Geld. ({18}) - Marburg und die Humboldt-Universität waren die beiden ersten; Frankfurt und Darmstadt folgen. Meine Damen und Herren, was wir nicht wollen, ist, dass dieser Weg zur Regel wird, anstatt nach wie vor Vielfalt gelten zu lassen. Das ist der eigentliche Punkt. ({19}) Drittens. Damit ist verbunden, dass Sie ein verkapptes Habilitationsverbot einführen wollen. ({20}) Frau Bulmahn, die Position, die Sie hier vortragen, ist von der Realität weit entfernt. Die Habilitation hat international nach wie vor ein hohes Ansehen und einen hohen Rang. ({21}) Wir müssen uns mit diesem Qualifikationsnachweis überhaupt nicht hinter angelsächsischen Mustern verstecken. ({22}) Deshalb sage ich Ihnen: In den Geisteswissenschaften, in den Rechtswissenschaften und in den Wirtschaftswissenschaften ist die Habilitation als Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation notwendig. ({23}) Trotzdem haben wir - um dem vorzubeugen, Herr Kollege - in Hessen in den zwei Jahren, in denen ich im Amt bin, 50 Prozent der Professorenstellen ohne Habilitation ausgeschrieben. Dies ist richtig, weil wir den Wechsel von der Wirtschaft in die Wissenschaft, besonders in die Ingenieurwissenschaften und Naturwissenschaften, wollen. ({24})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Ministerin Wagner, Sie haben selbstverständlich das Recht, über Ihre Redezeit selbst zu verfügen. Aber ich muss Sie darauf hinweisen, dass die angemeldete Redezeit abgelaufen ist. Ruth Wagner, Staatsministerin ({0}): Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Deshalb sage ich Ihnen, meine Damen und Herren: Da wir wirklich wollen, dass aus diesem Reförmchen noch eine tragfähige Reform wird, werden wir im Bundesrat konstruktive Nachbesserungen einbringen. Daher wird das Land Hessen den Vermittlungsausschuss in dieser Frage anrufen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes und anderer Vorschriften auf den Drucksachen 14/6853 und 14/7336. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU sowie drei Änderungsanträge der Fraktion der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7371? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7389? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7392? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7393? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion abgelehnt. Ich bitte nunmehr diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Staatsministerin Ruth Wagner ({0}) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Absicherung der verfassten Studierendenschaft auf Drucksache 14/5760. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7336, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 20 b: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/7336. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3900 zur Personalstruktur- und Dienstrechtsreform an Hochschulen und Forschungseinrichtungen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf der Drucksache 14/4382 mit dem Titel „Eckpunkte für eine Reform des Hochschuldienstrechts“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7336 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/4415 mit dem Titel „Dienstrechtsreform an den Hochschulen konsequent für eine umfassende Hochschulreform nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/6212 mit dem Titel „Bericht über die Erfahrungen bei der Anwendung des Hochschulzeitvertragsgesetzes“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Tagesordnungspunkt 20 c: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der Professorenbesoldung, Drucksachen 14/6852 und 14/7356. Der Innenausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/7381? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Markus Meckel, Werner Schulz ({2}) sowie weiteren Abgeordneten Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals auf der Berliner Schlossfreiheit - Drucksachen 14/3126, 14/7209 Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel ({3}) Dr. Norbert Lammert Hans-Joachim Otto ({4}) Die Fraktionen haben sich auf eine Aussprachedauer von einer Dreiviertelstunde verständigt. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich erteile als erstem Redner dem Kollegen und Parlamentarischen Staatssekretär Stephan Hilsberg für die Fraktion der SPD das Wort.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung: Ich stehe hier in Solidarität mit denen, die diesen Antrag für ein Einheits- und Freiheitsdenkmal auf der Berliner Schlossfreiheit gestellt haben. Selbst habe ich diesen Antrag nicht mit eingebracht und ich hatte mir das damals auch genau überlegt. Aber die Intentionen dieses Antrags habe ich immer geteilt. Mich haben eher taktische Momente von den Antragstellern unterschieden. Überhaupt ist mein Eindruck, dass die breite Mehrheit dieses Hauses Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters die hohe Wertschätzung der in dem Antrag enthaltenen zentralen Werte von Einheit und Freiheit teilt und gemeinsam der Auffassung ist, dass diese zu den höchsten Gütern unseres Volkes zählen. ({0}) Dies wird sich auch in unserer heutigen Debatte zeigen. Schwierig wird es immer dann, wenn Einheit und Freiheit ideologisch instrumentalisiert werden. Manchmal reicht es schon, wenn sie parteipolitisch instrumentalisiert werden. ({1}) Meine Damen und Herren, heute ist der 9. November. Vor zwölf Jahren war die Maueröffnung, vor 63 Jahren die Kristallnacht. Damals wurden in deutschen Städten Juden wie Vieh gejagt. Vor 83 Jahren wurde aus einem Fenster dieses Hauses heraus die spätere Weimarer Republik ausgerufen. Welch ein Auf und Ab ist mit diesem Datum verbunden! Der heutige Tag ist für diese Debatte wirklich gut gewählt. Der 9. November ist mit den höchsten und besten, aber auch mit den niedrigsten und traurigsten Gefühlen unseres Volkes verbunden. Er trifft unsere Gesellschaft in einem zentralen Punkt: in unserem Selbstverständnis. Was wollen wir als Bürger, als Gesellschaft, aber auch als Nation sein? Bekanntlich konstituiert sich der Mensch erst durch seine Freiheit als Bürger. Erst in Freiheit kann er entscheiden, Verantwortung ausüben und am politischen Leben sowie an der politischen Willensbildung teilhaben. Erst in Freiheit kann ein Mensch bestimmen, was aus ihm werden soll, erst in Freiheit kann er mit entscheiden, was aus seiner Gesellschaft werden soll. Erst in Freiheit wird ein Mensch zu einem sozialen Wesen; denn eine Gesellschaft braucht ihre Bürger als Menschen, die sich frei und nicht geduckt und gezwungenermaßen entscheiden. Ein Staat, der seinen Bürgern die Freiheit raubt, nimmt ihnen ihr höchstes Recht. Durch die Freiheitsberaubung seiner Bürger wird ein Staat erst zu einer Diktatur und zu einer Gefahr, zunächst im Inland und dann im Ausland, wie wir es erlebt haben. ({2}) Deshalb, meine Damen und Herren, dürfen wir Diktaturen wie das Dritte Reich, aber auch die DDR in Deutschland nie wieder dulden. Manchmal habe ich den Eindruck, als sei Freiheit für uns heute schon fast zu normal geworden - so sehr, dass eher über die vermeintlichen Schattenseiten einer freien Gesellschaft als über ihre Notwendigkeit diskutiert wird. Dies ehrt uns zwar, aber es zeigt auch eine gewisse Blindheit; denn bei Lichte betrachtet gibt es keine dunklen Seiten von Freiheit, wohl aber viel Egoismus, im Grunde also Verantwortungsverweigerung anderen wie auch sich selbst gegenüber. Freiheit ohne Verantwortung, das geht nicht auf. Davor muss sich eine Gesellschaft schützen. Eine Gesellschaft muss sich ihrer zentralen Werte bewusst sein; anderenfalls drohen sie ihr verloren zu gehen. Sie braucht einen Ort, an dem sie die zentralen Werte wie Freiheit physisch sichtbar machen kann, eben ein Denkmal. ({3}) So wie ein Muttermal in unserer Sprache den Begriff für ein einzigartiges Erkennungszeichen darstellt, so lässt ein Denkmal Vorstellungen, ja ganze Vorstellungswelten in uns wachsen und so kann man mit einem Denkmal auch die äußerst abstrakten Begriffe Freiheit und Einheit für Generationen, ganze Geschlechter und auch die unterschiedlichsten sozialen Gruppen dinglich, begreifbar und fassbar machen. Aber es muss gut gemacht sein. Der Ort muss gut gewählt sein. Er muss nicht nur historisch, sondern eben auch städtebaulich passen. Deshalb kann man ein solches Freiheits- und Einheitsdenkmal nicht übers Knie brechen. Freiheit, meine Damen und Herren, war für mich wie für viele Millionen Mitbürger in der DDR ein Zauberwort. Einige von ihnen - das ist spürbar - sind heute zwar tief frustriert über die vermeintlichen oder tatsächlichen Enttäuschungen, die die Zeit nach der Wende gebracht hat. Aber niemand will die gewonnene Freiheit und die Einheit missen und fast niemand will wieder zurück. ({4}) Dies zeigt, wie tief der Freiheitswillen auch in Ostdeutschland verankert ist; nicht nur dies ist eine Gemeinsamkeit von Ost- und Westdeutschland. ({5}) Haben also die Deutschen zu ihrer Freiheit ein relativ ungebrochenes Verhältnis, zu ihrer Nation haben sie es nicht. Das liegt natürlich an unserer Geschichte. Die beiden Diktaturen und die deutsche Teilung haben viel Schmerz und auch viele Trümmer hinterlassen, aber sie haben auch Irrtümer und Neurosen in unserem Volk bewirkt. Nicht alles davon ist heute bereits aufgearbeitet. Heute sind wir eine gleichberechtigte westliche bzw. europäische Nation, so wie Frankreich, so wie England oder Polen, aber auch wie die USA. Das war nicht selbstverständlich und das haben auch noch nicht alle in unserem Land nachvollzogen. In diesem Sinne sind wir eine normale Nation, nicht aber in Bezug auf unsere Geschichte. Sie ist leider einzigartig. Wir verdanken es bestimmt vielen, dass wir heute überhaupt wieder eine Nation sind, doch Sie entschuldigen, wenn ich sage, dass wir es zuerst der friedlichen Revolution in der DDR verdanken. ({6}) Ohne sie und die mit ihr verbundene Entmachtung der SED hätten die Ostdeutschen keine Freiheit erlangt und ohne die selbst erkämpfte Freiheit der Ostdeutschen hätten auch die Deutschen nicht in freier Selbstbestimmung ihre Einheit wiedererlangt. Die Einheit gelang, weil die Ostdeutschen auf jedes Sendungsbewusstsein, auf jede Missionierungsidee der übrigen Welt verzichtet hatten. Sie wollten keine besondere Demokratie sein, sie wollten keinen dritten Weg gehen oder aber en passant gleich besser sein als die alte Bundesrepublik. Sie wollten nur eines: Freiheit und Selbstbestimmung. 1989 galt, was auch schon 1949 gegolten hat, wie dies die Väter des Grundgesetzes in Bad Godesberg aufgeschrieben haben. Auch sie wollten nichts anderes sein, nichts anderes als das für sich beanspruchen, was für alle anderen westlich-europäischen Nachbarn selbstverständlich war und was diese den Deutschen damals nicht abschlagen konnten: Freiheit und Selbstbestimmung. Alles andere wäre auch 1989 schief gegangen, denn die Einheit war damals nicht selbstverständlich, auch wenn manche glauben, dass der Druck auf der Straße und die Bewegung des großen friedlichen Aufstands den Rest von allein gebracht hätte. Erinnern Sie sich noch an jenen Staatsmann, der damals sagte: „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich am liebsten zwei davon hätte“? Oder erinnern Sie sich an die Gefühle vieler unserer kleinen Nachbarnationen, die nicht immer sehr Segensreiches von unserem Land erfahren haben? Woher sollten da der Wunsch und das Vertrauen in ein dauerhaftes friedliches Zusammenleben kommen? Nein, die deutsche Einheit war nicht selbstverständlich. Es war trotz aller Voraussetzungen hohe Staatskunst nötig, um sie damals zustande bringen zu lassen. An eines muss man auch erinnern: Es waren die USA, die nachdrücklich und unbeirrbar an der deutschen Einheit festgehalten und sie auch gegen die damalige Sowjetunion durchgesetzt haben. ({7}) Angesichts dieser außenpolitischen Situation war es wohl richtig, 1989 in Ostdeutschland nicht die Einheit an die erste Stelle zu rücken, sondern eben die Freiheit. Es war richtig, jede Form von Nationalismus oder isolierter und verfrühter Behandlung der deutschen Einheit sofort in die Schranken zu verweisen. Klug und bescheiden musste damals vorgegangen werden. Dies waren der Schlüssel und der Kurs zur Wiedererlangung der deutschen Einheit 1989 und 1990. Bescheidenheit war damals die Schlüsseltugend. Wer hätte in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gedacht, dass Bescheidenheit zu einer Schlüsseltugend der Deutschen würde? Doch diese Bescheidenheit darf nicht mit einem Mangel an Stolz oder gar an Selbstachtung verwechselt werden, erst recht nicht mit einem Mangel an politischem Willen. Wir haben unsere Nachbarn nicht getäuscht. Wir sind im Sinne der Demokratie eine normale westeupäische Nation geworden. Deutschland ist, wie es Heinrich August Winkler formulierte, angekommen auf seinem langen Weg nach Westen. Dies bedeutet übrigens auch, dass wir die in den langen Jahren der Teilung erfahrene Solidarität beispielsweise von den USA heute zurückgeben. Es bedeutet auch, dass wir unseren Bündnisverpflichtungen zwar nicht unkritisch, aber uneingeschränkt nachkommen. Heute ist zu beobachten, dass die Unterstützung dafür in Ostdeutschland längst nicht so stark ist wie in den alten Bundesländern, obwohl es auch hier viele kritische Stimmen gibt. Dies ist vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen erklärbar; aber es ist auch erklärbar und rational begreifbar zu machen, dass wir die deutsche Einheit ohne die Bündnisverpflichtung der Bundesregierung und die erfahrene Solidarität heute nicht hätten. Dies muss auch in Ostdeutschland deutlich gesagt werden. ({8}) Bescheiden sind wir wieder eine Nation geworden und bescheiden sind wir, diese Nation. Hierzulande ist es nicht nötig, dass wir unsere Zugehörigkeit zu unserer Nation mit irgendwelchen Winkelementen oder kleinen Fahnen dokumentieren, wie dies für andere Nationen üblich, aber auch völlig selbstverständlich ist. Denn es darf nicht passieren, dass wir diese Bescheidenheit wieder für eine Welttugend ausgeben oder gar meinen, anderen Völkern damit ein Beispiel geben zu können. Wir Deutschen sollten über niemanden wieder die Nase rümpfen und wir sollten trotzdem Freiheit und Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte als das ansehen, was sie sind, nämlich universell - und damit auch zu empfehlen für Völker, die noch heute meinen, ohne sie auszukommen. Es ist unsere spezielle Gratwanderung, Zurückhaltung zu üben und uns dennoch über den Wert unserer Form von Freiheit und Demokratie bewusst zu sein. Dieses unser nationales Grundverständnis in ein Denkmal für Freiheit und Einheit zu gießen, wie es der Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder meines Erachtens zu Recht gefordert hat, das ist eine wahrhaft große Herausforderung für den Bundestag und für jeden Künstler, der einst diesen Auftrag bekommen wird. Es macht nichts, dass der Bundestag diesen Vorschlag heute voraussichtlich ablehnen wird. Er ist richtig und er wird sich durchsetzen. Wie sagt der Volksmund so schön: Gut Ding will Weile haben. Darüber hinaus muss die Einheit noch an vielen Stellen unseres Landes vollendet werden. Sie ist ja auch sozial zu verstehen. Wenn aber in Ostdeutschland die Arbeitslosigkeit manchmal noch doppelt so hoch ist wie im Schnitt in den alten Bundesländern, dann sind hier noch große Defizite zu konstatieren. Es gibt weiterhin viel zu tun, für Demokraten, für Leute, die durch Arbeit beweisen wollen, dass unsere Idee von 1989/90 richtig war und dass sie sich durchsetzen wird. Doch gerade angesichts der vielen Arbeit und der großen Herausforderungen, die heute vor uns liegen, wäre es auch gut und wichtig, den zentralen Werten unserer Gesellschaft, der Freiheit und der Einheit, als Symbol dieser Berliner Republik und als Symbol unseres demokratischen Selbstverständnisses an einem zentralen, bedeutsamen Ort ein künstlerisch gelungenes Denkmal zu setzen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Nooke. Er spricht für die CDU/CSU-Fraktion.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als Erstes möchte ich mich für die staatstragende Rede von Stephan Hilsberg bedanken. Es ist ja ein Gruppenantrag, über den wir heute hier reden. Ich finde es gut, dass wir uns noch einmal erinnern. Heute vor zwölf Jahren fiel die Mauer, wie es immer ein wenig salopp formuliert wird. Wir erinnern uns an ein legendäres Missgeschick, das dem damaligen Politbüromitglied Günter Schabowski am Abend des 9. November unterlief, als er seinen Sprechzettel falsch interpretierte und freie Reisemöglichkeiten ab sofort verkündete. In der Folge dieses Irrtums strömten die Berliner zu Tausenden an die Grenzübergänge. Die völlig überforderten Grenzwächter, von denen einer die Information an seine Kollegen gab: „Wir fluten jetzt“, konnten den Strom nicht mehr aufhalten. Es wurde darauf hingewiesen: Wir alle wissen, dass dieses Ereignis nur der Schlusspunkt einer Entwicklung war. Das, was zu diesem Mauerfall vor zwölf Jahren führte, die friedliche Revolution der Ostdeutschen, gehört zu den positiven Bezugspunkten deutscher Geschichte, einer Geschichte, die bekanntlich gerade im 20. Jahrhundert viele Tiefen erlebt hat. Die friedliche Revolution vom Herbst 1989 war die Voraussetzung für die deutsche Einheit. Eigentlich muss man sich die Frage stellen, warum es in einem Land, das zweifellos Affinitäten zu Denkmälern hat, nicht schon längst ein Denkmal für dieses Ereignis gibt. Ich halte es mit den 177 Befürwortern unseres Gruppenantrages für angemessen, dass gerade in der Mitte der Bundeshauptstadt mit einem Freiheits- und Einheitsdenkmal daran erinnert wird. Wenn die vielen Besucher unserer Hauptstadt in deren historische Mitte kommen, dann könnten sie in absehbarer Zeit folgendes Panorama erleben: Am sowjetischen Ehrenmal in Tiergarten vorbei gelangen die Besucher an der Skulptur der Ruferin über die Mauer hin zum Reichstag. Von da aus wird sie ihr Gang hinüber zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas führen, danach zu der historischen Meile Unter den Linden. Das Brandenburger Tor im Rücken geht es am frisch renovierten Denkmal von Friedrich dem Großen vorbei, unübersehbar die Standbilder der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt und gegenüber auf dem Bebelplatz das in den Boden eingelassene Mahnmal zur Bücherverbrennung. Vorbei an der beeindruckenden Pieta von Käthe Kollwitz in Schinkels Neuer Wache, gegenüber, etwas versteckt noch, die Offiziere der Befreiungskriege, wird man bald auf der anderen Seite vor einer großen Baustelle stehen, dem Berliner Schloßplatz. Am ehemaligen DDRStaatsratsgebäude erinnert noch das Portal an das Schloss, von dessen Balkon aus 1918 die erste deutsche Republik ausgerufen wurde, die bekanntlich 1933 scheiterte. Der Platz auf dem Sockel der Schloßfreiheit, der Ende des 19. Jahrhunderts für das Reiterstandbild Wilhelms I. errichtet wurde, ist wie kein anderer Ort in der Hauptstadt geeignet, ein solches Denkmal für die einzige erfolgreiche Revolution für Freiheit und Einheit zu errichten. ({0}) Die Tatsache, dass ein Steinwurf von diesem Ort entfernt in der ehemaligen Volkskammer der DDR am 23. August 1990 der Beschluss zur staatlichen Wiedervereinigung gefasst wurde, unterstreicht diesen historischen Anspruch. Ich will wiederholen, was ich am 13. April 2000 bei der Einbringung des Antrags für ein Freiheits- und Einheitsdenkmal in diesem Hohen Hause ausgeführt habe: Dieser Ort ist viel zu wichtig, als dass er vielleicht nur Abstellplatz für Baucontainer und Anlegeplatz für Kaffeefahrten mit den Spreedampfern sein sollte. ({1}) Als ich mit einer kleinen Gruppe bereits 1998 die Initiative für ein solches Denkmal ergriff, konnten wir in kürzester Zeit sehr prominente Befürworter für das Projekt gewinnen. Darunter waren unter anderem die SPDPolitiker Richard Schröder und Klaus von Dohnanyi sowie der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis. Mir ist deshalb nicht verständlich, warum zum Beispiel die Kollegin Angelika Krüger-Leißner ihre ablehnende Haltung dem Antrag gegenüber damit begründen konnte, die Notwendigkeit eines solchen Denkmals zu dieser Zeit an diesem Platz sei zu bezweifeln. Ich denke, auch das, was Stephan Hilsberg hier eben gesagt hat, macht deutlich, dass man das sehr wohl anders sehen kann. Des Weiteren gaben Sie damals an, der Zeitpunkt sei ungeeignet, es werde mit einem solchen Denkmal ein falsches Zeichen gesetzt, da der Einigungsprozess noch nicht abgeschlossen sei. - Soweit das Zitat aus dem Protokoll der Sitzung des federführenden Kulturausschusses. Herr Fink von der PDS sekundierte und gab außerdem - Entschuldigung - die etwas kryptische Begründung, im vorliegenden Antrag sei von der Erinnerung an die Revolution nicht die Rede. Da müssen Sie einfach nur den Antrag richtig lesen. Ich werde bei alledem das Gefühl nicht so recht los, dass es sich um unangebrachte und unsachgemäße Kritik handelt, die vielleicht sogar die prinzipielle Ablehnung der friedlichen Revolution der Ostdeutschen verbergen soll. ({2}) Das hoffe ich allerdings nicht. Aber das muss man hier dann auch anders sagen. Ich finde nur, verehrte Kollegin Krüger-Leißner und Herr Fink, wir sollten darüber reden. Ich glaube, das ist nicht Ihre Meinung. Ihre Begründung zur Ablehnung des Antrages im Kulturausschuss ist für mich zumindest fragwürdig. Uns die Gelegenheit zu geben - wie es auch die Ausschussvorsitzende, Frau Griefahn, machte - den Antrag zu überarbeiten und zu irgendeinem späteren Zeitpunkt noch einmal vorzulegen ist ein - vorsichtig formuliert durchsichtiges Manöver, zumal Sie keinerlei Angaben dazu machen, welche Stellen des Antrages denn überarbeitet werden sollen. ({3}) Frau Krüger-Leißner meint, ein Denkmal zur Erinnerung an die friedliche Revolution und die Wiederherstellung der staatlichen Einheit der Deutschen sei jetzt nicht möglich, weil der Einigungsprozess noch nicht abgeschlossen sei. Was soll das? Die zahllosen kunstvollen Essays, in denen über angebliche oder tatsächliche mentale Unterschiede zwischen Ost und West referiert wird, wird es auch in den nächsten Jahren noch geben. Wir Deutsche sind nun mal so. Dazu kann man stehen, wie man will. Aber unzweifelhaft ist doch, dass es die friedliche Revolution und die staatliche Einheit in Deutschland gegeben hat. Beide Ereignisse gehören nun wirklich zum Besten, was die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert aufzuweisen hat. ({4}) Mit einem Denkmal an diesem Ort würde diesem positiven Bezug meines Erachtens in angemessener Weise ein äußeres Zeichen gesetzt. Ich glaube sogar, dass ein solches Denkmal den Prozess der so genannten inneren Einheit eher beschleunigen würde. Gerade aus der Sicht der Ostdeutschen ist das wichtig; denn sie hatten in den letzten Jahren manchmal das Gefühl, dass ihr ureigenster Beitrag zur deutschen Einheit, nämlich die friedliche Revolution, ein wenig in den Hintergrund des öffentlichen Interesses getreten war. Ich glaube, dass mit dem vorliegenden Antrag zur Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals, den parteiübergreifend 177 Kolleginnen und Kollegen dieses Hohen Hauses unterschrieben haben, eine gute Voraussetzung gegeben ist, diesem positiven Bezugspunkt der deutschen Geschichte ein würdiges äußeres Zeichen zu setzen. Leider ist der positiven Beschlussfassung des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder und unserem Vorschlag, es Freiheits- und Einheitsdenkmal zu nennen und damit die korrekte Reihenfolge festzusetzen, im federführenden Ausschuss für Kultur und Medien nicht gefolgt worden. Ich bitte Sie deshalb - auch im Namen von Kolleginnen und Kollegen aus vier Fraktionen dieses Hohen Hauses -, die Beschlussempfehlung des Kulturausschusses abzulehnen. Ich glaube, auch die Rede von Stephan Hilsberg hat deutlich gemacht, dass es dafür gute Gründe gibt. Danke schön. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Re- debeitrag der Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen, wird zu Protokoll gegeben.1) Ich gebe nunmehr das Wort der Kollegin Cornelia Pieper für die Fraktion der FDP.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat, es handelt sich um einen fraktionsübergreifenden Antrag und das ist gut so, denn das Thema der deutschen Einheit sollte nicht nur unser Volk, sondern dieses Haus einen und nicht spalten. Die Antragsteller waren sich durchaus bewusst, dass das Ereignis der friedlichen Revolution 1989, des Falls der Mauer, herbeigeführt durch die Ostdeutschen, eine historische Stunde war. Es war die Stunde der Demokratie, es war die Stunde des Volkes, das mit Montagsdemonstrationen seine Stimme für mehr Freiheit und Bürgerrechte erhob. Das Ergebnis war die deutsche Einheit, durch eine kluge Politik politisch vollendet. ({0}) Die Vollendung der inneren Einheit bleibt die Aufgabe für uns Deutsche und es bleibt auch die Aufgabe, Leistungen, Lebensleistungen von Ostdeutschen mehr anzuerkennen. Es bleibt ferner die Aufgabe, das historische Ereignis der friedlichen Revolution mehr anzuerkennen. Es war die einzige friedliche Revolution, die es je in der Geschichte dieser Welt gab. Es ist ein historisch einmaliges Ereignis, für viele in Deutschland vielleicht eine Selbstverständlichkeit geworden, für uns Liberale wird es nie eine Selbstverständlichkeit sein. Ich sage auch, angesichts der Ereignisse am 11. September dieses Jahres sollte uns diese friedliche Revolution ganz bewusst noch einmal in Erinnerung gerufen werden. ({1}) Gerade als Mahnmal gegen Krieg und Terrorismus, gegen Gewalt, als Denkmal für Frieden und Freiheit hätte solch ein Denkmal besonders heute eine unvergleichliche Symbolik, zudem in der Bundeshauptstadt Berlin. Es wäre ein Zeichen für neu gewonnenes Selbstvertrauen mündiger, selbstbewusster Bürger, ein Symbol für Patriotismus. Es wäre ein Symbol für ein neues, modernes nationales Selbstbewusstsein. ({2}) Umso unverständlicher ist mir und meiner Fraktion die Ablehnung dieses Antrages durch eine Allianz aus SPD und PDS. ({3}) - Ja, ich weiß, dass Sie diese Argumentation nicht ertragen. Aber es ist leider die Realität; es steht im Protokoll des Ausschusses. Als ich davon erfuhr, dass der federführende Ausschuss für Kultur und Medien den Ihnen heute zur Abstimmung vorliegenden Antrag mit den Stimmen der SPD und der PDS abgelehnt hat, hat es zumindest mir die Sprache verschlagen, ({4}) weil ich weiß, dass viele Kollegen gerade aus der SPD- Fraktion diesen Antrag unterstützt haben. Dieser Koa- lition wollten sich anscheinend nicht einmal die Grünen 1) Anlage 4 anschließen, denn bei der Schlussabstimmung im federführenden Ausschuss für Kultur und Medien waren sie - zumindest laut Protokoll - nicht anwesend. Frau Vollmer hat ja auch heute wieder ihre Rede zu Protokoll gegeben. ({5}) SPD und PDS begründeten ihre Ablehnung damit, die Berliner Schlossfreiheit sei der falsche Platz. ({6}) - Nein, mein Kollege Nooke hat hier zu Recht schon darauf hingewiesen: Es ist genau der richtige Ort, wo solch ein Denkmal stehen sollte. ({7}) Es ist nicht nur der zentrale Ort für die friedliche Revolution, für Freiheit und Demokratie 1989, es ist überhaupt der Ort der bürgerlichen Revolution. Es ist der Ort vor dem Schloss, wo 1848 die bürgerliche Revolution stattgefunden hat, eine blutige Revolution. Ich finde es ganz wichtig, dass an diesem Ort, wo später eine friedliche Revolution stattgefunden hat, symbolisch deutlich gemacht werden kann, welche Bedeutung solch ein Ereignis hatte; immerhin ist die deutsche Einheit wieder hergestellt worden. ({8}) Die Schlossfreiheit ist der Ort, wo das Denkmal Wilhelms I. stand. Es ist also eigentlich ein wilhelminischer Platz. Aber man hätte dieser wilhelminischen Architektur, dieser monarchischen Kultur durch ein neuartiges Denkmal für Freiheit und Demokratie die republikanische Bescheidenheit entgegenstellen können. Auch deshalb ist es der richtige Ort. ({9}) Meine Fraktion bedauert außerordentlich - wie wir es in der Abstimmung wohl erleben werden -, dass seitens SPD und PDS der Beschlussvorlage aus dem Ausschuss für Kultur und Medien zugestimmt wird. ({10}) Ich habe jegliche Wertschätzung für die Meinung von Herrn Hilsberg und anderer Kollegen Ihrer Fraktion. ({11}) Aber Ihre Begründung im Ausschuss - zumindest wie ich sie dem Protokoll entnehmen konnte - war wirklich fadenscheinig und nicht nachvollziehbar. Und da war doch noch etwas! Da war noch etwas, das nannte sich „Chefsache“ - Chefsache neue Bundesländer, Chefsache Aufbau Ost. Wenn ich hier zur Regierungsbank schaue, dann sehe ich den Staatsminister für Kultur, aber sonst niemanden von der Bundesregierung, der zuständig wäre und sich für dieses Thema interessierte. Lippenbekenntnisse über die Vollendung der inneren Einheit reichen nicht. Wir wollen endlich Taten sehen statt Worte hören. Deswegen werden wir dieser Beschlussvorlage nicht zustimmen können. Vielen Dank. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht der Kollege Professor Dr. Heinrich Fink.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stimme Herrn Hilsberg zu: Es ist schon ein historisches Datum, dieser 9. November. In vierfacher Hinsicht ist heute an den 9. November zu erinnern. Insofern ist der Tag, an dem wir über dieses Thema reden, ein bedenkenswertes Datum. Wir reden heute nicht über irgendein Denkmal auf irgendeinem Platz in der Hauptstadt, sondern über das Einheits- und Freiheitsdenkmal, das auf dem Schlossplatz stehen soll, in der historischen Mitte Berlins. Es gilt festzustellen, dass dieses Areal eine städtebaulich-architektonische Gesamtkonzeption braucht, bei der jedes Teil des künftiges Ensembles zu einem Ganzen wird. ({0}) Darum muss die Schlossplatzgestaltung mit großer Sorgfalt und - darum bitte ich wirklich, Frau Pieper ohne ideologische Verengung angegangen werden. Von uns kommt die ideologische Verengung nicht. Diese Gesamtkonzeption ist seit Jahren in der Diskussion, liegt aber noch nicht vor. Wir meinen, dass die historische Mitte Berlins als Gegengewicht zum Regierungsviertel und zum Potsdamer Platz öffentlicher Raum bleiben bzw. wieder werden sollte. ({1}) Deshalb wäre der Einzelbeschluss zu einem Denkmal nach meiner Meinung ein unsachgemäßer Eingriff in einen offenen Prozess. In der Begründung der Antragsteller zur Errichtung des Einheits- und Freiheitsdenkmals heißt es, dass der Prozess der europäischen Einigung durch den Sieg der freiheitlichen, demokratischen und nationalen Bewegungen erst seine gesamteuropäische Dimension erhalten habe. Die Antragsteller sehen also die friedliche Revolution von 1989 in der DDR als die Vollendung der niedergeschlagenen Revolution von 1848. Dass bei diesem kühnen Brückenschlag die erste deutsche Republik, nämlich die Weimarer, nicht erwähnt ist, ({2}) ist sehr bedenklich. Ich frage: Kann man ernsthaft wollen, dass die kaiserliche Sockelvakanz mit einem Denkmal für die deutsche Wiedervereinigung und Freiheit besetzt wird? ({3}) Lässt sich die 1989er-Bürgerrechtsbewegung der DDR in Metallguss, Marmor - oder vielleicht besser noch: als Perpetuum mobile - in Erinnerung behalten? Übrigens waren die Friedensgruppen - das ist eine Begründung, die noch fehlt -, die von dem Helsinki-Verständigungsprozess bestimmt waren, doch ein wichtiger Teil der Bürgerbewegung der DDR. Die kirchlichen Gruppen sammelten sich im konziliaren Prozess in Erinnerung an das 1934 von Dietrich Bonhoeffer geforderte Konzil für den Frieden unter dem Thema: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Dies sind Themen, die aus historischer Sicht nicht mit dem Denkmalstichwort „Freiheit und Einheit“ abgedeckt werden. Die biblische Verheißung „Schwerter zu Pflugscharen“ war das zentrale Symbol für Christen und Nichtchristen. Das soll doch in Erinnerung bleiben. ({4}) Im vorliegenden Antrag wird ausführlich beschrieben, dass die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 im Gegensatz zu Bismarcks Einigungswerk von oben dem unbeirrten Engagement unzähliger Basisgruppen von unten zu verdanken ist. Natürlich stimmt das. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass die Basis, also die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern, über ihr Denkmal mitentscheiden sollten und nicht nur wir als Mandatsträger im Bundestag unmittelbar darüber bestimmen. ({5}) Es hat auch in diesem Hause heftige Debatten darüber gegeben, ob überhaupt ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas errichtet werden soll. Der Bau dieses Denkmals hat vor wenigen Tagen begonnen. Ich bin dankbar, dass wir am heutigen 9. November 2001 dies sagen können. ({6}) Aber das Denkmal für die im Namen Großdeutschlands vernichteten Sinti und Roma, für die Euthanasieopfer und für die Lesben und Schwulen ist bis jetzt noch nicht vorhanden. Wir sollten es uns mit der Entscheidung für ein Einheitsdenkmal schon schwer machen. Vielleicht sollten wir es überhaupt der nachfolgenden Generation überlassen, ob sie uns ein Denkmal setzen will. ({7}) - Warten Sie nur. Meine Fraktion kann aus diesen Gründen dem Antrag nicht zustimmen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Eckhardt Barthel für die Fraktion der SPD das Wort.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte vorwegschicken: Der Beitrag von Herrn Hilsberg hat mich sehr beeindruckt. Ich glaube, das war der richtige Beitrag am richtigen Tag und am richtigen Ort. ({0}) Ich gehe davon aus, dass in diesem Hause hinsichtlich dieses Beitrages ein Konsens besteht. Jetzt sprechen wir aber - ich erlaube mir, darauf hinzuweisen - über die Frage, ob aufgrund der Inhalte, die Herr Hilsberg dargestellt hat, zum jetzigen Zeitpunkt notwendigerweise ein Denkmal entstehen muss. Ich bitte Sie wirklich, dies nicht miteinander zu vermischen. Es wäre meines Erachtens ein zu kurzer Schluss. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann diskutieren wir bereits seit ungefähr anderthalb Jahren über den vorliegenden Antrag. Meines Erachtens hat es am Anfang gute Gespräche gegeben. Herr Nooke, wir haben zusammengesessen und uns Gedanken darüber gemacht, was verändert werden sollte. Ich freue mich zum Beispiel darüber, dass aus dieser Diskussion heraus die Frage, ob das Denkmal nun als „Einheits- und Freiheitsdenkmal“ oder als „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ bezeichnet werden soll, beantwortet werden kann. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an Markus Meckel, der hier sagte: Erst war die Freiheit und dann war die Einheit. - Das sollte aufgenommen werden. Es gab weitere Diskussionspunkte und viele sind noch ungeklärt. Ich denke nur an die Frage des Ortes. Sie haben sich darauf festgelegt, dass es auf der Schlossfreiheit errichtet werden soll. Herr Nooke, Sie selbst haben in Ihrer Rede am 13. April 2000, als wir hier über die Errichtung eines Denkmals diskutiert haben, zur Frage des Ortes gesagt: Was den Ort anbelangt, so kann und wird man sicher darüber diskutieren. - Es gibt nämlich andere Stimmen, die durchaus für dieses Denkmal sind und die die Frage in die Debatte werfen: Wie ist es zum Beispiel mit Leipzig? - Darüber kann man sprechen. Ich halte es für ein bisschen zu verengt, zu sagen: Dieser Ort muss es sein. ({1}) Frau Pieper, Sie haben bezüglich des Denkmals jetzt alles so festgelegt. Dazu möchte ich Ihnen sagen - ich bin ja Mitglied des Kulturausschusses -: Der Kollege Otto, der immer zu sehr vornehmen und höflichen Formulierungen neigt - deswegen schätze ich ihn so; schade, dass er nicht da ist -, meinte zu diesem Antrag, er müsse - dieses schöne Wort habe ich mir extra aufgeschrieben - „optimiert werden“. - Das ist nicht geschehen. Ich weiß nicht, welche Konsequenz das inzwischen für Sie hat. ({2}) - Erst optimiert man und dann beschließt man, nicht umgekehrt. So verstehe jedenfalls ich das. ({3}) Es wurde in der Tat auf die Begründung für die Annahme des Antrages hingewiesen. Mir gefällt diese Begründung ausgezeichnet, auch weil die Revolution von 1848 hier mit einbezogen wird. Das hat mir sehr gefallen. Bei der Denkmalreise, Herr Nooke, die Sie jetzt gemacht haben, haben Sie ausgerechnet den Platz des 18. März vor dem Brandenburger Tor vergessen. Daran hat doch jemand gedreht. Es geht um diesen Antrag. Mir liegt wirklich daran, dass man nicht aus einer Rede - ich beschränke mich bewusst auf Herrn Hilsberg - automatisch folgert, das Denkmal müsse errichtet werden. Mein Name steht mit auf diesem Antrag. Ich habe ihn aus zwei Gründen mit unterschrieben. Ich fühle mich verpflichtet, sie hier zu nennen. Ich habe unterschrieben, weil ich meine, dass das Ereignis der friedlichen Revolution vom Herbst 1989 in der Tat im Stadtbild sichtbar und sinnlich erfahrbar sein muss. Die Begründungen hierfür sind schon genannt worden; ich will sie nicht wiederholen. Es gab noch einen zweiten Grund. Ich bin davon ausgegangen, dass dies ein Antrag ist, hinter dem die Mitglieder dieses Hauses aus den neuen Bundesländern stehen. Es ist zu Recht - Herr Hilsberg hat dies getan darauf hingewiesen worden, dass die friedliche Revolution ihr Beitrag war. Wenn sie sagen, sie wollten dieses Denkmal, dann kann ich, der ich auf der anderen Seite der Mauer gelebt habe, dem nicht widersprechen. Deswegen war ich der Ansicht, dass man diesem Antrag zustimmen sollte. Wir alle haben daraufhin einen Brief von Gunter Weißgerber bekommen. Er war einer der Redner auf den Montagsdemonstrationen in Leipzig. Gestatten Sie mir, dass ich daraus einige Sätze vorlese: Auch glaube ich, dass es Menschen und Demokratien ohnehin besser ansteht, nicht schon zu Lebzeiten ihr Denkmal zu bekommen. Anders ausgedrückt: Ich verspüre ein ungutes Gefühl, wenn wir als die damals gemeinsam mit Millionen anderen Handelnden - und noch heute zu den Agierenden gehören - jetzt oder in naher Zukunft ein Denkmal schaffen. Ich rate also von diesem Vorhaben ab. ({4}) Ich gestehe: Dieser Brief hat mich beeindruckt. Ich habe etwas gemacht, was man nicht gerne macht. Ich habe mich von meiner eigenen Unterschrift auf dem Antrag für den Bau dieses Denkmals zum jetzigen Zeitpunkt - ich lege Wert auf diese Begrenzung - distanziert, weil ich in der Tat glaube: Dieses Denkmal ist nötig, aber jetzt ist nicht der richtige Augenblick dafür. Ich bedaure es, wenn Sie, Frau Pieper, und auch Sie, Herr Nooke, diese Auseinandersetzung, die mir nicht leicht gefallen ist - ob Sie mir das jetzt abnehmen oder nicht, ist mir egal -, so sehen, dass Sie daraus ein Bündnis zwischen SPD und PDS machen. ({5}) - Herr Nooke, manches schreibe ich mir auf. Sie wurden im „Focus“ vom 5. November dieses Jahres folgendermaßen zitiert: „Die Sozialdemokraten wollen kein positives neues deutsches Nationaldenkmal.“ Sie wissen, dass wir unterschiedliche Positionen haben. Ich finde, Sie sollten diese parteipolitische Instrumentalisierung der friedlichen Revolution sein lassen, auch wenn mein Appell keine Wirkung haben wird. ({6}) Ich halte den Zeitpunkt für dieses Denkmal für verfrüht. Deshalb werde ich den Antrag, den ich selbst mit unterschrieben habe - das betone ich noch einmal -, ablehnen. Ich sehe für uns zurzeit andere Schwerpunktaufgaben. Es ist sicherlich richtig, wenn man sagt: Der Einigungsprozess dauert etwa eine Generation. ({7}) Dieses sollte auch für das Denkmal gelten. Es gibt hier durchaus eine Parallelität. Jeder, der in Berlin lebt und das letzte Berliner Wahlergebnis mit der politischen Spaltung mitbekommen hat, wird sagen: Im Moment muss es vorrangig darum gehen, nicht ein Einheitsdenkmal zu errichten, sondern den Einigungsprozess voranzutreiben. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Barthel, möchten Sie noch eine Frage beantworten? Nein. Dann gebe ich dem Kollegen Eckart von Klaeden für die Fraktion von CDU/CSU das Wort.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Der 9. November ist der Schicksalstag der deutschen Geschichte im letzten Jahrhundert. Darauf ist schon von einigen Rednern hingewiesen worden. Ausrufung der Weimarer Republik, der so genannte Marsch auf die Feldherrenhalle, die Reichspogromnacht und schließlich die friedliche Revolution von 1989, verbunden mit dem Fall der Mauer, kennzeichnen diesen Tag. Welche Konsequenzen gilt es an einem solchen Tag, aber nicht nur an diesem zu ziehen? Welche Verantwortung haben wir nicht nur als Bürgerinnen und Bürger, sondern auch als Abgeordnete eines in Freiheit und Demokratie geeinten Deutschland? Die Botschaft lautet: Wir wollen, dass nie wieder Extremisten, bewaffnet oder unbewaffnet, die demokratische Ordnung unseres Landes gefährden oder gar zerstören. Wir wollen, dass nie wieder in Deutschland Gotteshäuser brennen, dass Menschen nie wieder wegen ihrer Rasse, ihrer Sprache, ihrer Heimat und Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer religiösen oder politischen Überzeugungen benachteiligt, verfolgt oder gar ermordet werden. Wir wollen, dass nie wieder in Deutschland ein Staat errichtet wird, der nur die Führung einer Partei kennt, der seine Bürger bespitzelt, der seine Gegner, die friedlich für Freiheit und Demokratie eintreEckhardt Barthel ({0}) ten, benachteiligt, foltert oder gar ermordet und in dem die Menschen ihr Grundrecht auf Freizügigkeit, zu dem auch das Recht gehört, das Land verlassen zu dürfen, gegebenenfalls mit dem Tode bezahlen müssen. Deswegen müssen wir uns an die Opfer erinnern und müssen auch an diejenigen erinnern, die sich gegen den DDR-Staat gewehrt haben und die für Freiheit und Demokratie eingetreten sind. Eine Demokratie, die die dunklen Seiten ihrer Geschichte vergessen machen wollte, wäre auf Sand gebaut. Sie verletzte erneut die Würde der Opfer und taugte nicht für die Zukunft. ({1}) So ist die Weimarer Republik, die erste Demokratie auf deutschem Boden, nicht nur an den sich gegenseitig aufschaukelnden politischen Extremen und der Machtübernahme der Nationalsozialisten gescheitert, sondern auch deshalb, weil es zu wenige gab, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzten. Wir wollen mit dem Denkmal für Freiheit und Einheit ein Zeichen für die Frauen und Männer setzen, die sich dafür in der DDR eingesetzt haben. ({2}) Deswegen ist die Kritik, die an dieser Idee geäußert wird, unberechtigt. Ich meine nicht die Kritik, die heute hier vorgetragen wurde, sondern die, die in der Öffentlichkeit laut wurde. Ich möchte an einen Artikel in der „Berliner Morgenpost“ erinnern. Dort heißt es, es gehe um „ein neues nationales Glücksgefühl“. Weiter heißt es: Mögen die von der Last der deutschen Geschichte Gebeugten also künftig zum Holocaust-Mahnmal gehen, wer Freude und Stolz empfindet, wendet aufrecht sich zur Schlossfreiheit. Gerade darum geht es nicht. Es geht nicht um einen Gegensatz, nicht um Verdrängung. Es geht vielmehr um den gleichen Gedanken, aus dem heraus wir den Bau des Holocaust-Mahnmals beschlossen haben. Ich habe damals zu den Rednern meiner Fraktion gehört, die für das Holocaust-Mahnmal eingetreten sind. Es geht nämlich um den Gedanken der Verantwortung für die Demokratie und die Sorge um die Zukunft unseres Landes, wenn wir uns heute für die Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals auf der Berliner Schlossfreiheit aussprechen. Das Selbstverständnis eines demokratischen Staates lebt auch davon, dass wir derjenigen gedenken und sie uns zum Vorbild nehmen, die in widriger Zeit für die Ideale des demokratischen Staates und für Menschenrechte eingetreten sind. Mein Eindruck ist, dass die Heldinnen und Helden - ich benutze diese Worte bewusst - der friedlichen Revolution von 1989 in den Sonntagsreden und Feierstunden zwar immer ihren angemessenen Platz finden, ihre alltägliche Behandlung aber nicht gerade zu den Ruhmesblättern der jungen vereinten Bundesrepublik gehört. ({3}) Ich erinnere nur an das aus meiner Sicht unerträgliche Missverhältnis zwischen den üppigen Rentenzahlungen an die Täter auf der einen Seite und den schmalen Entschädigungsleistungen für die Opfer der SED-Diktatur auf der anderen Seite. ({4}) Opfer sind häufig diejenigen gewesen, die sich für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben. Wir haben in den letzten Jahren aus anderen Gründen - zu Recht - immer wieder betont, dass wir mehr Zivilcourage wollen. Häufig ist von dem Pult aus, an dem ich jetzt stehe, der Appell an die Bevölkerung gerichtet worden, mehr Zivilcourage zu zeigen. Ich finde, dass wir derjenigen, die Zivilcourage in der DDR gezeigt haben, entsprechend gedenken müssen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, es sei sowieso sinnvoller, sich einem menschenverachtenden System anzupassen, weil man in der Demokratie aus opportunistischen Gründen - aus Gründen der Mehrheitsbildung - schnell bemüht ist, mit den Tätern seinen Frieden zu machen, damit man mit ihren Anhängern gemeinsame Koalitionen bzw. gemeinsame Mehrheiten bilden kann, sodass die Opfer sowie die Widerstandskämpfer dann hinten herunterfallen. ({5}) Ich möchte in diesem Zusammenhang an die Adresse der PDS deutlich sagen, dass es mir nicht so sehr um das Verhalten Ihrer Mitglieder in der Vergangenheit geht. Es geht mir vielmehr um das Verhältnis, das Sie heute zu Ihrer Vergangenheit haben. ({6}) Was das in einem konkreten Fall bedeuten kann, hat ja gestern unser Kollege Werner Schulz in seiner beeindruckenden Kurzintervention sehr deutlich gemacht. Ich glaube, dass ein Freiheits- und Einheitsdenkmal auf der Berliner Schlossfreiheit einen Beitrag zu einem aufgeklärten Patriotismus leisten kann, der seine Grundlage in den Werten unserer Verfassung hat. ({7}) Die Westdeutschen haben das Glück gehabt, nach der Niederlage des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Nationalsozialismus die Möglichkeit zu haben, einen freien Staat aufzubauen. Das war ein Geschenk, das sich die Westdeutschen nicht selber erstritten haben. Die Ostdeutschen haben mit der friedlichen Revolution unser Volk von dem Makel befreit, unsere eigene Freiheit noch nie selber erkämpft zu haben. Beides zusammen - der Aufbau einer stabilen Demokratie im Westen und das Erkämpfen der Freiheit in Ostdeutschland - kann zu diesem gemeinsamen aufgeklärten Patriotismus beitragen. ({8}) Dieser aufgeklärte Patriotismus kann seinen Ausdruck in dem Einheits- und Freiheitsdenkmal finden. Die Vorstellung, dass unsererseits die Einheit vor der Freiheit kommen könnte, ist allein deswegen schon abwegig, weil wir die Einheit ohne Freiheit jederzeit hätten haben können. Spätestens nach der Stalinnote ist klar gewesen, dass eine Einheit in Unfreiheit möglich gewesen wäre. Sie ist von allen in diesem Hause vertretenen Fraktionen - bis auf die schon erwähnte Ausnahme - immer wieder abgelehnt worden. Deswegen meine ich, dass das Einheits- und Freiheitsdenkmal einen wesentlichen Beitrag zu dem Einigungsprozess, der von den Kolleginnen und Kollegen zu Recht angesprochen worden ist, leisten kann. Ich glaube nicht, dass wir auf seine Beendigung warten müssen, sondern dass die Würdigung der friedlichen Revolution ein wesentlicher Beitrag zur Beförderung dieses Prozesses sein kann. Schließlich zum Ort. Sie haben insofern Recht, als in Leipzig ein solches Denkmal sicherlich angebracht ist. Ich finde, dass auch in einer westdeutschen Stadt als Reverenz an die ostdeutsche Revolution ein solches Denkmal angebracht wäre. Da Berlin die Hauptstadt ist, gehört ein solches Denkmal, wie ich meine, nach Berlin. Vielen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Markus Meckel, Werner Schulz sowie weiterer Abgeordneter zur Errich- tung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals auf der Berli- ner Schlossfreiheit auf Drucksache 14/7209. Der Aus- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3126 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente ({0}) - Drucksache 14/6944 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Rahmenfrist bei zeitlich befristeter Erwerbsunfähigkeitsrente, Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch ({2}) - Drucksache 14/2282 ({3}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch ({4}) - Drucksache 14/3044 ({5}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Arbeitsförderung im Rahmen des SGB III - Drucksache 14/5013 ({6}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({7}) - Drucksache 14/7347 - Berichterstattung: Abgeordnete Brigitte Baumeister b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({8}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Dirk Fischer ({9}), Volker Rühe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen effektiv und transparent gestalten - Aus den Hamburger Vorfällen Lehren für eine Reform des SGB III ziehen - zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Seehofer, Karl-Josef Laumann, Birgit SchnieberJastram, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Arbeitsplätze schaffen statt Arbeitslosigkeit verwalten - Reformen für einen besseren Arbeitsmarkt - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Karl-Josef Laumann, Brigitte Baumeister, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Arbeit vermitteln statt Arbeitslosigkeit verwalten - Mehr Beschäftigung durch Effizienz, Transparenz und Subsidiarität im Arbeitsförderungsrecht - zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine wirksame und effiziente Arbeitsmarktpolitik - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Pia Maier, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Zusätzliche Arbeitsplätze fördern - soziale Sicherungssysteme festigen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn, Pia Maier und der Fraktion der PDS Den Einstieg in einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ermöglichen - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland 2001 - Drucksachen 14/6636, 14/6888, 14/6162, 14/6621, 14/5794, 14/7070, 14/5513, 14/7347 Berichterstattung: Abgeordnete Brigitte Baumeister Zum Gesetzentwurf zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente liegen vier Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden. - Ich warte noch einen Augenblick. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat die Kollegin Andrea Nahles.

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz lösen wir unser Versprechen ein, noch in dieser Legislaturperiode das Arbeitsförderungsrecht umfassend zu reformieren. Wir geben damit einen wichtigen Impuls für mehr Beschäftigung, für eine effektivere Vermittlung, für eine zukunftsfähige Qualifizierung und - das ist mir besonders wichtig - für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({0}) Die Modernisierung der Arbeitsvermittlung ist dabei ein Schwerpunkt. Insoweit - das muss ich ganz ehrlich sagen - war unsere bisherige Arbeitsmarktpolitik vor allem reaktiv. Der Betroffene musste erst einmal arbeitslos werden, anschließend ordentlich warten und nach sechs Monaten konnten die Maßnahmen überhaupt erst angegangen werden. Damit ist jetzt Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Die Wartezeiten werden gestrichen. Statt einer reaktiven Arbeitsmarktpolitik betreiben wir jetzt eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Das ist nicht nur ein Spruch. Bereits bevor jemand arbeitslos wird, können wir mit dem Instrument des Profilings herausfinden, wie groß das Risiko desjenigen, der arbeitslos wird, ist, langzeitarbeitslos zu werden. Diese Chancenprognose gibt uns überhaupt erst die Möglichkeit, rechtzeitig gegenzusteuern. Das ist sehr individuell und sehr konkret. Mit jedem einzelnen Arbeitslosen wird in dem zuständigen Arbeitsamt eine Eingliederungsvereinbarung getroffen. Darin werden konkrete Schritte zur Rückkehr in das Arbeitsleben verabredet. Ich füge hinzu: Bei diesem Instrument gibt es keine zusätzlichen Druckmittel. Natürlich erwarten wir ein Mittun der Arbeitslosen. Wir bieten den Arbeitslosen aber auch neue Rechte an. Wenn das Arbeitsamt nach einem halben Jahr keine Arbeitsstelle vermittelt hat, kann der Arbeitslose einen Dritten einschalten und diesen mit seiner Vermittlung beauftragen. Das ist Fördern und Fordern und ein Gleichgewicht der Kräfte in der genannten Eingliederungsvereinbarung. Insofern bitte ich auch an die Adresse der Arbeitslosen, die uns heute hier zuhören, darum: Begreifen Sie dies als Chance und packen sie diese beim Schopfe! ({2}) Zwar war es bisher nicht etwa so, dass in den Arbeitsämtern nichts vermittelt worden ist, aber es war bei der Arbeitslosigkeit sehr viel zu verwalten. Deswegen geben wir den Arbeitsämtern hiermit die Chance, 3 000 Vermittler zusätzlich einzustellen. Seit dem 1. Oktober sind bei den Arbeitsämtern bereits 1 029 zusätzliche Vermittler eingestellt worden. Zum Beispiel bei dem Arbeitsamt in meinem Wahlkreis, einem kleineren Arbeitsamt, sind es sechs zusätzliche Vermittler und bei dem größeren Arbeitsamt in Köln 30 zusätzliche Vermittler, die sich ab 1. Januar 2002 mit der Gewinnung von neuen Stellen in kleinen und mittleren Betrieben beschäftigen werden. ({3}) Der zweite Pfeiler, auf dem das Gesetz steht, ist Weiterbildung und Qualifizierung. Wahr ist, dass es in Großunternehmen Weiterbildungsmöglichkeiten gibt. Wahr ist auch, dass gering Qualifizierte bei der Weiterbildung benachteiligt werden; hoch Qualifizierte haben Weiterbildungsoptionen. Wir setzen mit unserem Gesetz dort an, wo es am nötigsten ist, um Langzeitarbeitslosigkeit, um Arbeitslosigkeit überhaupt zu verhindern, nämlich bei den von Arbeitslosigkeit gefährdeten Älteren und bei den gering Qualifizierten. ({4}) Damit wird zum ersten Mal in der Geschichte der Arbeitsverwaltung die Möglichkeit eröffnet, dass das Arbeitsamt Weiterbildungs- und Lohnkosten übernimmt, um diesen Menschen einen Berufsabschluss zu ermöglichen oder um ihre Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten, bevor das Kind in den Brunnen fällt. ({5}) Es gibt ein weiteres Instrument. Das Stichwort lautet hier Jobrotation. Das haben uns die Skandinavier vorgemacht, aber auch in Deutschland hat es bereits viele Modellprojekte im Bereich von Jobrotation gegeben. Anfang dieser Woche konnte ich mich an einem Beispiel in Bremen davon überzeugen, dass das sehr interessant und sehr erfolgreich ist. Ich möchte das an diesem Beispiel erläutern: Es gibt einen Riesenbedarf an Fachkräften im Pflegebereich. Auf diesem Gebiet gibt es sehr viele ungelernte Arbeitskräfte; dabei handelt es sich vor allem um Frauen. In Bremen hat man diese Hilfskräfte über das Mittel Jobrotation zu Fachpersonal in der Altenpflege qualifiziert. Diese Option eröffnen wir neben vielen anderen Möglichkeiten mit Jobrotation. Wir sorgen dafür, dass man die Idee der Jobrotation umsetzen kann. ({6}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Wir haben ebenfalls dafür gesorgt, dass die Versicherungspflicht die Zeit des Bezugs von Mutterschaftsgeld, die Zeit des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente und den Zeitraum von drei Jahren für die Erziehung von Kindern umfasst. Ich wiederhole es - ich habe es in diesem Hause schon einmal gesagt -: Das ist ein Quantensprung für diejenigen Frauen, die jetzt nicht nur während der Babypause Anspruch auf bestimmte Leistungen erwerben, sondern auch danach die Chance erhalten, an Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik teilzunehmen. Darüber freue ich mich. ({7}) Für Frauen, die sich qualifizieren wollen, sind Kinderbetreuungskosten ein Problem. Wir erhöhen den entsprechenden Beitrag so, dass Frauen die Betreuung ihrer Kinder wirklich sicherstellen können. ({8}) Es handelt sich also nicht nur um einen kleinen Zuschuss; vielmehr wird dank unserer Maßnahme Kinderbetreuung in Zukunft besser möglich sein. Frauen sind der Arbeitsmarktpolitik noch immer benachteiligt. Nach der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs wird es den Arbeitsämtern möglich sein - ich gebe zu, dass das umstritten war -, Frauen gezielt zu fördern, mindestens entsprechend dem Anteil der Frauen an der Zahl der Arbeitslosen. Auch das ist ein wichtiger Punkt. ({9}) Ich komme auf die letzte Säule unserer Arbeitsmarktpolitik zu sprechen. ({10}) Das von den Sozialdemokraten vorgelegte Arbeits- und Strukturförderungsgesetz hat 1995 ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass wir eine Verzahnung von Infrastrukturpolitik und Arbeitsmarktpolitik wollen. Dem trägt dieser Gesetzentwurf mit dem neuen Instrument der so genannten beschäftigungsfördernden Infrastruktur Rechnung. Ich sage ganz klar: Wir wollen für strukturschwache Gebiete neue investive Möglichkeiten eröffnen. Es geht konkret um zusätzliche Mittel für die Errichtung bzw. für den Ausbau von Schulen, Kindergärten und für die Erschließung von Gewerbegebieten. ({11}) - Herr Niebel, ({12}) ich bete jeden Abend für die Grünen, dass ich nicht in die Verlegenheit komme, mit Ihnen einmal Arbeitsmarktpolitik zu machen. ({13}) Durch unsere Arbeitsmarktpolitik werden Aufträge an die Privatwirtschaft vergeben. Wir bieten nicht irgendwelche Maßnahmen an, sondern wir geben Arbeitslosen für eine gewisse Zeit die Chance - das ist wirklich wichtig -, auf dem ersten Arbeitsmarkt in einem normalen Unternehmen an einem normalen Arbeitsplatz tätig zu sein. Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt wollen Sie doch immer, meine Damen und Herren von der Opposition. ({14}) Trotzdem maulen Sie jetzt herum. Keiner von uns hier ist arbeitslos. Das ist nun wirklich nicht der Fall. ({15}) - Das ist richtig, Herr Grehn. Ich möchte den Arbeitslosen sagen: Dieses Gesetz kann einen Weg in ein Arbeitsverhältnis ebnen. Wir machen damit ein Angebot und schaffen viele neue Chancen. Packen Sie sie beim Schopfe! Vielen Dank. ({16})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die CDU/CSU erteile ich jetzt dem Kollegen Karl-Josef Laumann das Wort.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion der letzten zwei Monate, insbesondere seit Einbringung des Haushaltsgesetzes für das nächste Jahr, und die in dieser und in der nächsten Woche stattfindenden Revisionssitzungen, machen deutlich, dass wir in Deutschland vor einer außerordentlich schwierigen Situation auf dem Arbeitsmarkt stehen. Wir können davon ausgehen, dass es im nächsten Jahr rund 400 000 Arbeitslose mehr gibt, als die Regierung noch vor wenigen Monaten angenommen hat. Wir werden viele Mittel aufbringen müssen, um dieses Problem sozial zu flankieren: 4 Milliarden DM mehr Bundeszuschuss an die Arbeitslosenversicherung, 2,5 Milliarden DM mehr für die Arbeitslosenhilfe. Die Arbeitsmarktzahlen vom Oktober waren die schlechtesten seit vier Jahren. Natürlich schnellen die Sozialversicherungsausgaben in dieser Situation nach oben. Die Einnahmen aus der Ökosteuer reichen nicht einmal mehr aus, um den Rentenversicherungsbeitrag stabil zu halten, dazu muss jetzt auch noch die Schwankungsreserve herangezogen werden. Nach Tabak-, Versicherungund Ökosteuer stehen weitere Steuererhöhungen für die Beschäftigten im Raum. ({0}) Dies markiert schlicht und ergreifend die Situation, vor der wir heute stehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Job-Aqtiv-Gesetz an dieser Situation nichts wesentlich verändern wird. Man kann das gut mit dem Bild umschreiben: Der Berg bebte und es wurde ein Mäuschen geboren. ({1}) Ich sage ja gar nicht, dass Sie in diesem Gesetz nur falsche Maßnahmen vorgesehen haben. In einigen Bereichen stellt es auch eine Fortschreibung des von uns geschaffenen SGB III dar. Sie springen aber bei all den Themenbereichen, die Sie angehen, schlicht und ergreifend zu kurz. ({2}) Meiner Meinung nach führen aber die Instrumente, die Sie einführen, eher zu einem Aufblähen der Bürokratie in der Arbeitsverwaltung, als dass sie wesentliche Hilfen für die Arbeitslosen darstellen. Ich glaube, dass in dieser Situation viel mutigere Schritte in der Arbeitsmarktpolitik nötig sind. ({3}) Wir brauchen eine Verzahnung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Warum machen Sie das jetzt eigentlich nicht? ({4}) Wir brauchen Arbeitsangebote und damit einhergehend eine Verpflichtung zur Arbeit von arbeitsfähigen Hilfeempfängern. ({5}) Wir brauchen eine Umschichtung von ABM- und SAMMitteln in moderne Maßnahmen wie Kombilohn oder Zuschüsse zur Sozialversicherung und zu Einstiegsgehältern. Kurzum: Wir brauchen eine Aktivierung der Beschäftigungspotenziale im Niedriglohnsektor. ({6}) - Sagen Sie nicht, das gehöre alles ins 20. Jahrhundert. Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister, Herr Schartau, designierter Vorsitzender des, wie ich glaube, größten Landesverbandes der SPD, nämlich der SPD Nordrhein-Westfalen, ({7}) fordert seit Wochen - so steht es wenigstens in allen nordrhein-westfälischen Zeitungen - genau dieses. Ich wundere mich schon darüber, dass die Koalitionsfraktionen heute im Rahmen eines anderen Tagesordnungspunktes einen Entschließungsantrag eingebracht haben, in dem sie genau dieses Vorgehen bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe fordern. Warum machen Sie das dann nicht? Schlicht und ergreifend deswegen nicht, weil das Arbeitsministerium nicht den Mut hat, dieses Thema anzupacken. ({8}) Deswegen werden hier Chancen auf Beschäftigung, die im Niedriglohnbereich ohne Zweifel bestehen, vertan. Auch die Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, die Kollegin Wolf von den Grünen, fordert mit Nachdruck, dass im Niedriglohnbereich etwas geschehen müsse. Wir reden dabei gar nicht davon, dass es untertarifliche Bezahlung geben soll. Wer möchte, kann in meinem Büro eine Liste anfordern, auf der in Deutschland existierende Tarifverträge mit Löhnen von unter 13 DM aufgeführt sind. In vielen Bereichen gibt es schon solche tariflichen Löhne. Viele Stellen können aber hier nicht besetzt werden, weil die Höhe der Sozial- und Arbeitslosenhilfe wie eine untere Lohngrenze wirkt. Deswegen müssen wir nach meiner tiefen Überzeugung dieses Thema sehr entschlossen anpacken. Ich kann den Koalitionsfraktionen nur den Rat geben, die Arbeitsmarktpolitik ins Wirtschaftsministerium zu verlagern, wenn das der jetzige Arbeitsminister nicht mitmacht. ({9}) Das läuft in einigen Bundesländern sehr gut. Die Hamburger, die Thüringer und die Sachsen haben sich dafür entschieden. Ich glaube, dass dies angesichts der jetzigen politischen Führung des Arbeitsministeriums die einzige Chance ist, Wirtschaft und Arbeit wieder näher zusammenzuführen. Glauben Sie bloß nicht, dass die von mir vorgeschlagene Arbeitsmarktpolitik unsozial wäre. Der Weg, den auch meine Partei viele Jahre gegangen ist, nämlich den Menschen, die wir zu der Zeit auf dem Arbeitsmarkt nicht brauchten, Geld zu geben, sich aber nicht großartig um sie zu kümmern - die Entwicklung, dass die Kommunen sich um sie kümmern, ist ja auch nicht so neu, seit fünf oder sechs Jahren nimmt dies immer stärker zu -, war unsozial. Denn Menschen, denen die Gesellschaft vermittelt, sie würden nicht gebraucht, verändern sich auf Dauer schwer und können dann manchmal überhaupt nicht mehr für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Deswegen wäre es sinnvoller, jedem, der in Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe ist, ein Arbeitsangebot oder Ausbildungsangebot zu machen. ({10}) Das bekommen wir nur hin, wenn wir die vorhandenen Stellen im Niedriglohnbereich des ersten Arbeitsmarktes attraktiv machen. Darauf kommt es an. ({11}) Ich weiß überhaupt nicht, was daran unsozial sein soll, etwa durch eine degressive Gestaltung der Sozialversicherungsbeiträge gerade in dem Segment der Reinigungskräfte und im Gaststättenbereich netto und brutto wieder näher zusammenzuführen. Bei der Steuer haben wir das durch die hohen Freibeträge gemacht, aber beim Sozialversicherungsbeitrag nicht. Kehren Sie um! Verwenden Sie die Riesenmittel, die Sie für ABM und SAM aufbringen, um hier endlich etwas zu tun. Schönen Dank. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Der Beitrag von Herrn Laumann eben war wieder interessant. Er hat es fertig gebracht, zu dem, was wir hier vorlegen, nämlich zum neuen Job-Aqtiv-Gesetz, so gut wie gar nichts zu sagen. ({0}) - Herr Laumann, ich weiß, warum Sie das nicht tun. Das haben Sie im Ausschuss schon vorgeführt. Denn wenn Sie sich auf das Job-Aqtiv-Gesetz einlassen, auf besondere Instrumente, die wir neu einführen, wie zum Beispiel die Jobrotation, ({1}) dann versuchen Sie sogar, die Urheberschaft für diese neuen Instrumente für sich geltend zu machen. Meine Damen und Herren, Sie haben kein inhaltliches Argument gegen diese Form der neuen Arbeitsmarktpolitik. Sie fordern hier trotzdem Mut in der Arbeitsmarktpolitik ein. Aber Ihr Mut in der Arbeitsmarktpolitik in den vergangenen Jahren hat zu nichts anderem als zu einem Reformstau geführt, den Sie uns hinterlassen haben. Deswegen haben wir uns vor einem Jahr darangemacht, dieses umfassende Werk, das wir hier vorlegen, zu erarbeiten. ({2}) Wir reformieren die aktive Arbeitsmarktpolitik im Kern ihrer Instrumente. ({3}) Wir haben viele zentrale Ziele. Das erste Ziel ist es, die Arbeitsvermittlung zu modernisieren und zu intensivieren. ({4}) Wir schaffen für die Arbeitslosen vom ersten Tag an und für diejenigen, die in die Arbeitslosigkeit kommen werden, auch schon vorher einen Anspruch auf einen Eingliederungsplan, auf maßgeschneiderte Hilfe. Dieser Anspruch wird eines der zentralen Instrumente sein, um die Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen. Wir nehmen mit diesem Gesetz eines der schlimmsten Probleme am Arbeitsmarkt, nämlich die Langzeitarbeitslosigkeit, ins Visier. Das wird eines der zentralen Mittel sein: die frühzeitige Vermittlung, ja die Prävention, wenn Arbeitslosigkeit droht, wenn jemand aber noch in Beschäftigung ist. Diese Konzentration auf das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit wird nicht nur den Betroffenen helfen; es wird auch der Arbeitsmarktpolitik insgesamt und den Kassen der Arbeitslosenversicherung helfen. Unter den 7 Millionen Neuzugängen zur Arbeitslosigkeit, die wir im Moment jährlich haben, sind etwa 10 Prozent gefährdet, in Langzeitarbeitslosigkeit zu kommen. Das wird die Gruppe sein, auf die sich die intensive Hilfe konzentrieren wird. Diese 10 Prozent, die von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht sind, stellen im Verlauf fast 50 Prozent der Arbeitslosen. Das liegt daran, dass sie so lange arbeitslos sind. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn es uns gelingt, die Zahl der Langzeitarbeitslosen zu reduzieren, werden wir in der Lage sein, die Arbeitslosigkeit überproportional zu reduzieren. Eine Senkung der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit um einen Monat bedeutet Einsparungen von 2 Milliarden DM in der Kasse der Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitsvermittlung schneller und effektiver zu machen wird Spielräume in den Kassen schaffen, die wir in der Folge ausnutzen wollen, um die Lohnnebenkosten, nämlich die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, zu senken. Wir werden das, was eingespart wird, an die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zurückgeben. ({5}) Ein weiterer Punkt ist, die Effektivität der Arbeitsvermittlung zu steigern. Es gibt Pläne zur schnellen Eingliederung; es gibt aber auch ein neues Element: Es war gerade für uns Grüne sehr wichtig, dass auch Dritte mit der Arbeitsvermittlung beauftragt werden können, wenn es notwendig ist. Ich denke, dass es viele Arbeitsämter gibt, die sehr intensiv arbeiten, und solche, die zum Teil überfordert sind. Es gibt aber auch viele Arbeitsämter, denen es gut tut, dass ein Element der Konkurrenz eingeführt wird. Ich komme zu einem weiteren Punkt - Frau Nahles hat ihn schon angesprochen -: Um die Effektivität der ArKarl-Josef Laumann beitsvermittlung, also die passgenaue Vermittlung von vorhandenen Arbeitsplätzen, zu steigern, brauchen wir das Element der Qualifizierung. Dazu haben wir das neue Instrument der Jobrotation eingeführt. Die Idee, einem Arbeitslosen zu einem Beschäftigungsverhältnis - auch wenn es zunächst nur ein kurzfristiges ist -, in dem er sich weiterbilden kann, zu verhelfen, schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe und wird in der Zukunft ungeheuer wichtig sein. Zum einem verschafft es demjenigen, der an seinem Arbeitsplatz aufgrund der schnellen Veränderungen und des damit verbundenen Qualifikationsbedarfes immer wieder mit neuen Anforderungen konfrontiert wird, die Möglichkeit, sich weiterzubilden und dadurch seinen Arbeitsplatz in Zukunft zu sichern. Zum anderen baut es demjenigen, der draußen steht, eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Er kann sich dann über Learning by Doing qualifizieren, wodurch seine Chancen, weiter beschäftigt zu werden, steigen. ({6}) Ich glaube, das ist - langfristig gesehen - die zentrale Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft. Der nächste Punkt sind die Änderungen. Wir werden beim Job-Aqtiv-Gesetz nicht nur die zentralen Elemente der Arbeitsvermittlung und Qualifizierung, die am schnellsten wirken, verbessern, sondern wir werden auch - das ist das dritte Element in unserer Prioritätenliste - die Instrumente der Lohnsubventionierung sehr viel effektiver gestalten. Sie werden entbürokratisiert. Es gab einen Dschungel von unterschiedlichen Möglichkeiten der Lohnsubventionierung. Dieser Bereich wird nun überschaubarer. Mit dem Ansatz, dass die Entscheidungen dezentral in der Arbeitsmarktregion selbst getroffen werden, kann die Hilfe über Lohnsubventionierung, am regionalen Arbeitsmarkt konzentriert, sehr viel flexibler erfolgen. Ich möchte an dieser Stelle mit einer Mär aufräumen, die in der Debatte zum Job-Aqtiv-Gesetz auftaucht. Sie behaupten in der Öffentlichkeit immer wieder, Herr Laumann - das haben Sie heute nicht gemacht, weil Sie wissen, dass ich Ihnen die entsprechenden Zahlen auf den Tisch legen kann, die beweisen, dass Ihre Behauptung nicht stimmt -, ({7}) dass wir die Zahl der ABM als Instrument des zweiten Arbeitsmarktes aufbauschen würden. Fakt ist, dass wir die ABM im Vergleich zu dem, was Sie uns hinterlassen haben, zurückgefahren haben. Wir wollen aber an diesem Instrument als einer Möglichkeit für die Regionen, die keinen ausgeprägten ersten Arbeitsmarkt haben und die ABM daher noch brauchen, festhalten. ({8}) Fakt ist aber auch, dass wir im Gegenzug - dazu haben uns die Wissenschaftler geraten - die Lohnsubventionierung hochfahren. Sie behaupten jetzt, dass das neue Instrument der beschäftigungsschaffenden Infrastruktur ein Instrument sei, das ähnlich wie die ABM in den zweiten Arbeitsmarkt hineinwirkt. Sie haben - mit Verlaub - diesen Ansatz nicht verstanden. ({9}) Die beschäftigungsschaffende Infrastruktur ist exakt auf den ersten Arbeitsmarkt gerichtet. Sie ist eine Form der Lohnsubventionierung. Sie wird mit Rahmenbedingungen versehen, die dafür sorgen, dass die Mitnahmeeffekte eingeschränkt werden. Lohnsubventionierung bringt immer Mitnahmeeffekte mit sich. Wir müssen uns aber angesichts der hohen Arbeitslosigkeit immer die Frage stellen, ob es sich trotz dieser negativen Effekte nicht lohnt, den positiven Beschäftigungseffekt mitzunehmen. Das gilt auch für diese Instrumente. Es wird diese Effekte geben. Aber durch die Rahmenbedingungen, die wir gesetzt haben, werden - entgegen Ihren Behauptungen - alle Betriebe, kleine und große Betriebe, die gleiche Chance haben, an diese Mittel heranzukommen. Damit erreichen wir etwas, was wir brauchen, nämlich die marktnähere, die am ersten Arbeitsmarkt orientierte Ausgestaltung der Instrumente der Arbeitsmarktpolitik. ({10}) Ein weiterer zentraler Punkt: Mit unserem Gesetz haben wir auch die Gerechtigkeit beim Zugang zum Arbeitsmarkt wieder ins Visier genommen. Der Arbeitsmarkt schottet ab. Einige Gruppen haben es besonders schwer hereinzukommen; dazu gehören auch die Frauen. Wir haben das Gender Mainstreaming in diesem arbeitsmarktpolitischen Ansatz. Die Frauen können entsprechend ihrer Quote gefördert werden, sie können so lange sogar überproportional gefördert werden, solange ihre gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt noch nicht gesichert ist. Das war der erste Punkt. Auf den zweiten Punkt bin ich besonders stolz, weil wir viele Widerstände zu überwinden hatten. Wir wollten eine Ungerechtigkeit ausräumen: Warum sollen Menschen, die Kinder erziehen - Frauen und hin und wieder auch Männer -, benachteiligt werden, weil sie dieses tun und ihren einmal erworbenen Anspruch auf Arbeitslosengeld, Arbeitslosenunterstützung und Arbeitsvermittlung durch die Kindererziehung verlieren? Das war in der Vergangenheit so. Wir haben das jetzt geändert. Ich sage noch einmal: Das war nicht einfach. Wir hatten viele Widerstände zu überwinden. Hier haben wir eine Gerechtigkeitslücke geschlossen. ({11}) Meine Damen und Herren, wir haben in diesen Beratungen nicht alles erreicht, was wir aus grüner Perspektive gerne erreicht hätten. ({12}) Das habe ich in dieser Woche leider zur Kenntnis nehmen müssen. Ein Punkt ist zum Beispiel die Überlassungsdauer bei Leiharbeit, die wir noch verändern wollten. Wir haben sie verlängert, aber eine Veränderung konnten wir hier nicht durchsetzen. Wir hätten es schon gern gehabt, dass die jetzigen Tarifverträge der Zeitarbeitsfirmen ab dem 13. Monat gegolten hätten, einfach um noch einmal Druck auf die Zeitarbeitsfirmen auszuüben, auch in Tarifbindungen zu gehen. Manchmal gehen Fortschritte nur schrittweise. Das müssen wir so zur Kenntnis nehmen. ({13}) - Herr Niebel, auch wenn Sie jetzt dazwischenrufen: Wir haben es im Gegensatz zu Ihnen erreicht, dass die Überlassungsdauer verlängert worden ist. ({14}) Wenn Sie das Sie mit all Ihrem lauten Dazwischenrufen in Ihrer eigenen Koalition erreicht hätten, dann könnten Sie hier stolz auftreten. So seien Sie mal fein still. ({15}) Meine Damen und Herren, wir haben den Kern der Instrumente renoviert und reformiert. Wir haben nie behauptet, dass mit dem, was hier getan wird, die Arbeitslosigkeit in der Höhe, wie wir sie haben, abgeschafft werden kann. Aber wir können uns - das habe ich am Anfang gesagt den zentralen Problemen nähern, um die Dauer der Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Das ist ein wichtiger Punkt. Alles andere kann aktive Arbeitsmarktpolitik nicht leisten. Beschäftigungspolitik ist gefragt, wenn es um die Ausdehnung der zusätzlichen Beschäftigung geht.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da sind die Lohnnebenkosten, die Höhe der Sozialabgaben zu nennen; Letzteres ist gerade bei niedrig qualifizierten Leuten ein Dreh- und Angelpunkt. An dieser Stelle werden wir weiterarbeiten, weil wir auch in der Beschäftigungspolitik vorangehen wollen. Ich danke Ihnen. Tschüss. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die FDP erteile ich dem Kollegen Dirk Niebel das Wort.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich betrachte es schon einmal als großen politischen Erfolg, Frau Nahles dazu bewegen zu können, jeden Abend zu beten. Nach der Rede von Frau Dückert gehe ich allerdings davon aus, dass es an Blasphemie grenzt, wenn Sie für die Grünen beten. ({0}) Die rot-grüne Bundesregierung kündigt seit Anfang der Legislaturperiode eine umfassende Reform der Arbeitsmarktpolitik an. Das hat jetzt gute drei Jahre gedauert, und nun liegt Riesters neue Bastelarbeit vor, mit einigen kleinen Dingen, die man brauchen kann, und mit vielem, was nichts bewegen wird. Im Endeffekt ist es alles andere als der versprochene große Wurf. Die „Neue Osnabrücker Zeitung“ schreibt heute in ihrem Kommentar, ({1}) dass die Regierung in der Arbeitsmarktpolitik geradezu den Eindruck von Lethargie vermittelt und dass insbesondere dieses Gesetz in puncto Flexibilität und Kreativität im europäischen Vergleich weit hinten anzusiedeln ist. ({2}) Die EU-Kommissarin für Beschäftigung und Soziales, Frau Diamantopoulou, hat die Schwachstelle festgestellt und spricht - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - von dem offensichtlichen Unvermögen, das Tempo der administrativen Reformen dem Tempo des Wandels der Gesellschaft anzupassen. ({3}) Herr Riester, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist das ein absolutes Armutszeugnis. Sie müssen jetzt endlich die Weichen in der Arbeitsmarktpolitik, dem wichtigsten innenpolitischen Problemfeld, in dem Sie bisher grottenmäßig versagt haben, in die richtige Richtung stellen. ({4}) Sie haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einige vernünftige Punkte vorgeschlagen, die wir mittragen - Frau Dückert hat es gerade angesprochen -, insbesondere die Abschaffung der Benachteiligung von Eltern. ({5}) Dies hätte das Bundesverfassungsgericht wahrscheinlich ohnehin verlangt; deswegen ist das vorauseilender Gehorsam. Richtig ist auch, die Arbeitsvermittlung als operatives Kerngeschäft der Bundesanstalt für Arbeit zu stärken. Von 90 000 Mitarbeitern sind im Moment sage und schreibe ungefähr 8 500 tatsächlich in der Arbeitsvermittlung tätig. Hier kann man nicht wie Herr Jagoda die Kolleginnen und Kollegen in den Anlaufstellen und in den Ärztlichen Diensten mitzählen. Es geht um diejenigen, die tatsächlich vermitteln. Die wichtigste Aufgabe im Hinblick auf den Ausgleich des Arbeitsmarkts ist die Vermittlung in Arbeit, Frau Kollegin. Das kostet auch am wenigsten Geld für die Beitragszahler und verhindert die meisten psychosozialen Folgekosten von Arbeitslosigkeit. Deswegen ist dieser Ansatz richtig. Die Jobrotation ist ein Instrument, das man ausprobieren sollte. Ich sage Ihnen allerdings voraus - abgesehen davon, dass man sich darüber wundern kann, dass Sie dies hier im Hause abgelehnt haben, als es von anderer Seite beantragt wurde -, dass es in erster Linie aufgrund der bürokratischen Schwierigkeiten, die damit zusammenhängen werden, ein Instrument für größere Betriebe sein wird, deren Personalabteilungen sich damit beschäftigen können. Gerade die kleinen und mittleren Betriebe, die die Masse der Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, werden dieses Instrument nicht nutzen können. ({6}) Auf der anderen Seite belasten Sie Beitragszahlerinnen und Beitragszahler durch eine Aufblähung kostenintensiver Instrumente. Ganz besonders denke ich hier an die so genannten beschäftigungsfördernden Infrastrukturmaßnahmen. Sie werden erleben, dass kleine Betriebe aufgrund der Ausschreibungsvoraussetzungen faktisch von öffentlichen Auftragsvergaben ausgeschlossen werden. Das kostet Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Betrieben, statt welche zu schaffen. ({7}) Bei den größeren Betrieben wird es dazu führen, dass ungeförderte gegen geförderte Arbeitsplätze ausgetauscht werden. Es wird hier also einen Verdrängungswettbewerb geben. ({8}) Frau Dückert, Sie sagten, ein großer Erfolg sei die Verlängerung der möglichen Verleihdauer. Ich erinnere mich daran, dass Sie in diesem Hause unseren Antrag abgelehnt haben, die Verleihdauer auf 36 Monate zu verlängern. ({9}) Der Umstand, dass Sie ab dem 13. Monat die tariflichen Vertragsbedingungen der Entleihfirma zugrunde legen, bedeutet faktisch nichts anderes, als dass Sie in die Tarifautonomie der Verleihfirmen eingreifen. Die gewerkschaftsunterstützte SPD torpediert gesetzgeberisch die Tarifautonomie von Leasingfirmen. ({10}) Obwohl Sie da doch tarifliche Bindungen haben wollen, wird das dazu führen, dass diejenigen, die jetzt schon Tarifverträge haben, sich aus Wettbewerbsgründen überlegen müssen, ob sie sie aufgeben, weil sie in den ersten zwölf Monaten einen Wettbewerbsnachteil gegenüber der Konkurrenz haben. ({11}) Auch hier haben Sie also nicht weiter gedacht, sondern nur mit einem Schnellschuss versucht, die Gewerkschaftsinteressen zu befriedigen. ({12}) Sie hatten ja einen Änderungsantrag im Ausschuss eingebracht, den Sie durch einen weiteren Änderungsantrag zurückgenommen haben, der verhindern sollte, dass ab dem 13. Monat die tariflichen Bedingungen der Entleihfirma gelten. Nein, Sie müssen in der Arbeitsmarktpolitik neue Wege gehen. Deswegen ist unser Antrag, der hier heute auch zur Debatte steht, zielführend. ({13}) Sie müssen attraktive Rahmenbedingungen schaffen, damit es sich lohnt, Arbeit anzunehmen. ({14}) Dazu gehört der liberale Klassiker der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Herr Riester, die Sozialminister der Länder haben Sie gestern aufgefordert, hier voranzugehen und die Zusammenführung von zwei steuerfinanzierten Leistungen für ein und denselben Lebenssachverhalt endlich auf den Weg zu bringen. ({15}) Also machen Sie es jetzt und „verriestern“ Sie es nicht erst nach der Bundestagswahl. Sie müssen jetzt die Chancen ergreifen, um neue Arbeitsplätze auch im Bereich gering bezahlter Tätigkeiten zu schaffen. ({16}) Sie müssen mehr Flexibilität in der Arbeitslosenversicherung erreichen, zum Beispiel durch Wahltarife. Warum soll denn in der Arbeitslosenversicherung all das falsch sein, was in anderen Versicherungssystemen möglich ist? Dadurch würden Sie Spielräume für Beitragssenkungen schaffen und könnten Arbeitnehmer und Arbeitgeber weiter entlasten, was wiederum Arbeitsplätze schaffen würde. Wir brauchen in erster Linie Arbeitsplätze. Wenn Sie im Ausschuss en passant Ihr Ziel aufgeben, unter 3,5 Millionen Arbeitslose zu kommen, und jetzt für das kommende Jahr mit 3,893 Millionen, also fast 450 000 mehr Arbeitslosen rechnen, als es Ihr erklärtes Ziel war, an dem Sie sich jederzeit messen lassen wollten, dann müssen Sie zu dem Schluss kommen, dass Sie in der Arbeitsmarktpolitik, dem wichtigsten innenpolitischen Thema, komplett versagt haben. ({17}) Ich erinnere daran: Der Bundeskanzler, Ihr Bundeskanzler, unser Bundeskanzler, Herr Schröder, der Bundeskanzler der Deutschen, hat am 21. September 1998 in einem „Spiegel“-Interview Folgendes gesagt; das kann ich mittlerweile auswendig zitieren: Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosenquote signifikant zu senken, dann haben wir es nicht verdient, wieder gewählt zu werden, und dann werden wir auch nicht wieder gewählt werden. ({18}) Lassen Sie sich an Ihren Taten messen. Treten Sie von Rot und Grün gar nicht erst wieder zur Bundestagswahl an. Hören Sie auf Ihren Kanzler! Vielen Dank. ({19})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Klaus Grehn für die PDS-Fraktion.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt ein altes Sprichwort: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Warum sage ich Ihnen das? Seit zwölf Jahren stehe ich aktiv in der Arbeitslosenbewegung. In diesen zwölf Jahren habe ich so viel Licht am Ende des Tunnels gesehen, ich habe so viele Täler durchschritten, ich bin so oft bergauf gelaufen, nach jedem neuen Gesetzentwurf wurden neue Erwartungen aufgehäuft, ({0}) dass ich sage: Ich bin diesbezüglich sehr viel zurückhaltender. Auch Sie haben Anlass, zurückhaltender zu sein und nicht Wunschdenken zu verkaufen. Ich will dabei nicht verhehlen - dazu stehe ich zu sehr auf der Seite der Arbeitslosen -, dass ich Ihnen von ganzem Herzen die Erfüllung Ihrer Erwartungen an dieses Job-Aqtiv-Gesetz wünsche. ({1}) Aber ich bin in zwölf Jahren ein harter Realist geworden. Ich sehe in Ihrem Gesetz eine ganze Reihe von Punkten, die dies nicht erwarten lassen. Die Zahlen sind Ihnen zu Recht vorgeworfen worden; sie sind Realität. Sie haben das Gesetz zu einem Zeitpunkt vorgelegt, zu dem die Arbeitslosigkeit in dramatischer Art und Weise gestiegen ist. Wir sind 1998 wegen des Regierungswechsels auf die Straße gegangen. Sie haben versprochen, dass Sie die Arbeitslosigkeit senken werden. Wir stehen heute wieder an dem Punkt, an dem wir 1998 standen. ({2}) Man muss sogar damit rechnen, dass die Situation noch schlechter wird. Wir haben alle unterbreiteten Vorschläge stets gründlich analysiert und uns um die Erhöhung ihrer Wirksamkeit bemüht, indem wir aus unserer Sicht erforderliche Änderungsvorschläge eingebracht haben. Auch das vorgelegte Gesetz ist an der Realität und ihren Erfordernissen zu messen. So gesehen, Kollegin Nahles, ist das JobAqtiv-Gesetz eben keine ausreichende Antwort. Es ist nicht die große Reform der Arbeitsförderung; es ist schlichtweg nicht die notwendige, angekündigte und versprochene Reform des SGB III. ({3}) - Seien Sie vorsichtig, Herr Kollege. ({4}) Ein kleiner Trost mag es sein, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dass es immerhin besser ist, sich mit Ihrem Gesetzentwurf statt mit Reformschritten von CDU/CSU oder FDP zu befassen. ({5}) Deren Absichten gehen aus ihren Anträgen hervor. Sie stehen hier mit zur Diskussion. Besonders die FDP sollte ihren Vorschlag, die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld drastisch zu kürzen, den Arbeitslosen in den Arbeitsämtern erklären. Kollege Niebel, Sie kommen von dort; erklären Sie es ihnen. Es sind genug da. ({6}) Ihre Vorschläge laufen darauf hinaus, den Betroffenen die unmittelbare Schuld zuzuweisen. Das ist Ihre zentrale Botschaft. ({7}) Dem können wir nicht folgen. Wenn es auch nur ein Teilschritt ist, so greift die Reform der arbeitsmarktpolitischen Förderinstrumente doch ein wichtiges Thema der Arbeitsmarktförderung auf. Wir haben das nie verkannt. Ich will das auch nicht ausführen, denn in unserem Entschließungsantrag haben wir die positiven Seiten Ihres Gesetzentwurfs hervorgehoben. Davon machen wir auch keinerlei Abstriche. Das Gesetz bringt eine Reihe von Verbesserungen. Die Glaubwürdigkeit der Verbesserungen muss sich allerdings an ihrer Finanzierung messen lassen. Da kommen uns erhebliche Zweifel, die beim Prüfen des Etats der Bundesanstalt für Arbeit eher wachsen. Ich will nicht auf die 2 Milliarden Euro verweisen; das ist hinreichend erfolgt. Aber mich bewegt, dass Sie eine Absenkung des Geldes für ABM um 16,2 Prozent und für SAM um 30,5 Prozent zugrunde legen, trotz Ihrer Aussagen, dass Sie die Arbeitsmarktpolitik verstetigen wollen. Dass dies in besonderer Weise zulasten der neuen Bundesländer geht, muss ich nicht extra erläutern. ({8}) Das ist ein zentraler Punkt unserer Kritik. Prävention ist gut und richtig, aber sie darf nicht zulasten der betroffenen Arbeitslosen gehen. Wir fordern eine Reihe von Änderungen, die wir in vier Änderungsanträgen vorgelegt haben, die heute mit zur Diskussion stehen. Sie sind in einer guten Farbe gedruckt: auf Rot. Die wesentlichen Dinge sind: Wir wollen erstens, dass Sie von der Frist von drei Jahren, die man auf eine ABM/SAM-Maßnahme warten muss, abgehen. Diese Frist konterkariert Ihren richtigen Schritt, eine ABM/ SAM ab dem ersten Tag beginnen zu können. Wir wollen zweitens, dass Sie die Sperrzeitenregelung, die verschärft worden ist - auch wenn Sie das bestreiten -, aufheben. Wir wollen drittens, dass die Verleiharbeit generell nicht unterstützt wird, sondern ab dem ersten Tag Tariflohn gezahlt wird, wie es in Europa allgemein üblich ist. ({9}) Wir wollen schließlich viertens, dass die jährliche 3-prozentige Absenkung der Arbeitslosenhilfe zurückgenommen wird; das haben Sie einmal versprochen. Stimmen Sie unseren vier Änderungsanträgen zu, die schlimme negative Auswirkungen des Gesetzes verhindern. Dann können Sie die Stimmen der PDS-Fraktion zu Ihren dazuzählen. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Bundesminister Walter Riester.

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerne lassen wir uns messen. ({0}) Bevor wir uns hier in eine Depression hineinreden, ({1}) will ich zu den schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eines feststellen: In den letzten drei Jahren ist die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse um 1 Million gestiegen, ({2}) die der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 750 000. Die Arbeitslosigkeit ist erstmals um 400 000 abgesenkt, ({3}) und dies noch vor der großen Reform der Arbeitsmarktpolitik. Warum, meine Damen und Herren? Zuerst einmal, weil wir gegen Ihre Widerstände eine Steuerreform realisiert haben, ({4}) zum Zweiten, weil wir gegen Ihre Widerstände eine Rentenreform realisiert haben, ({5}) zum Dritten, weil wir gegen Ihre Widerstände ein Jugendsofortprogramm aufgelegt haben, mit dem 330 000 junge Menschen zusätzliche Chancen bekommen haben, ({6}) zum Vierten, weil wir gegen Ihre Widerstände das Schwerbehindertenrecht geändert haben und zwischenzeitlich 25 800 schwerbehinderte Arbeitslose weniger haben. ({7}) Das waren die ersten wichtigen Schritte. Nun führen wir die große Reform der Arbeitsmarktpolitik durch. Um was geht es im Kern? Das Herzstück ist die schnelle und passgenaue Vermittlung arbeitsloser Menschen. ({8}) Es geht darum, dass zukünftig bei Eintritt der Arbeitslosigkeit verbindlich festgelegt wird, welche Chancen und Risiken es gibt, welche Angebote dem Arbeitslosen gemacht werden können, aber auch, was an eigenem Beitrag zu leisten ist, um ganz schnell und passgenau Arbeit zu finden. Darum geht es im Kern. Zweiter Punkt: Qualifizierung. Wenn Beschäftigte an einer Qualifizierungsmaßnahme teilnehmen, soll die Möglichkeit bestehen, diese Arbeitsplätze für die Zeit der Maßnahme mit geeigneten Arbeitslosen zu besetzen, wofür volle Unterstützung gewährleistet werden soll. Hier ist einerseits Qualifizierung, andererseits Einbringen in den Arbeitsmarkt gefordert. Beides gehen wir an. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, es gibt zwei Bitten um Zwischenfragen. Wollen Sie sie zulassen?

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Nein, ich möchte sie dieses Mal nicht zulassen, sondern ich möchte im Zusammenhang vortragen. ({0}) Dritter Punkt: Qualifikation. Wir beenden nicht nur die Frühverrentungspraxis, sondern wir bieten Alternativen an, und zwar dergestalt, dass Arbeitnehmer ab 50 zukünftig - meine Damen und Herren, das ist eines der wichtigen Programme auch für kleine und mittelständische Betriebe - eine bis zu hundertprozentige Unterstützung von der Bundesanstalt für Arbeit für ihre Qualifizierung bekommen. ({1}) Wir wissen, dass in vielen Großbetrieben Qualifikation systematisch betrieben wird, dass es aber vielen Kleinund Mittelbetrieben schwer fällt, hier Anstrengungen zu unternehmen. Hier bedarf es der Unterstützung, und zwar einerseits für die Beschäftigten, andererseits aber auch für die Betriebe. Nächster Punkt. Wir wollen - das ist familienfreundlich - die Möglichkeit schaffen, Kindererziehung und Berufstätigkeit so zu verbinden, dass der Übergang in den Arbeitsmarkt wieder möglich ist. ({2}) Damit führen wir eine Reform der Arbeitsmarktpolitik durch, ({3}) die Qualifikation und Vermittlung stärkt. Ich bin der Bundesanstalt für Arbeit dankbar, dass sie parallel dazu bereits mehr als 1 000 Vermittler eingestellt hat und schult und mit insgesamt 2 000 zusätzlichen Stellen in die Vermittlung eintritt. Wir werden darüber hinaus den Vermittlungsprozess außerhalb der Bundesanstalt für Arbeit noch mit etwa 1 000 Stellen bei Dritten fördern. Das ist der größte Schub in Arbeitsvermittlung, den es jemals gegeben hat. ({4}) Damit wird der Steuerreform und der Reform der Sozialversicherung die Reform des Arbeitsmarktes folgen. Nun habe ich in der vorhergehenden Debatte gehört, dass einige erklärt haben, sie wollten - wenn ich Herrn Laumann richtig verstanden habe - sofort unmittelbar die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenführen. ({5}) Sie haben 16 Jahre lang Zeit gehabt und jetzt fällt es Ihnen ein. Das aber nur als Randbemerkung. ({6}) - Damals war die SPD in der Opposition. Sie haben es nicht einmal geschafft, eine solche Sache anzugehen, Herr Laumann. ({7}) Jetzt aber haben Sie dem ersten Ansatz, bei der Arbeitslosenhilfe eine Korrektur vorzunehmen, sofort Ihr Veto entgegengehalten; daran darf ich Sie erinnern. Selbst an diesem Punkt haben Sie versagt. ({8}) Gleichzeitig erklären Sie im Parlament, wir bräuchten einen Niedriglohnbereich und die Arbeitslosenhilfe sei zu hoch. Wissen Sie, wie hoch die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe ist? Ich will es Ihnen einmal sagen: 985 DM. Das ist dem Herrn Laumann zu hoch. ({9}) Deswegen möchte der Herr Laumann die Arbeitslosenhilfe am besten sofort streichen. ({10}) Jetzt sind wir bei den Fakten. Wir haben erklärt, wir wollen die Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen. ({11}) Die Arbeits- und Sozialministerkonferenz hat das unterstützt. ({12}) Sie hat gefordert, das im Jahre 2002/2003 anzugehen. Wir haben die ersten Schritte eingeleitet, auch gegen Ihren Widerstand. ({13}) Wir haben die MoZArT-Projekte aufgelegt. In diesen 30 Modellprojekten läuft es hervorragend. Wir werden das machen - das kann ich Ihnen zusagen -, auch gegen Ihren Widerstand. ({14}) Herr Niebel, Sie haben ein wahrscheinlich aus dem Zusammenhang gerissenes Argument der Frau Diamantopoulou angeführt. Das werden wir nachprüfen. Ich kann Ihnen aber eines sagen - das ist zwischenzeitlich sicherlich zweifelsfrei -: Im Jahre 1997 hat das deutsche Volk das Wort „Reformstau“ zum Wort des Jahres gewählt. Sie haben die Rentenreform abgelehnt. Sie haben die Gesundheitsreform torpediert. ({15}) Sie haben die Steuerreform abgelehnt. ({16}) Sie werden heute die Arbeitsmarktreform ablehnen. ({17}) Sie haben nichts dazugelernt. ({18}) Wir werden diese Reformen vorantreiben, und zwar auch gegen Ihren Widerstand. Das werden wir machen. Das werden wir auch in der Arbeitsmarktpolitik machen. ({19}) Ich habe den Eindruck, dass Sie diese Frage nicht so furchtbar interessiert, wenn ich mir die Besetzung anschaue. Herzlichen Dank. ({20})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt gibt es zwei Wünsche nach Kurzinterventionen. Die erste, Herr Dr. Grehn, bitte sehr. - Herr Minister, Sie können darauf antworten.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Es tut mir Leid, aber die Frage ist mir zu wichtig, als dass ich darauf verzichten könnte, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich bitte um Verständnis. Erstens, Herr Minister, zum Eingliederungsplan. Es steht mir nicht an zu sagen, dass es für einige Arbeitslose in Ordnung und richtig ist, ich frage nur hinsichtlich ihrer hohen allgemeinen Erwartungen: Was nutzen Ihnen Eingliederungspläne für Arbeitslose, wenn in den neuen Bundesländern insgesamt auf 22Arbeitslose eine offene Stelle kommt? Wo wollen Sie da mit Ihren Arbeitslosen hin? Das müssten Sie mir einmal beantworten. Zweitens. Ich will davon ableiten, das A und O bleibt die Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen. Da sehe ich in Ihrem Gesetz einen Ansatz, der sich im Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung bewegt. Ich gestehe, dass ich da sehr enge Beziehungen zu unserem Antrag über einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor sehe. Wir mögen da ein Stück auseinander sein, aber es gibt dort sehr enge Berührungspunkte. Da wäre es beispielsweise möglich, dies mit der Projektförderung über einen längerfristigen Zeitraum zu verknüpfen, um das Hinüberwachsen in den ersten Arbeitsmarkt zu befördern. Allerdings hätten Sie eine weitere Möglichkeit, wenn Sie eben nicht die Wartefrist nach einer ABM-Stelle so generalisierend einführen, wie es hier geschieht. Es steht nicht da, ob nach einem viertel oder halben Jahr oder einem Jahr - die ABM, werden ja inzwischen gesplittet die Wartefrist eintritt und sie haben dann nach einer SAM ebenfalls eine Wartefrist von drei Jahren. Haben Sie ein Projekt, mit dem Sie ein vernünftiges Konzept zum Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt haben - Ausgründung hat man früher dazu gesagt - dann schaffen Sie das nicht mit einem Personal, das bei ABM jährlich wechselt und bei SAM dreijährlich wechselt. Jeder weiß, dass ein Unternehmen fünf bis sieben Jahre braucht, um sich zu etablieren. Es sei denn, Sie erklären hier, dass wir immer noch den ursprünglichen Gründungsideen des Arbeitsförderungsgesetzes anhängen, das eigentlich zum Parken gedacht ist. Ich meine, es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, dass ein Gutteil der Arbeitsförderung benutzt wird, um in den ersten Arbeitsmarkt hinüberzuwachsen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer weiteren Intervention gebe ich Herrn Kollegen Singhammer das Wort. An sich könnte der Minister auf jede Intervention antworten, aber wenn Sie sich alle ein bisschen kürzer fassen und er dann zusammenfassend darauf antwortet, wäre das für den Ablauf der Debatte ganz richtig - Herr Singhammer, bitte sehr.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gern, Frau Präsidentin. Da der Minister nicht in der Lage war, Zwischenfragen zuzulassen, ({0}) wähle ich den Weg der Intervention. Herr Minister, trifft es zu - darauf müssen Sie natürlich eingehen -, dass jetzt in dieser Woche das Arbeitsministerium in dieser Vorlage für die Nachtsitzung des Ausschusses erstmals offiziell von 3,9 Millionen Arbeitslosen im Durchschnitt ausgeht, nachdem Sie zuvor 3,5 Millionen als das anzustrebende Ziel genannt haben und jetzt selbst einräumen, dass es im nächsten Jahr 3,9 Millionen im Durchschnitt sein werden? Das bedeutet, dass wir zu den Jahreszeiten, die für den Arbeitsmarkt ungünstig sind, deutlich über 4 Millionen kommen werden und damit Ihre gesamten Bemühungen und Anstrengungen auf dem Arbeitsmarkt gescheitert sind, ({1}) weil das natürlich gravierende Auswirkungen nicht nur auf die Betroffenen haben wird, die um ihren Arbeitsplatz bangen, sondern auch auf die Sozialversicherungssysteme, denen dann die Einnahmen fehlen werden. Die Einnahmen fehlen in der Rentenversicherung, in der Krankenversicherung, in der Pflegeversicherung, in der Arbeitslosenversicherung. Dann sage ich Ihnen noch etwas im Zusammenhang mit der Sozialhilfe, weil Sie hier den Kollegen Laumann genannt haben. Haben Sie schon vergessen, dass die gemeinnützige Tätigkeit, die wir vielen Sozialhilfeempfängern ermöglichen wollten, früher aus Ihren Reihen als „Zwangsarbeit“ verteufelt wurde? ({2}) Das sollten Sie einmal zugestehen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat zu einer Kurzintervention der Kollege Niebel das Wort, bitte sehr. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, Sie haben anklingen lassen, dass Sie vermuten, ich hätte falsch zitiert. Deshalb erlaube ich mir, Ihnen den Kommentar der „Neuen Osna-brücker Zeitung“ von heute, auf den ich mich bezogen habe, in Gänze vorzutragen - das ist sicher sehr interessant für Sie -: Wie die Dominosteine fallen in diesen Tagen die einzelnen Elemente in Eichels Finanzplanung. Noch bevor die Steuerschätzer ihre Hiobsbotschaften ausbreiten, hat die Bundesanstalt für Arbeit schon das Loch berechnet, das die Konjunkturflaute im nächsten Jahr in ihre Kasse reißt. ({0}) Vier Milliarden wird der Bund zuschießen müssen; der Finanzminister hatte dafür im Etat bislang keinen Pfennig vorgesehen. Die Beitragssenkung, die Arbeitsminister Riester bereits in Aussicht gestellt hatte, sie liegt wieder in weiter Ferne. Wenn das Geld knapp ist, wächst für gewöhnlich der Reformdruck. Doch bei dieser Regierung scheint dies anders zu sein; sie vermittelt in der Arbeitsmarktpolitik geradezu den Eindruck von Lethargie. ({1}) Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz soll zwar die Vermittlung effizienter gestaltet werden, doch in puncto Flexibilität und Kreativität bei der Nutzung der Beschäftigungschancen liegt die Bundesrepublik im europäischen Vergleich weit hinten. (Franz Thönnes [SPD]: Können Sie auch eine andere Zeitung vorlesen? Die Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe kommt so quälend voran, dass die Sozialminister der Länder ungeduldig werden. Die EU-Kommissarin für Beschäftigung und Soziales, Anna Diamantopoulou, ({2}) hat die Schwachstelle genau bezeichnet: das offensichtliche Unvermögen, das Tempo der administrativen Reformen dem Tempo des Wandels der Gesellschaft anzupassen. ({3}) Riester sollte sich ein Beispiel an seinem Kollegen Otto Schily nehmen: Der hat in kürzester Frist, weil es drängte, gleich zwei Sicherheitspakete auf den Weg gebracht. Der Arbeitsmarkt verlangt nicht weniger Einsatz. Dem Job-Aqtiv-Gesetz müssen schnell weitere Initiativen folgen. So weit die „Neue Osnabrücker Zeitung“ von heute. Ich habe das ordnungsgemäß vorgelesen und gebe das so zu Protokoll. Herr Riester, Sie sind gescheitert. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Bundesarbeitsminister, der sicherlich keine Lesung halten, sondern etwas sagen wird. ({0})

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Herr Grehn, in einem Punkt gebe ich Ihnen Recht: Der Eingliederungsplan wird dann nichts bringen, wenn es nichts zu vermitteln gibt. Aber wir haben im Moment immer noch rund 400 000 gemeldete offene Stellen. Offensichtlich gibt es darüber hinaus noch deutlich mehr nicht gemeldete offene Stellen. ({0}) Deshalb ist es wichtig, dass wir diesen Vermittlungsprozess dort, wo es etwas zu vermitteln gibt, wesentlich effizienter und schneller machen. Darum geht es. ({1}) Ein zweiter Punkt: Wo es geht, werden wir den Übergang vom öffentlich geförderten in den ersten Arbeitsmarkt organisieren. Aber wenn es irgendwie geht, möchte ich die öffentlich geförderte Beschäftigung als Zwischenstufe von vornherein vermeiden. Ich bin dafür, Herr Grehn, dass wir dann, wenn wir keine anderen Angebote haben, den Menschen, die nicht zu vermitteln sind, die Möglichkeit eröffnen, im Wege von Strukturanpassungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Arbeit zu gelangen. Dies ist immer noch besser als die Alternative, beschäftigungslos alimentiert zu werden. Deswegen haben wir das jetzt so ausgestaltet, dass eine bessere Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Infrastrukturmaßnahmen erfolgen kann. Aber unser vorrangiges Interesse ist immer, die Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zu schlagen. Herr Singhammer möchte von mir Dinge bestätigt wissen, die ich so natürlich nicht bestätigen kann. ({2}) Nach der von der Bundesregierung - nicht nur vom Arbeitsministerium - für das nächste Jahr unterstellten Arbeitsmarktentwicklung wird ein Wert erreicht werden, der unter 3,9 Millionen Arbeitslosen liegt. ({3}) Daraus abzuleiten, dass die Arbeitsmarktpolitik gescheitert ist, ist schon eigenartig. Nur, um noch einmal darauf hinzuweisen: Die durchschnittliche Arbeitslosenzahl, die wir von Ihnen übernommen haben, lag bei 4,3 Millionen. ({4}) 400 000 Arbeitslose weniger ist kein Scheitern, sondern Ausdruck aktiver Politik für Arbeitsplätze. Sie wären wahrscheinlich wie um das goldene Kalb getanzt, hätten Sie diese Zahl zu Ihrer Zeit erreicht. ({5}) Nun zum dritten Punkt. Ich bin froh, dass Herr Niebel vorgelesen hat - es hat zwar ein bisschen Zeit in Anspruch genommen -, ({6}) dass Frau Diamantopoulou nicht die Bundesregierung oder den Arbeitsminister, sondern die Entwicklung in der EU angemahnt hat. ({7}) Dies war es wert, dass uns Herr Niebel das noch einmal vorgelesen hat. Genau deswegen habe ich interveniert. Denn ich weiß, dass ich bei Ihnen besonders vorsichtig sein muss. Man muss erkennen, in welchen Zusammenhang Sie Aussagen von bestimmten Personen stellen. Herzlichen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat die Kollegin Brigitte Baumeister, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Bitte sehr.

Brigitte Baumeister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000112, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ich wundere mich ein wenig. Ich möchte zwei Dinge, die Sie angesprochen haben, aufgreifen. Glauben Sie denn wirklich, dass die Rentenreform vor dem Hintergrund, dass Sie an die Schwankungsreserve herangehen müssen, ein Erfolg ist? ({0}) Glauben Sie wirklich, dass die Steuerreform ein Erfolg ist, wenn es gleichzeitig zu einer Benachteiligung des Mittelstandes kommt und Sie Steuererhöhungen durchführen? ({1}) Wenn man die Situation auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft im Allgemeinen ansieht, kann man in der Tat depressiv werden. Ich sage Ihnen ganz klar: Die Wirtschaft lahmt im Augenblick. Die Zahl der Aufträge ist stark zurückgegangen. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und viele Betriebe wollen durch Urlaubsumschichtungen, durch freiwilligen Lohnverzicht oder durch Verzicht auf das Weihnachtsgeld den drohenden Stellenabbau verhindern. Sie selbst haben in dieser Woche kundgetan, dass Sie im Jahre 2002 mit im Durchschnitt 3,89 Millionen Arbeitslosen rechnen. Ich frage Sie an dieser Stelle wirklich, ob Sie damit nicht deutlich Ihr Ziel verfehlt haben. ({2}) Wir sind der Meinung, dass es hier zweierlei bedarf: Erstens. Die Konjunktur muss wieder in Schwung gebracht werden. Dazu bedarf es hier in Deutschland Reformen, die mutig sein müssen. ({3}) Die Wirtschaft muss wieder die Chance bekommen, überhaupt Arbeitsplätze schaffen zu können. Ich persönlich denke da nicht in erster Linie an ein neu aufgelegtes Konjunkturprogramm oder an ein Vorziehen der Steuerreform. Sie sollten aber einmal den Antrag der CDU/CSU-Fraktion lesen. In ihm ist die Forderung enthalten, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um insgesamt 1 Prozentpunkt zu senken. Das wäre ein deutlicher Schritt zur Absenkung der Lohnnebenkosten. Zweitens. Arbeitslose müssen besser und schneller vermittelt werden. Ich habe im Ausschuss kundgetan, dass ich Ihnen in diesem Punkt zustimme. Dieses Vorhaben ist in Ihrem Koalitionsvertrag enthalten; doch der Gesetzentwurf kommt leider relativ spät. In zwei Punkten stimme ich Ihnen zu: beim Profiling und beim Eingliederungsvertrag. Es ist richtig - die Arbeitsämter verbinden damit in der Tat eine gewisse Hoffnung -, dass durch diese Instrumente die Situation besser wird. Grundsätzlich aber möchte ich Ihnen sagen, dass ich mir beim Eingliederungsvertrag die Frage stelle, was passiert, wenn die Vereinbarungen nicht eingehalten werden. Was können die Betreuer über die jetzt schon bestehenden Sanktionen hinaus überhaupt tun? Auf diese Frage habe ich keine Antwort bekommen. Ferner beklagen die Arbeitsämter die Regelung in § 49 Abs. 2 SGB III, in der Trainingsmaßnahmen von vier Wochen, Bewerbungsseminare von zwei Wochen und ein betriebliches Praktikum von acht Wochen vorgesehen sind. Die Arbeitsämter hätten es gerne, dass Arbeitslose, wenn sie in einem Betrieb ein Praktikum nicht erfolgreich abgeschlossen haben, in einem anderen Betrieb ein Praktikum von gegebenenfalls noch einmal acht Wochen machen können. Hierzu sage ich Ihnen: Flexibilität ist nicht gefragt. Es kommt vielmehr zu Einschränkungen. Frau Nahles, Sie haben die Leistungen für Frauen sehr hervorgehoben. ({4}) Ich möchte Sie fragen: Was haben Sie für Alleinerziehende getan? Was haben Sie bei der Kinderbetreuung gemacht? Sie haben diese um 1 000 DM gesenkt. ({5}) - Ihr Schreien nützt nichts; deswegen werde ich nicht lauter. - Ich frage Sie auch: Was haben Sie beim Ausbildungsfreibetrag gemacht? Den haben Sie doch gesenkt. ({6}) Oder: Was ist mit der Haushaltshilfe? Ab dem 1. Januar 2002 wollen Sie die Freibeträge für eine Haushaltshilfe abschaffen. Mit Ihrer Familienpolitik können Sie sich nicht allzu sehr brüsten. Ich möchte noch einige Bemerkungen zu der im Gesetzentwurf vorgesehenen Beschäftigung schaffenden Infrastrukturförderung machen. Nach Ihrem Gesetzentwurf sollen Firmen öffentliche Aufträge, zum Beispiel für den Bau von Kinderspielplätzen oder öffentlichen Einrichtungen, erhalten, wenn sie eine festgelegte Anzahl von Arbeitslosen beschäftigen, die vom Arbeitsamt finanziert werden. ({7}) - Es ist richtig, Herr Thönnes: Die Arbeitslosen werden nicht allein vom Arbeitsamt bezahlt, sondern nur mitfinanziert. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich greife ein Argument auf, das in der Anhörung genannt wurde. In erster Linie schadet dies dem Handwerk und dem Mittelstand. Gerade die Vertreter der Gartenbaubetriebe und der Bauindustrie haben Ihnen in der Anhörung gesagt, dass sie sich damit keineswegs einverstanden erklären können. Ich werde Ihnen aufzeigen, wozu das führt: Arbeitnehmer und Arbeitgeber bezahlen über ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung - immerhin 6,5 Prozent - kommunale Infrastrukturprojekte mit. Die Beitragszahlungen sichern nicht das Risiko von Arbeitslosigkeit ab, sondern mit Ihnen werden die Langzeitarbeitslosen mitfinanziert. ({8}) Ob das tatsächlich der Sinn der Arbeitslosenversicherung sein kann, frage ich mich ernstlich. Ich frage mich auch, ob dies nicht ein Subventionstatbestand ist, den Sie immer wieder kritisieren. Gravierende Folgen in diesem Gesetzentwurf - ich habe es schon erwähnt - werden bei kleinen und mittelständischen Betrieben sowie beim Handwerk sichtbar. Diese sind in mehrfacher Hinsicht benachteiligt. Erstens. Diese kleinen Betriebe haben überhaupt nicht die Möglichkeit, die Obergrenze von 35 Prozent bei einem Auftrag auszuschöpfen. Das können sie gar nicht. ({9}) Zweitens. Es sind vor allem größere Unternehmen, die gute Kontakte zu den Kommunen pflegen und von dieser Förderung möglicherweise mehr als kleinere Betriebe profitieren. ({10}) - Warten Sie es erst einmal ab! Drittens. Diese größeren Betriebe stellen mit ihren günstigen Angeboten eine härtere Konkurrenz für die kleineren Betriebe dar. Diese Regelung - das sage ich Ihnen jetzt schon voraus - wird mit Sicherheit negative Folgen auf dem Arbeitsmarkt haben. ({11}) Manche Betriebe - Herr Niebel hat es vorhin schon gesagt - könnten sogar animiert werden, regulär Beschäftigte abzubauen und auf dieses Instrument der Förderung von Arbeitslosen auszuweichen. ({12}) Selbst Frau Engelen-Kefer und der Kollege Wiesehügel schließen nicht aus, dass damit ein Drehtüreffekt eintreten könnte. Insgesamt ist damit die unausweichliche Gefahr verbunden, dass Länder und Kommunen ihre Mittel für öffentliche Investitionen zurückfahren werden. Ich möchte noch einige wenige Bemerkungen zur Arbeitnehmerüberlassung machen. Ich bin froh, dass Sie diesbezüglich Ihre Zweifel ausgeräumt und die Anhebung der Verleihdauer auf 24 Monate übernommen haben. Aber die Regelung, ab dem 13. Monat den Tarifvertrag der Firma zu übernehmen, in der der Verleihende arbeitet, wird in der Praxis große Probleme mit sich bringen. Für die Industrie ist es nur dann attraktiv, wenn der Leiharbeiter günstiger als der Normalbeschäftigte ist. ({13}) Außerdem fehlen in dem Gesetz Deregulierungsschritte. Ich nenne das von uns angemahnte Synchronisationsverbot und das Wiedereinstellungsverbot. Ich möchte auch noch ein Wort zum Kombilohn sagen. Sie argumentierten im Ausschuss, die bisherigen Erfahrungen seien nicht besonders gut. Ich frage Sie: Warum machen Sie diesen Versuch nicht flächendeckend? Dann können wir tatsächlich Erfahrungen sammeln. Wir sind der Meinung - das ist ein Bestandteil unseres Antrages -, dass dies eine Maßnahme für den Niedriglohnsektor sein könnte. Das ist wichtig. ({14}) Insgesamt möchte ich betonen: Das Job-Aqtiv-Gesetz hat einige gute Ansätze, aber in der Gesamtheit wird mit ihm viel zu kurz gesprungen. Das habe ich bereits im Ausschuss gesagt. Sie werden erleben müssen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dass die Opposition Sie weiterhin daran messen wird, ob Sie mit diesem Gesetz einen Erfolg erzielen werden, nämlich den Abbau der Arbeitslosigkeit. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat die Kollegin Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Niebel, eine kleine Qualifizierungsoffensive für Sie: Vielleicht wäre es ganz sinnvoll, wenn Sie ab und zu weniger Zeitung und dafür mehr die Ausschussdrucksachen lesen würden. ({0}) Ich empfehle Ihnen wärmstens die Ausschussdrucksache 14/1838 als Lektüre. Wenn wir heute - damit leite ich zum Thema über - das Job-Aqtiv-Gesetz verabschieden, dann machen wir den Weg für eine aktive Arbeitsmarktpolitik frei. Dieses Gesetz enthält genau die vier, fünf Punkte, deren Umsetzung die EU schon vor drei Jahren angemahnt hat, also zu einer Zeit, als zwar nicht Sie persönlich, Herr Niebel, aber Ihre Partei in der Verantwortung war. Man sagt immer, dass man etwas siebenmal wiederholen muss, bis Kinder es verstanden haben. Vielleicht muss man es für Sie vierzehnmal wiederholen. ({1}) Ich möchte Ihnen deswegen noch einmal erklären, welche Grundsätze dem Job-Aqtiv-Gesetz zugrunde liegen. ({2}) Wir wollen zuallererst Probleme lösen und nicht aussitzen. Wir wollen den Grundsatz „Fordern und fördern“ verfolgen. Wir wollen besondere Zielgruppen, Ältere, Un- und Angelernte und die Frauen zusätzlich fördern. Wir wollen das neue Instrument der Jobrotation einsetzen. Wir wollen den Frauen mehr Teilhabe und Chancengleichheit am Arbeitsmarkt einräumen. Wir wollen vor allem die Infrastrukturpolitik mit der Arbeitsmarktpolitik verzahnen, Frau Baumeister. So etwas können auch wir im reichen Baden-Württemberg gebrauchen. ({3}) - Das wird auch bezahlt. Hätten Sie doch bei der Anhörung gut zugehört! Der Schwabe wird sich freuen; denn die Verpflichtung zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik sowie die Verbesserung und Beschleunigung der Vermittlungsarbeit - das müssten auch Sie, Herr Niebel, wissen - haben positive finanzielle Folgen für die Arbeitsämter. ({4}) Das geht nicht auf meine Berechnungen zurück, sondern auf die von Herrn Egle - er kommt ja von der Fachhochschule Mannheim, an der Sie nach Ihrer Bundeswehrzeit vielleicht auch einmal studiert haben -, ({5}) die er während der Anhörung vorgetragen hat. Er hat folgende Rechnung aufgemacht: Wenn die Verweildauer um drei Tage verkürzt wird, dann verringern sich die anfallenden Kosten der Arbeitslosigkeit - bezogen auf 200 000 Arbeitslose - um rund 2,6 Milliarden DM. Diese 2,6 Milliarden DM können wir dann in die Förderung des Arbeitsmarktes investieren. ({6}) Das müsste Sie als Schwabe doch freuen. ({7}) - Ich lasse keine Zwischenfrage zu, weil ich zum Ende kommen möchte. Ich glaube nicht, dass uns Ihre Einlassungen weiterhelfen würden. ({8}) Wir machen mit dem Job-Aqtiv-Gesetz einen Einstieg zum lebensbegleitenden Lernen möglich. Wir fördern und unterstützen die Kultur des Lernens getreu dem Motto: Die Unterweisung muss mehr gelten als die Überweisung. Sie wissen gerade aufgrund der Erfahrungen, die man im reichen und sehr gut dastehenden Baden-Württemberg gemacht hat, dass berufliche Qualifikation notwendig und wichtig ist. ({9}) - Einen Moment, darauf komme ich noch zu sprechen. Herr Grehn würde sich sicherlich freuen, wenn die ostdeutschen Bundesländer die Arbeitsmarktzahlen aufzuweisen hätten, die zum Beispiel wir in Baden-Württemberg haben. Dennoch gibt es ein Problem, nämlich das Problem der Un- und Angelernten. Sie wissen ganz genau, ein unoder angelernter Arbeiter aus der Automobilindustrie kann nicht einfach in die Gaststätte zum Wischen und Putzen geschickt werden. Er braucht andere Qualifizierungsangebote, um sich für den Arbeitsmarkt fit zu machen. ({10}) - Es wurde auch etwas getan, Herr Singhammer. In Stuttgart wurde zum Beispiel in Vorgriff auf unser neues Arbeitsmarktkonzept, das wir mit unserem Job-Aqtiv-Gesetz umsetzen, der Anteil der Langzeitarbeitslosen innerhalb von vier Jahren um 40 Prozent reduziert, und zwar durch Weiterqualifizierung und Vermittlung. Der Arbeitsamtsdirektor von Stuttgart, Wolfgang Gerlach - ich zitiere jetzt die „Stuttgarter Zeitung“, nicht die „Neue Osnabrücker Zeitung“ -, hat gesagt: Die Maßnahmen - Langzeitarbeitslose werden qualifiziert und vermittelt -, die zur „Stuttgarter Erfolgsgeschichte“ beigetragen haben, wollen wir bundesweit flächendeckend einführen. Dazu brauchen wir das Job-Aqtiv-Gesetz. ({11}) Als ich mir alle Anträge, die Sie im Laufe der Beratungen eingebracht haben, genau angeschaut habe, habe ich festgestellt: Sie haben schlichtweg nichts dazugelernt. Sie haben Ihre alten Konzepte, die Sie bis 1998 durchzusetzen versucht haben, immer wieder in die Beratungen - sozusagen wiedergekäut - eingebracht. ({12}) Ihre Forderungen lassen sich auf Deregulierung, Leistungskürzungen und Verfolgen der Arbeitslosen mit der Meldepflicht - das ist ursprünglich eine Forderung der CDU/CSU - reduzieren. Das heißt auch Zusammenführen von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. Es kann durchaus gut sein, wenn Arbeits- und Sozialämter besser zusammenarbeiten, Sie aber haben schlichtweg die Kürzung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Kopf. ({13}) - Nein, das denke ich nicht, weil auch Ihre Kollegen in den Gemeinderäten über dieses Thema mit den entsprechenden Argumenten diskutieren. Ich glaube, Sie müssen ein bisschen vorsichtiger sein. Sie können nicht die Hand zum Schwur heben, wenn Sie behaupten wollten, Sie hätten keine Leistungskürzungen im Auge. Ihr Fraktionsvorsitzender hat heute im „Morgenmagazin“ lauthals verkündet, ({14}) an dieser Schraube müsse gedreht werden, damit Beschäftigung möglich gemacht werden könne. Das ist Ihr Konzept, das Sie in Bezug auf den Arbeitsmarkt verfolgen. ({15}) Wir halten Ihr Konzept der Deregulierung und Liberalisierung nicht für zukunftsfähig und auch nicht für nachhaltig. ({16}) Wir gehen unseren Weg der Nachhaltigkeit auch in Fragen der Arbeitsmarktpolitik, der Weiterbeschäftigungspolitik und der Qualifizierungspolitik. ({17}) Ein Wort noch an die Adresse der Arbeitgeber. Wenn wir heute dieses Gesetz auf den Weg bringen, haben wir unsere Hausaufgaben erledigt. Wir haben die Aufgaben erledigt, die wir im Bündnis für Arbeit verabredet haben, nämlich Rahmenbedingungen für die Arbeitsmarktpolitik zu schaffen. Ich habe eine Bitte und eine Forderung an die Arbeitgeber, die auch im Bündnis für Arbeit sitzen. Wir haben 1,8 Milliarden Überstunden und eine steigende Arbeitslosigkeit. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass die Unternehmen ihrer Verantwortung gerecht werden, die Überstunden in Beschäftigung umzusetzen. Wir liefern die Instrumente durch Lohnkostenzuschüsse, Weiterbildungsangebote und Jobrotation. Diese Instrumente müssen von den Unternehmen beherzt aufgegriffen werden. Wir können keine Arbeitsplätze schaffen. Das müssen letztendlich die Unternehmen tun. Auch die Präsidentin hat bei der letzten Diskussion, die wir hier geführt haben, gesagt, wir sollten auf diesen Punkt aufmerksam machen. Danke schön. ({18})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, Drucksachen 14/6944 und 14/7347. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 1 a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Hierzu liegen vier Änderungsanträge der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/7383? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/7390? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/7391? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/7393? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das HandzeiUte Kumpf chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. ({0}) Dritte Beratung Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden. ({1}) Nun kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7379. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung unter Nr. 1 b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7347 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2282 mit dem Titel „Gesetz zur Verlängerung der Rahmenfrist bei zeitlich befristeter Erwerbsunfähigkeitsrente, Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch“. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7347, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3044 zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7347, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Arbeitsförderung im Rahmen des SGB III, Drucksache 14/5013. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7347, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das ist einstimmig. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Tagesordnungspunkt 22 b. Unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7347 empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6636 mit dem Titel „Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen effektiv und transparent gestalten - Aus den Hamburger Vorfällen Lehren für eine Reform des SGB III ziehen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6888 mit dem Titel „Arbeitsplätze schaffen statt Arbeitslosigkeit verwalten - Reformen für einen besseren Arbeitsmarkt“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Unter Nr. 7 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6162 mit dem Titel „Arbeit vermitteln statt Arbeitslosigkeit verwalten - Mehr Beschäftigung durch Effizienz, Transparenz und Subsidiarität im Arbeitsförderungsrecht“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion ist die Beschlussempfehlung angenommen. Unter Nr. 8 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/6621 mit dem Titel „Für eine wirksame und effiziente Arbeitsmarktpolitik“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Unter Nr. 9 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/5794 mit dem Titel „Zusätzliche Arbeitsplätze fördern - soziale Sicherungssysteme festigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ist die Beschlussempfehlung angenommen. Unter Nr. 10 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7347 empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7070 mit dem Titel „Den Einstieg in einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ist die Beschlussempfehlung angenommen. Unter Nr. 11 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung schließlich, die Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 14/5513 mit dem Titel „Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland 2001“ zur Vizepräsidentin Anke Fuchs Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Kenntnis nehmen alle. Ich danke Ihnen. Damit haben wir diesen Tagesordnungspunkt erledigt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung der Terrorbekämpfung - Drucksache 14/7062 ({2}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3}) - Drucksache 14/7332 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Frank Schmidt ({4}) b) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/7376 Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Werner Hoyer Dr. Uwe-Jens Rössel Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht nur für die Wirtschaftsentwicklung, sondern auch für das Lebensgefühl jedes Einzelnen in Deutschland ist es wichtig, dass wir alle bald das Gefühl der Sicherheit zurückgewinnen, das vor den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten in Deutschland herrschte. Sicherheit wurde von jedem als selbstverständlich angesehen. Jetzt fühlen sich viele latent bedroht. Das ist - Sie alle merken es - im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern spürbar. Das zeigt sich auch in der Kaufzurückhaltung. Sicherheit ist als Basis einer positiven Wirtschaftsentwicklung unverzichtbar. Die Bedrohungen durch den Terror fanatischer Fundamentalisten haben in der Vergangenheit zweifesohne alle unterschätzt. Das Gefühl von Sicherheit scheint nun verloren. Wir werden alles tun, um es zurückzugewinnen. Die Bundesregierung hat sehr schnell reagiert und die notwendigen Mittel bereitgestellt, um den Bundesgrenzschutz und das Bundeskriminalamt besser auszurüsten. Auch die Kontrollen an Flughäfen sind schärfer geworden, als wir das in der Vergangenheit gewohnt waren. Außerdem hat die Bundeswehr mehr Mittel bekommen, um sich auf diese neue Form der Auseinandersetzung einstellen zu können. Die staatlichen Sicherheitskräfte werden besser ausgerüstet; die vorbeugende Aufklärung über terroristische Aktivitäten erhält mehr Möglichkeiten. Das Potenzial moderner Technologien wollen wir nutzen, um Terror zu vermeiden. Der Schutz von Botschaften wird verstärkt. Auf dem Gebiet der inneren Sicherheit gibt es also eine Vielzahl von Verbesserungen, die alle der grundsätzlichen Entscheidung der Bundesregierung folgen. Unsere Strategie umfasst drei Bereiche: Wir wollen die Entstehung des Terrorismus bekämpfen. Wir wollen verhindern, dass es zu terroristischen Anschlägen in Deutschland kommt. Wir wollen in der Lage sein, gegen jeden hart zurückzuschlagen, der die Sicherheit unseres Landes gefährdet. Zu dieser Gesamtkonzeption gehört auch, Geldwäsche effektiv zu bekämpfen. ({0}) Kriminelle und terroristische Organisationen sollen in Deutschland keinen finanziellen Nährboden finden. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal klarstellen, dass es mir bei der Bekämpfung der Geldwäsche und dem Aufspüren von Finanzierungsströmen nicht um das Auffinden von Steuersündern geht. ({1}) Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Es ist Betrug an der Gesellschaft. Steuerhinterzieher stehen aber nicht auf gleicher Stufe mit organisierten Kriminellen oder Terroristen. ({2}) Wir wollen die Organisationsstrukturen der Kriminellen zerschlagen und dem Terror das Geld zur Vorbereitung nehmen - nicht mehr, aber auch nicht weniger. ({3}) - Herr Kollege Thiele, nach der Geschäftsordnung darf die Bundesregierung jederzeit zu denjenigen Punkten reden, zu denen sie es möchte. Im Übrigen habe ich Ihnen bisher einige der Maßnahmen vorgetragen - ich werde Ihnen noch weitere vortragen -, die wir zur Bekämpfung des Terrors ergriffen haben. ({4}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Auf der Tagesordnung steht heute das Gesetz zur Finanzierung der Terrorbekämpfung; ({5}) deswegen werde ich Ihnen die Maßnahmen, die wir zur Bekämpfung des Terrors vornehmen, erläutern. Möglicherweise erschließt sich dann sogar Ihnen, die Sie manchmal schwer von Begriff sind, warum wir dafür Finanzmittel brauchen. ({6}) Es ist nötig, die Wirtschaftsentwicklung in den ärmsten Ländern der Welt zu stärken. Wir wollen dort eine positive Entwicklung anstoßen. Armut und mangelnde Teilhabe sind häufig der Nährboden für Fanatismus und kennzeichnen undemokratische Systeme. Die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in den ärmsten Ländern wird den Terrorismus nur schrittweise austrocknen können. Deutschland hat aufgrund seiner zahlreichen Entwicklungshilfeprojekte dabei einen guten Weg beschritten. Innerhalb der G 7 gibt es nur ein Land, das den am höchsten verschuldeten Entwicklungsländern mehr Schulden erlassen hat als Deutschland. Wir bemühen uns intensiv, den Ländern der Dritten Welt einen wirtschaftlichen Aufholprozess zu ermöglichen. ({7}) Wir müssen aber auch eingestehen, dass wir noch weit von diesen Zielen entfernt sind. Deshalb wird ein Teil der zusätzlichen 3 Milliarden DM, die wir zur Terrorismusbekämpfung zur Verfügung stellen wollen, auch in die Entwicklungshilfe fließen. ({8}) Prävention ist in der Regel immer vernünftiger und auf jeden Fall billiger als das nachträgliche Beseitigen von Schäden. ({9}) Die Terroranschläge vom 11. September haben natürlich uns alle überrascht. Damit konnte niemand rechnen. Leider hatten schon andere unvorhergesehene Ereignisse, beispielsweise die BSE-Krise, die Reserven im Haushalt aufgebraucht. Deshalb brauchen wir jetzt neue Mittel zur Terrorismusbekämpfung. Ohne die Erhöhung von Versicherung- und Tabaksteuer hätten wir die Neuverschuldung ausweiten müssen. Dann wäre das Ziel, im Jahre 2006 einen Haushalt ohne neue Schulden vorlegen zu können, noch schwieriger zu erreichen gewesen. ({10}) So bleiben wir auf Konsolidierungskurs. Wir dürfen die Sicherheitserfordernisse von heute nicht mit Schulden von morgen bezahlen, da wir ansonsten den einzigen Weg unterminieren, der uns dauerhaft Sicherheit und Stabilität bringen kann, nämlich den Weg aus der Schuldenfalle. Es ist leicht, zu fordern, die 3 Milliarden DM sollten im Bundeshaushalt durch Ausgabenkürzungen eingespart werden. Sicherlich werden Sie dies auch gleich wieder fordern. Niemand von Ihnen hat aber bisher - sicherlich wird das auch gleich nicht geschehen - konsensfähige Einsparvorschläge vorlegen können. ({11}) Wir können den seit Beginn der Legislaturperiode bereits vollzogenen Steuerentlastungen von rund 55 Milliarden DM jährlich jetzt keine weiteren hinzufügen. Bis 2005 wird das Entlastungsvolumen - auch bei geltender Gesetzeslage - auf über 100 Milliarden DM pro Jahr anwachsen. Das lässt sich nur bei strikter Haushaltsdisziplin solide finanzieren. Zusätzlich wird zum nächsten Jahr auch das Kindergeld wieder deutlich steigen, und zwar auf rund 300 DM pro Kind und Monat. Das hat es, wie Sie alle wissen, noch nie gegeben. ({12}) Für die Familien erhöht sich das verfügbare Einkommen spürbar. Pro Monat und Kind wird das Kindergeld im nächsten Jahr um rund 30 DM ansteigen. Die höhere Versicherungsteuer beispielsweise wird die Haushalte im Schnitt mit etwa 15 DM belasten; das gilt aber bezogen auf ein Jahr und nicht pro Monat. Es gibt wohl keinen Grund, sich darüber aufzuregen. ({13}) Im Übrigen sind wir der Zigarettenindustrie und dem Automatengewerbe durch die stufenweise Umsetzung des Gesetzes entgegengekommen. In zwei Stufen wird die Tabaksteuer sowohl zum 1. Januar 2002 als auch zum 1. Januar 2003 um jeweils 1 Cent steigen. ({14}) Dieses Entgegenkommen war nur möglich, weil wir von den Produzenten eine Einnahmegarantie erhalten haben. Wir brauchen das Geld zur Terrorbekämpfung. ({15}) Diese Sicherheit haben wir jetzt. Deshalb können wir uns bei der Umsetzung flexibel zeigen. Wir sind zuversichtlich, dass dieser vernünftige Gesetzesvorschlag in diesem Hohen Hause eine Mehrheit finden wird. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Barthle. ({0})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten über das Gesetz zur Finanzierung der Terrorbekämpfung. Frau Staatssekretärin, Sie haben zwar sehr vieles zur Terrorbekämpfung gesagt, aber nur einen einzigen Satz zu den Inhalten dieses Gesetzes, ({0}) nämlich zur Erhöhung der Tabak- und der Versicherungsteuer. Dass wir hinter der Intention der Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit stehen, insbesondere nach dem 11. September, ist, glaube ich, unbestritten. ({1}) Ich darf hinzufügen: Die Fraktion in diesem Hohen Hause, die auch vor dem 11. September immer einen geraden Kurs gefahren ist, wenn es um die Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit ging, war die CDU/CSUFraktion. ({2}) Das wollte ich schon noch einmal betont haben, bevor wir jetzt zu dem kommen, was die rot-grüne Bundesregierung in Reaktion auf diesen 11. September unternehmen wird. Ihr fällt - da ist sie vermutlich die einzige Regierung in der gesamten Antiterrorallianz - zunächst einmal nichts Besseres ein, als Steuern zu erhöhen. Ich meine, das ist an sich schon ein Armutszeugnis für die finanzpolitische Gestaltungskraft dieser Regierung. ({3}) - Das glauben nur noch Sie, Herr von Larcher. Das glaubt draußen niemand mehr. Wenn Herr Riester hier bekennen muss, dass womöglich eine Rentenbeitragserhöhung vor der Tür steht und dass er, um diese zu vermeiden, in die Schwankungsreserve greifen muss, dann besagt das doch viel. ({4}) Wenn es um innere und äußere Sicherheit geht, erhöhen Sie sofort die Steuern; an anderer Stelle greifen Sie aber zu anderen Maßnahmen. Lassen Sie mich noch eine Vorbemerkung zum Gesetzgebungsverfahren machen. Die Anhörung hat mir sehr gut gefallen; das muss ich Ihnen gestehen. Wir haben erstmals erlebt, dass aufgrund einer Anhörung ein Gesetzgebungsverfahren gestoppt und noch vor In-Kraft-Treten des Gesetzes nachgebessert wurde. Bisher haben wir das immer anders erlebt. Bisher wurde immer zuerst das Gesetz erlassen und dann nachgebessert. ({5}) Dafür lobe ich den Finanzausschuss; dafür lobe ich uns alle. Ich hoffe, das bleibt so. ({6}) Nach dieser Anhörung ist - Gott sei Dank - die Erhöhung der Tabaksteuer in einem Zug vom Tisch, zumal die Automatenaufsteller klipp und klar gesagt haben, sie wäre faktisch, physisch und logistisch überhaupt nicht möglich. ({7}) - Ich lobe Sie dafür, dass Sie auf uns gehört haben. Denn die Anhörung haben wir betrieben. Jetzt aber machen Sie eine Steuererhöhung von demselben Umfang in zwei Stufen, verteilt auf die Jahre 2002 und 2003. Die Steuer soll bei den Zigaretten jeweils um 1 Cent steigen. Die Erhöhung der Versicherungsteuer soll einen Prozentpunkt betragen. Das bleibt falsch. Warum bleibt das falsch? Ich will Ihnen drei Gründe nennen. Erstens. Diese Steuererhöhung ist an sich überflüssig. Wer bei einem von Ihnen erwarteten Volumen von 3 Milliarden DM und einem Haushaltsvolumen von 485 Milliarden DM und bei ständig steigenden Steuereinnahmen nicht in der Lage ist, gerade einmal 0,6 Prozent des Haushaltsvolumens umzuschichten, der gibt jede Gestaltungskraft auf. ({8}) - Jetzt kommt wieder Herr von Larcher mit der Forderung nach Vorschlägen. Herr von Larcher, zum Mitschreiben nenne ich Ihnen zwei: Der Bundesrechnungshof hat am 16. Oktober seine Mängelliste vorgelegt. 3,3 Milliarden DM hätten Sie an Mehreinnahmen, wenn Sie das umsetzten. Oder machen Sie doch eine globale MinderausParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks gabe! Auch das hat es schon gegeben. Darüber denken Sie nicht einmal nach. Nein, Sie machen das, was Rot-Grün am besten kann, nämlich Steuererhöhungen. ({9}) Aber wir haben uns ja schon daran gewöhnt: Wenn Sie Steuern erhöhen, tun Sie das stufenweise, wie bei der Ökosteuer. Aber ich wiederhole: Dadurch wird es nicht besser. Im Gegenteil: Wenn sich die Menschen in der Silvesternacht über den Jahreswechsel und die aufsteigenden Raketen freuen, dann müssen sie dieses Jahr daran denken, dass schon wieder die nächste Stufe Ihrer Steuererhöhungsraketen zündet. Das wird das Bild sein, das die Menschen vor Augen haben. ({10}) Ich nenne Ihnen einen zweiten Grund, warum diese Steuererhöhungen falsch sind. Sie sind nämlich schädlich für unsere Konjunktur. Zusammen mit der Ökosteuer entziehen Sie den Menschen gute 10 Milliarden DM an Kaufkraft. ({11}) Das ist Gift für die Konjunktur. Nun hat uns der Kollege Poß in der ersten Lesung erläutert, dass Steuererhöhungen auch positive konjunkturelle Effekte hätten. Ich halte diese Aussage für so abstrus, dass sie sich selbst richtet. Ich glaube, das kann er gar nicht ernst gemeint haben. ({12}) Festzuhalten bleibt: Diese Steuererhöhung ist schädlich für die betroffenen Branchen, insbesondere auch für die mittelständischen Unternehmen; denn an der Tabakwirtschaft hängen sehr viele Unternehmen. Wenn wir uns dann noch vor Augen führen, dass wir eine durchschnittliche Unternehmensteuerbelastung haben, die europaweit an der Spitze liegt - ich betone: innerhalb der europäischen Länder an der Spitze -, ({13}) dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wir beim Wirtschaftswachstum das Schlusslicht sind. ({14}) Diese Steuererhöhung ist auch schädlich für die Arbeitsplätze. Ich wundere mich schon, dass das BMF sagt, bei der Berechnung des zu erwartenden Steueraufkommens gehe man zwar von einem Konsumrückgang von zweimal 5 Prozent, also 10 Prozent insgesamt, aus - das wirkt sich auch in Ihrem Finanztableau aus -, dass es aber, wenn man nachfragt, wie sich das auf die Arbeitsplätze niederschlage, heißt, da habe die Erhöhung keine Auswirkungen. In der Anhörung durften wir erfahren, 20 000 bis 25 000 Arbeitsplätze seien gefährdet, wenn man die Steuer auf einen Schlag erhöhe. Wenn man sie jetzt in zwei Stufen erhöht, sind plötzlich keine Arbeitsplätze mehr gefährdet. Diese Logik können Sie niemandem erklären. Das passt hinten und vorne nicht zusammen. ({15}) Ich nenne Ihnen noch einen dritten Grund, weshalb diese Steuererhöhung falsch ist. Sie ist nämlich schlicht und einfach ungerecht. Ich will nur am Rande anmerken, dass Sie die Steuer für Feinschnitt überproportional um 30 Prozent, die für Zigaretten aber nur um 23 Prozent erhöhen. Sie tun dies, obwohl der Feinschnitt gemeinhin als Ausweichprodukt für Zigaretten gilt. Pfeifentabak, Zigarren und Zigarillos bleiben von der Steuererhöhung ausgenommen. ({16}) Verkürzt kann man sagen: Die armen Malocher, die sich mit klammen Fingern ihre Zigaretten selbst drehen, um ein paar Pfennig zu sparen, werden abgezockt. ({17}) Aber die „dicken“ Pfeifenraucher werden verschont. ({18}) Diese Steuererhöhung ist aus einem weiteren Grunde ungerecht - da spreche ich jetzt die Versicherungsteuer an -: Mit der Versicherungsteuer treffen Sie genau die Branche, die aufgrund der Ereignisse vom 11. September ohnehin schon finanziell gebeutelt ist. Wir alle wissen, dass die Versicherungsunternehmen die Prämien aufgrund des erhöhten Risikos vermutlich erhöhen werden. ({19}) Die Versicherungsteuer ist aber nicht vorsteuerabzugsfähig. ({20}) Das heißt, eine Erhöhung schlägt sofort durch auf die Kosten der Unternehmen und führt dazu, dass die Kunden mehr belastet werden. Deshalb ist es ungerecht, wenn Sie für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe nur eine einzige Klientel herauspicken und belasten. ({21}) Lassen Sie mich noch ein Beispiel anführen, das mich besonders bedrückt. Auf die Luftverkehrsgesellschaften haben Sie keinerlei Rücksicht genommen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Stichworte Swissair, LTU und Sabena. Heute beklagt die Air France einen Umsatzverlust von 300 Millionen DM seit dem 11. September. Während die US-Regierung die Subventionen für ihre Luftfahrtgesellschaften erhöht, erhöht Rot-Grün die Steuern. Das ist der Unterschied. ({22}) Ich fordere Sie auf: Machen Sie endlich Schluss mit dieser rein fiskalisch orientierten Steuer- und Finanzpolitik! Geben Sie den Menschen und der Wirtschaft in unserem Land die Chancen, die sie verdient haben! Wenden Sie drohenden Schaden von den Menschen ab! Lehnen Sie diesen unsinnigen Gesetzentwurf ab! Folgen Sie uns! ({23}) Jetzt haben Sie noch die Chance dazu. Wenn Sie uns nicht folgen, könnte es durchaus sein, dass Ihnen die Menschen draußen im Lande, die Wählerinnen und Wähler, eine der dicksten Zigarren verpassen, die es gibt, und zwar steuerfrei. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Barthle, ich weiß, dass die CDU/CSU Schwierigkeiten mit der Erinnerung hat. ({0}) Denken Sie doch einmal bitte daran, was 1991 gewesen ist. Damals ging es um die Finanzierung des Golfkrieges. In diesem Zusammenhang hat die CDU/CSU gemeinsam mit der FDP, Herr Thiele, die Versicherungsteuer und die Tabaksteuer erhöht sowie den Solizuschlag eingeführt. ({1}) Mit dieser Begründung haben Sie Steuern in einem Gesamtvolumen von 28 Milliarden DM eingenommen. 16 Milliarden DM hat uns der Golfkrieg gekostet. Den Rest haben Sie im Haushalt versacken lassen. Das ist die Wahrheit über Ihre Finanzpolitik des Jahres 1991. ({2}) Wir wissen alle, dass Terrorismusbekämpfung nicht kostenlos möglich ist. Es ist politisch unbestritten, dass für verstärkte Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung des internationalen Terrorismus und zur Erhöhung der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland mehr finanzielle Mittel aufgewandt werden müssen. Wir wissen auch, dass die eingeleiteten Maßnahmen zum Beispiel im Rahmen des Terrorismusbekämpfungsgesetzes auf Dauer angelegt sind. Ausgaben, die dauerhaft anfallen, müssen dauerhafte Einnahmen gegenüber stehen, um eine vernünftige und solide Haushaltspolitik vornehmen zu können. Aus diesem Grunde haben wir uns für die Anhebung der Tabak- und Versicherungsteuer entschieden. Das Volumen beträgt insgesamt 1,5 Milliarden Euro im Jahre 2002. Wir haben - auf diesen Punkt haben Herr Barthle und die Frau Staatssekretärin schon hingewiesen im Rahmen der Ausschussberatungen die Erhöhung in zwei Stufen beschlossen, nämlich zum 1. Januar 2002 und zum 1. Januar 2003 um jeweils 1 Cent. Wir haben damit eine praktikable Lösung gefunden, die das notwendige Einnahmevolumen zur Finanzierung der Terrorbekämpfung auch auf Dauer sichert. Es ist wichtig, dass man auf Dauer Klarheit hat. Wir werden im Rahmen der laufenden Haushaltsberatungen - Ende des Monats ist Haushaltsabschluss - die zusätzlichen Steuereinnahmen grundsätzlich den einzelnen Aufgabenbereichen zuordnen. Die Frau Staatssekretärin hat auf die Bereiche Katastrophenschutz und Bundesgrenzschutz hingewiesen. Meine Fraktion hat sich sehr stark dafür eingesetzt, dass wir im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe verstärkt Mittel einsetzen, damit auch dieser Bereich ausreichendes Gewicht bekommt. ({3}) Wir können - weil es immer wieder von Ihnen angesprochen wird - diese 3 Milliarden DM nicht einfach durch Umschichtungen im Haushalt erbringen. Das wissen wir und das wissen Sie, wenn Sie ehrlich sind, auch. Sie wissen auch, dass sich dauerhafte Einnahmen nicht einfach aus dem Hut zaubern lassen, sondern dass sie eben einer seriösen Gegenfinanzierung bedürfen. Das gilt erst recht angesichts der sehr schwierigen Konjunkturentwicklung und auch angesichts der sinkenden Steuereinnahmen. Aufgrund der Steuerschätzung wissen wir ja jetzt, dass die Gesamtzahlen für den Bund, für die Länder, vor allen Dingen aber auch für die Kommunen rückläufig sind. Für uns als Regierungsfraktion - das möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz klar sagen - hat eine solide und auf Konsolidierung der Staatsfinanzen orientierte Finanzpolitik oberste Priorität. ({4}) Wir streben weiterhin die Rückführung der Nettokreditaufnahme in diesem und auch im nächsten Jahr an. Wir müssen konjunkturell bedingte Steuermindereinnahmen hinnehmen. Das ist vollkommen klar; das ist nicht zu ändern. Aber auf keinen Fall dürfen wir Entscheidungen treffen, wie sie uns vonseiten der FDP, aber auch von der CDU/CSU, nahe gelegt werden. ({5}) Die Inflationsrate im Euroraum ist auf mittlerweile 2 Prozent gesunken ({6}) und diese sinkende Inflationsrate hat gemeinsam mit der Konsolidierung der Haushalte dazu geführt, dass die EZB gestern die Leitzinsen hat senken können. Sonst wäre das nicht möglich gewesen. ({7}) Das muss man in diesem Zusammenhang ebenfalls sehen. Damit wird den Unternehmen und auch den Haushalten die Möglichkeit gegeben, Kredite billiger aufzunehmen. Nach einem gewissen Timelag werden wir nach der Erwartung aller Konjunkturforschungsinstitute - die Talsohle werden wir im Winter haben; im Dezember wird es nicht einfacher sein; das müssen wir ganz klar betrachten - im nächsten Jahr mit Sicherheit bessere Zahlen haben. ({8}) Wir teilen auch die Auffassung des EU-Wirtschaftskommissars Pedro Solbes, dass der Vorschlag, die nächsten Stufen der Steuerreform vorzuziehen, der von Ihrer Seite immer wieder kommt, auch stabilitätspolitisch unverantwortlich ist. Das wäre ein aktiver Verstoß gegen den Stabilitätspakt der Europäischen Union. Es wäre aus psychologischen Gründen übrigens auch schlecht für den Start des Euro-Bargeldes Anfang nächsten Jahres. Das wäre ein sehr schlechtes Geschenk. ({9}) Sie sagen immer nur, was Sie alles haben wollen. Wir haben es einmal durchgerechnet. Für die Forderungen, die Sie hier einfach mal so einbringen, benötigten wir rund 140 Milliarden DM, die wir angeblich locker finanzieren können. Wenn es nach den Vorschlägen von FDP und CDU/CSU ginge - das muss ich auch an diesem Punkt wieder sagen -, wären die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen nicht mehr verfassungskonform. Das hätte mit einer Solidität in der Finanzpolitik überhaupt nichts mehr zu tun. Was Sie hier betreiben, ist absolute Wodu-Politik. Dazu kann ich nur sagen: Gott sei Dank sind Sie nicht mehr an der Regierung. ({10}) Wir haben für das nächste Jahr zusätzliche Zukunftsinvestitionen geplant. ({11}) Wir haben das Zukunftsinvestitionsprogramm beschlossen, mit dem im nächsten Jahr wieder 5 Milliarden DM zusätzlich in die Bereiche Bildung, Forschung, Verkehr und Klimaschutz investiert werden. ({12}) Ferner greift im nächsten Jahr die nächste Stufe der Familienentlastung ({13}) in einer Größenordnung von knapp 5 Milliarden DM. Auch das wird die Kaufkraft der Haushalte vor allem der Familien erhöhen. Außerdem wird im nächsten Jahr das Steuersenkungsgesetz wirken, ({14}) und zwar in einer Größenordnung von 45 Milliarden DM. Wir werden auch dafür sorgen, dass die Rentenversicherungsbeiträge im nächsten Jahr gesenkt werden, und zwar aus grüner Sicht auf 19,0 Prozent. Das zeigt, dass auch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge insgesamt bei uns auf der Agenda steht. Sie haben sie permanent erhöht. Wir sind seit der Regierungsübernahme bemüht, die Steuer- und Abgabenbelastung zu senken, und haben auf diesem Gebiet auch Erfolge erzielt. Diese Steueranhebung um 3 Milliarden DM ist ein Ausreißer. ({15}) Aber sie ist notwendig und ehrlich. Sie sichert zugleich die Solidität der Haushalte. Danke schön. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, was Sie hier vorgetragen haben, Frau Kollegin. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass wir in Christines Märchenstunde sind. ({0}) Dass momentan bei den Grünen die Nerven blank liegen, ({1}) das weiß jeder. Dafür gibt es Gründe und deswegen werden Sie auch gleich wieder eine Fraktionssitzung abhalten. Aber dass der Solidaritätszuschlag seinerzeit eingeführt wurde, um den Golfkrieg zu finanzieren, ({2}) das ist eine ganz neue Legende, die zwar in Ihrer Basis derzeit starken Anklang findet, die aber mit der Wirklichkeit vermutlich relativ wenig zu tun hat. ({3}) Das war jedenfalls nicht das, was wir in den vergangenen Jahren unter Solidarität mit den neuen Ländern verstanden haben. ({4}) Wenn die EZB jetzt die Zinsen senkt, weil die Inflationsrate sinkt, dann erinnere ich Sie nur daran, dass das Statistische Bundesamt vorgerechnet hat, dass durch die Steuererhöhungen von Rot-Grün - Ökosteuer, Mehrwertsteuer auf die Ökosteuer, Versicherungsteuer und Tabaksteuer - die Inflationsrate ab dem 1. Januar nächsten Jahres um 0,5 Prozent steigen wird. Ginge es nach Christines Märchenerzählung, müssten deswegen ab dem 1. Januar die Zinsen leider wieder um einen halben Prozentpunkt erhöht werden. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Deshalb möchte ich die Märchenstunde hier auch beenden. ({5}) Ich möchte mich mit dem Gesetz zur Finanzierung der Terrorbekämpfung auseinander setzen; denn dieses Gesetz ist der erste Teil eines finanzpolitischen Offenbarungseides, den wir in den nächsten Wochen hier im Plenum sowie im Finanz- und Haushaltsausschuss erleben werden. Die Vereinigten Staaten senken die Steuern nach dem Terroranschlag. Deutschland ist dagegen das einzige Land, das die Steuern erhöht, weil Rot-Grün immer noch meint, bei einer Steuererhöhung kämen die öffentlichen Kassen in den Genuss der Mittel und könnten dann auch die Ausgaben tätigen. Dieser grundlegende Denkfehler kennzeichnet Ihre Politik seit Regierungsantritt. ({6}) An dieser Stelle rächt sich das Ausblenden der Wirklichkeit, das wir seit dem Frühjahr dieses Jahres immer wieder moniert haben. Wir haben immer gesagt, die Wachstumsraten würden optimistisch hoch gerechnet, und Sie aufgefordert, sich an der Wirklichkeit zu orientieren und einen neuen Haushalt einzubringen, da die Rahmendaten alle nicht mehr stimmten. Jetzt erhalten Sie die Quittung für Ihre verfehlte Steuer- und Finanzpolitik. Das möchte ich kurz ausführen: Erstens. Rot-Grün vermittelt den Eindruck, man betreibe Steuersenkung. Im Jahre 1998 hatten wir Steuereinnahmen von 833 Milliarden DM. Heute sind es nach der neuesten Steuerschätzung über 900 Milliarden DM pro Jahr. Diese Steuererhöhungspolitik hat Rot-Grün betrieben und das entlarvt Herrn Eichel auch; die Menschen nehmen ihm nicht mehr ab, dass sie tatsächlich entlastet würden. In ihrer Geldbörse spüren sie das Gegenteil davon. ({7}) Zweitens. Sie reden immer vom Abbau der Neuverschuldung. Auch hier wird das Gegenteil dessen, was Sie sagen, betrieben. Bis zum Ende dieser Legislaturperiode wird die Neuverschuldung unter Rot-Grün um fast 200 Milliarden DM gestiegen sein. Das ist die Wirklichkeit. Wenn Sie das Ziel haben, die Neuverschuldung zu senken, so stimmen wir in diesem Ziel überein. Wenn wir Ihr Bemühen aber an den Fakten messen, können wir feststellen: Es ist Ihnen nicht gelungen, die Neuverschuldung auf null zu senken. Vielmehr haben Sie während der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung die Neuverschuldung allein auf Bundesebene um 200 Milliarden DM erhöht. Drittens. Sie reden vom Sparen, waren aber hinsichtlich des Haushalts lediglich Profiteure eines boomenden Exports und eines schwächelnden Euro. Das hat Ihnen Wachstumsraten gebracht, das hat auf der Einnahmeseite Geld gebracht; Sparmaßnahmen auf der Ausgabenseite sind ausgeblieben. ({8}) Viertens. Sie verfehlen Ihr selbst gesetztes Ziel von 3,5 Millionen Arbeitslosen. Damit man nicht über 3,9 Millionen Arbeitslose kommt, rechnet man ganz spitz und sagt, im nächsten Jahr werden es nur 3,89 Millionen Arbeitslose sein. Das ist beängstigend. ({9}) Wir müssen die Sorgen der Arbeitslosen ernst nehmen. Wir müssen Rezepte dafür haben, dass sie wieder Beschäftigung finden. Insofern ist es für uns nicht hinnehmbar, dass Sie diese Ziele verfehlen. Der Bundeskanzler hat selbst gesagt: Wenn wir dieses Ziel verfehlen, dann lohnt es nicht, uns wieder zu wählen. - Wir werden die Bürger vor der Wahl daran erinnern. Fünftens. Sie verkündeten, die Lohnnebenkosten sollen unter 40 Prozent gesenkt werden. Das Gegenteil ist der Fall. Sie bleiben über 41 Prozent. Die Frau Gesundheitsministerin Schmidt trickst in der Krankenversicherung herum. Wir erleben - das ist ein Unterschied zur Vergangenheit - einen Griff des Gesetzgebers in die Rentenkasse, der die Schwankungsreserve dauerhaft um 20 Prozent reduziert. Wenn Sie das nicht machten, stiege Ihnen der Rentenversicherungsbeitrag in diesem Jahr trotz Ökosteuer auf 19,4 Prozent. ({10}) Sechstens. Das Kernstück grüner Steuerpolitik, wie Kollege Metzger das immer bezeichnet hat, ist gescheitert; ({11}) denn jede Mark Ökosteuer sollte dazu verwandt werden, die Rentenversicherungsbeiträge zu senken. Sie müssten im nächsten Jahr schon in der Nähe von 18 Prozent sein. Diese Marke erreichen Sie nicht. ({12}) Diesen Betrug lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Ich komme zum Fazit: Die rot-grüne Finanzpolitik ist gescheitert. Finanzminister Eichel ist gescheitert. In den nächsten Wochen, während der Haushaltsberatungen, werden Sie mit Tricksereien und mit Einmalprivatisierungen versuchen, den Haushalt des nächsten Jahres zu schönen. Sie werden ein paar Mittel „aus der Portokasse“ der Post bei der KfW parken; weil es die Post ist, kann man es durchaus als Portokasse bezeichnen. ({13}) Die Wirklichkeit ist leider viel beängstigender, weil Sie es versäumt haben, die notwendigen Reformen in unserem Lande entschieden anzugehen. Deshalb werden die nächsten Wochen das Scheitern der rot-grünen Finanzpolitik außerordentlich deutlich machen. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier über das Gesetz zur Finanzierung der Terrorbekämpfung. Ich sage für die PDS ganz klar: Wir stehen für Terrorbekämpfung, aber wir sind gegen die Finanzierung eines Kriegseinsatzes in Afghanistan und gegen die deutsche Beteiligung an diesem Einsatz. ({0}) Über die genaue Verwendung der Mittel, die aufgrund des heute zu verabschiedenden Gesetzes eingenommen werden sollen, wird noch im Rahmen der Haushaltsberatungen diskutiert werden. Ich finde es gut, dass 200 Millionen DM beim Entwicklungshilfeministerium veranschlagt werden sollen. Ist es aber nicht ein riesiges Armutszeugnis für die Politik, Frau Staatssekretärin - so musste ich Ihre Rede verstehen -, dass es de facto erst eines Terroranschlages bedurfte, um die Notwendigkeit klarzumachen, wesentlich mehr Geld für Entwicklungszusammenarbeit zu verwenden? ({1}) Klaus Töpfer sagt heute als Leiter des UN-Umweltprogramms in einem Interview in der „Süddeutschen Zeitung“, dass - ich zitiere - „Armut die giftigste Substanz auf der Welt“ ist. Die Schere zwischen Lebens- und Entwicklungschancen auf der eine Seite und Hoffnungslosigkeit auf der anderen Seite geht immer weiter auseinander. Hier ist politisches Handeln insbesondere in den Industrieländern gefragt. Es wird nicht mehr lange funktionieren, dass Beratungen in der Wüste wie jetzt in Katar oder in Kanada im Wald abgehalten werden, dass man de facto vor den Kritikerinnen und Kritikern der Globalisierung flüchtet, um sich mit dieser Kritik nicht auseinander setzen zu müssen. Sie haben gesagt, eine Haushaltsumschichtung zur Finanzierung Ihres Antiterrorpaketes sei nicht möglich und Sie wollten auch keine Nettoneuverschuldung vornehmen. Also bleibt Ihnen nach Ihrer Logik nur der Weg der Steuererhöhung. Deshalb sollen erstens die Tabaksteuer und zweitens die Versicherungsteuer von 15 auf 16 Prozent erhöht werden. Wir lehnen beides ab und wir zeigen Ihnen eine reale Finanzierungsquelle auf. Lassen Sie mich noch einmal zur Vermögensbesteuerung zurückkommen. Seit 1997 schenken Sie den wirklich Vermögenden in dieser Bundesrepublik Jahr für Jahr 3,5 Milliarden DM. Durch Ihr Gesetz wollen Sie pro Jahr etwa 2 Milliarden DM einnehmen. Ich frage mich: Warum kann nicht zum Beispiel die Familie Albrecht, Eigentümer der Aldi-Märkte, die durch die nicht mehr erhobene Vermögensteuer jährlich 410 Millionen DM einspart, in realistischem Maße zur Antiterrorbekämpfung beitragen? ({2}) Die Familie Otto spart jährlich 130 Millionen DM ein. Sie hat ein Vermögen von 13 Milliarden DM. Warum fragt man nicht Frau Johanna Quandt - oder fragt lieber nicht angesichts der 92 Millionen DM, die sie jährlich einsparen kann, sondern rafft sich hier endlich zu einer Gesetzesinitiative auf, um Geld zielgerichtet von den wirklich Vermögenden einzuziehen? Dann bräuchten wir hier nicht darüber zu diskutieren, dass man wieder insbesondere die Menschen mit gar keinem oder einem kleinen Einkommen belastet, die sich vielleicht trotz Sozialhilfe erlauben, Zigaretten zu rauchen, und die Menschen, die sich schon heute überlegen, wie sie Versicherungen in adäquater Höhe abschließen können. Oftmals haben Menschen gar keineVersicherung oder sind unterversichert. ({3}) Lassen Sie mich noch eines speziell zur Tabaksteuer sagen. Ich habe zur Anhörung auch die Nichtraucher-Initiative eingeladen; denn ich denke, es ist notwendig, gerade mit Menschen zu sprechen, die sich bisher gegen den Tabakkonsum eingesetzt haben; denn er ist nun einmal gesundheitsschädlich und verursacht damit auch riesige volkswirtschaftliche Kosten. Ich finde es schon zynisch, wenn man in diesem Zusammenhang dem Druck der Industrie nachgibt und sagt, man wolle vermeiden, dass der Markt zusammenbreche, also: Tabaksteuererhöhung ja, aber so, dass viele Menschen weiterrauchen wie bisher, denn ansonsten würden nicht in ausreichendem Maße Steuergelder eingenommen. Das ist eine zynische Politik. Sie widerspricht Ihren eigenen Zielen in der Gesundheitspolitik. Ich glaube, das zeigt auch das Dilemma, aus dem Sie nur mit klaren Vorschlägen wie der Neugestaltung und Wiedererhebung der Vermögensteuer herauskommen. Dabei haben Sie dann unsere Unterstützung. Ich hoffe, die dafür vorhandenen einzelnen Stimmen bei den Sozialdemokraten schaffen es endlich, wieder eine Mehrheit zu gewinnen. Danke. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Frank Schmidt.

Dr. Frank Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003473, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Thiele, wir haben schon einige Probleme damit, dass Sie und Ihre Fraktion offensichtlich an einem gewissen Gedächtnisschwund leiden. ({0}) Sie haben in diesem Land 29 Jahre mitregiert. Sie haben 16 Jahre mit der CDU/CSU regiert und die Schulden enorm in die Höhe getrieben. Diese Hinterlassenschaft mussten wir aufgreifen. Wir greifen sie auch auf, senken die Steuern sukzessive, ({1}) tun gleichzeitig eins nach dem anderen, um die Nettoneuverschuldung nicht, wie Sie es wollten, in die Höhe zu treiben. Aber Sie wollen nichts davon wissen, dass Sie in diesem Lande mitregiert haben! ({2}) - Ich weiß, dass Ihnen das unangenehm ist, wenn wir Sie andauernd auf Ihre 16 Jahre Regierungszeit ansprechen. Ich weiß auch, dass es Ihnen unangenehm ist, wenn wir Sie darauf ansprechen, dass Sie Schulden gemacht haben. Aber das ist Fakt in diesem Land. Sie wollten die deutsche Einheit aus der Portokasse bezahlen, aber das ging einfach nicht. Irgendwo sind die Schulden bis heute geblieben und wir müssen jetzt zusehen, dass wir sie abbauen. ({3}) Fakt ist auch: Wer ein entschiedenes Vorgehen gegen den Terrorismus will, wer etwas für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger tun will, der muss auch Geldmittel dafür bereitstellen. Reine Worthülsen und Ankündigungen, wie wir sie heute wieder gehört haben, und ungedeckte Schecks nützen niemandem in diesem Land etwas. Eine klare Finanzierung muss her. Die haben wir vorgelegt. Sie hingegen haben keine Alternativen vorgelegt, sondern nur Worthülsen verbreitet. Es muss ein klares Konzept her. Ein solches haben Sie nicht. ({4}) Wir halten an unserem Kurs fest; denn - das tut Ihnen weh; das wissen wir - ein Markenzeichen dieser Politik, dieser Regierung ist es, dass wir die Nettoneuverschuldung, wie Sie sie nach der Finanzplanung vorgesehen hatten, reduzieren. Wir wollen dafür sorgen, dass 2006 ein Haushalt vorgelegt wird, der zum ersten Mal keine Nettoneuverschuldung beinhaltet. Davon waren Sie weit entfernt. Sie haben nicht einmal im Entferntesten daran gedacht, so etwas vorzulegen. ({5}) Wir sorgen durch sukzessive Steuersenkungen, die gegenfinanziert sind, dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, die Arbeitnehmer und der Mittelstand entlastet werden. Das ist gegenfinanziert und somit solide. ({6}) Sie haben gesagt, die USA fangen jetzt mit Steuersenkungen an. Was hat denn der werte Präsident der Vereinigten Staaten von Bill Clinton geerbt? Volle Kassen hat er geerbt. Wir aber haben von Ihnen nur Schulden geerbt. ({7}) - Warum wir von Ihnen Schulden geerbt haben, wissen Sie doch selbst: Weil Sie mehr ausgegeben haben, als Sie eingenommen haben, weil Sie die deutsche Einheit niemals über die Portokasse abwickeln konnten, weil Sie überhaupt nicht in der Lage waren, solide Finanzpolitik zu betreiben. ({8}) Wir haben den Bürgerinnen und Bürgern seit dem 1. Januar 1999 kassenwirksam - dies ist also tatsächlich ausgezahlt worden - 65 Milliarden DM an Steuern zurückgegeben. In den nächsten Jahren werden weitere Milliarden folgen. Allein im nächsten Jahr werden es 19 Milliarden DM sein. Das ist der Abrechnungsmodus. Das Geld ist den Bürgerinnen und Bürgern wirklich zurückgegeben worden. Es handelt sich nicht - wie bei Ihnen - um Luftbuchungen. ({9}) Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie Steuern gesenkt haben. Um Gottes willen! Schauen Sie sich doch bitte einmal das an, was Sie wirklich getan haben. Sie haben 16 Jahre lang Steuern erhöht. Sie haben von 1983 bis 1998 20-mal Steuern erhöht. Sie haben dreimal die Mehrwertsteuer und dreimal die Kfz-Steuer erhöht. Sie haben dreimal die Versicherungsteuer und viermal die Mineralölsteuer erhöht. Sie sind die Steuertreiber dieser Republik. ({10}) Man muss sich einmal fragen, was Sie mit all dem Geld gemacht haben. Bernd Scheelen hat Recht: Man muss sich einmal fragen, wo das, was Sie eingenommen haben, geblieben ist. Sie haben die Nettoneuverschuldung nicht reduziert - das hatte ich eben schon gesagt -, sondern weiterhin Schuldentreiberei gemacht. Sie haben uns 1,5 Billionen DM an Schulden hinterlassen. Viermal war Ihr Haushalt nicht verfassungskonform. Das ist etwas, was bei uns überhaupt nicht vorkommt. 1990, 1993, 1996 und 1997 war die Neuverschuldung höher als die investiven Ausgaben. Sie betreiben unsolide Finanzpolitik. Sie haben den Karren in den Dreck gefahren, den wir jetzt wieder herausziehen. ({11}) Betreiben wir nicht nur Vergangenheitsbewältigung, sondern schauen wir uns jetzt einmal an, was Sie gegenwärtig tun. Eben haben wir gehört, dass die 3 Milliarden DM mal so eben bezahlt werden können. Sie haben, seitdem Sie in der Opposition sind, nicht damit aufgehört, finanzpolitische Forderungen zu stellen. Sie haben seit Oktober 1998 Anträge gestellt - das kann jeder nachlesen -, in denen finanzpolitische Forderungen im Umfang von 428 Milliarden DM erhoben worden sind, ohne dass ein einziger Deckungsvorschlag hierzu vorgelegt worden wäre. Sie machen als Opposition genauso weiter, wie Sie als Regierung aufgehört haben. Sie sind nicht in der Lage, in diesem Haus eine solide Finanzpolitik vorzulegen. ({12}) Unserer Auffassung nach haben Sie auch keine einzige Konzeption dazu vorgelegt, wie mit diesen Finanzmitteln umgegangen werden soll. Die Parlamentarische Staatssekretärin hat es eben schon gesagt - ich will noch einmal darauf hinweisen -: Wir sorgen nicht nur für die Einnahmen, sondern gleichzeitig auch dafür, dass die Mittel zielgerichtet ausgegeben werden. Wir wollen Verbesserungen bei der Bundeswehr. Wir wollen Verbesserungen bei den Nachrichtendiensten und beim Bundesgrenzschutz. Wir wollen mehr Sicherheit an den Flughäfen. Wir wollen auch dafür sorgen, dass der Katastrophenschutz besser ausgerüstet wird. Wir wollen, insbesondere im Interesse der Mitarbeiter, eine höhere Sicherheit bei den Auslandsvertretungen. Wir wollen auch mehr Personal bei der Bekämpfung der Geldwäsche. Eines ist uns besonders wichtig - das hat Christine Scheel, die jetzt nicht mehr da ist, bereits erwähnt -: Wir wollen mehr Geld für die Krisenprävention und die humanitäre Hilfe. Wenn man sich anschaut, was in der Welt, insbesondere in den Krisenregionen, passiert, dann muss man sagen: Dies ist ein zentraler Punkt der zukünftigen Politik. Hier muss mehr Geld bereitgestellt werden. Wir wollen das tun. Wenn Sie heute dagegen stimmen, sind Sie auch gegen humanitäre Hilfe in diesen Bereichen. Wir wollen das Geld dafür bereitstellen. ({13}) Wir müssen doch feststellen: So etwas ist nicht ohne Geld, nicht zum Nulltarif zu haben. Sie machen hier weiter Luftbuchungen und sonst nichts. Gut, die 7,5 Prozent Soli sind durchaus etwas, was Sie für die deutsche Einheit eingeführt haben. Aber was haben Sie denn 1991 gemacht? Sie haben ohne mit der Wimper zu zucken die Tabaksteuer erhöht, Sie haben die Versicherungsteuer um 3 Prozent erhöht, Sie haben die Mineralölsteuer sogar um 22 Pfennig pro Liter erhöht. Wo war denn da Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz? Sie haben 16 Milliarden DM Steuererhöhung allein 1991 beschlossen, nur für den Golfkrieg! Und im Endeffekt war es eigentlich nur für die Haushaltssanierung da. Aber geblieben ist nichts. Das ist Ihre Finanzpolitik, die wirtschaftsfeindlich ist. ({14}) Ich muss darauf hinweisen, dass das, was wir hier auch im Rahmen der Tabaksteuererhöhung und der Versicherungsteuererhöhung sehr moderat und sehr zielgerichtet vorschlagen, etwas ist, was die Belastung der Haushalte oder der Unternehmen - die Parlamentarische Staatssekretärin hat es eben schon gesagt - kaum trifft. Das verteilt sich sehr moderat über alle Haushalte und trifft einen Haushalt gerade mit 15 DM im Jahr. Gleichzeitig haben wir eine Steuerentlastung und eine Kindergelderhöhung im nächsten Jahr. Das ist etwas, was man für die Sicherheit auch mit investieren kann. ({15}) Ich weiß, es hat Ihnen nicht gefallen, dass wir jetzt nach der Anhörung auf das Zweistufenmodell umgeschwenkt sind. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, dafür sind Anhörungen doch da. Man kann durchaus auch einmal zuhören, was Sie ja ab und zu nicht tun. ({16}) Der Vertreter des Verbandes der Zigarettenindustrie, die Tabakwarengroßhändler, die Handelsverbände und, was uns besonders wichtig ist, die Gewerkschaften haben gesagt: Wir haben ja Verständnis für eure Geldnöte, da muss auch etwas getan werden, aber bitte macht ein Zweistufenmodell, dann können wir das für in Ordnung erklären und auch mitmachen, da kann auch die Automatenindustrie mitmachen. Wir haben diese ausgestreckte Hand ergriffen. Wir haben dafür gesorgt, dass dies entsprechend geändert wird. Wir sind hier im Gleichklang mit denen, die diese Anhörung mitgestaltet haben. Das passt Ihnen natürlich nicht, weil nämlich damit das Hauptargument entfallen ist. Sie können jetzt nicht mehr sagen, dass die eine Stufe viel zu groß wird. ({17}) Sie können jetzt nicht mehr sagen, dass das wirtschaftsfeindlich ist. Ich weiß, dass Ihnen das unangenehm ist. Aber sehen Sie einfach ein, dass diese Regierung in der Lage ist, mit den Verbänden zusammenzuarbeiten. Wir sorgen für eine Dr. Frank Schmidt ({18}) solide Haushaltsführung. Wir brauchen das Geld dafür. Das Geld wird bereitgestellt. Das ist das Ergebnis der Anhörung. Ich denke, das entspricht auch dem Vorschlag, der heute hier zur Abstimmung steht. ({19}) Wenn ich mir anschaue, was Sie heute hier zum Besten gegeben und was Sie in der Vergangenheit gefordert haben, dann muss ich darauf hinweisen, Sie sind genau dort, wo Sie hingehören, nämlich in der Opposition, weil Sie nicht in der Lage sind, solide Finanzpolitik in diesem Hause vorzulegen. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Thiele das Wort.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schmidt, einige kurze Anmerkungen. Ich glaube, den Denkprozess bei der Beratung dieses Gesetzes hätten Sie überhaupt nicht vollzogen, wenn es nicht eine Anhörung gegeben hätte, die nicht von Ihnen beantragt worden ist, sondern von der Opposition. Wenn ich mich noch an die ersten Stellungnahmen des Finanzministeriums während der Anhörung erinnere, dann hat dort das Finanzministerium erklärt, Geschenke der Zigarettenindustrie lehne man ab. Dass es nachher im Laufe der Beratung anders kam, lag nur an der Anhörung, die die Opposition betrieben hat. ({0}) Ein zweiter Punkt. Wenn Sie erklären, wer gegen diese Steuererhöhung ist, ist gegen humanitäre Maßnahmen, dann glaube ich, Sie wären gut beraten, wenn Sie das selbst zurücknehmen. Denn diesen Zusammenhang herzustellen, das ist wirklich unter Niveau. ({1}) Der dritte Punkt. Ich habe bei Ihnen das erlebt, was ich auch beim Bundesfinanzminister permanent erlebe: die letzten sechzehn Jahre als Einheit zu betrachten und auszublenden - was Oskar Lafontaine natürlich immer getan hat -, dass wir 1990 die Wiedervereinigung hatten. Die letzten sechzehn Jahre der alten Koalition waren zweimal acht, einmal acht Jahre bis zur deutschen Einheit, und in der Zeit wurden die Steuern gesenkt, wurde die Staatsquote gesenkt, und im Jahre 1989 hätten wir ohne deutsche Einheit keine Nettoneuverschuldung gehabt. ({2}) Wir stehen zur deutschen Einheit und wir haben uns immer zur Finanzierung der deutschen Einheit bekannt, denn das sozialistisch ruinierte Ostdeutschland musste und konnte nur finanziert werden über Erhöhung der Steuern, über Erhöhung der Sozialbeiträge und über Erhöhung der Nettoneuverschuldung. Ich bin glücklich, dass wir eigentlich auf einem guten Wege des Zusammenwachsens sind und dass in diesen letzten zehn Jahren in den neuen Bundesländern ein Aufschwung erreicht wurde - auch wenn dieser nicht ausreicht, weil die Befindlichkeiten schlecht, die Lasten auch viel zu hoch sind. Lassen Sie uns einfach etwas ehrlicher miteinander umgehen. Denn es nimmt Ihnen beim besten Willen keiner ab, wenn Sie sagen, dass die finanzielle Situation nichts mit der deutschen Einheit und mit der sozialistisch ruinierten DDR zu tun hätte. Insofern: Bemühen Sie sich zukünftig um etwas mehr Glaubwürdigkeit! ({3})

Dr. Frank Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003473, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Glaubwürdigkeitsproblem, Herr Thiele, haben Sie. Schauen Sie sich die Protokolle der Debatten über die Steuerpolitik aus dem Jahre 1991 einfach einmal an. ({0}) Offensichtlich haben Sie das bislang nicht getan; aber ich kann Ihnen das gerne in Kopie geben. Sie sollten einmal nachlesen, was damals Herr Faltlhauser - seinerseits noch Abgeordneter - dazu gesagt hat: Man dürfe nicht zu einer Nettoneuverschuldung gelangen. Die Erhöhung des Soli - was auch Inhalt des Gesetzes war - um 10 Milliarden DM war zur Finanzierung der deutschen Einheit; gleichzeitig aber wurde die Erhöhung bei den Verbrauchsteuern eindeutig mit der Finanzierung des Golfkrieges begründet. So ist es in den Protokollen nachzulesen. Machen Sie das doch einfach einmal! ({1}) Zum anderen hat mein Kollege Detlev von Larcher - ich weise wieder auf das Protokoll des Bundestages hin schon in der Debatte zur ersten Lesung dieses Gesetzes zum Ausdruck gebracht, dass wir die Einwände ernst nehmen, dass wir auch über das Zweistufenmodell diskutieren werden. ({2}) Dann möchte ich noch sagen: Wenn Sie über humanitäre Maßnahmen reden, sollten Sie auch die Gegenfinanzierung im Blick haben. Bis heute haben Sie diesem Hause dazu nichts vorgelegt. Das Einzige, was vorliegt, ist unsere moderate Steueranhebung. Da Sie nichts anderes haben, ({3}) sprechen Sie sich dagegen aus, wenn Sie dagegen sind. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Bernhardt. Dr. Frank Schmidt ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schmidt, erhöhte Lautstärke und das Vorbringen alter Kamellen sind nicht geeignet, eine wirklich ernste Debatte in diesem Hause zu führen. Ich finde, das war der Debatte unwürdig. ({0}) - Ich halte mich an das Thema, um das es geht. Es geht schlicht um zwei wesentliche Steuererhöhungen. Ich zitiere einmal aus einer der großen Tageszeitungen, die sich mit diesem Thema auseinander gesetzt hat: Insgeheim wird Bundesfinanzminister Hans Eichel den Tag verfluchen, an dem sein Haus bekanntgab, zur Finanzierung des Antiterrorpaketes die Steuern zu erhöhen. Nicht nur, dass er damit seinen Ruf als konsequenter Steuersenker endgültig verwirkt hat, auch sein Image als solider Haushälter ist angekratzt. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass zurzeit alle Länder in der Welt dabei sind, die Anstrengungen für die Terrorbekämpfung zu erhöhen. Richtig ist auch, das kein Land außer der Bundesrepublik Deutschland dafür die Steuern erhöht. An dieser Stelle würde ich gerne der Kollegin Scheel, die leider nicht mehr im Hause ist, volkswirtschaftlichen Nachhilfeunterricht geben. So richte ich mich an den Kollegen Schmidt: Die Frage, wann man Steuererhöhungen durchführt, ist ganz entscheidend abhängig davon, wie die konjunkturelle Lage ist. In der jetzigen Situation ist jede Steuererhöhung Gift für die Konjunktur. ({2}) Man erreicht damit genau das Gegenteil dessen, was beabsichtigt wurde. Einige sollten sich einmal mit Herrn Brüning beschäftigen. Auch der fing an, diesen Weg zu gehen. Sie erhöhen jetzt die Abgaben, Sie erhöhen die Steuern - und wundern sich dann, dass Deutschland erstmalig Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum in Europa geworden ist. Dabei müsste Sie das nachdenklich stimmen. ({3}) Ich komme jetzt zur Tabaksteuer. Es geht hier um die stärkste Erhöhung dieser Steuer, die wir in der deutschen Geschichte bisher durchgeführt haben. ({4}) Sie selber gehen laut Ihren Zahlen davon aus, dass infolge dieser Steuererhöhung 13 Prozent weniger Zigaretten gekauft werden. Wenn dadurch das Rauchen wirklich um 13 Prozent zurückgehen würde, könnte man mit mir noch über diese Maßnahme sprechen. Das wäre gesundheitspolitisch unter Umständen gar nicht verkehrt. Die Wirklichkeit - das haben uns in der Anhörung alle Fachleute bestätigt - ist eine andere: Der Schwarzmarkt, der Grenzverkehr und der Versandhandel werden stärker genutzt. Wer sind - auch das sollte hier einmal gefragt werden - die wirklich Leidtragenden? Das sind die 6 500 kleinen Einzelhändler, für die die Zigarette ein ganz wichtiger Umsatzfaktor ist. Dies ist wieder ein Zeichen für Ihre Mittelstandsfeindlichkeit. ({5}) Ich komme zur Versicherungsteuer. ({6}) Kollege Schmidt hat Prozentpunkt mit Prozentsatz verwechselt. Mit einer Versicherungsteuer in Höhe von 15 Prozent sind wir schon heute der Spitzenreiter in Europa. ({7}) Großbritannien hat einen Steuersatz von 4 Prozent und die Schweiz einen Steuersatz von 5 Prozent. Die Erhöhung von 15 auf 16 Prozent, um die es jetzt geht, bedeutet, rechnet man die Mehrwertsteuer hinzu, eine Erhöhung um 8 Prozent. Dies ist ein weiterer Standortnachteil für Deutschland. Sie alle wissen, dass die Versicherungsrisiken nach dem 11. September 2001 neu eingeschätzt werden und dass es zu höheren Beiträgen kommen wird. Das heißt, durch das, was Sie gleich gegen unsere Stimmen beschließen werden, wird die Versicherungswirtschaft doppelt getroffen. Wir sollten Sie an Ihren eigenen Aussagen messen. Auch wenn es Ihnen peinlich ist, werde ich ein zweites Zitat anführen. Ihr Bundeskanzler Schröder ({8}) - richtig, Herr Kollege -, der von Ihnen gestellte Bundeskanzler, der auch mein Bundeskanzler ist, hat am 21. September 1998 Folgendes erklärt: Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosenquote signifikant zu senken, dann haben wir es weder verdient, wiedergewählt zu werden, noch werden wir wiedergewählt. ({9}) Durch das, was Sie heute beschließen, und durch das, was Sie, bezogen auf die Ökosteuer, schon beschlossen haben, fehlt im nächsten Jahr bei der Bevölkerung eine Nachfrage von 10 Milliarden DM. ({10}) In vielen Bereichen wird dies zu spüren sein. Daher sage ich ganz ernst: Was wir zurzeit brauchen, sind weitsichtige Finanzpolitiker. Wir brauchen keine engstirnigen Buchhalter. Wir brauchen Steuersenkungen und keine Steuererhöhungen. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Finanzierung der Terrorbekämpfung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der FDP. Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/7335? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS abgelehnt worden. Ich rufe Zusatzpunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Vereinsgesetzes - Drucksache 14/7026 ({0}) Beschlussempfehlung und des Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 14/7354 Berichterstattung: Abgeordnete Sebastian Edathy Cem Özdemir Ulla Jelpke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es besteht kein Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Sebastian Edathy.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben gerade vom letzten Redner in der letzten Debatte gehört, dass man Mehrausgaben für mehr Sicherheit am besten durch Steuersenkungen finanziert. Ich nehme das als originelle Anregung zum Nachdenken mit ins Wochenende. Möglicherweise werden wir über diesen Tagesordnungspunkt, der auch etwas mit der Stärkung der inneren Sicherheit zu tun hat, etwas weniger kontrovers diskutieren müssen; denn dies wird nicht mit höheren Ausgaben verbunden sein. Wir beraten heute abschließend über eine Änderung des Vereinsrechts. Worum geht es dabei? Art. 9 Abs. 1 unseres Grundgesetzes garantiert das Recht auf Bildung von Vereinen. In Abs. 2 folgt die einzige Einschränkung, die das Grundgesetz für dieses Recht kennt. Es heißt dort wörtlich - ich zitiere -: Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. Das Grundgesetz selbst allerdings definiert weder, was ein Verein ist, noch das nähere Verfahren eines Vereinsverbotes. Die diesbezüglichen Bestimmungen finden sich im 1964 geschaffenen Vereinsgesetz, über das wir heute diskutieren. Dort ist ausdrücklich festgehalten, dass Religionsgemeinschaften und weltanschauliche Vereinigungen nicht als Vereine gelten. Das führt zu einem Problem, das wir heute lösen sollten. Nach geltendem Recht kann der Bundesinnenminister, der für die Verfügung eines Verbotes überregionaler Vereine zuständig ist, in der Regel kein Verbot gegenüber extremistischen Vereinen aussprechen, die sich als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft deklarieren. Wir werden heute darüber zu entscheiden haben, ob das so bleiben soll oder nicht. Außer der PDS haben alle Fraktionen im Deutschen Bundestag im Rechtsausschuss und im Innenausschuss den Vorschlag der Bundesregierung begrüßt, das so genannte Religionsprivileg im Vereinsrecht zu streichen und damit die notwendige Rechtsklarheit dafür zu schaffen, dass ein Vorgehen gegen Religions- und Weltanschauungsvereine möglich ist, die sich verfassungsfeindlich betätigen. Vereinzelt war bei den Ausschussberatungen und in der öffentlichen Debatte die Befürchtung zu hören, die beabsichtigte Rechtsänderung bringe die mögliche Gefahr mit sich, dass insbesondere gegenüber kleineren Religionsgemeinschaften willkürlich vorgegangen werden könnte. Die SPD-Bundestagsfraktion teilt diesen von einer Minderheit geäußerten, aber trotzdem ernst zu nehmenden Einwand nicht. Vom In-Kraft-Treten des Vereinsgesetzes im Jahr 1964 bis heute sind seitens des jeweiligen Bundesinnenministers insgesamt 23 Vereinsverbote ausgesprochen worden: 23 Verbote in insgesamt 37 Jahren. Diese Zahl verdeutlicht, dass das Mittel des Vereinsverbotes nicht Mittel der Wahl, sondern Ultima Ratio, also letztes Mittel ist, zu dem der Staat dann zu greifen hat, wenn Verstöße eines Vereines gegen die Grundlagen unseres Gemeinwesens so massiv und schwerwiegend sind, dass das Recht auf Vereinsbildung dahinter zurückstehen muss. Hier ist in der Vergangenheit ganz offenkundig mit großer Umsicht und großer Sensibilität, rechtsstaatlich und verhältnismäßig vorgegangen worden, weil die Freiheit der Vereinsbildung ein Grundrecht ist, dessen Wahrnehmung mit großer, aber - das füge ich hinzu - eben nicht mit unbegrenzter Toleranz respektiert werden muss. So sind denn auch diejenigen Vereinigungen, die in den letzten fast 40 Jahren verboten worden sind, keineswegs unbekannt, sondern Vereinigungen, die eindeutig nahe legen, dass eine aggressive Bekämpfung des Grundgesetzes ihr Wesensmerkmal ist. Ich will einige davon nennen: Im letzten Jahr wurde die deutsche Sektion von „Blood & Honour“ verboten, eine problematische Neonazigruppe. Zu den verbotenen Vereinigungen gehören auch die „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die „Wiking-Jugend“ und die PKK. Es gibt keinen Grund dafür, im Vereinsrecht nicht eindeutig klarzustellen, dass eine einschlägig extremistische Organisation auch dann verboten werden kann, wenn sie als religiös oder weltanschaulich motivierte Organisation in Erscheinung tritt. Insofern stellt sich nach meinem Dafürhalten weniger die Frage, ob wir das Vereinsrecht ändern sollten, als vielmehr die Frage, warum wir das nicht schon längst getan haben. Das Bundesverwaltungsgericht beispielsweise hat bereits 1971 kritisch darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des Vereinsrechtes seine Regelungsbefugnis nicht ausgeschöpft hat. Die Befürchtung der willkürlichen Umsetzung der Änderung des Vereinsrechtes ist auch deshalb unbegründet, weil insbesondere bei Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften neben dem Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit das Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung immer in den Prozess der Abwägung, ob ein Verbot ausgesprochen werden soll oder nicht, einzubeziehen ist. Hinzu kommt natürlich auch, dass ein Verbot gerichtlich überprüft werden kann. Ich möchte - auch gegenüber der Bundesregierung - in aller Offenheit sagen - ich schicke voran, dass selbstverständlich die Entscheidung über das Verbot einer überregional tätigen Vereinigung dem Bundesinnenminister obliegt -: Ich kenne niemanden in diesem Hause, der es nicht begrüßen würde, wenn infolge der heute anstehenden Gesetzesänderung der so genannte Kalifatsstaat-Verein des Herrn Kaplan verboten würde. ({0}) Wir sind uns sicherlich einig, dass das Verbot einer solchen Vereinigung, die unter anderem - das ist in ihren Publikationen und im Verfassungsschutzbericht 2000 nachzulesen - zum Sturz demokratisch gewählter Regierungen aufruft und die nach meinem Dafürhalten zudem den Begriff des Islam weniger gebraucht als vielmehr missbraucht, möglich sein muss. Wir können und sollten heute gemeinsam durch die Änderung des Vereinsgesetzes dazu beitragen, dass ein solches Verbot auch tatsächlich möglich wird. Lassen Sie mich abschließend eine Bemerkung machen, die mir besonders wichtig erscheint. Ich bin davon überzeugt, dass unsere heutige Entscheidung einen guten und sinnvollen Beitrag zur Stärkung der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie leisten wird. Ich glaube, es muss möglich sein, dass ein Rechtsstaat mit den Mitteln des Verbotes gegen seine Feinde vorgeht. Die Frage des Verbots von religiös oder weltanschaulich motivierten Vereinigungen können wir heute durch die Änderung des Vereinsrechts klären. Mit etwas anderem wird sich der Bundestag immer wieder beschäftigen müssen; denn Vereinigungen können wir verbieten und auflösen, Menschen nicht. Diejenigen, die sich in extremistischen Vereinigungen organisiert haben, denen können wir zwar die Infrastruktur und die Organisationsbasis nehmen. Aber ihre Gesinnung werden sie deswegen längst nicht aufgeben. Wir sind aufgerufen, uns dauerhaft darüber Gedanken zu machen, wie insbesondere junge Menschen und Heranwachsende in diesem Land zu so selbstbewussten und demokratiebewussten Staatsbürgern werden, dass sie eben nicht extremistischen Rattenfängern auf den Leim gehen und ihnen hinterherlaufen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Hans-Peter Uhl.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Durch den nächste Woche zu beschließenden Befehl für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland beteiligt sich Deutschland am internationalen Kampf gegen den Terrorismus. Nicht weniger wichtig ist es, dass Deutschland den Kampf gegen den Terror auch im Inland aufnimmt. Deshalb muss der Blick für verfassungsfeindliche Organisationen geschärft werden. Der Blick muss auch für unsere Grundwerteordnung und für unser Verständnis von Menschenwürde geschärft werden, um sich von den Feinden unserer verfassungsmäßigen Grundordnung abzugrenzen. Wir können nicht akzeptieren, dass sich Terroristen und Extremisten unter dem Deckmantel einer Religionsgemeinschaft verstecken, dann ihren kriminellen Machenschaften nachgehen und wir keinerlei Handhabe dagegen haben. Es muss endlich gehandelt werden. So hat zuletzt im Januar dieses Jahres der bayerische Innenminister Beckstein die Abschaffung des Religionsprivilegs gefordert, wohlgemerkt nicht das erste Mal. Er hat diese Forderung auch schon während der Amtszeit des Vorgängers von Innenminister Schily erhoben. Der internationale Terrorismus muss konsequent und energisch bekämpft werden. Wir sollten dabei zur Gemeinsamkeit der Demokraten zurückkehren. Eine möglichst breite Mehrheit von Demokraten, die sich über Ziele und Methoden im Kampf gegen die Feinde der Demokratie einig sind, sollte sich im Parlament formieren. Wir wissen, das Grundrecht auf freie Religionsausübung - Art. 4 Abs. 2 des Grundgesetzes - ist kein schrankenloses Grundrecht. Auch dieses Grundrecht unterliegt den grundrechtsimmanenten Schranken. Dafür spricht schon die ganz einfache Überlegung, dass es kein Grundrecht auf grenzenlose Freiheit geben kann. Hier ist vielmehr die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes zu beachten: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gilt nur, soweit nicht die Grundrechte anderer verletzt sind, soweit nicht die verfassungsmäßige Ordnung tangiert ist oder die Sittengesetze berührt werden. Sie sehen: Wir sind hier mitten in einer umfassenden Wertediskussion. Es geht um den Individualwert der Grundrechte Einzelner. Es geht um den Gemeinschaftswert der verfassungsmäßigen Grundordnung und schließlich um moralische Werte unseres Sittengesetzes. Eine solche umfassende Wertediskussion muss jetzt überall - auch hier im Parlament - geführt werden. ({0}) Um noch ein Stück deutlicher zu werden und nicht zu abstrakt verfassungsrechtlich zu argumentieren: Der Umgang mit Andersgläubigen oder die Würde der Frau bestimmen sich nicht nach irgendeiner Auslegung des Koran, sondern nach unserer Werteordnung. Das ist der Punkt, um den es geht. Die Auslegung richtet sich nach dem sittlichen Bewusstsein unserer Rechtsgemeinschaft. Wir können nicht akzeptieren, dass in Deutschland lebende extremistische Islamisten ihre Interpretation von Koran und Scharia über unser Grundgesetz stellen. Das Menschenrechtsverständnis unseres Grundgesetzes mit der gleichen Wertigkeit und der gleichen Würde des Menschen ist mit diesem Islamismus nicht vereinbar. Wir müssen darauf bestehen: Unser Grundgesetz ist nicht verhandelbar. Wer bei uns leben möchte, hat sich an unserer Leitkultur zu orientieren. ({1}) - Ich weiß, das tut Ihnen weh und Sie wollen keine Diskussion darüber. Aber Sie werden der Diskussion über die Leitkultur nicht ausweichen können, denn wir sind schon mittendrin. ({2}) In letzter Zeit wurde oft von höchster Stelle - man muss das hier erwähnen - ein ziemlich abwegiges Grundrechtsverständnis vertreten. So hat vor wenigen Jahren auf erneuten Vorstoß des bayerischen Innenministers das Bundesinnenministerium festgestellt, dass der Unterhalt von Moscheen und die Praktizierung von Riten und Kulthandlungen der islamischen Religion ausreichen würden, um unter dem Schutz und Schirm des Gesetzes zu stehen. Selbst der Vorwurf terroristischer Straftaten tangiere diesen Status nicht. - Ich nenne eine solche Auffassung eine Verirrung des Geistes. ({3}) Ein derart falsch verstandener Liberalismus schaufelt sich eines Tages sein eigenes Grab. ({4}) Die Väter unseres Grundgesetzes dagegen waren viel weitsichtiger. Sie wollten eine wehrhafte Demokratie, eine Demokratie, die allen ihren Feinden den Kampf ansagt. Das war der Geist von Herrenchiemsee. Das war der Geist, der alle Demokraten einte. Warum? Sie hatten das Terrorregime der Nazis überlebt und das Terrorregime der Kommunisten vor Augen. Doch in der Folgezeit fehlender Bedrohung legte sich bei nicht wenigen eine überzogen liberalistische Auffassung wie Mehltau über die Grundrechtsinterpretation. ({5}) Bei einer solchen Grundrechtsinterpretation ist es wohl auch kein Zufall, dass Deutschland zum Ruheraum von Terroristen werden konnte. Wegen einer falsch verstandenen Liberalität konnten sich hier dem Terrorismus zugewandte Personen austoben und die abstrusesten Ideen verbreiten. Offensichtlich bedurfte es des furchtbaren Anschlags von New York durch islamistische Terroristen, bis für jedermann erkennbar wurde, dass ein solches liberalistisches Grundrechtsverständnis grob fahrlässig ist. ({6}) Für den Erhalt der Demokratie muss man Grenzen aufzeigen und für die Einhaltung dieser Grenzen kämpfen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Edathy.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gerne zum Schluss kommen und Sie im Anschluss zu einer Diskussion einladen. ({0}) Zu Recht hat der Staatsschutzsenat des OLG Düsseldorf - das sollte im Plenum bekannt werden - im November 2000, also vor gut einem Jahr, in seiner Urteilsbegründung zu dem Fall des Kalifen von Köln eine harsche Politikschelte vorgenommen. In dem Urteil heißt es: Nahezu mit Verblüffung musste der Senat zur Kenntnis nehmen, dass eine Vielzahl von Zeugen aus den Reihen des Kaplan-Verbandes, und davon nicht wenige mit inzwischen deutscher Staatsangehörigkeit, mit einer kaum zu glaubenden Unverschämtheit oder besser Unverfrorenheit erklärten, dass für sie auch hier in Deutschland nicht die deutschen Gesetze, ja nicht einmal die deutsche Verfassung, sondern das islamische Recht, die Scharia, maßgeblich sei. Und Ziel sei es außerdem nicht nur, ... den Islam auch hier in Deutschland zu verbreiten, sondern die ganze Welt müsse der Herrschaft des Islam ... unterworfen werden. Wir kennen eine ganze Reihe weiterer Zitate von Metin Kaplan, der in Deutschland immerhin 1100 Anhänger hat. Hier einige Kostproben: „Es lebe die Hölle für die Ungläubigen“, „Nieder mit allen Demokratien und allen Demokraten!“, „Wenn wir die Macht übernommen haben, muss das Parlament ... zerstört und verbrannt und die Asche ins Meer geschüttet werden“, „Der Koran wird die Verfassung, die Scharia das Gesetz, der Islam wird der Staat“. - Das alles sind Töne, die in Deutschland von diesen Leuten vorgetragen werden, und immer noch nicht ist dieser Verein verboten. Es wird höchste Zeit, dass das Verfahren zu Ende gebracht wird ({1}) und die Rädelsführer abgeschoben werden. Sollte sich dann herausstellen, dass einige der Rädelsführer bereits einen deutschen Pass erlangt haben und sie deswegen nicht mehr abgeschoben werden können, wird die deutsche Öffentlichkeit mit Recht empört sein. Von Milli Görüs mit ihren an die 27 000 Mitgliedern - also nicht nur 1100 wie bei Metin Kaplan - wissen wir, dass Teil ihrer offiziellen Vereinspolitik die Aufforderung an ihre Mitglieder ist, sich einbürgern zu lassen, das heißt, sich einen deutschen Zweitpass zu besorgen. Meiner Meinung nach müssen wir in den Fällen, in denen sich Menschen ganz bewusst einen deutschen Zweitpass beschafft haben, ({2}) die sich nachträglich als verfassungsfeindliche Extremisten herausstellen, Herr Edathy, prüfen, ob wir ihnen diesen deutschen Zweitpass wieder entziehen können. Nach geltendem Verfassungsrecht geht das nicht, wäre aber im Falle einer entsprechenden Änderung durchaus mit der Verfassung vereinbar. Lesen Sie einmal nach, wie es zu der betreffenden Vorschrift kam! Meine Damen und Herren, die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. ist im Prinzip gefährlicher als die Kaplan-Vereinigung, weil sie geschickter vorgeht. Sie hat als Feindbild nach wie vor unsere Gesellschaftsordnung, sie torpediert jegliche Integrationsbemühungen, sie will eine islamistische Parallelgesellschaft in Deutschland errichten. Deswegen ist sie gefährlicher. Was sie von dem NATO-Partner Türkei will, wissen Sie. Die Tochterorganisation dieser Gemeinschaft, die Refah-Partei, wurde deswegen dort verboten. Bei den Milli-Görüs-Vereinen handelt es sich noch um eine Minderheit, aber sie versuchen, Einfluss in allen Lebensbereichen auszuüben. Deswegen müssen wir in den deutschen Schulen viel intensiver prüfen, inwieweit sich der islamische Religionsunterricht mit unserer verfassungsmässigen Grundordnung deckt. Wenn der Verfassungsschutz zu dem Ergebnis kommt, dass Milli Görüs verfassungsfeindlich ist, dann werden wir auch hier ein Verbot aussprechen müssen. Es wird sich zeigen, inwieweit im Falle eines anstehenden Verbots der grüne Koalitionspartner dem Innenminister den Rücken stärken oder ihm in den Rücken fallen wird. Ich komme zum Schluss: Unsere wehrhafte Demokratie, richtig verstanden, gibt den Feinden unserer Verfassung keine Chance. Es wäre auch unerträglich, wenn wegen einer völlig überzogenen Laisser-faire-Haltung aus Deutschland ein Nachtwächterstaat würde. Wenn unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bedroht wird, dann hält das Grundgesetz genügend Instrumente zum Kampf gegen den Terrorismus bereit. Heute tun wir mit diesem Gesetz einen ersten Schritt zur Bekämpfung des Terrors im Inland. Im Sicherheitspaket der Bundesregierung werden weitere Schritte folgen. Die Unionsfraktion wird diesem Sicherheitspaket weitere Vorschläge hinzufügen. Dann wird es uns hoffentlich in großer Mehrheit gelingen, im Kampf gegen den islamistischen Terror zu bestehen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Cem Özdemir.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die jetzt vorgelegte Änderung des Vereinsgesetzes ist Teil eines Bündels von Maßnahmen als Konsequenz aus den schrecklichen Anschlägen vom 11. September dieses Jahres. Wenn wir jetzt über einzelne Neuregelungen sprechen, dann dürfen wir die Gründe, die dazu geführt haben, dass wir uns heute, aber auch schon bei anderer Gelegenheit mit Terrorismusbekämpfung, mit der Änderung von Gesetzen beschäftigen bzw. beschäftigt haben, nicht vergessen. Ich bedaure, in diesem Zusammenhang sagen zu müssen: Die eine oder andere Kritik an den getroffenen Maßnahmen legt den Eindruck nahe, dass man die Kernproblematik, nämlich den 11. September, gelegentlich aus den Augen verliert. ({0}) Wer sich auf eine reine Maßnahmenkritik beschränkt, der darf nicht vergessen, dass in New York Tausende von Menschen aus nahezu allen Ländern der Vereinten Nationen, darunter einige deutsche Staatsbürger, ums Leben gebracht worden sind. Angesichts dessen kann niemand von uns zur Tagesordnung zurückkehren und so tun, als ob nichts geschehen wäre. Eine trügerische Sicherheit nach dem Motto „Uns wird es schon nicht treffen“ kann uns nicht weiterhelfen; denn niemand von uns - ich sage das, ohne Panik verbreiten zu wollen - hat eine Garantie dafür, dass sich das, was in New York geschehen ist, nicht morgen oder übermorgen in einem anderen Land Europas oder irgendwo anders in der Welt ereignet. Weil die Selbsterhaltungskräfte der Gesellschaft gefragt sind, sind wir alle miteinander aufgefordert, uns zu überlegen, was wir tun können, um die Sicherheit zu erhöhen und vorhandene Lücken so schnell wie möglich zu beseitigen. ({1}) Wir dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass sich einige der Attentäter lange Zeit bei uns unerkannt aufgehalten haben. Sie haben dieses Land benutzt, um mit verschiedenen Identitäten - wie gesagt: unerkannt - ihre Mordtaten zu planen. Das muss in die Bewertung einbezogen werden. Daraus folgt für mich zwingend, dass wir bei der Bekämpfung des Fundamentalismus schärfer als in der Vergangenheit vorgehen müssen. In der Öffentlichkeit ist schon mehrfach auf den so genannten Kalifatsstaat, also auf die Bewegung von Herrn Kaplan, hingewiesen worden. Diese Bewegung sollte sich nirgendwo verstecken können. Der Terrorismus hat weder eine Nation noch eine Religion. Er muss dort, wo er auftritt, bekämpft werden. Herr Kaplan kann sich weder auf den Islam noch auf irgendeine andere Religion berufen. Ich hätte mir gewünscht, dass auch mein Vorredner würdigt, dass der Zentralrat der Muslime und alle großen muslimischen Organisationen der Bundesrepublik Deutschland in jeder nur möglichen Deutlichkeit nicht nur ihr Mitgefühl mit den Opfern erklärt, sondern jede Form von Terrorismus scharf verurteilt haben. Sie haben - wir sollten nicht das Thema, über das wir heute diskutieren, vergessen - insbesondere die Änderung des Vereinsrechts begrüßt. Nicht nur die christlichen Kirchen, mit denen wir im Dialog stehen, sondern auch die muslimischen Organisationen der Bundesrepublik Deutschland haben dieses Unterfangen der Bundesregierung begrüßt und sie haben diesbezüglich ihre Unterstützung zugesagt. Herr Kollege Uhl, seitens der Opposition wäre es ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit gewesen, das zu würdigen. Die Mehrzahl der Muslime sieht es nicht anders als wir. ({2}) Die Mehrzahl der Muslime wird nach Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs applaudieren, weil sie dafür dankbar sein werden, dass sie - das geschieht in der Öffentlichkeit häufig - nicht mehr in Mitleidenschaft gezogen und verwechselt werden. Diese Muslime werden wahrscheinlich glücklicher als die Mehrheit dieses Hauses darüber sein, dass durch dieses Gesetz das Verbot der Aktivitäten von Kaplan möglich wird. ({3}) Ich möchte Sie davor warnen, hier in falschen Populismus zu verfallen. Ich habe bei allen Reden aufmerksam zugehört. In allen unseren Reden ist ein Ringen spürbar. Sie merken, dass keiner von uns hier mehr so redet wie vor dem 11. September. Wenn ich gelegentlich Kollegen aus der Union sprechen höre - das gilt ausdrücklich nicht für alle -, dann habe ich schon das Gefühl, dass sie dieselben Reden auch vor dem 11. September hätten halten können. Ich habe nicht wirklich gemerkt, ob man sich Gedanken darüber macht, dass das, was man sagt, zu dem passt, worum es eigentlich geht. Im Hinblick auf Milli Görüs empfehle ich Ihnen einfach einmal, das Gespräch mit Ihren Fraktionskollegen, mit den Außenpolitikern und mit den entsprechenden Experten, zu suchen. Sie werden Ihnen sagen, dass das, was Kollege Uhl eben gesagt hat, alles andere als verantwortlich ist. Wenn wir solche Maßstäbe an Menschen, die sich zwar zum politischen Islam bekennen, aber mit Gewalt überhaupt nichts am Hut haben, anlegen, dann spielen wir mit dem Feuer. Davor kann ich nur audrücklich warnen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Özdemir, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Marschewski?

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. ({0})

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass das, was der Kollege Uhl vorhin gesagt hat, wörtlich im letzten Verfassungsschutzbericht steht? Dort steht, dass Milli Görüs unter dem Deckmantel einer veränderten Handlungs- und Haltungsweise in Bezug auf früher weiterhin eine Gefahr für diesen Staat darstellt. Nur das hat der Kollege Uhl behauptet. Sie müssten es wissen. Ich darf Ihnen an dieser Stelle auch noch sagen - fragen Sie Ihre Kollegen -, dass alle Aussagen bezüglich Milli Görüs und PKK - neuerdings PKG - bestätigt sind. Das kann ich Ihnen sagen.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Kollege Uhl hat gesagt, dass Milli Görüs sogar noch gefährlicher als die Organisation von Kaplan ist, Herr Kollege Marschewski. Darauf habe ich mich bezogen. Es geht nicht darum, irgendetwas in Schutz zu nehmen. Ich möchte sogar Ihre Kritik noch verschärfen: Ich halte es für völlig unerträglich, wenn zum Beispiel aus Milli Görüs nahe stehenden Medienkreisen wie in Tageszeitungen und auch in Fernsehkanälen offener Antisemitismus vertreten wird - ich weise darauf übrigens seit Jahren hin, das nur am Rande bemerkt -; dem muss Einhalt geboten werden. Mein Hinweis zielte aber vielmehr darauf, dass es absurd und absolut fahrlässig wäre, wenn wir denjenigen aus einer Organisation mit 30 000 Menschen, in der es Tauben und Falken gibt, wobei nur letztere sich gegen Veränderungen stemmen und eine Parallelgesellschaft aufbauen wollen - das können weder Sie noch ich wollen -, den Weg verbauen, die in diese Gesellschaft hineinwachsen wollen. Deshalb bitte ich darum, hier sehr differenziert vorzugehen. Die Holländer haben das einzig Vernünftige gemacht; sie haben versucht, die Organisation zu spalten, indem sie diejenigen, die bereit sind, sich auf einen Dialogprozess einzulassen, in die Gesellschaft eingeladen haben, und denjenigen, die das nicht wollen, klar gemacht haben, dass auch unsere Gesellschaften Spielregeln haben. Das hatte zur Konsequenz, dass sich Milli Görüs in Holland quasi gespalten hat. In Bezug auf diese Spielregeln sind wir uns einig: Trennung von Staat und Religion sowie Akzeptanz der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Darüber gibt es hier im Hause wohl keinen Streit. Meine Bitte ist: Reden Sie noch einmal mit dem Kollegen Uhl und machen Sie ihm klar, dass es hier nicht darum gehen kann, die Zahl der Feinde dieser Gesellschaft zu erhöhen. Damit wäre niemandem gedient. Im Gegenteil: Als Sozialpädagoge empfehle ich hier, mit positiven Verstärkern zu arbeiten und dadurch dazu beizutragen, dass die Muslime, die bereit sind, in dieser Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen - und das ist die Mehrzahl -, nicht von der Gesellschaft abgestoßen, sondern in die Gesellschaft eingeladen werden. Da meine Redezeit schon abgelaufen ist, lassen Sie mich zum Schluss nur noch eines sagen: Der Kampf geCem Özdemir gen den Terrorismus, der Kampf gegen Schläfer, der Kampf gegen Extremisten kann nur gemeinsam mit den Muslimen Erfolg haben. Auch der beste Verfassungsschutz und die beste Polizei haben keine Chance, wenn sie in diese Szene nicht hineinkommen. Das werden sie nur schaffen, wenn die muslimischen Gemeinschaften mit unserer Polizei zusammenarbeiten. Damit das der Fall ist, müssen auch wir Schritte auf sie zugehen. Ich bin mir sicher, dass wir so erfolgreich sein werden. Wenn wir die Gesellschaft polarisieren, werden wir es nicht sein. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Max Stadler.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte die Diskussion wieder auf den Gesetzentwurf lenken, über den wir gleich abstimmen. In diesem geht es um die Frage, ob das Religionsprivileg im Vereinsrecht bestehen bleiben soll oder nicht. Die FDP-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zustimmen. Wir teilen nämlich das Ziel, verfassungsfeindliche, extremistische Bestrebungen nicht zuzulassen. Gleichzeitig bleibt - davon war bisher wenig die Rede das Grundrecht auf Religionsfreiheit in vollem Umfang erhalten. ({0}) Auch wenn wir diesem Gesetz zustimmen, so muss doch angemerkt werden, dass das Gesetzgebungsverfahren nicht befriedigend abgelaufen ist. Immerhin befinden wir uns hier in einem verfassungsrechtlichen Spannungsfeld. Deswegen hat es im Bundesinnenministerium, wie Frau Sonntag-Wolgast ja im Ausschuss neulich bestätigt hat, einen längeren Diskussionsvorlauf gegeben. Das zeigt, dass das Ganze Anlass zum Nachdenken gegeben hat. Wenn nun vom Parlament verlangt wird, sehr rasch eine Entscheidung zu treffen, so steht diese Eile doch in bemerkenswertem Widerspruch zu der Zeitspanne des Vorlaufs innerhalb der Bundesregierung. Meine Damen und Herren, die FDP ist für zügige Beratungen aller Maßnahmen, die die innere Sicherheit erhöhen. Es muss aber auch mit der dem Parlament angemessenen Sorgfalt vorgegangen werden. Denn das, was wir jetzt erleben, verheißt nichts Gutes für die Beratungen zum so genannten Sicherheitspaket II. ({1}) Der Zeitplan, der bisher bekannt geworden ist, zeigt, dass im Eilverfahren noch weitreichendere Maßnahmen durchgepeitscht werden sollen. Ich finde, dass der Bundestag sich das nicht hätte gefallen lassen sollen. Deswegen hat die FDP genau wie die Kollegin Jelpke im Innenausschuss eine Anhörung von Sachverständigen zu dem heutigen Thema beantragt. Dies ist leider von den Regierungsfraktionen und der Union abgelehnt worden, obwohl übrigens die Kollegen der CDU/CSU aus dem Rechtsausschuss sehr wohl auch für eine Anhörung eingetreten sind. Was hätte dort noch thematisiert werden sollen? Dort hätte vor allem die Frage thematisiert werden sollen, ob die heutige Gesetzesänderung überhaupt erforderlich ist. Denn entgegen dem Eindruck, den der Kollege Uhl erweckt hat, ist die Rechtslage auch bisher schon geklärt. Der Kollege Uhl hat hier in einer wirklich schlimmen Weise Richtiges und Falsches miteinander vermischt. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat am 23. März 1971 auf der Basis des geltenden Rechtes ganz eindeutig entschieden, dass auch Religionsgemeinschaften selbstverständlich an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden sind und dass sie, wenn sie dagegen verstoßen, dem Verbot und der Auflösung unterliegen. ({2}) Ebenfalls entgegen dem Eindruck, den der Kollege Uhl hier erweckt hat, ist es natürlich schon nach der geltenden Rechtslage so, dass einzelne Mitglieder, auch wenn sie einer Religionsgemeinschaft angehören, selbstverständlich strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. So ist ja der selbst ernannte Kalif von Köln, Herr Kaplan, rechtskräftig zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. ({3}) Es ist schon sehr eigentümlich, wenn hier von der CSU der Eindruck erweckt wird, das von Herrn Kanther geführte Innenministerium - so musste man Herrn Uhl verstehen - habe dazu beigetragen, dass die Bundesrepublik zu einem Ruheraum für Terroristen geworden sei. ({4}) Das ist wirklich absurd. ({5}) Ich bin in der eigenartigen Situation, hier Herrn Kanther gegen die CSU verteidigen zu müssen. ({6}) Meine Damen und Herren, abschließend will ich noch den Hinweis anbringen, dass der Rechtsstaat gegen Terroristen in keiner Weise wehrlos ist. Es kommt darauf an, das bestehende Recht konsequent anzuwenden. Das ist auch gegenüber Religionsgesellschaften möglich, die sich extremistisch verhalten. Da der Gesetzentwurf aber zu einer Klarstellung beiträgt, stimmen wir ihm zu, obwohl er nicht unbedingt erforderlich gewesen wäre. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt für die PDS-Fraktion die Kollegin Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Herr Stadler, die Konsequenz, die Sie ziehen, verstehe ich nicht ganz. Ihren Beitrag kann ich inhaltlich voll unterstützen. Warum Sie dennoch das Religionsprivileg abschaffen wollen, ist aus Ihrer Argumentation eigentlich nicht hervorgegangen. ({0}) Heute, am 9. November, sei daran erinnert: Aus den Erfahrungen der Schoah heraus haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften als etwas Besonderes behandelt. Dieser Sonderstellung in der Verfassung entspricht das Religionsprivileg im Vereinsgesetz. Das Problem ist in der Tat komplex und kompliziert. Die PDS-Fraktion hat es sich nicht einfach gemacht und lange diskutiert, wie sie sich zur Abschaffung des Religionsprivilegs verhalten wird. Die Befürworterinnen und Befürworter der Streichung stellen Privilegien grundsätzlich infrage, auch für die großen Kirchen, die gegenwärtig Körperschaften des öffentlichen Rechts sind und von dieser Streichung nicht betroffen sein werden. Wichtig ist meinen Kolleginnen und Kollegen in diesem Zusammenhang, dass es eine Privilegierung weder für Christen noch für Moslems geben kann. Die Kritikerinnen und Kritiker der Streichung des Religionsprivilegs kommen im Ergebnis zu der Befürchtung, dass die Religionsfreiheit betroffen sein könnte. So könnte eine Abschaffung des Religionsprivilegs in Zukunft auch etwa Freikirchen oder Weltanschauungsgemeinschaften wie beispielsweise die Freidenker treffen. Hinsichtlich des Hauruckverfahrens, mit dem die Änderung im Parlament durchgezogen wird, kann ich mich Herrn Stadler voll anschließen. Ich brauche die Argumente nicht zu wiederholen. Wir alle in der Fraktion finden es problematisch, vor welchem Hintergrund die Debatte um die Streichung des Religionsprivilegs gegenwärtig stattfindet. Wie hier bereits gesagt wurde, wurde dieser Punkt im Zusammenhang mit der Terrorismusdebatte auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist wieder vom Kampf der Kulturen die Rede. Herr Uhl hat das mit seinem Gerede von der Leitkultur deutlich gemacht. Ich will das nicht wiederholen. Ich möchte aus der Debatte der vergangenen Tage ein Zitat des CSU-Generalsekretärs Thomas Goppel bringen. Er sagte, man solle das Umfeld von terrorismusverdächtigen Organisationen internieren. Der Kollege Marschewski sagte, man könne sie in gefängnisähnlichen Einrichtungen unterbringen. Ich glaube nicht, dass das die Lösung ist. Gerade in diesen Tagen und Wochen ist die Streichung des Religionsprivilegs ein sehr problematisches Signal. Alle moslemischen Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften werden gegenwärtig unter Generalverdacht gestellt, etwas mit Terroristen zu tun zu haben. Die Aufhebung des Privilegs fällt in eine Zeit, in der das Misstrauen gegenüber moslemischen Gläubigen besonders stark ist. Unseres Erachtens besteht die Notwendigkeit, das Signal auszusenden, dass alle Menschen - also Menschen aller Glaubensbekenntnisse und Menschen ohne Religionszugehörigkeit - der Wunsch nach Einheit, Frieden und Gerechtigkeit eint.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Jelpke, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja. - Ich möchte zum Schluss sagen - das ist ein weiterer problematischer Punkt -, dass nächste Woche der „Otto-Katalog II“ auf dem Tisch liegt. ({0}) Damit wird die Situation für Ausländervereine weiter verschärft. Demnach können bereits Organisationen verboten werden, die beispielsweise erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigen. Wir haben große Bedenken, welche Vereine alle betroffen sein könnten. Die Abschaffung des Religionsprivilegs hätte sehr viel gründlicher behandelt werden müssen. Man hätte Bürgerrechtsorganisationen anhören und eine öffentliche Debatte initiieren müssen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Dann wäre vielleicht als Ergebnis herausgekommen, dass das Religionsprivileg nicht so einfach gestrichen werden kann. Danke. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Erwin Marschewski das Wort. ({0})

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich melde mich, weil die Kollegin Jelpke mich bezüglich meines Vorschlages, Terroristen in gefängnisähnlichen Einrichtungen unterzubringen, angesprochen hat. Es ist richtig, dass ich diesen Vorschlag in die Diskussion eingebracht habe. Ich habe diesen Vorschlag von dem britischen Innenminister Blunkett, einem Labour-Minister, übernommen, der einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht hat. Ich stehe als deutscher Innenpolitiker vor folgender Problematik: Auch wenn feststeht, dass jemand ein Terrorist ist - er wurde überführt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt -, können wir ihn nach Ablauf seiner Haftzeit nicht in ein fremdes Land verbringen; denn Abschiebungshindernisse auf der einen Seite und § 48 des Ausländergesetzes auf der anderen Seite verbieten dies. Sie können diese Person nach der geltenden Rechtslage selbst dann nicht abschieben - wenn Folter und Todesstrafe droht, wird er selbstverständlich nicht abgeschoben -, wenn ihm eine erniedrigende Behandlung droht. Ich stelle mir daher die Frage, ob man es verantworten kann, dass man einen Terroristen, der Menschen getötet hat, nicht in ein fremdes Land verbringen kann, nur weil ihm eine - in Anführungszeichen - erniedrigende Behandlung droht. So ist aber die Rechtslage. Was will man machen, wenn Herr Kaplan nicht von der Türkei aufgenommen wird? In diesem Fall muss der deutsche Steuerzahler dafür aufkommen, dass Herr Kaplan rund um die Uhr von 20, 30 Polizeibeamten bewacht wird. Er geht nicht in die Türkei, ausweisen oder abschieben können wir ihn nicht. Er bleibt hier. Vor diesem Hintergrund habe ich die Frage gestellt, ob es dann nicht, wie beim vorbeugenden Unterbindungsgewahrsam, gerechtfertigt ist, die Leute vielleicht in gefängnisähnliche Einrichtungen zu verbringen. Ich sage noch einmal: Mein Vorbild war der britische Labour-Innenminister. Ich halte es für völlig legitim, diese Frage anzusprechen. Nur, es so verkürzt darzustellen, wie Sie es vorhin getan haben, das geht natürlich nicht. Diese Leute bleiben hier und ich habe den Auftrag, sie festzusetzen, sie unschädlich zu machen oder sie ins Ausland zu bringen. Das aber ist nach der derzeitigen Rechtslage nicht möglich. Ich will noch einen Satz anfügen. Die UNO-Resolution 1353 sagt auch, dass solchen Leuten kein Zufluchtsraum zu gewähren sei. Man kann vielleicht sogar mit einer Interpretation der Europäischen Menschenrechtskonvention oder der UNO-Konvention zu einem ähnlichen Ergebnis kommen. Die Frage ist ernst und deswegen sollten Sie so etwas ernsthaft und nicht nur mit einem Zwischensatz erwähnen. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Frau Kollegin Jelpke, bitte.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

SehrverehrteKolleginnenundKollegen!Es istmir schonwichtig,das,wasHerrMarschewski hier gerade vorgetragen hat, richtig zu stellen. Erst einmal möchte ich prinzipiell klarstellen, Herr Marschewski: Auch die PDS setzt sich für eine eindeutige strafrechtliche Verfolgung von Terroristen ein. Die gehören vor Gericht, die gehören verurteilt, das kann überhaupt kein Thema und keine Frage sein. Zweitens. Es geht um den Bericht in der „Bild am Sonntag“ vom vergangenen Sonntag, in dem Sie zitiert worden sind, und um die Debatte, die Sie Anfang dieser Woche in der Sendung „Report“ mit Ihrem Kollegen Herrn Goppel, den ich eben zitiert habe, geführt haben. Sie haben dort in der Tat über den Kampf gegen den Terrorismus gesprochen, aber Sie haben von dem Umfeld gesprochen. Ihr Kollege Herr Goppel, den ich jetzt noch einmal zitiere, hat ganz eindeutig gesagt: Eine Internierung ist dann notwendig, wenn Gefahr im Verzug ist. Die einzige Möglichkeit sicherzustellen, dass das Umfeld eines solchen Attentäters zumindest zerstört wird, ist die Internierung seiner Anhängerschaft. Das erinnert tatsächlich an NS-Zeiten. Ich meine, dass in einem Rechtsstaat Straftaten wirklich nachgewiesen werden müssen und dass man hier nicht so leichtfertig von Internierung reden sollte, wie das der Kollege getan hat. Sie, Herr Marschewski, haben in der Sendung dann ergänzend gesagt, man könnte sie in gefängnisähnlichen Einrichtungen unterbringen. Das müsste man überlegen. Das ist jetzt meine Kommentierung: Früher nannte man das Schutzhaft. Ich glaube, wir dürfen nicht so weit kommen, dass wir mit solchen Maßnahmen den Rechtsstaat in diesem Land verändern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Liebe Kollegen und Kolleginnen! Auf den letzten Disput will ich jetzt nicht mehr eingehen, ({0}) wohl aber auf das, was der Kollege Stadler und die Kollegin Jelpke in ihrer Rede gesagt haben. Herr Stadler, ich hatte das Gefühl, Sie suchten irgendein Haar in der Suppe bei einer Initiative, die Sie eigentlich für gut und richtig halten. Frau Jelpke, gerade weil wir im Umgang mit den Muslimen die Differenzierung und nicht den Generalverdacht haben wollen, ist diese Initiative so wichtig. Das möchte ich ganz kurz erklären. ({1}) Als der Bundesinnenminister am 5. September, also sechs Tage vor den Terroranschlägen, den unmittelbar bevorstehenden Beschluss des Kabinetts für eine Änderung des Vereinsgesetzes ankündigte, war das Echo in den Medien eher mager. Es gab einige Zweispalter in den überregionalen Zeitungen, mehr nicht. Das hat sich natürlich mittlerweile gründlich geändert. Die beiden so genannten Sicherheitspakete sind inzwischen von der Bundesregierung verabschiedet worden und in ihren Rahmen gehört eben auch die Abschaffung des so genannten Religionsprivilegs. Sie soll das Vorgehen gegen terroristische Organisationen, die sich als Religionsgemeinschaften tarnen, in Wirklichkeit aber eine erhebliche kriminelle Energie entfalten, zu Straftaten aufrufen oder Terroranschläge vorbereiten, erleichtern. Ich erwähne diese Entstehungsgeschichte der Initiative, um eines klar zu machen: Der Erwin Marschewski ({2}) Beschluss reifte vor den Terrorangriffen und stand schon lange auf der Agenda. Übrigens hat sich die jetzige Bundesregierung da sehr viel zielstrebiger und konkreter verhalten als ihre Vorgängerin. Meine Damen und Herren, Sie werden unschwer erraten, welche Organisation die Bundesregierung bei ihren Vorüberlegungen in erster Linie im Visier hatte: natürlich den islamistisch ausgerichteten Kölner Kalifat-Staat, dessen Anführer Metin Kaplan eine Strafe verbüßt und dessen Ziel der Sturz der laizistischen Republik in der Türkei ist, der aber auch massiv die Bundesrepublik bedroht. Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes hat es auch Kontakte dieser Organisation zu Osama Bin Laden gegeben. Die Bundesregierung will das Vereinsgesetz auf derartige Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften ausdehnen, um Betätigungs- und Vereinsverbote durchsetzen zu können. Organisationen, die unsere Gesetze und unsere verfassungsmäßige Ordnung aggressiv bekämpfen und missachten, muss das Handwerk gelegt werden, auch wenn sie im Gewande einer Glaubensgemeinschaft daherkommen. ({3}) Die Änderung des Vereinsgesetzes ist somit auch ein Baustein im Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Eindämmung des internationalen Terrorismus. Manche fragen - das haben Sie, Herr Stadler, auch getan -, warum das Religionsprivileg überhaupt so lange Bestand hatte. Eine Begründung liegt zweifellos darin, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des Vereinsgesetzes im Jahre 1964 die Probleme und Risiken so nicht erkennen konnte. Inzwischen haben wir andere Erfahrungen gesammelt, da religiös motivierter Fundamentalismus sehr viel deutlicher zutage tritt. Richtig ist auch, dass seitens der Kirchen kritische Stimmen im Hinblick auf eine Änderung des Vereinsgesetzes zu hören waren. Eine Sorge möchte ich aber gleich ausräumen: Die von manchen beschworene Gefahr, dass religiöse oder weltanschauliche Gruppen willkürlich zerschlagen werden könnten, stellt sich nicht. Die katholische und die evangelische Kirche sind von der Gesetzesänderung ohnehin nicht betroffen. Die Verfassung schützt sie vor einem Verbot, weil sie altkorporierte Religionsgemeinschaften sind, denen der Körperschaftsstatus zugesprochen ist. Abgesehen davon ist die Schwelle für ein Tätigwerden des Staates hoch. Bei jeder Entscheidung im Einzelfall ist die grundrechtlich verbürgte Religionsfreiheit zu beachten. Alle Entscheidungen unterliegen selbstverständlich der gerichtlichen Überprüfung. Die Maßstäbe für ein Vereinsverbot sind die gleichen wie für ein Parteiverbot; nur liegt die Entscheidungsbefugnis bei so genannten normalen Vereinen nicht beim Bundesverfassungsgericht, sondern zunächst bei den Innenministerien von Bund und Ländern. Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss für uns eindeutig sein: Religiöse oder weltanschauliche Motivation darf kein Freibrief für Gewalt, Verfassungsbruch und Mord sein. Diese Botschaft will unsere Gesetzesänderung vermitteln. Deswegen begrüße ich sehr, dass wichtige Vertreter der Muslime und ihrer Organisationen diese Initiative eindeutig befürworteten. Gerade weil wir die Menschen islamischen Glaubens nicht unter einen Pauschalverdacht stellen wollen, ist dieser Vorstoß so wichtig. Gerade jetzt verstärken wir den Dialog mit den friedlich in Deutschland lebenden Muslimen. Wir wollen möglichst viele Menschen dazu ermuntern, sich differenziert mit dem Islam zu befassen. Deshalb ist die Abgrenzung zu denjenigen Kräften so nötig, die die Religion für Terror und menschenverachtende Taten missbrauchen. Insoweit beruhige ich diejenigen Vertreter islamischer Organisationen, die in den vergangenen Wochen die Befürchtung geäußert haben, die Aufhebung des Religionsprivileges richte sich generell gegen sie und beeinträchtige sie in der freien Ausübung ihres Glaubens. Diese Sorge ist nachvollziehbar, aber unbegründet. Die ungestörte Religionsausübung bleibt wie bisher für alle Religionsgemeinschaften verfassungsrechtlich gewährleistet. Das gilt selbstverständlich auch für islamische Religionsgemeinschaften. Ein letzter Gesichtspunkt. Leichtfertig oder leicht lässt sich ein Verbot ohnehin nicht aussprechen. Bereits nach geltendem Recht muss einem Verein das Verhalten seines Vorstandes oder seiner Mitglieder erst einmal zugerechnet werden. Man sollte auch sorgfältig abwägen, Herr Kollege Marschewski, ob ein Verbot unabdingbar ist. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss strikt gewahrt werden. ({4}) Ebenso spielt die Überlegung eine Rolle, wann das Vorgehen gegen eine Gemeinschaft eher kontraproduktiv wirkte oder zur Desintegration der Muslime in Deutschland beitrüge. In einen Verbotswettlauf wollen wir also nicht eintreten. ({5}) Aber der Staat hat eben auch eine Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern; er muss möglichen Schaden abwenden und Gefahren bannen. Das gilt, wenn es sich um religiöse Eiferer handelt, wenn ihr Fundamentalismus in Terrorismus umschlägt und gegen den Geist der Völkerverständigung verstößt. Wir können in solchen Fällen nicht mit Langmut abwarten, ob militant formulierende Aktivisten und ihre Anhänger tatsächlich ihre möglicherweise blumigen Worte in Taten einmünden lassen. Dann ist es nämlich zu spät. Lassen sie uns deshalb im Konsens der Demokraten das Notwendige tun und das Religionsprivileg abschaffen. ({6}) Brutstätten des Terrorismus können und dürfen wir nicht dulden. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung des Vereinsgesetzes. Es handelt sich um die Druck- sachen 14/7062 und 14/7354. Ich weise Sie darauf hin, dass eine schriftliche Er- klärung der Kollegin Ulla Jelpke sowie weiterer zehn Ab- geordneter der PDS-Fraktion zur Abstimmung gemäß § 31 der Geschäftsordnung vorliegt.1) Der Innenausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP sowie mit einigen Stimmen aus der PDS-Fraktion bei einigen Enthaltungen und einigen Gegenstimmen von Abgeordneten der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP und einiger Abgeordneter der PDS bei Enthaltung einiger PDS-Abgeordneter sowie Gegenstimmen aus der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe die Zusatzpunkte 13 und 14 auf: ZP 13 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bestimmung der Schwankungsreserve in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten - Drucksache 14/7284 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Horst Seehofer, Brigitte Baumeister, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Keine systemwidrigen Eingriffe bei der Schwankungsreserve - Drucksache 14/7292 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike Mascher. ({2})

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die schrecklichen Ereignisse am 11. September in den Vereinigten Staaten haben konjunkturelle Abschwächungstendenzen in vielen Volkswirtschaften verstärkt und beschleunigt. ({0}) Natürlich spüren Exportnationen wie Deutschland eine sinkende Nachfrage auf den Weltmärkten besonders deutlich. ({1}) Die Zahl der neuen Jobs steigt nicht mehr so schnell wie noch vor wenigen Monaten. ({2}) Das hat Folgen für die Beitragseinnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie entwickeln sich nicht so wie noch zur Jahresmitte angenommen. ({3}) Entsprechend müsste der Beitragssatz im kommenden Jahr bei realistischer Festsetzung um 0,3 Prozentpunkte erhöht werden. Das bedeutete, dass wir die Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Jahr 2002 jeweils mit rund 2,4 Milliarden DM mehr belasten müssten. Das kann in dieser Situation niemand ernsthaft wollen, auch die Opposition nicht. Wir dürfen jetzt den Faktor Arbeit nicht verteuern. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen mit einem Aufwärtstrend bereits in wenigen Monaten. In ihren Herbstgutachten beschreiben sie die konjunkturelle Abkühlung als zeitlich begrenzte Eintrübung. ({4}) Deshalb müssen wir die richtigen Signale aussenden. ({5}) Es war immer das Ziel dieser Regierungskoalition, Lohnnebenkosten zu senken und auf möglichst niedrigem Niveau zu stabilisieren. Damit wollen wir die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung schaffen. Diesem Ziel werden wir treu bleiben. Deswegen halten wir den Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung stabil. Wir werden den Rentenversicherungsbeitrag auch im kommenden Jahr bei 19,1 Prozent halten. ({6}) Anlage 2 oder?) Um das zu erreichen, senken wir den Zielwert für die Schwankungsreserve in der gesetzlichen Rentenversicherung von jetzt einer Monatsausgabe auf 0,8 Monatsausgaben. Welche Folgen wird das für die Rentnerinnen und Rentner haben? ({7}) Ich sage es Ihnen: Überhaupt keine. Die Rentenzahlungen werden wie bisher pünktlich auf allen Bankkonten eingehen. Die Schwankungsreserve in der Rentenversicherung gleicht nämlich heute nur noch jahreszeitlich bedingte Schwankungen aus. Dazu brauchen wir aber keine volle Monatsausgabe. Im November und Dezember sind die Reserven hoch, weil durch zusätzliche Beiträge auf das Weihnachtsgeld mehr in die Kassen kommt. In den folgenden Monaten schmelzen die Reserven dann langsam ab, um im Oktober ihren Tiefstand zu erreichen. Eine ganze Monatsausgabe entspricht 2002 rund 30 Milliarden DM. Wenn wir die Schwankungsreserve jetzt um 0,2 Monatsausgaben senken, verbleiben noch immer 24 Milliarden DM. Das heißt, auch wenn diese Finanzmittel im Laufe des Jahres saisonal bedingt abnehmen, haben wir im beitragsschwächsten Monat Oktober noch immer 12 Milliarden DM an liquiden Reserven. Das ist ein ausreichender Puffer. Auch die Rentenexperten des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger halten eine Schwankungsreserve in Höhe von 0,8 Monatsausgaben für ausreichend, um bei einem Beitragssatz von 19,1 Prozent die Zahlungsfähigkeit, also die Liquidität, zu gewährleisten. Wenn wir die Beitragssätze weiterhin realistisch festlegen, wird auch in Zukunft keine höhere Rücklage in der Rentensicherung notwendig sein. Deswegen wollen wir jetzt den Zielwert der Schwankungsreserve gesetzlich neu regeln. Er kann gefahrlos um 0,2 Monatsausgaben gesenkt werden. ({8}) Die Vorgängerregierung hat ganz ohne gesetzliche Regelung mit schöner Regelmäßigkeit die Schwankungsreserve harten Belastungsproben ausgesetzt. ({9}) Die finanziellen Reserven lagen in den Jahren 1996 und 1997 bei nur 0,6 Monatsausgaben, ({10}) obwohl sie damals noch nach dem Gesetz eine volle Monatsausgabe hätte betragen sollen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Staatssekretärin - Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Aber auch damals bekamen die Rentner ihr Geld regelmäßig und pünktlich. Die Kohl-Regierung hat also in ihren Rentenexperimenten bewiesen, dass die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger trotz einer auf 0,6 Monatsausgaben geschrumpften Reserve jederzeit gewährleistet war.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Staatssekretärin, ich muss Sie ein zweites Mal bremsen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Nein, ich denke, in unser aller Interesse sollten wir hier zügig unsere Beratungen beenden. ({0}) Solche Experimente, wie sie die Kohl-Regierung gemacht hat, müssen wir nicht wiederholen. Was Mitte der 90er-Jahre das Vertrauen in die Rente allerdings wirklich erschüttert hat, war die unrealistische Festsetzung der Beitragssätze. 1995 wurde mit 19,2 Prozent so knapp kalkuliert, dass der Beitragssatz im Jahr danach um 1,1 Punkte auf 20,3 Prozent gestiegen ist. ({1}) Solche wilden Achterbahnfahrten mit Beitragszahlern wird diese Regierung nicht veranstalten. ({2}) Wenn wir die Schwankungsreserve auf 0,8 Monatsausgaben senken, machen wir Mittel in Höhe von 6 Milliarden DM frei. Damit können wir verhindern, dass die Beiträge zur Rentenversicherung und so die Lohnnebenkosten steigen. Dazu gibt es in der jetzigen wirtschaftlichen Situation keine vernünftige ökonomische Alternative. Die Schwankungsreserve ist in der derzeit gesetzlich vorgeschriebenen Höhe nicht erforderlich. Wir müssen diesen Spielraum nutzen, um in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt nicht eine Negativspirale in Gang zu setzen. Wir wollen die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber nicht zusätzlich belasten. Der Rentenversicherungsbeitrag muss bei 19,1 Prozent bleiben und in den kommenden Jahren möglichst weiter sinken. Das stärkt die Binnennachfrage, das erhöht unsere Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, das stärkt das Wirtschaftswachstum und hilft, neue Jobs entstehen zu lassen. ({3}) Ich kann Sie nur herzlich bitten, die Rentnerinnen und Rentner nicht mit einer Panikdebatte zu verunsiParl. Staatssekretärin Ulrike Mascher chern. Da ist in den letzten zehn Jahren schon viel zu viel passiert. ({4}) Lassen Sie uns hier mit einer sauberen gesetzlichen Regelung die Rentenfinanzen stabilisieren und dazu beitragen, dass die Konjunktur wieder mehr Fahrt bekommt. Danke. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Andreas Storm.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur wenige Monate nach der Verabschiedung der so genannten Jahrhundertrentenreform und das ist neu - noch vor dem In-Kraft-Treten der Reform präsentieren Sie uns heute einen Gesetzentwurf - Ihre Rede, Frau Kollegin Mascher, hat das gezeigt -, der nichts anderes ist als ein rentenpolitischer Offenbarungseid. ({0}) Heute zeigt sich einmal mehr, dass die Rentenpolitik dieser Bundesregierung von gebrochenen Versprechen, dreisten Mogelpackungen und üblen Manipulationsversuchen geprägt ist. ({1}) Sie wollten den Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung im kommenden Jahr von 19,1 Prozent auf 19,0 Prozent senken. Dafür kassieren Sie ab dem 1. Januar 2002 einen zweiten Rentenbeitrag an der Tankstelle in Höhe von insgesamt 6 Milliarden DM. Dieser Betrag kommt zu den 23 Milliarden DM aus den vorhergehenden Ökosteuerstufen hinzu, die die Bürger bereits berappen müssen. ({2}) Ich habe das Versprechen des Arbeitsministers noch im Ohr, für jede weitere Ökosteuerstufe werde der Beitragssatz zur Rentenversicherung weiter abgesenkt. ({3}) Tatsächlich - das geht aus Ihrem Eingeständnis hervor - müsste der Beitragssatz im nächsten Jahr auf 19,4 Prozent steigen, ({4}) trotz Rentenreform, trotz Ökosteuer, trotz der Rente nach Kassenlage im Jahr 2000. Zu behaupten, auch an dieser Sache sei Bin Laden schuld, ist eine etwas zu starke Form von Zynismus. 19,4 Prozent Rentenbeitrag vom Lohn plus 1,7 Beitragssatzpunkte - dies wäre die Entlastung aus der Ökosteuer, die an der Tankstelle bezahlt wird - macht summa summarum 21,1 Prozent. Wie Sie sicherlich noch wissen, betrug der Rentenbeitrag in dem Jahr, als Sie die Regierung übernommen haben, 20,3 Prozent und war damit niedriger als die Summe der Belastungen, die sich im nächsten Jahr aus dem Rentenbeitrag und der Ökosteuer ergibt. Das ist Ihr Beitrag zur Senkung der Lohnnebenkosten. In Wahrheit werden die Menschen nach Strich und Faden abgezockt und von Rot-Grün um die Fichte geführt. ({5}) Eines ist klar: Diese verfehlte Politik hat die Finanzen der Rentenversicherung vor die Wand gefahren. Am Ende Ihrer vierjährigen Regierungszeit präsentiert sich die Rentenkasse in einem schlimmen Zustand, und das trotz massiver vertrauensschädigender Eingriffe in die Leistungen der Rentenversicherung. ({6}) Die von Ihnen zu verantwortende Serie rentenpolitischer Tiefschläge begann nur wenige Monate nach der Bundestagswahl damit, dass Sie willkürlich die nettolohnbezogene Rentenanpassungsformel außer Kraft gesetzt haben. Weiter ging es, weil Sie dann kalte Füße bekommen haben, mit der Ankündigung, dass den Rentnern als Ersatz dafür ein Inflationsausgleich gewährt wird. Auch dieses Versprechen war nichts als Schall und Rauch; denn die bittere Wahrheit ist: Der Anstieg der Lebenshaltungskosten war im vergangenen Jahr mit 1,9 Prozent dreimal so hoch wie die Rentenerhöhung von 0,6 Prozent. Mit dieser dilettantischen Politik der Rente nach Kassenlage haben Sie nicht nur den Rentnern einen erheblichen Kaufkraftverlust beschert, sondern Sie haben - das ist noch viel schlimmer - leichtfertig das Vertrauen der Menschen in die Rentenversicherung aufs Spiel gesetzt. ({7}) Mit diesen üblen Tricks haben Sie es nicht geschafft, eine dauerhafte Stabilisierung der Rentenversicherung zu erreichen. So müsste, wenn am 1. Januar 2002 die viel gepriesene große Rentenreform in Kraft tritt und die Ökosteuer weiter ansteigt, der Rentenbeitrag auf 19,4 Prozent angehoben werden. Das aber wäre ein Offenbarungseid; deshalb hat der Arbeitsminister nach allen Tricks gesucht, um dies zu vermeiden. ({8}) Die Trickkiste, die Sie geöffnet haben, um den wahren Stand der Dinge zu verschleiern, bedeutet einen kräftigen Griff in die Reserven der Rentenversicherungsträger. Die Absenkung der Schwankungsreserve von einer Monatsausgabe auf 80 Prozent würde in der Tat knapp 6 Milliarden DM freisetzen. Das entspricht einer Größenordnung von 0,3 Beitragssatzpunkten. Mit dieser dreisten Manipulation könnten Sie den Beitragssatz im nächsten Jahr stabil halten. ({9}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das dicke Ende kommt danach. All Ihre Zusagen, den Beitragssatz bis zum Jahre 2010 deutlich unter 19 Prozent zu halten, sind damit Makulatur; denn bevor der Beitrag gesenkt werden kann, müssen Sie erst einmal die willkürlich zurückgefahrene Schwankungsreserve mit den Beitragseinnahmen späterer Jahre wieder auffüllen. Aber der Blick über das Wahljahr 2002 hinaus ist Ihnen ja offenbar abhanden gekommen. Deshalb will ich auf die Auswirkungen für das nächste Jahr zu sprechen kommen. Sie haben in der Begründung Ihres Gesetzentwurfes auf die derzeitige konjunkturelle Lage hingewiesen. Frau Kollegin Mascher hat das eben ganz deutlich gemacht und auch nicht vergessen, den 11. September zu erwähnen. Die schwache Konjunktur führt aber nicht nur dazu, dass der Rentenbeitrag im nächsten Jahr ansteigen müsste, sie hat nämlich bereits in diesem Jahr erhebliche Folgen für die Rentenfinanzen. ({10}) Schon jetzt ist klar - das Arbeitsministerium hat das vorgestern in unseren Haushaltsberatungen im Ausschuss, Kollege Brandner, selbst eingeräumt -, dass die Schwankungsreserve zum Jahresende den Zielwert von einer Monatsausgabe deutlich unterschreiten wird. Unklar ist nur, in welchem Ausmaß. Das Arbeitsministerium hat vorgestern gesagt, sie rechneten mit 0,92 Monatsausgaben, also deutlich unter dem Soll. Aber seit September sind die Beitragseinnahmen dramatisch eingebrochen. Die Rentenversicherungsträger befürchten, dass diese Entwicklung noch nicht das Ende der Fahnenstange sein wird, wenn beispielsweise in den nächsten beiden Monaten die Unternehmen die Weihnachtsgeldzahlungen reduzieren und damit erneut das Beitragssoll deutlich unterschritten wird. Das heißt, es ist gut möglich, dass wir am Jahresende bereits in der Nähe der 80 Prozent der Schwankungsreserve sind, die Sie jetzt mit Annahmen, die vermutlich nicht zu halten sein werden, unterstellen. Hinzu kommt, dass alle Prognosen für das kommende Jahr mit einer erheblich höheren Unsicherheit behaftet sind als sonst üblich. Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben ja bei der Vorlage ihres Herbstgutachtens mit der Prognose von 1,3 Prozent Wirtschaftswachstum für das nächste Jahr deutlich gemacht, dass sie eine ernste Rezessionsgefahr am Horizont sehen. Jede negative Abweichung von den Prognosen bedeutet aber ein weiteres ungeplantes Abschmelzen der Rentenreserven. Gerade in solch unsicheren Zeiten, in denen wir leben, muss die Rentenversicherung Sicherheit haben, denn das ist ja Sinn und Zweck einer solchen Schwankungsreserve. ({11}) Sie soll gewährleisten, dass die Renten stets sicher und pünktlich gezahlt werden können, beispielsweise auch in den Sommermonaten, wenn sinkende Einnahmen und die Rentenerhöhung zum 1. Juli die Rücklagen der Rentenversicherung um bis zu einer halben Monatsausgabe vermindern. Jetzt kommen Sie daher und wollen diesen Sicherheitspuffer vorsätzlich um 20 Prozent zurückfahren. Dabei wissen Sie ganz genau, dass mehr als 10 Prozent der Schwankungsreserve überhaupt nicht liquide verfügbar sind, weil sie beispielsweise in Immobilien angelegt wurden. Schlimmer ist aber, dass weder Sie noch wir wissen, in welchem Umfang die Schwankungsreserve in den nächsten Monaten durch die schwierige Konjunkturlage strapaziert wird. Sie gehen damit bewusst das Risiko ein, dass Sie im kommenden Jahr nicht über die Runden kommen werden; denn bei anhaltender konjunktureller Schwäche drohen die Rentenkassen in den Sommermonaten an den Rand der Zahlungsunfähigkeit zu kommen. Dann werden die Renten gezahlt - das ist klar - aber der Bund müsste einspringen, um die Zahlung der Renten sicherzustellen. Das wäre ein weiterer Offenbarungseid. ({12}) Meine Damen und Herren, mit dieser Maßnahme schädigen Sie vorsätzlich das Vertrauen von Beitragszahlern und Rentnern in die Verlässlichkeit und Pünktlichkeit der Rentenzahlungen und verspielen damit eines der größten Pfunde unseres deutschen Sozialstaates. Ihre Rentenreform ist auf Sand gebaut. Das haben wir Ihnen immer gesagt. ({13}) Wir haben allerdings selber nicht geglaubt, dass es nur so kurze Zeit dauert, bis das offenbar wird. Mit Ihrer Absicht, die Rentenkassen durch einen Griff in die Reserven vorübergehend zu stabilisieren, gestehen Sie diesen Offenbarungseid nun auch selbst ein. Machen Sie Schluss mit dieser Politik der Verschleierung und Verunsicherung! Unterlassen Sie diese Manipulationen und lassen Sie die Finger von der Schwankungsreserve! ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, hat aufgrund der Fraktionssitzung von Bündnis 90/Die Grünen ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Ich setze das Einverständnis aller Kolleginnen und Kollegen voraus. Deshalb spricht jetzt als nächster der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte über die Ab- senkung der Schwankungsreserve ist der Koalition offen- sichtlich peinlich. Ich schließe das daraus, dass man mit der Debatte in eine Tagesrandlage gegangen ist, die Ge- samtredezeit auf 30 Minuten begrenzt, die Grünen bei diesem Tagesordnungspunkt überhaupt nicht mehr vertre- ten sind und sich damit der Debatte und der Auseinander- setzung nicht stellen. Ich muss sagen, das ist der Bedeu- 1) Anlage 3 tung dieses Themas in keiner Weise angemessen. Die Menschen und insbesondere die Rentner in diesem Lande haben einen Anspruch darauf, dass wir uns mit dieser Maßnahme auseinander setzen. ({0}) Ich frage mich auch: Wo ist denn der zuständige Bundesminister? ({1}) Bei allem Respekt, Frau Staatssekretärin: Als wir vor einigen Monaten hier die so genannte Jahrhundertreform verabschiedet haben, ({2}) da war Riester natürlich hier und hat sich feiern lassen. Aber jetzt, wo sich zeigt, dass die Reform zu kurz gegriffen ist, dass das Verfallsdatum noch vor dem 31. Dezember 2001 liegt, da kneift er, anstatt hier zu sagen, was jetzt geschehen muss. ({3}) Das alles zeigt sehr deutlich, wo Sie stehen. Nicht nur, dass Sie bei der kleinsten zusätzlichen Herausforderung - Stichwort „innere Sicherheit“ - nicht um eine Steuererhöhung herumkommen und im Haushalt nachbessern müssen, nein, auch bei der Sozialversicherung kommen Sie schon bei dem kleinsten Schwächeanfall der Konjunktur in Schwierigkeiten und müssen an die Schwankungsreserve der Rentenversicherung heran. Und damit nicht genug: Sie brechen zudem Ihr Versprechen, mit der nächsten Stufe der Ökosteuer die Beitragssätze zur Rentenversicherung zu senken - mindestens auf 19 Prozent -, und bleiben nun mit allerlei Tricks bei gerade 19,1 Prozent stehen. Das ist wirklich der Offenbarungseid Ihrer Rentenpolitik. Wir dagegen haben schon im Frühjahr dieses Jahres, bei der Debatte über die Rentenreform, und jetzt im Vorfeld der abschließenden Haushaltsberatungen darauf hingewiesen, dass die demographischen und die volkswirtschaftlichen Annahmen der Bundesregierung nicht realistisch sind. Wenn es anders wäre, müssten Sie jetzt nicht zu solchen Notmaßnahmen greifen. Führende Bevölkerungswissenschaftler haben schon bei den damaligen Beratungen prognostiziert, dass die Lebenserwartung deutlich höher liegen wird, als dies die Bundesregierung in ihren Annahmen zugrunde gelegt hat. Schon früh in diesem Jahr war, Frau Staatssekretärin, auch erkennbar, dass die optimistische Prognose der Bundesregierung, was die konjunkturelle Entwicklung und die durchschnittliche Arbeitslosenzahl angeht, in keiner Weise haltbar ist. Jetzt haben wir - auf nachhaltigen Druck der Opposition - am Mittwoch im Ausschuss erfahren, dass die Bundesregierung anerkennen muss: Im nächsten Jahr wird es durchschnittlich 3,9 Millionen arbeitslose Menschen in unserem Lande geben. Das ist traurig, aber ein Stück weit Ergebnis Ihrer Arbeitsmarktpolitik, die der Bundesarbeitsminister genauso zu verantworten hat wie diese missglückte Rentenreform. ({4}) Zum Schluss: Sie sind immer fixiert auf die Einnahmeseite. Aber auch in der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es nicht nur eine Einnahme-, sondern auch eine Ausgabenseite. Warum trauen Sie sich nicht, einmal über diesen Aspekt nachzudenken? Sie sollten überlegen, wie man entlastende Maßnahmen für die Rentenversicherung vielleicht auch auf anderen Feldern - ich hätte solche möglichen Neuregelungen gerne noch erläutert, muss hier aber leider abbrechen, weil meine Redezeit abgelaufen ist ({5}) durchsetzen kann. Zusammenfassend: Die Rentenversicherung verdient es, sorgfältig und mit langem Atem behandelt zu werden. Sie aber eilen von Reparatur zu Reparatur. Das ist Aktionismus. Diesen Aktionismus werden wir in den Ausschussberatungen offen legen. Wenn es in Ihrer Rentenversicherungspolitik keine Kurskorrektur gibt, werden sie damit leben müssen, dass Sie von dieser Seite des Hauses keine Zustimmung erfahren können. Vielen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner für die PDS-Fraktion.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An einer Stelle, Herr Kolb, muss ich Sie korrigieren: Die Regierung hat leider überhaupt nicht über die Einnahmenseite nachgedacht, sondern in erster Linie - das finden Sie ja besonders gut über Leistungskürzungen. Genau das haben wir ihr in der Auseinandersetzung über die Rentenversicherung immer vorgeworfen. ({0}) In einem anderen Punkt stimme ich Ihnen allerdings zu: Jahrhundertreformen mit einem derart kurzen Verfallsdatum gibt es wirklich selten. Aber ich muss auch sagen, Frau Staatssekretärin: Die PDS hat genau dies von Ihrer Rentenreform befürchtet. Diese Reform ist nicht nur sozial ungerecht, sondern sie ist auch unseriös, wie wir nicht erst seit heute wissen. Sie ist deshalb unseriös, weil Sie von vielen falschen Annahmen ausgegangen sind. Sie müssen jetzt im Ausschuss Korrekturen vornehmen, zum Beispiel was die Arbeitslosenzahlen im nächsten Jahr angeht. Sie werden die Beiträge zur Rentenversicherung nicht wie versprochen senken, sondern höchstens stabilisieren können, und das nur dadurch, dass Sie den Griff in die Rücklage der Rentenversicherung wagen. Das ist eine Notmaßnahme, die deshalb fatal ist, weil sie den Menschen erneut signalisiert: Die Rente ist nicht sicher. - Vor allem diese öffentliche Verunsicherung werfe ich Ihnen vor. Wir verhandeln doch heute nicht über Prozentsätze und Kommastellen. Es geht um die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen und ihr Recht auf ein gesichertes Leben im Alter. ({1}) Das Vertrauen in die gesetzliche Rente ist ohnehin schon schwer erschüttert. Länger als ein Jahr haben wir hier in diesem Hause über den richtigen Weg zu einer gesicherten und zukunftsfähigen Alterssicherung gestritten. Sie haben den künftigen und den heutigen Rentnerinnen und Rentnern erklärt, im Interesse der Generationengerechtigkeit sei Verzicht nötig und private Vorsorge unverzichtbar. Diese Logik haben wir nie geteilt. Wir haben Ihnen Alternativen zur Finanzierung vorgeschlagen. Vielleicht hätten Sie sie etwas ernsthafter prüfen sollen. ({2}) Die Menschen wissen nämlich inzwischen, mit welchen Einbußen sie nach der Rentenreform von Rot-Grün rechnen müssen. Nun beginnen Sie noch das Tafelsilber der Rentenversicherung zu verscherbeln. Was glauben Sie denn wohl, wie das in der Öffentlichkeit wirkt? Das Vertrauen in den Sozialstaat schwindet weiter. Die junge Generation, die Sie im Rahmen der Rentenreform immer zu Recht beachtet haben, wird die gesetzliche Rente weiter als Flop ansehen und auf das Solidarprinzip pfeifen. Genau das wollen wir nicht. Wir wollen das Solidarprinzip in der Sozialversicherung erhalten. ({3}) Genau wegen dieser öffentlichen Wirkung finden wir den Eingriff in die Schwankungsreserve politisch - das sage ich ausdrücklich - verheerend. Natürlich können Fachleute trefflich darüber streiten, ob es Sinn macht oder Unsinn ist, die Rentenreserve abzusenken. Rentenpolitisch wird Ihnen das nicht weiterhelfen, wenn nicht gleichzeitig die Beschäftigtenzahlen zunehmen und Sie nicht aus der Konjunkturkrise herauskommen, selbst dann nicht, wenn Sie bei einer Schwankungsreserve von 80 Prozent einer Monatsausgabe bleiben wollen. Deshalb ein letzter Gedanke zur konjunkturpolitischen Seite: Jede Beitragssatzerhöhung - da stimmen wir Ihnen völlig zu - ist in der jetzigen Situation absolut kontraproduktiv. Aber wenn Sie jetzt 6 Milliarden DM aus der Reserve lockermachen, dann sollten Sie das mit konjunkturpolitischen Maßnahmen, mit denen wirklich wirksam für mehr Beschäftigung gesorgt werden kann, verbinden. Wenn Sie das nicht tun, helfen Ihnen diese 6 Milliarden DM überhaupt nicht. Dadurch lösen Sie nicht die bestehenden Probleme, sondern verschieben sie in das nächste Jahr. Nutzen Sie also die aktuelle Situation als Chance! Legen Sie endlich eine sozial gerechte und zukunftsfähige Rentenreform vor! Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Erika Lotz für die SPDFraktion.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kolb, gestatten Sie mir, dass ich zuerst auf Sie eingehe. ({0}) Ich fand es nicht in Ordnung, dass Sie hier kritisiert haben, dass die Kollegin Katrin Göring-Eckardt ihre Rede zu Protokoll gegeben hat, weil sie zurzeit an einer Sitzung ihrer Fraktion teilnimmt. In der schwierigen Lage, in der wir uns alle befinden, muss dies möglich sein, ohne dass hier in der Öffentlichkeit versucht wird, zu unterstellen, es sei kein Interesse hinsichtlich der Veränderung der Schwankungsreserve vorhanden. ({1}) Lassen Sie mich auch sagen, Herr Storm und Herr Kolb: Der Kollege Özdemir hat vorhin bei der Debatte zum Vereinsrecht gesagt, dass die Kollegen ihre Reden - das war an die CDU/CSU gerichtet - vor dem 11. September, aber nicht heute hätten halten können. ({2}) Das sage ich genauso über Ihre Reden, die Sie vorhin gehalten haben. ({3}) Herr Storm, ich fand Ihre Rede nicht sehr verantwortlich. Ich will das Wort „unverantwortlich“ vermeiden. Aber Sie haben zu einer gewaltigen Verunsicherung der Menschen im Land beigetragen, und zwar wider besseres Wissen. Das ist das Schlimme daran. ({4}) Sie haben hier schwadroniert. Sie haben keine Alternativen angeboten. Sagen Sie doch, dass eine Beitragssatzerhöhung die bessere Möglichkeit ist. Sie haben so getan, als ob die Schwankungsreserve fest angelegt sei. ({5}) Sie wissen doch, dass die liquiden Mittel zu 90 Prozent kurzfristig angelegt sind. Von daher finde ich es nicht in Ordnung, was Sie hier gemacht haben. Herr Kolb, Sie haben von anderen Wegen gesprochen, diese aber hier verschwiegen. Sie haben ein großes Geheimnis daraus gemacht. ({6}) - Sie hätten Ihre Rede doch anders aufbauen können. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Lotz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil die Kolleginnen und Kollegen sicherlich ein Interesse daran haben, dass ich hier fortfahre. ({0}) Wenn wir das Schwankungsreservebestimmungsgesetz einbringen, dann tun wir das, weil es uns um Arbeitsplätze und Arbeitnehmer und gleichzeitig um die Sicherheit von Rentnerinnen und Rentner geht. Das ist schon ein qualitativer Unterschied zur Regierungszeit von CDU/CSU und FDP. Als Exportland spüren wir nun einmal die Konjunkturschwäche und die Unsicherheit der Menschen in den USA, in Japan und in anderen Ländern. ({1}) Die Beiträge zur Rentenversicherung um 0,3 Prozent zu erhöhen, um die vorgesehene Schwankungsreserve zu erreichen, wäre nun einmal kontraproduktiv. An dieser Stelle denken wir an die Einnahmeseite, weil wir davon ausgehen, dass sich eine Erhöhung schädlich auf die Arbeitsplätze auswirken würde. ({2}) Deswegen handeln wir aus meiner Sicht verantwortlich, indem wir die Schwankungsreserve absenken. Wir unterscheiden uns deutlich von der Vorgängerregierung. Das kann man nicht oft genug wiederholen. Schon in den 80er-Jahren haben die finanziellen Reserven teilweise unterhalb einer Monatsausgabe gelegen. ({3}) Seit 1992 lagen sie regelmäßig deutlich darunter. 1996/1997 war die Schwankungsreserve sogar auf 60 Prozent einer Monatsausgabe abgesunken, weil Sie damals - die Kollegin Mascher hat das schon betont, aber ich sage es noch einmal - das Wirtschaftswachstum viel zu optimistisch eingeschätzt hatten. Der Rentenversicherungsbeitrag lag übrigens bei 20,3 Prozent. ({4}) Sie haben wirklich keinen Grund, sich hier so aufzublasen. ({5}) Herr Storm, Sie haben noch einmal das von Ihnen so geliebte Thema Ökosteuer angesprochen. Ich erinnere daran, dass sich der Beitragssatz von 20,3 Prozent nur halten ließ, weil auch wir der Erhöhung der Mehrwertsteuer zugestimmt haben. Nun sagen Sie mir doch einmal: Ist eine Erhöhung der Mehrwertsteuer besser als die Ökosteuer, die sogar noch einen Beitrag zur Umwelt- und Energiepolitik leistet? ({6}) Noch einmal für die Öffentlichkeit: Wofür brauchen wir eine Schwankungsreserve? In der Rentenversicherung werden die Beiträge, die in einem Monat eingenommen werden, sofort wieder dafür verwendet, um die Renten auszuzahlen. Das ist das Umlageverfahren. Die Einnahmen sind im Laufe eines Jahres ungleichmäßig. Ich erinnere an das Weihnachtsgeld und die Monate September und Oktober, in denen vielen Menschen gekündigt wird. Von daher sind die Einnahmen manchmal geringer. Um dies auszugleichen, gibt es die Schwankungsreserve. Die Erfahrung hat auch zu Ihrer Zeit gezeigt, dass eine Schwankungsreserve in Höhe einer Monatsausgabe nicht notwendig ist. ({7}) Wenn wir jetzt die Schwankungsreserve auf 0,8 Monatsausgaben absenken, dann ist dies verantwortlich. Sie beziehen sich doch gerne auf die Meinungen von VdR, DGB und Herrn Rürup, wie wir übrigens auch. Aber in diesem Fall sehen sie diesen Schritt als verantwortliches Handeln an. ({8}) Noch einmal: Das Ganze hat nichts, aber auch gar nichts mit den Rentenzahlungen zu tun. Wenn Sie jetzt versuchen, die Rentnerinnen und Rentner zu verunsichern, indem Sie so tun, als ob die Schwankungsreserve der Sparstrumpf wäre - das ist eine Formulierung, die in der gestrigen Sitzung beispielsweise der Kollege Laumann gebraucht hat -, dann muss ich deutlich sagen, dass das nicht stimmt; denn die Schwankungsreserve steht nicht für eine zusätzliche Verteilung zur Verfügung. Ihr Name sagt vielmehr genau das aus, wofür sie verwendet werden soll. Ich sage noch einmal: Wir handeln verantwortlich. Die Konjunkturschwäche hat uns zwar einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir wollten die Beiträge sicherlich noch weiter senken. ({9}) Aber das, was wir tun, ist verantwortlich. Bitte hören Sie auf, die Rentnerinnen und Rentner zu verunsichern. Danke schön. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla- gen auf den Drucksachen 14/7284 und 14/7292 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Dehnel, Günter Nooke, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Finanzierungssicherheit für den Bundesfern- straßenbau über das Jahr 2002 hinaus - Drucksache 14/7146 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Die Kollegin Renate Blank sowie die Kollegen Reinhard Weis, Albert Schmidt, Horst Friedrich, Dr. Winfried Wolf und die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens haben ihre Reden zu Protokoll1) gegeben. Ich sehe große Begeisterung im Saal. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/7146 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage - abweichend von der Tagesordnung - federführend vom Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung und Verwendung eines Kennzeichens für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus ({0}) - Drucksache 14/7254 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung und Verwendung eines Kennzeichens für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus ({2}) - Drucksache 14/6891 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({4}) - Drucksache 14/7346 - Berichterstattung: Abgeordneter Ulrich Heinrich Die Kolleginnen Steffi Lemke, Maria Sehn, Kersten Naumann und die Bundesministerin Renate Künast sowie die Kollegen Matthias Weisheit, Gustav Herzog und Heinrich-Wilhelm Ronsöhr wollen ihre Reden zu Proto- koll2) geben. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung und Verwendung eines Kennzeichens für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus, Drucksachen 14/7254 und 14/7346. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt unter I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7346 die Annahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung und Verwendung eines Kennzeichens für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus auf Drucksache 14/6891. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt unter II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7346, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Walter Hirche, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuhren von Erdöl, Erdölerzeugnissen oder Erdgas - Drucksache 14/7151 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Die Kollegin Michaele Hustedt sowie die Kollegen Volker Jung, Werner Labsch, Kurt-Dieter Grill, Walter Hirche und Rolf Kutzmutz haben ihre Reden zu Proto- koll3) gegeben. Auch darüber herrscht Freude im Saal. Infraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 14/7151 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 5 2) Anlage 6 3) Anlage 7 Vielleicht sollte man den Zuschauerinnen und Zu- schauern auf der Tribüne die Freudenreaktion erklären: Wir haben noch zehn weitere Tagesordnungspunkte. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und b auf. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Bundeswehr ({6}) - Drucksachen 14/6881, 14/7089 ({7}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({8}) - Drucksache 14/7235 - Berichterstattung: Abgeordnete Kurt Palis bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/7236 - Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Volker Kröning Oswald Metzger Jürgen Koppelin Dr. Uwe-Jens Rössel b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung besoldungsrechtlicher Vorschriften ({10}) - Drucksache 14/7097 ({11}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({12}) - Drucksache 14/7352 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Cem Özdemir Petra Pau bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({13}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/7373 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Werner Hoyer Gunter Weißgerber Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Oswald Metzger Dr. Christa Luft Zum Entwurf des Bundeswehrneuausrichtungsgesetzes liegt ein Änderungsantrag von der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen und zum Entwurf des Besoldungsänderungsgesetzes ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Hier wird wieder geredet werden. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner zu diesem Tagesordnungpunkt ist der Kollege Hans-Peter Kemper für die SPD-Fraktion. - Er kämpft sich nach vorne. ({14})

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur zur Erklärung: Auch ich hätte diese Rede gerne zu Protokoll gegeben, um Ihnen eine weitere Freude zu bereiten. Allerdings haben wir so viel Positives zu vermelden, dass wir das auch lauthals sagen wollen. ({0}) Das Sechste Besoldungsänderungsgesetz ist ein Gesetz der Strukturverbesserung, der Modernisierung und der Flexibilisierung und der Gesetzentwurf trägt den Veränderungen bei der Euroumstellung Rechnung. Ich will zu den einzelnen Punkten nur ganz kurz Stellung beziehen. Die größten Veränderungen gibt es sicher im Bereich der Bundeswehr; diese sind äußerst positiv. In der Bundeswehr fallen künftig die Planstellen der Besoldungsstufen A 1 und A 2 weg und die Eingangsbesoldung wird auf A 3 festgelegt. ({1}) - Das ist eine längst überfällige Maßnahme und die Zurufe von der FDP zeugen von einem schlechten Gewissen, denn Sie hätten das 16 Jahre lang machen können, haben es aber nicht getan. ({2}) Die Besoldungsgruppen A 1 und A 2 sind Relikte aus der Mottenkiste, die schon vor Jahren hätten beseitigt werden müssen. Wir beseitigen sie jetzt. Die Anhebung der Planstellenanteile für die Unteroffiziere in der Besoldungsgruppe A 9 trägt der gestiegenen Verantwortung Rechnung. Auch das war längst überfällig. Das Gleiche gilt für die Anhebung der Planstellenanteile für die Kompaniechefs und Einheitsführer in der Besoldungsgruppe A 12. ({3}) Die Erhöhung der Planstellenanteile im Spitzenamt A 13 runden das positive Bild für den einfachen, mittleren und gehobenen Dienst in erfreulicher Weise ab. Die Reform ist ein erheblicher Beitrag zur Attraktivitätssteigerung und dieser Beitrag war längst überfällig. Die Bundeswehr hatte eine solche Maßnahme schon lange Vizepräsidentin Petra Bläss verdient. Deswegen wird sie auch vom Verteidigungsministerium ausdrücklich begrüßt. ({4}) Das sehen im Übrigen auch die meisten anderen Fraktionen dieses Hauses so. Wie das seit 1998 nun einmal ist: Wir setzen die Reformen durch, die wir für notwendig erkannt haben. Dieses Gesetz ist ein Beitrag zur Umsetzung des Programms „Moderner Staat - Moderne Verwaltung“, denn er baut unnötige Regelungsdichte ab und trägt dringend nötigen Verwaltungsvereinfachungen Rechnung. Mit einer erhöhten Durchlässigkeit bei der Berücksichtigung von Dienstzeiten für das Besoldungsdienstalter auf EU- und nationaler Ebene passen wir uns den veränderten Bedingungen auf der europäischen Ebene an. In den B-Bereichen kommt es zu teilweise längst überfälligen Verbesserungen. Hier ist vom Direktor des Beschaffungsamtes über den Präsidenten des LuftfahrtBundesamtes bis hin zum Präsidenten des Bundesverwaltungsamtes den Zuwächsen an Verantwortung, an Personal in den genannten Behörden und Belastungen durch Stellenhebungen - teilweise über drei Besoldungsgruppen hinweg - Rechnung getragen worden. Ich will die Stellenhebungen nicht im Einzelnen erläutern. Ich weiß sehr wohl, dass es sehr viel weiter gehendere Wünsche der einzelnen Fraktionen zu den einzelnen Punkten des Entwurfs gegeben hat. Insbesondere die Fraktion der CDU/CSU wollte sich in rührender Weise ganz besonders um die B-Besoldeten kümmern. Ich kann das gut verstehen, das ist auch ganz wichtig. Allerdings will ich darauf hinweisen: Die leiden keine direkte Not. ({5}) Für all die gestellten Anträge gab es sicher gute Gründe. Insbesondere im einfachen Dienst der Justiz wären wir gerne den Anregungen der CDU gefolgt. Das ist überhaupt keine Frage. Es waren durchaus wünschenswerte Verbesserungen angepeilt worden. Wir hätten Ihnen gerne dabei geholfen, das umzusetzen, was Sie 16 Jahre lang haben liegen lassen, Herr Belle. Allein, die leeren Kassen zwingen uns dazu, nur die unabweisbar erforderlichen Stellenhebungen vorzunehmen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben uns bei der Regierungsübernahme ja nicht gerade Reichtümer hinterlassen, um es einmal ganz vorsichtig auszudrücken. Hier konnte nur das Machbare, nicht aber alles Wünschenswerte umgesetzt werden, zumal es an seriösen und nachvollziehbaren Deckungsvorschlägen fehlte. Dieses Gesetz ermöglicht es auch den einzelnen Behörden, in Zeiten von Personalmangel qualifiziertes Personal über eine neue Zulagenregelung zu gewinnen. Über diese Möglichkeit werden besondere Anreize geschaffen, obwohl die Notwendigkeit solcher Anreize bei dem derzeitigen Arbeitsmarkt nicht besteht. Für die Beschaffung qualifizierten Personals ist das aber durchaus hilfreich. Ich will noch einen anderen Punkt ansprechen, der in der Vergangenheit eine Rolle gespielt hat. Dabei geht es zum einen um die Umstellung auf Euro. Das ist mehr eine technische Sache. Zum anderen geht es um die Weiterzahlung der Erhöhungsbeträge an kinderreiche Familien. Vor allem der zuletzt genannte Punkt hätte nicht zwingend in dem vorliegenden Gesetz geregelt werden müssen. Allein, die Behandlung hier und heute schafft eine verlässliche Rechtsgrundlage für die Weiterzahlung und Planungssicherheit für kinderreiche Beamtenfamilien. Bei der Justiz wird ein neues Amt, nämlich das Amt des Staatsanwalts beim Bundesgerichtshof, eingeführt, und zwar in der Besoldungsgruppe R 2. Dieses Amt wird neu eingerichtet, um die Personalgewinnung beim Bundesgerichtshof zu erleichtern und Sprungbeförderungen zu vermeiden. Alles in allem ist das ein durchaus gelungenes Gesetzeswerk, sodass Grund zur Zufriedenheit besteht. ({6}) Ich will aber noch einen Problempunkt ansprechen, der für die Zukunft eine Rolle spielen könnte. Das ist der Kaufkraftausgleich. Auch dies wird die FDP ärgern; denn der Kaufkraftausgleich wird in diesem Gesetz weiterhin vorgesehen, obwohl wir uns allen Ernstes fragen müssen, ob eine solche Regelung noch zeitgemäß und auf Dauer sinnvoll sein kann. In Zukunft wird es einen einheitlichen Euroraum geben, die Mieten, die Kosten, die Löhne, die Gehälter, alles wird auf Eurobasis abgerechnet. Hier noch einen Kaufkraftausgleich einzubauen scheint mir der Fürsorge doch etwas reichlich zu sein. Deswegen begrüßen wir, dass die Bundesregierung in diesem Gesetz beauftragt wird, die Entwicklung genau zu beobachten und zum Ende des Jahres 2003 zu berichten und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Zeit des Kaufkraftausgleichs begrenzt ist und dass wir im Laufe der nächsten Legislaturperiode sicherlich zu anderen Regelungen kommen werden. Ich lade Sie ein, sich gerade bei diesem letzten Punkt noch einmal zu beteiligen. Im Übrigen hat auch die CDU, weil das ein sehr vernünftiger Vorschlag ist, ihre Zustimmung signalisiert und ich denke, das spricht für sich. Vielen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Werner Siemann.

Werner Siemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003236, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der Bundeswehr - nur mit diesem Gesetzentwurf werde ich mich befassen; zu den Besoldungsfragen wird sich der Kollege Belle äußern - sollen die rechtlichen Voraussetzungen für eine personelle, also konzeptionelle, und strukturelle, also planerische, Umgestaltung der Bundeswehr geschaffen werden. Neben der Neuordnung der Laufbahnen sowie der Aufhebung der Verfügungsbereitschaft sieht der Entwurf im Wesentlichen drei Regelungen vor. Erstens. Die Dauer des Grundwehrdienstes wird von zehn Monaten auf neun Monate verkürzt. Zweitens. Die Grundwehrdienstleistenden können den Wehrdienst abschnittweise ableisten. Drittens. Es wird ein Personalanpassungsgesetz geschaffen. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt sowohl die Verkürzung der Grundwehrdienstdauer um einen Monat als auch die Aufhebung der Verfügungsbereitschaft sowie die Einführung der so genannten Feldwebellaufbahn. Die Ereignisse des 11. September und die damit einhergehende Veränderung der sicherheitspolitischen Lage haben daran nichts geändert. Die Ermöglichung der abschnittweisen Ableistung des Wehrdienstes geht jedoch unseres Erachtens an den Realitäten vorbei. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die potenziellen Grundwehrdienstleistenden praktisch keinen Gebrauch von dem Angebot der abschnittweisen Wehrdienstableistung machen werden. Aus Unternehmersicht ist eine Zerstückelung des Wehrdienstes wegen fehlender Planungssicherheit gerade in mittelständischen Betrieben nicht akzeptabel. Für die Truppe und für die Wehrverwaltung ergibt sich aus der Neuregelung ein erheblicher bürokratischer Mehraufwand. Aus rechtlichen Gründen muss jeder Wehrdienstleistende, der seinen Dienst in drei Abschnitte unterteilt, allein sechsmal ärztlich untersucht werden: drei Eingangsuntersuchungen und drei Ausgangsuntersuchungen. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass jeder dreimal - zumindest teilweise - ein- und ausgekleidet werden muss. Dass dabei unter anderem die Qualität der Ausbildung auf der Strecke bleibt, liegt auf der Hand. Indirekt räumt das Bundesverteidigungsministerium dies auch ein. Soldaten, die ihren Wehrdienst splitten, können aus formalen Gründen nicht mehr freiwillig länger dienen. Das ist klar. Denn sie müssen das bestätigen. So werden Grundwehrdienstleistende unterschiedlicher Qualität geschaffen. Unter dem Gesichtspunkt, dass sich Grundwehrdienst leistende Soldaten durchschnittlich erst nach 6,4 Monaten - das ergibt sich aus den Zahlen der Hardthöhe - entschließen, ihren Dienst bei der Bundeswehr freiwillig zu verlängern, ist die Möglichkeit, den Wehrdienst abschnittsweise zu leisten, wenig sinnvoll. Letztlich führt die Neuregelung nicht zu einer Flexibilisierung des Wehrdienstes, sondern nur zu einem Mehr an Verwaltungsaufwand und an Bürokratie sowie zu einem Weniger an Qualität der Ausbildung und an Quantität des Nachwuchses. Mein Hauptkritikpunkt richtet sich allerdings gegen Art. 4 des Gesetzes zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Durch das Personalanpassungsgesetz soll die unausgewogene Altersstruktur der Offiziere und Unteroffiziere bereinigt werden. Es sieht vor, dass ab 2002 und in den darauf folgenden vier Jahren 3 000 Berufssoldaten mit ihrer Zustimmung nach Vollendung des 50. Lebensjahres in den vorzeitigen Ruhestand versetzt werden. Die Bundesregierung selbst bewertet „Frühpensionierungsregelungen zur Bewältigung personeller Strukturprobleme grundsätzlich als ungeeignet“. Recht hat sie. Es stellt sich die Frage: Was soll dann das ganze Personalanpassungsgesetz? Diese Frage stellt sich auch der Bundesrat. Seine Antwort ist eindeutig. Er fordert die Bundesregierung auf, das ganze Personalanpassungsgesetz schlichtweg ersatzlos zu streichen. ({0}) Dem Einwand der Bundesregierung, die Überalterung auf einsatzwichtigen Dienstposten müsse verringert werden, ist entgegenzuhalten, dass die Bundeswehr ohnehin schon besondere Altersgrenzen hat. Die Verabschiedung des Personalanpassungsgesetzes käme deshalb einem Dammbruch gleich. Während landauf, landab über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit - das werden Sie nicht bestreiten können - und eine Kürzung der Renten- und Pensionsansprüche diskutiert wird, will die Koalition Soldaten mit 50 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand schicken. Das Ausscheiden von 50-jährigen Soldaten aus der Bundeswehr ist gesamtgesellschaftlich indes nicht zu verantworten. Auch bei der Bundeswehr gibt es im Übrigen einen nachvollziehbaren Trend zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit. So werden die besonderen Altersgrenzen - mit Ausnahme der Portepéeunteroffiziere - schon im nächsten Jahr angehoben. In den darauf folgenden Jahren wird die Altersgrenze um ein weiteres Jahr angehoben. Auch das sollte man wissen. Diesem Trend steht der Entwurf des Personalanpassungsgesetzes entgegen. Der Bevölkerung ist nicht vermittelbar, dass Berufssoldaten die Möglichkeit eingeräumt werden soll, bis zu elf Jahre früher als eigentlich vorgesehen in Pension zu gehen; denn sie sind ohnehin unter der Maßgabe Berufssoldat geworden, bis zur besonderen Altersgrenze zu dienen. Das muss man einmal in Erinnerung rufen. Ebenso ist es nicht vermittelbar, 3 000 Soldaten vorzeitig zu pensionieren, obwohl der Bundeswehr 12 000 länger dienende Soldaten fehlen. Die Frühpensionierten - um nicht von den Empfängern des so genannten goldenen Handschlags zu sprechen werden selbstverständlich auf den freien Arbeitsmarkt drängen und aufgrund ihrer gesicherten finanziellen Basis konkurrenzlos günstig sein. Die Auswirkungen auf unsere Arbeitslosensituation liegen auf der Hand. Aufgrund der allgemeinen demographischen Entwicklung stehen die Alterssicherungssysteme vor erheblichen Finanzierungsproblemen. Diese Probleme werden derzeit häufig diskutiert. Eine unausgewogene Altersstruktur ist kein Spezifikum der Bundeswehr, sondern kennzeichnet vielmehr alle Personalkörper im öffentlichen Dienst. Von daher lässt sich eine versorgungsrechtlich relativ großzügige Frühpensionierungsregelung für die Bundeswehr nicht rechtfertigen; zumal damit die Bemühungen des Bundes und der Länder, den Anstieg der Versorgungsaufwendungen zu begrenzen, konterkariert würden. Neben diesen Widersprüchen zeichnet sich der Gesetzentwurf auch durch einen eklatanten Mangel an Logik und ein gehöriges Maß an Willkür aus. Lassen Sie mich das noch an einigen Beispielen verdeutlichen. Auch wenn das Gesetz heute verabschiedet würde, könnte die unausgewogene Altersstruktur unserer Armee nicht beseitigt werden. ({1}) - Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie entsprechende Anträge gestellt haben. In der Begründung des Gesetzestextes ist von einem strukturellen Überhang in Höhe von etwa 4 500 Berufsoffizieren und von rund 3 500 Berufsunteroffizieren die Rede. Gemäß dem vorliegenden Gesetz können in den kommenden fünf Jahren aber lediglich 3 000 Soldaten vorzeitig ausscheiden. Auch die Befristung des Gesetzes bis 2006 macht keinen Sinn, da es nach Berechnung des BMVg in dem Zeitraum lediglich einen Überhang von circa 2 600 Soldaten geben wird. Aus dienstlichem und politischem Interesse würde die Vorgabe von 3 000 zwar erfüllt, damit entstünden aber neue strukturelle Verwerfungen, da auch solche Soldaten gehen würden, die nicht zum Überhang gehören. Ferner sind die Versorgungsabschläge für Soldaten ab A16 aufwärts rational nicht zu erklären. Warum zieht man eine Grenze zwischen A 15 und A 16? Die Erfahrungen der Vergangenheit mit Personalstruktur- und Personalstärkegesetzen haben letztendlich gezeigt, dass die Bundeswehr besonders hoch qualifizierte Soldaten verlieren wird. Diese werden aufgrund ihrer Qualifikation leichter gehen können als solche mit nur durchschnittlichen Fähigkeiten, die kaum eine Chance auf eine lukrative zivile Anschlussverwendung haben. Ein deutlicher Qualitätsverlust ist zu erwarten. Zusammenfassend bleibt deshalb festzustellen: Das Gesetz eignet sich nicht dafür, die innere Struktur unserer Bundeswehr der Realität anzupassen. Die Bundesregierung hat es versäumt, alternative Einsatzmöglichkeiten und intelligente andere Lösungen für die im Überhang befindlichen Soldaten - etwa im Rahmen von Friedensmissionen der UNO, der OSZE oder der EU - zu prüfen. Die vorgeschlagene Frühpensionierungsregelung steht in keinem Verhältnis zur gesamtgesellschaftlichen und demographischen Entwicklung. Das Personalanpassungsgesetz steckt voller Widersprüche und ist in sich unschlüssig. Vorschläge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, im Zuge des Bundeswehrneuausrichtungsgesetzes auch § 20 a des Soldatengesetzes zu ändern, wurden trotz Gesprächsbereitschaft unsererseits nicht berücksichtigt, obwohl Zusagen - unter anderem von Herrn Staatssekretär Kolbow - vorlagen. Nach einer umfassenden Würdigung sehen wir uns außerstande, dem vorliegenden Gesetz so zuzustimmen. Vielen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Bundeswehrneuausrichtungsgesetz wird der Beschluss des Bundeskabinetts zur Bundeswehrreform vom Juni letzten Jahres auf der personellen Ebene umgesetzt. Hierzu möchte ich vier Anmerkungen bzw. Anregungen machen: Zunächst einmal komme ich auf die Verkürzung der Wehrpflicht bzw. des Wehrdienstes auf neun Monate zu sprechen. Sie können sich vorstellen, dass gerade unsere Fraktion die Verkürzung um zumindest einen Monat sehr begrüßt, ({0}) weil dies auch einen geringeren Eingriff in die Lebensplanung junger Männer darstellt. Bezüglich der Regelung einer abschnittsweisen Ableistung des Wehrdienstes halten wir die Feststellung des Bundesverteidigungsministeriums für sehr wichtig, dass diese Möglichkeit nur bei Einvernehmen zwischen den Behörden und den Wehrpflichtigen besteht. Den Wehrpflichtigen darf diese - je nach Streitkräftebedarf selbstverständlich nicht einfach aufgezwungen werden. Die Zweckmäßigkeit dieser Regelung für die Streitkräfte selbst - das denken auch manche von uns - wird sich in Zukunft zeigen müssen. Zweitens. In den nächsten Jahren wird die Zahl der zum Wehrdienst eingezogenen Wehrpflichtigen erheblich sinken. Zugleich wird aber die Zahl der zur Verfügung stehenden Wehrpflichtigen ungefähr gleich bleiben. Manche Beobachter behaupten, dass sich dadurch eine zunehmende Wehrungerechtigkeit entwickeln könnte, also eine Kluft zwischen denjenigen, die einberufbar sind, und der geringen Anzahl derjenigen, die einberufen werden. Würde es so kommen, hätten wir es mit einem erheblichen Problem der Wehrgerechtigkeit zu tun. Es gäbe dann auch eine Art Bugwelle von immer mehr Wehrpflichtigen, die im Laufe der Jahre noch auf ihre Einberufung warten und eventuell nicht mehr einberufen würden. Sollte sich das so entwickeln, stünden wir natürlich vor der Aufgabe, entsprechende Abhilfen zu diskutieren und zu organisieren. Dann wäre es sicher auch angebracht, zu prüfen, ob die Verfügbarkeitsdauer für die Einberufung zum Wehrdienst, zurzeit in der Regel sechs Jahre, erheblich gesenkt werden könnte. In diesen Tagen besteht eine wachsende Unsicherheit unter Wehrpflichtigen, ob sie zu so genannten Auslandseinsätzen eingezogen werden könnten. Im Soldatengesetz sind die Pflichten eindeutig für alle Soldaten gleich. Da gibt es keinen Unterschied. Aber Konsens in diesem Haus, aber auch mit dem Verteidigungsministerium war bisher - daran gibt es keinen Zweifel -, dass Wehrpflichtige nur im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung zum Einsatz kommen können. Nur haben wir seit den UN-Sicherheitsrats-Resolutionen nach dem 11. September ein gewisses Problem, weil nämlich in diesem Zusammenhang der Verteidigungsbegriff erheblich ausgeweitet worden ist. Er begegnet sozuWerner Siemann sagen den Auslands- und Kriseneinsätzen. Von daher ist es nur eine selbstverständliche Fortschreibung unseres bisherigen Konsenses, zu sagen, dass Wehrpflichtige nur innerhalb des Bündnisgebietes im Rahmen von Landesund Bündnisverteidigung eingesetzt werden können und dürfen. Ein letzter Punkt zum Personalanpassungsgesetz. Wegen der ganz anderen Anforderungen der Bundeswehr an ihr Personal ist dieses Anpassungsgesetz tatsächlich notwendig, auch wenn es ganz aus der Reihe des übrigen öffentlichen Dienstrechts tanzt. Aber wir müssen natürlich feststellen, dass die Frühpensionierung von insgesamt 3 000 Soldaten einiges kostet: im nächsten Jahr 21 Millionen DM, im Jahr 2006 schon 176 Millionen DM. Der Staat verzichtet dadurch auf das Potenzial von erfahrenen, qualifizierten und noch sehr arbeitsfähigen Männern. Es kann uns nicht ruhen lassen, wenn für viel Geld solche Potenziale einfach weggegeben werden. Gerade in den zivilen Dimensionen von Friedensmissionen gibt es einen erheblichen Mangel an professionellen, schnell verfügbaren Kräften. Es gibt im Verteidigungsausschuss schon ein Einvernehmen zwischen allen Fraktionen, dass wir uns Schritte und Möglichkeiten überlegen wollen, wie dieses enorme Potenzial von oft auch in Kriseneinsätzen erfahrenen Offizieren im Rahmen unserer Sicherheitspolitik, im Rahmen von Friedensmissionen genutzt werden kann. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Günther Nolting für die FDP-Fraktion.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verteidigungsminister Scharping hat im Februar attraktive Arbeitsplätze, berufliche Perspektiven, angemessene Besoldung bei der Bundeswehr versprochen. Herr Kollege Kemper, nachdem Sie hier dieses Gesetz vehement vertreten und gelobt haben, wollen wir uns doch einmal ansehen, wie es in der Bundeswehr wirklich aussieht. ({0}) Rot-Grün hat zu wenig unternommen, damit sich die Nachwuchslage insbesondere bei Spezialverwendungen verbessert. Der Beförderungsstau hat sich unter rot-grüner Verantwortung vergrößert. Die von Rot-Grün mehrfach in Aussicht gestellten weiteren Attraktivitätssteigerungen lassen weiter auf sich warten. ({1}) Auch der Zeitplan wurde nicht eingehalten. Zudem schwebt über all diesen ersten Schritten noch das Damoklesschwert einer unzulänglichen Finanzierung, die nämlich mehr auf dem Prinzip Hoffnung als auf konkreter Absprache mit dem Bundesfinanzminister fußt. Auch der Generalinspekteur beklagt die dramatische Unterfinanzierung der Bundeswehr. ({2}) Ich kann deshalb für die FDP feststellen: Das Gesetz bringt nicht die überfällige Auflösung struktureller Probleme. Die Neufassung des Personalanpassungsgesetzes bleibt weit hinter den Erwartungen und den objektiven Erfordernissen einer modernen Bundeswehr zurück. Es ist noch nicht lange her, da hat Bundesverteidigungsminister Scharping selbst eingestanden, dass sich gegenwärtig mehr als 8 500 Berufssoldaten im strukturellen Überhang befinden. In den kommenden fünf Jahren können aber nicht einmal 3 000 Berufssoldaten die Bundeswehr frühzeitig verlassen. Mit dieser marginalen Reduzierung wird nicht ansatzweise der Einstieg in eine verjüngte, den internationalen Anforderungen besser angepasste Streitkräftestruktur erreicht. Herr Kollege Siemann, ich glaube, auch darum geht es. ({3}) Sie werden sich daran erinnern, dass wir in den 90er-Jahren zu ähnlichen Mitteln gegriffen haben, um eine bessere Struktur zu erreichen. Sie alle wissen, dass auch die Verärgerung bei den zivilen Beschäftigten ständig steigt. Das müsste auch bei Rot-Grün angekommen sein. Umso unverständlicher ist der FDP, warum in dem vorliegenden Gesetzentwurf diese Gruppe von über 120 000 Beschäftigten nicht mit einer Silbe Erwähnung findet. Gerade auch die zivilen Beschäftigten und deren Familien haben ein Anrecht darauf, endlich Planungssicherheit für ihre berufliche und persönliche Zukunft zu bekommen. ({4}) - Herr Kollege Palis, über den Tarifvertrag werden wir uns bestimmt im Verteidigungsausschuss noch einmal unterhalten. Wir werden aufzeigen, welche Lücken und welche Mängel wir dort sehen. Der vorliegende Entwurf sieht eine erhöhte Einstiegsbesoldung für Mannschaften und Unteroffiziersanwärter vor; Herr Kollege Kemper hat bereits darauf hingewiesen. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. ({5}) Aber, Herr Kollege Kemper, es ist ein zu kleiner Schritt. Wenn Sie sich einmal die finanziellen Unterschiede im Vergleich zu Polizei und zum Bundesgrenzschutz ansehen - ich habe vorhin in einem Zwischenruf darauf hingewiesen -, dann werden Sie feststellen, dass es um Beträge von 600 DM bis 900 DM geht. ({6}) Ich denke, diese Zahlen sprechen für sich. Die FDP hat entsprechende Anträge im Ausschuss gestellt. ({7}) Leider sind diese Anträge von Rot-Grün abgelehnt worden. Auch das muss an dieser Stelle gesagt werden. ({8}) Der Gesetzentwurf hält an der Wehrpflicht fest. Er sieht allerdings eine Flexibilisierung der Wehrpflichtdauer vor. Wir Liberalen sagen dagegen: Die Wehrpflicht hat ausgedient. ({9}) Sie ist sicherheitspolitisch nicht mehr zwingend notwendig. Im Gegenteil: Die Wehrpflicht erweist sich immer mehr als eine strukturelle Bürde. ({10}) Das Gerechtigkeitsprinzip ist längst auf der Strecke geblieben. Auch zur Terrorbekämpfung ist die Wehrpflicht nicht geeignet. Wir Liberalen werden den vorgelegten Gesetzentwurf dennoch nicht ablehnen, ({11}) weil wir uns auch als Opposition unserer Verantwortung für die Menschen in der Bundeswehr, für diejenigen in Uniform und für diejenigen in Zivil, bewusst sind. Wir werden uns allerdings der Stimme enthalten. Ich sage noch einmal: Das Gesetz geht in die richtige Richtung, aber aus unserer Sicht nicht weit genug. ({12}) Für eine echte Attraktivitätsoffensive sind für die FDP unter anderem folgende Maßnahmen erforderlich: die Zahlung leistungsgerechter Löhne und Gehälter hierzu gehört besonders die überfällige stufenweise Angleichung der Ostgehälter auf Westniveau; auch das hat Rot-Grün abgelehnt -, ({13}) der Abbau sämtlicher Personalüberhänge, um Aufstiegsperspektiven für Nachwuchskräfte zu schaffen und den Beförderungsstau zu beseitigen, die Aussetzung der Wehrpflicht bei gleichzeitiger Anpassung der Einstiegsbesoldung an das Niveau von Bundesgrenzschutz und Polizei sowie schließlich die Flexibilisierung des über 50 Jahre alten Dienstrechtes. Meine Damen und Herren, nur wenn sich die Neuausrichtung der Bundeswehr für alle Beschäftigten - ich sage ausdrücklich noch einmal: für die uniformierten, aber auch für die zivilen Beschäftigten - positiv bemerkbar macht, wird man engagierte und motivierte Soldaten und Zivilbeschäftigte vorfinden. Ich denke, dies muss unser gemeinsames Ziel sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke für die PDS-Fraktion.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da der Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der Bundeswehr auch in seiner Begründung auf die Bundeswehrreform selbst Bezug nimmt und dort verortet wird, muss man sich über die grundsätzlichen Weichenstellungen, die damit getroffen worden sind, noch einmal verständigen. Das heißt, mit uns werden Sie sich da nicht verständigen. ({0}) Wenn wir in die Geschichte zurückgehen, stellen wir fest, dass die Bundeswehr in ihrem Selbstverständnis eine Armee war, die alles tun musste - vielleicht sogar alles getan hat - um ihren eigenen Einsatz zu verhindern. Der Nichteinsatz der Bundeswehr war Ziel und Identität der Bundeswehr, übrigens auch verfassungsrechtlich. ({1}) Heute, und dies unter Rot-Grün, hat sich das ins Gegenteil gewandelt. ({2}) Die Bundeswehr ist zu einer Einsatzarmee umgebaut worden. Der weltweite Einsatz der Bundeswehr ist nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Heute ist also der Einsatz und nicht mehr der Nichteinsatz der Bundeswehr Ziel und Identität. Das ist der grundsätzliche Wandel, der festgehalten werden muss. ({3}) Wenn ich das zuspitzen wollte, würde ich behaupten, dass sich die Bundeswehr aus einer Verteidigungsarmee in eine Kriegsarmee gewandelt hat. Das finde ich tragisch. ({4}) Ich darf die Kollegen der CDU/CSU an etwas erinnern. Kollege Breuer, Ihr Altkanzler Kohl hat einmal einen Wahlkampf mit der Losung „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ geführt. Er hat damit die Losung der Friedensbewegung „Frieden schaffen ohne Waffen“ gekontert. Wenn ich mir vorstelle, dass sich heute Kollegen der SPD und der Grünen mit der Losung „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ in der Öffentlichkeit erklären, würden sie sofort als zum radikalen, fundamentalistischen oder pazifistischen Flügel gehörend abgestempelt werden. So hat es sich inhaltlich verändert. Das merkt man natürlich auch an der Ausrichtung der Bundeswehr. ({5}) - Wenn es nicht von meiner Zeit abginge, würde ich Ihre Zwischenrufe gern alle einzeln beantworten. Aber registrieren Sie einmal, dass wir hier im Bundestag und nicht im Kasernenhof sind. Einen gewissen Ton verbitte ich mir. ({6}) Wenn man sich anguckt, wie das Konzept umgesetzt wird, werden Sie sich vorhalten lassen müssen, dass Sie den Gemeinden und Städten, in denen Standorte geschlossen worden sind, nicht geholfen haben, die Probleme zu bewältigen. Sie haben die Gemeinden und Städte, gerade im Osten, allein gelassen. Der Verkauf von Liegenschaften, übrigens auch der Verkauf von Waffen, löst das finanzielle Problem der Bundeswehr nicht. So, wie Sie die Bundeswehr einsetzen wollen - da hat die CDU/CSU Recht -, ist sie unterfinanziert. Ich will sie ja nicht so einsetzen. Deshalb ist das nicht mein Problem; das ist Ihr Problem. Im Übrigen: Wer heute Waffen ohne sorgfältige Kontrolle verkauft, der findet diese Waffen letztendlich auch auf den terroristischen Märkten wieder. Das müssen Sie sich auch ins Stammbuch schreiben. ({7}) Die Bundeswehr hat die Städte und Gemeinden mit Hinweis auf ihre Nichtzuständigkeit bei der Bewältigung der sozialen Probleme allein gelassen. Die Wehrpflicht ist nicht korrigiert worden, was man hätte tun können. Die Frühverrentung, um diesen Begriff einmal zu benutzen, kostet 1 Milliarde DM, die anderswo besser hätte eingesetzt werden können. So wie mit den Gemeinden springt das Verteidigungsministerium auch mit den Beamten der Bundeswehr um. Ich war auf dem Beamtentag der Bundeswehr; Ihr Verteidigungsminister hat sich ja gedrückt, weil er zur gleichen Zeit mit der Wirtschaft reden wollte. Sie hätten einmal hören sollen, was von den Beamten der Bundeswehr dort über Ihre Politik ausgeführt wurde. Das würde mich schon sehr bedenklich stimmen; denn das ist nun nicht die typische Klientel der PDS. Das einzig Positive an dem Gesetzentwurf, den Sie zur Besoldung vorgelegt haben, ist der Wegfall der unteren Besoldungsgruppen A 1 und A 2. ({8}) Dafür wird aber der Verheiratetenzuschlag einkassiert. Dann gleicht sich das wieder aus. Die unterschiedliche Besoldungsregelung in Ost und West haben Sie nicht geregelt. Die hätten Sie regeln können. Dann hätten Sie wenigstens einen Beitrag zur deutschen Einheit in der Bundeswehr geleistet. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Kurt Palis für die SPD-Fraktion.

Kurt Palis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001673, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Wolfgang Gehrcke, eine Bemerkung musste ich mir notieren: Wenn Sie uns den Werbespruch der Christdemokraten „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ ({0}) in Erinnerung rufen und ihn jetzt loben, dann frage ich mich, warum Sie bei der Debatte zum Mazedonien-Einsatz - bei diesem Einsatz ging es darum, weniger Waffen zu schaffen, indem sie bei den albanischen Rebellen eingesammelt werden - dagegen gesprochen und dann dagegen gestimmt haben. ({1}) Damals hätten Sie diesem Spruch doch zum Durchbruch verhelfen können. ({2}) Ich will damit keine Polemik betreiben, lieber Wolfgang, sondern nur darauf aufmerksam machen, dass der Slogan mit Leben zu erfüllen ist. ({3}) Hier steht auch ihr in der Verantwortung und aus ihr entlassen wir euch nicht. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Woche haben wir wieder hautnah erlebt, dass Deutschland in der Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Wegfall der Blockkonfrontation vor neuen Aufgaben steht. Dies stellt auch die Bundeswehr vor neue Herausforderungen und macht eine Neuausrichtung notwendiger denn je. Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat die Kraft zur Bewältigung dieser großen Aufgabe in ihren letzten Jahren nicht mehr aufbringen können. Erst mit dem Regierungswechsel 1998 wurde sie konkret und zügig angegangen und im Juni letzten Jahres wurde mit dem Beschluss zum Eckpfeilerpapier diese Neuausrichtung der Bundeswehr auf den Weg gebracht. Mit dem heute zu verabschiedenden Bundeswehrneuausrichtungsgesetz - und mit dem Sechsten Besoldungsänderungsgesetz, zu dem mein Kollege Hans-Peter Kemper schon gesprochen hat - werden nun die dafür erforderlichen rechtlichen Grundlagen geschaffen. Aufgrund der Vielzahl von Folgeänderungen in dem Artikelgesetz beschränke ich mich hier auf die wesentlichen Schwerpunkte. Zunächst zum Wehrpflichtgesetz: Die bedeutsamste Veränderung besteht hier in der Verkürzung des Grundwehrdienstes von zehn auf neun Monate. Damit verbunden ist die Möglichkeit, je nach Bedarf der Bundeswehr diesen Wehrdienst zusammenhängend oder in Abschnitten zu leisten. Mit dieser erweiterten Regelung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass für einen Teil der Wehrpflichtigen zunächst nur eine Basisausbildung von sechs Monaten erforderlich ist. Die dann fehlenden drei Monate werden nach Anzahl und Dauer am Bedarf der Streitkräfte ausgerichtet und bereits durch den Einberufungsbescheid festgelegt. Wie sich die abschnittsweise Ableistung des Wehrdienstes in der Praxis entwickeln wird, muss abgewartet werden. Grundsätzlich schafft sie aber - davon bin ich fest überzeugt - für Wehrpflichtige wie für die betroffenen Arbeitgeber ein größeres Maß an Flexibilität. Herr Kollege Siemann, wenn Sie bezweifeln, dass die Arbeitgeber angesichts dieser Neuregelung nicht mehr über ausreichend Planungssicherheit verfügten, dann mache ich darauf aufmerksam, dass sich jemand, der in einem Arbeitsverhältnis steht und einberufen wird, sicherlich mit seinem Arbeitgeber über die Möglichkeit unterhalten wird, den Wehrdienst so oder so abzuleisten. Beide werden dann das für sie Vernünftige von der Bundeswehr abfordern, die anschließend darüber zu entscheiden hat, ob es dienstlich möglich ist, der Forderung nachzukommen. Eine pauschale Kritik an dieser Neuregelung, wie sie bei den Beratungen und gelegentlich auch bei der Bundeswehr selbst geäußert wurde, übersieht, dass der Bedarf der Streitkräfte den absoluten Vorrang behält. Die bisherige Härtefallregelung in diesem Zusammenhang sowie die Möglichkeit eines zusätzlichen freiwilligen Wehrdienstes bis zu einer Gesamtdauer von 23 Monaten bleiben von der Neuregelung unberührt. Darüber hinaus wird wegen der erhöhten Anforderungen an die Wehrpflichtigen der Verwendungsgrad T 7, der überwiegend nur Beschäftigung im Innendienst ermöglichte, gestrichen. Mit der Verkürzung der Wehrdienstdauer wird auch die Dauer des Zivildienstes von elf auf zehn Monate verkürzt sowie die Mindestverpflichtungszeit für Helfer im Zivilund Katastrophenschutz als Voraussetzung für eine Nichtheranziehung zum Wehrdienst angepasst. Der Kollege Nachtwei hat darauf bestanden, dass wir eine Willenserklärung abgeben, den Wehrpflichtigen keinen Einsatzbefehl für Auslandseinsätze zu erteilen. Dem stimmen wir zu; es gibt keinen Zweifel, dass wir daran festhalten wollen. Weitere wesentliche Änderungen betreffen das Soldatengesetz. Hier findet zunächst eine Neuregelung für wehrdienstbeschädigte Soldaten statt. Dadurch wird es ermöglicht, solche Soldaten, die ohne grobes Verschulden eine Wehrdienstbeschädigung erlitten haben und bei denen dadurch begründete Zweifel an der Dienstfähigkeit bestehen, so zu behandeln, dass sie keinen status- und dienstrechtlichen Nachteil erleiden. Diese Neuregelung ist auf Erfahrungen aus den Auslandseinsätzen der Bundeswehr zurückzuführen. Ein Zwang zum Verbleib in der Bundeswehr besteht aber für diese wehrdienstbeschädigten Soldaten nicht. Entscheidend ist, dass ein solcher Soldat in geeigneter alternativer Verwendung bei der Bundeswehr bleiben kann, wenn er dies wünscht. ({5}) Ein weiterer wichtiger Teil des Neuausrichtungsgesetzes ist die Neuordnung der Soldatenlaufbahnen. Damit wird ein breites Spektrum an Einstiegs-, Wechsel- und Aufstiegsoptionen eröffnet werden, um die Grundlage für eine bessere Deckung des Personalbedarfs zu schaffen. So werden unter anderem die lange geforderte so genannte Feldwebellaufbahn und eine Fachunteroffizierslaufbahn eingeführt. ({6}) Der dritte und letzte große Bereich betrifft die Schaffung eines Personalanpassungsgesetzes. Das bis Ende 1994 gültige Personalstärkegesetz konnte nicht alle überbesetzten Jahrgänge erfassen. Bereits damals vorhandene Unwuchten, bei denen das Personalstärkegesetz nicht gegriffen hat, prägen nach wie vor die Personalstruktur. Insofern ist es natürlich nicht redlich, davon zu sprechen, das habe diese Regierung zu verantworten. Nein, Sie haben damals, 1994, Schluss gemacht. Wir wollen gar nicht nachkarten, warum dann nicht nachgebessert worden ist. Jetzt sind wir dabei, den aus der damaligen Zeit verbliebenen Rest aufzuarbeiten. ({7}) Ohne gesetzliche Maßnahmen ist ein Abbau dieser Überhänge erst in 25 Jahren erreichbar. Bei dieser Gelegenheit will ich diejenigen im Lande, die mit einem Unterton von Missgunst kritisieren, dass es den „goldenen Handschlag“ nur bei den Soldaten gebe, fragen: Welche politische Entscheidung sollen wir denn treffen? Sollen wir Menschen, die in ihrer Funktion nicht mehr benötigt werden, weiter voll besolden oder sollen wir sie mit dem so genannten goldenen Handschlag nach Hause schicken, damit wir eine gesunde Personalstruktur bekommen? Ich bin dafür, Letzteres zu tun. ({8}) Im Übrigen haben Sie das auch getan. Darüber sind wir uns im Grunde einig.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. ({0})

Kurt Palis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001673, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, erlauben Sie mir, noch zwei Hinweise zu geben, die noch nicht angesprochen wurden. Wir haben hinsichtlich der Frühpensionierung von Beamten überlegt, in welcher Weise wir helfen können. Unser Ziel ist es, die Versorgungsbezüge bei Inanspruchnahme der Altersteilzeitregelung von 83 Prozent auf 88 Prozent anzuheben. Wir sind dabei auf einem guten Weg. In diesem Gesetz ist das noch nicht geregelt, aber dies wird in dem zur Beratung anstehenden Besoldungsstrukturgesetz geschehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Palis, jetzt muss ich Sie wirklich ausbremsen.

Kurt Palis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001673, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich für die Nachsicht, Frau Präsidentin. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Meinrad Belle für die CDU/CSU-Fraktion.

Meinrad Belle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000138, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und meine Herren! Die Kolleginnen und Kollegen des Innenausschusses wissen, dass ich den Kollegen Hans-Peter Kemper sehr schätze. Er musste gestern bei der Sachverständigenanhörung zum Entwurf des Versorgungsänderungsgesetzes sehr frustrierende Erfahrungen machen. Dieser Gesetzentwurf erfuhr durch die Sachverständigen einen Totalverriss. Angesichts dieser Erfahrungen gönne ich ihm gern die freudige Erregung bei der Darstellung der positiven Punkte dieses Gesetzes, denn er soll einen guten Einstieg ins Wochenende haben. Ich spreche zu den dienst- und besoldungsrechtlichen Vorschriften im Sechsten Besoldungsänderungsgesetz. Ich werde mich dabei auf einige wesentliche Punkte der Begründung unseres zur zweiten Lesung eingebrachten Änderungsantrages beschränken. Trotz der begrüßenswerten Verbesserung, vor allem für die Soldaten, hat die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf die Chance vertan, bereits seit längerer Zeit anstehende Verbesserungen besoldungsrechtlicher Vorschriften zu realisieren. Die von uns im Innenausschuss vorgelegten Anträge hat die Koalition am Mittwoch abgelehnt. Besonders schmerzlich ist dies natürlich für die unteren Besoldungsgruppen. So haben SPD und Grüne im Innenausschuss trotz der in diesem Gesetz vorgesehenen AbschaffungderBesoldungsgruppenA 1undA 2gegendie Anhebung des Eingangsamtes für Justizwachtmeister von der BesoldungsgruppeA3 aufA4 gestimmt. Hier geht es um die Anhebung des Eingangsgrundgehaltes von 2 814 DM auf 2 878 DM. ({0}) Doch selbst diese bescheidene Verbesserung für die niedrigsten Besoldungsgruppen wollten die Fraktionen der Regierungskoalition nicht mittragen. Wir sind aber der Meinung, dass bei Änderungen besoldungsrechtlicher Vorschriften grundsätzlich eine ausgewogene Gesamtlösung notwendig ist, die das Besoldungsgefüge im Lot hält. Soweit im höheren Dienst Ungleichheiten entstanden sind, sollten diese ausgeräumt werden und nicht wegen der üblichen Neidkampagne unberücksichtigt bleiben. Wir haben uns daher entschlossen, unseren Antrag zur zweiten Lesung nochmals einzubringen. Wir wollen im Einzelnen entsprechend dem Beschluss der 70. Justizministerkonferenz von 1999 das Eingangsamt für den Justizwachtmeisterdienst von A 3 auf A 4 anheben, da die Besoldung aus dem bisherigen Eingangsamt wirklich nicht mehr funktions- und leistungsgerecht ist. Ebenfalls wollen wir die so genannte Gitterzulage in eine allgemeine Justizwachtmeisterzulage als „Vorführzulage“ umwandeln. Beamte, die bei Gerichten und Staatsanwaltschaften überwiegend für die Bewachung und Vorführung von Gefangenen eingesetzt sind, sollen diese Stellenzulage erhalten. Wir wollen die Ämterzuordnung bei der Bundesanstalt für Arbeit verbessern und zum Teil die Amtsbezeichnungen ändern. Nachdem wir gerade in der letzten Dienstrechts- und Versorgungsrechtsreform gemeinsam das Zulagendickicht durchforstet haben, Herr Staatssekretär Körper, halten wir die Schaffung neuer Sonderzuschläge zur Sicherung der Funktions- und Wettbewerbsfähigkeit für nicht erforderlich, da bereits jetzt § 72 des Bundesbesoldungsgesetzes in seiner derzeitigen Fassung die Möglichkeit eröffnet, flexibel, ganzheitlich und schnell auf Schwankungen im Angebots- und Nachfragebereich zu reagieren. Insbesondere wollen wir bei diesem Gesetzentwurf die Gelegenheit nutzen, das Beamtenrecht familienfreundlich fortzuentwickeln. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Familienzuschlag für das dritte Kind und für weitere Kinder wurde auf unsere Initiative mit Art. 5 des Gesetzes zur Neuordnung der Versorgungsabschläge umgesetzt, allerdings nur vorläufig für das Jahr 2001. Wir haben daher im Innenausschuss den Antrag auf dynamische Absicherung und Fortführung ab 1. Januar 2002 eingebracht. Diesen Antrag hat die Koalition abgelehnt. Durch die danach erfolgte wortgleiche Übernahme unseres zuerst gestellten Antrages - man höre und staune! - wurde dann zwar das Problem der Fortführung des Familienzuschlages gelöst; aber in Ihrem Beschluss fehlt der Gesichtspunkt der dynamischen Absicherung. Darum bringen wir diesen Antrag nochmals ein. Die Sonderurlaubsverordnung sieht bislang nicht vor, dass dem Ehepartner bei stationärer Geburt eines weiteren Kindes Sonderurlaub für die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht für die daheim gebliebenen eigenen minderjährigen Kinder gewährt wird. Insbesondere Soldaten, diesichaufgrundihrerVersetzungshäufigkeitnurseltenauf die Mithilfe in der Nähe lebender Verwandter stützen können, würden von dieser Ergänzung der Sonderurlaubsverordnung profitieren. Wir wollen damit auch das Verfassungsgebot, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, weiter ausfüllen. Wir wiederholen auch einen weiteren Antrag, den wir bereits früher gestellt haben. Die heutige Fassung des § 72 a des Bundesbeamtengesetzes lässt eine Beurlaubung zum Zwecke der Kindererziehung maximal für einen Zeitraum von zwölf Jahren zu. Alle Frauen- und Familienverbände weisen darauf hin, dass dies keine optimale Voraussetzung für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist, weil die Erziehungszeiten in einer entscheidenden Phase der Kindererziehung, nämlich im zwölften Lebensjahr des Kindes, abgebrochen werden müssen. Der Zeitraum sollte daher bis zur Volljährigkeit des Kindes ausgedehnt werden. Außerdem sollte eine Unterbrechung dieser Elternzeit ermöglicht werden, damit sich die Eltern in der Kindererziehung abwechseln können. Im Einvernehmen mit den Kollegen aus dem Verteidigungsbereich stellen wir den Antrag auf Erhöhung des Wehrsolds um 1 DM pro Tag sowie auf Erhöhung des Mobilitätszuschlages von jeweils 1 DM in den drei Entfernungskategorien. Hierzu ist festzustellen, dass der Verteidigungsausschuss bereits eine Erhöhung des Mobilitätszuschlags beschlossen hat, was wir natürlich alle begrüßen. Aber diese Maßnahme sollte unserer Ansicht nach nicht isoliert in Kraft treten. Wir sind der Meinung, dass auch Wehr- und Dienstpflichtige sowie Wehrübende an der generellen Einkommenssteigerung beteiligt werden müssen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, nutzen Sie die Gelegenheit zur weiteren sinnvollen Verbesserung Ihres Gesetzentwurfs - dem wir heute zustimmen werden -, insbesondere was die unteren Einkommensempfänger und die Familien angeht. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow.

Walter Kolbow (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001175

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden Gesetzentwürfe der Bundesregierung sind ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Umsetzung der Reform der Bundeswehr. Beide Gesetze legen den Grundstein zur Verbesserung der Attraktivität und damit auch zur dringend notwendigen Erhöhung der Einsatz- und Reaktionsbereitschaft unserer Streitkräfte. Dies gilt auch und gerade vor dem Hintergrund der Herausforderungen, die sich nach den Terroranschlägen vom 11. September in den USA ergeben haben. Mit dem Bundeswehrneuausrichtungsgesetz verfolgt die Bundesregierung einen doppelten Ansatz. Einerseits wirken wir der drohenden Überalterung der Streitkräfte entgegen. Andererseits passen wir zugleich den Grundwehrdienst den veränderten sicherheitspolitischen Gegebenheiten an. Durch die vorgesehene Neuordnung der Feldwebelund Fachunteroffizierslaufbahnen verbessern wir die Attraktivität des Soldatenberufs nachhaltig. Wir schöpfen das durch die demographische Entwicklung abnehmende Bewerberaufkommen konsequenter als bisher aus und nehmen Rücksicht auf die unterschiedlichen Berufswünsche junger Frauen und Männer. Wir setzen ein klares Zeichen, indem endlich Schluss gemacht wird mit den von der Vorgängerregierung hinterlassenen, der Attraktivität des Dienens schadenden Defiziten. ({0}) Es ist wichtig, Ihnen das noch einmal vorzuhalten; denn Ihre Desinformationspolitik draußen ist mit ursächlich für Demonstrationen, die in diesem Zusammenhang nun wirklich fehl am Platze sind. ({1}) Wir setzen Akzente. Wir gehen gegen die schlechte Bezahlung, die geringe Eingangsbesoldung und die Benachteiligung gegenüber anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes an. Wir schaffen zukunftssichere Arbeitsplätze in der Bundeswehr sowie neue Laufbahnperspektiven und Aufstiegschancen. Wer dann zur Bundeswehr kommt, wird seine zivilberufliche Qualifikation um mindestens eine Stufe verbessern können. Wer keinen Beruf hat, erhält als Zeitsoldat eine Ausbildung. Wer zum Beispiel als Geselle einsteigt, verlässt die Bundeswehr als Meister. Wir holen nach - Kollege Kemper und andere haben darauf hingewiesen -, was im übrigen öffentlichen Dienst schon lange Bestand hat, indem wir die Besoldungsgruppe A 3 als Eingangsbesoldung für den jungen Zeitsoldaten vorsehen. Wir stellen aber auch sicher, dass der Dienstgrad Hauptgefreiter deutlich früher als bislang erreicht wird. Wir bauen den Beförderungsstau zum Oberstabsfeldwebel und zum Stabsfeldwebel durch rund 750 neue oder zusätzliche Planstellen ab. Ferner sorgen wir dafür, dass 634 Stellen für Stabsfeldwebel als echte Dienstposten gesetzt werden. Wir erhöhen den Anteil der Spitzenämter für Offiziere des militärfachlichen Dienstes. Wir erhöhen die Besoldung aller Kompaniechefs auf mindestens Besoldungsgruppe A 12. Ferner erhöhen wir den Anteil der Stabsoffiziere um 825 zusätzliche Stellen. Entgegen Ihren Erwartungen, meine Damen und Herren von der Opposition, ist der Auftritt des Bundesministers der Verteidigung auf der Versammlung des Bundeswehr-Verbandes mit großem Beifall bedacht worden. ({2}) Dies ist die Wirklichkeit in den Streitkräften, was auch hinsichtlich der Personalförderung durch die Leitung des Bundesministeriums der Verteidigung gilt. Wir führen eine Vielzahl weiterer Maßnahmen durch, die den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugute kommt. Herr Kollege Nolting, es lohnt sich schon, darauf zu schauen, was der Tarifvertrag für die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bringt. Nur die persönliche Wertschätzung, die ich für Sie habe, hält mich von der Formulierung ab, Ihre Einlassung hier zum Tarifvertrag als die übliche Arbeitnehmerferne der Liberalen zu bezeichnen. ({3}) In der Summe, meine Damen und Herren, investieren wir in das Personal der Bundeswehr weit mehr, als es jemals im zurückliegenden Jahrzehnt unter der Vorgängerregierung der Fall war. Wir machen auch Ernst mit dem zwingend notwendigen Personalabbau. Kollege Palis - ich darf mich ausdrücklich darauf beziehen - hat darauf hingewiesen. Und ich bitte sehr, Kollege Siemann, mitzuhelfen, hier etwas zu tun, was dringend notwendig ist, ({4}) um die Bundeswehrstruktur kleiner, schlanker und effizienter ausgestalten zu können auf das, was wir auch von den Einsätzen her brauchen, die wir von der Politik her den Soldaten auftragen. Da wäre es besser, wenn Sie sich nicht selbst widersprechen, weil Sie - Kollege Nolting hat fairerweise darauf hingewiesen - 1994 selbst diese Instrumente benutzt haben. Es wäre besser, Sie würden mithelfen, auch die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass dies gerade für die Bundeswehr notwendig ist, und nicht populistisch auch noch Öl in ein Feuer der öffentlichen Diskussion gegen Soldatinnen und Soldaten gießen. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, zeitgleich mit dem tiefgreifenden Wandel befindet sich die Bundeswehr im Einsatz. Das Risiko, dass nicht alle Soldatinnen und Soldaten wohlbehalten zurückkehren, wird größer. Die Bundesregierung hat daher Regelungen entwickelt, die sicherstellen, dass Soldatinnen und Soldaten, die im Auslandseinsatz wehrdienstbeschädigt werden, nicht mehr wegen Dienstunfähigkeit entlassen werden, sondern als Soldat weiterbeschäftigt werden können. Mit dieser Regelung schließen wir eine Lücke für diejenigen, die im Einsatz für unser Land geschädigt werden. Diejenigen, die in den Einsatz gehen, müssen wissen, dass sie von der politischen und militärischen Führung bei schweren Verwundungen oder Schädigungen nicht im Stich gelassen werden. Sie haben Anspruch auf eine bessere Fürsorge. Ich denke, dass gerade hier das Hohe Haus besonders engagiert zustimmen kann. ({6}) Ich denke in dieser Stunde mit Bewegung an unseren Oberstabsarzt Dieter Eising, der in Georgien, in einem UN-Hubschrauber im Einsatz befindlich, abgeschossen worden und zu Tode gekommen ist. In diesem Zusammenhang sollte die Fürsorge, die in den beiden Gesetzen für die Streitkräfte zum Ausdruck kommt, auch den Deutschen Bundestag, Sie, meine Damen und Herren, zur Zustimmung zu diesem Gesetz bringen; denn unsere Soldatinnen und Soldaten gewährleisten unsere äußere Sicherheit gerade in diesen schweren Tagen. Sie verteidigen Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenwürde, Werte, die wir seit Jahrzehnten gemeinsam im deutschen Parlament hochhalten und die uns über Parteigrenzen hinweg verbinden. Deswegen sind zu diesen Verbesserungen auch breite Zustimmungen notwendig. Springen Sie hier über Ihren Schatten, den Sie selbst in Ihrer Regierungszeit nicht überspringen konnten! ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuaus- richtung der Bundeswehr in der Ausschussfassung, Drucksachen 14/6881, 14/7089 und 14/7235. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst ab- stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/7372? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS bei Enthaltung der FDP ange- nommen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen Ände- rung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS bei Enthaltung der FDP angenommen. Interfraktionell ist vereinbart, trotz Annahme eines Än- derungsantrages in zweiter Beratung jetzt unmittelbar in die dritte Beratung einzutreten. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Deshalb rufe ich jetzt auf die dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS bei Ent- haltung der FDP angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung besoldungsrechtlicher Vorschriften, Drucksachen 14/7097 und 14/7352. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU auf Drucksache 14/7382? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stim- men der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP abgelehnt. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Frak- tion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei Ent- haltung der FDP-Fraktion angenommen. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 14/7352 die An- nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung von CDU/ CSU-, FDP- und PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung - Drucksache 14/6432 ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung - Drucksachen 14/7123, 14/7168 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2}) - Drucksache 14/7355, 14/7395 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Pfaff b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung Bericht der Bundesregierung über die Untersu- chung zu den Wirkungen des Risikostruktur- ausgleichs in der gesetzlichen Krankenversi- cherung - Drucksachen 14/5681, 14/7395 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Pfaff Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich ver- weise aber gleich darauf, dass die Kolleginnen Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Ruth Fuchs, PDS, ihre Reden bereits zu Protokoll gegeben ha- ben.1) Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die SPDFraktion ist der Kollege Martin Pfaff.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des Gesetzes zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung wird eine weitere Teilstrecke eines langen Weges zurückgelegt. Dieser Weg begann in Lahnstein, führte über die verschiedenen Maßnahmen im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes und zur Stärkung der Finanzkraft der Kassen im Osten sowie - ein Höhepunkt bisher - zum Niederreißen der Sozialmauer zwischen West und Ost und schließlich zur Einführung des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs. Vor allem die Kolleginnen und Kollegen aus Teilen der Opposition erinnere ich daran: Wir haben diesen Weg gemeinsam begonnen und sind gemeinsam verantwortlich für Richtung und Route, also verantwortlich nicht nur für die Chancen, sondern auch für die Hindernisse, die sich auf diesem Weg aufgetan haben. Wenn Teile der Opposition heute ihre Verantwortung für die Entwicklung des Risikostrukturausgleichs hintanstellen und mit vorgeschobenen Argumenten dagegen vorgehen - offensichtlich, um parteipolitisches Kapital daraus zu schlagen -, dann habe ich dafür kein Verständnis. Ich finde das eher traurig. ({0}) Auch Sie sollten nicht vergessen: Der Risikostrukturausgleich ist ein Herzstück der gesetzlichen Krankenversicherung und somit der sozialen Marktwirtschaft. ({1}) Diese erzielt bekanntlich ihre Erfolge durch eine Kombination aus Wettbewerb im wirtschaftlichen Bereich und individueller Sicherheit im sozialen Bereich. Die letzten Jahrzehnte haben doch hinlänglich nicht nur bewiesen, dass freie Menschen produktiver sind als Sklaven, sondern auch, dass Menschen, die in Sicherheit leben, ebenfalls produktiver sind und zudem ein besseres Leben führen können als solche, die nicht abgesichert sind. Dies gilt in ganz besonderer Weise für Krankheit, Behinderung und Pflegebedürftigkeit. Auch sollten Sie nicht vergessen, dass der Wettbewerb an sich kein konstitutives Prinzip einer sozialen Krankenversicherung ist. Er war die zwingende Konsequenz der Ausweitung der Wahlfreiheit. Es wurde nämlich endlich das Ziel realisiert, dass Arbeiter die gleichen Wahlrechte haben sollten wie Angestellte. Das war die gesellschaftspolitische Zielsetzung in Lahnstein. ({2}) Die so genannte solidarische Wettbewerbsordnung der GKV kann nur funktionieren, wenn die Faktoren neutra- lisiert werden, die die einzelne Kasse mit eigener Kraft zumindest kurzfristig nicht beeinflussen kann: Alter, Ge- schlecht, Zahl der Mitversicherten und Ähnliches. Das sind doch keine Wettbewerbsparameter. Nur wenn diese neutralisiert werden könnten, könnte der Wettbewerb ein Instrument dahin gehend sein, Effizienz und Innovationen zu fördern. Um dies zu erreichen, ist eine solidarische Verteilung der Risikobelastung zwischen den gesetzlichen Kranken- kassen erforderlich. Nichts anderes wird mit dem Risiko- strukturausgleich angestrebt. Deshalb ist er eine un- verzichtbare, ja dauerhafte Voraussetzung für den Wett- bewerb der Kassen in einer solidarisch finanzierten GKV. Auch dies haben Teile der Opposition mittlerweile ver- gessen. In Lahnstein waren wir uns noch einig: Wettbe- werb um gute Risiken, Wettbewerb, der aus Rosinen- picken besteht und sich darin erschöpft, sich auf Junge und Gesunde zu konzentrieren, weil die Kassen dann ge- ringere Kosten haben und die Zuweisungen im Rahmen des Risikostrukturausgleichs höher sind als die tat- Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 8 sächlichen Kosten, was zu einer Subventionierung der Beiträge führt, bringt kein Quäntchen an Wirtschaftlichkeit und kein Quäntchen an Innovationen. Auch deshalb ist eine Reform des Risikostrukturausgleiches notwendig. ({3}) Die Sachverständigen haben dies in ihren Gutachten belegt: Erstens. Sie sagen eindeutig, dass sich der Risikostrukturausgleich grundsätzlich bewährt hat. Ich habe mit Freude festgestellt, dass dies die CDU/CSU trotz aller Kritik an diesem Gesetzentwurf bekräftigt hat. Das war leider nicht immer so. Bei Ihnen, Herr Wolf, mit Ihren Erfahrungen im Krankenkassenwesen würde ich das als selbstverständlich voraussetzen. Der Risikostrukturausgleich hat sich also bewährt. Ohne ihn würde jetzt die Beitragssatzspanne zwischen - man höre und staune - 7,5 und 20,7 Prozent liegen. Man muss sich einmal vorstellen, was dies bedeutet: den Zusammenbruch des bewährten Systems. Wenn wir in Lahnstein nicht gehandelt hätten, gäbe es die gesetzliche Krankenversicherung in der heutigen Form nicht mehr. Wir wären in einer anderen Welt. Das darf man nicht vergessen. ({4}) Zweitens. Es gibt weiterhin Anreize für Krankenkassen - auch das sagen die Gutachter zu Recht -, eine Risikoselektion zu betreiben. Wir wollten das nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wenn sich die Kassen so verhalten hätten, wie wir das eigentlich durch den Kontrahierungszwang - auf Deutsch: jede Kasse muss jeden Bewerber aufnehmen - festgelegt haben, dann bräuchten wir dieses Gesetz nicht. Das haben sie aber nicht getan. Sie haben vielmehr eine Lücke entdeckt. Morbiditäts- bzw. Krankheitsunterschiede kommen eben nicht allein durch Alter, Geschlecht, Zahl der Mitversicherten und Invalidität zum Ausdruck. Dies hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren, nachdem sich die Beiträge einander angenähert hatten, eine Risikoentmischung stattgefunden hat und dass Wettbewerbsverwerfungen aufgetreten sind. Im jetzigen RSA gibt es nicht genug Anreize, dies zu ändern. Ich frage Sie: Halten Sie es denn für richtig, dass die gezielte Anwendung der Strategie der Risikoselektion belohnt wird, da für Gesunde mehr zugewiesen wird, als es den Kosten entspricht, die durch Gesunde tatsächlich entstehen? Halten Sie es denn für richtig, dass im Rahmen des jetzigen Risikostrukturausgleiches die virtuellen Krankenkassen, die sich „strategisch“ verhalten, für Gesunde mehr zugewiesen bekommen, als sie für sie brauchen, während andere für Kranke weniger zugewiesen bekommen, als es den Kosten entspricht, die durch Kranke tatsächlich entstehen? Man braucht kein Statistiker, kein Mathematiker und nicht einmal Gesundheitspolitiker zu sein; der einfache Menschenverstand müsste einem doch sagen, dass das nicht weiter angeht und eine Reform dringend notwendig ist. ({5}) Wir wissen, dass Vergleiche immer hinken, vielleicht auch meiner. Ich will ihn dennoch bringen: Stellen Sie sich vor, die Gründungen von virtuellen Betriebskrankenkassen wirkten ähnlich wie ein Krebsgeschwür im Organismus der sozialen Krankenversicherungen. Dieses Geschwür entzieht dem Umfeld immer mehr Ressourcen, schwächt den Organismus, führt zu einem beschleunigten Wachstum des Krebses und zu immer mehr Metastasen. Am Ende geht der Organismus zugrunde. Aber der Krebs tritt nicht als neues System an die Stelle des Organismus. Was passiert, ist der Zusammenbruch des gesamten Systems. Dann bekommen Sie wirklich die Einheitskasse, die Sie in keiner Weise haben wollen ({6}) und wir auch nicht. Das sind die Konsequenzen, wenn heute nichts geschieht. Das sollten Sie erkennen. Die Ziele dieses Reformgesetzes sind eindeutig: Erstens. Wir wollen die Anreize zur Risikoselektion weiter mindern. Wir wollen sie zumindest mittelfristig beseitigen. Zweitens. Wir wollen die Versorgungsqualität bei chronisch Kranken verbessern. ({7}) Dies ist etwas, was die Gutachtergruppen besonders hervorgehoben haben. Ich nutze die Gelegenheit, um den Gutachtergruppen IGES/Wasem/Cassel, aber auch Lauterbach/Wille an dieser Stelle für die konstruktiven Anregungen herzlich zu danken, die sie zur Reform des Risikostrukturausgleichs gemacht haben. ({8}) Die wichtigsten Instrumente haben wir bei der ersten Lesung schon angesprochen. Es geht um einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich ab 2007. Dann werden nämlich die Beträge, die für die Gesunden und die Kranken zugewiesen werden, stimmen. Zum einen wird keine Subventionierung der Kassen mit vielen Gesunden und keine Bestrafung der Kassen mit vielen kranken und älteren Menschen erfolgen. Zum anderen werden die strukturierten Behandlungsprogramme für chronisch Kranke den Wettbewerb auf eine ganz neue Ebene lenken. Es werden höhere standardisierte Ausgaben für diese chronisch Kranken in Programmen, die bewertet sind und deren Qualität gesichert ist, zugelassen. Die gute Botschaft - diese muss man den Menschen in Deutschland, vor allem den älteren und kranken Menschen verkünden - des heutigen Tages ist: In Zukunft wissen sie, dass das Interesse der Krankenkassen nicht nur den Gesunden gilt. Sie wissen, dass die Krankenkassen ein Interesse daran haben, etwas für chronisch Kranke zu tun, dass die Patienten freiwillig mitmachen können - sie müssen es nicht -, dass die Programme insbesondere für chronisch kranke Menschen qualitätsgesichert sind, dass sie sorgfältig geprüft sind, dass sie bundeseinheitlich zugelassen worden sind. Das ist auch für die Familienangehörigen eine gute Botschaft. Sie müssen sich weniger Sorgen um ihre chronisch kranken Familienmitglieder machen. Sie wissen, dass sie im Alter oder im Falle einer Krankheit aus solchen Programmen Nutzen ziehen können. Dies ist wirklich eine Entwicklung, die wir alle gemeinsam begrüßen sollten. Dies ist ein Wendepunkt in der Gesundheitspolitik. Umso unverständlicher ist die Reaktion von Teilen dieses Hauses. ({9}) Durch solche Programme werden die Prävention gestärkt und die Behandlung von Krankheiten gezielt verbessert. Den integrierten Versorgungsformen werden jetzt Anreize gegeben, damit sie gerade für chronisch Kranke umfangreicher durchgeführt werden. Ich sage noch einmal: Internationale Erfahrungen zeigen, dass dies der richtige Weg ist. Ich komme zum Risikopool. Gegen ihn sind Teile der Opposition, aber Ihre Variante, nämlich einen Hochrisikopool, kritisieren sie nicht. Er soll keine Ausgabewirkungen zeitigen, aber derjenige, den wir vorschlagen, sehr wohl. Hier geht es nur um geringe Unterschiede. Das zeigt die Unlogik dieser Vorgehensweise. Man könnte, sollte und müsste wirklich einmal die Liste der Kritikpunkte an Ihrer Haltung fortsetzen. Ich will das nicht tun. Ich will die positiven Elemente betonen. Ich sage noch einmal abschließend: Hier und heute geht es nicht um ein Gesetz unter vielen anderen, sondern um ein besonderes Gesetz in der Reihe der Gesetze, die wir zur Gesundheitspolitik beschließen. Es geht - das sage ich noch einmal - um ein Herzstück des Sozialstaates. Letztlich geht es um die Frage, ob Solidarität und Wettbewerb in einer sozialen Krankenversicherung in Deutschland eine Zukunft haben werden. Das ist die Zukunftsfrage, die heute beantwortet wird. Letztlich geht es auch um die Zukunft des gegliederten Systems; denn der andere Weg, den ich angesprochen habe, führt zum Zusammenbruch dieses Systems. Wie lange kann die Entsolidarisierung - auf der einen Seite Kassen mit niedrigen Beiträgen für Gesunde und auf der anderen Seite Kassen mit hohen Beiträgen für Kranke - noch anhalten, bevor das System zusammenbricht? Deshalb stabilisieren wir - das ist eine der beabsichtigten Wirkungen - mit unserem Gesetz das gegliederte System mit seiner Vielfalt, die wir alle begrüßen. Zum Schluss doch noch einen Appell: Ich bitte Sie von der Opposition, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen, auch wenn es Ihnen - wenn es so ist, finde ich es traurig noch so schwer fallen sollte. Ich hoffe, dass zumindest im Bundesrat höhere Einsicht einkehrt; denn das vorliegende Gesetz geht uns alle an und setzt den Weg fort, den wir alle gemeinsam begonnen haben. Das ist eine Reform, die normalerweise keine große Diskussion erforderlich machen würde. Wir haben gemeinsam Verantwortung auch für die Verbesserung des Gesundheitswesens. Dieser Verantwortung sollten sich alle in diesem Hause stellen. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Aribert Wolf für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was machen Sie dann? Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Entgegen dem Eindruck, den der Kollege Pfaff zu erwecken versucht hat, erkennen auch wir, dass es Probleme und Fehlentwicklungen in der gesetzlichen Krankenversicherung gibt. Auch für uns ist es eine unstreitige Tatsache, dass es Fehlentwicklungen im Wettbewerb der Krankenkassen, insbesondere zwischen den großen Versorgerkassen und den Betriebskrankenkassen, gibt. Deswegen treten auch wir vehement für Korrekturen ein. Die Frage ist aber, ob mit dem Gesetz, das die rot-grüne Koalition heute zur Abstimmung vorgelegt hat, die gewünschten Korrekturen erreicht werden können oder nicht. Ich sage Ihnen: Sie werden mit Ihrem Gesetz keine Verbesserungen erreichen. Im Gegenteil: Sie werden mit Ihrem Gesetz, das Sie dank Ihrer Mehrheit heute verabschieden werden, noch größere finanzielle, organisatorische und qualitative Probleme im Gesundheitswesen heraufbeschwören, als Sie dies in den vergangenen Jahren ohnehin schon getan haben. ({0}) Herr Kollege Pfaff, das bestreiten Sie jetzt natürlich. Das Spiel kennen wir schon - denn Sie haben es schon öfter gespielt -: Sie verheißen der Bevölkerung eine wunderbare, heile Welt und schieben alle berechtigten Warnungen der Kritiker beiseite. Hinterher müssen Sie kleinlaut feststellen, dass die Kritiker Recht behalten haben. So wird es auch diesmal sein; denn dieses rot-grüne Gesetz hat einige schwere Geburts- und Konstruktionsfehler. Der gravierendste ist bereits Ihre Eingangsthese. Sie glauben, allein mit einer Reform des Risikostrukturausgleichs gleich zwei Probleme lösen zu können, nämlich - erstens - die Zahl der Versorgungs- und Qualitätsdefizite insbesondere bei der Versorgung chronisch Kranker reduzieren zu können und - zweitens - die Entsolidarisierungstendenzen - weg von den großen Versorgerkassen hin zu den so genannten virtuellen BKKs - in den Griff bekommen zu können. Fast alle Experten - das müssen Sie doch anerkennen - sind sich einig, dass die Ursachen für diese beiden Fehlentwicklungen eben nicht im Risikostrukturausgleich liegen. Die Ursache - das sage ich Ihnen - liegt vielmehr darin, dass Sie von der SPD sich seit der letzten Bundestagswahl von der ursprünglich gemeinsamen Linie von Lahnstein wegbewegt haben. 1992, als der Risikostrukturausgleich mit Ihrer Zustimmung eingeführt wurde, waren wir von CDU, CSU und FDP zusammen mit der SPD uns noch in drei Punkten einig: Erstens. Der Wettbewerb sollte eine zentrale Steuerungsfunktion im Gesundheitswesen übernehmen. Zweitens. Um den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zu ermöglichen - so sah es unser damaliges Gesetz vor -, sollte ein Finanzausgleich, also der Risikostrukturausgleich, zwischen den Krankenkassen geschaffen werden, damit der Beitragssatz einer Krankenkasse Ausdruck der Wirtschaftlichkeit und nicht das Ergebnis einer mehr oder weniger erfolgreichen Risikoselektion ist. Drittens. Es war bereits damals klar - auch das war gemeinsame Position -, dass sowohl der Wettbewerb als auch der Risikostrukturausgleich einige Zeit nach den ersten praktischen Erfahrungen weiterentwickelt werden muss und der Gesetzgeber neue Reformschritte auf den Weg bringen muss. Damals hat Herr Seehofer dem Sachverständigenrat einen entsprechenden Gutachterauftrag erteilt. Es sollte geprüft werden, wie der Risikostrukturausgleich weiterentwickelt werden kann. Dann aber haben Sie die Regierung übernommen. Von da an ging es eigentlich bergab. Sie wollten in der Gesundheitspolitik neue Wege gehen. Das haben Sie auch getan. Sie haben als Erstes die wettbewerbliche Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung, die von Horst Seehofer und der unionsgeführten Bundesregierung bereits beschlossen worden war und schon im Gesetzblatt stand - zugegeben, es war spärlich formuliert, weil damals Lafontaine durch seine Blockade im Bundesrat weiter gehende Maßnahmen schon im Vorfeld verhindert hat -, zurückgenommen. Als Zweites haben Sie den Gutachtenauftrag von Seehofer an den Sachverständigenrat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs zurückgenommen. Dann haben Sie gesehen, dass Sie nicht weiterkommen, und haben den Auftrag wieder auf den Weg gebracht. Auf diese Art und Weise haben Sie wertvolle Zeit verloren. Genau dieses Verhalten „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ war doch die Ursache dafür, dass wir Verwerfungen in der Risikostruktur und Versorgungsdefizite bei den deutschen Krankenkassen haben. Lesen Sie einmal nach - haben Sie doch die Kraft, jenseits des parteipolitischen Hickhacks und der parteipolitischen Auseinandersetzung -, was Ihre eigenen Gutachter, Sachverständigen und Experten, die Sie sogar selber beauftragt haben, zu diesem Problem schreiben. ({1}) - Sie haben es offensichtlich nicht gemacht, denn sonst hätten Sie gelesen, dass alle Experten in zwei Punkten übereinstimmen. Die Experten haben gesagt, die Erfahrungen seit der Einführung des Risikostrukturausgleichs hätten gezeigt, dass dieser seine Aufgaben grundsätzlich erfüllt habe. Als Zweites zitiere ich Ihren Gutachter, Professor Wasem: Das Ausgleichsinstrumentarium Risikostrukturausgleich darf nicht überfrachtet werden, zumal eine Reihe von Wettbewerbsproblemen erkennbar auf Ursachen zurückzuführen sind, die nicht unmittelbar mit dem Risikostrukturausgleich zu tun haben. ({2}) Wenn die Ursachen nicht im RSA liegen, wie kann es dann richtig sein, die Therapie beim RSA ansetzen zu wollen? ({3}) Genau das machen Sie falsch. ({4}) - Man merkt, wie Sie jetzt wieder zunehmend unruhig werden. ({5}) In Ihrer gesundheitspolitischen Hilflosigkeit vermischen Sie die unterschiedlichsten Dinge zu einer gefährlichen Mixtur, zu einem ausgesprochen komplizierten Gesetz. Ich sage Ihnen bereits heute: Sie werden damit sowohl die weitere Finanzentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung als auch eine qualitative Patientenversorgung nicht verbessern, sondern gefährden. Wie so oft steckt der Teufel im Detail. Mit Ihren so genannten Disease-Management-Programmen wollen Sie zu einer besseren Versorgung chronisch Kranker beitragen. Gegen dieses Ziel haben wir überhaupt nichts einzuwenden. Es ist richtig und wichtig, die mangelhafte Versorgung chronisch Kranker zu verbessern. Natürlich müssen wir auch die großen Volkskrankheiten gezielter bekämpfen, Herr Professor Pfaff. In diesem Punkt sind wir uns einig. Indem Sie Ihre Disease-Management-Programme - es gibt heute scheinbar nur noch englische Wörter für solche Maßnahmen - in den Risikostrukturausgleich einflechten und die Kassen mit Zahlungen aus dem Risikostrukturausgleich belohnen, gehen Sie einen sachlich und systematisch völlig verfehlten Weg, der Sie nicht an das gewünschte Ziel führen wird; das sagen Ihnen auch die Experten und große Teile der Krankenkassen. Der Risikostrukturausgleich ist so konstruiert, dass er dem Ausgleich unterschiedlicher Startbedingungen der Krankenkassen gilt, aber nicht einem Ausgabenausgleich das Wort reden darf. Wenn Sie solche Anreizstrukturen schaffen, indem Sie nicht dazu beitragen, eine bessere Versorgung chronisch Kranker zu erreichen, sondern umgekehrt dazu beitragen, dass die Krankenkassen nicht nur die Kosten für das Chronikerprogramm ausgeglichen erhalten, sondern alle anfallenden Leistungsausgaben für Versicherte, die einer solchen Disease-ManagementGruppe zugeordnet sind, erreichen Sie etwas ganz anderes: Sie bewirken damit, dass zum Beispiel auch der Skiunfall für einen Asthmatiker ausgeglichen wird, der aber mit Disease-Management und einer besseren Versorgung gar nichts zu tun hat. Auch kann der Zahnersatz für einen Diabetiker ausgeglichen werden. Außerdem nehmen Sie noch die Verwaltungskosten und sogar noch die Kosten von Dritten mit hinein. Damit gleichen Sie faktisch alle Kosten aus. Deswegen prophezeie ich Ihnen: Sie werden mit Ihrer Mehrheit dieses Gesetz durchsetzen, aber hinterher feststellen - ähnlich wie Sie das bei der Budgetierung im Arzneimittelbereich festgestellt haben -, dass Sie dramatische ausgabentreibende Maßnahmen auf den Weg gebracht haben. Auch die Techniker-Krankenkasse schätzt - also nicht wir von der Opposition, sondern die Betroffenen selbst -, dass die Etablierung und Verwaltung dieser Disease-Management-Programme zusätzliche Kosten in Höhe von 2,2 Milliarden DM verursachen werden; das sind keine Peanuts. Auch im Leistungsbereich kommen weitere Milliarden hinzu. Was das für den Wirtschaftsstandort Deutschland bedeutet, liegt wohl auf der Hand. Mit Ihrem Gesetz öffnen Sie Manipulationen Tür und Tor. Da den Krankenkassen in den Disease-ManagementProgrammen alle Kosten ausgeglichen werden, wird jede Krankenkasse versuchen, ihre teuren Versicherten möglichst schnell in solche Programme hineinzupressen und damit diese Programme aufzublähen. Dies wiederum wird dazu führen, dass die Versorgungsqualität bei Versicherten, die nicht in solche Programme kommen, hintangestellt wird. ({6}) - Das werden Sie erleben. Natürlich sagen Sie heute, das sei ein Witz. Entsprechendes haben Sie auf berechtigte Kritik gegenüber früheren Reformgesetzen auch schon gesagt. Sie haben aber feststellen müssen, dass die Probleme, die wir aufgezeigt haben, hinterher traurige Wirklichkeit geworden sind. Sie haben zum Beispiel auch keine Vorkehrung dafür getroffen, dass Versicherte sogar in mehreren DiseaseManagement-Programmen sind. Eine Krankenkasse kann ja da auch manipulieren. Sie werden also keine Verbesserung für die Patienten erreichen, sondern werden lediglich die Kosten in die Höhe treiben und Sie werden der Subventionsmentalität der Krankenkassen, darauf zu schauen, möglichst viel Geld von einer jeweils anderen Kasse zu bekommen, Vorschub leisten. Der Risikostrukturausgleich hat bereits ein riesiges Finanzvolumen, das um 8 Milliarden DM höher ist als das Volumen des Länderfinanzausgleichs. Ich prophezeie Ihnen: Sie werden erleben, dass das von derzeit 26 Milliarden DM jährlich auf bis zu 50 Milliarden DM steigen wird. Das können Sie erkennen - das sage ich Ihnen, wenn Sie jetzt auch lächeln -, wenn Sie sich vor Augen führen, dass allein die sieben häufigsten chronischen Krankheiten in Deutschland heute mehr als 50 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen verursachen. Natürlich haben auch Sie gemerkt, dass es wegen der Manipulationsmöglichkeiten Probleme geben wird. Deswegen sind Sie auf die glorreiche Idee gekommen, dass das Bundesversicherungsamt das alles kontrollieren und überprüfen soll. Alle Experten wissen, dass dies nicht funktionieren wird. Aber Sie haben keine Skrupel, hier ein bürokratisches Monster zu schaffen, mit dem Sie sich von dem eigentlichen Ziel, nämlich weniger Bürokratie im Gesundheitswesen und mehr Aufmerksamkeit für die Patienten, verabschieden. Mit diesem Gesetz werden Sie wieder einmal Missbrauch Tür und Tor öffnen. Mit Ihren stümperhaften Einzelmaßnahmen stolpern Sie hier wieder einmal von einem Problem ins nächste. Sie haben niemals den Mut, eine umfassende und tief greifende Reform anzupacken. Dahin kommen Sie erst dann, wenn Sie wieder bereit sind, zu gemeinsamen Wurzeln zurückzukehren. Ich kann hier nur an Sie appellieren: Haben Sie den Mut dazu und lassen Sie uns miteinander an einer wirklich umfassenden und tief greifenden Gesundheitsreform arbeiten, damit unser Gesundheitswesen wieder auf einen erfolgreichen Weg gebracht werden kann! Durch Ihre Einzelmaßnahmen wird nichts verbessert, im Gegenteil: Diese kosten nur Zeit und Geld und werden für die Patienten keine Verbesserung mit sich bringen, sondern nur die Bürokratie aufblähen. Ich bedanke mich.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Detlef Parr.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Pfaff, Sie haben zu Recht gesagt, wir berieten hier ein Gesetz, das uns alle angehe. ({0}) Lassen Sie mich mit der Formulierung meines Unmutes beginnen. Es ist ein schlechter Stil, wenn man ein solches Thema, das heißt ein milliardenschweres Steuerungsinstrument, das Millionen von Versicherten betrifft, an einem Freitagnachmittag mit einer Beratungszeit von 30 Minuten hier debattiert. ({1}) Vielleicht gibt es ja gute Gründe dafür, bei diesem Thema für den Ausschluss der Öffentlichkeit zu sorgen, nämlich weil der vorliegende Gesetzentwurf voller Mängel steckt. Herr Kollege Pfaff, Sie haben den Weg von Lahnstein bis heute beschrieben. ({2}) Sie haben das Problem, dass Sie seit 1998 einen Irrweg nach dem anderen beschreiten. ({3}) Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Ergebnis von Überbürokratisierung und Überregulierung, wie sie überall im Gesundheitssystem beklagt werden. Alles Gerede von dem in der GKV angeblich gewollten Wettbewerb wird damit ad absurdum geführt. Wer Wettbewerb wirklich will, der muss Vielfalt zulassen. ({4}) Er muss Konkurrenz nicht nur ertragen, sondern auch als Methode zur Findung effizienter Lösungen begreifen. Davon ist die Politik dieser Bundesregierung nach wie vor weit entfernt. Schon längst geht es nicht mehr darum, vernünftige, sich selbst tragende Strukturen zu schaffen; vielmehr wird je nach Bedarf der einen Krankenkasse etwas weggenommen und die andere erhält etwas dazu. Das Nachsehen haben letztendlich die Versicherten. ({5}) Denen wird nämlich nach und nach jede Möglichkeit genommen, sich für eine preiswerte Krankenkasse zu entscheiden, weil sich die Beiträge immer mehr annähern. Damit wird den Versicherten auch die Möglichkeit genommen, Geld zu sparen, das sie lieber in anderen Bereichen, zum Beispiel auch in solchen des Gesundheitswesens, ausgeben wollen. Dieser Gesetzentwurf gleicht einem Arbeitsbeschaffungsprogramm für die wenigen, die den immer komplizierter werdenden Risikostrukturausgleich wirklich durchschauen. Nur die Findigen werden Interpretationsspielräume und Regelungslücken zum Füllen der eigenen Konten nutzen. Ein fairer Wettbewerb rückt in weite Ferne. Auch wir, Herr Professor Pfaff, halten die Disease-Management-Programme für erprobenswert. Das ist überhaupt kein Thema. Sie haben die Durchführung dieser Programme zu Recht als einen Weg beschrieben, den man gehen kann. Aber die Koppelung dieser Programme mit dem Risikostrukturausgleich ist der falsche Weg. Diese Koppelung wird einen massiven bürokratischen Aufwand mit sich bringen. ({6}) - Frau Schmidt-Zadel, wir haben dazu eine Anfrage gestellt. Die Antwort, in der mitgeteilt wird, wie hoch die zusätzlichen Personalkosten sind und wie dieses Instrument zu handhaben ist, liegt auf dem Tisch. Es ist nicht praktikabel. Man kann schon unterstellen, dass die rot-grüne Koalition tatsächlich etwas zur Verbesserung der Versorgung der chronisch Kranken tun will. Das sollte man durchaus konzedieren. Allerdings wird die konkrete Politik dieser Regierung dazu nicht beitragen. Trotz all des Aufwandes wird das System nicht einmal gerechter; stattdessen kommt es lediglich zu einer Verschiebung von Ungerechtigkeiten. Für die Krankenkassen bleibt es von Vorteil, gesunde Versicherte aufzunehmen, chronisch Kranke aufzunehmen, die möglichst geringe Kosten verursachen, und bei akut Kranken dafür zu sorgen, dass sie über die Grenze des Risikopools hinauskommen. Was bleibt einer Krankenkasse anderes übrig, als den Ärzten Geld in die Hand zu drücken, mit dem Ziel, dass sich ihre Patienten in Disease-Management-Programme einschreiben, weil die Krankenkasse ansonsten deutliche Verluste einfährt? Ist das das System der Zukunft, das wir wollen? Sicher nicht! ({7}) Krankenkassen mit niedrigen Beitragssätzen werden systematisch zu Beitragssatzsteigerungen gezwungen. Das werden die Versicherten zu Beginn des Wahljahres 2002 sehr deutlich spüren. ({8}) Damit verlieren die Versicherten preisgünstige Alternativen. Wir sind mit dieser Politik auf dem Weg in eine Einheitsversicherung, Frau Schmidt-Zadel. ({9}) Nicht Ausbau, sondern Abbau des Risikostrukturausgleichs ist angesagt. In der Anfangssituation des Kassenwettbewerbs war der Risikostrukturausgleich erforderlich. Herr Kirschner, darin sind wir völlig einig. Die Startchancen der Krankenkassen waren ungleich. Aber irgendwann - das muss man in aller Klarheit sagen - muss damit Schluss sein, dass ein immer größeres Volumen unter immer komplizierter werdenden Umständen umverteilt wird. Einige Krankenkassen müssen bereits jetzt spürbar mehr als die Hälfte ihrer Beitragseinnahmen zur Subventionierung anderer Kassen, ihrer Mitbewerber, abführen. Stellen Sie sich einmal vor, BMW müsste von jeder verdienten Mark 50 Pfennig an Daimler-Chrysler abführen. Das hielte jeder für völlig absurd. Nur bei Krankenkassen ist das Realität. ({10}) Wahlfreiheit und Kontrahierungszwang schützen alle Versicherten. Niemand ist gezwungen, bei einer Krankenkasse mit einem höheren Beitragssatz versichert zu bleiben. Niemand ist gehindert, sich schlau zu machen, wo es günstiger geht. Das gilt auch - das muss man immer wieder betonen - für die schwer und chronisch Kranken. Wir wollten im Rahmen der Haushaltsberatungen ein Informationsprogramm auflegen, durch das die chronisch Kranken über die für sie vorhandenen Möglichkeiten informiert werden. Sie haben das abgelehnt. ({11}) Es ist und bleibt wichtig: Weg mit überzogenen staatlichen Reglementierungen und mit Fremdbestimmung freie Fahrt für mehr statt für immer weniger Wettbewerb. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein- gebrachten Gesetzentwurf zur Reform des Risikostruktur- ausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung, Drucksachen 14/6432 und 14/7355. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- fehlung in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundes- regierung auf Drucksache 14/5681, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit, in Kenntnis der genannten Un- terrichtung den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksachen 14/7123 und 14/7168, zur Reform des Risi- kostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversi- cherung für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Unternehmensteuerrechts ({0}) - Drucksachen 14/6882, 14/7084 ({1}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksachen 14/7343, 14/7344 - Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Schultz Carl-Ludwig Thiele bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/7385 - Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Hans Georg Wagner Oswald Metzger Jürgen Koppelin Dr. Uwe-Jens Rössel b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz-Georg Seiffert, Norbert Barthle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Mehr Wirtschaftswachstum durch mehr Ge- rechtigkeit im Unternehmensteuerrecht - Drucksachen 14/6887, 14/7351 - Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Schultz c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften ({5}) - Drucksache 14/6877 ({6}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7}) - Drucksachen 14/7340, 14/7341 - Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Binding Elke Wülfing Heidemarie Ehlert b) Bericht des Haushaltsausschusses ({8}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/7377 - Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Hans Georg Wagner Oswald Metzger Jürgen Koppelin Dr. Uwe-Jens Rössel Zu dem Gesetzentwurf zur Änderung steuerlicher Vor- schriften liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor. Die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Schultz, Elke Wülfing, Christine Scheel, Gerhard Schüßler und Barbara Höll sowie die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) - Ich höre keinen Widerspruch. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortent- wicklung des Unternehmensteuerrechts, Drucksachen 14/6882, 14/7084 und 14/7343. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- ter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/7351 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Mehr Wirtschaftswachstum durch mehr Gerechtigkeit im Unternehmensteuerrecht“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6887 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP-Frak- tion angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 9 rung steuerlicher Vorschriften, Drucksachen 14/6877 und 14/7340. Der Finanzausschuss empfiehlt, den Ge- setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Ände- rungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7363? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Frak- tion abgelehnt. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über rechtliche Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr ({9}) - Drucksache 14/6098 ({10}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({11}) - Drucksache 14/7345 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Martina Krogmann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Heil, Dr. Ditmar Staffelt, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Margareta Wolf ({13}), Grietje Bettin, Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Deutschlands Wirtschaft in der Informations- gesellschaft - Drucksachen 14/5246, 14/5974 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Martina Krogmann Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Die Kolleginnen und Kollegen Hubertus Heil, Dr. Martina Krogmann, Andrea Fischer, Rainer Funke und Ulla Lötzer sowie der Parlamentarische Staatssekre- tär Siegmar Mosdorf haben ihre Reden zu Protokoll ge- geben.1) - Auch darüber herrscht Begeisterung im Saale. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über rechtliche Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr, Drucksachen 14/6098 und 14/7345. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7370 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung, auf dass wir nicht aus der Übung kommen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen. Wir kommen jetzt noch zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/5974 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Deutschlands Wirtschaft in der Informationsgesellschaft“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5246 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 sowie die Zusatzpunkte 15 bis 17 auf: 31. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von Übergangsregelungen im Bundessozialhilfegesetz - Drucksache 14/7280 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({14}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 15 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 10 Fördern und Fordern - Sozialhilfe modern gestalten - Drucksache 14/7293 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({15}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Maier, Dr. Klaus Grehn, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Eine Grundsicherung in die Arbeitslosenversicherung einführen - Drucksache 14/7294 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({16}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Maier, Dr. Barbara Höll, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Die Sozialhilfe armutsfest gestalten - Drucksache 14/7298 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({17}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Kolleginnen und Kollegen Brigitte Lange, Wolfgang Meckelburg, Ekin Deligöz, Dr. Heinrich Kolb und Pia Maier sowie die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike Mascher haben ihre Reden ebenfalls zu Protokoll gegeben.1) - Auch hier kein Widerspruch. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 14/7280 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Finanzausschuss zu überweisen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 14/7293, 14/7294 und 14/7298 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Es gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Deshalb rufe ich jetzt den Tagesordnungspunkt 32 - ich glaube, das ist der letzte - auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Antrag der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Eva BullingSchröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Arbeitsplatzabbau bei Förderung von Produktionsverlagerungen ausschließen - Drucksachen 14/5248, 14/6618 Berichterstattung: Abgeordnete Jelena Hoffmann ({18}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Zur allgemeinen Beruhigung im Hause: Die Kollegin- nen und Kollegen Jelena Hoffmann, Ulrich Klinkert, Werner Schulz und Jürgen Türk haben ihre Reden bereits zu Protokoll gegeben.2) Ich eröffne aber jetzt die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Gerhard Jüttemann für die PDS-Fraktion. Danach gibt es noch eine Abstimmung. ({19})

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mir im Vorfeld dieser Debatte noch einmal die Reden aus der ersten Lesung angeschaut. Danach müsste es eigentlich für unseren Antrag ziemlich gut aussehen; denn sachliche Argumente gegen ihn sind nicht vorgetragen worden. Der Kollege Röspel aus Hagen fand unsere Forderungen sogar „an sich sympathisch“. Sie ärgerten ihn aber trotzdem, weil sie angeblich „falsche Hoffnungen“ weckten. Das Lohnniveau im Osten sei „nun einmal niedriger als im Westen“. Auch die SPD bedauere das; aber es sei eben so. - Ich bitte Sie, was ist das für ein Argument? Erstens wecken wir keine „falschen Hoffnungen“, sondern sagen, wie es gehen könnte. ({0}) Zweitens ist das im Osten geringere Lohnniveau das Ergebnis Ihrer Politik und der Politik Ihrer Vorgängerregierung. ({1}) Sie weigern sich bis heute, ein Zeichen dafür zu setzen, dass Sie das ändern wollen. Kollege Werner Schulz findet unsere Vorschläge „moralisch hoch integer“, aber weder praktikabel noch sinnvoll. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit soll also weder praktikabel noch sinnvoll sein. ({2}) Nicht ohne Komik war die Bemerkung des Kollegen Goldmann von der FDP. Er fand unseren Antrag „skandalös“, ({3}) und zwar im Vergleich zu dem Anspruch, den die PDS als sozialistische Partei ansonsten erhebe, ({4}) Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 11 2) Anlage 12 indem sie „sich für die Menschen bzw. für die Schaffung von Arbeitsplätzen“ einsetze. - Wofür wir uns einsetzen, das hat er schon einmal gut verstanden. ({5}) Nun muss die FDP nur noch den hier zur Debatte stehenden Antrag in dieses Anliegen einordnen. Dabei will ich Ihnen gerne helfen. Denn mit seiner Ablehnung können Sie zwar die Interessen der FDP vertreten; die besseren Sozialisten können Sie damit aber nicht werden, ({6}) weil die Interessen der FDP und die vieler Menschen mitunter voneinander abweichen. ({7}) Ich will Ihnen den Antrag und sein Anliegen also noch einmal erläutern. ({8}) Wir wollen erstens, dass keine staatlichen Subventionen fließen, wenn bei Produktionsverlagerungen am alten Standort mehr Arbeitsplätze abgebaut als am neuen geschaffen werden. ({9}) Wir wollen zweitens, dass die Ausnutzung ungleicher Arbeitsbedingungen in Ost und West nicht mehr staatlich subventioniert wird. Sonst vergrößert sich die Kluft zwischen Ost und West. Wir wollen drittens, dass das Ausspielen entgegengesetzter Arbeitsplatzinteressen in West- und Ostdeutschland nicht länger mit staatlichen Geldern gestützt wird, ({10}) weil das zu einer Entsolidarisierung von Arbeitnehmern in Ost und West führt. Wir wollen schließlich, dass in der Vergangenheit erkämpfte soziale Standards nicht heute mit Unterstützung staatlicher Gelder wieder abgesenkt werden - und zwar in Ost und West. Diesen Argumenten haben Sie nun nichts anderes entgegenzusetzen, als dass den Leuten im Osten der Spatz in der Hand doch wohl lieber sei als die Taube auf dem Dach. Im Herbst 1989 hatte im Osten kaum einer angenommen, dass es künftig darum gehen würde, im so genannten goldenen Westen den Spatzen in der Hand festzuhalten, und dass sich die Politik strikt weigern würde, einen Fahrplan für die Angleichung der Lebensverhältnisse vorzulegen. Stattdessen werden den Ostdeutschen nun schon Minustarifrunden angekündigt. Die Regierung aber veröffentlicht einen Schönwetterbericht zum Stand der deutschen Einheit, der nicht einmal das Papier wert ist, auf dem er gedruckt ist, ({11}) weil er auf jede wissenschaftliche Analyse der tatsächlichen Situation von vornherein verzichtet. Am gleichen Tag, an dem die Bundesregierung diesen Bericht vorgelegt hat, erfuhren wir vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle, dass die ostdeutsche Wirtschaft im ersten Halbjahr erstmals seit der Vereinigung real um 0,6 Prozent geschrumpft ist. Seit 1997 vergrößert sich nun schon der Abstand zwischen Ost- und Westdeutschland in den wichtigsten wirtschaftlichen Parametern. Für Sie ist das offensichtlich kein Grund zum Alarm - für uns schon. Der vorliegende Antrag wendet sich natürlich nur einem spezifischen Problem zu und kann das Übergeordnete nicht lösen. Aber er kann sehr gut dazu beitragen, ganz im Gegensatz zu Ihren billigen Populismusvorwürfen als Ersatz von Argumentation. Sie sollten sich einmal einen Ruck geben! Ich glaube, das wäre früher auch in Ihrem Interesse gewesen. ({12}) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich wünsche allen ein schönes Wochenende. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder auf Drucksache 14/6618 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Arbeitsplatzabbau bei Förderung von Produktionsverlagerungen ausschließen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5248 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Beratungen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. November 2001, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.