Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/19/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Rede des Kollegen Gilges war nach dem Grundmuster gebaut: 16 Jahre schreckliche Zeiten in Deutschland; ({0}) jetzt endlich passiert etwas. ({1}) Sie war an Selbstlob nicht mehr zu überbieten. ({2}) Meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich möchte Sie höflich daran erinnern, ({3}) dass Sie seit drei Jahren die Bundesregierung stellen. ({4}) Drei Jahre nach Amtsantritt Ihrer Regierung ist es mit dem Selbstlob vorbei. ({5}) Das Negativzeugnis über Ihr konkretes sozialpolitisches Handeln muss Ihnen gar nicht die Opposition ausstellen; es wurde Ihnen vielmehr kürzlich schon von der Europäischen Union ausgestellt. ({6}) Wir beraten heute nicht nur den Armuts- und Reichtumsbericht - ein Bericht, der sich gut liest -, sondern wir beraten auch den so genannten Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, den alle EU-Mitgliedstaaten vorzulegen haben ({7}) und in dem sie darzustellen haben, was sie konkret tun. Diesbezüglich bescheinigt die EU-Kommission den Niederlanden, Dänemark und Frankreich gute strategische Ansätze; Deutschland dagegen befindet sich im unteren Drittel. In der Arbeitsmarktpolitik und bei der Armutsbekämpfung schneidet Deutschland besonders schlecht ab. - So das Urteil der EU-Kommission. ({8}) - Frau Kollegin, es ist das Urteil über den von Ihrer Regierung vorgelegten Nationalen Aktionsplan. Das ist die Note, die Sie bekommen haben. ({9}) Herr Kollege Gilges hat versucht, den berühmten Streit fortzuführen, wer arm sei. Früher war das vielleicht einmal so üblich. Damals meinten die Vertreter von RotGrün, mit uns von CDU/CSU einen Streit darüber führen zu müssen, an welchem Punkt Armut beginne, ob jemand, der Sozialhilfe bezieht, arm sei oder ob die Sozialhilfe vor dem Absinken in die Armut bewahre. Betrachte ich Ihre ganz konkrete Politik in Sachen Sozialhilfe, dann bleibt mir als Resümee nur folgende Feststellung: Nach Auffassung von Rot-Grün scheinen Sozialhilfeempfänger zu üppig bedacht zu werden. ({10}) Sehen Sie sich doch einmal an, was Sie gemacht haben: Wir hatten im letzten Jahr eine Inflationsrate von 1,9 Prozent; Sie haben die Sozialhilfe um 0,6 Prozent erhöht. Wir haben in diesem Jahr einen Spitzenwert der Inflationsrate von 3,5 Prozent; ({11}) Sie haben die Sozialhilfe um 1,9 Prozent erhöht. ({12}) Das ist also ein reales Minus für die Sozialhilfeempfänger. Offensichtlich bekommen sie nach Ihrer Auffassung zu viel. ({13}) Der Grund dafür ist: 1996 haben wir eine auf zwei Jahre befristete Übergangsregelung in das BSHG eingeführt, nach der die Regelsätze der Sozialhilfe entsprechend den Rentenerhöhungen steigen sollen. Dann sind Sie an die Regierung gekommen und haben eine Verschnaufpause eingelegt, um nachzudenken. Sie haben diese Regelung um zwei Jahre verlängert und Veränderungen im Anschluss daran angekündigt. - Von wegen! Am Mittwoch hat das Bundeskabinett beschlossen, erneut eine Verlängerung dieser Übergangsfrist - jetzt bis zum Jahr 2004 - zu beantragen. ({14}) Konrad Gilges Wir hätten nie gewagt, so etwas zu machen. Bis ins Jahr 2004 wollen Sie an der Regelung festhalten. ({15}) Man wundert sich über die Sozialhilfedebatte bei RotGrün. Im Sommerloch hat ein Bundesminister - er hat sowieso keine Lust mehr auf seinen Job; ich meine Rudolf Scharping ({16}) plötzlich entdeckt, dass die Aufgaben des Arbeits- und Sozialministers etwas Passendes für ihn wären. Er hat deshalb Vorschläge zum Thema Sozialhilfereform öffentlich publiziert. Auch das scheint bei Ihnen alles vergessen zu sein. Nichts zu tun ist die neue Devise von Rot-Grün. ({17}) Das ist schon keine Politik der ruhigen Hand mehr, sondern das ist schlichtweg eine Politik der eingeschlafenen Füße. ({18}) Was zu tun ist, um Armut und Ausgrenzung wirklich und wirksam zu bekämpfen, liegt eigentlich auf der Hand: Arbeit muss sich für jeden wieder lohnen. Arbeit ist der beste Schutz gegen Verarmung und soziale Ausgrenzung. ({19}) Jedem arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger muss daher eine Tätigkeit angeboten werden. Wer als Sozialhilfeempfänger eine Arbeit annimmt - sei sie im gemeinnützigen Bereich, sei sie im Niedriglohnbereich oder nur auf Teilzeitbasis -, für den muss sich das finanziell lohnen. ({20}) Deshalb bedarf es eines bundesweiten, flächendeckenden Systems von Anreizen zur Arbeitsaufnahme im Niedriglohnbereich - je nach Bedarf in Form von Kombilöhnen, Einstiegsgeldern oder degressiv gestaffelten Zuschüssen zu den Sozialversicherungsbeiträgen. ({21}) Was machen Sie von Rot-Grün? - Sie führen Experimentierklauseln ein und doktern in lokal begrenzten Experimenten herum. Aber Sie entscheiden nichts und wollen nichts voranbringen. Bemerkenswert ist immerhin, dass angesichts der dramatischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt der Bundesarbeitsminister - zumindest verbal - mittlerweile umgefallen ist. Ich darf die „Berliner Zeitung“ von letzter Woche zitieren: Angesichts der Stagnation auf dem Arbeitsmarkt will die Bundesregierung mehr Anreize für Sozialhilfeempfänger schaffen, einen Niedriglohnjob anzunehmen. Entgegen seiner bisherigen Linie ist Bundesarbeitsminister Walter Riester nun offenbar doch bereit, Geringverdienern die Sozialbeiträge teilweise zu erstatten und deren Nettoeinkommen aufzubessern. Noch vor wenigen Wochen hatten Riester und Sozialpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion entsprechende Forderungen der Grünen strikt abgelehnt. Das ist doch bemerkenswert. Es scheint mittlerweile ein Nachdenken bei Rot-Grün um sich zu greifen. ({22}) Wenn die neuesten Ankündigungen von Walter Riester nicht nur Schall und Rauch sein sollen, dann machen Sie jetzt - Sie regieren doch - Nägel mit Köpfen. Wir werden seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in den kommenden Wochen einen Antrag zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe einbringen, der auf die Aktivierung der Beschäftigungspotenziale im Niedriglohnbereich abzielt. Unser Angebot an Sie ist: Machen Sie dabei mit! ({23}) Der zweite wesentliche Punkt ist: Kinder dürfen kein Sozialhilferisiko mehr sein. Wir wollen die Kinder aus der Sozialhilfe herausholen. Mit dem Vorschlag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für ein Familiengeld haben wir, wie ich finde, den einzig richtigen und konsequenten Weg gewiesen; ({24}) denn mit der Einführung eines einheitlichen Familiengeldes wird die Familienförderung wirkungsvoller, transparenter und einfacher als bisher gestaltet. Chancengerechtigkeit für jedes Kind wird Realität. ({25}) Die Anerkennung der Erziehungs- und Betreuungsleistungen, die durch Erziehungsgeld, Kindergeld und Steuerfreibeträge bislang finanziell unterschiedlich ausfällt, soll durch das neue Erziehungsgeld künftig für alle gleich sein. Keine Familie soll mehr deshalb, weil sie die Kosten für ihre Kinder nicht alleine aufbringen kann, auf Sozialhilfe zum Lebensunterhalt angewiesen sein. Das nennen wir ein menschenwürdiges Leben. ({26}) Zusätzlich würde durch das neue Familiengeld erreicht, dass sich auch für den Sozialhilfeempfänger mit Kindern eine Erwerbstätigkeit wieder lohnt, weil das Peter Weiß ({27}) Lohnabstandsgebot besser realisiert wird. Menschen aus der Sozialhilfe herauszuholen und Eigenverantwortung zu ermöglichen gibt Eltern und Kindern eine neue Lebensperspektive. Ebenso werden neue finanzielle Spielräume für Kommunen geschaffen, um Kinderbetreuungsangebote auszubauen und neue Reformmöglichkeiten für die Sozialhilfe zu eröffnen. Der Kollege Gilges meinte, sich auch zu der Frage äußern zu müssen, ob wir es ertragen können, dass es in Deutschland Arme gibt. Herr Kollege Gilges, ich habe in den letzten Wochen den Eindruck gewonnen, dass das Ihnen nicht mehr so recht ist. ({28}) Viele Arme in unserem Land treffen Sie zum Beispiel in Bahnhofsmissionen an. Dass ausgerechnet der von Ihnen ins Amt gesetzte und unterstützte Herr Mehdorn die armen Leute aus den Bahnhofsmissionen vertreiben will, damit er sie nicht mehr sehen muss, halte ich für einen Skandal. ({29}) - Von wessen Regierung ist er denn bestellt worden? ({30}) - Herr Kollege Gilges, wir wissen aber auch, wer Herrn Mehdorn ins Amt gehoben hat und ihm bis zum heutigen Tag die Stange hält, obwohl er viel Unsinniges tut und die Bahn nicht in der richtigen Weise reformiert. ({31}) Der Nicht-mehr-gerne-Verteidigungsminister und verhinderte Sozialminister Rudolf Scharping hat im Sommer erklärt: ({32}) Auf der Grundlage unserer Grundwerte streben wir eine starke Verbindung an zwischen nachhaltigem Wirtschaften und sozialer Verantwortung. Das bedeutet Chancen und Hilfen organisieren, Menschen aktivieren und Entscheidungen treffen. Der Staat sollte Abschied nehmen vom bloßen Verwalten von Lebensschicksalen. ({33}) Ein schöner Satz, den ich Ihnen von Rot-Grün ins Stammbuch schreiben möchte. Denn einfach nur schöne Reden über diesen Armuts- und Reichtumsbericht zu halten, aber nichts Konkretes zu tun ({34}) und alle Entscheidungen auf möglichst weit nach der Bundestagswahl zu verschieben, das ist keine Antwort auf Ihren Bericht, sondern Sie stecken den Kopf in den Sand angesichts der Notwendigkeiten, vor denen wir heute stehen. ({35}) Vielen Dank. ({36})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ekin Deligöz von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Kollege Herr Weiß hat sich wieder einmal im Kreis gedreht und er ist sich dessen gar nicht bewusst. Er hat hier einen Bericht angesprochen, der sich auf den Zeitraum bis 1998 bezieht, hat ihn kritisiert und uns zur Last gelegt. Herr Kollege Weiß, Sie können sich selbst gerne kritisieren; dagegen haben wir gar nichts. Aber wir möchten nach vorne schauen, weitermachen und nicht stehen bleiben. ({0}) Ich möchte einen Ausspruch aus der letzten Woche hinzufügen. Als die CDU/CSU-Fraktion ihr Familienkonzept vorgestellt hat, das Kosten in Höhe von 50 Milliarden DM verursachen würde, hat Herr Merz - er sitzt ja hier - gesagt, auch er müsse zugeben, in der vergangenen Regierung Fehler in diesem Bereich gemacht und Defizite in der Familienpolitik vorzuweisen zu haben. ({1}) Das habe ich noch genau im Kopf, Herr Merz; Sie können es mir bestätigen oder widersprechen. Aber das ist die Realität und da stimmen wir Ihnen zu. ({2}) Der Erste Armuts- und Reichtumsbericht dieser Regierung hat für die künftige Planung unserer Politik verschiedene Fragen beantwortet. Dazu gehören die Fragen: Wie schaut es mit Wohlstand in diesem Land aus? Wie schaut es mit Reichtum in diesem Land aus? Wie schaut es mit Armut in diesem Land aus? Es ging um Teilhabegerechtigkeit, um Chancengerechtigkeit, um die Entwicklung dieser Gesellschaft in den verschiedenen Bereichen. Diesen Berichtsprozess haben kritische Wissenschaftler und Verbände begleitet und mit verantwortet. Sie alle waren auch deshalb beteiligt, damit wir schon jetzt ein möglichst transparentes System haben und keine Ergebnisse verfälschen. Wir wissen noch aus dem Zehnten Kinderund Jugendbericht, wie ein solches Berichtsverfahren ablaufen kann. Genau jene Fehler wollten wir nicht machen. Deshalb haben wir diesen Prozess so offen gestaltet. Daraus leiten wir jetzt Folgeprojekte ab. Dazu gehört, dass dieser Bericht regelmäßig jeweils zur Hälfte der Legislaturperiode fortgesetzt wird, damit wir einen Vergleich anstellen können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass, Peter Weiß ({3}) wenn wir in vier Jahren, in der Mitte der nächsten Legislaturperiode, einen Vergleich anstellen, auch für Sie offensichtlich sein wird, dass schon jetzt eine Trendwende in der Armutspolitik eingesetzt hat. Deren Ergebnisse werden wir in vier Jahren gerne auf unsere Kappe nehmen. ({4}) Für die Zukunft haben wir ein Verfahren vereinbart, das mehr Transparenz und mehr Offenheit ermöglicht und durch das man die Ergebnisse nachprüfen kann. Dazu gehört, dass zeitgleich mit dem Bericht die zugrunde liegenden Gutachten veröffentlicht werden. Das muss unbedingt geschehen, damit Sie die Ergebnisse, die wir vorlegen, jederzeit nachprüfen können und damit sich keine Regierung durch diese Ergebnisse besser stellen kann. Ich möchte jetzt einen Blick auf die Inhalte des Berichts lenken, die uns durchaus Anlass zur Sorge geben. Eines ist ziemlich deutlich geworden: In diesem Land gibt es Reichtum, konzentriert auf wenige Personen, es gibt eine Mittelschicht, aber es gibt auch Armut. Der Lebensstandard von Familien, das heißt von Partnern mit Kindern, liegt 30 Prozent niedriger als bei kinderlosen Partnerschaften. Diese Armut hat viele Ursachen, die übrigens nicht erst in den letzten zwei Jahren entstanden sind, sondern deren Entstehung schon länger zurückliegt. Ein Grund dafür ist die schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von Beruf und Kindererziehung. Das haben wir nicht unserem Weltbild und unseren Einstellungen zu verdanken, sondern dem konservativen Weltbild, zu dem es gehört, dass Frauen, die Kinder kriegen, zu Hause bleiben und möglichst nicht am Arbeitsmarkt teilhaben. ({5}) Dieser Bericht zeigt aber auch, dass es in den letzten zwei Jahren zu einer Trendwende gekommen ist. Aus dem Schaubild auf Seite 156 ist zu ersehen, dass die wichtigste Familienförderung das Kindergeld ist und bleibt. Gerade beim Kindergeld haben wir angesetzt und haben es erhöht. ({6}) - Herr Niebel, wenn Sie unbedingt reden wollen, dann stellen Sie eine Frage, dann verlängert sich nämlich meine Redezeit. Sonst halten Sie Ihre Schnauze. - Am 1. Januar des kommenden Jahres wird die Höhe des Kindergeldes bei 300 DM liegen. Diese Höhe geht eindeutig auf die rotgrüne Koalition zurück. ({7}) Fangen wir bei der Kindergelderhöhung auf 220 DM an. Ich kann mich gut daran erinnern, dass diese Höhe nur deshalb zustande gekommen ist, weil die alte Bundesregierung ihren Haushalt im Bundesrat mit den Stimmen von Rot-Grün durchsetzen musste. Im Gegenzug musste sie das Kindergeld auf 220 DM erhöhen. Auch die restliche Erhöhung hat Rot-Grün zustande gebracht. Und dann stehen Sie hier auf und sagen, Sie hätten das Kindergeld eingeführt. Lesen Sie erst einmal nach, was wirklich passiert ist. ({8}) Eine überzeugende Politik zur Bekämpfung von Armut muss gleichzeitig an verschiedenen Stellen ansetzen. Dazu gehört - das ist ganz wichtig - die Kinderbetreuung in diesem Land. Wenn wir unser Kindererbetreuungssystem - ich spreche insbesondere Bayern an, das das Recht auf einen Kindergartenplatz nach wie vor nicht anerkennt und das sich nach wie vor aus dieser Angelegenheit heraushält - in Deutschland mit dem vergleichen, was in den Nachbarländern wie zum Beispiel in Frankreich gemacht wird, dann muss man feststellen, dass Deutschland noch ein Entwicklungsland ist. Ich spreche nun Bemühungen bei der Gestaltung der Berufswelt an. Wir haben ganz bewusst das Recht auf Teilzeitarbeit eingeführt, damit Eltern die Wahl bleibt, zeitweise bei ihren Kindern zu bleiben und Zeit für die Familie zu haben und trotzdem an der Berufswelt teilzunehmen, um nicht in die Spirale der Arbeitslosigkeit hineinzufallen. Auch das geht auf das Konto von Rot-Grün. Was wir brauchen, ist eine Kultur der Teilzeitarbeit auch in der Berufsausbildung und in den Führungspositionen. Zur konkreten Armutsbekämpfung braucht man, wie wir meinen, Visionen, darüber hinaus aber auch konkrete Projekte, die realistisch und kurzfristig umsetzbar sind. Deshalb schlägt meine Fraktion die Kindergrundsicherung vor als ein Modell, als eine konkrete bedarfsorientierte Maßnahme zur Bekämpfung von Kinderarmut in diesem Land. Dieses Konzept setzt zielorientiert an, holt Familien aus der Sozialhilfe heraus, ist unbürokratisch und schafft Anreize zur Arbeitsaufnahme. ({9}) - Ich verstehe leider Ihre Zurufe nicht. Sie müssen ein bisschen lauter schreien, dann könnte ich sie verstehen und würde darauf reagieren. ({10}) Wir schlagen diese Maßnahme vor, weil es wichtig ist, gerade in diesem Bereich einzugreifen. Denn 56 Prozent der Sozialhilfeempfänger sind Alleinerziehende mit Kindern. Das sind Frauen, die Kinder haben und zu Hause bleiben, um ihre Kinder zu erziehen. Gerade bei diesen Familien müssen wir eingreifen. Wir müssen diese Personen aus der Spirale und dem Stigmatisierungseffekt der Sozialhilfe herausholen. ({11}) Das Familiengeld, das Sie von der Union vorschlagen, kostet pro Jahr 50 Milliarden DM. Sie wollen andere soziale Leistungen kürzen, um Maßnahmen für Familien treffen zu können. ({12}) Sie nehmen es der einen Seite weg und geben es der anderen. Wo ist da bitte die Erneuerung? Wo ist da die Vision? Wo ist da die Gestaltung? Das möchte ich von Ihnen wissen. Wie können Sie diesen ungedeckten Scheck überhaupt einlösen? Welche einzelnen Schritte wollen Sie machen? Was ist mit den sozialen Leistungen, die für diese Familien bedarfsorientiert eingesetzt werden können? Diese Fragen lassen Sie offen. Sie bleiben uns die Antwort schuldig. Glaubwürdig ist eine Politik nur, wenn sie sich einer rationalen Diskussion stellt und wenn über die Finanzierbarkeit und Wirksamkeit der Maßnahmen debattiert wird. Dazu gehört zum einen, dass die Lebenslagen so dargestellt werden, wie es in dem vorliegenden Armuts- und Reichtumsbericht geschehen ist und in den Folgeberichten geschehen soll. Dazu gehört zum anderen, dass wir daraus Konsequenzen ziehen und Politikziele entwickeln. Darüber wollen und müssen wir in Zukunft offen diskutieren. Wir wollen Maßnahmen, die realistisch sind, nicht nur Wahlkampfversprechungen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Gilges hat heute Morgen eine schwache Einführung in dieses Thema gegeben. ({0}) Herr Kollege Gilges, vielleicht ist das Ausdruck Ihrer Ratlosigkeit angesichts der aktuell über Sie hereinbrechenden Zahlen. ({1}) Ich finde es schlimm - das muss ich deutlich sagen -, dass die Bundesregierung hier zu einer wirklich herausgehobenen Debattenzeit am Vormittag derart schwach vertreten ist. ({2}) Außer unserem verehrten Kulturstaatsminister sind nur zwei Staatssekretäre anwesend. Ich finde es besonders schlimm, dass drei Ressorts, auf die es bei der Bekämpfung von Armut entscheidend ankommt, nämlich das Wirtschafts-, das Finanz- und das Bildungsressort, überhaupt nicht vertreten sind, weder durch den Minister noch durch einen Staatssekretär. ({3}) Das zeigt, wie ernst Sie dieses Thema nehmen. Ich finde das skandalös. ({4}) - Das ist wirklich ein Armutszeugnis. ({5}) - Herr Kollege Brandner, das ist doch ein Thema, mit dem Sie immer durch die Lande ziehen und von dem Sie sagen, das sei wichtig. Von daher ist die Präsenz auf der Regierungsbank ein Skandal. Sie sollten sich dafür schämen! ({6}) Der Armuts- und Reichtumsbericht ist eine Sammlung bekannter Daten mit eingeschränktem Neuigkeitswert. ({7}) Auch Ihre Definition des Begriffs Armut ist unzureichend und unklar. ({8}) - Das muss man auch immer wieder sagen, solange Sie sich nicht entscheiden, ob derjenige arm ist, der weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient; das ist eine Ihrer Varianten. ({9}) Herr Kollege Gilges, dann wären aber die jetzt Armen selbst dann noch arm, wenn alle auf einen Schlag doppelt so viel verdienen würden wie zurzeit. Das kann es doch nicht sein. Oder ist derjenige arm - auch das ist eine Variante, die Sie anführen -, der Sozialhilfe bezieht? ({10}) Aber hier sagen Sie in Ihrem Bericht - übrigens völlig zu Recht -, dass Sozialhilfebezug fälschlicherweise mit Armut gleichgesetzt wird. Ich vermute aber ohnehin, dass Ihr Bericht eher dazu gedacht ist, eine theoretische Grundlage für eine praktische Umverteilungspolitik zu schaffen, unter der die Neue Mitte zu leiden haben wird. ({11}) - Nein, Herr Gilges, Sie müssen einfach die Zusammenhänge sehen. Wenn die Aussage in Ihrem Bericht, mangelhafte Bildung und vor allem Arbeitslosigkeit seien Hauptrisiken für die Entstehung von Armut, zutrifft, dann - das können wir hier vielleicht als gemeinsame Position festhalten - ist ein Arbeitplatz die beste Versicherung gegen Armut. ({12}) Wenn aber die gestrigen Zahlen Ihres Finanzministers, Herrn Eichel, zutreffen, dann ist diese Bundesregierung aktuell dabei, mit hoher Geschwindigkeit neue Armut zu produzieren. ({13}) Ein Ergebnis Ihrer verfehlten Politik ist nämlich, dass viele Unternehmen in Deutschland derzeit per saldo Arbeitsplätze abbauen, das heißt, viele Menschen werden neu mit dem Armutsrisiko konfrontiert. ({14}) Deswegen ist Ihr Aktionsplan vom Mai ebenso wie Ihr Bundeshaushalt, der vom gleichen Monat datiert, heute nur noch Makulatur. ({15}) Sie kurieren an Symptomen, befassen sich aber nicht grundlegend mit den Herausforderungen. ({16}) Ich will deshalb in der Kürze der Zeit einen neuen nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut entwerfen. Sie brauchen da ja offensichtlich etwas Nachhilfe. Erstens. Investieren Sie in Bildung, schaffen Sie zukunftsträchtige Bildungsgänge. ({17}) Sie schauen ja so gerne danach, was in der Vergangenheit gewesen ist. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Hätte Ihr jetziger Bundeskanzler seinerzeit als niedersächsischer Ministerpräsident nicht den Informatikstudiengang in Hildesheim abgeschafft, hätte er später die GreencardDebatte nicht führen müssen. Auf diese Zusammenhänge muss man hinweisen. ({18}) Zweitens. Entfesseln Sie den deutschen Arbeitsmarkt. Die vom Bundeskanzler geforderte Zurückhaltung der Gewerkschaften bei Lohnforderungen, die ich unter dem Gesichtspunkt der Schaffung neuer Arbeitsplätze ausdrücklich begrüße, bringt keinen Nutzen, wenn Sie im Gegenzug den Arbeitsmarkt weiter regulieren. ({19}) Drittens. Motivieren Sie die Unternehmer zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Nur die Unternehmer können bestandsfeste, sich auf Dauer selbst tragende Arbeitsplätze schaffen. Wenn Sie aber die Unternehmer abschrecken bzw. verschrecken, wie Sie es mit Ihrer Politik die letzten drei Jahre getan haben, ({20}) werden Sie in diesem Land keine neuen Arbeitsplätze schaffen und damit Armut nicht wirksam bekämpfen können. ({21}) Viertens - Herr Gilges, hören Sie genau zu: Durchforsten Sie unser Sozialsystem. ({22}) Nur wenn die Mittel, die wir zur Verfügung haben, dort ankommen, wo es echte Bedürftigkeit gibt, kann Armut wirksam bekämpft werden. Wir müssen die Bedürftigen vor den Findigen schützen. Mit der Gießkanne lässt sich Armut nicht bekämpfen. ({23}) Wenn ich mir allerdings ansehe, wie Ihre Bilanz nach drei Jahren Regierungszeit aussieht - ({24}) - Sie brauchen gar keine 16 Jahre, Sie haben in drei Jahren schon sehr deutlich gezeigt, worauf Ihre Politik hinausläuft. ({25}) - Herr Gilges, weil Sie das sagen, möchte ich darauf hinweisen, dass ich im Januar dieses Jahres von diesem Pult aus darauf hingewiesen und Sie gewarnt habe, indem ich gesagt habe: Sie werden sich über die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten Monaten wundern. Da hat mich die linke Seite des Hauses ausgelacht. ({26}) Zehn Monate später sind wir in einer Situation, wo die Arbeitslosenzahl schon wieder bei 3,7 Millionen liegt und die Tendenz stark steigend ist. ({27}) Ich sage Ihnen voraus, Herr Gilges - das müssen Sie mir wirklich abnehmen, weil ich als Unternehmer in den gesamtwirtschaftlichen Leistungszusammenhang in diesem Land eingebunden und im Produktionsprozess verwurzelt bin -: ({28}) Die Stimmung, die sich derzeit insbesondere im Mittelstand abzeichnet, wird dazu führen, dass Sie in sehr kurzer Zeit, spätestens in diesem Winter, mit 4 Millionen Arbeitslosen ernsthaft rechnen müssen, wenn nicht politisch grundlegend gegengesteuert wird, und dazu sind Sie offensichtlich nicht bereit. ({29}) Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal in Stichworten: Entlasten Sie die Wirtschaft von Steuerlasten und Bürokratie, führen Sie eine wirkliche Steuerreform durch, die auch die Unternehmer, nicht nur die Unternehmen entlastet, deregulieren Sie den deutschen Arbeitsmarkt. Nehmen Sie sich einfach ein Beispiel an unseren europäischen Nachbarn. Man braucht gar nicht über den Atlantik zu blicken, ein Blick nach Holland reicht vollkommen aus. Fazit: Nehmen Sie die Herausforderungen des Armutsund Reichtumsberichtes wirklich an, investieren Sie in Bildung, schaffen Sie Arbeitsplätze. ({30}) Das wird Ihnen auf dem Weg der Umverteilung, den Sie einschlagen wollen, nicht gelingen. ({31}) Eine allerletzte Anmerkung zum Abstimmungsverhalten: Wir haben im Ausschuss aus bestimmten Gründen gegen den CDU/CSU-Antrag gestimmt. Dieser Antrag ist mittlerweile überarbeitet worden. Er ist besser geworden. Aber aus unserer Sicht ist er immer noch nicht stringent genug. Deswegen werden wir uns heute hier im Plenum der Stimme enthalten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({32})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von der PDS-Fraktion.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie von der FDP-Fraktion hier vorschlagen, die Bedürftigen vor den Findigen zu schützen, klingt das so, als ob Sie Schutz vor der FDP fordern. ({0}) Zunächst ist es zweifellos zu begrüßen, dass die Bundesregierung erstmalig einen Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt hat. Eine gemeinsame Forderung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS aus der vergangenen Legislaturperiode ist damit erfüllt worden. ({1}) Die andere Seite des Hauses hatte diese Forderung permanent abgelehnt. Dafür werden Sie wohl Gründe gehabt haben. Aber ich muss sagen, dass an diesem Bericht eines unangenehm auffällt, und zwar, dass er mit dem Jahre 1998 endet. Das heißt, Sie haben sich ausschließlich bis zu der Zeit über Reichtum und Armut Gedanken gemacht, als Sie die Regierungsverantwortung übernommen haben. Darüber, wie die Entwicklung danach verlaufen ist, fehlen in diesem Bericht die Informationen. ({2}) Das ist nicht fair. Drei Jahre nach Ihrer Regierungsübernahme hätte sich wenigstens ein Absatz dazu gehört, wie die Entwicklung seitdem weiter gegangen ist. ({3}) Erstens. Ich sage Ihnen, was diesbezüglich in unserer Gesellschaft das größte Problem ist: Es sind die Kinder, die in Armut leben. Inzwischen leben über acht Prozent der Kinder von Sozialhilfe. ({4}) Sie haben in dieser Legislaturperiode zum Beispiel drei Kindergelderhöhungen beschlossen. Dies ist ja an sich zu begrüßen. Aber bei zwei von ihnen - das gilt auch für diejenige, die ab 1. Januar 2002 in Kraft tritt - ziehen Sie die Kindergelderhöhungen, gerade bei den armen Kindern, dann wieder von der Sozialhilfe ab. Ich sage Ihnen: Das ist skandalös. ({5}) Denn genau diese Kinder hätten es in erster Linie verdient, in den Genuss dieser Kindergelderhöhung zu kommen. Doch genau dies findet nicht statt. Zweitens. Man muss hervorheben, dass Armut in unserer Gesellschaft zu einem sehr großen Teil unter Frauen verbreitet ist. Das gilt sowohl für Rentnerinnen, die im Schnitt wesentlich niedrigere Bezüge haben als Rentner. Das hängt natürlich mit dem Arbeitsmarkt und ihrer Berufsentwicklung in den Jahrzehnten zuvor zusammen. Aber es gilt auch und vor allem für Alleinerziehende, die in einer ganz schwierigen Situation sind - ihre Zahl hat übrigens inzwischen in den neuen Bundesländern dramatisch zugenommen - und von denen man nichts anderes sagen kann, als dass sie in Armut leben. Das hängt dann wieder mit der sehr schlechten Ausstattung in Kindertagesstätten und auch mit dem Mangel an Ganztagsschulen und ähnlichen Bedingungen zusammen, sodass sie von vornherein viel schlechtere Chancen auf dem Arbeitmarkt haben. Selbst wenn sie eine Chance haben, können sie sie ganz häufig gar nicht wahrnehmen, weil sie ihre Kinder nicht oder nur zu sehr hohen Kosten, die sie nicht bestreiten können, unterbringen können. Hier muss sich grundlegend etwas verändern. ({6}) Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Gestern war ich in Tempelhof-Schöneberg. Dort ist von den zuständigen Beamten des Bezirksamtes gesagt worden, dass sie für die Essensversorgung der Kinder in Kindertagesstätten, also für die Mittagsmahlzeit, pro Tag und pro Kind 1,84 DM zur Verfügung stellen können. Ich bitte Sie: Überlegen Sie sich einmal, welch eine Essensversorgung in Kindertagesstätten gewährleistet ist, wenn pro Tag und pro Kind 1,84 DM zur Verfügung gestellt werden. ({7}) Ich glaube, kein Mensch von uns ist in der Lage, sich von 1,84 DM ein Mittagessen zuzubereiten. Das ist organisierte Armut. Diese Situation muss sich zwingend verändern. Hier müssen einfach andere Prioritäten gesetzt werden. ({8}) Deshalb fordern wir erneut, über eine Grundsicherung - gerade auch für Kinder in einer solchen Situation - nachzudenken. Übrigens, ich höre häufig von der FDP, aber auch von der CDU/CSU die Forderung nach der Schaffung eines Niedriglohnsektors. ({9}) Erstens höre ich diese Forderung immer sehr gerne von solchen Menschen, die selber nie im Niedriglohnsektor arbeiten würden. Dies ist also eine Delegierung von Problemen auf andere Bevölkerungskreise. Zweitens frage ich Sie: Welch eine Vorstellung haben Sie eigentlich von der Höhe der bei uns gezahlten Löhne? Fragen Sie doch einmal eine Verkäuferin, wie viel sie in diesem Land verdient. Es besteht doch längst ein ausgebreiteter Niedriglohnsektor. Es ist doch eine Erfindung, wenn man sagt, dass man ihn erst einführen müsste. ({10}) Was mir in diesem Bericht fast völlig fehlt, sind Daten bezüglich des Reichtums. Aber ein Blick in den „German Wealth Report 2000“ hätte genügt, und Sie hätten einige Daten aufführen können. Ich nenne ein paar Beispiele: 25,7 Prozent des gesamten deutschen Privatvermögens konzentrieren sich auf lediglich 365 000 Menschen in diesem Land. Das sind 0,5 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner. 3 700 von diesen Personen verfügen über 8 Prozent des gesamten Privatvermögens in Deutschland. Diese Zahlen muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, um die Differenzen zwischen Reichtum und Armut kennen zu lernen. Ein anderes Beispiel: Die Zahl der Vermögensmillionäre betrug in den 60er-Jahren 14 000, ist dann bis 1973 auf über 217 000 angestiegen und belief sich 1995 auf 1,5 Millionen. Sie dürfte heute bei etwa 2 Millionen liegen. Ein Wort zur Verschiebung der Steuerlast: Während die Lohneinkommen 1960 zu gut 6 Prozent durch direkte Steuern belastet wurden, sind es heute rund 20 Prozent. Daran trägt Ihre Regierung einen großen Anteil. Aber die Belastung der Gewinn- und Kapitaleinkommen stellt sich genau umgekehrt dar: 1960 waren es 20 Prozent, heute sind es im Durchschnitt 5 Prozent. Man muss sich einmal überlegen: Das alles ist mit dem Versprechen geschehen, dass das frei werdende Geld in Arbeitsplätze umgemünzt wird. Nichts davon ist passiert. Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit hat ständig zugenommen. Von unserem gesamten Steueraufkommen kommen noch 15 Prozent aus Gewinn- und Kapitaleinkommen, aber 75 Prozent aus Massensteuern; das sind Lohnsteuer, Umsatzsteuer, Mineralölsteuer und viele andere direkte Steuern. Das muss sich verändern. Im Übrigen hat der Reichtum im Land ebenso wie die Armut zugenommen. Das hängt nämlich miteinander zusammen. Das hat sich auch unter dieser Regierung nicht geändert, sondern fortgesetzt. Das muss man ganz deutlich sagen. ({11}) Es werden auch Bund, Länder und Kommunen immer ärmer, obwohl der Reichtum zunimmt. Dadurch sind Bund, Länder und Kommunen immer schlechter in der Lage, ausgleichend zu wirken. Das ist ein großes Problem. Früher war diese Entwicklung verhältnismäßig: Nahm der Reichtum zu, wurden auch Bund, Länder und Kommunen reicher. Davon kann heute überhaupt keine Rede mehr sein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Mein letzter Satz, Herr Präsident: Lassen Sie uns andere Prioritäten setzen und in dieser Gesellschaft Armut wirksam bekämpfen. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass es auch Normalverdienern besser geht, die zurzeit ebenfalls immer ärmer werden. Genau diese Spirale muss beendet werden. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike Mascher. ({0})

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir sollten versuchen, die heutige Debatte zu nutzen, um über eine regelmäßige Armuts- und Reichtumsberichterstattung in der Bundesrepublik zu diskutieren. ({0}) - Die Berichterstattung, der sich diese Bundesregierung - anders als die alte Bundesregierung - nicht verweigert, ist für uns die Grundlage für eine zielgenaue Sozialpolitik, die genau diejenigen besser stellt, die das nötig haben. ({1}) Deswegen begrüßen wir den Antrag der Koalitionsfraktionen, der heute zur Beschlussfassung vorliegt und der die Bundesregierung verpflichtet, zukünftig regelmäßig in der Mitte jeder Wahlperiode einen Armutsund Reichtumsbericht vorzulegen. Für den nationalen Aktionsplan gegen Armut und soziale Ausgrenzung wurde auf europäischer Ebene bereits ein zweijähriger Berichtsturnus festgelegt. Herr Gysi, ich möchte Sie darauf hinweisen: Wenn Sie sich ein bisschen mit der Materie beschäftigen würden, dann wüssten Sie, dass bestimmte Daten eben nur bis 1998 vorliegen und dass wir nur diese Daten in dem Bericht verwerten konnten. Der nächste Bericht wird selbstverständlich die Daten aus der Zeit dieser Bundesregierung berücksichtigen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Mascher, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Dreßen.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, von der Opposition wurde vorhin behauptet, wir hätten keine Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht gezogen. Nun ist Ihnen bekannt, dass wir gerade beim BAföG zusätzlich 80 000 Schüler und Studenten fördern. ({0}) Wir haben 1,3 Milliarden DM mehr beim Wohngeld ausgegeben. Wir haben bei der Steuerreform im unteren Bereich den Freibetrag von 12 000 auf 15 000 DM erhöht. ({1}) Wir haben den Eingangssteuersatz von 25 Prozent auf 15 Prozent gesenkt. ({2}) Glauben Sie, dass diese Maßnahmen genau die Menschen betreffen, die im Armuts- und Reichtumsbericht erwähnt sind, nämlich die Menschen, die nicht so reich sind und auf diese Maßnahmen angewiesen sind? ({3})

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Herr Dreßen, wir haben dankenswerterweise sowohl auf kommunaler als auch auf Landesebene, von den Wohlfahrtsverbänden und den Gewerkschaften Armutsberichte vorliegen. Diese Armutsberichte haben uns natürlich Hinweise darauf gegeben, in welche Richtung eine Politik gegen Armut und Ausgrenzung formuliert werden muss, zum Beispiel im Bildungsbereich durch eine Verbesserung des BAföGs, um Kindern aus Arbeiterhaushalten die Chance eines Hochschulzugangs zu geben. Die Erhöhung des Wohngelds wird es einer allein erziehenden Frau in einer Großstadt ermöglichen, auch mit einem niedrigen Einkommen zu leben. Ähnliches gilt für die Erhöhung des Kindergeldes. Leider sind die Vorschläge, die Herr Weiß hinsichtlich des Familiengeldes macht, in den 16 Jahren, in denen die CDU/CSU regiert hat, nicht aufgegriffen worden. Auf diesem Feld haben wir einen großen Nachholbedarf. Die vorliegenden Armutsberichte haben uns also Hinweise gegeben, woran wir uns mit unserer Politik zu orientieren haben. Wir wollen aber durch den nationalen Armuts- und Reichtumsbericht noch genaueren Aufschluss bekommen, insbesondere über die Situation in bestimmten Lebenslagen wie Obdachlosigkeit oder extreme Armut. An die Ergebnisse des Berichts wollen wir dann anknüpfen, was zu Recht auch von Organisationen wie der Caritas gefordert wurde. ({0}) Bei der Beratung des Berichtes haben wir eine große Unterstützung durch Fachleute, die Wissenschaft, Verbände, Institutionen, aber auch durch Länder und Kommunen erfahren. Deutlich geworden ist, dass wir noch weitere Berichte brauchen. Wir werden diese Berichte in bewährter Weise mit Vertretern von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Tarifvertragsparteien und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie mit Betroffenen und deren Selbsthilfegruppen, die sich zum Beispiel in der nationalen Armutskonferenz organisiert haben, diskutieren und beraten. Wir haben sofort nach der Vorlage des ersten Berichtes eine Bestandsaufnahme durchgeführt, um die Bereiche, zu denen der Bericht noch nichts aussagt, feststellen zu können und die Voraussetzungen für einen zweiten Bericht zu schaffen. Wir werden die Grundlagen des Berichts und die wissenschaftlichen Gutachten jetzt veröffentlichen, damit die Kontinuität und Transparenz des Beratungsprozesses weiterhin gewährleistet ist. Wir werden am 13. Dezember dieses Jahres in einem öffentlichen Symposium die Perspektiven der Berichterstattung und aktuelle Impulse diskutieren - Herr Dr. Kolb, Sie sind dazu herzlich eingeladen -, um in Zukunft noch genauer über die Lebenslagen von Menschen in dieser Republik berichten zu können. ({1}) Die Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts spielt für die Bundesregierung, die auf sozialen Ausgleich, Vorbeugung und Nachhaltigkeit setzt, eine ganz wichtige Rolle. Sie soll die empirischen Grundlagen sowie die geeigneten Daten und Fakten liefern, damit wir Orientierungsgrößen für politische Planungs- und Entscheidungsprozesse haben. Wir brauchen Datengrundlagen, die auch eine Vergleichbarkeit gewährleisten, weil wir eine Wirkungskontrolle institutionalisieren wollen. Auf diese Weise können wir sehen, wie bestimmte politische Maßnahmen wirken. Die Behauptung der CDU/CSU, der Bericht nehme keine ausreichende Differenzierung des Armutsbegriffs vor, übersieht völlig - offensichtlich ist der Bericht von den entsprechenden Kollegen nicht gelesen worden -, dass neben einem breiten statistischen Material zu Einkommen, Vermögen und Überschuldung auch die Lebenslagen von Familien und Kindern, die Beziehungen zwischen Bildung und unterschiedlichen Lebenslagen in der Bevölkerung, die Situation von Behinderten, von chronisch Kranken, der Komplex der Zuwanderung, differenziert nach ausländischen Migranten und Migrantinnen und Spätaussiedlern und Spätaussiedlerinnen, dargestellt wurden; um nur einige Beispiele zu nennen. Falsch ist auch die Behauptung, die Herr Weiß in Bezug auf die Sozialhilfe aufgestellt hat. ({2}) Wir wollen das System von Regelsatz und Einmalhilfe überdenken, und zwar auf der Grundlage von Erfahrungen mit einer Reihe von Modellen auf örtlicher Ebene, zum Beispiel aus Baden-Württemberg. Herr Weiß, Sie wissen das besser, als Sie das hier behauptet haben. ({3}) Wir wollen auch bei der Hilfe zur Arbeit die Erfahrungen, die wir in Modellprojekten zur Zusammenarbeit von Arbeits- und Sozialämtern seit Mitte dieses Jahres gewinnen, nutzen, um eine große Sozialhilfereform aus einem Guss zu machen, durch die den Menschen tatsächlich geholfen wird, aus der Sozialhilfe herauszukommen, und zwar mit Hilfen zur Arbeit und einer besseren, zielgenaueren Orientierung der Sozialhilfe. ({4}) - Nein, wir suchen keine Ausrede. Die noch vorhandenen Defizite bei der Datenlage, die wir vor allem bei Reichtum und Vermögen, aber auch bei den extremen Armutslagen sowie der Wohnungslosigkeit haben, wollen wir abbauen. Deswegen haben wir auch bereits bei der Abfassung des Ersten Armuts- und Reichtumsbericht Forschungsprojekte initiiert, die zu aussagekräftigeren Berichten beitragen können. Die Verbesserung der Datenlage ist eine besondere Aufgabe, die auf Bundesebene zu erfüllen ist. Aufgrund der vielfältigen Formen von Armut und sozialer Ausgrenzung stützt sich die Berichterstattung bisher auf ganz unterschiedliche Datenquellen. Wir streben an, die Informationen dieses Flickenteppichs aus Daten zu bündeln und - das wäre der Idealfall - in einem Datenpool zusammenzuführen und verfügbar zu machen. Dann kann sich auch die Opposition darüber informieren. Beim Reichtum beginnen die Probleme bereits bei den aktuell nutzbaren Datenquellen, die für die Ermittlung von Umfang und Verteilung des Reichtums herangezogen werden können. Eine Beschreibung und eine Analyse des Reichtums scheitert bisher am Fehlen von Datenquellen, die ein umfassendes und nüchternes Bild des Reichtums und seiner Entwicklung ermöglichen. Ein erster Schritt ist deshalb die Entwicklung eines Konzeptes, aus dem hervorgeht, welche Daten wir für die Beschreibung des Reichtums brauchen. Auch die Erfassung der sehr hohen Einkommen und der Vermögensbestände wird verbessert. Für den Ersten Armuts- und Reichtumsbericht wurde zum Beispiel für die Ermittlung der hohen und sehr hohen Einkommen erstmals die Einkommensteuerstatistik genutzt. Hierauf kann aufgebaut werden und gegebenenfalls in Verbindung mit anderen Datenquellen für die Zukunft ein breiteres Fundament für eine Armuts- und Reichtumsberichterstattung geschaffen werden. Der Armuts- und Reichtumsbericht ist kein Selbstzweck. Wir wollen zum Beispiel der Frage nachgehen, welche Gründe es für die Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen gibt - Stichwort: verdeckte und verschämte Armut - und wie groß das Ausmaß dieser Nichtinanspruchnahme ist. Wir werden uns bemühen, das aufzuhellen. Wir haben deswegen schon eine Vorstudie erstellen lassen. Ich denke, dass gerade hier ein großer Bedarf an Erkenntnissen und Verfahren besteht, die eine zuverlässige Bestimmung derjenigen Bevölkerungsgruppen ermöglichen, die bisher ihren Rechtsanspruch auf Sozialhilfe nicht wahrnehmen. Das ist - wenn ich es richtig verstanden habe - auch ein Anliegen der Opposition. Sie sollten uns also dabei unterstützen. ({5}) Die Anforderungen an die Berichterstattung sind durch den Ersten Armuts- und Reichtumsbericht eigentlich noch größer geworden. Das, was Herr Gilges gesagt hat, ist völlig richtig: Die Nagelprobe wird beim zweiten Bericht kommen; denn dann wollen wir - hoffentlich auf einer besseren Datengrundlage - ein noch differenzierteres Bild von Armut und Reichtum zeichnen. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung steht als Teil eines politischen Berichtswesens auch in unmittelbarem Zusammenhang mit politischem Handeln. Auf der einen Seite sind die faktischen Lebensverhältnisse durch die Folgen politischen Handelns geprägt. Auf der anderen Seite geben die im Rahmen einer Berichterstattung analysierten Sachverhalte Anlass zu politischem Handeln. Aus der Armuts- und Reichtumsberichterstattung sollen konkrete Handlungskonzepte abgeleitet werden. So wie wir uns bisher auf der Grundlage der Länder- und Kommunalberichte sowie der Berichte der Gewerkschaften und der Wohlfahrtsverbände ein Bild von Armut und Reichtum zu machen versucht haben, so wollen wir in der nächsten Legislaturperiode aufgrund unseres eigenen Armuts- und Reichtumsberichts ein noch differenzierteres Bild bekommen. Der Erste Armuts- und Reichtumsbericht war das Ergebnis einer jahrelangen wissenschaftlichen Diskussion. Natürlich konnten wir zu Beginn der Berichterstattung nicht alle Fragen aufarbeiten. Deswegen erhebt der Bericht auch nicht den Anspruch, alle Aspekte von Armut und Reichtum abschließend und erschöpfend zu beleuchten. Aber er ist gemeinsam mit dem Nationalen Aktionsplan eine gute Grundlage, auf der wir aufbauen können. Mit der Vorlage des Nationalen Aktionsplans „Soziale Integration“ im Juni 2001 hat die Bundesregierung den Beschluss der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union umgesetzt, wonach die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung zu intensivieren ist. Dazu sind auf dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 gemeinsame Ziele formuliert worden. Die nationalen Aktionspläne liefern neben einer Analyse der Situation in den Mitgliedstaaten die Bündelung der Strategien und Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten in den nächsten zwei Jahren in ihrer nationalen Politik umsetzen wollen. Die offene Koordinierung - ein europäisches Instrument - bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung bietet eine gute Grundlage für die Diskussion auf der europäischen Ebene. Sie stärkt die Politik zur Förderung des sozialen Zusammenhalts in der EU. Gleichzeitig erhält auch die nationale Politik wichtige Impulse. Gleichwohl brauchen wir genügend Flexibilität für die regional und lokal unterschiedlichen Strategien zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Wichtig ist, dass sich die Bewertung der nationalen Aktionspläne an nachvollziehbaren Kriterien orientiert und dass ein realistisches Bild der sozialen Situation und der Reformen in den Mitgliedstaaten gezeichnet wird. Das heißt konkret, dass auch der bereits erreichte Stand von sozialer Integration und von Armutsvermeidung zu beachten ist. Es sind aber auch die Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, unter denen zum Beispiel in der Bundesrepublik der nationale Aktionsplan erstellt wird. Wesentliche Beiträge zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Armut leisten in Deutschland die Städte und Gemeinden, aber auch die Bundesländer, und die scheinen hier nicht ausreichend aufzutauchen. Das muss auf europäischer Ebene noch verbessert werden, damit in Staaten, die, wie die Bundesrepublik Deutschland, föderal konstruiert sind und in denen die Städte und Gemeinden Wesentliches zur Armutsbekämpfung leisten, nichts unter den Tisch fällt, weil sonst ein völlig verzerrtes Bild dessen entsteht, was zur Armutsbekämpfung geleistet wird. Wenn das nicht erreicht wird, dann besteht die Gefahr, dass die offene Koordinierung nicht die Akzeptanz europäischer Sozialpolitik erhöht und das Lernen voneinander nicht gefördert wird. Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir haben die materielle Lage der Familien verbessert. Wir haben die Basis für die Alterseinkommen auch für die künftigen Generationen durch das Altersvermögensgesetz erweitert. Wir verstärken die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen für Jugendliche und junge Erwachsene. Wir haben die Chancengleichheit von behinderten Menschen gefördert. Auf der Grundlage des vorliegenden Berichts, mit den Vorarbeiten für den nächsten Bericht und dem Nationalen Aktionsplan werden wir im Interesse der Betroffenen diese Politik der aktiven Armutsbekämpfung und der Bekämpfung der Ausgrenzung bestimmter Gruppen in unserem Land weiter vorantreiben. Ich denke, dass die Bundesrepublik damit auf einem guten Weg ist und sie mit dem nächsten Armuts- und Reichtumsbericht ihre Politik noch zielgenauer, noch stärker an den Adressaten und Adressatinnen orientiert formulieren wird. Danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang Meckelburg von der CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich als letzter Redner hierzu spreche, möchte ich mit dem anfangen, was Sie zur Einführung gesagt haben, Herr Gilges. Das war, um in den Begriffen dieses Berichts zu bleiben, vom Zeitverbrauch her sehr reich, aber inhaltlich sehr arm. ({0}) Frau Mascher, wenn ich das richtig mitbekommen habe, dann haben Sie den größten Teil Ihrer Redezeit darauf verwendet, darüber zu sprechen, wie man denn Berichterstattung über Armut und Reichtum macht, wie man das verbessern kann und was man da noch alles tun kann. Ich möchte im letzten Beitrag dieser Debatte gern darüber reden, was getan werden muss, welche Konsequenzen zu ziehen sind und welche Fakten der Bericht liefert, also zum Inhalt des Berichts sprechen. ({1}) Sie haben den Bericht auf den Zeitraum bis 1998 beschränkt. Von den Koalitionsfraktionen wird damit der Versuch unternommen, das als Berichterstattung sozusagen über die Zeit der Regierung Kohl darzustellen. Deswegen will ich ein paar Punkte aus dem Bericht herausgreifen, die in der Öffentlichkeit und in Ihren Beiträgen bisher keine Rolle gespielt haben. Ich will darauf hinweisen, dass sich das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen im Berichtszeitraum bis 1998 - das steht in dem Bericht; nehmen Sie das auch zur Kenntnis - von 23 700 DM auf 61 800 DM erhöht hat. ({2}) Ich will auf diese Tatsache hinweisen, weil das hier untergeht. Es gibt Armut in unserem Land, aber - das muss hier einmal gesagt werden - es gibt auch die Beteiligung breiter Kreise der Bevölkerung an der Wohlstandsentwicklung. ({3}) Im Bericht steht, dass die Verteilung der Einkommen im langfristigen Trend tendenziell gleichmäßiger geworden ist. In dem Bericht steht auch - das ist ebenfalls wichtig -, dass nur 1,3 Prozent der über 65-Jährigen Sozialhilfe beziehen. Das bedeutet, die Rentenreform, die wir in diesem Land verabschiedet haben - wie übrigens alle großen sozialpolitischen Gesetzgebungsmaßnahmen -, hat insgesamt dafür gesorgt, dass Altersarmut vermieden werden kann. Ob das auch in Zukunft so bleibt, das ist die große Frage, über die diskutiert werden muss. ({4}) In dem Bericht steht des Weiteren etwas über die Pflegeversicherung. Auch das ist etwas, was wir in den letzten vier Jahren unserer Regierungszeit gemacht haben. Mit der Pflegeversicherung ist erreicht worden - so der Bericht -, dass die Menschen aus der Sozialhilfe herausgeführt werden konnten. ({5}) Das ist wichtig für die Pflegebedürftigen. Auch das ist Ergebnis unserer Politik. Es steht in dem Bericht. ({6}) - Weil es Sie immer besonders interessiert, Herr Gilges Sie hätten vorhin eine bessere Einführung geben können; dann wäre es einfacher, über Inhalte zu reden -: In diesem Bericht steht auch, dass sich die Situation hinsichtlich des Immobilieneigentums verbessert hat. Da die Arbeitnehmerhaushalte das sind, was Sie stets besonders interessiert, will ich Ihnen sagen: Gegenüber 31 Prozent im Jahr 1962 besitzen im Jahr 1998 51 Prozent der Arbeitnehmerhaushalte Immobilien. Auch das sind Fakten, die in diesem Bericht enthalten sind. Auch das muss einmal festgehalten werden, bevor wir die Debatte so führen, als gäbe es in Deutschland nur Arme und Reiche. Die große Masse der Bevölkerung hat an der Wohlstandsentwicklung teilgenommen. ({7}) - Das ist nicht richtig. Herr Gilges. Sie sollten nicht so tun, als legte der Bericht dar, dass in den Jahren, in denen wir regiert haben, alles den Bach runtergegangen wäre. Das Gegenteil ist der Fall. ({8}) Dennoch sage ich, wir haben Probleme und wir müssen heute darüber reden, welche inhaltlichen Konsequenzen aus diesem Bericht zu ziehen sind, was Sie tun und was wir wollen. Das ist die Politik, über die wir hier diskutieren. ({9}) - Sie haben doch schon geredet. ({10}) Vielleicht haben Sie es verpasst, etwas zum Inhalt zu sagen. Jetzt komme ich auf Ihre Regierungszeit zu sprechen, Frau Deligöz und Herr Gilges. In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27. Juni 2001wird unter der Überschrift „Kinderarmut hat unter Rot-Grün zugenommen“ ({11}) die stellvertretende Vorsitzende der Nationalen Armutskonferenz Frau Biehn zitiert. Ich möchte das wörtlich wiedergeben: „Die Situation benachteiligter Kinder hat sich unter der rot-grünen Regierung eher verschlechtert.“ Wir reden jetzt über die Zeit nach 1998. In diesem Zusammenhang will ich auch einmal erwähnen, was Frau Deligöz - Sie haben eben auch gesprochen in der „Welt“ vom 27. Juni 2001 sagt: „Die bereits beschlossene Erhöhung des Kindergeldes auf 300 DM pro Kind reicht in den unteren Einkommensgruppen nicht aus.“ ({12}) Recht hat sie. Warum tun Sie nichts? ({13}) Hören Sie zu, Herr Gilges, was die geschätzte Kollegin Deligöz über die SPD sagt. Sie sagte, im Gegensatz zu den Grünen habe die SPD bisher überhaupt kein Konzept. Das ist das, was Sie über sich selber sagen. ({14}) Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die Politik, ({15}) die Rot-Grün in den letzten drei Jahren gemacht hat, in vielen Feldern gegenläufig zur Armutsbekämpfung ist. ({16}) Sie belasten die Bürgerinnen und Bürger allesamt - das trifft insbesondere die Sozialhilfeempfänger und die unteren Einkommensbereiche - mit der Ökosteuer. Ein Stufenplan mit von Jahr zu Jahr steigenden Belastungen, das ist Ihre Politik. ({17}) Sie haben die originäre Arbeitslosenhilfe abgeschafft, zigtausende Leute in die Sozialhilfe gebracht. ({18}) Sie haben bei den Rentenversicherungsbeiträgen gekürzt, nämlich da, wo es um die Arbeitslosenhilfebezieher geht. ({19}) - Genau! Sie haben die Beiträge, die der Staat für Arbeitslose in die Rentenversicherung zahlt, gekürzt. Das bedeutet nichts anderes, als Altersarmut vorzuprogrammieren. ({20}) Lassen Sie mich noch etwas zur Sozialhilfe sagen. Es gibt eine Übergangsregelung für die Jahre 1997 bis 1999, wonach die Sozialhilfeanpassung der Rentenanpassung gleichgestellt ist. Die Regelung war zeitlich befristet. Sie haben sie um zwei Jahre verlängert und Sie sind jetzt auf dem Weg, sie um weitere zwei Jahre zu verlängern. Das heißt, Sie schummeln sich durch die gesamte Legislaturperiode hindurch, ohne die Sozialhilfe neu zu regeln. Das ist Ihre Politik. Eine Neuregelung wäre jedoch dringend notwendig. Warum? - Weil die Sozialhilfeempfänger, wenn ihre Bezüge an die Rentenanpassung gekoppelt sind, genau das erleben, was auch die Rentner in den letzten Jahren erlebt haben. Im Jahr 2000 hatten wir eine Inflationsrate von 1,9 Prozent und eine Anpassung der Regelsätze um 0,6 Prozent. ({21}) Sie reden über Armut und tun nichts dagegen im Hinblick auf die Sozialhilfe. Es wäre dringend notwendig, zumindest einen Ausgleich zu schaffen. ({22}) Lassen Sie mich etwas zur Beschäftigungspolitik sagen. Auch in dem Bereich haben Sie versagt, wie man feststellt, wenn man sich die Arbeitslosenzahlen betrachtet. ({23}) Bei Ihrer Regierungsübernahme sind Sie mit 3,8 Millionen Arbeitslosen gestartet. Da stehen die Arbeitslosenzahlen zurzeit wieder. Auf dem Arbeitsmarkt tut sich nichts, obwohl das dringend notwendig wäre. Dass mehr Menschen einer Erwerbsarbeit nachgehen, ist die Voraussetzung für weniger Armut. ({24}) Ich erspare es mir, über die weitere Senkung der Höhe der Hinterbliebenenrenten - für viele Frauen ist damit Altersarmut vorprogrammiert - zu sprechen und auf das Kindergeld einzugehen. Stattdessen möchte ich etwas zu unserer Alternative sagen. ({25}) - Dass Sie so reagieren, zeigt mir, dass ich bei Ihnen einen Nerv getroffen habe. Das ist viel wert: Sie sind bei der Debatte über Armut ein bisschen wach geworden. ({26}) Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Entschließungsantrag vorgelegt, mit dem sie dazu auffordert, Konsequenzen zu ziehen. ({27}) Wir fordern Sie erstens auf, das Zehn-Punkte-Programm zur Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft, das wir in den Deutschen Bundestag eingebracht haben, umzusetzen. Eine gesunde Wirtschaft schafft Arbeitsplätze und Arbeit ist der beste Schutz gegen Armut. Darum muss es gehen. ({28}) Wir fordern Sie zweitens auf, Familien so zu entlasten, dass der Lebensunterhalt der Kinder nicht mehr durch Sozialhilfe bestritten werden muss. Das eigentlich Erschreckende ist, dass 1,1 Millionen Kinder Sozialhilfe beziehen. Dafür ist die Sozialhilfe - darüber sind wir einig eigentlich nicht da. ({29}) Ebenso ist Sozialhilfe nicht für Behinderte vorgesehen. Nötig ist ein Konzept für eine Politik - wir haben Ihnen ein solches vorgelegt -, die dafür sorgt, dass Behinderte aufgrund eines Leistungsgesetzes des Bundes nicht mehr unter die Sozialhilfe fallen, ({30}) dass eine Familienförderung auf den Weg gebracht wird, die ein Familiengeld beinhaltet, weswegen Kinder und damit deren Familien nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sind. Lassen Sie uns über die Frage diskutieren, wie wir Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen können, um so die betroffenen Menschen - zu klären ist natürlich auch, ob sie arbeitsfähig und arbeitswillig sind leichter in Arbeit vermitteln zu können. Zunächst einmal gilt es, dafür zu sorgen, dass Kinder, Familien und Behinderte nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sind. ({31}) Ich möchte zum Abschluss noch etwas zu dem Beschäftigungspotenzial sagen. Die Darstellungen zu dieWolfgang Meckelburg sem Thema sind meistens negativ. Es geht nicht darum - Herr Gysi, worüber reden Sie eigentlich? -, neue Niedriglohnbereiche zu erfinden. Uns geht es darum, vorhandene Niedriglohnbereiche über Kombilohnmodelle oder über Zuschüsse zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen attraktiver zu machen, um damit Menschen zu einer Arbeit gerade im unteren Einkommensbereich zu verhelfen. Es geht darum, dass mehr Menschen für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Meckelburg, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Grehn von der PDS? ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Muss das sein?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie oder erlauben Sie nicht?

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir klären das im Ausschuss. Ich finde, das muss jetzt nicht mehr sein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Dann kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es kommt nicht so sehr darauf an, wie die Berichterstattung aussieht; wir müssen vielmehr darüber diskutieren, wie die Politik aussieht. ({0}) Ich habe Ihnen deutlich gesagt, wo die Mängel der letzten drei Jahre liegen und wie unsere Alternativen aussehen. ({1}) Es geht nicht darum, wie Daten verbessert werden können. Das ist zwar wichtig, aber nicht das Hauptthema. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bevor ich die Aussprache schließe, habe ich noch eine Bemerkung zu machen: Frau Kollegin Deligöz, Sie haben auf einen Zwischenruf des Kollegen Niebel Folgendes gesagt: Herr Niebel, wenn Sie unbedingt reden wollen, dann stellen Sie eine Frage, dann verlängert sich nämlich meine Redezeit. Sonst halten Sie Ihre Schnauze. Das entspricht nicht dem parlamentarischen Sprachgebrauch. Ich rüge das. ({0}) - Herr Kollege Gilges, Sie machen es durch diesen Zuruf nicht besser. ({1}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6628, in Kenntnis des Ersten Armuts- und Reichtumsberichts, Drucksache 14/5990, und des Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, Drucksache 14/6134, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zum Ersten Armuts- und Reichtumsbericht. Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/7145? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6628 empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/6171 mit dem Titel „Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht ziehen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Wolfgang Bosbach, Dr. Maria Böhmer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen Straftaten. - Drucksache 14/6709 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Tagen und Wochen steht das Thema der inneren Sicherheit an erster Stelle auf der politischen Tagesordnung. Der Kampf gegen den Terrorismus hat Vorrang. Die Menschen sind nach wie vor durch die Anschläge in New York und Washington betroffen. Das merkt man in jeder politischen Veranstaltung und das spürt man auch in Gesprächen im kleinsten Kreis. Dennoch bleiben andere Themen - auch im Bereich der inneren Sicherheit - ebenfalls auf der politischen Tagesordnung. Dazu gehört ganz gewiss der Kampf gegen Gewaltverbrechen und sexuellen Missbrauch. Die Situation, vor der die Menschen, vor allen Dingen unsere Kinder, stehen, muss verbessert werden. In den vergangenen zwei Jahren verging fast kein Monat, in dem wir nicht von der Nachricht aufgeschreckt wurden, dass wieder ein Kind vermisst wird. Wenige Tage später wurde diese Nachricht dann zur furchtbaren Gewissheit, dass das Kind Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Eine solche Nachricht lässt niemanden unberührt. Der Bundeskanzler hat vor der Sommerpause, als wiederum kurz hintereinander zwei Kinder als vermisst gemeldet wurden und sich herausstellte, dass sie einem furchtbaren Verbrechen zum Opfer gefallen waren, in einem Anflug von Zorn die Forderung erhoben, dass solche Gewaltverbrecher für immer hinter Schloss und Riegel gehören. Dieser Appell verhallte aber. Wenige Tage später haben die SPD-regierten Bundesländer im Bundesrat eine Initiative zur nachträglichen Sicherungsverwahrung - genau das, was der Bundeskanzler wollte - abgelehnt. ({0}) - Sie haben sie abgelehnt. Vielleicht können Sie dazu in Ihrem Debattenbeitrag gleich noch etwas sagen. Ich habe es so verstanden. Dieser Appell ist auch nicht bis zum Bundesjustizministerium vorgedrungen. Dort herrscht Schweigen. Seit drei Jahren warten wir auf einen vernünftigen Gesetzgebungsvorschlag im Bereich der inneren Sicherheit. Sie machen Tabula rasa. Seitens der Bundesjustizministerin hören wir nichts. Sie ist in den ganzen Debatten um den Kampf für die innere Sicherheit ausgeschaltet. Sie ist nicht zu hören. ({1}) Es geht um eines der wichtigsten Themen der Rechtspolitik, nämlich die innere Sicherheit. Sie ist zentraler Bestandteil der Rechtspolitik. Niemand soll sagen, wir hätten schon genug Gesetze. Die alte Koalition hat in der letzten Legislaturperiode ganz gewiss viele Gesetzgebungsvorlagen - gerade auf strafrechtlichem Gebiet - erstellt und durchgebracht. ({2}) Das gilt zum Beispiel auch für das sechste Strafrechtsreformgesetz. Aber niemand ist deswegen aus der Verpflichtung entlassen, darüber nachzudenken, ob wir als Gesetzgeber angesichts der Terrorakte, aber auch - das ist unser heutiges Thema - angesichts der Gewaltverbrechen gegenüber den Menschen und insbesondere den Kindern in der Bundesrepublik Deutschland alles getan haben. Diese Frage müssen wir uns stellen und niemand darf die Hände in den Schoß legen. Genau diesem Anliegen widmen wir uns mit unserem Gesetzentwurf, den wir schon vor der Sommerpause eingebracht haben und heute in erster Lesung behandeln. Wir schlagen eine Fülle von Maßnahmen vor. Zum Ersten schlagen wir vor, die nachträgliche Sicherungsverwahrung anordnen zu können. Wir wollen zum Zweiten dem Vorschlag des Bundesrates folgen und die Grunddelikte im Sexualbereich, die im Augenblick noch in § 176 Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuches als Vergehen eingestuft sind, künftig als Verbrechen charakterisieren. Wir wollen zum Dritten das Anbahnen von Kontakten, die in der Regel dem sexuellen Missbrauch von Kindern dienen sollen, strafrechtlich besser fassen können. Wir wollen zum Vierten die Telefonüberwachung auf Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern und auf die Verteilung von pornographischen Schriften ausdehnen, die sich mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern befassen. Zum Fünften wollen wir die Möglichkeit schaffen, den genetischen Fingerabdruck weiter verbreitet anzuwenden. Zum ersten Punkt, der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung: Im Augenblick ist die Sicherungsverwahrung, also das Festhalten des Täters nach Verbüßen seiner Straftat hinter Schloss und Riegel, nur dann möglich, wenn der Richter sie in seinem Strafurteil selbst ausgesprochen hat. ({3}) Nachträglich geht das im Augenblick noch nicht. ({4}) Die Gefährlichkeit des Täters muss sich also bis zum Begehen der Straftat herausgestellt haben; dann ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung möglich. Wenn sich aber - was sehr oft der Fall ist - die Gefährlichkeit des Täters erst im Strafvollzug herausstellt, ({5}) weil man erkennt, dass der Täter nicht therapiefähig oder nicht zu einer Therapie bereit ist, oder weil die Sachverständigen, die sich mit dem Täter während des Strafvollzugs intensiv befassen, erkennen, dass es sich um einen gefährlichen Wiederholungstäter handelt, dann haben wir heute noch nicht die Möglichkeit, nachträglich eine Sicherungsverwahrung anzuordnen. ({6}) Manche Länder wie Baden-Württemberg und Bayern wollen sich nun mit dem Polizeirecht behelfen. Ich halte das für einen falschen Weg. Ich bin der Auffassung, dass eine so schwerwiegende Anordnung - es geht immerhin um einen Freiheitsentzug - von einem Gericht ausgesprochen werden muss. ({7}) Der Betroffene selbst muss die Möglichkeit haben, seine Einwendungen in einem ordentlichen Gerichtsverfahren geltend zu machen. Deshalb bin ich dafür, dass das Vollstreckungsgericht diese Frage zu beurteilen hat. Aber wir müssen nach meiner Auffassung die Möglichkeit schaffen, die nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen. ({8}) Dies muss im materiellen Strafrecht und im Strafprozessrecht, nicht aber im Polizeirecht verankert werden. Der zweite Punkt ist die Neucharakterisierung von Grundfällen des sexuellen Missbrauchs als Verbrechen. Angesichts von jährlich 8 000 Fällen von sexuellem Missbrauch von Kindern - die Dunkelziffer ist noch weit höher, weil sich dies alles in der Regel im Nahbereich der Opfer abspielt - scheint mir diese Forderung des Bundesrates nicht unangemessen zu sein. Wir selbst haben uns im Jahre 1996, als wir das sechste Strafrechtsreformgesetz beraten haben, dafür entschieden, hier zwischen einem Vergehen im unteren Bereich des sexuellen Missbrauchs und einem Verbrechen im schwerer wiegenden Bereich des sexuellen Missbrauchs zu differenzieren. Das hatten wir damals zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen von der FDP so beschlossen. Aber ich glaube, dass wir uns getäuscht haben. Die Rechtsprechung ist jedenfalls dieser Überlegung nicht gefolgt. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom Mai 1998 festgestellt, dass das heutige Recht, das wir damals geschaffen haben, milder als das vorausgegangene Recht ist. Das wollten wir nicht. Wir wollten 1996 mit dem Sechsten Strafrechtsreformgesetz die Straftatbestände im Bereich der Sexualstraftaten verschärfen. Der Bundesgerichtshof, die Rechtsprechung ist dem nicht gefolgt. Deswegen meinen wir dies korrigieren zu müssen; aus diesem Grund legen wir einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Der dritte Punkt betrifft das Anbahnen von Kontakten, die in der Regel zu Kindesmissbrauch führen. Im Augenblick ist das nicht in allen Fällen strafbar. Wir wollen einen neuen Straftatbestand einführen, damit dies in jedem Falle strafrechtlich erfasst werden kann. ({9}) Der vierte Punkt bezieht sich auf die Ausdehnung der Möglichkeit der Telefonüberwachung auf die Tatbestände des sexuellen Missbrauchs und der Verbreitung von Kinderpornographie. Wir wissen, dass die Telefonüberwachung ein ganz exzellentes Mittel für die Strafverfolgung ist. Damit das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt, sieht der Gesetzgeber vor, dass nur die in einem Katalog erfassten Straftaten diese Telefonüberwachung rechtfertigen. Wir sind aber der Meinung, dass in diesen Katalog auch die schwere Straftat des sexuellen Missbrauchs und der Verteilung von pornographischen Schriften, soweit sie den sexuellen Missbrauch von Kindern betreffen, aufgenommen werden muss. Wir wollen also die Möglichkeit der Anwendung dieses Mittels auch auf diese Straftaten ausdehnen. In einem fünften Punkt wollen wir die Möglichkeit der Anwendung des genetischen Fingerabdrucks erweitern. Auch von ihm wissen wir, dass er ein ganz exzellentes Beweismittel ist. Der genetische Fingerabdruck dient nicht der Erfassung der gesamten Persönlichkeit des Betroffenen. ({10}) - Ich wollte niemals die Erfassung der gesamten Persönlichkeit. ({11}) Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass dies ein exzellentes Mittel ist, um die Identität einer Person festzustellen. Es gibt dafür kein besseres Mittel. ({12}) Vielleicht ermöglicht der Fingerabdruck ähnliche Ergebnisse, aber der genetische Fingerabdruck ist meiner Meinung nach ein exzellentes Mittel der Identitätsfeststellung. Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf nicht die generelle Ausweitung seiner Anwendung. Ich sage das, damit Sie keine falschen Zungenschläge in die Debatte bringen. Wir wollen dessen Nutzung in folgenden zwei Stufen ausweiten: Im Augenblick haben wir die Möglichkeit, den genetischen Fingerabdruck nehmen zu können, wenn eine schwere Straftat vorliegt und wenn der Richter zu dem Ergebnis kommt, dass es sich um einen gefährlichen Wiederholungstäter handelt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir den Anlass auf jedwede Straftat ausdehnen, weil sich herausgestellt hat, dass die mit kleineren Delikten beginnende Täterkarriere oft mit einer solchen schweren Straftat endet. ({13}) Diese Prognose muss der Richter allerdings stellen können. Das ist die zweite Voraussetzung. Das ist nicht in jedem Fall so; diesbezüglich stimme ich mit Ihnen voll überein. Wir wollen zum einen den Anlass für die Erhebung des genetischen Fingerabdrucks herabstufen. Die Prognose, ob dieser Täter ein schwerer Sexualverbrecher werden oder andere schwere Straftaten begehen wird, machen wir zur zweiten Voraussetzung für diese Erhebung. Dies ist eine vernünftige Überlegung. Wir sollten darüber diskutieren. Es wird andere Meinungen dazu geben, aber dieser Gesetzentwurf ist eine Grundlage, um im Ausschuss über diese Fragen der inneren Sicherheit, von Sexualverbrechen und von schweren Straftaten in einer vernünftigen Weise diskutieren zu können. Danke schön. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst um Entschuldigung bitten. ({0}) Ich bin etwas erkältet, sodass meine Stimme etwas angegriffen ist. ({1}) - Dann fühlen wir uns besonders verbunden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Entschuldigung, Herr Dr. Pick. - Ich bitte darum, dass derjenige, der das Handy dabei hat, es wenigstens abstellt. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Geis, Sie haben das Justizministerium besonders angesprochen. Es wird Sie beruhigen, dass das Bundesministerium der Justiz und insbesondere die Bundesministerin der Justiz im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alles das tun werden, was den Komplex der Bekämpfung des Terrorismus und der Fragen der inneren Sicherheit betrifft. Sie wissen, dass wir eine Nachfolgeregelung für die so genannte Kronzeugenregelung vorschlagen werden und dass wir eine § 12 Fernmeldeanlagengesetz entsprechende Regelung in die Strafprozessordnung und vor allen Dingen eine Regelung in § 129 b StGB aufnehmen werden. Wo wir zuständig sind, werden wir natürlich tätig werden. ({0}) Ich glaube, das ist allgemein bekannt. Ich will mich nun besonders dem Schutz vor allem unserer Kinder vor Sexualverbrechen widmen. Der Bundesrat hat sich schon mehrfach - Herr Geis, Sie haben das angesprochen - mit diesem Thema beschäftigt. Er hat etwas sehr Richtiges beschlossen, nämlich dieses Thema vom Grundsatz her anzugehen und nicht einzelne Bestandteile zu behandeln. In der Tat muss man sich die Frage stellen, wie wir den Schutz der Bevölkerung ohne kurzatmigen Aktionismus sicherstellen können. Sie wissen auch, dass es dazu einen Antrag der großen Koalitionen in den Ländern gab, also auch unter konstruktiver Mitwirkung der CDU. Das ist ein Beispiel für eine konstruktive und parteiübergreifende Zusammenarbeit, die bei diesem ernsten und wichtigen Thema geboten ist. Ich sage auch hier noch einmal ganz deutlich - ich habe es schon im Bundesrat gesagt -: Wir sind für konstruktive und sinnvolle Vorschläge jederzeit offen. Wenn ein entsprechender Bedarf besteht, werden wir auch bei diesem Thema unvoreingenommen über die Möglichkeiten reden können. Das werden wir mit Sicherheit im Rechtsausschuss tun. Wir werden darüber reden, wo möglicherweise noch Instrumente für Gerichte und Strafverfolgungsbehörden fehlen, um den Schutz der Bevölkerung sicherzustellen. Deswegen sind wir auch im Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Bundesländern. Wir wollen die Fragestellungen aber nicht darauf verengen, welche Gesetzesverschärfungen denkbar sind. Diese Frage hat nichts damit zu tun, was eigentlich erforderlich ist. Deswegen erinnere ich Sie in diesem Zusammenhang an die Entschließung des Bundesrates und auch an den Beschluss der diesjährigen Justizministerkonferenz. Dort wird zum Ausdruck gebracht, dass wir über dieses Thema vertieft und grundsätzlich reden werden. Ihr Vorschlag, Herr Geis, geht leider einen anderen Weg. Sie haben das Thema „Sicherungsverwahrung“ - ich setze diesen Begriff in Anführungszeichen - angesprochen. Sie suchen Ihr Heil sozusagen als Zweitverwerter eines Entwurfs, den der Bundesrat, so kann man sagen, in den Papierkorb geworfen hat. ({1}) Sie greifen hier einen Vorstoß auf, der im Bundesrat selbst keine Mehrheit gefunden hat. Angesichts des Sprichworts „Scheitern macht gescheiter“ muss ich sagen, dass dies bei Ihnen nicht zutrifft. ({2}) Sie haben uns einen Entwurf zur „nachträglichen Sicherungsverwahrung“ vorgelegt. Herr Geis, ich halte den Begriff „Sicherungsverwahrung“ für ausgesprochen unglücklich und missverständlich. Es geht nämlich nicht um die sichernde Sanktion aus Anlass einer Straftat - das wäre in der Tat die Sicherungsverwahrung -, sondern es geht um einen sichernden Gewahrsam zur Abwehr künftiger Gefahren. Das ist der Hintergrund des Entwurfs. Bei diesem Thema sind wir im Bereich der Gefahrenabwehr, Herr Geis. Die Gefahrenabwehr ist aber nach der bisherigen Praxis eine Domäne der Länder. Aus verfassungsrechtlichen Gründen sagen wir, dass die Gefahrenabwehr in der Gesetzgebungskompetenz der Länder und nicht des Bundes liegt. Dieser Überzeugung waren auch zwei Bundesländer, die Sie schon erwähnt haben und die Ihnen nicht fern sind. Diese Länder haben entsprechende Regelungen selber zum Teil schon getroffen, zum Teil befinden diese sich im Gesetzgebungsverfahren. Diese Frage geht also in erster Linie die Länder an. Deswegen verstehe ich auch folgende etwas kryptische Begründung in Ihrem Antrag nicht: „... fällt sie aber nach gefestigter Staatspraxis in die Kompetenz des Bundes.“ Es gibt weder eine Staatspraxis noch ist sie gar gefestigt. Es ist eine Kompetenz, die Polizeicharakter hat und deswegen in die Zuständigkeit der Länder fällt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Pick, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Können Sie mir erklären, Herr Staatssekretär, weshalb die Möglichkeit, die schon jetzt gegeben ist - und zwar in § 66 des Strafgesetzbuches und in der Strafprozessordnung -, mit dem Urteil die Sicherungsverwahrung auszusprechen - wir haben die entsprechenden Fälle in den betreffenden Gesetzen geregelt und sehen ein Gerichtsverfahren vor -, nicht auch bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung so gelten soll? ({0})

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Ich glaube, Herr Geis, der große Unterschied liegt darin, dass bei der herkömmlichen Sicherungsverwahrung ({0}) der unmittelbare Bezug zu einer bestimmten Straftat besteht. ({1}) Daran knüpft die Prognose an, die das erkennende Gericht zu treffen hat. ({2}) Aber das, was Sie wollen, ist eine Prognose für die Zukunft, die unabhängig von der Tat ist und nach der Verbüßung, nach dem Vollzug abgegeben werden soll. Insofern ist die Situation eine andere. Deshalb meine ich, dass Sie darüber noch einmal nachdenken sollten. Sie sind ein kluger Mensch und haben viel Sachverstand in Ihrer Fraktion; deswegen wird Ihnen das vielleicht auch noch klar werden. ({3}) Ich möchte kurz noch etwas zur DNA-Analyse und zur Telefonüberwachung sagen. Auch dazu enthält Ihr Gesetzentwurf nicht sehr viel Neues. Hinsichtlich der Verbesserung des Schutzes vor Straftaten besteht zwischen uns kein Meinungsstreit. Wir sind auch in diesem Bereich für eine sachliche Diskussion darüber, was die DNAAnalyse zur Aufklärung und Verhütung schwerer Straftaten, gerade im Bereich der Sexualdelikte, beitragen kann. Wir sind aber der Meinung, dass die wiederholte Forderung nach einer Absenkung der Eingriffsvoraussetzungen für eine DNA-Analyse über das Ziel hinausschießt. Die Arbeit der Ermittlungsbehörden und der Polizei hat doch deutlich gemacht, dass die vorhandenen Instrumente zur effektiven Kriminalitätsbekämpfung im Bereich der DNAAnalyse ausreichend sind; sie müssen nur genutzt werden. Sie wissen auch, dass das Bundeszentralregister die bisher angeforderten Auskünfte über die so genannten Altfälle - es handelt sich dabei um fast 1 Million Datensätze - mittlerweile den Staatsanwaltschaften mitgeteilt hat. Sie sind noch in der Auswertung. Diese Aufgabe ist erst noch zu leisten. Bevor man sich mit einer Erweiterung der Möglichkeiten der DNA-Analyse beschäftigt, sollte man erst einmal die vorhandenen Möglichkeiten nutzen ({4}) und schauen, wie weit man damit kommt, um dann gegebenenfalls Verschärfungen ins Auge zu fassen. ({5}) In Ihrem Antrag fehlt auch die wissenschaftliche Begründung, Herr Geis. Sie waren, wie ich gelesen habe, bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden und haben sich erkundigt. Sie haben auf eine Studie dieses Instituts verwiesen. Wir sind der Auffassung, dass diese Studie nicht zu dem Schluss kommt, dass besondere Straftaten geringerer und mittlerer Qualität zu einer entsprechenden Karriere führen. Aber über diese Frage werden wir noch zu sprechen haben. Ein letzter Satz zur Telefonüberwachung. Wir sehen keinen Anlass, sie zu erweitern. Hier geht es um einen ganz wichtigen grundgesetzlich geschützten Bereich. Wir sollten bei der Frage, die Möglichkeiten der Telefonüberwachung auszuweiten, sehr bedacht sein. In diesem Zusammenhang warten wir auf eine Expertise des MaxPlanck-Instituts in Freiburg als Grundlage für die Prüfung, ob man das vorhandene Instrumentarium erweitern soll. Ich denke, wir sollten die Ergebnisse dieser Studie abwarten und dann in Ruhe und Gelassenheit über mögliche Konsequenzen nachdenken. Danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Staatssekretär Pick hat gerade etwas Richtiges gesagt: Wir sind in der Verpflichtung, alles das, was wir in der Vergangenheit möglicherweise schon einmal geprüft haben, was wir vielleicht aus diesen oder jenen guten Gründen abgelehnt haben, ständig zu überParl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick prüfen, und zwar insbesondere dann, wenn es um Kinder geht. Ich glaube, jeder stellt sich, wenn Berichte auftauchen, dass ein Kinder verschwunden ist, als Gesetzgeber die Frage, ob wir alles richtig gemacht haben oder ob man dieses oder jenes nicht verbessern könnte. Genauso verstehe ich den Gesetzentwurf, der von der CDU/CSUFraktion hier heute eingebracht worden ist, nämlich als einen Anstoß zum Nachdenken. Wir als FDP greifen ihn auf und prüfen ihn ganz selbstverständlich - wie das die Kinder von uns erwarten können. Einige der Gedanken, die die CDU/CSU in den Gesetzgebungsgang eingebracht hat, sind hier ja schon vorgetragen worden. Wir haben uns damit beschäftigt und sagen als FDP ein klares Ja zur nachträglichen Sicherungsverwahrung. ({0}) Staatssekretär Pick hat es schon angesprochen: Ich bin sehr froh, dass mein Parteifreund, der baden-württembergische Justizminister Goll, Vorreiter gewesen ist und dafür gesorgt hat, dass dies auf polizeirechtlicher Grundlage wenigstens in Baden-Württemberg möglich ist. Das war ein guter, ein richtiger Schritt. Es war deshalb ein guter und richtiger Schritt, weil wir alle wissen, dass die Sicherungsverwahrung sehr vorsichtig angeordnet wird. Diejenigen, die keine Spezialisten sind, wissen nicht - das können sie auch gar nicht -, dass das wahre „lebenslänglich“ in aller Regel nur dann ausgesprochen wird, wenn jemand in Sicherungsverwahrung kommt. Es gibt Fälle, dass jemand 50 Jahre in Sicherungsverwahrung sitzt, auch weiterhin gefährlich ist und deshalb in Sicherungsverwahrung bleiben muss. Deswegen sind Gerichte zurückhaltend. Ich meine, es ist wirklich überlegenswert, dass es dann, wenn sich in der Haft und damit auch in Bezug auf die Tat, die begangen worden ist, neue Gesichtspunkte zeigen, die deutlich machen, dass ein Täter brandgefährlich ist, und wenn jeder, der mit ihm befasst ist, die Garantie ausspricht, dass er nach der Haftentlassung sofort wieder schwerste Straftaten begehen wird, beispielsweise ein Kind umbringen wird, möglich sein muss, in einem rechtsstaatlichen Verfahren eine Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen. ({1}) - Die Entwicklung kann keiner mit Sicherheit voraussagen. Aber es gibt Anzeichen dafür, die das nahe legen. Sie alle wissen, dass Praktiker das in den Anhörungen vorgetragen haben. ({2}) Ich persönlich glaube, dass man das im Polizeirecht regeln kann, bin aber der Meinung, dass es in das Strafrecht und in das Strafprozessrecht hineingehört. Deshalb unterstützen wir diese Anregung der CDU/CSU-Fraktion. ({3}) Bei einer anderen Überlegung bin ich sehr zurückhaltend. Wir haben uns damals, als wir es beraten haben, sehr viele Gedanken darüber gemacht - Herr Geis hat das schon angesprochen -, ob wir den sexuellen Missbrauch von Kindern immer zum Verbrechen hoch stufen. Wir haben uns nach guten Beratungen dagegen entschieden und haben das so gestaltet, wie es jetzt im Gesetzbuch steht. Ich habe lange überlegt und bin zu der Auffassung gekommen, dass es auch weiterhin richtig ist; denn die Gerichte haben - ich glaube, dass das wichtig ist, um Straftaten zu verhindern - die Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern sehr früh beginnen lassen. Es gibt ein Beispiel, das in der Kommentarliteratur immer wieder zu lesen ist: der Zungenkuss. Schon der Zungenkuss gilt als sexueller Missbrauch eines Kindes. Das ist gut und richtig so. Wenn wir das zum Verbrechen hochstufen, fürchte ich, wird die Erheblichkeitsgrenze verlagert. Das wäre nicht das Richtige zum Schutz der Kinder. Deshalb ist es meine Einschätzung zu Beginn der Beratungen, dass wir es bei der jetzigen Regelung belassen sollten. ({4}) Trotzdem: Wir sind auch dabei in der Verpflichtung, immer wieder zu prüfen. Deshalb werden wir uns das in den Beratungen sicherlich genau anschauen müssen. Wie auch immer wir es rechtlich gestalten, eines ist klar: Jeder sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein Verbrechen an diesen Kindern. Daran sollte kein Zweifel bestehen. Was die Ausweitung der Möglichkeiten des genetischen Fingerabdrucks anbelangt, stimme ich der Bundesregierung zu. Es ärgert mich unglaublich, dass es einige Länder gibt - Baden-Württemberg ist hier wieder vorbildlich -, denen es ganz offensichtlich gelungen ist, die bestehenden Möglichkeiten umzusetzen, während beispielsweise hier in Berlin, wo ein rot-grüner Senat regiert, ({5}) mehr als 2 000 Fälle nicht bearbeitet worden sind. Das darf nicht so sein. Das ist wirklich ein schlimmer Skandal. In anderen Ländern gelingt dies besser, und zwar unabhängig von der jeweiligen Regierung. ({6}) Das Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern hat es nicht verdient, so behandelt zu werden, wie Sie es gerade tun. ({7}) Deshalb sollten wir abwarten, bis wir in allen Ländern zu einer solchen Registrierung kommen. Wir sollten sorgfältig und vorurteilsfrei prüfen, welcher neue Schritt gegebenenfalls zu gehen ist. Es kann nicht sein, dass wir erhebJörg van Essen liche Vollzugsdefizite haben und gleichzeitig neue Gesetze beschließen, bevor die bestehenden umgesetzt sind. Sie sehen also: Die FDP-Bundestagsfraktion geht offen in diese Beratungen. Ich sage es noch einmal: Die Kinder, die Opfer von Sexualstraftaten werden, haben dies verdient. Über einen Punkt, den die CDU/CSU nicht angesprochen hat, werden wir ebenfalls diskutieren müssen: über die Frage des nachträglichen Schutzes von Opfern. ({8}) Es gibt eine Rehabilitierung von Strafgefangenen. Kinder, die Opfer von Sexualstraftaten geworden sind, haben diesen Anspruch nicht. Das kann so nicht bleiben. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Schutz der Opfer von Sexualverbrechen hat für die Koalition Toppriorität. In der Abwägung mit den Rechten des Täters genießt für uns der Schutz vor sexuell motivierten Gewaltdelikten immer Vorrang. ({0}) Denn diese Taten zählen zu den schlimmsten Straftaten überhaupt. Sie sind durch nichts zu rechtfertigen. Sie verlangen nicht nur effektive Ahndung, sondern auch jede Anstrengung, um solche Verbrechen für die Zukunft möglichst auszuschließen. Doch bei aller gebotenen Entschlossenheit muss gerade im Sexualstrafrecht wie bei allen sensiblen Gesetzesmaterien mit Behutsamkeit agiert werden. Neue Gesetze helfen nur, wenn die Maßnahmen tatsächlich gut durchdacht und ausgereift sind. Ist dies nicht der Fall - wie bei dem einen oder anderen Schnellschuss im Entwurf der Union -, so besteht die Gefahr, dass am Ende mehr Schaden angerichtet wird: Schaden nicht nur für den Rechtsstaat, sondern auch für die Opfer selbst, um deren besseren Schutz es uns eigentlich geht. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, in gewisser Weise ist Ihre heutige Vorlage gar kein richtiger Schnellschuss mehr. Staatssekretär Dr. Pick hat es angesprochen: Einige Vorschläge, wie die Verhängung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, wurden bereits im Bundesrat erörtert und haben auch dort keine Mehrheit gefunden. ({2}) Das, was uns heute beschäftigt, ist vielmehr eine angestaubte Drucksache, die offenbar schon seit Juli dieses Jahres auf die Schlussphase des Berliner Wahlkampfes gewartet hat. ({3}) Herr van Essen, ich fand, Ihre Töne gerade klangen ein bisschen so, als hätte die neue rot-grüne Landesregierung in Berlin, die erst seit wenigen Monaten im Amt ist, eine besondere Verantwortung für das, was auf dem Gebiet der DNA-Analyse gemacht wurde. Das kann man nun wirklich nicht behaupten. Das sollten wir bei dieser Debatte über ein ernstes Thema außen vor lassen. ({4}) Meine Fraktion begrüßt die Entschließung des Bundesrates, der sich im Hinblick auf diese Straftaten für eine konsequente Anwendung der geltenden Rechtslage ausgesprochen hat. Dies ist aber auch ein Appell an die Länder selbst, und zwar an alle Länder. Denn bei der DNADatei, beim so genannten genetischen Fingerabdruck, werden derzeit die bestehenden Möglichkeiten von den Ländern noch lange nicht genutzt. Angesichts dessen, dass wir erst circa 130 000 Täter registriert haben, obwohl es nach geltendem Recht rund 800 000 Täter sein könnten, ist festzustellen: Dies ist sicher noch keine konsequente Anwendung der geltenden Rechtslage. Wir nehmen den Bundesrat dabei beim Wort. Die Länder haben versprochen, ihre Anstrengungen zum Aufbau der im Gesetz bereits vorgesehenen Gendateien zu verstärken. Das wäre auch der richtige Weg. Wir brauchen dann keine Ausweitung der gesetzlichen Grundlagen für die Erfassung des genetischen Fingerabdrucks. Diese würde wohl auch in Karlsruhe kaum Bestand haben. Das Bundesverfassungsgericht hat doch die Rechtmäßigkeit der geltenden Rechtslage gerade mit den engen rechtlichen Voraussetzungen begründet. Nur unter dieser Rücksicht ist nämlich die Verhältnismäßigkeit gewahrt. Der Verzicht auf das Vorliegen einer erheblichen Straftat als Erfordernis hierfür, wie ihn die CDU/CSU vorschlägt, wäre demnach mit aller Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig. ({5}) Meine Damen und Herren, es ist manchmal schwer, angesichts solch abscheulicher Verbrechen die Fassung zu bewahren. Ich habe deshalb Verständnis für all diejenigen, denen unter dem Eindruck dieser Taten die Emotionen durchgehen. Man muss trotzdem immer die richtigen Fragen stellen und kommt nicht herum, sich auch einmal die Fakten vor Augen zu führen. Diese lauten, ohne durch ihre Nennung irgendetwas verharmlosen zu wollen, denn jede Tat ist einfach eine Tat zu viel: Fast alle Sexualstraftaten, bei denen ein Kind getötet wurde, wurden bislang aufgeklärt. Das ist sehr wichtig und sehr gut. Die Anzahl der Sexualmorde war trotz des zurzeit herrschenden gegenteiligen öffentlichen Eindrucks in den 70er-Jahren mehr als doppelt so hoch wie heute. Man hat damals nur nicht so umfangreich berichtet. Wir haben deshalb subjektiv einen etwas anderen Eindruck. Das soll nichts verharmlosen, weil jede dieser Taten ein dramatisches Verbrechen darstellt. Wir müssen alles tun, um solche zu verhindern. Wir sollten uns bloß selber die Realität vor Augen halten, bevor wir die Auffassung vertreten, diese Verbrechen hätten in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Dem ist Gott sei Dank nicht so. Die Koalition wird gleichwohl im Bereich dieser Delikte jedwede sinnvolle Weiterentwicklung der geltenden Rechtslage sorgfältig prüfen. Wir haben beispielsweise bereits die Telefonüberwachung in unsere Überlegungen einbezogen. Hier werden wir aber nicht scheibchenweise die Gesetze reformieren, sondern wollen eine Rundumerneuerung der gesetzlichen Regelungen zur Telefonüberwachung vornehmen. ({6}) Gleiches gilt auch für das materielle Strafrecht. Selbstverständlich werden wir die Detailvorschläge der Opposition in den Ausschüssen gründlich beraten. Ich meine zum Beispiel, wir sollten ernsthaft prüfen, ob nicht schon der Versuch, Kinder für sexuelle Handlungen zu vermitteln, unter Strafe gestellt wird. Wahrscheinlich werden wir das dann auch festschreiben. Es ist natürlich ein Skandal, dass im Internet über Telefondienste sexuelle Handlungen von Kindern angeboten werden, wir aber nicht zugreifen können, ohne dass es zuvor tatsächlich zu einer Vermittlung gekommen ist. Das ist absurd; diesen Leuten muss man frühzeitig das Handwerk legen. Darüber besteht, wie ich glaube, im Hause Einigkeit. ({7}) Im Übrigen gilt aber, dass wir zur Bekämpfung von Sexualstraftaten ein Gesamtkonzept zur Strafrahmenharmonisierung aufstellen müssen. Der ehrenwerte Versuch, mit dem sechsten Strafrechtsreformgesetz den Delikten gegen die Person stärkeres Gewicht als Delikten gegen Vermögenswerte zuzumessen, ist ja auf halbem Wege stecken geblieben. Wir brauchen ein schlüssiges Gesamtkonzept, das gerade auch im Bereich der Sexualdelikte den Interessen der Opfer gerecht wird. ({8}) Dies ist allerdings, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, bei Ihren Vorschlägen zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch nicht immer der Fall. Die von Ihnen vorgeschlagene Strafrahmenanhebung des Grundtatbestandes in den §§ 176 und 176 a führt letztlich dazu, dass schwere Begehensformen nicht mehr als solche benannt werden. Damit wird aber den Opfern gerade die Genugtuung genommen, dass die an ihnen begangenen Taten letztlich als schwer eingestuft werden. Das ist ein falsches Signal. ({9}) Auch wenn Sie es aus ideologischen Gründen nicht wahrhaben wollen - die Anerkennung eines Verbrechens durch das Gericht als schweres Unrecht ist für die Opfer manchmal wichtiger als das konkrete Strafmaß. ({10}) Warum wollen Sie diese Taten nicht mehr als das bezeichnen, was sie sind? Ihr Vorschlag, die in § 176 Strafgesetzbuch genannten Vergehen zum Verbrechenstatbestand heraufzustufen, würde im Übrigen dazu führen, dass die unbürokratischen Einstellungsmöglichkeiten nach dem Opportunitätsprinzip bei geringer Schuld gemäß § 153 Strafprozessordnung wegfallen. Herr van Essen hat gerade darauf hingewiesen, dass wir bei den in § 176 genannten Vergehen zu Recht die Schwelle der Erheblichkeit sehr weit unten ansetzen. Das ist vernünftig, weil wir hier sehr frühzeitig eingreifen können müssen. Aber wir müssen dann auch sehen, welche Konstellationen dieses Gesetz trifft und wo wir diese Einstellungsmöglichkeiten brauchen. Denn es kann doch nicht sein, dass der einverständliche Zungenkuss eines Vierzehnjährigen mit seiner dreizehneinhalbjährigen Freundin dazu führt, dass das Gericht hier verhandeln muss und eine Jugendstrafe verhängen soll. Es wäre doch eine dramatische Verirrung, wenn der Gesetzgeber diesen Weg beschreiten würde. ({11}) Auch im Bereich pornographischer Schriften müssen Strafrahmenerhöhungen immer berücksichtigen, dass im Einzelfall schnell einmal der Bagatellbereich berührt sein kann. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn eine solche Schrift einmal unsorgfältig aufbewahrt worden ist. Hier darf nicht gleich ein übertrieben hohes Strafmaß dem Richter jeden Spielraum nehmen. Meine Damen und Herren, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um Sexualstraftaten rechtzeitig vorzubeugen, ist eine anspruchsvolle Herausforderung. Der Bundesrat hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dies nur im Einklang mit unserer Verfassung geschehen kann. Aus eben diesem Grunde hat der Bundesrat Ihren Vorschlag zur nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht akzeptiert. ({12}) Denn in Ihrer Lösung missachten Sie elementare Verfassungsgrundsätze wie das Verbot der Doppelbestrafung. ({13}) Herr Staatssekretär Pick hat dies heute und auch in den Beratungen im Bundesrat erläutert. Übrigens sehe ich auch das verfassungsrechtlich gebotene Ziel der Resozialisierung beeinträchtigt. Denn der Verurteilte weiß während seiner Haftzeit überhaupt nicht mehr, für wie lange er inhaftiert sein wird, weil eine spätere Entscheidung über die Sicherungsverwahrung wie ein Damoklesschwert über ihm schwebt. ({14}) Volker Beck ({15}) Im Jahre 1998 ist das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten in Kraft getreten. Dieses Gesetz weitet nicht nur den Strafrahmen bei Sexualstraftaten völlig zu Recht deutlich aus, sondern es senkt auch die Anforderungen an die Anordnung von Sicherungsverwahrung drastisch ab. Die Opferorganisation Weißer Ring, die in der Vergangenheit nun wahrlich nicht dadurch aufgefallen ist, dass sie mit Forderungen nach einem schärferen Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch besonders zurückhaltend gewesen ist, hat hier Zurückhaltung angemahnt. Der Gesetzgeber solle erst einmal abwarten, ob sich die veränderte Rechtslage in der Praxis bewährt. Im Prinzip teile ich diese Auffassung. Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber hat die Länder 1998 auch dazu aufgefordert, für eine bessere Ausbildung von qualifizierten Gutachtern und bis zum Jahre 2003 für mehr Therapieplätze zu sorgen. Ich finde diese Zeitspanne etwas zu großzügig und würde mich freuen, wenn die Länder hier etwas zügiger zu Potte kommen würden, als der Gesetzgeber es ihnen aufgegeben hat.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Beck, kommen Sie bitte zum Ende.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Der beste Opferschutz ist immer noch ein erfolgreich resozialisierter und gegebenenfalls therapierter Straftäter. Ich denke, diese Einsicht sollten wir uns alle bei dieser Diskussion ins Stammbuch schreiben. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der PDS spricht jetzt die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sexualstraftaten gehören zu den abscheulichsten Straftaten. Das gilt besonders dann, wenn Kinder die Opfer sind. Oft fehlen einem angesichts der physischen und psychischen Qualen, die diese Kinder erleiden müssen, die Worte. Im schlimmsten Fall verlieren sie sogar ihr Leben. Zu diesem Martyrium der Opfer kommt noch das Leid der betroffenen Eltern hinzu. Deshalb stoßen Sexualstraftaten in der Öffentlichkeit verständlicherweise auf große Empörung. Zu Recht wird die Forderung nach konsequenter Bestrafung der Täter sowie nach einem wirksamen Schutz vor künftigen Verbrechen erhoben. Deshalb interessiert mich jeder sachgerechte Vorschlag; und zwar unabhängig davon, von welcher Fraktion er gemacht wird. Die gerade in jüngerer Vergangenheit geschehenen grauenhaften Sexualmorde an Mädchen und Jungen konfrontieren uns als Gesetzgeber mit dem Wunsch vieler Bürgerinnen und Bürger nach wirksameren Gesetzen. Daher müssen wir sehr ernsthaft prüfen, ob alle uns zu Gebote stehenden rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. Denn das zu schützende Rechtsgut ist besonders kostbar und obendrein sehr verletzlich und hilflos. ({0}) Wir haben aber die unpopuläre Verpflichtung, jeden einzelnen Vorschlag streng rechtsstaatlich zu prüfen; denn die Einschnitte in die Persönlichkeitsrechte der Straftäter sind meist tief und nachhaltig. Zunächst zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung. Sie gilt seit ihrer Einführung im Jahre 1933 als kriminalpolitisch umstrittenste Maßregel, weil sie am einschneidendsten ist. Die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen der persönlichen Freiheit des betroffenen Inhaftierten und dem Schutz des Einzelnen bzw. der Gemeinschaft vor gefährlichen Straftätern ist dabei äußerst schwierig. Unter dem Gesichtspunkt eines tatbezogenen Strafrechts ist die Sicherungsverwahrung, vor allem die nachträgliche Sicherungsverwahrung, eine sehr problematische Maßnahme. Da der Gesetzentwurf dazu keine Aussagen enthält, würden mich vor allem auch die empirischen Daten und Erkenntnisse interessieren, die eine nachträgliche Sicherungsverwahrung notwendig machen. Auch ist aus meiner Sicht zu fragen: Genügen die in der Begründung genannten Bewertungskriterien zur Feststellung der allgemeinen Gefährlichkeit? Ist das jetzt vorgeschlagene Verfahren vor dem Vollstreckungsgericht angesichts dieser drastischen Maßnahme tatsächlich ausreichend? Über diese Fragen, aber auch über die Gefahr der möglichen Zurückdrängung therapeutischer Maßnahmen zugunsten der Sicherungsverwahrung als der vermeintlich leichteren Lösung müssen wir deshalb intensiv diskutieren. Nun zur Verschärfung des Straftatbestandes des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Bei aller Notwendigkeit, solche Straftaten konsequent zu verfolgen und zu bestrafen, darf die Möglichkeit eines differenzierten Strafausspruchs entsprechend der konkreten Tat und Schuldschwere nicht eingeebnet werden. Höhere Strafrahmen schrecken erfahrungsgemäß in aller Regel nicht ab und verhindern keine Verbrechen. Die subjektive Wahrscheinlichkeit, entdeckt und zügig verurteilt zu werden, ist dagegen verhaltensrelevant. Die Ergänzung des § 176 StGB um einen neuen Tatbestand scheint mir dagegen durchaus überlegenswert zu sein. Die strafrechtlich wirksamere Erfassung der Anbahnung von Kontakten, die dem sexuellen Missbrauch von Kindern dienen, ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Es ist wichtig, dass Schlupflöcher der Kontaktanbahnung, zum Beispiel über moderne Kommunikationstechniken, geschlossen werden, die von solchen Personenkreisen leider zunehmend genutzt werden. Auch bei der DNA-Analyse habe ich ernsthafte Bedenken. Hier wird eine sehr weite Herabsetzung für die Durchführung der DNA-Untersuchung angestrebt. Die Normklarheit für die Anwendung der vorgeschlagenen Volker Beck ({1}) Regelung erscheint mir fraglich. Auch darüber müssen wir im Ausschuss reden. Damit bin ich im Grunde wieder bei meiner Eingangsbemerkung. Ich habe eine Reihe von Fragen zu diesen Vorschlägen. Da ich annehme, dass es nicht mir allein so geht - das hat auch die Debatte heute erbracht -, und ich das Anliegen des Gesetzentwurfs ernst nehme, möchte ich eine Expertenanhörung anregen. Dies kann uns helfen, auch darüber hinausgehende gesetzgeberische Maßnahmen zur Verhinderung von Sexualstraftaten zu finden. Denn ich halte im Rahmen unserer Zuständigkeit die Mittel des Strafrechts - von einigen Ausnahmen abgesehen im Großen und Ganzen für ausgeschöpft. Erwiesenermaßen sind die Täter nicht selten selbst Opfer früheren Missbrauchs, Opfer von Gewalt und sozialer Vernachlässigung. Das soll absolut nichts entschuldigen. Aber diese Feststellung eröffnet uns einen Zugang zu den Hauptursachen von Sexualdelikten. ({2}) Daher sind mir auch Konzepte in Zusammenarbeit mit den Ländern zur Verhinderung der erstmaligen Begehung dieser Straftaten sehr wichtig. Das heißt, Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen stärker nachzugehen, die Hilfsangebote für gewaltgefährdete Minderjährige zu verbessern und über präventive Hilfs- und Beratungsangebote - gegebenenfalls zunächst anonym - für Personen nachzudenken, die auf diesem Gebiet bei sich Probleme entdecken, aber noch nicht straffällig geworden sind. Danke. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Joachim Stünker für die Fraktion der SPD.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind uns darüber einig - das ist von allen Seiten gesagt worden; ich denke, auch die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land stimmt darin mit uns überein -, dass Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung des Menschen, insbesondere der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, zu den abscheulichsten und verachtungswürdigsten Straftaten überhaupt gehören. Das ist gar keine Frage. Ich darf von mir sagen, dass ich bei diesem Themenbereich aus eigener Anschauung nachhaltig weiß, worüber ich rede. Dies ist meine erste Legislaturperiode im Deutschen Bundestag, und ich habe bis dato über 25 Jahre in der ordentlichen Gerichtsbarkeit gearbeitet. Die letzten zehn Jahre war ich im Bereich des Strafrechts - Strafkammer, Jugendstrafkammer - tätig. Zum Schluss war ich Vorsitzender eines Schwurgerichts, das sich nur mit Tötungsdelikten und anderen Kapitaldelikten zu beschäftigen hat. Ich weiß daher um das Leid, das Elend und die oft furchtbare Verzweiflung der von solchen Taten unmittelbar oder mittelbar Betroffenen. Gerade deshalb weiß ich aber auch um die unterschiedlichsten Täterpersönlichkeiten, die vielfältigsten Beziehungsgeflechte, die differenziertesten sozialen Milieus und die oft unglaublichen gesellschaftlichen Perversitäten, die hinter solchen Taten zutage treten. Der Staat hat die ureigene Aufgabe, die Menschen vor solchen Tätern zu schützen. In diesem Punkt sind wir uns alle einig. Ich sage aber auch ganz bewusst: Die Annahme, das lebenslange Wegschließen aller Sexualstraftäter sei die Lösung, ist problematisch, wenn nicht sogar gefährlich. ({0}) Eine solche Annahme vernachlässigt den Blick auf die Opfer, indem sie so etwas wie Sicherheit im Nachhinein vorgaukelt. Sie vernachlässigt auch eine wirksame Prävention - darauf hat Frau Kenzler zu Recht hingewiesen -, indem sie sich nicht mit der Verschiedenartigkeit von Ursachen von Sexualstraftaten auseinander setzt, um auf diese Weise die Entstehung von Verbrechen im Vorfeld zu bekämpfen. Ich sage ebenso bewusst und aus Überzeugung: Die bestehenden Gesetze reichen im Wesentlichen aus, um Sexualstraftäter angemessen bestrafen zu können. Ein Täter, der ein Kind sexuell missbraucht, vergewaltigt und dann umbringt, wird als Mörder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht und in der Regel auch bestraft. Die Sexualstraftatbestände des Strafgesetzbuches in der Fassung des sechsten Strafrechtsreformgesetzes aus dem Jahre 1998 - Herr Kollege Geis, Sie haben davon gesprochen - sehen hinreichend differenzierte, abgestuft nach einzelnen Tatbeständen, und ausreichende Strafrahmen vor. Die Möglichkeiten zur Verhängung der Sicherungsverwahrung besonders gefährlicher Täter sind - auch darauf ist hingewiesen worden - im Jahre 1998 angemessen verschärft worden. Jeder Rückfalltäter einer Vergewaltigung kann heute in Sicherungsverwahrung genommen werden. Was den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen angeht - auch darauf ist hingewiesen worden und dem stimme ich zu -, gibt es in Bezug auf § 176 StGB und ähnliche Vorschriften noch Verbesserungsbedarf. Wir müssen auf neue gesellschaftliche Entwicklungen reagieren. Auf diesem Feld sind wir hinsichtlich der Vorschläge, die Sie uns in Ihrem Entwurf gemacht haben, Herr Kollege Geis, für eine Diskussion offen. Wir werden Ihnen in den nächsten Wochen einen Entwurf vorlegen, in dem noch eine Reihe von weiteren Tatbeständen enthalten ist, weil wir meinen, auf neue Entwicklungen reagieren zu müssen. Das gilt vor allem für die Entwicklungen, die sich im Zusammenhang mit dem Internet abzeichnen. Ich nenne als Beispiel die Kinderpornographie mit der Vermittlung von Kindern, die im Grunde zu Kindesentführungen führt. Das ist ein weites Feld, auf dem dringender Handlungsbedarf für den Gesetzgeber besteht. Ich habe in meinem Manuskript einen kleinen Katalog aufgeführt, den ich nicht im Einzelnen vortragen will. Wir sind auf diesem Feld offen. Vor allem Ihrem Vorschlag, dass derjenige bestraft werden soll, der ein Kind für eine MissbrauchsDr. Evelyn Kenzler handlung nachzuweisen verspricht - ein völlig grausames Phänomen -, stehen wir sehr positiv gegenüber. Das können wir regeln. Ganz entschieden werden wir aber diejenigen Vorschläge ablehnen, die rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügen. Dies trifft den Kerngehalt des von Ihnen vorgelegten Entwurfs. Sie wollen eine nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im Strafgesetzbuch normieren. Das heißt, die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung soll nach einem rechtskräftigem Urteil - Jahre später durch Beschluss einer Strafvollstreckungskammer ohne erneute Begehung einer Straftat ermöglicht werden. Voraussetzung dafür soll sein, dass eine nicht näher definierte besondere Gefährlichkeit des Verurteilten während der Verbüßung der verhängten Freiheitsstrafe zutage tritt. ({1}) Hiergegen sprechen schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken und rechtssystematische Einwände. Die Sicherungsverwahrung ist für einen Straftäter nach der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe die gravierendste Sanktion, die ein Strafgericht verhängen kann. Wenn der vorliegende Entwurf vorschlägt, diese schwere Rechtsfolge durch Beschluss im Wege eines Anhörungsverfahrens vor der Strafvollstreckungskammer nachträglich zu verhängen und damit die materielle und formelle Rechtskraft eines Strafurteils zu durchbrechen, so unterläuft dieses in Aussicht genommene Verfahren die rechtsstaatlichen Garantien der Strafprozessordnung. ({2}) Dem bereits rechtskräftig Verurteilten werden im Endeffekt die wichtigsten Garantien eines fairen Hauptverfahrens vorenthalten. Diese sind: mündliche öffentliche Hauptverhandlung, die Beteiligung von Schöffen, Laienrichtern an der Urteilsfindung, die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, das durch die Möglichkeit der Revision gesicherte Beweisantragsrecht sowie die Pflichtverteidigung in der Hauptverhandlung. Stattdessen schlagen Sie ein unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindendes Beschlussverfahren vor. Das wäre doch ein Geheimverfahren. Damit wären wir fast wieder im Mittelalter des Strafprozessrechts. ({3}) Ich frage: Warum gehen Sie von der CDU/CSU und der FDP in der Opposition - es hat mich vom Hocker gehauen, dass Sie, Herr van Essen, dem zustimmen wollen so fahrlässig mit den bewährten Grundsätzen der Strafprozessordnung um? Ich bin auf die Ausführungen von Herrn Professor Scholz gespannt, der nach mir reden wird. ({4}) Schließlich ist er Verfassungsrechtler. Ihr Vorschlag verstößt gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Doppelbestrafung - ne bis in idem - gemäß Art. 103 Abs. 3 des Grundgesetzes. Das habe ich vor 30 Jahren in den Vorlesungen an der Freien Universität Berlin gelernt. ({5}) - Wenn es kein Strafrecht ist, dann gehört es auch nicht in das Strafrecht hinein, wie es die CDU/CSU in ihrem Gesetzentwurf fordert, Herr Scholz; dann gehört es nämlich in das Polizeirecht hinein. So einfach ist das. So habe ich es bei Ihrem Kollegen Herzog vor 30 Jahren gelernt. Der Entwurf bleibt zudem den Beleg dafür schuldig, dass diese Maßnahme geeignet ist, die Gefahren für die öffentliche Sicherheit zu verringern. Die grausamen Verbrechen, auf die der Entwurf in pauschaler Weise Bezug nimmt, sind nach den vorliegenden rechtstatsächlichen Untersuchungen gerade nicht von Tätern begangen worden, die nach Verbüßung ihrer Strafe in Kenntnis ihrer Gefährlichkeit aus der Haft entlassen werden mussten. Sie wurden vielmehr begangen von flüchtigen Tätern, von Tätern, deren Risikopotenzial aufgrund unauffälligen, angepassten Verhaltens im Vollzug gerade nicht bemerkt wurde ({6}) - richtig, Schläfer -, oder von Tätern, die bereits seit geraumer Zeit als vermeintlich ungefährlich aus der Haft entlassen worden waren. Das sind die Täterpersönlichkeiten, über die wir in diesem Zusammenhang reden müssen. Den Entscheidungen, solche Täter vorzeitig zu entlassen, lagen häufig fehlerhafte Sozialprognosen zugrunde Sozialprognosen, die in der Regel auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens abgegeben worden sind. Nunmehr wollen Sie diese Prognose durch die entgegengesetzte Prognose - ich betone: Prognose! - ersetzen, der Täter sei auf Dauer gefährlich. Aber auch diese Prognose kann falsch sein. ({7}) Was machen wir dann, Herr van Essen, wenn jemand 50 Jahre in Sicherungsverwahrung untergebracht war, ohne dass eine sichere Prognose vorgelegen hat? ({8}) - Regelmäßig überprüfen? Das kennen wir. 50 Jahre! Daraus folgt für mich zwingend: Die Beurteilung der Gefährlichkeit eines Täters, die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung, ist allein die verantwortliche Aufgabe des Tatgerichtes, des Gerichtes, das mit Berufs- und Laienrichtern besetzt ist, das nach umfassender, erschöpfender und öffentlicher Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung sowohl die Tat als auch die Persönlichkeit des Täters beurteilen kann. ({9}) - Zu der länderpolizeilichen Regelung, von der Sie, Herr Kollege Geis, eben gesprochen haben, möchte ich Folgendes sagen: Ich habe mit Entsetzen das baden-württembergische Gesetz dazu gelesen. Ich garantiere Ihnen: Der oder die Erste, der oder die nach dem baden-württembergischen Polizeirecht in Sicherungsverwahrung untergebracht wird und anschließend zum Bundesverfassungsgericht „marschiert“, wird Recht bekommen, dass diese Regelung verfassungswidrig ist; denn nach der dort geltenden Regelung kann jeder, der nach Meinung eines Sachverständigen gefährlich ist, eingesperrt werden. So geht es nicht! ({10}) Lassen Sie uns lieber über sinnvolle und angemessene Regelungen auf dem Boden unserer Verfassung, der Rechtsstaatsgarantien und des fairen Strafprozesses, wie er sich historisch-kulturell entwickelt hat, reden. Schönen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Dr. Rupert Scholz für die Fraktion der CDU/CSU.

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kinder sind der wehrloseste Teil unserer Gesellschaft. Wenn es darum geht, Menschen vor Kriminalität zu schützen, müssen Kinder an allererster Stelle stehen. Rund 15 000 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern haben wir im Jahr zu verzeichnen. Die Dunkelziffer ist, wie zu fürchten ist, ein Mehrfaches davon. Das ist der Hintergrund. Das ist die Basis unserer Vorschläge. Ich finde es schon enttäuschend, dass diese Vorschläge von der Koalition im Grunde mehr oder weniger in Bausch und Bogen verworfen werden. ({0}) Herr Staatssekretär Pick, Sie haben gesagt - ich habe es mir aufgeschrieben -: Wenn Bedarf ist, dann werden wir prüfen. ({1}) Wenn die Zahlen, die ich eben genannt habe, nicht belegen, dass Bedarf vorhanden ist, dann weiß ich nicht, was Bedarf ist. ({2}) Es ist schon eigentümlich, dass das Wort Populismus gefallen ist. Populistisch ist für mich zum Beispiel das, was Ihr Bundeskanzler gesagt hat: Sexualtäter wegschließen! So in der „Bild“-Zeitung. ({3}) Das ist keine verantwortliche Politik und das wissen Sie ganz genau. Herr Beck - er ist leider nicht mehr hier - hat ein scheinbar bewegendes Bekenntnis zum Schutz von Kindern abgelegt. Meine Damen und Herren, es geht bei diesen Fragen auch ganz entscheidend um gesellschaftliches Bewusstsein. Ich hätte mir an dieser Stelle einmal eine Stellungnahme gewünscht zu jenen abstrusen, entsetzlichen Äußerungen eines Mannes wie Cohn-Bendit, ({4}) die da gewissermaßen lauten: „Pädophilie ist auch ein Stück Selbstverwirklichung - muss man mal „ausprobieren“! ({5}) Das sind doch entsetzliche Dinge. Diese Debatte wäre eine Gelegenheit gewesen, sich davon einmal sehr klar zu distanzieren. ({6}) - Populismus ist etwas anderes, lieber Herr Stünker. Ich erinnere zum Beispiel an die Debatte, die wir im Zusammenhang mit der Änderung des § 1631 BGB geführt haben. Dabei ging es darum, Kinder vor Gewalt in der Erziehung zu schützen. Dabei ging es um die Menschenwürde. ({7}) - Herr Schmidt, wenn Sie eine Frage stellen wollen, dann tun Sie das! Stehen Sie auf und benutzen Sie das Mikrofon! Dann bekommen Sie auch eine Antwort. ({8}) Meine Damen und Herren, das Thema ist viel zu ernst, als dass man damit in dieser vordergründigen, verdrängenden oder populistischen Manier, die Sie hier an den Tag legen, umgehen könnte. ({9}) Nun will ich mich auf einige der Einwände konzentrieren, die Sie zu dem gebracht haben, was der Kollege Geis in seiner Einbringungsrede vorgetragen hat. Ich wende mich zunächst der Frage der nachträglichen Sicherungsverwahrung zu. Sicherungsverwahrung - das werden Sie wohl noch einräumen - ist eine legitime rechtsstaatliche Maßnahme. Herr van Essen hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Sicherungsverwahrung im Zusammenhang mit einem Strafurteil auf einer zu diesem Zeitpunkt zu treffenden verantwortlichen Prognose basiert. Jeder weiß aber, dass sich Prognosen als irrig erweisen können. Herr Stünker, insofern könnte ich das, was Sie gesagt haben, auch umkehren, nach dem Motto: Ich muss den Täter rauslassen, damit er eine neue Straftat begeht, um anschließend feststellen zu können, was angesagt ist. ({10}) Das ist natürlich unverantwortlich. Meine Damen und Herren, durch das Vollstreckungsgericht angeordnete nachträgliche Sicherungsverwahrung - wohlgemerkt: durch das hierfür kompetente Gericht! ist ein durchaus legitimes rechtsstaatliches Instrument, wobei die Verhältnismäßigkeit selbstverständlich zu wahren ist. Wenn aber Verfahren wie die Führungsaufsicht, die natürlich das mildere Mittel darstellen, nicht ausreichen - das hat das Vollstreckungsgericht nach unserem Vorschlag zu prüfen -, dann ist das ein legitimes Verfahren. Das ist auch ein verhältnismäßiges und rechtsstaatliches Verfahren. Es verstößt nicht gegen Art. 103 Grundgesetz, nicht gegen das Verbot der Doppelbestrafung. ({11}) - Nein, es verstößt nicht dagegen, und zwar deshalb, ({12}) weil hier keine Strafe verhängt wird zu dem, weshalb der Straftäter verurteilt worden ist. ({13}) Das ist ein neuer Sachverhalt, der sich während der Zeit der Strafvollstreckung ergeben hat. ({14}) Der Strafvollzug, die Verhängung von Strafe also, hat bekanntlich nicht nur die Aufgabe der Sühne und der Resozialisierung, sondern auch - schauen Sie mal ins Strafvollzugsgesetz hinein! - die Aufgabe des Schutzes der Allgemeinheit. Jetzt komme ich wieder zu der Feststellung: Der wehrloseste Teil unserer Allgemeinheit sind die Kinder. Wir sind aufgerufen, insbesondere für sie etwas zu tun. Deshalb kann ich nicht abwarten, ob jemand, bei dem sich eine Prognose als irrig erwiesen hat, möglicherweise erneut eine solche schreckliche Tat begeht. ({15}) Nein, an dieser Stelle muss ich präventiv tätig werden. ({16}) Im Zusammenhang mit der Prävention will ich auch die Frage der Kompetenz ansprechen. Es ist richtig, Gefahrenabwehr und Prävention liegen natürlich im Schnittfeld von dem, wofür der Bund gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuständig ist - Rechtspflege -, und dem, wofür die Länder im Rahmen ihrer polizeirechtlichen Zuständigkeiten zur Regelung der Gefahrenabwehr zuständig sind. Solche Überschneidungen sind aber keineswegs etwas Neues. Beide Bereiche sind aufgerufen. Das, was wir in unserem Gesetzentwurf vorschlagen, liegt im Hinblick auf die Sachlogik und den Sachzusammenhang, der bekanntlich der legitime Kompetenzmaßstab ist, näher, als wenn wir sagen, die Länder sollen es in ihren Polizeigesetzen regeln. Unser Vorhaben ist also richtig und ist kompetenzgerecht. Deshalb sind wir definitiv der Meinung, dass hier keine kompetenzrechtlichen Bedenken geltend gemacht werden können. ({17}) Zur DNA-Analyse. Jeder weiß doch, hierbei geht es allein um die Identitätsfeststellung. Zu einer effektiven Strafrechtspflege gehört ein Maximum an Wahrheitsfeststellung - das ist eine Binsenweisheit - und gehört natürlich auch das Gebot, alles zu unternehmen, was zu einer effektiven Wahrheitsfindung beiträgt. Es geht auch beispielsweise nicht nur darum, Täter zu überführen. Die DNA-Analyse ist genauso dazu geeignet, Unschuldige festzustellen, Unschuld nachzuweisen. Das heißt, das, was Sie tun, nämlich das Ganze in ein rechtsstaatliches Abseits hineinzuargumentieren, ist völlig ungerechtfertigt. Das ist völlig falsch. Die DNA-Analyse ist ein richtiger, ein sinnfälliger und effektiver Maßstab für eine effektive Strafrechtspflege. ({18}) Mit dem Terrorismusbekämpfungspaket von Herrn Schily zum Beispiel wollen Sie biometrische Verfahren einführen. Biometrische Verfahren aber - das weiß man nun wirklich - sind ein äußerst begrenzter Maßstab. Die DNA-Analyse hat diesen Mangel eben nicht und das ist wichtig gerade bei so schweren Straftaten wie den hier in Rede stehenden von erheblicher Bedeutung. ({19}) Nein, die DNA-Analyse ist gerechtfertigt, ({20}) und sie ist entgegen Ihren Prognosen mit Sicherheit kein Verfahren, das vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern wird. Davon kann keine Rede sein. Sie sollten die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Strafrechtspflege einmal intensiver nachlesen. Das Bundesverfassungsgericht hat in vielen Entscheidungen in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, dass es eine Kernaufgabe des Staates ist, für eine effektive Strafrechtspflege zu sorgen. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Recht darauf hingewiesen, dass gerade der Schutz der Menschen vor Straftaten, die Gewährleistung der Rechtssicherheit, die entscheidende Grundlegitimation der Staatlichkeit überhaupt ist. ({21}) Aber das pflegen Sie immer wieder und zunehmend zu vergessen. ({22}) Wir werden das in den kommenden Wochen ({23}) mit großer Aufmerksamkeit beobachten. ({24}) Wir werden ja sehen, was Ankündigung von Umsetzung unterscheidet. ({25}) Bisher sind Sie - das haben Sie heute wieder bewiesen in der Sicherheits- und Strafrechtspolitik schlichte Ankündigungstäter, nichts anderes. Wir werden das nicht hinnehmen; wir werden Sie in diesen Fragen stellen. Wir werden darauf dringen, dass Sie auch vor der Öffentlichkeit Rechenschaft darüber ablegen - jetzt komme ich zu unserem Thema zurück -, ob Sie das Notwendige tun oder verweigern, das vor allem für unsere Kinder unabweisbar ist. Vielen Dank. ({26})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Margot von Renesse für die SPD-Fraktion.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man müsste schon ein Herz aus Stein haben, wenn man bei den Berichten über Kinder, die geschunden, vergewaltigt und ermordet wurden, nicht außer sich geraten würde, an seine eigenen Kinder denken müsste und in Solidarität mit den betroffenen Eltern nur noch Grauen empfinden würde. Die Vorstellung, dass die Kinder, die man geboren und aufgezogen hat, für die man nachts aufgestanden ist und die man getröstet hat, Opfer eines Menschen wurden, der sie nur noch als Objekte behandelte und sie letztendlich ums Leben gebracht hat, ist grauenhaft. Darum verstehe ich die spontane Äußerung des Bundeskanzlers. ({0}) Ich verstehe jeden, der nach Rache schreit. Ich glaube, ich selbst wäre in dieser Gefahr. Der Staat selbst muss stellvertretend einen Teil dessen tun, was er den Menschen nicht erlaubt, nämlich Rache zu üben. Das - die Übelzufügung - ist ein Teil des Strafrechts. Kein Mensch kann in dem Bewusstsein leben, dass sich eine Person, die sein Kind umgebracht hat, ihres Lebens freut. Dem muss Rechnung getragen werden. Der Staat übt stellvertretend für eine Privatperson Rache, um sie im Zaum zu halten: damit kein Unschuldiger Opfer einer Straftat wird - man kann schnell zum Opfer von Lynchjustiz werden - und damit der Schuldige begrenzt bestraft wird. Die Begrenzung begründet sich in der Schuld für eine Tat, die in diesen Fällen schlimm genug ist. Darum - nicht aufgrund eines allgemeinen Prinzips, das viele Menschen nicht verstehen und das sie blass finden - ist Rechtsstaatlichkeit auch in diesen Fällen von zentraler Bedeutung. ({1}) Es geht hier nicht um irgendeine theoretische, rein verfassungsrechtliche Frage; es geht vielmehr um vitale Interessen von Unschuldigen und von Schuldigen. ({2}) - Lieber Herr Scholz, auf Sie komme ich gleich zu sprechen. ({3}) Das, was ich dann sagen werde, wird Sie nicht freuen. Eine rechtsstaatliche Strafe ist von großer Bedeutung, damit Straftaten angemessen geahndet werden können. Es kann nicht angehen, dass als Konsequenz jeder Tat, die durch die Medien geht - so schrecklich sie auch sein mag -, ein neues Gesetz in Kraft tritt. Das wird gefordert, weil ja etwas geschehen muss und weil man das, was geschehen ist, ja nicht hinnehmen kann. Man zieht die Schlussfolgerung, dass die bestehenden Gesetze offensichtlich nicht ausreichend sind. So sieht in etwa die Argumentation derer aus, die so denken. Glauben Sie, dass ein Strafgesetz Straftaten letztendlich zu 100 Prozent verhindern kann? ({4}) Wollen Sie die Menschen in falscher Sicherheit wiegen? Wenn dem so wäre, dass Strafgesetze Straftaten verhinderten - genau so sieht Ihre Argumentation aus -, dann müsste nicht nach jeder neuen Straftat sofort gesagt werden: Die Gesetze reichen offensichtlich nicht aus. ({5}) Wenn Sie sagten: „Die Anzahl der Straftaten hat sich dramatisch vermehrt“, dann könnte ich Ihnen folgen. Sie reden aber davon, dass es Straftaten gegeben hat, und Sie tun so, als wäre das Strafgesetz in der Lage, Straftaten zu 100 Prozent zu verhindern. Da wiegen Sie die Leute in falscher Sicherheit. ({6}) Herr Scholz, ich sage Ihnen in Bezug auf das, was Sie über Sicherheitsverwahrung gesagt haben, Folgendes: Ich habe von einem Verfassungsrechtler eigentlich etwas mehr erwartet. ({7}) Sie argumentieren nach dem Motto: Wenn jemand der Verhängung der Sicherheitsverwahrung aufgrund einer falschen Prognose entschlüpft ist, weil nicht alle Gesichtspunkte vorlagen - zum Beispiel weil man sie erst im Verzug kennen gelernt hat -, dann muss die Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet werden. Warum um alles in der Welt wollen Sie jemanden, der schon längst entlassen ist, nachdem er eine Straftat begangen hatte und dafür verurteilt worden ist, in Sicherungsverwahrung nehmen, wenn sich neue Anhaltspunkte gezeigt haben? Wohlgemerkt: Es geht nicht um das Problem einer neuen Tat. Für diesen Fall könnte man ohne weiteres Sicherungsverwahrung verhängen. Ihre Forderung lautet, wenn zum Beispiel jemand wegen Exhibitionismus eine Strafe bekommen hat - früher musste man eine Geldstrafe zahlen und später irgendwelche schrecklichen Reden öffentlich hält: „Sicherungsverwahrung! Warum denn nicht?“ ({8}) - Ja eben, Herr Geis! Jetzt haben Sie wirklich erkannt, dass Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung etwas mit einer Tat zu tun haben. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau von Renesse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Geis, ich habe nicht mehr so viel Zeit. Ich möchte im Augenblick meinen Redefluss nicht verlieren. Die strafrechtliche Behandlung einer Tat ist etwas anderes als die Ermittlung einer Gefährlichkeit; denn dem Anlass einer Straftat, der in der Vergangenheit lag, könnte man auch mit einer Vollverbüßung gerecht werden. Mir scheint eine Sicherungsverwahrung im Nachhinein nicht der richtige Weg zu sein. Der Kollege Stünker - er besitzt die Erfahrung eines Richters - hat mit Recht auf die prozessualen Probleme hingewiesen. In diesem Zusammenhang liebe ich das Wort Therapie nicht. Vielfach handelt es sich nicht um Kranke im Sinne medizinischer Behandlungsbedürftigkeit, sondern um Fehlhaltungen. Die entscheidenden Fehlhaltungen, die mir immer wieder begegnen, sind, lieber Kollege Stünker, die mangelnde Verantwortungsübernahme, mangelnde Empathie und das Wegdrängen der Straftaten nach dem Motto „Das Kind hat es ja gewollt“, „Es hat mich provoziert“ oder irgendetwas dergleichen. Menschen neigen heute zunehmend dazu, andere für das verantwortlich zu machen, was Straftäter heute häufig „die Tat“ nennen, als hätten sie mit ihr nichts zu tun. Das ist nicht ein Problem der Strafgesetzgebung, sondern ein Problem unserer allgemeinen gesellschaftlichen Vorstellungen. Darüber nachzudenken, wie man Menschen dazu bringt, die Verantwortung zu übernehmen und diese Empathie zu empfinden, scheint mir eine gesellschaftliche Aufgabe ersten Ranges zu sein. Dazu würde ich gerne Sachverständige anhören. ({0}) Ich komme zu Ihnen, Herr Scholz. Das, was Sie hier als Mitglied einer C-Partei geleistet haben, ist ein Verstoß gegen das achte Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. ({1}) Sie wissen ganz genau, dass sich der von ihnen genannte Cohn-Bendit und die anderen, die diese Unsäglichkeiten vor zwanzig Jahren von sich gegeben haben, längst davon distanziert haben. Ihr Aufruf, sie sollten sich davon distanzieren, bedeutet die Unterstellung, dass sie es - nachdem sie zunehmend reifer wurden; dies steht jedem zu - nicht getan haben. ({2}) Ich halte so etwas von einem Menschen Ihrer Qualität, Ihres Intellekts und Ihrer Partei für unmöglich. Das ist nicht angemessen. ({3}) Meine Damen und Herren, den Opfern - neben den kindlichen Opfern zähle ich auch die Eltern dazu - gehört unser ganzes Mitgefühl. Wir tun alles, was wir können. Sollte sich in Ihrem Vorschlag - einiges ist ja wirklich nachdenkenswert - das eine oder andere gute Körnchen befinden, werden Sie uns dazu bereit finden. Herr Stünker hat bereits darauf hingewiesen, dass es diese Bereitschaft gibt. Ich denke zum Beispiel an Ihre Vorschläge bezüglich des Internets. Darüber muss nachgedacht werden, weil es neue Sachverhalte sind, mit denen wir umgehen müssen. Bezogen auf die DNA-Analyse sage ich: Ich möchte nicht, dass noch nicht abgeschlossene Verfahren - einige Möglichkeiten zur Durchführung haben wir bereits beschlossen - dadurch verstopft werden, dass weitere Möglichkeiten geschaffen werden, eine DNA-Analyse durchzuführen. Allein das ist schon ein Grund für mich, dabei jetzt nicht weiterzugehen. Ich bin auf die Diskussionen gespannt und hoffe, dass wir sie sachlich führen. Das Problem ist dabei nicht der Populismus. Bei einer Vernebelung unseres Verstandes würden wir es nicht schaffen. Gefordert ist, eine vernünftige Kriminalprävention zu betreiben. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Bevor ich die Aussprache schließe, erteile ich jetzt dem Kollegen Norbert Geis zu einer Kurzintervention das Wort.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin von Renesse, ich glaube, dass Sie bei Ihren Überlegungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung immer übersehen, dass es sich um einen Zusammenhang zwischen Erkenntnisverfahren, Urteil und Strafvollzug handelt. Der Täter befindet sich nach wie vor im Strafvollzug. Der Zusammenhang wird durch die Tat, aufgrund derer er sich im Strafvollzug befindet, hergestellt. Wir sehen für den Täter die Möglichkeit vor, dass der Ausspruch der Sicherungsverwahrung rückgängig gemacht und gelöscht wird, wenn sich, nachdem die Sicherungsverwahrung ausgesprochen wurde, nachträglich, also während des Strafvollzugs, herausstellt, dass die Feststellungen, die das Gericht getroffen hatte, nicht richtig waren. Wenn wir dies vorsehen, müssen und sollten wir uns auch überlegen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, die Sicherheitsverwahrung nachträglich anzuordnen, nämlich dann, wenn sich Tatsachen herausstellen, die dem Gericht vorher so nicht bekannt gewesen sind, weil es keine Möglichkeit gab, den Täter so genau zu beobachten. Den Vorwurf, es fehle die Tat, weise ich zurück. Die Tat ist vorhanden. Es liegt ein rechtskräftiges Urteil vor. Der Zusammenhang mit der Tat ist durch den Strafvollzug gegeben. Deswegen können Sie nicht sagen, dass wir jeden Täter, auch einen, der sich außerhalb des Strafvollzuges befindet, festnehmen und bei ihm die Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen müssten. ({0}) Das wäre eine Frage des Polizeirechtes. Wenn Sie das, was wir vorschlagen, die Sicherungsverwahrung über den prozessualen Bereich hinaus, also durch das Vollstreckungsgericht, gar nicht wollen, was sagen Sie denn dann zur Sicherungsverwahrung über das Polizeirecht? Oder wollen Sie überhaupt keine Sicherungsverwahrung vorsehen, auch dann nicht, wenn Sie wissen, dass es sich um einen potenziell ganz gefährlichen Wiederholungstäter handelt?

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Margot von Renesse zur Erwiderung, bitte.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es gibt, wie Sie sehr wohl wissen, eine Reihe von Möglichkeiten, wie wir Menschen unterbringen können, die die öffentliche Ordnung und Sicherheit erkennbar gefährden. Die Länder haben dafür entsprechende Regelungen getroffen, in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel im Rahmen des PsychKG; hier lässt sich also einiges machen. Auf der anderen Seite bitte ich Sie, zu bedenken, wo das enden soll. Wollen Sie etwa für einen Täter, der zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden ist, während der Bewährungsstrafe eine Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Bewährungshelfer meldet, der Täter habe ganz furchtbare Reden darüber gehalten, was er mit Kindern zu machen gedenke? Sie werden feststellen, dass Sie an dieser Stelle an der formellen und materiellen Rechtskraft des Urteils scheitern. Wir können durchaus darüber nachdenken, was wir mit Menschen machen, die auffällig werden. Aber ich erinnere mich bei der Frage, wer auffällig ist und wer für gefährlich gehalten wird, an eine Szene, als mein ältester Sohn seine kleine Tochter wickelte, hochguckte und sagte: Manche Leute dürften gar nicht sehen, was ich hier mache.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/6709 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung ({0}) - Drucksache 14/7144 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die Fraktion der SPD ist die Kollegin Regina SchmidtZadel.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen im ersten Halbjahr 2001 ist besorgniserregend. Die Krankenkassen haben pro Mitglied sage und schreibe 11 Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2000 ausgegeben. Wenn das so weitergeht, dann werden uns am Ende des Jahres beunruhigende Zahlen vorgelegt werden. Hätten diese Mehrausgaben ausschließlich dazu gedient, Unterversorgungen und Qualitätsmängel bei der Pharmakotherapie zu beseitigen, hätte niemand etwas gegen diese exorbitante Steigerungsrate einzuwenden, am allerwenigsten wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Denn wir, meine Damen und Herren, sind schließlich diejenigen, die vehement dafür eintreten, die Versorgungsqualität spürbar und nachhaltig zu verbessern. ({0}) Wir müssen aber feststellen, dass die Arzneimitteltherapie nach wie vor gravierende Mängel aufweist. Über-, Unter- und Fehlversorgungen sind an der Tagesordnung. ({1}) Außerdem haben wir es mit erheblichen Wirtschaftlichkeitsdefiziten zu tun. In der Arzneimittelversorgung stecken erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven. Der brandneue Arzneimittelverordnungsreport, der vor wenigen Tagen vorgestellt wurde, quantifiziert sie auf 8,1 Milliarden DM. Das sind etwa 22 Prozent der Arzneimittelausgaben der Krankenkassen. Der Arzneimittelreport ist zwar, wie üblich, von der Pharmaindustrie postwendend heruntergemacht worden - wir haben nichts anderes erwartet -; fest steht aber, dass er ein Schlaglicht auf die Situation wirft und Ansatzpunkte für Einsparungen und deren finanzielle Größenordnung aufzeigt. Als Hauptkostentreiber erweisen sich einmal mehr die Analogpräparate. Bei diesen von der Industrie gerne als „Schrittinnovationen“ bezeichneten Arzneimitteln stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht. Der Fortschritt ist oft klein, der Preisschritt oft groß. ({2}) Diese Präparate weisen gegenüber bereits am Markt befindlichen Medikamenten entweder gar keinen oder einen nur marginalen therapeutischen Zusatznutzen auf. Unabhängige Experten sprechen deshalb von „Scheininnovationen“. Höchst real ist dagegen ihr exorbitant hoher Preis. Im Durchschnitt kosten diese Me-too-Präparate immerhin knapp 120 DM. Auch das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Ihr Umsatz wuchs im ersten Halbjahr 2001 um 15 bis 20 Prozent. Die massive Zunahme der Verordnung von Analogpräparaten hat im Wesentlichen - hören Sie gut zu, meine Damen und Herren! - den Kostenschub bewirkt, gegen den wir jetzt angehen wollen, werden und müssen. ({3}) Das Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz, das wir heute beraten, nimmt diese Medikamente deshalb gezielt aufs Korn. Der Anteil der preisgünstigen Generika am GKV-Verordnungsmarkt ist geschrumpft. Dieser Trend muss dringend gestoppt und umgekehrt werden. ({4}) Weitere Wirtschaftlichkeitsreserven können ohne Einbußen an der Versorgungsqualität dadurch aktiviert werden, ({5}) dass teure Medikamente durch preisgünstigere Medikamente und Präparate mit einem anderen Wirkstoff ersetzt werden. ({6}) Der Anteil der „umstrittenen Arzneimittel“ - auch darauf muss man eingehen - ist in den letzten zehn Jahren erfreulicherweise deutlich zurückgegangen. Noch immer werden aber für rund 3,7 Milliarden DM pro Jahr umstrittene Arzneimittel zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet. Hier wird die von uns in der Gesundheitsreform 2000 durchgesetzte Positivliste Abhilfe schaffen. ({7}) Das Gebot der Stunde lautet, Herr Zöller, sämtliche Einsparpotenziale in der Pharmakotherapie konsequent auszuschöpfen. Wir können es uns nicht leisten, Geld für überteuerte oder fragwürdige Medikamente auszugeben. Das ist im Moment noch der Fall; Sie stimmen mir sicher zu. ({8}) Die dadurch frei werdenden Mittel werden zum einen benötigt, um Unterversorgungen - zumal bei den chronischen Volkskrankheiten - zu kompensieren, zum anderen könnten sie auch an die Beitragszahler zurückgegeben werden. ({9}) Der vorliegende Gesetzentwurf enthält eine Mischung aus kurz- und langfristig wirksamen Maßnahmen. Sie sind zum einen darauf gerichtet, die Arzneimittelausgaben der Krankenkassen kurzfristig zu senken. Zum anderen sollen den Ärzten strukturelle Einsparpotenziale erschlossen werden. Der Gesetzentwurf beteiligt alle Akteure an der Wertschöpfungskette Arzneimittel fair, angemessen und ausgewogen an den Einsparungen. Die pharmazeutischen Unternehmer sollen durch einen Abschlag von 4 Prozent auf den Abgabepreis verschreibungspflichtiger, nicht der Festbetragsregelung unterliegender Arzneimittel ihren Beitrag zur Stabilisierung der Arzneimittelausgaben leisten. Alle Auguren haben von Anfang an erwartet, dass die Pharmaindustrie schwerstes Geschütz gegen das ihnen abgeforderte Opfer auffahren würde. Damit haben wir gerechnet, meine Damen und Herren; ({10}) das haben wir einkalkuliert. Diese Erwartung ist nicht enttäuscht worden. ({11}) Wieder wird das Schreckgespenst beschworen, der Pharmastandort Deutschland stehe auf dem Spiel. Ungefähr 20 000 Arbeitsplätze müssten abgebaut werden, Neueinstellungen unterblieben und Investitionen würden verschoben bzw. gestrichen. Die Pharmaindustrie lässt also wieder einmal ihre Muskeln spielen. Sie hüllt sich gern in die Aura einer innovativen Schlüsselbranche. Wie kommt es dann aber - hören Sie gut zu! -, dass viele Pharmaunternehmen mehr Geld für Marketing als für Forschung und Entwicklung ausgeben? ({12}) Konzentrieren sie ihre Kreativität etwa auf Marketing und Geld bringende Analogpräparate, statt echte Innovationen marktreif zu machen? Ihre einstige Stellung als Apotheke der Welt hat die deutsche Pharmaindustrie längst eingebüßt. Das hat nichts mit einer von Ihnen beklagten falschen Politik zu tun. ({13}) Sie tragen selbst die Verantwortung dafür. ({14}) Viele pharmazeutische Unternehmen könnten die bis zum 31. Dezember 2003 befristete 4-prozentige Senkung des Herstellerabgabepreises vermutlich spielend verkraften, wenn sie ihre Marketingaktivitäten auf den Umfang beschränkten, der in anderen Wirtschaftssektoren üblich ist. Ich will Ihnen einige nachgewiesene Zahlen nennen, damit der Sachverhalt deutlich wird: Für Forschung und Entwicklung wurden in diesem Zeitraum 18 Prozent, für die Herstellung 18 Prozent, für Marketing und Vertriebskosten 29 Prozent ausgegeben. Der Gewinn betrug 31 Prozent. Das sind doch Zahlen, die für sich sprechen. Mit der vorgesehenen Umkehrung des bisherigen Regel-Ausnahme-Verhältnisses bei der Aut-idem-Verordnung wollen wir mittel- und langfristig Wirtschaftlichkeitsreserven erschließen und vor allen Dingen höchste Qualität für den Patienten einbringen. Wir wissen, dass diese Umstellung Fragen aufwirft, denen wir uns stellen und die im weiteren Gesetzgebungsverfahren intensiv diskutiert werden. ({15}) - Der Bundeskanzler regelt sehr viel - er regelt fast alles und er regelt es gut, Herr Zöller. Das sind Regelungen, die Ihnen zwar nicht gefallen, die wir aber in Ordnung finden. ({16}) Diese Regelung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Pharmaunternehmen die äußerst erfolgreiche Strategie entwickelt haben, teure Medikamente über das Krankenhaus in den Markt zu drücken. Wie mir Patienten erzählt haben, ist es so, dass der Krankenhausarzt und der Patient den niedergelassenen Arzt unter Druck setzen, das im Krankenhaus verordnete Medikament auch für Zuhause zu verschreiben. Die Patienten selber sagen dann oft, dass sie die im Krankenhaus verordneten „roten“ Pillen haben wollen - die „schwarzen“ Pillen gibt es ja noch nicht -, die aber teurer sind. Dem wollen wir einen Riegel vorschieben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, das rote Licht blinkt. Ihre Redezeit ist zu Ende.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Rotes Licht ist mir sehr angenehm, Frau Präsidentin. ({0}) Die SPD-Fraktion stellt sich ihrer Verantwortung für die Patienten und für die Solidargemeinschaft. Der vorliegende Gesetzentwurf trägt dazu bei, das bewährte Solidarsystem zu stabilisieren, damit kranke Menschen - das ist der wichtigste Ansatz für uns - auch in Zukunft mit den notwendigen Medikamenten versorgt werden und das bekommen, was sie aufgrund ihrer Krankheit benötigen. Vielen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Wolf Bauer.

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Der Kanzler regelt die Dinge gut.“ ({0}) Ich weiß aufgrund dieser Aussage daher nicht, warum er die Arbeitsgruppe „Gesundheit“ der SPD noch braucht. ({1}) Sie ist doch vollkommen überflüssig. Die Vorschläge, für die Sie heute streiten, müssen schnell nachgebessert werRegina Schmidt-Zadel den, weil der Kanzler längst andere Ideen entwickelt hat. Im Übrigen sind das Ideen, die ganz andere Kompromisse beinhalten. Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Das eigentliche Problem ist vielmehr: Jedes Mal wenn ein gesundheitspolitisches Thema aufgerufen wird, dann fragen wir uns: Wann kommt endlich das Gesamtkonzept auf den Tisch? ({2}) Jedes Mal - ob es gestern oder heute war -: Fehlanzeige und Stückwerk, also nichts, was uns hilft. ({3}) Die Konzeptlosigkeit von Ihnen und der Bundesregierung ist an der Beratung der beiden Gesetzentwürfe gestern und heute deutlich geworden. Wenn Sie sich an die gestrige Debatte erinnern, dann wissen Sie, dass eine ganze Reihe von Änderungen des geplanten Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetzes beraten wurden. Am Ende der Debatte haben Sie aber auf einmal gemerkt: Wenn diese Änderungen beschlossen werden, dann kann der heute vorgelegte Gesetzentwurf nicht durchgebracht werden, weil die Änderungen diesem Gesetzentwurf widersprechen. ({4}) Die Änderungen wurden also schnell wieder zurückgezogen. Genau dieses Vorgehen kritisieren wir. Wir wollen eine sorgfältige Vorbereitung von Gesetzentwürfen, möglichst eingebettet in einem Gesamtkonzept. ({5}) Wir wollen aber nicht, dass Gesetzentwürfe sozusagen auf die Schnelle hingeschludert werden. Wenn es nur die Parlamentsarbeit und uns beträfe, könnte man darüber streiten, ob man dieses Vorgehen noch hinnehmen könnte. Aber Sie verunsichern damit die Patienten draußen im Land. Das ist das Schlimme. ({6}) Die Patienten bekommen das Hin und Her, das Hü und Hott mit. Das ist das eigentlich Gefährliche an der Sache. Auf der Suche nach Einsparmöglichkeiten sollte ein runder Tisch etabliert werden. Es wurden Arbeitsgruppen gebildet und es sollte über die Positivliste, die Überarbeitung der Arzneimittelpreisverordnung, die Aut-idemRegelung und viele andere Dinge mehr diskutiert werden. Dann sollte im Herbst ein Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen auf den Tisch gelegt werden, das mit dazu beitragen sollte, dass wir hier zu vernünftigen Ergebnissen kommen. Selbst die Gesundheitsministerin hat großartig angekündigt, dass an einem runden Tisch gemeinsam erörtert werden solle, was für die Problemlösung erforderlich sei. Was ist daraus geworden? In einer Nacht-und-NebelAktion haben Sie ein paar Gesetzentwürfe auf den Tisch gelegt und keiner weiß genau, was am Ende daraus wird. ({7}) Sie waren noch nicht einmal in der Lage, verehrte Frau Kollegin, dies zwischen dem Gesundheitsministerium und dem Wirtschaftsministerium abzustimmen. ({8}) Aber sei es, wie es wolle. Interessant ist die Frage, wie sich die Vorgehensweise damit verträgt, dass die Gesundheitsministerin am 15. Februar dieses Jahres hier erklärt hat: Ich setze dabei auf einen ernsthaften und konzentrierten Dialog aller Beteiligten am runden Tisch... Ich stehe für eine Gesundheitspolitik, in der nicht partielle Interessen Zielrichtung und Marschgeschwindigkeit angeben, sondern in der allein das Wohl der Patientinnen und Patienten Maßstab der Entscheidungen ist. Genau das ist der Knackpunkt: Wenn wirklich allein das Wohl der Patienten der Maßstab Ihres Handelns wäre, dann würden Sie diese Gesetzentwürfe gar nicht erst auf den Tisch bringen, sondern dann würden Sie darauf verzichten. ({9}) Ich habe es bereits gesagt: Dadurch verunsichern Sie die Patienten. Sie haben über Rationierung gesprochen; das können Sie nicht mehr leugnen. Zur Zweiklassenmedizin, liebe Freunde von der Koalition. ({10}) - Die haben wir doch durch Ihre Politik bekommen! ({11}) Hören Sie sich draußen doch einmal um! ({12}) - Da können Ihnen ruhig die Tränen kommen. Mir kommen sie bei dieser Politik auch, das muss ich ehrlich zugeben. ({13}) Ich frage mich wirklich: Kann das das Ziel der rot-grünen Gesundheitspolitik sein? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Auf jeden Fall ist das der falsche Weg. Zum Wohl der Patienten. Wir haben Ansatzpunkte dafür geschaffen, wie man das Wohl der Patienten in den Vordergrund stellen kann, wie man Eigenverantwortung stärken kann. So, wie Sie es jetzt machen, geht es nicht. ({14}) Ich kann Ihnen noch einmal aufzählen, was zur Eigenverantwortung gehört: Kostenerstattung, Selbstbehalte, Beitragsrückgewähr bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen. Damit ziehen Sie den Patienten in die Überlegungen und in Bezug auf die Ausgaben mit ein. Aber zurück zum AABG-Entwurf. Hier sind es - wie einfallsreich! - wieder einmal die Arzneimittelausgaben, die ins Visier genommen werden. Noch Anfang September hat die Gesundheitsministerin Folgendes erklärt: Der Anstieg der Ausgaben in Höhe von 11 Prozent hängt auch mit einem erheblichen Zuwachs der Arzneimittelausgaben für die Verordnung von Arzneimitteln zur Behandlung von schwerwiegenden und lebensbedrohenden Erkrankungen zusammen. So sind insbesondere die Ausgaben für die Krebsmedikation und die Aidstherapie deutlich angestiegen. ({15}) In diesen Therapiebereichen hat es in letzter Zeit wichtige Innovationen gegeben. In der „Wirtschaftswoche“ von gestern steht das Gleiche; das brauche ich insofern nicht zu wiederholen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Sie genau das jetzt kritisieren und sagen, wir müssten einen anderen Weg einschlagen. ({16}) - Ich habe genau zugehört. Wir können im Ausschuss noch über das eine oder andere diskutieren. ({17}) - Nein, das brauchen Sie nicht, das können Sie sich sparen. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, warum Sie, wenn die Ministerin und Sie die entsprechenden Erkenntnisse haben, diese nicht in die Tat umsetzen. Das vorgelegte Maßnahmenpaket ist auch ordnungspolitisch falsch. Es vernichtet - da können Sie sagen, was Sie wollen; es ist so - Arbeitsplätze in der pharmazeutischen Industrie und schwächt den Standort Bundesrepublik Deutschland. ({18}) Die Investitionen werden darunter leiden. Sie können sich auf den Kopf stellen; es wird so sein. Das hat selbst Ihr Kanzler eingesehen; sonst wäre er nicht schon längst auf eine Kompromissformel eingeschwenkt. ({19}) - Über das Gesetz braucht man im Grunde nicht zu reden. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Marschrichtung falsch ist. Das, was Sie nicht machen, muss man Ihnen vorwerfen, nicht Ihren Aktionismus. Da können wir uns schnell einigen. Das Gesetz bringt uns letztendlich nicht weiter. Außerdem ist mit großen Fragezeichen zu versehen, ob Sie dieses Gesetz überhaupt bis zur dritten Lesung bringen können. Wenn, dann ist es so abgeändert, dass es mit dem, was Sie heute vorgelegt haben, nicht mehr übereinstimmt. ({20}) Meine Damen, meine Herren, eine generelle Zwangsabsenkung der Arzneimittelpreise um 4 Prozent und das Einfrieren dieser Preise für die nächsten beiden Jahre ist völlig inakzeptabel. Dabei ist es Augenwischerei, ob Sie das expressis verbis beim Namen nennen oder als Rabatt bezeichnen. Es ist willkürlich und wird sich auf Innovationen auswirken. In diesem Zusammenhang muss ich darauf hinweisen, dass die deutschen Arzneimittelpreise im europäischen Vergleich im unteren Drittel liegen. Das Preisniveau der zulasten der GKV verordneten Medikamente ist in den vergangenen fünf Jahren mit einem Anstieg um weniger als einem halben Prozent nahezu gleich geblieben. Wenn Sie die Lebenshaltungskosten dagegensetzen, dann müssen Sie feststellen, dass sie in dieser Zeit um 5,5 Prozent gestiegen sind. Die Bundesregierung gibt in ihrem Gesetzentwurf an, dass der Anstieg der Ausgaben für die Arzneimittel sie zu dieser Gesetzesinitiative gezwungen habe. In Wahrheit ist der Grund eine logische marktwirtschaftliche Reaktion, die nahezu zwangsläufig auf die verfehlte Budgetierungspolitik im Arzneimittelbereich folgen musste. Diese Budgetierungspolitik hat - das können Sie im Gesetzentwurf der Bundesregierung übrigens nachlesen - zu einer drastischen Unterversorgung der Versicherten geführt. Insofern werden also nur Versorgungsdefizite ausgeglichen. Dies haben Sie als Begründung selbst angegeben. Zum Schluss möchte ich die Aufforderung an Sie wiederholen, uns endlich ein Gesamtkonzept auf den Tisch zu legen, ein Gesamtkonzept, das erkennen lässt, auf welche Weise Sie unsere gesetzliche Krankenversicherung sanieren wollen. Vor allem die Versicherten haben ein Recht darauf, das endlich einmal zu erfahren. ({21}) - Vor der Wahl. - Es muss zuverlässig, solide und vor allem dauerhaft sein. Zurzeit kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich SPD und Grüne selbst Missstände schaffen, damit sie deren Abschaffung dann als erfolgreiche Gesundheitspolitik verkaufen können. ({22})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Monika Knoche.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Der hier von der Opposition angemahnte große Wurf in der Gesundheitspolitik ist in Kenntnis der politischen Absichten, die Sie haben, das größtmögliche Risiko für das Gesundheitssystem. ({0}) Mit Wahl- und Regelleistungen und mehr Zuzahlungen würden Sie die Patientinnen und Patienten gegenüber den freien ökonomischen Verwertungsinteressen im Gesundheitswesen alleine stehen lassen. Das wäre chaotisch. ({1}) Wir brauchen dieses komplizierte und der Öffentlichkeit gegenüber transparent zu machende Regelwerk der Politik, um die sozialen Garantien des Gesundheitswesens fortentwickeln zu können. ({2}) Ich gebe gerne zu, dass es nicht allzu opportun erscheint, in den Medien und anderswo die Feinsteuerung als den wahren politischen Kern der Kärrnerarbeit darzustellen. Alle wollen alles anders machen, aber niemand sagt, was für die Patientinnen und Patienten am Ende dabei herauskommt. Das halte ich für verantwortungslos. ({3}) Ich möchte nun über das Gesetzeswerk sprechen. Gestern wurde hier über die Verabschiedung der Ablösung der Arzneimittelbudgets beraten und dabei der Fokus auf die Selbstverwaltung gelegt. Die Kassen haben gemeinsam mit der Ärzteschaft eine indikationsbezogene Preisliste zu erstellen, damit sie im Rahmen des Richtgrößenbudgets ihrer Therapieverantwortung nachkommen können. Daran können Sie nicht herumkritteln und nicht herummäkeln, als CDU schon gar nicht. ({4}) Heute beschäftigen wir uns mit dem Gesetzentwurf zur Arzneimittelausgabenbegrenzung. Zur Arzneimittelpolitik gibt es bekanntlich eine Menge anderer Gesetze. Sie alle sollen die Flut der Arzneimittelangebote sinnvoll strukturieren und die Ausgaben sinnvoll begrenzen. Sie müssen im Sinne der Gesetzesfolgeabschätzungen auch eine politische Kosten-Nutzen-Relation aufweisen. Hierbei sind immer Interessen im Spiel. Man muss sagen, zu wessen Gunsten oder zu wessen Lasten man sich entscheidet. Die Gesundheitsministerin hat sich - entgegen den Einwendungen des Wirtschaftsministers - zulasten der forschenden Arzneimittelindustrie und ihrer patentgeschützten Produkte, die einen hohen Preis haben, entschieden. Das halte ich für eine richtige Entscheidung. Diese Entscheidung trifft nicht die Schwächsten im Gesundheitssystem. Auch heute schon gibt es im Rahmen der Festbetragsregelung die Option auf aut idem. Es gibt den Vorrang der Verschreibung von Generika und die Möglichkeit der Nutzung von Reimporten bei Originalpräparaten. Wir sollten die Ergebnisse des diese Woche erschienenen „Arzneimittel-Reports“ zur Kenntnis nehmen. Niemand kann bestreiten, dass die gesetzlich Versicherten in Deutschland mit übermäßigen Arzneimittelverordnungen in Milliardenhöhe belastet werden. Für mich ist das ein Indiz für eine nicht durchgreifend effiziente Arzneimittelversorgung der Patienten - und deshalb müssen wir etwas tun. ({5}) Darüber hinaus ist es meine politische Grundüberzeugung, dass staatliche Eingriffe, wie zum Beispiel die Absenkung der Arzneimittelpreise, immer begründungspflichtig sind. Ein zentraler Grund ist der Kosten-NutzenEffekt für die Patienten, die Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung sind, und die Garantie, dass alle an Innovationen partizipieren können. Das ist der eigentliche Grund für staatliche Eingriffe. Ausschließlicher Grund kann also nicht die Beitragssatzstabilität sein, die wir natürlich auch im Auge behalten müssen. Ob die in dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagene Aut-idem-Regelung im Ansatz zusätzlich zu dem gestern verabschiedeten Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz zu sehen ist oder ob es sich in der Praxis nicht als additiv, sondern im Einzelnen vielleicht sogar als kontraproduktiv erweisen wird, ({6}) darüber wird zurzeit zum Teil diskutiert. Ob die darüber stehenden Prinzipien und Rechte, die Patientencompliance, die Stabilisierung des Behandlungsverlaufs und die Therapieeffekte, berücksichtigt worden sind und ob die in diesem Zusammenhang thematisierten Frage, ob es haftungsrechtliche Lücken gibt, negativ beantwortet werden kann, all diese Fragen möchte ich im Zuge der anstehenden Beratungen in aller Seriosität, sofern das heutzutage überhaupt noch möglich ist, behandelt wissen. Denn in dem vorgesehenen Gesetz sollten nur sich mit dem Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz sinnvoll ergänzende Maßnahmen getroffen werden. Alle, die den jetzigen Gesetzentwurf eingebracht haben, haben daran, so glaube ich, ein großes Interesse. So jedenfalls ist die politische Intention meiner Fraktion. Wird die Aut-idemRegelung richtig eingebettet und eingeordnet, wird sie sich nicht - auch von der Opposition nicht - zu einem generellen Maßstab für die Beantwortung der Frage, ob es gelingt oder misslingt, eine moderne Arzneimittelpolitik zu betreiben, hochstilisieren lassen. ({7}) Beachtet man, dass in dem vorliegenden Gesetzentwurf strukturelle Veränderungen einen positiven Niederschlag gefunden haben, zum Beispiel durch die Regelung der Fortsetzung der Arzneimitteltherapie nach einer Behandlung im Krankenhaus, durch die Erhöhung des Apothekenrabatts, die keine Staffelung vorsieht, und durch viele andere Maßnahmen, die ich nicht wiederholen will, so muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Tradition der CDU/CSU, was die Aut-idem-Regelung angeht, in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf eine Fortschreibung erfährt. ({8}) Ich bin gerne dazu bereit, während des weiteren Beratungsverlaufs über eine präzise Ausgestaltung der Aut-idemRegelung in aller Sachlichkeit zu diskutieren. Außer der von mir genannten geringfügigen Kritik lässt sich an diesem Gesetzentwurf nichts festmachen, was kritikwürdig ist. ({9}) Denn jede Regierung - darüber wurde schon gestern Abend debattiert - muss sich der Anforderung stellen, den legitimen Interessen der Pharmaindustrie die Interessen der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüberzustellen. Eine Regierung muss Entscheidungen treffen. Wenn sie keine Entscheidungen trifft, hat sie ihren politischen Auftrag nicht erfüllt. ({10}) Der darüber stehende Auftrag, den wir in der Politik zu erfüllen haben, ist, dass in Deutschland nicht nur heute, sondern auch in Zukunft alle gesetzlich Versicherten an Innovationen partizipieren können, ({11}) und das ohne Ausweitung der Zuzahlungen und ohne Leistungsausgrenzungen. Das wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erzielt. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Detlef Parr für die FDP-Fraktion.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Knoche, gestern Abend haben wir über Deregulierung und die Abschaffung des Arznei- und Heilmittelbudgets - die ich für richtig halte - diskutiert. Heute erklären Sie hier, warum zusätzliche staatliche Eingriffe nötig sind. Diese innere Logik müssen Sie mir einmal erläutern. ({0}) Frau Ministerin, Ihre Vorgängerin Andrea Fischer und Sie haben bereits die gesetzliche Krankenversicherung zum Steinbruch für den Bundeshaushalt bzw. für andere soziale Sicherungssysteme gemacht. Hunderte von Millionen D-Mark, Frau Schmidt-Zadel, sind in den RiesterEtat hinübergeschoben worden. ({1}) Damit haben Sie den Krankenversicherten das Geld aus der Tasche gezogen. ({2}) Jetzt nutzen - eher müsste man sagen: missbrauchen - Sie die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung als weiteren Steinbruch zur vermeintlichen Sanierung des maroden Gesundheitssystems. Schon seit einiger Zeit erkennen wir keinerlei ordnungspolitische Linie in der Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Erst kündigen Sie an, Frau Ministerin, die Arznei- und Heilmittelbudgets sollten abgeschafft werden. Sie legen keine Alternative vor und wundern sich anschließend über die Konsequenzen. Dann legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der aber vom Grundsatz her nichts ändert, weil über die Richtgrößen nach wie vor ein Budget gelegt wird. Die nächste Rationierungswelle ist damit bereits angekündigt. ({3}) Dann vermelden Sie spontanen Handlungsbedarf. Quasi über Nacht muss ein Defizit bei der gesetzlichen Krankenversicherung entstanden sein; denn anderenfalls hätten Sie ja schon vor Monaten gehandelt. Nun wird gehandelt, aber nicht etwa, wie das zu erwarten gewesen wäre, indem Sie die verbraucherfreundlichen Kräfte des Wettbewerbs nutzen. Nein, Sie greifen in die Trickkiste dirigistischer Eingriffsinstrumente mit willkürlichen Preisabsenkungen im Arzneimittelbereich, mit einer Erhöhung der Zwangsrabatte, die die Apotheker gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung zu leisten haben, und mit einer Degradierung der Apotheker zu Erfüllungsgehilfen der Krankenkassen durch eine völlig unzulängliche Aut-idem-Regelung. ({4}) Die Arzneimittelpreise sollen um 4 Prozent abgesenkt werden, aber nicht differenziert, sondern heckenschnittartig. Das ist und bleibt ein ordnungspolitisch außerordentlich bedenklicher Schritt, ({5}) der zudem in einer konjunkturellen Abschwungphase dazu führen wird, dass Arbeitsplätze zweifellos in erheblichem Umfang vernichtet werden. ({6}) Zukünftig sollen im Regelfall nicht mehr die Ärzte, sondern die Apotheker darüber entscheiden, welches Arzneimittel konkret abgegeben wird. Der Arzt soll nur noch den Wirkstoff bestimmen. Diese Aut-idem-Regelung - davon sind wir überzeugt - wird zu großen haftungsrechtlichen Problemen führen; Frau Knoche, Sie haben darauf hingewiesen. Darüber müssen wir reden. ({7}) Wer ist dem Patienten gegenüber denn eigentlich verantwortlich, wenn die Therapie nicht anschlägt, der Arzt oder der Apotheker? Zudem kann dem Arzt eine finanzielle Verantwortung für die Einhaltung der Richtgrößen nicht mehr abverlangt werden, wenn er keinen Einfluss mehr auf das Medikament und damit auf den Preis hat, sondern der Apotheker diesen für ihn bestimmt. Auf diesem Weg kommen wir nicht weiter. Sie tasten sich nur mühsam von Schlagloch zu Schlagloch vor ({8}) bzw. fahren einen Slalomkurs - wie die „Süddeutsche Zeitung“ es richtig formuliert -, der kein gutes Ende nehmen kann. Wenn dieser Bewusstseinsprozess, dass wir eine Kursänderung vornehmen müssen, nicht bald einsetzt, zahlen Patienten, Versicherte, Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Industrie die Zeche mit gravierenden Konsequenzen für den Gesundheits-, Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland. ({9}) Es ist eigentlich schade, dass Ihr Wirtschaftsminister Müller - vielleicht, weil er parteilos ist; eigentlich ist das eine vorbildliche Sache - zwar wohlklingend redet, aber offensichtlich im Kabinett keine Durchsetzungskraft hat. Einen solchen Wirtschaftsminister können wir uns auch sparen. ({10}) Schade auch, dass der Bundeskanzler es zulässt, dass auf diese Weise weitere Arbeitsplätze vernichtet werden, die Pharmaindustrie auf Jahre hinaus mit Standortnachteilen zu kämpfen hat ({11}) und die Patienten mit Billigstmedikamenten abgespeist werden sollen. Ich erinnere mich noch an das Plakat zu den letzten Bundestagswahlen mit der Aufschrift: Arbeit, Arbeit, Arbeit. ({12}) Hier aber wird der Wachstumsmarkt Gesundheit überhaupt nicht genutzt. Meine Damen und Herren, das alles geschieht, obwohl nur 15 Prozent der Gesamtausgaben der GKV auf den Arzneimittelsektor entfallen. Dabei wäre doch nur Folgendes sinnvoll: Erstens muss endlich das Wachstumspotenzial im Gesundheitswesen mit seinen knapp 2 Millionen Beschäftigten und einem Umsatz von 500 Milliarden DM genutzt werden. Zweitens ist das System von seinen unzeitgemäßen, staatlich vorgegebenen Fesseln zu befreien. Drittens ist allen Beteiligten mehr zuzutrauen. Sie können im System mehr leisten und sich konformer verhalten, ({13}) wenn Sie den Beteiligten nur mehr zutrauen würden. Meine vierte und letzte Forderung ist, auf den Wettbewerb und seine Wahlmöglichkeiten zu setzen, um das System wirklich mit mehr Effizienz zu gestalten. Uns allen liegen die Protestschreiben von Pharmafirmen vor. Sie spielen das herunter. Aber ich erinnere Sie an Folgendes: Es geht um große und kleine Firmen und um den Pharmamarkt, der auch von vielen kleinen und mittleren Unternehmen bedient wird und der in erheblichem Ausmaß Arbeitsplätze bietet. ({14}) Ließen wir den Gesundheitsmarkt sich entwickeln, würde er viele neue Arbeitsplätze schaffen können. Wir jedenfalls nehmen diese Schreiben ernst. ({15}) - Es ist richtig, Frau Schmidt-Zadel, dass das Sparpaket den Arzneimittelsektor einseitig belastet. Es ist richtig, dass die eigentlichen Probleme der GKV unangetastet bleiben. ({16}) Es ist richtig, dass der Forschungs- und Produktionsstandort Deutschland weiter ins Abseits gerät. ({17}) Frau Ministerin, Sie setzen mit Ihren willkürlichen ordnungspolitischen Eingriffen, gerade in Zeiten drohender Rezession, völlig falsche Signale. Sie ziehen die staatliche Interventionsspirale immer enger. Sie hangeln sich von Kostendämpfungsmaßnahme zu Kostendämpfungsmaßnahme; wohl wissend, dass unser Gesundheitssystem nur durch mutige, neue Strukturen wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden kann. Schaffen Sie Transparenz in einem System, das immer weniger von Solidarität und immer mehr von Vollkaskomentalität geprägt ist. ({18}) Geben Sie der Eigenverantwortung aller Beteiligten mehr Raum. ({19}) - Ja, Herr Kirschner, auch höhere Zuzahlungen sind zu diskutieren. ({20}) Vor zwei Jahren hatten die Menschen längst verstanden, dass es ohne mehr eigene Leistungen nicht weiter geht. ({21}) Entsprechend sollten wir die Gelder, die wir ausgeben können, denjenigen zukommen lassen, die sich all dies nicht leisten können; lassen Sie Wahlfreiheiten zu. ({22}) - Dies haben wir gelernt und wissen, dass wir - weil wir dies nicht getan haben - abgewählt worden sind. Aber das Jahr 2002 gibt uns eine neue Chance, die Fehler, die Sie in der Gesundheitspolitik gemacht haben, deutlich zu machen; ({23}) aber sachlicher und nicht mit solcher Polemik wie Sie.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Parr, jetzt müssten Sie bitte zum Schluss kommen.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zu meinen letzten Sätzen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nein, nein. Nicht Sätze, sondern Satz.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Also komme ich zu meinen letzten Satz. - Lassen Sie Wahlfreiheiten zu. Machen Sie sich die Kräfte des Wettbewerbs zunutze. Für eine solche Gesundheitsreform haben Sie uns auf Ihrer Seite; mit einer kleinen Gesetzesnovelle hier und einer kleinen Gesetzesnovelle dort aber nicht. Hier, Frau Schmidt-Zadel, zeigt die Ampel rot - das ist ja Ihre Lieblingsfarbe. Nehmen Sie das zur Kenntnis. Stoppen Sie diesen Kurs. Begeben Sie sich mit uns auf einen richtigeren Weg, der der Gesundheitspolitik dient. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Dieser Satz war aber wirklich von Thomas Mann. Jetzt spricht die Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die PDSFraktion. ({0})

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist so: Auch Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitiker werden mal krank. Ich habe Knieprobleme. Ich hoffe, mein Arzt verschreibt mir noch meine Medikamente. Ich habe damit keine Probleme. Eine Bemerkung zum Kollegen Parr. Es geht hier nicht um den gesamten Bereich des Gesundheitsmarktes. Es leugnet doch niemand, dass dieser einen Umfang von 500 Milliarden DM hat. Dies kann auch noch mehr werden. Wir sprechen hier über den Erhalt der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier geht es um einen bestimmten Betrag. Jeder Gesundheitspolitiker und jeder Krankenkassenvertreter ist verpflichtet, mit dem zur Verfügung stehenden Geld im Interesse der Patienten ordentlich umzugehen. ({0}) - Ja, „Weiter so!“ geht nicht. Deshalb wird ja etwas anderes getan. Dass die Steigerungsrate bei den Arzneimittelausgaben im Vergleich zu anderen Sektoren des Gesundheitswesens wesentlich höher ist und dass die Kassen am Jahresende ein Defizit von 4 Milliarden DM befürchten, ist bereits gesagt worden. Es ist nun einmal so, dass diese Befürchtung für viele Kassen der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, und sie ihre Beiträge daher erhöhten oder Beitragserhöhungen ankündigten. Folgendes scheint Realität zu sein: dass die verantwortlichen Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitiker offensichtlich nicht danach bewertet werden, was sie für die gesundheitliche Versorgung tun, sondern in erster Linie nach der Entwicklung der Beitragssätze. Daran sind Sie selber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der rot-grünen Koalition, durch die Aussagen, die Sie im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 gemacht haben, nicht ganz schuldlos. Denn die Absenkung der Beitragssätze ist ja eines Ihrer Hauptziele gewesen. Richtig ist, dass die Gesundheitsministerin jetzt unter erheblichen Druck geraten ist. Sie muss die Frage beantworten, wie diesen Beitragserhöhungen entgegengewirkt wird. Leider sind durch diese Entwicklung auch die Befürworter einer weiteren Privatisierung der Krankheitskosten in breiter Front gegen sie angetreten. Ihr Ziel dabei ist es, die solidarisch finanzierte, vollwertige Krankenversicherung analog zur Altersversorgung zu kippen. Das wird mit uns nicht zu machen sein. ({1}) Richtig ist, dass vor allen Dingen aus dem Arbeitgeberlager ein marktradikaler Umbau des Gesundheitswesens gefordert wird. Genau das ist aber in keiner Weise mit einem medizinisch leistungsfähigen Gesundheitswesen für alle und einer sozial gerechten Absicherung im Krankheitsfall zu vereinbaren. ({2}) Wir aber wollen genau das erhalten. Wir halten es für richtig und geradezu für eine Pflicht der Ministerin, energische Schritte zur Stabilisierung der Finanzen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unternehmen. Nach Lage der Dinge sollte es niemanden verwundern, dass dazu in erster Linie weitere Maßnahmen zur Begrenzung der Arzneimittelkosten gehören. Die dabei der Pharmaindustrie und den Apothekern abverlangten finanziellen Beträge halten sich unserer Meinung nach in moderaten Grenzen. ({3}) Auf keinen Fall rechtfertigen sie das lautstarke Feldgeschrei der Betroffenen. Im Gegenteil: Es ist nicht nur berechtigt, sondern geradezu überfällig, wenn durch die Neuregelung der unverfrorenen Abzockerei vieler Hersteller gerade bei den Analogpräparaten ein gewisser Riegel vorgeschoben wird. Gleiches gilt für bestimmte Praktiken der Generikaproduzenten und für eine maßvolle Erhöhung des Apothekenrabatts. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, solange die Pharmaindustrie mehr Geld für die Werbung als für die Forschung ausgibt, kann es doch um den Pharmastandort Deutschland wahrlich nicht so schlecht bestellt sein. ({4}) Bei dem Geschrei, dass in diesem Bereich Arbeitsplätze verloren gehen könnten und der Pharmastandort Deutschland in der Welt kein Ansehen mehr habe, muss dies einmal gesagt werden. Es ist vertretbar, dass jetzt auch Hersteller und Apotheker einen Beitrag zur Ausgabenbegrenzung leisten. ({5}) - Erzählen Sie doch nicht so etwas! Darum geht es jetzt doch nicht. Es wird doch nicht weniger Medikamente, sondern zielgerichtete und medizinisch wirksamere Medikamente geben. Die Masse wird doch nicht verändert. Es geht um die Qualitätsverbesserung. ({6}) - Ich habe es doch gesagt: Es wird bei uns weiterhin die gleiche Menge hergestellt. Hören Sie doch auf mit dem Argument, es seien Arbeitsplätze gefährdet. Ich möchte etwas sagen, was nicht ganz hierher passt: Ich glaube, Gesundheitspolitiker sind dafür verantwortlich, Qualität in der medizinischen Versorgung zu garantieren. Auch die Arbeitsplatzsituation fällt in die Verantwortung der Regierung. Aber das ist im Moment nicht unser Problem, sondern dafür haben wir verantwortliche Arbeitsmarktpolitiker. ({7}) - Ich weiß, Sie sind privat versichert. ({8}) Die Sorgen der gesetzlich Krankenversicherten kümmern Sie doch gar nicht. Das ist das Problem. ({9}) Wir jedenfalls wünschen uns, dass dieses Gesetz greifen wird. ({10}) Wir zweifeln aber daran, Frau Ministerin, dass es ausreichen wird. Darin stimmen wir überein, liebe Frau Schwaetzer von der FDP. Es ist richtig: Die Frau Ministerin muss, wenn sie eine Ausgabenbegrenzung erreichen will, darüber nachdenken, wie die Krankenversicherungen mehr Geld zurückbekommen und der Bundeshaushalt anders finanziert wird. Ich hoffe, die Tür ist noch nicht zu. Sie werden es allein mit diesem Gesetz nicht schaffen. Wir werden darüber nachdenken müssen, wie wir bei der neuen Gesundheitsreform ({11}) den so genannten Beitragsklau - ich gebrauche dieses Wort wieder einmal - stoppen können, um so die gesetzliche Krankenversicherung zu finanzieren. Ich danke Ihnen. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Dr. Carola Reimann für die SPD-Fraktion.

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine bedarfsgerechte und dabei wirtschaftliche Arzneimittelversorgung ist eine der zentralen Säulen unseres Gesundheitssystems. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung - das haben wir schon mehrfach gehört - sind im ersten Halbjahr dieses Jahres dramatisch angestiegen. Das bedeutet für die Kassen zusätzliche Ausgaben um 2 Milliarden DM. ({0}) Natürlich sehen wir diese Entwicklung der Arzneimittelausgaben mit Sorge. Auch mit Blick auf die Kostenentwicklung bei den Krankenkassen bleibt es unser erklärtes Ziel, die Beitragssätze stabil zu halten. Dafür tragen meiner Ansicht nach alle Akteure des Gesundheitswesens Verantwortung, nicht nur die Politik, sondern alle: von den pharmazeutischen Herstellern über die Ärzte und die Apotheker bis hin zum Patienten. ({1}) Wir legen heute ein Maßnahmenpaket im Bereich der Arzneimittel vor, das die Akteure der Selbstverwaltung in ihren Bemühungen um eine solche wirtschaftliche und dabei bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung unterstützt. Dabei nehmen wir alle Beteiligten entlang der gesamten Wertschöpfungskette in Bezug auf Arzneimittel solidarisch in die Verantwortung. Sie, liebe Kollegen von der Opposition, nennen das blinden Aktionismus. Vor ein paar Wochen haben Sie noch Wortspielchen bezüglich ruhiger Hände gemacht. Ich denke, man kann es Ihnen nicht recht machen. Auch heute habe ich von Ihnen keinen einzigen konstruktiven Vorschlag gehört. ({2}) Von Ihnen wurde ein Dialog gefordert. Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung der Arzneimittelausgaben ist das Ergebnis von Gesprächen, die auch unter Beteiligung der Industrie geführt wurden. Die Industrieverbände versuchen zwar gegenwärtig, diese Tatsache durch aggressive Töne zu verschleiern. Wer sich die unbestreitbaren Tatsachen ansieht, wird unserem Handeln Recht geben und zugeben, dass das Ganze anders aussieht. Gerade auf dem Marktsegment der nicht durch Festbetrag geregelten Medikamente gibt es erhebliche Ausgabenzuwächse. Das hohe Niveau der Arzneimittelausgaben hat hierin seine Ursache. Der Bereich der Medikamente, für die keine Festbetragsregelung besteht, hat in den vergangenen Wochen bei der Steigerung der Arzneimittelausgaben mit zweistelligen Zuwachsraten überproportional zugelegt. Deshalb wollen wir einen Preisabschlag von 4 Prozent für dieses Segment erreichen. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie merkt an, der überwiegende Teil der von den Kassen erstatteten Arzneimittel sei seit Jahren preisstabil; das ist richtig. Aber der Löwenanteil der Ausgaben entsteht in dem Segment der Medikamente, die keiner Festbetragsregelung unterliegen. Das Gesamtvolumen steigt, weil den Krankenkassen höhere Kosten durch Ausgaben für Medikamente dieser Segmente entstehen. An dieser Stelle sollte man auch nicht verschweigen, dass dies Mindereinnahmen für die pharmazeutischen Hersteller bedeutet. Wir denken, dass dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Gewinnmargen der pharmazeutischen Hersteller für innovative Arzneimittel im Mittel weit über 50 Prozent liegen, ein zumutbarer Beitrag ist. ({3}) Wenn Sie uns in Bezug auf die vorgesehene Abschlaghöhe Willkür vorwerfen, müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass die Preisbildung in Deutschland gewisse willkürliche Elemente enthält. Alle Akteure müssen Verantwortung übernehmen. Das gilt auch für diejenigen, die von unserem Gesundheitssystem ganz massiv profitieren. Sie haben Sorge um den Forschungsstandort; ich kann Ihnen gerne noch einmal die Zahlen nennen: F und E 18 Prozent, Marketing 29 Prozent. Wenn man sich Sorgen machen muss, dann um den Marketingstandort, aber nicht um den Forschungsstandort. ({4}) Als weitere Maßnahme erhöhen wir den Rabatt, den die Apotheker der gesetzlichen Krankenversicherung einräumen, um 1 Prozentpunkt auf 6 Prozent. Auch hierzu gab es im Vorfeld Gespräche. Die ursprünglich diskutierte Abhängigkeit des so genannten GKV-Rabatts vom Umsatz ist dabei auf Wunsch der Apotheker in einen einheitlichen Rabattsatz umgewandelt worden. Gleichzeitig betonen wir die Kompetenz der Apotheker durch eine wesentliche Maßnahme des Pakets, nämlich die generelle Einführung der Aut-idem-Regelung. Der Apotheker soll künftig die Möglichkeit haben, ein preisgünstigeres, aber wirkstoffgleiches Medikament an die Patienten abzugeben. Das ist eine Lösung, die sich in Ausnahmefällen bereits bewährt hat. ({5}) Bislang wird diese Regelung angewandt, wenn ein Patient am Wochenende oder an Feiertagen einen Apotheker im Notdienst aufsucht und das verschriebene Medikament in der Apotheke nicht vorrätig ist. ({6}) Wir wollen nun die Ausnahme der Aut-idem-Substitution zum Regelfall machen. ({7}) Die Aut-idem-Lösung erschließt Wirtschaftlichkeitsreserven, die wir nicht ungenutzt lassen wollen, Frau Schwaetzer. Wenn Sie weiter so reinreden, verspüre ich den Wunsch, Ihnen den neuen „Arzneimittel-Report“ nicht nur verbal um die Ohren zu hauen. ({8}) Die Aut-idem-Lösung erschließt Wirtschaftlichkeitsreserven, die in dem neuen „Arzneimittel-Report“ detailliert erläutert worden sind. Die Aut-idem-Lösung soll nicht nur für den normalen Besuch beim Hausarzt, sondern auch für die ambulante Behandlung im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt gelten. In dem Entlassungsbericht bzw. vorläufigen ärztlichen Kurzbericht sollen künftig ebenfalls die für die Behandlung notwendigen Wirkstoffe angegeben werden. Es wird oft beklagt, dass diese Maßnahmen die Therapiefreiheit der Ärzte einschränken. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Es ist noch immer der Arzt, der aufgrund seiner Kompetenz den Wirkstoff aufschreibt, der zu einer wirksamen Therapie notwendig ist. Es bleibt dem Arzt weiterhin vorbehalten, in Ausnahmefällen - wenn es um die Galenik geht - auf bestimmten Medikamenten zu bestehen. Aber die Fülle der Präparate, die auf dem Markt sind - das müssen alle zugeben -, ist vom verordnenden Arzt nicht mehr zu überblicken, vor allen Dingen nicht vom Allgemeinmediziner, der eine riesige Bandbreite von Krankheiten behandelt. ({9}) Der Pharmazeut in der Apotheke jedoch - das wissen Sie, Herr Bauer, ganz genau - ist dafür Experte. Mit der Aut-idem-Lösung wird diese Fachkompetenz endlich genutzt. ({10}) Denn letztlich sind es ja die Wirkstoffe, die helfen, und nicht der Markenname auf der Packung. Für den Pharmakologen - das sollten Sie wissen; schließlich sind Sie einer - gibt es keinen Unterschied zwischen Aspirin und anderen Produkten, in denen der Wirkstoff Acetylsalicylsäure enthalten ist. Deshalb werden wir dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen zusätzlich die Aufgabe auferlegen, für bestimmte Arzneimittel mit pharmakologisch vergleichbaren Wirkstoffen oder therapeutisch vergleichbarer Wirkung eine Bewertung des therapeutischen Nutzens im Verhältnis zum Abgabepreis vorzunehmen. Es wird also in Zukunft zur Unterstützung der Ärzte eine neutrale Empfehlung vonseiten dieses Ausschusses zum Preis-Leistungs-Verhältnis von Analogpräparaten geben. ({11}) Sie, meine Damen und Herren von der Opposition - das kann man nachlesen -, meinen, es würden zukünftig billigere statt bessere Medikamente abgegeben werden. Sie verwechseln anscheinend hohe Preise mit Qualität. ({12}) Dass das teure Präparat nicht zwingend auch das qualitativ hochwertigere Präparat ist, wissen wir alle. ({13}) Etliche teure Präparate sind keine echten Innovationen, sondern nur Scheininnovationen, die eigentlich keinen oder nur einen marginalen therapeutischen Mehrwert bringen. Gleichwohl sind diese Me-too-Präparate sehr teuer. Meine Kollegin Schmidt-Zadel hat gesagt, dass sie im Durchschnitt 120 DM teurer seien. Man muss bedenken, dass das nur ein Durchschnittswert ist. Dass die Entscheidung, einen bewährten Wirkstoff mit bekannter Verträglichkeit in der Langzeittherapie einzusetzen, auch Arzneimittelsicherheit bedeuten kann, haben wir alle, glaube ich, an den UAW-Meldungen über Lipobay gesehen. ({14}) Wir hoffen, mit dem vorgestellten Maßnahmenpaket ein Ausgabenvolumen von bis zu 3 Milliarden DM zu erschließen - das halte ich für notwendig -, so die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel auf ein vertretbares Maß zu begrenzen und trotzdem eine bedarfsgerechte und gleichermaßen wirtschaftliche Versorgung der Patienten mit Arzneimitteln zu erreichen. Ich danke. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe davon aus, dass der Schlagabtausch im Deutschen Bundestag auch weiterhin nur auf verbaler Ebene stattfinden wird. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Sabine Bergmann-Pohl für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeit der Bundesgesundheitsministerin wird immer chaotischer. ({0}) Erst gestern haben die Regierungsfraktionen das Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz beschlossen. Heute, also bereits zwölf Stunden später, ({1}) soll der gestrige Beschluss mit dem Entwurf des so genannten Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetzes wieder geheilt werden. Ich frage mich, ob der Gesetzentwurf, über den wir jetzt debattieren, überhaupt noch gültig ist; denn ich habe gehört, dass die Frau Ministerin mit dem Bundesärztekammerpräsidenten, Herrn Hoppe ({2}) - ach, sogar mit dem Kanzler? -, etwas Neues vereinbart hat. Also, liebe Leute, euer Kanzler ist wirklich derjenige, der das Sagen hat. ({3}) Das ist der beste Beweis für kopfloses Handeln. ({4}) Die Bundesregierung ist von der Wirksamkeit ihrer Gesetze nicht einmal mehr so überzeugt, dass sie deren InKraft-Treten abwartet. Lassen Sie mich als Ärztin nur eine Regelung des geplanten Gesetzes herausgreifen. Die Bundesregierung plant mit der jetzigen Aut-idem-Regelung, dass die Ärzte nur noch Wirkstoffe verordnen sollen. Die Bestimmung des abzugebenden Medikamentes obliegt den Apothekern nach Preisgesichtspunkten, nach dem Motto: Je billiger, desto besser. Das ist eine Einschränkung der Therapiefreiheit der Ärzte auf Kosten der Patienten. ({5}) Frau Ministerin, Sie zerstören das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, soweit Sie das mit Ihren bisherigen Gesetzen nicht schon längst geschafft haben. Mich haben in den letzten Tagen viele Briefe von Patienten erreicht, insbesondere von älteren und schwer kranken Menschen. Aus dem Brief einer Dame möchte ich nur eine Passage zitieren: Jeder Patient weiß, dass es schwierig für den Arzt ist, die richtige Zusammenstellung der Medikamente zu finden, wenn der Patient unter verschiedenen Krankheiten leidet. Das macht in Zukunft alles der Apotheker, toll. Also finden nach der Meinung der Bundesministerin die Beratungen in der Apotheke statt, im Beisein anderer Kunden. Der Arzt ist fast überflüssig. Frau Ministerin, das sind die Auswirkungen Ihrer Gesetze. ({6}) Meine Damen und Herren, wo liegen eigentlich die Probleme? ({7}) Der Apotheker hat keine Kenntnis von der genauen Diagnose und Indikationsstellung. Gleiche Wirkstoffe finden sich zwar in verschiedenen Medikamenten, aber die Arzneimittel sind heute vielfach sehr komplex. Hilfsstoffe zum Beispiel können für die adäquate Wirkungsweise eines Medikaments und für dessen Verträglichkeit entscheidend sein. Besonders betroffen davon sind übrigens Allergiker. Frau Ministerin Schmidt, es wäre ganz gut, wenn Sie zuhörten. Jetzt geht es nämlich um Sachkunde. ({8}) Hinzu kommt, dass ein Organismus auf verschiedene Medikamente, die zwar chemisch gleiche Wirkstoffe, jedoch unterschiedliche Hilfsstoffe und zusätzlich wirksame Bestandteile enthalten, mit heftigen Nebenwirkungen reagieren kann. Aber der Arzt und nicht der Apotheker ist für die Folgen seiner Arzneimitteltherapie verantwortlich. Die geplante Regelung bestraft insbesondere die chronisch kranken Patienten. Auf die Verordnungen für diese Gruppe entfallen heute circa 60 Prozent der Arzneimittelausgaben. Die Patienten laufen Gefahr, bei jedem neuen Rezept unterschiedliche Präparate mit verschiedenen Farben, Darreichungsformen, Dosierungen und Anwendungsvorschriften zu bekommen. Können Sie sich vorstellen, dass dies auf die Therapietreue der Patienten einen positiven Einfluss hat? - Ich nicht. Wir reden hier über kranke, vielfach ältere Menschen, die Sie damit verunsichern. ({9}) - Herr Schmidt, Sie sollten sich mit solchen Äußerungen zurückhalten. Ich habe gesagt, dass ich hier als Ärztin rede. Von der Sache verstehe ich, glaube ich, mehr als Sie. ({10}) Wenn durch die geplanten Maßnahmen die Compliance der Patienten herabgesetzt wird und der Behandlungserfolg nicht eintritt, dann werden Sie nicht Kosten in der prognostizierten Höhe einsparen; Sie werden sich vielmehr zusätzlichen Kosten im Gesundheitswesen gegenübersehen. Noch etwas anderes. Wer haftet denn nach der von Ihnen geplanten Regelung eigentlich, wenn bei der Verordnung etwas schief geht: der Arzt oder der Apotheker? ({11}) - Der Arzt weiß doch gar nicht, was der Apotheker abgibt. An dieser Äußerung merkt man, dass Sie von der Sache wirklich nichts verstehen, Frau Schmidt. ({12}) Der Arzt muss die Therapie- und Kostenverantwortung weiterhin behalten. Nur er kann durch sinnvolles Therapieverhalten beides beeinflussen. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wird die ehemals individuelle Therapieverantwortung des Arztes durch PfennigfuchseDr. Sabine Bergmann-Pohl rei im Rahmen von Billigverordnungen ersetzt. Das werden die Ärzte nicht mitmachen. 71 Prozent der Hausärzte in Deutschland sehen die Versorgungsqualität gefährdet, wenn diese Aut-idem-Regelung kommt. Frau Ministerin, nachdem Sie die erste Hälfte dieses Jahres mit runden Tischen vertrödelt haben, ({13}) verfallen Sie jetzt in blinden Aktionismus. Sie muten den Versicherten und Beteiligten im Gesundheitswesen eine Vielzahl unstimmiger Gesetze zu, statt eine umfassende und notwendige Reform anzugehen. ({14}) - Wir haben Ihnen eine Reform vorgelegt. ({15}) Sie haben viele Dinge zurückgenommen und die Folgen haben Sie jetzt zu tragen. ({16}) Frau Ministerin, Sie doktern am Gesundheitswesen herum, beherrschen aber weder Diagnostik noch Therapie. Wissen Sie, wie man das in der Medizin nennt? Kurpfuscherei! ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/7144 an die in der Tagesordnung aufgeführte Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 20: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Anni Brandt-Elsweier, Christel Riemann-Hanewinckel, Dr. Jürgen Meyer ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Irmingard ScheweGerigk, Volker Beck ({1}), Gila Altmann ({2}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten - Drucksache 14/5958 ({3}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur beruflichen Gleichstellung von Prostituierten und anderer sexuell Dienstleistender - Drucksache 14/4456 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5}) - Drucksache 14/7174 Berichterstattung: Abgeordnete Ilse Falk Anni Brandt-Elsweier Christina Schenk Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Also ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die Fraktion der SPD ist die Kollegin Anni Brandt-Elsweier.

Anni Brandt-Elsweier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Theodor Fontane stellte fest: „Courage ist gut, Ausdauer ist besser.“ Als ich im Januar 2000 die Leitung der koalitionsübergreifenden Unterarbeitsgruppe „Prostitution“ übernahm, habe ich nicht gewusst - das sage ich ganz offen -, wie viel Courage und vor allem Ausdauer wir alle brauchen würden, um am heutigen Tag endlich das Gesetz zur rechtlichen und sozialen Besserstellung der Prostituierten zu verabschieden. ({0}) Die Besserstellung ist ein altes Thema, mit dem wir uns schon zu Oppositionszeiten beschäftigt haben. Ich erinnere an unseren Gesetzentwurf von 1997, der ebenfalls eine lange Vorlaufzeit hatte. Mit der Vorlage des Gesetzes haben wir heute endlich unser Ziel erreicht. Ich gestehe ganz offen, ich freue mich, dass ich diesen Tag erleben darf. ({1}) Wir alle haben lange daran gearbeitet. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, meinem Kollegen Professor Dr. Meyer und meiner Kollegin Frau Schewe-Gerigk für die konstruktive und gute Zusammenarbeit zu danken. ({2}) Ich bedanke mich auch für die sachliche Auseinandersetzung mit den anderen Fraktionen. Uns alle einte das Ziel, eine rechtliche und soziale Besserstellung der Prostituierten zu erreichen. Dies haben die Vereinten Nationen bereits im vergangenen Jahr angemahnt. Freilich waren wir uns über den Weg dorthin nicht immer einig. Ich bin mir bewusst, dass vor allem die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion mit der Abschaffung der Sittenwidrigkeit sehr große Schwierigkeiten haben. Ich erlaube mir, auf eine Äußerung Ihres stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Bosbach in einem Interview mit der Katholischen Nachrichtenagentur im Juli dieses Jahres hinzuweisen - ich zitiere -: Prostitution ist eine gesellschaftliche Realität, und dies seit Jahrtausenden und in jeder Gesellschaft. Also können wir sie uns nicht einfach wegwünschen, sondern müssen versuchen, mit ihr möglichst nahe an den Wertvorstellungen dieser Gesellschaft umzugehen. Dem kann ich nur zustimmen. Aber ich sage auch deutlich: Diese Wertvorstellungen werden nicht allein von der CDU/CSU geprägt, sondern von unserer gesamten Gesellschaft. ({3}) Diese Wertvorstellungen sind auch keine starre Größe, sondern einem immerwährenden Wandel unterworfen. Prostitution wird heute von großen Teilen der Gesellschaft eben nicht mehr als sittenwidrig angesehen. Auch die Gerichte schließen sich zunehmend dieser Auffassung an. Ich verweise beispielhaft auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 1. Dezember 2000, das ausdrücklich erklärt hat, Prostitution, die ohne kriminelle Begleiterscheinungen und freiwillig ausgeübt werde, sei grundsätzlich nicht mehr als sittenwidrig anzusehen. Dieses Urteil ist auch aus dem Grund wegweisend, weil sich das Gericht die Mühe gemacht hatte, vorher eine Umfrage bei allen gesellschaftlich relevanten Gruppen durchzuführen und sein Urteil auf deren Ergebnisse stützte. Wir haben also mit diesem Gesetzentwurf nichts anderes getan, als die Gesetzeslage dem Wandel im Bewusstsein der Gesellschaft anzupassen. Mit der Abschaffung der Sittenwidrigkeit für freiwillige Prostitution setzen wir ein unmissverständliches Zeichen für die gesellschaftliche Anerkennung und die Entdiskriminierung der Betroffenen. Ich bin mir übrigens sicher, dass damit kein dramatischer Sittenverfall droht. ({4}) Im Gegenteil: Sachverständige, die sich mit dem Thema Prostitution und ihren engen Verknüpfungen mit der organisierten Kriminalität beschäftigen, haben festgestellt, dass die anhaltende Bewertung der Prostitution als sittenwidrig eines der zentralen Probleme ist. Der Sachverständige Schnelker führte in der Anhörung aus, dass die mit dem Wegfall der Sittenwidrigkeit verbundene Möglichkeit, Bordellbetriebe als gewerbliche Zimmervermietung zu konzessionieren, seiner Ansicht nach „mehr Transparenz im Milieu“ bedeute und deshalb durchweg positiv zu bewerten sei. Experten der Kriminalpolizei fordern folgerichtig, Prostituierten endlich einen besseren rechtlichen Schutz zu geben, damit diese nicht länger von ihren Zuhältern abhängig sind. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist doch wohl genau das Ziel, das wir gemeinsam erreichen wollen. ({5}) Mit der Verabschiedung unseres Gesetzentwurfs sind noch weiter gehende Folgen verbunden. Das Gesetz eröffnet den Betroffenen den Zugang zu den Sozialversicherungen, und zwar mit der klaren Bezeichnung ihrer Tätigkeit. Prostituierte können sich in Zukunft also selbst - sei es als Selbstständige oder als abhängig Beschäftigte, zum Beispiel in einem Bordell - sozial absichern. Ich freue mich, dass Versicherungsträger - zum Beispiel die Rentenversicherung LVA Sachsen oder auch die AOK Sachsen - schon deutliche Signale gegeben haben, dass bei ihnen für Prostituierte der gleiche Beitragssatz und der gleiche Versicherungsschutz wie für alle anderen gelte. ({6}) Das stimmt mich optimistisch, dass unser Vorhaben in die Praxis umgesetzt werden kann. Ein Journalist merkte mir gegenüber in diesem Zusammenhang an, dass durch unser Gesetz die Preise im Milieu steigen könnten, weil die Bordellbetreiber die Sozialversicherungskosten an die Kunden weitergäben. Ich kann dazu nur sagen: Das ist ohne weiteres billigend in Kauf zu nehmen. ({7}) Wer eine sexuelle Leistung in Anspruch nimmt, der soll dafür auch bezahlen. ({8}) Dieser Gesetzentwurf wurde im Interesse der Prostituierten gemacht und nicht - das möchte ich betonen - zum Wohle von Freiern und Zuhältern. Im Übrigen gilt das Gesetz natürlich auch für ausländische Prostituierte, soweit sie einen legalen Aufenthaltsstatus haben. Frauenhandel und Zwangsprostitution kann das Gesetz allerdings nicht erfassen. Das ist eine völlig andere Problematik. Wir haben auch den Bedenken, Prostitution sei kein Beruf wie jeder andere, Rechnung getragen, indem wir bewusst das Konstrukt des einseitig verpflichtenden Vertrages gewählt haben. Die Frauen erhalten durch das Gesetz eine Handhabe, aus ihrer Tätigkeit auszusteigen oder einen Kunden abzulehnen. Das geschieht nicht, weil wir Prostitution im Grunde unseres Herzens als irgendwie sittenwidrig ansehen - das ist schon einmal unterstellt worden -, sondern weil wir ein Auge für die Realität haben und wissen, dass diese Tätigkeit häufig in einem Milieu stattfindet, in dem Nötigung, Ausbeutung und Gewalt an der Tagesordnung sind. Wir wissen, dass es erforderlich ist, den Frauen die Möglichkeit zu eröffnen, weitgehend selbst zu bestimmen, wie sie ihre Tätigkeit ausüben wollen. Wir zwingen niemanden in einen Vertrag. Wir haben diesbezüglich die Bedenken der Sachverständigen aus der Anhörung berücksichtigt und ausdrücklich klargestellt, dass das eingeschränkte Weisungsrecht einer Sozialversicherungspflicht nicht entgegensteht. Ich bin mir sicher, dass wir mit diesem Gesetz einen gesellschaftspolitischen Meilenstein setzen werden. ({9}) Darum kann ich die betroffenen Frauen abschließend nur noch auffordern: Nehmen Sie das Gesetz selbstbewusst in Anspruch! Machen Sie im eigenen Interesse von der Chance Gebrauch, sich für das Alter oder den Krankheitsfall abzusichern! Wenn dies geschieht, bin ich mir auch sicher, dass der von uns geforderte Bericht der Bundesregierung nach Ablauf von drei Jahren so positiv aussehen wird, dass wir wissen: Wir haben ein gutes Gesetz gemacht. Danke schön. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Maria Eichhorn.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute soll der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten verabschiedet werden. Lea Ackermann, die engagierte katholische Ordensfrau, bezeichnete dieses Gesetz als einen „Schritt in die falsche Richtung“. Die Position der Frauen bleibe schlecht und die der Zuhälter werde gestärkt. - Ich kann mich dieser Meinung nur anschließen. ({0}) Der Gesetzentwurf befasst sich nur mit wenigen Teilaspekten der tatsächlichen Problematik. Etwa die Hälfte der 400 000 Prostituierten in Deutschland lebt als Opfer von Menschenhandel oder als Ausländerinnen und Ausländer, die diese Tätigkeit illegal in Deutschland ausüben. ({1}) Für sie bietet der Entwurf keinerlei Verbesserungen oder Alternativen. Die andere Hälfte der Prostituierten hat sich mehr oder weniger freiwillig dafür entschieden. Die selbstständigen Prostituierten, die in keinerlei Beschäftigungsverhältnis stehen, sind ausgeschlossen. Nur wenige betrifft das Gesetz. Aber auch diese können kaum mit Verbesserungen ihrer rechtlichen und sozialen Situation rechnen. Dazu kommt, wie uns die Erfahrungen in den Niederlanden zeigen, dass viele Prostituierte in die Illegalität flüchten, weil sie keine Sozialabgaben bezahlen wollen. Dieser Gesetzentwurf begegnet der Doppelmoral, mit der über dieses Thema gesprochen wird, nicht. Im Gegenteil: Er zementiert diese noch. Durch dieses Gesetz wird kein Bewusstseinswandel bei den Menschen stattfinden. ({2}) Der Kauf einer sexuellen Dienstleistung, die den Körper zu einer Ware degradiert, widerspricht der menschlichen Würde. ({3}) Viele Prostituierte leben in großer Not: in seelischer Not, die durch Herabwürdigung, Gewalt und Ausbeutung hervorgerufen wird. Sie leben aber auch in großer finanzieller Not; denn Miete und Abgaben müssen bezahlt werden; 40 bis 60 Prozent des Lohns schröpfen die Zuhälter und Bordellwirte ab. ({4}) Wir von der CDU/CSU-Fraktion werden Prostitution nicht als normalen Beruf anerkennen. Er ist kein Beruf wie Friseurin oder Sachbearbeiterin. ({5}) Die Degradierung des Körpers zur Ware widerspricht der Wertordnung des Grundgesetzes. ({6}) Prostitution ist sittenwidrig. Wenn es stimmt, was Statistiken sagen, dann verschweigen täglich 1 Million Männer ihrer Frau oder Partnerin, dass sie Sex gegen Bezahlung hatten. ({7}) Die Vermarktung des menschlichen Körpers verletzt nicht nur das Anstandsgefühl der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, sondern verletzt die Würde der Prostituierten selbst. ({8}) Die Abschaffung der Sittenwidrigkeit ist ein falsches Signal. Die Gesellschaft wandelt sich; unwandelbar bleibt aber die Menschenwürde. Der Gesetzgeber darf grundlegende Wertvorstellungen nicht leichtfertig preisgeben. Die gegenseitige Achtung und Respektierung der Menschenwürde darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Es ist moralisch fragwürdig, wenn der Körper zur Ware wird. ({9}) Sozialarbeiterinnen, die in der Szene tätig sind, bestätigen: Prostitution zerstört die Persönlichkeit und sie schädigt Körper und Seele. Der Gesetzgeber hat die Pflicht, seine schützende Hand über einen ausgebeuteten und schwachen Teil der Gesellschaft zu halten. Das tun Sie mit Ihrem Gesetz nicht. Ich kann Alice Schwarzer nur zustimmen. Sie sagt, dass man Prostitution nicht aus der Sicht der Freier betrachten darf. Sie ist der Meinung, dass die gesellschaftliche Debatte dazu neigt, das Problem zu verharmlosen. ({10}) Es besteht die Gefahr, dass die Prostitution in dieser Debatte salonfähig gemacht wird. Wir müssen die Wahrnehmungen und täglichen Erniedrigungen der Prostituierten bei unseren Initiativen im Blick haben. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die entwürdigende Lebens- und „Arbeitssituation“ der Prostituierten verbessert werden muss. Es geht um die Verbesserung der hygienischen Zustände, um die Stärkung der Rechte der Prostituierten und um ihre soziale Absicherung. ({11}) Es geht aber auch um die Schaffung von Alternativen und um Ausstiegsmöglichkeiten für die Frauen. ({12}) Die wenigsten dieser Frauen - die Regierungskoalition will uns etwas anderes glauben machen - gehen der Prostitution freiwillig nach. Das geht auch aus Umfragen ganz deutlich hervor, wonach sich die Prostituierten für ihre Töchter oder Söhne keinesfalls die gleiche Arbeits- und Lebenssituation wünschen. Über die Hälfte der Prostituierten ist zwangsprostituiert oder lebt als Opfer von Menschenhandel in sehr starker Abhängigkeit von Zuhältern und Bordellbetreibern. Die von Ihnen geplante Abschaffung des § 180 a Abs. 1 Ziffer 2 wird diese Abhängigkeit noch verstärken. ({13}) Die Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden werden dadurch eingeschränkt; das kriminelle Milieu kann sich weiter ausbreiten. Die Schaffung günstiger Arbeitsbedingungen, also hygienischer und menschenwürdiger Verhältnisse, hätten Sie durch eine klarstellende Änderung der Vorschrift erreichen können. Das haben die Fachleute in der Anhörung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. So aber fördern Sie die persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit der Prostituierten. Den Strafverfolgungsbehörden wird ein wichtiges Instrument aus der Hand geschlagen, um gegen die Ausbeutung von Prostituierten durch die Bordell- und Zuhälterszene vorzugehen. Von den Betreibern einschlägiger Einrichtungen wird der Druck der Strafverfolgung genommen. Dadurch neu geschaffene Freiräume werden zur Maximierung der eigenen Profite genutzt, ohne irgendeine Verbesserung für die Prostituierten dabei im Blick zu haben. Das ist unsere Befürchtung. Die von Ihnen vorgeschlagene Neufassung des § 181 Abs. 2 bringt nach meiner festen Überzeugung den Prostituierten keine Verbesserung. Sie unterscheiden nun lediglich zwischen „guten“ und „schlechten“ Zuhältern. Wem soll damit geholfen sein, wenn Sie in dem zu verabschiedenden Gesetz festlegen, dass sexuelle Ausbeutung nur da vorliegt, wo „die wirtschaftliche oder persönliche Bewegungsfreiheit der Prostituierten“ beeinträchtigt sei? Wie wollen Sie das denn beurteilen? Wo ist hier die Grenze? Diese Formulierung ist lebens- und realitätsfern und wird höchstens, wie Sie selber zugestehen, die Gerichte beschäftigen. Prostituierte werden von Zuhältern ausgenutzt und ausgebeutet. Nur der allergeringste Teil der Prostituierten ist organisiert und kann sich zur Wehr setzen. Meine Damen und Herren, insgesamt werden 12,5 Milliarden DM pro Jahr durch Prostitution in Deutschland erwirtschaftet. Der geringste Teil davon geht an die Frauen, die dieses Geld anschaffen. Ihre Zuhälter verdienen an ihnen, ebenso Drogenkartelle und Geldwäscher. Die wohlverdienende Edelprostituierte ist die absolute Ausnahme. Der allergrößte Teil der Frauen wird schlicht ausgebeutet. Die Bereitstellung hygienischer und guter Arbeitsbedingungen ist erstrebenswert. Mit dieser Gesetzesregelung werden Sie jedoch dieses Ziel nicht erreichen. Im Gegenteil, die Folgen dieser Regelung wären für die Frauen fatal. Sie bedeuten nämlich auch, dass Zuhälter auf dem Straßenstrich legal „arbeiten“ können. Die Folgen für die Frauen: Sie werden in diesem Milieu noch mehr unter Druck gesetzt; ihnen werden noch mehr Vorschriften gemacht. Zudem hat die Legalisierung eine Stärkung der organisierten Kriminalität zur Folge. Zuhälterringe zwingen Frauen zur Prostitution. Gegen sie vorzugehen wird für die Polizei und die Staatsanwaltschaft noch schwerer. ({14}) Zwangsprostitution ist anhand von Gewalt oder Drohung schwer nachzuweisen. Genauso ist es bei einer Anklage wegen Nötigung oder Erpressung. Bleibt also nur die Anklage wegen Zuhälterei. Bei der Legalisierung gehen die Männer dann straffrei aus. Hilft das den Frauen? Wir wollen den Prostituierten helfen. Dazu soll eine bessere soziale Absicherung beitragen. Die Abschaffung der Sittenwidrigkeit ist zur Erreichung dieser Ziele nicht notwendig, ganz abgesehen von der Tatsache, dass dies nicht unsere Überzeugung ist. Der Tatbestand der Sittenwidrigkeit muss bleiben. Wir haben Ihnen einen Weg vorgeschlagen, wie auch Prostituierte sozial abgesichert werden können, ohne dass man die Sittenwidrigkeit aufgibt. Die Fachleute haben Ihnen bestätigt, dass das möglich ist. Sie jedoch haben diesen Weg, den wir mitgegangen wären, abgelehnt. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, durch Ihren Gesetzentwurf werden zahlreiche, von Ihnen wahrscheinlich noch gar nicht bedachte Nebenfolgen für andere Regelungen verursacht. Beispielsweise müssen die Arbeitsämter jetzt entsprechende Ausnahmeregelungen finden; Ähnliches gilt für die Unfallversicherung und auch für die gesetzliche Krankenversicherung. Ohne diese Ausnahmeregelungen könnte man zum Beispiel die Arbeitsämter mit der Vermittlung von Huren beauftragen. Das ist natürlich absurd und zeigt, dass Ihre Gesetzesvorlage nicht zu Ende gedacht ist. Für uns ist wichtig, dass es Ausstiegsmöglichkeiten für Prostituierte gibt. Hierfür sind konkrete Maßnahmen erforderlich. Bereits heute können zum Beispiel Umschulungsmaßnahmen für Prostituierte bewilligt werden. Das Sozialministerium des Freistaates Bayern fördert in Nürnberg ein Projekt „Umstiegsbegleitung“, das die Frauen über einen längeren Zeitraum begleitet, berät und unterstützt und die Aufgabe hat, Lebensperspektiven für sie zu finden. Der bayerische Arbeitsmarktfonds und das zuständige Arbeitsamt fördern das Projekt KOBRA. Auch hier werden unter Berücksichtigung der besonderen Situation und Lebensumstände Prostituierter Perspektiven und Strategien für die ausstiegswilligen Frauen entwickelt. Es ist positiv zu bewerten, dass den Prostituierten nunmehr alle gesetzlichen Möglichkeiten der Arbeitsämter zur Verfügung stehen, um den Schritt aus ihrer Tätigkeit zu gehen. Dies muss das Ziel aller Maßnahmen sein. Es geht um so viel Absicherung wie nötig, aber so viel Ausstieg wie möglich. Prostitution ist eine gesellschaftliche Realität. Wir werden sie nicht abschaffen können. Dadurch aber, dass man diese Realität zur Normalität erklärt, macht man sie für die Betroffenen nicht besser und auch nicht leichter. ({15}) Wir brauchen über dieses Thema eine gesellschaftliche Diskussion auf breiter Basis. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, das Angebot und Nachfrage in gleicher Weise als menschenunwürdig ansieht. Wir müssen gegen die Doppelmoral angehen, die zu diesem Thema in unserer Gesellschaft herrscht. ({16}) Man kann nicht das Handeln der Prostituierten und das ihrer Kunden unterschiedlich beurteilen. Es ist empörend, dass der Freier moralisch weitgehend unbelangt bleibt - in manchen Bereichen gilt es sogar als besonders männlich, ein Bordell zu besuchen -, während auf die Prostituierte mit dem Finger gezeigt wird. ({17}) Die Freier zahlen und halten sich damit für ehrenwerte Leute. Dem müssen wir begegnen. ({18}) Ich wünschte mir, die Regierungskoalition hätte die Chance dazu genutzt. Wir zeigen Ihnen in unserem Entschließungsantrag die gravierenden Mängel dieses Gesetzentwurfs auf. ({19}) Die Abschaffung der Sittenwidrigkeit verharmlost die Prostitution und ihr Umfeld. Das ist ein falsches Signal. Den Frauen muss geholfen werden, nicht der Prostitution. Deshalb lehnen wir als Unionsfraktion diesen Gesetzentwurf ab. ({20})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Eichhorn, ich glaube nicht, dass Sie mit Ihrer heutigen Rede die Mehrheit Ihrer Fraktion repräsentiert haben. Wir haben mit vielen einzelnen Ihrer Fraktionskollegen Gespräche geführt. Ich dachte eigentlich, wir seien schon einen Schritt weiter. ({0}) Heute ist ein wichtiger Tag nicht nur für Prostituierte, die endlich die gleichen Rechte wie andere Arbeitnehmerinnen erhalten und die ab heute nicht mehr Bürgerinnen zweiter Klasse sind, die zwar Pflichten, aber keinerlei soziale Rechte haben. Es ist auch ein guter Tag für unsere Demokratie; denn es ist eines Rechtsstaats nicht würdig, dass er einem Teil seiner Bürgerinnen wichtige Rechte vorenthält. Diesen Zustand beenden wir. ({1}) Das Gesetz ist zugleich ein großer Erfolg grüner Frauenpolitik. Schon 1990 haben die Grünen als erste Fraktion einen Gesetzentwurf zur Antidiskriminierung von Prostituierten in den Bundestag eingebracht. ({2}) Damals wurde das noch belächelt. Wir haben aber erreicht, dass dadurch eine Debatte angestoßen wurde, die inzwischen die gesamte Öffentlichkeit für die bestehenden Ungerechtigkeiten sensibilisiert hat. Wenn heute diese Position eine große Mehrheit im Parlament findet, dann sind wir schon ein wenig stolz darauf. ({3}) Allerdings gilt: Ohne das Engagement einer Reihe von Bundestagskolleginnen aller Fraktionen wären wir heute nicht so weit. Aber auch ohne den enormen Einsatz der Hurenbewegung und einzelner Frauen wäre dieser Erfolg nicht zustande gekommen. Stellvertretend nenne ich Christine Drössler und begrüße auf der Tribüne Stefanie Klee und Felicitas Weigmann, die sich nicht hat unterkriegen lassen, immer wieder auf die Doppelmoral hinzuweisen. ({4}) Sie lieferte den Grund dafür, dass Ende 2000 das Verwaltungsgericht Berlin zum ersten Mal seit 100 Jahren ein Urteil gesprochen hat, wonach die freiwillige Prostitution von Erwachsenen nicht mehr als sittenwidrig anzusehen ist. Richter McLean und seinem Kollegium sei gedankt; denn das Urteil hat der Politik enorme Schubkraft verliehen. Dieses Urteil teilen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, nicht. ({5}) Sie möchten die Sittenwidrigkeit weiter festschreiben. Dennoch teilen Sie die Ziele dieses Gesetzes, wie ich gehört habe. Das ist sicherlich auch ein Verdienst der Kollegin Falk. Aber wenn man die entsprechenden Gesetze nicht ändert, kann man diese Ziele einfach nicht erreichen. Darum bitte ich Sie: Springen Sie doch einfach über Ihren Schatten und stimmen Sie diesem Gesetz zu! ({6}) Sie hätten dann nicht nur 70 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Inzwischen werden Sie sogar schon von Teilen der Kirche dazu aufgefordert, so zu handeln. Wenn etwas sittenwidrig ist, Frau Kollegin Eichhorn, so höchstens die von Doppelmoral geprägte Rechtspraxis, die nicht die Kunden und die Profiteure der Sexindustrie - einschließlich des Staates mit seinen Steuereinnahmen - benachteiligt, sondern ausschließlich die Prostituierten. Ich finde, das ist sittenwidrig. ({7}) Wir verabschieden heute ein Gesetz, das die Lebensund Arbeitsbedingungen von Prostituierten deutlich verbessern wird. Prostituierte können künftig rechtswirksame Vereinbarungen mit Kunden und Arbeitsverträge mit Arbeitgebern schließen. Sie können in die Sozialversicherung aufgenommen werden und haben dadurch, wenn sie es wollen, gute Ausstiegsperspektiven. Sie haben ein Recht auf gute Arbeitsbedingungen. Wir schaffen die rechtlichen Voraussetzungen, dass Prostituierte nicht länger im gesellschaftlichen Abseits stehen. Sie sprechen die Menschenwürde an, Frau Eichhorn. Menschenwürde heißt auch, angemessen am gesellschaftlichen und sozialen Leben teilhaben zu können. Das bedeutet soziale Absicherung, sei es im Falle einer Krankheit oder im Alter. ({8}) Das ist dringend notwendig. ({9}) Hierzu einige Zahlen: Das Bild der Porsche fahrenden, im Luxus schwelgenden Prostituierten trügt. Das Durchschnittsseinkommen beträgt 2 000 DM monatlich. 20 Prozent aller Prostituierten sind überhaupt nicht krankenversichert. Über 70 Prozent sind nicht rentenversichert und 98 Prozent verfügen über keinerlei Vermögen. Das ergab eine Untersuchung der Universität Kiel. Diese unhaltbare Situation werden wir ändern. ({10}) Wir stärken ganz bewusst einseitig die Rechte der Frauen, indem wir den Arbeitgebern nur ein eingeschränktes Weisungsrecht zugestehen. Danach können Arbeitgeber zwar über Ort und Zeit bestimmen, nicht aber über die Art der Leistungen und die Auswahl der Kunden. In der Bundestagsanhörung über dieses Gesetz hatten einige Sachverständige Zweifel, ob bei dieser Konstruktion tatsächlich auch ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, das eine Sozialversicherung begründet. Darum haben wir in dem vorliegenden Änderungsantrag ausdrücklich die Aufnahme in die Sozialversicherung vorgesehen. Wir haben mit einem weiteren Paradox aufgeräumt, dass sich nämlich jemand strafbar macht, wenn er der Prostituierten hygienische, sichere oder gut ausgestattete Arbeitsbedingungen schafft, während derjenige straflos bleibt, der einer Prostituierten in menschenunwürdigen Verhältnissen gegen eine überhöhte Miete Unterkunft gewährt. Das ist menschenverachtend. Auch damit machen wir heute Schluss. ({11}) Daher streichen wir den Paragraphen „Förderung der Prostitution“. Strafbar bleibt weiterhin die Ausbeutung von Prostituierten. Zusätzlich haben wir klargestellt, dass sich ein Arbeitgeber nicht strafbar macht, wenn er Prostituierte in der Sozialversicherung anmeldet. Durch diese Änderung ist der Gesetzentwurf erheblich rechtssicherer geworden. Unsere Hartnäckigkeit in dieser Sache hat sich also ausgezahlt. Viele zustimmende Zuschriften haben mich in den letzten Wochen erreicht; ich vermute, auch Sie. Erst gestern, Frau Eichhorn, hat auch die Diakonie moralische Verurteilung abgelehnt und die Sozialversicherung für Prostituierte befürwortet. ({12}) Mit diesem Gesetzentwurf haben wir einen Riesenschritt auf dem Weg zur rechtlichen Gleichstellung von Prostituierten gemacht. Ich bin sicher, dass wir dadurch auch einem Teil der Kriminalität die Grundlage entziehen. Natürlich hätte ich mir gewünscht, auch die Sperrbezirksverordnung zu streichen, weil sie Sexarbeiterinnen gettoisiert und zur Kriminalität beiträgt. Das hätte jedoch der Zustimmung des Bundesrates bedurft, womit das gesamte Gesetz verzögert, wenn nicht gar ganz verhindert worden wäre. Lassen Sie mich mit einem Satz aus der bereits zitierten Kieler Studie schließen: Am Beginn des 3. Jahrtausends wird es für einen Staat, dessen Grundgesetz die unantastbare Würde des Menschen als oberste Maxime nennt, Zeit, die Anachronismen in der Rechts- und Sozialsituation der Prostituierten aufzuarbeiten. Das haben wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf getan. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP als liberale Partei wendet sich gegen jegliche Diskriminierung von Gruppen in unserer Gesellschaft. Prostituierte werden bisher mit dem Makel der Sittenwidrigkeit belegt. Mit dem Gesetzentwurf wird endlich die längst nicht mehr zeitgemäße Sittenwidrigkeit der Prostitution abgeschafft und dem stimmen wir zu. ({0}) Endlich haben Prostituierte nicht mehr nur Pflichten, sondern auch Rechte. Unsere Gesellschaft ist in vielen Bereichen von einer bemerkenswerten Doppelmoral geprägt, mit der mancher gut lebt. Hunderttausende Prostituierte, Frauen und Männer, und eine große Anzahl von Freiern bestimmen das Bild eines Teils unserer Gesellschaft. Da mag jeder für sich seinen eigenen moralischen Maßstab bestimmen. Der Gesetzgeber - das ist das Parlament - hat jedoch die Aufgabe, Gesetze zu überprüfen und bestimmten Personengruppen Rechte nicht vorzuenthalten. ({1}) Aber auch hier haben, wie im Bereich des Steuerrechtes, Gerichte eher als das Parlament Entscheidungen vorgeprägt. Das Berliner Verwaltungsgericht hat im Dezember letzten Jahres dem rot-grünen Gesetzentwurf zusätzlich Flügel verliehen. Das Gericht entschied in einem Fall, dass Prostitution nicht mehr als sittenwidrig anzusehen ist. Hier besteht und bestand somit gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Das hat auch die öffentliche Anhörung, die wir als Bundestagsausschuss vorgenommen haben, deutlich gemacht. In dieser Anhörung haben wir die gesetzlichen Änderungen diskutiert, mit Fachleuten aus den Bereichen Zivilrecht, Sozialversicherungsrecht, Kriminalitätsbekämpfung bis hin zur Mitternachtsmission. Danach haben die Fraktionen von SPD und Grünen noch einmal Teile des Entwurfes geändert. ({2}) - Darauf wollen wir nicht abheben. Wir bleiben jetzt erst einmal hier im Parlament, Frau Schewe-Gerigk, ({3}) und konzentrieren uns nicht auf den Wahlkampf, der am Sonntag endlich sein Ende finden wird. Für uns wird er ein gutes Ende finden. Die FDP hat selbst einen Änderungsantrag und einen Entschließungsantrag in den Ausschuss eingebracht. Danach soll - das war ja hier Streitpunkt - § 181 a Abs. 2 des Strafgesetzbuches ersatzlos gestrichen und durch eine klarere Formulierung im Gesetz ersetzt werden. Es bleibt aber festzustellen, dass Rot-Grün dies ein wenig mutlos abgelehnt hat. Ihre Formulierung ist meines Erachtens - das ist auch bei den Beratungen in der Fraktion deutlich geworden - nicht so gut und nicht so klar, wie wir das gerne gehabt hätten. Aber das wurde von Ihnen ja abgelehnt. Wir werden sehen, wie Ihre Formulierung im Gesetz letztendlich trägt. Wir haben ferner einen Entschließungsantrag eingebracht, der auch das Ordnungswidrigkeitengesetz betrifft. Sie wissen, es gibt das Werbeverbot. Besonders nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes ist es sehr skurril, was sich durch die §§ 119 und 120 OWiG ergibt. Hier sind auch die Bundesländer gefragt. Sie haben zugestimmt, dass wir die Bundesregierung beauftragt haben, zusammen mit ihnen Änderungen zum Ordnungswidrigkeitengesetz zu erarbeiten. Ich erwarte, dass das nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird. Frau BrandtElsweier, wir sind uns sicherlich einig, dass uns vielleicht bis zum Frühjahr nächsten Jahres eine Lösung, an deren Erarbeitung auch die Bundesländer beteiligt waren, vorgelegt wird und wir darüber beraten können. ({4}) Ich will hier ganz deutlich betonen, dass sich die gesetzlichen Regelungen, die wir heute beraten, nur auf die hier legal tätigen Prostituierten beziehen. Ausbeutung von Menschen, sie in Abhängigkeit bringen, illegaler Menschenhandel und andere Straftaten stehen auch weiterhin unter Strafe. ({5}) Was bisher fehlt, war die soziale Absicherung, also der einklagbare Rechtsanspruch auf Entlohnung. Der Zustand, dass zum Beispiel bereits die Bereitstellung von Kondomen nach geltendem Recht als Förderung von Prostitution angesehen wurde, wird jetzt beseitigt. ({6}) Mit diesem Gesetz wird erstmals die Möglichkeit einer Arbeitnehmertätigkeit eingeführt. Die Möglichkeit für Prostituierte, sozialversichert tätig zu sein, also ein legales Arbeitsverhältnis einzugehen - das wurde ja gefordert -, wurde jetzt ermöglicht. Ob Prostituierte und Bordellbetreiber solche Vertragsverhältnisse eingehen werden, bleibt abzuwarten. Deshalb ist es erforderlich, das Gesetz nach drei Jahren zu überprüfen; denn ein Gesetz kann nicht nur etwas Positives ergeben, sondern es kann auch Entwicklungen geben, die wir vielleicht regulieren müssen. ({7}) Wir werden sehen, ob von den gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Sozialversicherung Gebrauch gemacht wird. Zum Schluss: Alles, was mit Zwang einhergeht - darin sind wir uns einig -, ist und bleibt weiterhin strafbar. Deshalb bleibt es dabei: Jeglicher Zwang zur Prostitution sowie die Ausbeutung von Prostituierten bleiben weiter unter Strafe gestellt. Die FDP sieht in diesem Gesetzentwurf ein Stück Entdiskriminierung einer Personengruppe. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf unsere Zustimmung geben. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christina Schenk.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute wird der lange, ebenso nachdrücklich wie fantasievoll geführte Kampf der Huren und Stricher nun endlich zu einem ersten gesetzgeberischen Schritt führen. Die PDS-Fraktion begrüßt das ausdrücklich. ({0}) Allerdings sind die Unzulänglichkeiten des rot-grünen Gesetzentwurfs ebenso offensichtlich wie aus unserer Sicht unnötig, sodass es in den Reihen der PDS nicht nur Zustimmung, sondern auch Enthaltungen geben wird. Die Anerkennung der Prostitution als Beruf ist überfällig. Dafür gibt es in der Bevölkerung längst eine Mehrheit und auch Rückendeckung bei den Gerichten. SPD und Grüne haben aus dieser Situation, wie ich finde, sehr wenig gemacht. Ihre erklärte Absicht, die rechtliche und soziale Situation der Prostituierten zu verbessern, ist löblich. Aber das, was Sie hier vorgelegt haben, ist nicht mehr als der kleinstmögliche Schritt, dessen Praxistauglichkeit zudem von den Expertinnen und Experten, den Prostituierten selbst, noch bezweifelt wird. In der Anhörung haben die Sachverständigen den rotgrünen Entwurf massiv kritisiert. Ich bin enttäuscht, dass angesichts der deutlichen Worte nur geringfügig nachgebessert worden ist. Die Prostituierten sagen zu Recht, dass dieses Gesetz zwar die Tür öffnet, aber eben nur einen winzigen Spalt breit. Ich will hier klar sagen, worin aus unserer Sicht die Mängel des rot-grünen Gesetzentwurfes bestehen: Es ist ein Gesetz speziell für Prostituierte. Das heißt, ihnen wird im Vergleich mit anderen Erwerbstätigen eine Sonderstellung zugewiesen. Eine gleichrangige Behandlung mit anderen Tätigkeiten findet nicht statt. Eigens für die Prostitution wurde die Konstruktion eines einseitig verpflichtenden Vertrages erfunden, mit dem die Rechte der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen gegenüber abhängig beschäftigten Prostituierten unverhältnismäßig beschnitten werden. Dieser Vertrag wird von den Prostituierten selbst abgelehnt. Das Abtretungsverbot von Forderungen bewirkt sogar eine Verschlechterung gegenüber der jetzigen Situation. Notwendige Änderungen im Ausländergesetz wurden unterlassen. Die Veränderungen im Strafgesetzbuch sind völlig unzureichend. Auch das Werbeverbot und die Sperrgebietsverordnung bleiben unangetastet. Hier ist der Hinweis auf den Bundesrat sicher angebracht und zu berücksichtigen; dennoch hätte ich mir in diesem Zusammenhang mehr Engagement erwartet und erhofft. Meine Schlussfolgerung ist, dass die Prostitution weiterhin - so befürchte ich zumindest - in einer rechtlichen Grauzone stattfindet. Der Grund ist offensichtlich: In der Koalition dominiert immer noch das Bild der unterdrückten und in die Prostitution gepressten Kreatur, die nur über ein eingeschränktes Maß an Selbstbestimmung verfügt und daher eines besonderen Schutzes bedarf. Von der CDU/CSU-Fraktion möchte ich in diesem Zusammenhang gar nicht erst sprechen. Die Prostituierten indes haben gezeigt, dass dieses Bild mittlerweile nicht mehr der Realität entspricht. ({1}) Das ist in diversen kriminologischen Studien nachgewiesen worden. Der weit überwiegende Teil der Prostituierten hat sich freiwillig zur Aufnahme und Fortsetzung ihrer Tätigkeit entschlossen. Die Hure von heute hat mit dem gefallenen Mädchen von einst nichts mehr gemein. Sie entspricht eher dem Typ einer Unternehmerin oder einer selbstbewussten Angestellten. Die Politik täte gut daran, das endlich zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren. Die PDS hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem sie im Unterschied zu dem von Rot-Grün die bis heute praktizierte rechtliche Diskriminierung von Personen, die sexuelle Dienstleistungen erbringen, vollständig beseitigen will. Prostituierte und Stricher könnten normale Arbeitsverträge abschließen und hätten dadurch Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen. Sie müssten ihre Dienstleistung nicht länger als Massage tarnen und könnten bereits in Anzeigen darauf hinweisen, dass es mit ihnen nur Safer Sex gibt. Die Sperrgebietsverordnung wäre aufgehoben und Bordellbesitzer würden sich nicht länger strafbar machen, wenn sie für ihre Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen schaffen. Im Gegenteil: Die Konkurrenz um gutes Personal würde sie, wie das Beispiel Niederlande zeigt, regelrecht dazu zwingen, sich um ein angenehmes Betriebsklima zu bemühen. Der Weg wäre frei für Standesinnungen, die die gewerblichen Interessen der Huren und Stricher vertreten. Prostitution wäre ein normaler Beruf. Sonderregelungen gäbe es nur insofern, als sie - wie auch bei anderen Berufen - durch die Besonderheiten des Berufsbildes geboten sind. Wir wollen die vollständige rechtliche Gleichstellung von Prostitution mit anderen Berufen und haben daher in unserem Gesetzentwurf die Einordnung der Prostitution in das Dienstvertragsrecht des BGB vorgeschlagen. ({2}) Eine Gleichbehandlung von Prostituierten mit anderen Berufstätigen erfordert auch die Streichung aller gesonderten Strafrechtsnormen. Dieser bedarf es nicht, da Gewalt, Nötigung, Körperverletzung und Erpressung bereits durch allgemeine Regelungen im Strafgesetzbuch erfasst sind. Die rechtliche Anerkennung der faktisch ohnehin vorhandenen Arbeitsverhältnisse würde diese unter arbeitsrechtlichen und sozialen Schutz stellen, der letztendlich bedeutend effektiver wäre als der durch das Strafrecht. Ich bin sicher, dass wir spätestens bei Wiedervorlage des rot-grünen Gesetzes in drei Jahren auf die Vorschläge der PDS zurückkommen werden. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzgeber kann die gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen, die der - in der Rechtssprache bis heute so bezeichneten - gewerbsmäßigen Unzucht nachgehen, nicht mit einem Federstrich beseitigen. Aber er kann Zeichen setzen. Aus unserer Sicht muss es dabei um die Beseitigung der rechtlichen und sozialen Benachteiligung von Prostituierten gehen, nicht aber um eine Verbesserung der Rechtsposition von Freiern oder Zuhältern. In der schwierigen Debatte der vergangenen Jahre schienen wir manchmal einem fraktionsübergreifenden Konsens unter Einschluss der CDU/CSU-Fraktion nahe zu sein. Ich zitiere die geschätzte Kollegin Ilse Falk aus der Debatte vom 11. Mai 2001 in diesem Hause: Seien wir doch ehrlich: Die Gesetze, die wir über all die Jahre so heftig verteidigt haben, haben Zustände und Entwicklungen, die wir heute diskutieren, mitnichten verhindert. Versuchen wir doch einmal neue Ansätze. Fesseln wir uns doch nicht immer wieder selber mit dem Begriff der Sittenwidrigkeit. ({0}) Frau Kollegin, Sie hätten auch den CDU-Kollegen Professor Scholz zitieren können, den derzeitigen Vorsitzenden des Rechtsausschusses, der vor 20 Jahren im Kommentar von Maunz-Dürig zu Art. 12 des Grundgesetzes die Auffassung vertreten hat, dass die Prostitution nicht sittenwidrig ist. Sie hätten auch die Frauenministerkonferenz zitieren können, die unter Mitwirkung der zuständigen Ministerinnen aller 16 Bundesländer im Juni 1995 bei nur zwei Gegenstimmen die Bundesregierung aufgefordert hat, Maßnahmen zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation von Prostituierten zu ergreifen. Die Ministerinnen haben diese Forderung folgendermaßen konkretisiert - ich zitiere -: Auf bundesgesetzgeberischer Ebene sollte klargestellt werden, dass der Dienstleistungsvertrag zwischen Prostituierter und Freier nicht sittenwidrig ist, damit die Prostituierten einen rechtlich durchsetzbaren Anspruch auf Bezahlung haben. Damit haben die Frauenministerinnen genau den archimedischen Punkt getroffen, denn das Sittenwidrigkeitsurteil ist nicht nur im Bereich des Sozialrechts, sondern auch im Bereich des Zivilrechts, wie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Beispiel zur Schadensersatzleistung nach unverschuldeten Unfällen im Straßenverkehr zeigt, und vor allem im Strafrecht ganz wesentlich. ({1}) Die Ausführungen, die wir immer wieder vonseiten der CDU/CSU hören, gleichen ein wenig - gestatten Sie mir diesen Vergleich - der Echternacher Springprozession, die sich seit Jahrhunderten mit zwei Sprüngen vorwärts und einem Sprung rückwärts der Krypta mit den Gebeinen des heiligen Willibrord nähert. ({2}) Ich mache Sie allerdings darauf aufmerksam, dass diese Bewegungsart sogar in Echternach seit mehr als 50 Jahren abgeschafft und einem langsamen Voranschreiten gewichen ist. ({3}) Lassen Sie mich bitte als Beleg, Frau Kollegin Eichhorn, den eben von Ihnen vertretenen Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion erwähnen. Sie setzen sich in diesem Antrag immerhin dafür ein, dass die Sittenwidrigkeit der Beschäftigung der Sozialversicherungspflicht nicht entgegenstehen solle. Vorgestern ist dieser Antrag der CDU/CSU-Fraktion im Rechtsausschuss von sechs der neun anwesenden CDU/CSU-Mitglieder abgelehnt worden. Nur drei CDU/CSU-Mitglieder haben für den eigenen Antrag gestimmt. So viel zur Echternacher Springprozession. ({4}) Ich komme zum Strafrecht und zitiere hier im Zusammenhang mit dem § 180 a des Strafgesetzbuches den Kollegen Horst Eylmann, CDU, den früheren Vorsitzenden des Rechtsausschusses. Er hat in der Plenarsitzung vom 17. April 1997 zunächst festgestellt: Die Situation der Prostituierten ist schlimm. Sie werden gesellschaftlich diskriminiert und gesetzlich kriminalisiert. Ihre soziale Lage ist mies. Zu § 180 a des Strafgesetzbuches - Sie lehnen in Ihrem Antrag heute ja die Streichung von Abs. 1 Nr. 2 dieses Paragraphen ab - hat er dann festgestellt: § 180 a StGB: Also, Eroscenter sind erlaubt; damit verdienen Leute viel Geld. Bordelle aber, die etwas aufwendiger zu führen sind, auch was die Hygiene angeht, sind plötzlich nicht mehr erlaubt. Wer will das einsehen? Da müssten wir eigentlich etwas tun. Recht hatte Herr Eylmann. ({5}) Sie lehnen nun in Ihrem Antrag, den Sie heute vertreten haben, die Streichung des § 180 a Abs. 1 Nr. 2 ab ({6}) und beziehen sich dabei auf eine Äußerung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform aus der 7. Legislaturperiode, ({7}) die etwa 25 Jahre zurückliegt. Sind Sie nicht bereit, einmal darüber nachzudenken, dass sich gesellschaftliche Wertvorstellungen auch ändern können und sich der Gesetzgeber damit beschäftigen muss? ({8}) Ähnlich diffus ist die Situation bei der Kommentierung des § 181 a Abs. 2 StGB, in dem es um die Vermittlung sexuellen Verkehrs geht und der teilweise so ausgelegt wird - wie auch Sachverständige in unserer Anhörung bestätigt haben -, dass die reine Vermittlung sexuellen Verkehrs mit Prostituierten unter Strafe gestellt werden soll. Dies ist wiederum nur durch das Sittenwidrigkeitsurteil zu rechtfertigen. Wir stellen durch unseren Gesetzentwurf klar, dass die Kommentierung von Lenckner im führenden Strafrechtskommentar von Schönke-Schröder richtig ist, wonach das geschützte Rechtsgut sinnvollerweise in diesem Paragraphen nur das Selbstbestimmungsrecht der Prostituierten ist. Darum geht es! Dieses Rechtsgut verdient Schutz. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben viele, zu viele Jahre nur geredet. Heute endlich handeln wir als Gesetzgeber. Wir hoffen, dass uns die Bundesregierung in dem Erfahrungsbericht über die Anwendung des neuen Rechts in drei Jahren bestätigt, dass wir zumindest eine kleine Verbesserung der sozialen und rechtlichen Situation von Frauen erreicht haben. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Riemann-Hanewinckel.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte, liebe Vertreterinnen der Hurenverbände! Der Weg der Akzeptanz des ältesten Gewerbes der Welt in Deutschland ist lang, uneben und mit Scheinheiligkeit und Doppelmoral geradezu gepflastert. Uneben und holprig ist er vor allem für die Frauen, die dem Gewerbe freiwillig nachgehen. Die 1,2 Millionen Männer, die täglich in Deutschland Huren aufsuchen - in Bordellen, auf der Straße, in Klubs -, haben bisher geradezu Schleichwege benutzt. Verächtlich angesehen und diskriminiert werden nicht sie, sondern die Frauen. Mit dem Gesetz, das wir hier heute hoffentlich mit breiter Mehrheit verabschieden werden - das hat sich ja schon angedeutet -, werden wichtige und notwendige Schritte in eine Richtung getan, die mit der Scheinheiligkeit und der Doppelmoral endlich aufräumt. 1993 hatte ich erste Gespräche mit der Hurenvereinigung Kassandra in Nürnberg. 1994 reichte Kassandra eine Petition beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages ein, in der die gesetzlichen Regelungen im Zivilund Strafrecht als frauenfeindlich und unzeitgemäß kritisiert und Änderungen vorgeschlagen wurden. Diese Petition hat dann der Petitionsausschuss 1996 als Material an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen. Der Ausschuss unterstrich damals, dass es erheblich sei, ob es sich um Zwangs- oder freiwillige Prostitution handelt. In der Beschlussempfehlung wurde herausgehoben, dass überlegt werden müsse, ob sich im Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden nicht ein Wandel vollzogen habe, was die freiwillige Prostitution angehe. Das war 1996. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, innerhalb eines Jahres einen Bericht vorzulegen, um zu prüfen, wie die Situation geändert werden kann. Dieser Bericht der Bundesregierung, den damals die Staatssekretärin Gertrud Dempwolf erst im Januar 1998 vorlegte, zeigte aber, dass die Bundesregierung trotz der Entschließung der Frauenministerkonferenz, trotz der Entschließung des Petitionsausschusses bzw. des gesamten Deutschen Bundestages, keinerlei Prüfung ihrer Positionen übernommen hatte. Man zog sich bequemerweise darauf zurück, dass kein unmittelbarer gesetzlicher Handlungsbedarf für die Bundesregierung bestehe. Die SPD legte dann im Juni 1996 einen Gesetzentwurf vor - Sie haben das schon gehört -; von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gab es auch einen Gesetzentwurf. Es gab dann 1998 eine entsprechende Anhörung. Schon da wurden entsprechende Änderungen gefordert; Dr. Jürgen Meyer ({0}) dabei hatte man zum Beispiel die Sittenwidrigkeit im Blick. Auch wurde deutlich, dass in den §§ 180 a und 181 a StGB Änderungen notwendig sind. Ich finde es wichtig und richtig, dass 1998 erstmals in dem Koalitionsvertrag einer Regierung genau festgeschrieben worden ist, dass beide Fraktionen die rechtliche und soziale Situation von Prostituierten verbessern wollen. Dazu gab es die entsprechende Arbeitsgruppe. Das haben wir schon gehört. Es gab nicht nur Kontakte mit den entsprechenden Hurenverbänden, sondern wir haben uns auch intensiv damit beschäftigt, wie die Situation in den Niederlanden und in Schweden aussieht, aber auch Projekte in Deutschland - auch die gibt es -, zum Beispiel in Bonn, wurden sehr genau geprüft. Wichtig war auch die Empfehlung des UN-Frauenrechtsausschusses an die Bundesregierung im Februar 2000. Ich möchte zitieren: Der Ausschuss ist besorgt, dass Prostituierte immer noch nicht den Schutz von arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen in Anspruch nehmen können, obwohl diese verpflichtet sind, Steuern zu zahlen. Der Ausschuss empfiehlt der Bundesregierung, die rechtliche Stellung dieser Frauen zu verbessern, um die Ausbeutung zu reduzieren und den gesellschaftlichen Schutz zu stärken. ({1}) Auch der UN-Ausschuss hat Deutschland deutlich gemacht, dass es mit der Scheinheiligkeit und der Doppelmoral ein Ende haben muss. Im Ausschuss gestern ist eine Mehrheit dem Gesetzentwurf und den Änderungs- bzw. Entschließungsanträgen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefolgt. Als Ausschussvorsitzende bin ich darüber sehr froh. Ich hoffe sehr, dass wir das hier verabschieden können. Für einen Wandel dessen, was die billig und gerecht Denkenden - was immer wir heute darunter verstehen mögen - von der Prostitution halten, sprechen noch folgende Stellungnahmen. Das Diakonische Werk mit seiner Stellungnahme vom Oktober 2000 wurde schon zitiert. Ich erinnere aber auch an die Forsa-Umfrage vom August 1999. Dabei wurde deutlich, dass 71 Prozent der Deutschen der Meinung sind, die rechtliche Stellung der Prostituierten müsse verbessert werden. Das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichtes wurde ebenfalls schon genannt. Ich möchte zum Schluss noch die Evangelische Frauenarbeit in Deutschland zitieren. Ihre Arbeit ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Das Erste ist, dass die Evangelische Frauenarbeit gestern in ihrer Mitgliederversammlung festgestellt hat, dass sich die kirchliche Männerarbeit einmal mit dem Thema intensiver beschäftigen muss. ({2}) - Ich denke, das ist einen Applaus wert. - Das Zweite ist, dass sie uns, den Deutschen Bundestag, aufgefordert hat, endlich die entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen. Wir alle können das jetzt tun, indem Sie der Beschlussempfehlung unseres Ausschusses zustimmen. Damit ebnen Sie den Weg weg von der Holperstrecke und hin zu einer rechtlichen und sozialen Besserstellung von Huren in Deutschland. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Falk das Wort.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es tut mir Leid, wenn ich die Debatte verlängere. Aber der Kollege Meyer hat mich direkt angesprochen. Darauf möchte ich gerne antworten, weil er in der Tat den Dreh- und Angelpunkt des Gesetzentwurfs - und auch mich - getroffen hat. Ich habe gesagt - Sie haben das zitiert -, dass wir uns von dem Begriff der Sittenwidrigkeit bei dem Thema nicht einengen lassen dürfen, wenn wir Verbesserungen erreichen wollen. ({0}) Dazu stehe ich. Wir sind uns immer einig gewesen, dass wir alle miteinander eine Verbesserung der rechtlichen Situation von Prostituierten wollen. Über den Weg, wie wir dies erreichen können, haben wir unterschiedliche Vorstellungen, die wir an dem Begriff der Sittenwidrigkeit festgemacht haben. Wir haben jetzt einen Vorschlag gemacht, wie wir trotz des Verdikts der Sittenwidrigkeit diesen Beschäftigten dennoch den Zugang zur Sozialversicherung ermöglichen können. Dass wir in unserem Änderungsantrag an dem Begriff festgehalten haben, beruht auf dem, was uns in den letzten Jahren und Monaten verstärkt als Normalität der Sitten gerade im sexuellen Bereich vorgeführt wird, und zwar nicht nur in einzelnen Veröffentlichungen, sondern in den Medien insgesamt, besonders in den Bildmedien. Das hat mich dazu veranlasst, sehr kritisch zu überlegen, inwieweit wir unsere Ansprüche zurücknehmen und was wir als Normalität akzeptieren müssen. Ich meine nicht das Umfeld, in dem Prostitution unter guten Bedingungen stattfindet. Wir haben uns immer für gute Bedingungen ausgesprochen. Wir alle wissen aber, dass Frauen Dinge zugemutet werden, die nicht mehr zumutbar sind. Der Staat muss sich dabei schützend vor die Menschen stellen. ({1}) Vor dem Hintergrund einer solchen Schutz- und Fürsorgepflicht wollen wir einerseits unseren Anspruch an die guten Sitten hochhalten, andererseits keine Verbesserung des Rechts verhindern und Abhilfe schaffen, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Ein Letztes noch: Der Gesetzentwurf ist nach unserer Meinung juristisch-technisch nicht überzeugend. Wenn er das gewesen wäre, hätten Sie uns hinsichtlich einer Zustimmung in größere Konflikte gebracht. An dem Entwurf ist viel zu beanstanden; wir befürchten, dass sehr viele Fragen erst vor Gericht geklärt werden. Diese Klärung geschieht auf dem Rücken der Prostituierten, die mit dem heutigen Tage keine Klarheit bekommen werden. Das ist ein weiterer Grund, weshalb wir nicht zustimmen können. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des von Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten. Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7174 empfiehlt der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Annahme des Gesetzentwurfes in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und den meisten Stimmen aus der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden, wobei es bei der CDU/CSU und bei der PDS jeweils zwei Enthaltungen gab. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit dem eben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen worden. ({0}) Wir kommen nun zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6781. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt worden. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7174 empfiehlt der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Abstimmung über den Gesetzentwurf der PDS zur beruflichen Gleichstellung von Prostituierten und anderer sexuell Dienstleistender, Drucksache 14/4456: Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7174, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der ambulanten Hospizarbeit - Drucksache 14/6754 Überweistungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung haben wir für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Horst Schmidbauer.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beschäftigt sich das deutsche Parlament zum dritten Mal mit der Hospizfrage. Ich finde, das ist gut so. Das ist auch eine gute Gelegenheit, den 35 000 Frauen und Männern Dank zu sagen, die ehrenamtlich in der Hospizarbeit tätig sind, Sterbebegleitung leisten und aus dieser Arbeit nicht mehr wegzudenken sind. ({0}) Es ist auch den rund 10 000 Frauen und Männern Dank zu sagen, die sich mit großer Kompetenz und starkem Engagement als Fachleute, als Ärztinnen und Ärzte, aber vor allem als Pflegekräfte, einbringen und Tag für Tag - wenn es sein muss, 24 Stunden, rund um die Uhr - den Sterbenden zur Verfügung stehen. ({1}) Dieses vorbildliche Engagement ist für uns Verpflichtung und macht uns Mut, den Auf- und Ausbau der Hospizbewegung schneller voranzubringen. Deshalb ist es gut, dass heute auch der Bundesrat mit seinem eingebrachten Gesetzentwurf dazu beiträgt. Bereits am Mittwoch ist bei der Anhörung zur Initiative der SPD-Fraktion und zum Änderungsantrag der Koalition deutlich geworden, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Dass die Krankenkassen und das Gesundheitsministerium nun auch die Forderung der ambulanten Hospizarbeit als Pflichtaufgabe der GKV sehen, ist der besondere Erfolg unserer politischen Vorfeldarbeit. Die Hospizidee verträgt aber keine Lösung im Konflikt. Ich persönlich - ich glaube, das auch für meine Kolleginnen und Kollegen sagen zu können - bin ganz sicher, dass wir Konsens über die Weiterentwicklung der Hospizidee erzielen werden, und zwar schnell. Die Anhörung am Mittwoch hat auch gezeigt, dass noch Klärungsbedarf besteht. Zu klären ist, wie die Sicherung der Qualitätsstruktur von Hospizeinrichtungen durch palliativmedizinische Kompetenz gewährleistet werden kann. Zu klären ist, welchen finanziellen Rahmen die Entwicklung der ambulanten Hospizarbeit bei der GKV erforderlich macht. Zu klären ist, wie sichergestellt werden kann, dass der Hospizarbeit keine Finanzmittel der Länder und der Kommunen entzogen werden, wenn nun auch die GKV in die Finanzierung der ambulanten Hospizarbeit einsteigt. ({2}) Ich weiß um den langen Weg der Hospizbewegung in Deutschland. Ich weiß, welche lange Wegstrecke zu bewältigen war; denn ich war von Anfang an dabei. Ich habe mich ab 1991 am Aufbau der Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz beteiligt. Ich habe 1993 zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen die erste Kleine Anfrage zur Situation sterbender Menschen in Deutschland initiiert und eingebracht. Damit ist die Hospizfrage erstmals 1993 im Deutschen Bundestag behandelt worden. ({3}) Ich war der Initiator der Kleinen Anfrage von 1996 zur schmerztherapeutischen Versorgung in Deutschland und habe zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen damit die fachliche und gesellschaftliche Entwicklung angeschoben, weil erkennbar war, dass die Hospizbewegung in Deutschland ohne schmerztherapeutische Entwicklung keine Chance hat. Ich habe 1998 daran mitgewirkt, dass die gesetzlichen Krankenkassen die stationäre Hospizarbeit als Regelfinanzierung unterstützen. Wir sind dem Bundesrat seinerzeit dankbar gewesen, dass er uns tatkräftig dabei unterstützt hat, die Regierung auf den richtigen Weg zu bringen. Mein Schlüsselerlebnis - ja, ich möchte sagen: mein Urerlebnis - mit der Hospizarbeit geht aber auf England zurück. Das hatte ich bei meinem ersten Besuch des St. Christophers‘ Hospice in London. Ich habe dieses Hospiz sehr gut kennen gelernt. Prägend war, das Hospizteam der McMillan-Schwestern bei seiner Arbeit zu begleiten. Die McMillan-Schwestern sind - das ist das Besondere an der Struktur in England - nicht nur examinierte Pflegekräfte. Sie leisten auch - so würden wir es in Deutschland nennen - Familienhilfe und haben eine Zusatzausbildung in Palliativmedizin. Sie verfügen also über umfangreiche Kompetenzen. Ich habe dort gelernt, was diese Qualifikation bedeutet und was Engagement und Ehrenamt in der ambulanten Hospizarbeit eigentlich sind. Gelernt habe ich im St. Christophers‘ Hospice, dass es das historische Verdienst der Hospizbewegung ist, Sterbebegleitung auf der einen Seite mit Schmerztherapie auf der anderen Seite zusammenzubringen. Erst das Zusammenführen von Schmerztherapie und Sterbebegleitung rechtfertigt den Namen Hospiz. Dieser Name steht dafür verbunden, dass beide Elemente zusammengeführt werden. Ich habe des Weiteren gelernt, dass der Kern der Hospizarbeit die ambulante Hospizarbeit ist; denn die Menschen wünschen sich sehr, dass sie zu Hause sterben können, also in der vertrauten Umgebung, im Kreis ihrer Angehörigen. Außerdem habe ich dort gelernt, dass das Hospiz als stationäre Einrichtung gewissermaßen das Rückgrat für die ambulante Seite ist, vielleicht der Kristallisationspunkt, an dem man sich immer wieder für ein paar Tage aufhalten kann, wenn die notwendige Versorgung ambulant nicht gewährleistet werden kann; denn dort gibt es ja eine Versorgung rund um die Uhr. Beeindruckend war für mich, dass die Menschen, die dort betreut werden, im Durchschnitt nur 14 Tage stationär im Hospiz verbringen und die übrige Zeit - bis auf wenige Ausnahmen - in der häuslichen Umgebung versorgt werden. Ich habe gelernt, dass im Bereich des St. Christophers‘ Hospice zurzeit 70 Prozent der Menschen zu Hause sterben können, weil sie von einem multidisziplinären Hospizdienst sowohl psychosozial als auch palliativmedizinisch betreut werden. Ich mag nicht einsehen, dass wir von diesem Ziel noch so weit entfernt sind, dass es bei uns immer noch so langsam vorangeht. ({4}) Die Aufgabe ist, die gesellschaftliche Akzeptanz der Hospizidee in Deutschland zu erhöhen. Wir sind dem Bundespräsidenten Johannes Rau sehr zu Dank verpflichtet, der dies in seiner Berliner Rede angesprochen hat. Ich zitiere: Ja, wir brauchen einen anderen Umgang mit dem Sterben und dem Tod. Wir müssen wieder lernen: Es gibt viele Möglichkeiten, sterbenskranken Menschen beizustehen, sie zu trösten und ihnen zu helfen. Oft ist schon entscheidend, sie nicht allein zu lassen. Die wirksamste medizinische Hilfe ist in vielen Fällen eine gute Schmerztherapie. Mich hat tief beeindruckt, was neulich einer der Pioniere der deutschen Schmerztherapie, Professor Eberhard Klaschik, in einem Interview dazu sagte: „Ich behandele seit fast 20 Jahren Patienten, die nicht heilbar sind. Viele, die zu uns kommen, sagen: So kann ich nicht mehr leben, so will ich nicht mehr leben, die Schmerzen sind zu groß ... All diesen Patienten haben wir helfen können.“ Viele Ärzte bestätigen diese Erfahrung. Wenn das so ist, dann ist der Streit um die aktive Sterbehilfe die falsche Debatte. ({5}) Wir können und wir müssen viel mehr als bisher für die Schmerztherapie tun. Das ist ein Feld, das lange Zeit sträflich vernachlässigt worden ist. Ich wünsche mir, dass Deutschland bei der Schmerzforschung und bei der Schmerztherapie so schnell wie möglich vorbildlich wird. Das ist nun wirklich zutiefst human und ist im Interesse eines jeden von uns. Der Präsident hat es auf den Punkt gebracht. Horst Schmidbauer ({6}) In einer Frage, glaube ich, haben wir dem Präsidenten durch unsere parlamentarisch-politische Arbeit schon helfen können. Im Bereich des Forschungsministeriums ist der zweite große Forschungsauftrag für Schmerztherapie in der Größenordnung von 30 Millionen DM vergeben worden. Das ist eine wesentliche Voraussetzung, um in der Frage voranzukommen. ({7}) Wie sieht die Praxis in Deutschland aus? Immer noch werden viele Patienten in ihrer letzten Lebensphase ins Krankenhaus eingewiesen, obwohl sie bei entsprechender Hilfe zu Hause versorgt werden könnten, wie es sich 80 Prozent der Menschen wünschen. Immer noch sterben rund 70 Prozent aller Tumorpatienten im Krankenhaus und nur 30 Prozent in ihrer vertrauten Umgebung. Ich denke, dass wir im Hinblick auf die Hospizidee noch mehr Bereitschaft wecken müssen, dass wir der Unkenntnis, die in der Bevölkerung noch besteht, entgegenwirken müssen. Denn ein Grund für die jetzige Situation ist in der Tat die Unkenntnis und der andere Grund ist, dass es in Deutschland noch zu wenig qualifizierte ambulante Hospiz- und Palliativdienste gibt. Das müssen wir weiterentwickeln. Daran sieht man auch, dass die Entwicklung der Schmerztherapie in der ambulanten Hospizarbeit einen ganz zentralen Aufgabenbereich darstellt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Schmidbauer, ich fürchte, Sie werden in der ausgemachten Redezeit nicht mehr Ihren gesamten Text unterbringen können.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir hatten uns verständigt, dass wir die Redezeit unter uns aufteilen. ({0}) Unsere Hauptaufgabe ist es also, den Menschen ein Bild davon zu vermitteln, was Schmerztherapie tatsächlich leisten kann. Ich glaube, das ist notwendig. Wir müssen in der Bevölkerung das Bild davon, wie die Schmerztherapie auch in der letzten Phase des Lebens zur Lebensqualität beitragen kann, stärker verankern. Dann werden die Akzeptanz und die Bereitschaft dazu größer werden. Dann werden die Defizite, die wir in Deutschland haben, abgebaut werden. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind es aus humanitären Gründen den Menschen schuldig, alles daranzusetzen, die Arbeit in der Hospizversorgung abzuschließen und abzurunden. Vielen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Sozialminister des Landes Baden-Württemberg, Friedhelm Repnik. Dr. Friedhelm Repnik, Minister ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden ist ein Gradmesser dafür, wie human unsere Gesellschaft ist. Herr Schmidbauer, Sie haben vieles gesagt, was richtig ist. Ich möchte mich wegen der Kürze meiner Redezeit beim Thema Hospizarbeit etwas beschränken und nicht erläutern, wo ich gelernt habe, was ich alles getan habe und was wir vor allem in Baden-Württemberg schon alles tun. Sie wissen, aus den Niederlanden ist zu uns die Diskussion über die aktive Sterbehilfe herübergeschwappt. Das kann doch wohl nicht der Weg sein. Ich sage immer Ja zu einem humanen Sterben, aber Nein zu einer aktiven Sterbehilfe. ({2}) Wir wissen natürlich, dass sich die Menschen teilweise deshalb aktive Sterbehilfe wünschen, weil sie Angst haben vor Schmerzen, Angst haben vor dem Alleinsein und Angst haben vor dem einsamen Sterben. In der heutigen Zeit, in der die Gesellschaft immer mehr vereinsamt, brauchen wir also eine aktive Sterbebegleitung. ({3}) - Ich weiß natürlich, dass es nicht ganz so einfach ist. Aber man sollte einmal den ersten Schritt wagen. Wir haben in Baden-Württemberg als bisher einziges Bundesland eine Schmerzkonzeption mit einem interdisziplinären Schmerzkolloquium entwickelt. Wir haben die Hospizbewegung gestärkt. Wir geben aus Landesmitteln Gelder dazu und unterstützen das sehr stark. Ich glaube nicht, dass viele Bundesländer das machen. ({4}) Die Phase des Sterbens ist ein Teil des Lebens. Jeder Mensch behält auch in seinem Sterben uneingeschränkt seine Würde. Diese Würde zu erhalten und die letzte Lebenszeit gemeinsam mit den Sterbenden und seinen Angehörigen angemessen zu gestalten, das ist die Aufgabe der Hospizbewegung. Dafür muss ihr gedankt werden. Die Hospizbewegung zeigt damit eine beispielhafte, von vielen Menschen getragene bürgerschaftliche Initiative. Dieses bürgerschaftliche Engagement, auf das wir in Deutschland und ganz besonders in Baden-Württemberg - wir sind ein Ehrenamtsland - stolz sein können, gilt es zu unterstützen. ({5}) - Ich möchte nicht darüber streiten, wo mehr gemacht wird. Ich weiß aber, dass wir in diesem Bereich sehr viel tun. Für unser soziales System sind Bewegungen wie diese von unschätzbarem Wert. Hierbei werden Probleme und Krisen nicht durch Rückzug und Vermeidung, sondern durch gemeinsame aktive Bewältigung gelöst. Dass wir Horst Schmidbauer ({6}) diesen Gruppen helfen müssen, ist keine Frage. Die Frage ist nur, wie wir helfen müssen und können. Meine Damen und Herren, Sie wissen, seit 1997 werden die stationären Hospize von den Krankenkassen mitfinanziert. ({7}) - 1997. Das war unter Seehofer, wenn ich mich richtig erinnere. ({8}) Ich möchte nicht darauf eingehen, wer das Thema Hospize zuerst im Bundesrat, im Bundestag oder wo auch immer angesprochen hat. Wir sollten nicht darüber streiten, wer diesbezüglich das Urheberrecht hat. Mir geht es um die Sache. Wir sollten in der Sache endlich vorankommen und das Ganze nicht wieder auf den Sankt-NimmerleinsTag hinausschieben. ({9}) Ich meine, es wird langsam Zeit, dass wir die ambulanten Hospizdienste unterstützen. In Baden-Württemberg gibt es - Tendenz steigend - 259 ambulante Hospizgruppen und bundesweit sind es inzwischen schon 927 entsprechende Dienste. Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ muss - wenn man ihn ernst nimmt - ganz besonders für ambulante Hospizdienste gelten, weil gerade sie für viele Menschen - womöglich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus - eine wesentliche Hilfe und Unterstützung dabei sind, zu Hause, also in ihrer gewohnten Umgebung, zu sterben. In Baden-Württemberg gibt es übrigens an Einrichtungen mit einem onkologischen Schwerpunkt so genannte Brückenschwestern. In vielen anderen Ländern ist das, soweit ich weiß, nicht der Fall. Man braucht in der Tat die gewohnte Umgebung, um in Würde sterben zu können. Sterben ist ein Teil des Lebens. Mit dem Gesetzentwurf, der auf Initiative des Bundesrats in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden ist, wollen wir die ehrenamtliche Arbeit in Hospizdiensten fördern. Wir haben ausdrücklich hervorgehoben, dass wir mitmenschliche Zuwendung im Rahmen einer Sterbebegleitung nicht bezahlen wollen. Diejenigen Menschen, die diese Zuwendung erbringen, wollen dafür kein Geld. Sie wären beleidigt, wenn man es ihnen anbieten würde. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die es ermöglichen, dass die Hospizdienste stabilisiert und gesichert werden können. Was brauchen unsere Hospizkräfte? Sie müssen auf ihre schwierige Arbeit zunächst vorbereitet werden. Sie müssen wissen, wie man mit Sterbenden, mit dem Tod, mit den Angehörigen und mit der eigenen Befindlichkeit umgeht. Es ist nicht ganz einfach, einen Sterbenden zu begleiten. Wegen der großen Belastung brauchen die Hospizkräfte mit Sicherheit auch eine Supervision, um auf diese Weise ihr Tun zu reflektieren. Sie brauchen darüber hinaus - das ist ganz wichtig - eine Einsatzleitung. Wer ein Ehrenamt ausübt, der darf nämlich nicht durch bürokratische Angelegenheiten überfordert werden. Das Ehrenamt muss durch das Hauptamt begleitet werden. Natürlich können Hospizkräfte im Palliativbereich durch professionelle Hilfe unterstützt werden. Herr Schmidbauer, ich sage ausdrücklich an Ihre Adresse gerichtet: Die Sicherstellung der Palliativmedizin und der Palliativpflege sollte den Hospizgruppen nicht aufgebürdet werden; denn damit wären sie mit Sicherheit überfordert. Ehrenamtliche Helfer sollen sich selbst die für ihre Bedürfnisse notwendigen professionellen Dienstleistungen einkaufen können; deswegen halten wir den Förderweg, Hospizgruppen in ähnlicher Form wie die Selbsthilfegruppen chronisch Kranker, die von Krankenkassen organisiert werden, zu unterstützen, für besonders zweckmäßig und richtig. ({10}) Qualitätssicherung - Sie haben dieses Thema angesprochen - ist natürlich wichtig. Ich meine, dass Hospizgruppen, die sich als Vereine konstituiert haben und die Mitglied anerkannter Fachverbände sind, aufgrund der zutiefst menschlichen Arbeit, die sie leisten, selbst einen großen Teil der Überwachung der Qualität ihrer Leistungen übernehmen können. Wie will man in diesem Bereich, in dem es um Menschlichkeit geht, Qualität überprüfen und sichern? Das wird ungeheuer schwierig sein. Dass die Hospizgruppen dazu in der Lage sind, die Überprüfung der Qualität ihrer Leistungen zu übernehmen, dafür spricht zumindest in Baden-Württemberg und in anderen Ländern, wo es schon viele dieser Gruppen gibt, der hohe Organisationsgrad der Hospizbewegung. Durch die Betonung der Ehrenamtlichkeit wird auch ein Signal für die Weiterentwicklung professioneller Handlungsfelder gesetzt. Hauptamtlich Tätige müssen sich der Sichtweise derjenigen stellen, die ohne eine langjährige Aus-, Fort- und Weiterbildung und ohne ein professionelles Rollenverhalten an ein Thema herangehen. Ehrenamtliche nehmen dabei die wichtige Rolle eines Anwalts der Interessen der Leistungsempfänger und ihrer Angehörigen ein. Auf diese Art und Weise - es darf nicht zu viel Hauptamtlichkeit geben, sondern nur eine hauptamtliche Begleitung - kommt eine unverzichtbare Dynamik zwischen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Leistungserbringern zustande. Wir können mit der Förderung der ambulanten Hospizdienste einen wichtigen Impuls für ein neues Miteinander zwischen Ehrenamtlichkeit und Hauptamtlichkeit geben. Wir sollten diese Aufgabe anpacken. Die Rolle der Einsatzleitung ist allein schon deswegen von hervorgehobener Bedeutung, weil damit die Koordination der Einsätze, die Begleitung der Fachkräfte und der ehrenamtlichen Kräfte sowie die Beratung in Fachfragen gebündelt werden. Auch das können Fachkräfte in der Tat tun. Es ist absehbar, dass die Bedeutung der Einsatzleitung auf dem Gebiet der Pflege zunehmen wird. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, solche Rollen nachhaltig zu stärken. Mit der Hospizförderung können wir diesen neuen Weg sehr sinnvoll beschreiten. Mit der Initiative des Bundesrates wurde ein breiter Konsens erzielt. ({11}) Minister Dr. Friedhelm Repnik ({12}) Baden-Württemberg hat - gemeinsam mit Bayern - mit seiner Initiative vom Juli 2000 den Anstoß dazu gegeben. ({13}) - Die Kraft des Südens ist nicht ohne Bedeutung. Sie soll auch in den nördlichen Bereich ausstrahlen. ({14}) Baden-Württemberg hat es angeregt, Bayern hat daran mitgearbeitet. Rheinland-Pfalz ist mit seiner Initiative diesem Anliegen gefolgt. Nach einer Sachverständigenanhörung, vor dem Gesundheitsausschuss des Bundesrates haben wir angeregt, beide Initiativen - die baden-württembergisch-bayerische und die rheinland-pfälzische; das Land soll ja immer noch von der SPD regiert werden, - zu einer Gesetzesinitiative zusammenzufügen. Dabei ist es gelungen, die inhaltlichen Ansätze beider Gesetzentwürfe sinnvoll zu verbinden. Dank der konstruktiven Mitarbeit und Zusammenarbeit aller Länder bei diesem wichtigen Thema konnten wir unseren Gesetzentwurf im Bundesrat einstimmig verabschieden. ({15}) Herr Schmidbauer, unsere gemeinsamen Anstrengungen bei diesen Anliegen haben an vielen Stellen große Beachtung und Anerkennung gefunden. Selten habe ich einen so umfassenden gesellschaftlichen Konsens, der über die Parteigrenzen hinweg reicht und die Fachverbände sowie die Krankenversicherungen einschließt, erlebt. ({16}) Umso unverständlicher ist mir bei diesem nach langer Vorarbeit und sorgfältiger Abstimmung erreichten Erfolg, dass die Koalitionsfraktionen quasi über Nacht im Rahmen des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes einen eigenen Entwurf zur Hospizförderung aus dem Hut gezaubert haben. ({17}) Ich weiß nicht, ob Sie sich selbst etwas an den Hut binden wollen. Wenn aber wirklich etwas Gutes vorgeschlagen wird, sollte man das Ganze nicht noch überholen wollen. Ihr Entwurf schwenkt zwar teilweise auf die gemeinsame Bundesratsinitiative ein, hat aber, so meine ich, gravierende Mängel. Er sieht immer noch vor, dass der Hospizdienst unter der fachlichen Verantwortung einer pflegerisch oder fachlich qualifizierten Kraft stehen muss. Sie muss Erfahrung in der Sterbebegleitung haben sowie eine Weiterbildung für die Wahrnehmung von Leitungsfunktionen oder in der Palliativpflege aufweisen. Wenn ich die Hürde so hoch lege, dann weiß ich schon jetzt, dass es im Jahre 2006 mit Sicherheit noch keine Förderung der ambulanten Hospizdienste geben wird. ({18}) Im Übrigen glaube ich auch, dass Sie - wir alle Schwierigkeiten haben werden, solche Fachkräfte auf dem Markt zu finden. Vielleicht wird das sogar unmöglich sein. Man darf doch die im Aufbau befindlichen Hospizdienste - gerade in den neuen Bundesländern werden sie gerade erst aufgebaut - nicht mit einer solchen Überqualifikation erschrecken, sodass aufgrund dessen das Ehrenamt gar nicht mehr angestrebt wird. ({19}) Herr Schmidbauer, wir sollten nicht schon an dem Punkt beginnen, an dem Sie vielleicht einmal enden wollen. Wenn wir wollen, dass sich diese Initiativen weiter entwickeln - zum Wohle der sterbenden Menschen -, dann sollten wir versuchen, die Hilfe zur Selbsthilfe zu stärken und diese zum Teil professionell begleiten zu lassen. Die Qualifikationen dürfen nicht zu hoch gesetzt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen mit unserem Gesetzentwurf nicht, dass die gesamte Verantwortung für die Finanzierung der Hospizdienste von den Krankenkassen übernommen wird. Die finanzielle Unterstützung der Hospizdienste ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. ({20}) Es müssen sich auch andere mit Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Sponsorengeldern und auch Zuschüssen - der öffentlichen Hand - daran beteiligen. ({21}) Das sollte auch ganz klar im Gesetz stehen. Ich nenne einen weiteren wichtigen Punkt unseres Gesetzentwurfes: Auf der Bundesebene sollten nur Rahmenempfehlungen über den Inhalt der Leistungen vereinbart werden. Art und Umfang der zu fördernden Leistungen sollten auf der Landesebene geregelt werden. Dieses zweistufige Verfahren berücksichtigt die föderalen Interessen der Länder mit ihrem zum Teil noch sehr unterschiedlichen Ausbaustand der Hospizbewegung; sie steht ja vor allem in den neuen Ländern noch am Anfang. Der Entwurf der Koalitionsfraktionen sieht demgegenüber nur eine Vereinbarung auf Bundesebene vor. Damit käme die Differenzierung der Hospizbewegung in den einzelnen Ländern unter die Räder. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gesetzentwurf des Bundesrates wurde von allen Ländern über alle Parteigrenzen hinweg beschlossen. Ich bitte Sie, im Sinne einer raschen Lösung und im Interesse der sterbenden Menschen zu handeln und diesen Gesetzentwurf mitzutragen. Ich bedanke mich. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kristin Heyne.

Kristin Heyne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002676, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Steriles Sterben ist allzu häufig Alltag, ja sogar Normalfall in unserer Gesellschaft. Ein technischer Tod, anonym und klinisch, ist Minister Dr. Friedhelm Repnik ({0}) nicht das, was wir unseren Angehörigen, Freunden und Bekannten und uns selbst wünschen. Vielmehr wollen wir für andere und uns selbst den natürlichen Tod als Teil unseres Lebens in Geborgenheit und Ruhe. Sterben zu wollen in der Nähe der Menschen, die uns vertraut und wichtig sind, ist menschlich und ein Menschenrecht. Menschen ein würdiges, humanes Sterben zu ermöglichen, muss stärker gefördert und wieder in den Mittelpunkt gerückt werden. Darin sind wir uns, wie ich glaube, in dieser Debatte einig. ({1}) Die Betreuung eines Sterbenden in der Familie ist eine Aufgabe, bei der niemand allein sein sollte. Angehörige, Freunde und Bekannte sind mit dieser Aufgabe oftmals überfordert, weil sie selbst Betroffene sind. Sie brauchen deshalb professionelle und regelmäßige Hilfe, die nur die vielfältigen und zahlreichen Pflegedienste der Hospizbewegung leisten können. Menschen, die die schwere Aufgabe auf sich genommen haben, Sterbende in diesem schwierigen Lebensabschnitt zu begleiten und ihnen ein humanes Sterben zu ermöglichen, müssen die Unterstützung und Anerkennung der Gesellschaft spüren. Daher bin ich froh, dass wir mit dem heutigen Gesetzentwurf die ambulante Hospizarbeit verbessern. „Hospiz“ heißt übersetzt: Herberge. Die in der Hospizbewegung engagierten Menschen fühlen sich gerade diesem Sinn des Wortes verpflichtet. Sie wollen den Sterbenden ein Gefühl von Geborgenheit und Aufgehobenheit geben. Eine ehrenamtliche ambulante Sterbebegleitung ist innerhalb der Hospizbewegung in vielfältiger Weise möglich: Es gibt Hausbetreuungsdienste, Sitzwachen, Besuchsund Begleitdienste; die Sterbebegleitung findet zu Hause, aber auch in den Krankenhäusern und in Pflegeheimen statt. Das Sterben zu Hause zu fördern und Angehörige und Pflegende bei dieser Aufgabe zu unterstützen ist Ziel dieses Gesetzentwurfs. Meine beiden Vorredner haben auf die Möglichkeiten der Schmerztherapie hingewiesen, die gerade in der letzten Lebensphase aus Angst vor Medikamentenabhängigkeit noch immer nicht in genügendem Maße eingesetzt wird. Im Hinblick auf das Gespräch mit dem betreuenden Arzt kann es für die Angehörigen eine Hilfe sein, von Menschen aus der Hospizbewegung unterstützt zu werden, die sich mit den Problemen der häuslichen Pflege auskennen. Daher ist es gut, auf diesem Weg weitere Schritte zu gehen. ({2}) Mit dem Gesetz zur Förderung der ambulanten Hospizarbeit sollen die ambulanten Hospizdienste bei der Gewinnung, Vorbereitung und Koordination der ehrenamtlichen Hilfskräfte und bei der Vernetzung mit anderen palliativen Pflegediensten unterstützt werden. Wir schlagen eine Zuschussregelung für die Personalkosten vor, die beinhaltet, dass die Zuschüsse von den Krankenkassen getragen werden. Die zusätzlichen Belastungen für die Krankenkassen werden im Jahre 2002 bei etwa 20 Millionen DM liegen. Angesichts dieser dringenden gesamtgesellschaftlichen Aufgabe halten wir diesen Aufwand für gerechtfertigt. Ziel dieses Gesetzentwurfes ist es nicht, die mitmenschliche und ehrenamtliche Sterbebegleitung zu vergüten. ({3}) Meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen, dass dies auch nicht der Wunsch jener Menschen ist, die diese Aufgabe übernehmen. Vielmehr sollen die Rahmenbedingungen für diese ehrenamtliche Arbeit geschaffen werden. Es sollen die Ausbildung gesichert und der Einsatz der ehrenamtlichen Kräfte koordiniert und geplant werden. Dafür sind Fachkräfte notwendig. Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf die Kompetenz und die Möglichkeiten der ambulanten Hospizarbeit, die für unsere Gesellschaft an sich wertvoll ist, unterstützen. Wir wollen denen die Hand reichen, die tagtäglich selbst anderen die Hand reichen. Der Gesetzentwurf wird heute eingebracht. Ich bin sicher, er wird in den Ausschüssen intensiv diskutiert werden. ({4}) Auch die hier vorgebrachten Vorschläge müssen sicherlich bedacht werden; denn die Hospizarbeit ist aus regionalen Initiativen entstanden. Das war der Ursprung der in den verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgeprägten Hospizarbeit. Ich habe diesen Prozess seit über zehn Jahren in Hamburg und in Norddeutschland begleiten können. Leuchtfeuer war eine der ersten dieser Organisationen. Es haben sich dabei eigenständige Formen gebildet, die man erhalten sollte. Ich bin mir sicher, dass wir das mit diesem Gesetz ermöglichen werden. Deswegen bitte ich Sie alle, daran mitzuarbeiten, damit wir zu einem guten Gesetz zur Förderung der ambulanten Hospizarbeit kommen. Schönen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Parr.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: Wir beraten heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der auf einem Teil des GKV-Neuordnungsgesetzes der alten Bundesregierung von FDP und CDU/CSU aufbaut. ({0}) Das ist ein Beweis für die mögliche kontinuierliche Weiterentwicklung einer Gesundheitspolitik bei der die Krankenkassen noch schwarze Zahlen schrieben und der Versicherte nicht zum Spielball einer mittlerweile nicht mehr berechenbaren Gesetzesmaschinerie wurde. ({1}) Wie gut wäre es gewesen, wenn sich die neue Bundesregierung auch in den übrigen gesundheitspolitischen Bereichen ähnlich kontinuierlich verhalten hätte. Das hätte uns manch langen Sitzungstag mit fruchtlosen Debatten erspart. ({2}) Es ist somit nicht verwunderlich, dass die FDP den Gesetzentwurf des Bundesrates begrüßt. Er wird den Wünschen der Mehrzahl der Sterbenskranken gerecht, in vertrauter Umgebung die letzten Stunden ihres Lebens zu verbringen, und er würdigt die ehrenamtliche Arbeit der Hospizbewegung in einer angemessenen Weise; denn deren Kompetenz wird mit der Arbeit professioneller Fachkräfte und Dienste verknüpft, ohne die Eigenständigkeit der Hospize einzuschränken. Wir müssen allerdings bei den weiteren Beratungen darauf achten, dass wir einerseits die für eine wirklich spürbare Förderung der ambulanten Hospizarbeit erforderlichen Förderbeträge bereitstellen - die Einsparungen bei den stationären Angeboten müssen entsprechende Berücksichtigung finden -; andererseits dürfen die Koordinationsaufgaben für einen ambulanten Hospizdienst nicht allein von Krankenschwestern oder Krankenpflegern durchgeführt werden, sondern auch von anderen Berufsgruppen. Gerade auch das ehrenamtliche Engagement birgt sehr viel Professionalität. Man denke allein an die regelmäßigen Fort- und Weiterbildungen für die Mitarbeiter dieser Einrichtungen. ({3}) Über die Bedeutung der Hospizarbeit sind wir uns alle einig. Ein menschenwürdiges Sterben ohne diese Begleitung ist für viele nicht denkbar. Dann dürfen wir aber nicht zulassen, dass sich die Krankenkassen vor dem Hintergrund dieses Gesetzentwurfs oder auch der Vorstellungen in Ihrem Änderungsantrag zum Pflegeversicherungs-Ergänzungsgesetz klammheimlich aus der Förderung ambulanter Hospizdienste wegstehlen; diese Gefahr droht. ({4}) Belassen wir es im Jahr 2001, dem Jahr des Ehrenamts, nicht allein bei Lobeshymnen auf die Menschen, die freiwillig Dienst am Nächsten tun. Fördern wir dieses Engagement in der Hospizbewegung so, dass sich diese Menschen auf dem Weg zu ihrem Ziel nicht ausgenutzt, sondern anerkannt fühlen. Dieses Ziel, das ich gern zitiere, ist in der Hospiz-Zeitschrift vom 1. Oktober 1999 nachzulesen: ein Leben in Würde bis zuletzt und dauerhaft eine neue Kultur des Sterbens zu schaffen. Auf diesem Weg ist es dringend erforderlich, die Bedeutung der Palliativmedizin zu erkennen und herauszustellen. Es ist mir und der FDP wie uns allen völlig unverständlich, dass es bundesweit bisher nur einen Lehrstuhl für Palliativmedizin gibt. Sie spielt auch in der Approbationsordnung für Ärzte nahezu keine Rolle. Das müssen wir ändern. ({5}) Es ist vor diesem Hintergrund kein Wunder, dass viele Ärzte sich scheuen, Opiate an Sterbende zu verabreichen. Sie schrecken vor Bürokratismus bei Opiatsverordnungen zurück, sie erliegen Vorurteilen und wollen sich nicht dem Vorwurf der Förderung von Sucht aussetzen. Angesichts des sterbenden Menschen dürften das doch keine Argumente sein. Nutzen wir bei den weiteren Beratungen die Chance, Gedanken über ein Sterben in Würde und die Autonomie des Menschen am Lebensende aus der Tabuzone herauszuholen und ohne Vorbehalte zu diskutieren. Lassen Sie mich abschließend noch ein Thema ansprechen, das mir besonders am Herzen liegt und mit dem sich der 63. Deutsche Juristentag im vergangenen Jahr in Leipzig beschäftigt hat: die Notwendigkeiten gesetzlicher Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Lebensende. Der Juristentag kam mit großer Mehrheit zu dem Schluss, dass das Selbstbestimmungsrecht Regeln braucht. Die Grenzen zwischen der Hilfe beim Sterben und der Hilfe zum Sterben sind fließend. Auch aus der Sicht der Ärzte wurde in Leipzig eine gesetzliche Regelung der Patientenrechte für wünschenswert gehalten. Es gibt bei uns offensichtlich eine Grauzone zwischen Sterbehilfe ohne Lebensverkürzung, indirekter Sterbehilfe und passiver Sterbehilfe. Dabei dürfen wir auch nicht über die Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit - Herr Minister Repnik hat dies erwähnt - auf die Verabschiedung des niederländischen Gesetzes über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung hinwegsehen. So heißt dieses Gesetz zur aktiven Sterbehilfe bei unserem Nachbarn. Die Niederländer haben über ein Jahrzehnt offen über diese Fragen diskutiert. Die FDP hält die Zeit für gekommen, dass auch in Deutschland offen und ohne Tabu eine solche Debatte beginnt. ({6}) Herr Minister Repnik, Sie haben sich die Sache mit Ihrem kategorischen Nein ein bisschen leicht gemacht. Ich hoffe, Sie haben es nicht so gemeint. Es gibt nämlich ausweglose Situationen, in denen ein Mensch im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechts eine vorher von ihm attestierte Erlösung wünscht. ({7}) - Das ist zwar eine gefährliche Aussage, Herr Lohmann. Aber wir müssen dennoch darüber reden dürfen. Dafür setzen sich die FDP und ich mich persönlich ein. ({8}) Ich danke Ihnen für das nachdenkliche Zuhören. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nur wenige reden gern über das Sterben. Viele denken noch nicht einmal darüber nach. Dabei gehört das Sterben zu unserem Leben. Es gibt aber einige Menschen, die täglich darüber nachdenken, die auch darüber reden und sogar entsprechend handeln, indem sie die Hand halten, Schweiß abwischen und einfach da sind. Das ist aller Ehren wert. Darüber sind wir uns hier offensichtlich alle einig. ({0}) Aber das mit der aktiven Sterbehilfe zu vermischen, lieber Herr Kollege Parr, ist ein sehr gefährlicher Weg. ({1}) Es geht nämlich um das Menschenbild, das dahinter steht. ({2}) Die eine Position besagt, dass das Sterben zum Leben dazugehört und dass wir versuchen können, mithilfe beispielsweise der Schmerztherapie das Sterben so weit wie möglich zu erleichtern. Die andere Position besagt: Jetzt fühle ich mich jung und gesund. Aber wenn ich schwer erkrankt bin, möchte ich, dass mein Leben beendet wird. Zwischen beiden Positionen besteht ein großer Unterschied. Wie man in der konkreten Situation denkt, das kann keiner vorher wissen. Demzufolge warne ich davor, das eine mit dem anderen zu vermischen. Wir reden heute über einen Gesetzentwurf, der nichts anderes will, als die ambulante Sterbebegleitung finanziell ein wenig besser zu unterstützen. Ich möchte mich auf diesen Punkt beschränken, obwohl ich weiß, wie notwendig es wäre, darüber zu reden, dass Ärzte erst einmal ausgebildet werden müssen, bevor sie palliativ behandeln können. Auf der Anhörung vor zwei Tagen wurde von den Vertreterinnen und Vertretern der ambulanten Hospizdienste klipp und klar gesagt: Die nun in Aussicht gestellten 15 Cent pro Versicherten reichen nicht einmal aus, die jetzt bestehenden ambulanten Hospizdienste zu erhalten, geschweige denn, neue aufzubauen oder irgendetwas anderes zu tun. ({3}) - Lieber Herr Kollege Wodarg, Sie haben die Anhörung genauso gehört wie ich und Sie wissen so gut wie ich, dass in den vorbereitenden Gesprächen mit den Menschen, die in dieser Bewegung seit Jahren tätig sind, immer von 1 DM, also 50 Cent, die Rede war. Jetzt ist von 15 Cent die Rede. Wir wollen doch bitte - das sage ich ganz ausdrücklich - die Kirche im Dorf lassen. Hier geht es darum - der Minister und andere haben es gesagt -, die ambulant tätigen ehrenamtlichen Personen, die für ihre Tätigkeit gar kein Geld wollen, denen man aber nicht zumuten kann, dass sie das Geld mitbringen, so anzuleiten, einzusetzen, auszubilden und weiterzubilden und ihnen Supervision anzubieten, dass sie diese unglaublich wichtige Arbeit mit der erforderlichen Ruhe und Gelassenheit tun können. Dafür soll von den Krankenkassen Geld bereitgestellt werden. Wir müssen in den weiteren Gesprächen - wir haben ja erst die erste Lesung - und Verhandlungen im Ausschuss darum kämpfen. Es muss eigentlich unser aller Ziel sein - da müssen wir vielleicht einmal gemeinsam gegen den Finanzminister und auch gegen die Kassen denken -, dass aus den 15 Cent am Ende 50 Cent werden. Dann wird von den Menschen, die das wollen und können, eine vernünftige und anständige Arbeit geleistet werden können. Sie sollten von uns für ihre Arbeit wenigstens nicht bestraft werden, indem sie ihr eigenes Geld mitbringen müssen. ({4}) Das ist das eigentliche Ziel dieses Gesetzes. Dafür bitte ich uns alle, nicht mit angezogener Handbremse vorzugehen, sondern offen an die Sache heranzugehen und zu beschließen, den ehrenamtlich tätigen Menschen das Geld zu geben, das sie brauchen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe auf gute Gespräche. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Wodarg.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben heute schon viel über die Situation der ambulanten Hospizdienste in Deutschland, über die Palliativmedizin und die Palliativpflege gehört. Ich will mir deshalb ersparen, die Szene noch einmal darzustellen. Ich möchte nur auf einige Dollpunkte hinweisen. Wir haben, wenn wir den Stand unserer Palliativmedizin mit England oder auch mit Holland vergleichen, eine Menge zu verbessern. Wenn wir von Holland sprechen, sprechen wir immer nur von der aktiven Sterbehilfe. ({0}) Es gibt dort aber auch Palliativ-Care, die sehr intensiv in der Kommune verankert ist und die sehr gute Dienste leistet. So viel zu unseren Nachbarn. Ein weiterer Punkt, auf den ich zu sprechen kommen möchte, ist die ärztliche Verantwortung im Bereich der Palliativmedizin, die wir hier nicht als Schwerpunkt haben, die aber erwähnt werden muss. Mir ist das Thema sehr gegenwärtig. Wir hatten am Mittwoch gemeinsam mit der Evangelischen Kirche in Berlin eine Veranstaltung zur Palliativmedizin. Dort waren aus Ihrem Lande, Herr Minister, die Brückenschwestern vom Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg-Mannheim anwesend. Sie haben gesagt, sie vermitteln Hilfe zwischen dem Krankenhaus und der häuslichen Pflege und sie sorgen dafür, dass die Sterbenden alles, was sie brauchen, bekommen. Das ist ein guter Ansatz. Aber sie haben dann auch von ihrer Not berichtet, dass, wenn sie häusliche Schmerztherapie für den Patienten vermitteln wollen, es keinen Arzt gibt, der dazu in der Lage ist. Zwei Ärzte in dem Einzugsbereich des großen Tumorzentrums HeidelbergMannheim sind ausgebildete Schmerztherapeuten. Das ist das Defizit auf ärztlicher Seite, über das wir seit Jahren Bescheid wissen. In diesem Zusammenhang, Herr Minister, wünsche ich mir eine Initiative der Länder - denn auch das liegt in der Verantwortung der Länder dahin gehend, dass die Ärzte in der Schmerztherapie ausgebildet werden, dass die Schmerztherapie Bestandteil der Prüfungsinhalte der Approbationsordnung wird, und zwar möglichst bald, sodass die Studenten, wenn sie ihr Studium abgeschlossen haben, wissen, wie man Opiate einsetzt, und keine Angst haben, damit umzugehen, weil sie fürchten, man könne davon süchtig werden oder man könne damit irgendwelche Schäden anrichten. ({1}) Es gibt kaum Medikamente, deren Wirkung so gut bekannt ist und die so beherrschbar sind wie die Opiate, diese wirksamen Schmerzmittel. Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir durch die Änderung der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung Erleichterung für die Palliativmedizin gebracht. Diese Medikamente dürfen für diese Patienten nun in größeren Dosen, auf Vorrat, verordnet werden. Was wir bisher nicht ausreichend geschafft haben, ist - das richte ich auch an die Adresse der Länder -, dass Ärzte in vernünftiger Schmerzbehandlung ausgebildet werden. Das ist eine unbedingte Notwendigkeit. ({2}) Die Ziele der Palliativ-Care-Bewegung sind eindeutig und sind von uns allen anerkannt: Das ist die Schmerzfreiheit bei Sterbenden. Das ist der Wunsch des Patienten, nicht allein zu sein, sondern begleitet zu werden und jemanden zu haben, mit dem man sprechen kann, über Dinge, die noch nicht erledigt sind und die einen bewegen. Und das ist der Wunsch, jemanden zu haben, den man fragen kann „Wozu das alles?“, dem man die Sinnfragen stellen kann. Das muss nicht immer jemand sein, der professionell ausgebildet ist. Gerade in diesem Bereich haben die ambulanten, auf ehrenamtlicher Basis arbeitenden Dienste gute Arbeit geleistet. Die Zahl der ambulanten Hospizdienste hat in den letzten Jahren zum Glück sehr zugenommen; sie hat sich mehr als verdoppelt. Ich denke, dass es überfällig ist, dieses Anliegen nicht auf dem Rücken von Einzelinitiativen wachsen lassen, sondern dass wir, wie das bei uns heißt, „Butter bei die Fische tun“. Wir müssen also auch finanziell eine Unterstützung geben. Die Unterstützung darf eben nicht darin bestehen, das Ehrenamt durch Profis zu ersetzen, sondern müssen im Gegenteil das Ehrenamt stärken, ({3}) Dafür ist es erforderlich, dass wir Informationen zur Verfügung stellen und dafür sorgen, dass diejenigen, die zu den sterbenden Menschen kommen, für die Sterbenden nicht eine zusätzliche Belastung sind. Das könnte im schlimmsten Falle nämlich passieren: dass jemand guten Willens ist und helfen will, aber in gewisser Weise hilflos ist. Das darf nicht passieren. Deshalb brauchen wir in diesem Bereich Qualitätssicherung. Wir müssen sicherstellen, dass diejenigen, denen wir als Ehrenamtlichen den Zugang zu Sterbenden vermitteln, sicher und stark genug sind. Sie müssen wissen, worum es geht und müssen auf die Situationen, denen sie dort begegnen werden, vorbereitet sein. Im Antrag des Bundesrates fehlt uns die Aussage zur Qualitätssicherung. Die von Ihnen zitierten Punkte aus unserem Antrag - dass es speziell ausgebildete Pflegekräfte sein müssen, die Leitungserfahrung haben, die Erfahrungen in der Pallia-tivmedizin haben - sind Zielvorstellungen. Wir wissen, dass das heute nicht überall der Fall sein kann. Trotzdem erlauben wir uns, diese Zielvorstellungen zu formulieren. In den Verhandlungen über diese Anträge müssen wir gemeinsam einen Weg suchen, wie wir diesen Zielen näher kommen. Ob das über Übergangsfristen oder die Anerkennung ähnlicher Fähigkeiten geschehen kann, das werden wir verhandeln müssen. Wir werden Wege finden. Auf keinen Fall wollen wir das ehrenamtliche Engagement, das wir jetzt haben, in irgendeiner Weise schwächen. Wir wollen es fördern, indem wir es finanziell mehr unterstützen und indem wir die Krankenkassen in die Lage versetzen, sich hier zu engagieren. Das haben wir ja auch schon bei der Förderung der Selbsthilfe gemacht, wo die Krankenkassen eine wichtige Rolle übernommen haben - allerdings ist das noch nicht ausreichend in Gang gekommen -, genauso wie bei präventiven Verfahren, wo wir den Krankenkassen eine bestimmte Summe zur Verfügung gegeben haben, damit Prävention ausgebaut werden kann. Dies ist ein Bereich, in dem wir Gutes tun wollen und in dem wir das, was vor Ort getan wird, finanziell unterstützen wollen. ({4}) Wir werden in den Verhandlungen über den vorliegenden Gesetzentwurf - den wir natürlich immer neben unseren Antrag stellen werden, auch wenn das verfahrenstechnisch etwas schwierig erscheint - das Thema zusammenhalten; da bin ich mir ziemlich sicher. Insofern werden wir hoffentlich nicht gewissermaßen eine Doppelveranstaltung haben, obwohl ich heute gehört habe, dass es Ansinnen gibt, das nebeneinander herlaufen zu lassen. Ich hielte das für schade und für eine Zeitverschwendung. Ich hoffe, dass wir uns in der Sache auf die von uns gemeinsam vorgetragenen Ziele konzentrieren werden und dass dabei eine Stärkung derjenigen herauskommt, die schon jetzt vor Ort tätig sind und die in einer Gesellschaft, in der die Zahl der Einpersonenhaushalte zunimmt, in der immer mehr Menschen einsam sind und in der das einsame Sterben immer häufiger vorkommt, eine wichtige Arbeit leisten. Wir brauchen neue Formen des Füreinander-verantwortlich-Seins, bei denen das Ehrenamt eine große Rolle spielt. Wir wollen das Ehrenamt stärken. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/6754 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf: - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes - Drucksache 14/6718 ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht Braun ({1}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes - Drucksache 14/5345 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3}) - Drucksache 14/7171 - Berichterstattung: Abgeordnete Nicolette Kressl Jochen-Konrad Fromme Dr. Barbara Höll Alle Reden zu diesem Punkt - das sind die Reden der Abgeordneten Kressl, Fromme, Scheel, Solms und Höll - sind zu Protokoll gegeben worden.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen worden. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Bewertungsgesetzes, Drucksache 14/5345. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7171, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von FDP und CDU/CSU bei Enthaltung der PDS abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften ({4}) - Drucksache 14/6189 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Sind Sie damit einverstanden, dass alle Reden - es handelt sich dabei um die Reden der Abgeordneten Hacker, Büttner ({6}), Ströbele, Cornelia Pieper und Petra Pau - zu Protokoll gegeben worden sind?2) - Das ist der Fall. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/6189 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der PDS Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen 1) Anlage 2 2) Anlage 3 - Drucksachen 14/4882, 14/6438 Berichterstattung: Abgeordnete Ludwig Eich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Mathias Schubert.

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem Antrag handelt es sich ja darum, durch die Streichung des § 30 a Abs. 3 der Abgabenordnung das Bankgeheimnis abzuschaffen. Nun spielt natürlich - das wissen wir alle - seit den Attentaten auf New York und auf Washington am 11. September innenpolitisch auch die Frage eine zentrale Rolle, wie der terroristische Sumpf finanziell ausgetrocknet werden kann, und zwar möglichst effizient und möglichst schnell. In dem Zusammenhang taucht immer wieder die Frage auf, ob die Abschaffung des Bankgeheimnisses dazu ein wirksames Mittel darstellt. Nun ist der Antrag der PDS vor den Attentaten abgefasst und dem Bundestag zugeleitet worden. Deshalb ist die Abschaffung des Bankgeheimnisses von der PDS nicht als Instrument zur Terrorismusbekämpfung gedacht, sondern stellt ein finanzpolitisches Instrument zur Schließung von Steuerschlupflöchern dar. So muss man es ja wohl nennen. Bevor der Bundestag eine solch einschneidende und weit reichende Entscheidung trifft, müssen natürlich äußerst sorgfältig die Konsequenzen geprüft werden, die mit der Abschaffung des Bankgeheimnisses verbunden sein würden. Das ist ja klar. ({0}) Eines der Probleme, die hierbei sofort auftauchen, äußert sich in einem Konflikt zwischen Staat und Bürgern, den ich auch ziemlich klar benennen möchte: Wird vom Steuerzahler angenommen, er sage bei seiner Steuererklärung grundsätzlich die Wahrheit, oder gilt das Prinzip des Misstrauens? Aus der Beantwortung dieser Frage lässt sich ableiten, wie der Staat mit seinen Bürgern umgeht. Ich halte dieses für einen schwer wiegenden Konflikt, der noch nicht endgültig geklärt ist. Manche sagen - aus Kreisen von Bankern kann man das hören -, Geld sei scheu wie ein Reh, je mehr Geld, umso scheuer. Uns kann natürlich einerseits nicht daran gelegen sein, Beschlüsse zu fassen, die zur Kapitalflucht ins Ausland einladen. Vielleicht gibt es andererseits jedoch Erfahrungen - zum Beispiel aus Frankreich oder auch aus Dänemark, wo man ja das Bankgeheimnis in der Form, wie wir es haben, nicht kennt -, die auch für unser Finanz- und Steuersystem von Bedeutung sein können. Auch das ist zu prüfen. Klar ist in jedem Falle eines: Der Bund muss dafür sorgen, dass die Steuergesetze von allen Bürgern eingehalten werden. Das ist durch hinreichende Kontrollmöglichkeiten abzusichern; ansonsten verschwendet der Bund das Steuergeld vor allen Dingen derer, die ehrlich ihre Steuern zahlen. Auch das ist ein Problem; hier muss eine Abwägung erfolgen. Weiterhin darf die Wirkung von § 30 a der Abgabenordnung nicht auf die steuerliche Erfassung der Kapitalerträge reduziert werden. Es gibt schon jetzt die Pflicht, dem Finanzamt Mitteilung zu machen; diesbezügliche Regelungen finden sich zum Beispiel im Erbschaftsteuerrecht. Weiterhin wurde durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 die Möglichkeit verbessert, im Veranlagungsverfahren Kapitalerträge zielgenauer aufzuspüren. Im Steuersenkungsgesetz ist geregelt, dass neben und getrennt von Zinsen jeweils auch die Höhe des Betrages gemeldet werden muss, für den bei Dividenden die Erstattung von Kapitalertragsteuer und die Vergütung von Körperschaftsteuer beantragt worden ist. Außerdem: Die Streichung des § 30 a Abs. 3 der Abgabenordnung allein bildet noch keine ausreichende Grundlage für die Einführung eines Meldeverfahrens über Konten von den Kreditinstituten an die Finanzbehörden. Ein solches Meldeverfahren müsste seinerseits auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden und zwischen Finanzverwaltung und Kreditwirtschaft abgestimmt werden, damit es praktikabel ist und mit möglichst geringem bürokratischen Aufwand auskommt. Nach einer jüngsten Bewertung des Bundesfinanzministeriums ist zumindest der Verwaltungsaufwand schwer abschätzbar. Ein Großteil der Meldungen ist vermutlich steuerlich völlig irrelevant. Zusammengefasst ist zu sagen, dass eine Reihe von politischen, gesetzestechnischen und verwaltungstechnischen Problemen bestehen. Deshalb kann es ohne eine sorgfältige Prüfung und Folgenabschätzung keine Entscheidung über die Aufhebung des so genannten Bankgeheimnisses geben. Vielen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Bernhardt.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag, über den wir jetzt abstimmen sollen, trägt die Überschrift „Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen“. Damit kein falscher Eindruck entsteht, will ich gleich am Anfang meines Beitrags feststellen, dass ich davon ausgehe, dass alle Mitglieder dieses Hauses und damit alle Fraktionen darin übereinstimmen, dass alle Gesetze eingehalten werden müssen - das gilt auch und gerade für Steuergesetze - und dass wir alle dafür sind, dass Leute, die Steuern hinterziehen, mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden. Ich glaube, darin besteht hier im Hause Einigkeit. Beim PDS-Antrag geht es aber nicht, wie die Überschrift sagt, um Steuerhinterziehung. Vielmehr geht es im Wesentlichen darum, das viel zitierte Bankgeheimnis abzuschaffen. ({0}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Da ich, wie Sie wissen, Banker bin und viele Jahre Kreditinstitute geleitet habe, kenne ich mich natürlich mit dem Bankgeheimnis sehr gut aus. Bankgeheimnis heißt ganz schlicht: das Verbot der Kreditinstitute, bestimmte Daten anderen gegenüber offen zu legen. Wir wissen, dass es von diesem Bankgeheimnis eine ganze Reihe von Ausnahmen gibt, sodass Ihrem Petitum längst entsprochen ist. Es reicht ein Anfangsverdacht, um das Bankgeheimnis für die Staatsanwaltschaft völlig aufzuheben. Ein zweiter Punkt, der genannt wurde: Im Falle des Todes eines Kunden sind entsprechende Meldungen an die Finanzverwaltung fällig. Wenn wir uns mit dem Bankgeheimnis beschäftigen, dann müssen wir natürlich zur Kenntnis nehmen, dass es in Bezug auf dieses Thema in den verschiedensten Ländern unterschiedliche Traditionen gibt: In der Schweiz hat das Bankgeheimnis Verfassungsrang; in Österreich und Luxemburg wird es sehr eng ausgelegt; die Vereinigten Staaten und auch andere Länder kennen so etwas wie ein Bankgeheimnis nicht. Angesichts der europäischen und gerade der deutschen Mentalität wird aber die Gefahr einer Kapitalflucht mit Sicherheit zunehmen, wenn man das Bankgeheimnis noch weiter aushöhlt. Dies kann natürlich für den Standort Deutschland nicht unerwähnt bleiben. ({1}) Bei dem Antrag der PDS geht es nun konkret darum, § 30 a Abs. 3 der Abgabenordnung zu streichen. Ich lese Ihnen einmal aus diesem Paragraphen vor, damit Sie wissen, worum es geht. Es heißt dort: Die Guthabenkonten oder Depots ... dürfen anlässlich der Außenprüfung bei einem Kreditinstitut nicht zwecks Nachprüfung der ordnungsmäßigen Versteuerung festgestellt oder abgeschrieben werden. Der Finanzausschuss hat sich mit diesem Antrag beschäftigt. Sie können der Vorlage entnehmen, dass sowohl SPD und Grüne als auch die Unionsfraktionen und die FDP diesen Antrag abgelehnt haben. Dennoch gibt es innerhalb der sozialdemokratischen Partei offensichtlich unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema. Kollege Schubert hat eben darauf hingewiesen, dass man dieses Thema differenziert betrachten muss. Dem stimme ich zu. Sein stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Herr Poß, ist da offensichtlich anderer Meinung. Er hat klar zum Ausdruck gebracht, dass er gegen das Bankgeheimnis in jeder Form ist und hat in einem Brief einen Satz formuliert, den man in den Zeitungen lesen konnte - Ihre internen Briefe bekomme ich nicht -: „Falls die Regierung damit nicht rüberkommt, werden wir das als Fraktion machen“. Es heißt weiter in dem Brief: „Möglicherweise nimmt Eichel Rücksicht bei diesem Thema auf den zögernden Bundeskanzler“. Jetzt wird immer wieder argumentiert, man müsse zur Bekämpfung des Terrorismus das Bankgeheimnis aufheben. Meine Damen und Herren, Bin Laden wird seine Konten nicht unter dem Namen Bin Laden führen. Das ist nun wirklich dummes Zeug, um es ganz klar zu sagen. Es ist ganz interessant, dass eine Sprecherin des Bundesfinanzministeriums - ich zitiere das „Handelsblatt“ vom 11. Oktober - wörtlich gesagt hat: „Das Thema Bankgeheimnis ist für die Regierung nicht vordringlich.“ Das Maßnahmenpaket gegen die Geldwäsche und Terrorismusbekämpfung habe Priorität. Sie sagt weiter: - diese Auffassung teile ich „Dazu ist es nicht erforderlich, das Bankgeheimnis weiter einzuschränken.“ Lassen Sie mich mit aller Deutlichkeit feststellen: Diese Argumentation, die wir immer wieder finden - sie ist bisher nicht von Ihnen vorgetragen worden; vielleicht kommt sie noch von den anderen Rednern -, wer für das Bankgeheimnis sei, stehe auf der Seite von Steuerhinterziehern, ist nicht nur falsch, sondern auch unanständig. ({2}) Das Bankgeheimnis in Deutschland ist ein wichtiges Instrument der Vertrauensbildung zwischen Kunden und Kreditinstitut. Mit diesem Instrument sollten wir alle sehr vorsichtig umgehen. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist unbestritten, dass der Antrag mit der Überschrift „Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen“ vom Dezember 2000 einen aktuellen Bezug hat. Auf den haben beide Vorredner hingewiesen. Wir haben es hier mit einer sehr komplexen Situation zu tun, die sehr differenziert zu betrachten ist. So unterstützen wir das am 5. Oktober 2000 vorgelegte Programm von Finanzminister Eichel zur Bekämpfung von Missbräuchen im Rahmen von internationalen Finanzströmen im Zusammenhang mit dem geplanten Vierten Finanzmarktförderungsgesetz. Hier soll es Veränderungen geben. Wir wissen, dass Geldwäsche und Steuerhinterziehung in einer direkten Wechselbeziehung stehen können. Ich halte es für richtig, dass eine Steuerhinterziehung leichter entdeckt wird bzw. das Risiko, entdeckt zu werden, größer wird. Im Rahmen des Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetzes - ich nenne als Beispiel den Umsatzsteuerbetrug, um ihn handelt es sich hier - haben wir angedacht, das Strafmaß für schwere Steuerhinterziehung anzuheben, indem gemäß § 370 der Abgabenordnung statt einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren eine Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren verhängt werden kann. Damit wird aus einem Vergehen ein Verbrechen. Die Ermittlungsmethoden, die den Kriminalbeamten zur Verfügung stehen, werden erweitert. Ich denke, alle in diesem Haus halten dies für eine wirksame Maßnahme, um gegen Betrug zumindest in diesem Bereich vorgehen zu können. Der zweite Punkt ist die angekündigte Errichtung einer Kontenevidenzzentrale beim Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen. Diese wird alle in Deutschland geführten Konten und Depots bei Banken erfassen können. Hierbei werden nicht Geldströme und Kontobestände, sondern lediglich der Name des Kontoinhabers bzw. Unternehmens erfasst, die bei verschiedenen Instituten Konten unterhalten. Im Falle von Ermittlungsmaßnahmen wird das Sichtbarmachen von Geldströmen, die dem Terrorismus und der Geldwäsche dienen, leichter ermöglicht. Daneben wird eine Zentralstelle für verfahrensunabhängige Finanzermittlungen zur Bekämpfung der Geldwäsche im Geschäftsbereich des BMF eingerichtet, die ebenfalls diesem Ziel dient. Wir wissen, dass fast alle Staaten, die Mitglied der „Financial Action Task Force on Money Laundering“ sind, bereits vergleichbare Einrichtungen geschaffen haben. Deswegen ist es gut, dass diese Stellen international kooperieren können und dass man alle erstatteten Geldwäscheverdachtsanzeigen im ganzen Land annehmen, analysieren und auswerten kann, um dann die notwendigen Schritte einzuleiten. Wir haben das nachgeholt, was seit Jahren überfällig war, aber von der alten Regierung nicht aufgegriffen wurde, um eben auch hier ein Stück voranzukommen. Von den Banken wird verlangt, dass sie mit einem EDV-gestützten Konten-Screening interne Sicherungssysteme gegen Geldwäsche und Finanzbetrug anwenden. Mit diesem Programm wird dann offensichtlich, dass auf diesem Gebiet ein Handlungsdefizit behoben werden muss. Ein vergleichbares Defizit gibt es beim Thema Steuerhinterziehung, das nun von Ihrer Seite aufgegriffen worden ist. Das Defizit bezieht sich konkret auf § 30 a der Abgabenordnung. In diesem Zusammenhang bitte ich darum, auch hier eine sehr differenzierte Betrachtungsweise vorzunehmen. Der Abschnitt, zu dem § 30 a Abgabenordnung zählt, hat - ich würde sagen: irrsinnigerweise - die Überschrift: Schutz des Bankkunden. Im Abs. 3 des § 30 a Abgabenordnung ist geregelt, dass Guthabenkonten oder Depots anlässlich einer Außenprüfung eines Kreditinstituts nicht zwecks Nachprüfung der ordnungsgemäßen Versteuerung abgeschrieben werden dürfen. Das ist der Inhalt. Die Ausstellung von Kontrollmitteilungen soll insofern unterbleiben. Ich finde, wir sollten an diesem Punkt weiterdiskutieren. In den USA spielt die Frage von Kontrollmiteilungen überhaupt keine Rolle. Wenn ein Anleger oder eine Anlegerin aus Deutschland Geldanlagen in den USA hat, ist es selbstverständlich, dass es Kontrollmitteilungen gibt. Auch in anderen Ländern wird über ein solches Vorgehen diskutiert. Wir meinen aber, dass man die Frage international - zumindest auf europäischer Ebene - regeln muss, um ein einheitliches Vorgehen erreichen zu können. Wir haben uns in diesem Zusammenhang sehr intensiv mit der Frage des Verhältnisses von Finanzamt und Banken auseinander gesetzt. Beides sind Institutionen, die unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten den Schutz des Kunden gewähren. Deswegen ist das Problem, dass hier gewissermaßen eine Aufhebung eines Geheimnisses stattfindet, differenziert zu beurteilen, weil wir es in beiden Fällen mit einem Vertrauensschutz hinsichtlich der datenschutzrechtlichen Bestimmungen und Grundlagen zu tun haben. Nichtsdestotrotz meinen wir: Wir brauchen ein Gesamtbündel an Maßnahmen, das auf nationaler Ebene angegangen wird. Es bedarf aber noch internationaler Absprachen, um verschiedene Punkte zu klären. Deswegen bitte ich darum, dem Antrag nicht zuzustimmen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Otto Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag geht an seinem formulierten Ziel vorbei. Ein Bankgeheimnis im allgemeinen Sprachgebrauch, mit all dem, was man sich darunter vorstellt, gibt es in Deutschland nicht, denn schon bei einem Anfangsverdacht werden - wie es der Kollege Schubert gesagt hat - in strafrechtlichen wie in steuerrechtlichen Fragen die Banken zu einer Auskunft verpflichtet. Deswegen kann eine Abschaffung des Restes des Bankgeheimnisses weder der Terrorismusbekämpfung noch der Bekämpfung der Steuerhinterziehung dienen. Daher lehnen wir den Antrag ab. ({0}) Wir lehnen den Antrag aber auch deshalb ab, weil sich in der gegenwärtigen Hysterie bei der Diskussion über die Vorschläge hinsichtlich der Terrorismusbekämpfung eine Tendenz abzeichnet, die den Eindruck erweckt, man wolle in Wirklichkeit auch den von der Verfassung geschützten Teil der Privatsphäre voll durchleuchten und einen gläsernen Bürger schaffen. Das ist nicht richtig. Dagegen wendet sich die FDP ganz entschieden. ({1}) Wir wollen keinen gläsernen Bürger und wir brauchen auch keine Kontenevidenzzentrale. Ich will mein Bankkonto - wie Wolfgang Gerhardt neulich so schön formuliert hat - in Zukunft weiterhin bei der Bank und nicht beim Finanzminister geführt haben. Das geht den nämlich gar nichts an. ({2}) Was werden denn die Beamten, ist eine solche Kontenevidenzzentrale einmal eingerichtet, dort machen? Sie werden dann selbstverständlich auch die Bewegungen auf den Konten verfolgen, weil ein Handlungsdruck entstehen wird, wenn die Konten erst einmal erfasst sind. Nein, das Erforderliche können die Banken bereits heute leisten, nämlich in kürzester Zeit über jedes Konto Auskunft zu geben. ({3}) Sie brauchen keine Evidenzzentrale, Sie müssen nur die Banken verpflichten, auf Nachfrage innerhalb von 24 Stunden - das geht heute mit Internet und moderner Telekommunikation - Auskunft zu geben, ob ein konkret Verdächtiger bei einer bestimmten Bank, Sparkasse oder Volksbank ein Konto führt. Also: Die Umsetzung Ihrer Pläne ist nicht notwendig; es braucht keine staatliche Bürokratie. Das Bankgewerbe kann die geforderten Aufgaben selbst erfüllen. Man sollte sich an die Banken wenden, um diese Ziele organisatorisch zu gewährleisten. Das, was hier beabsichtigt wird, dient auch nicht der Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Im Gegenteil: Das schafft mehr Misstrauen. Alle, die in der Volkswirtschaft tätig sind, wissen: Geld ist ein flüchtiges Gut. Wenn Misstrauen entsteht, dann wandert das Geld aus, dann gibt es Kapitalflucht. Wenn die Bundesregierung hier aktiv werden will - das halten wir für richtig -, dann sollte sie sich darauf konzentrieren, dass international die Schließung von Offshorezentren und Steueroasen vereinbart wird. Eine solche Vereinbarung hat es bislang nicht gegeben. Dadurch könnten Sie der Geldwäsche viel effizienter auf die Spur kommen als durch solche Methoden, die Sie jetzt in Deutschland einführen wollen. ({4}) Zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist die Aufweichung des Bankgeheimnisses ein untaugliches Mittel. Auch Kontrollmitteilungen nutzen hier nichts. Wir sollten bei der Zinsbesteuerung zu einer Abgeltungssteuer auf niedrigem Niveau übergehen, die an der Quelle erhoben wird. ({5}) Dann sind Kontrollmitteilungen nicht mehr notwendig, weil die Steuern erhoben werden, bevor die Zinsen ausgezahlt werden. Dann könnten wir auch die Steuerflucht verhindern. Im Übrigen würde das Steueraufkommen selbst dann, wenn Sie die Steuersätze senken würden, deutlich steigen. Das wäre ein liberales und effizientes Vorgehen. Das sollten Sie sich zu Eigen machen, anstatt die Einrichtung einer neuen Überwachungsbehörde vorzuschlagen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidemarie Ehlert.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Schon als wir unseren Antrag eingebracht haben, war mir klar, welchen Aufschrei es hier geben wird. Wir rütteln schließlich an einer heiligen Kuh. Deshalb lehnten sowohl die Koalitionsfraktionen wie auch die Oppositionsparteien - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - unseren Antrag im Finanzausschuss in gewohnter Geschlossenheit ab. Heute erwarte ich eigentlich ein anderes Abstimmungsverhalten; denn der Bundeskanzler sagte in der Haushaltsdebatte: Ich verstehe ja, dass sehr viele Menschen das Bankgeheimnis gleichsam für die Magna Charta der inneren Sicherheit halten, aber das ist nicht so. Auch der Kollege Poß möchte nun § 30 a der Abgabenordnung streichen, wenn auch erst im nächsten Jahr. Da wir in unserem Antrag die Bundesregierung nur aufgefordert haben, einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung in diesem Punkt vorzulegen, dürften Sie heute eigentlich keine Schwierigkeiten haben, unserem Antrag zuzustimmen. ({0}) Selbst die Begründungen widersprechen sich nicht. Uns geht es gemeinsam um die Verhinderung von Steuerhinterziehungen in Milliardenhöhe. § 30 a der Abgabenordnung - aus ihm wurde schon zitiert - hat die Überschrift „Schutz von Bankkunden“. Im Klartext heißt das, dass der Kunde vor dem Finanzamt geschützt werden soll. Es ist schon etwas seltsam, wenn der Gesetzgeber einerseits Steuerehrlichkeit von den Bürgern einfordert und andererseits deutlich macht: Liebe Leute, bei den Banken seid ihr vor dem Finanzamt sicher. Die derzeit laufenden Ermittlungen der Steuerfahndung wegen Nichtversteuerung von Kapitalerträgen zeigen sehr deutlich, dass Steuerhinterziehung in großem Umfang möglich ist. Mit der Streichung des § 30 a der Abgabenordnung und der Möglichkeit, bei Außenprüfungen Kontrollmitteilungen zu schreiben, hätte die Finanzbehörde endlich ein effektives Instrument zur Verhinderung von Steuerverkürzungen. ({1}) - Ich habe mir die Ohren gewaschen. - Sicher, sobald ein Strafverfahren eingeleitet ist, erhält das Finanzamt schon jetzt freien Einblick in die Konten. Nur, dann ist es manchmal schon zu spät. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, Sie verteidigen das so genannte Bankgeheimnis mit besonderer Vehemenz. Zwar fordern Sie ein noch schärferes Sicherheitspaket mit weit gehenden Eingriffen in die Bürgerrechte. Da soll und darf jeder überwacht werden. Aber wie heißt es so schön: Beim Geld hört die Freundschaft auf. Außerdem haben einige in diesem Hause leider vergessen, dass das so genannte Bankgeheimnis für Hunderttausende hierzulande längst nicht mehr gilt, nämlich nicht für alle Sozialhilfeempfänger und deren Verwandten. Sie müssen nachweisen, dass sie bedürftig sind. Damit diese Menschen nicht doch noch irgendwo eine Mark versteckt halten, wird jetzt auch noch dafür gesorgt, dass die betreffenden Ämter vernetzt werden. Dabei steht der in diesem Bereich anzutreffende Missbrauch wohl in keinem Verhältnis zu der Steuerhinterziehung. ({2}) Übrigens: Eine verstärkte Kapitalflucht wegen Streichung dieses Paragraphen wird es nach dem Präsidenten des Bundesverbandes deutscher Banken voraussichtlich nicht geben; denn das Schwarzgeld hat das Land längst verlassen. Also können Sie auch zustimmen. Ich glaube nicht, dass die Aufhebung des Bankgeheimnisses die entscheidende Maßnahme zur Bekämpfung des Terrorismus ist, aber man muss jede Möglichkeit zur Eindämmung des Terrorismus sorgfältig prüfen. Wenn ich die Nachrichten über die Attentäter vom 11. September richtig verfolgt habe, dann war es so, dass diese unauffällig und angepasst lebten und offenbar keine größeren Bargeldmengen eingezahlt haben; denn sonst hätte das Geldwäschegesetz zugeschlagen. Geldströme müssen kontrolliert werden, national und international. Dafür müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Auf dem EU-Gipfel im Juni 2000 wurde eine Kompromissformel bezüglich EU-Zinsbesteuerung und Kontrollmitteilungen erzielt und damit verliert der § 30 a der Abgabenordnung seine Europatauglichkeit. Das sollten Sie nicht vergessen. Ich verweise auch noch einmal auf die geplanten Änderungen im Vierten Finanzmarktförderungsgesetz und der 2. EU-Geldwäscherichtlinie. Wir möchten die Aufhebung dieses Paragraphen, um - ich betone das - die Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu sichern, Steuerhinterziehung wirksam zu bekämpfen und letztlich einen Schritt hin zu größerer Gerechtigkeit im Sinne des Art. 3 Grundgesetz zu tun. Meine Damen und Herren, ich möchte nicht, dass das Bankgeheimnis weiter mit ins Grab genommen werden muss, wie es Friedrich der Große bereits 1776 gefordert hat. Also: Unterstützen Sie unseren Antrag! ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/6438 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hause gegen die Stimmen der PDS angenommen worden. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 7. November 2001, 13 Uhr, ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowie den Besucherinnen und Besuchern eine gute Heimreise. Die Sitzung ist geschlossen.