Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, auf der Besuchertribüne hat eine Delegation des iranischen Parlaments unter Leitung seines stellvertretenden Präsidenten Herrn Jalil Sazegarnejad
Platz genommen. Ich begrüße Sie herzlich. Seien Sie uns
willkommen!
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Friedrich Merz,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der förmliche
Anlass für die heutige Europadebatte im Deutschen Bundestag ist die Ratifizierung des Vertrages von Nizza und
die Regierungserklärung, die Sie, Herr Bundeskanzler,
am Tag vor dem Sondertreffen des Europäischen Rates im
belgischen Gent abgegeben haben.
Die politische Agenda der Europäischen Union wird in
diesen Tagen ganz sicher von anderen Dingen mitbestimmt. Wir haben auch diese Debatte heute anders zu
führen, als wir sie vor fünf oder sechs Wochen vorbereitet
haben. Die Terroranschläge von New York und Washington haben auch das Koordinatensystem für die aktuellen
Fragen der europäischen Politik erschüttert. Wenn es richtig ist, dass die Anschläge, die Ermordung von mehr als
6 000 Menschen, ein Angriff auf die gesamte zivilisierte
Menschheit gewesen sind, dann galt dieser Angriff nicht
nur Amerika, sondern dann war es auch ein Angriff auf
Europa, ein Angriff auf die europäischen Demokratien,
auf die Menschenrechte und auf die Werte der europäischen Zivilisation.
Wir müssen uns heute die Frage stellen, ob Europa,
diese Europäische Union, darauf bisher eine überzeugende Antwort gegeben hat. Man kann es auch kritischer
formulieren: Warum hat die Europäische Union bei der
Bewältigung dieser Krise bislang eine - zumindest gegenüber der NATO und den Vereinten Nationen, insbesondere gegenüber dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen - so untergeordnete Rolle gespielt?
Das kontinentale Europa hat sich bisher vor allem
durch Solidaritätsbekundungen hervorgetan. Diese waren
wichtig. Sie waren richtig, weil es darum geht - Herr Bundeskanzler, Sie haben das in Ihrer Regierungserklärung
zum Ausdruck gebracht -, eine internationale Allianz gegen den Terror zu schmieden.
Doch muss man feststellen, dass diese Erklärungen der
Europäischen Union, insbesondere die Erklärung des Rates der Staats- und Regierungschefs, schon in der Sprache
erkennen ließen, dass die Bereitschaft, unsere amerikanischen Freunde vorbehaltlos zu unterstützen, auch militärischen Beistand zu leisten, nicht sehr ausgeprägt ist.
({0})
Wir müssen uns folgerichtig die Frage stellen, ob diese
Solidaritätsbekundungen wirklich ausreichen im Kampf
gegen einen Gegner, bei dem wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, in einem Kampf, in dem wir alle politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen, aber eben
auch militärischen Maßnahmen ergreifen müssen, ganz
gewiss dann, wenn dieser Kampf nicht nur Tage, nicht nur
Wochen, nicht nur Monate, sondern vielleicht Jahre dauern wird.
Wie diese Europäische Union selbst ihre Prioritäten
setzt, lässt sich am Haushalt der Europäischen Union
ablesen. Mit mehr als 45 Milliarden Euro ist unverändert
die gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union der
Teil, der knapp die Hälfte des Gemeinschaftshaushalts in
Anspruch nimmt. 32 Milliarden Euro sind für die Regionalpolitik vorgesehen, aber nur 5 Milliarden Euro für die
so genannten externen Politiken, also für die Außenpolitik, für die wirtschaftliche Zusammenarbeit und für die Innen- und Rechtspolitik. Das ist ein so geringer Betrag,
dass er in der so genannten finanziellen Vorausschau der
Europäischen Union - wir würden in Deutschland sagen:
in der mittelfristigen Finanzplanung - noch nicht einmal
ausgewiesen ist.
({1})
Wenn wir neue Antworten geben wollen auf das, was seit
dem 11. September auch die Europäische Union betrifft,
dann müssen im Haushalt der Europäischen Union neue
Prioritäten gesetzt werden.
({2})
Eine nüchterne Betrachtung zeigt, dass diese Europäische Union bis heute ihre finanziellen Ressourcen zum
allergrößten Teil zur Befriedigung der eigenen Ansprüche
und der ihrer Mitgliedstaaten einsetzt und dass sie für ihre
Außenpolitik nur sehr wenig Geld zur Verfügung stellt.
Es kommt aber natürlich nicht nur auf das Geld an. Wir
müssen uns auch fragen, warum die Bilanz der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen
Union, die es ja gibt, so dürftig ausfällt, warum es bis zum
heutigen Tage keine einzige konzeptionelle außenpolitische Initiative der Europäischen Union gegeben hat, etwa
um Krisenregionen außerhalb der Europäischen Union zu
stabilisieren.
Wo ist der außenpolitische Beitrag dieser Europäischen
Union für den Nahen Osten? Wo ist er für Tschetschenien? Wo ist er für Zentralasien? Wo ist er für Nordafrika,
wo für den Balkan? Die einzige Ausnahme ist Mazedonien, wo sich die Europäische Union, bisher jedenfalls,
mit messbarem Erfolg darum bemüht hat, einen Bürgerkrieg zu verhindern.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Das einzig wirklich überzeugende Konzept der vergangenen Jahre, das die Europäische Union auf den Weg
gebracht hat, ist die Erweiterung der Europäischen Union
nach Osten, ist die Einbeziehung der Demokratien in Mittel- und Osteuropa in die politische Wertegemeinschaft
und in das Wirtschaftssystem Europas.
Herr Bundeskanzler, ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu: Es geht in erster Linie nicht um die Einbeziehung der
mittel- und osteuropäischen Staaten in unsere Wirtschaftsgemeinschaft - das ist ganz ohne Zweifel ein wichtiger Aspekt -; sondern darum, dass diese Länder nach
Europa zurückkehren und Mitglied der Europäischen
Union werden wollen, weil sie sich der Wertegemeinschaft der Europäischen Union verbunden fühlen und
weil sie Teil der freiheitlichen Demokratien Europas werden wollen.
({3})
Auf diesem Weg müssen wir ihnen helfen. Das bleibt
eine zentrale Aufgabe insbesondere der deutschen Politik;
denn es liegt gerade im deutschen Interesse, dass die Erweiterung der Europäischen Union um die osteuropäischen Staaten gelingt. Aber gelegentlich hat man selbst
hierbei den Eindruck, als würde der Wert von Stabilität,
von Freiheit und von Sicherheit auf dem europäischen
Kontinent - das anzustreben ist eine so unendlich wichtige Aufgabe - von einem reichlich vordergründigen
Streit um die Verteilung von Fördermitteln oder die Vereinbarung von Übergangsfristen zugeschüttet. Herr Bundeskanzler, Übergangsfristen für osteuropäische Staaten
sind nicht das zentrale politische Thema der Osterweiterung; vielmehr ist die Mitgliedschaft der osteuropäischen
Staaten in der Europäischen Union als einer Friedens- und
Freiheitsordnung die entscheidende politische Aufgabe.
({4})
Wir wollen, dass die Europäische Union nicht nur im
Inneren, sondern auch in ihren auswärtigen Beziehungen
handlungsfähig ist, dass sie eine aktive Rolle spielt und
dass sie in der internationalen Politik ihre Verantwortung
politisch, diplomatisch, wirtschaftlich und, wenn es notwendig ist, auch militärisch wahrnimmt. Ein starkes Europa liegt auch im Interesse der Vereinigten Staaten von
Amerika als einzig verbliebener Weltmacht.
Die bisherige Arbeitsteilung - Amerika ist in erster Linie für die Sicherheit zuständig und übernimmt die militärischen Aufgaben, während sich die Europäische
Union auf die wirtschaftlichen Wohltaten konzentriert ist mit der atlantischen Wertegemeinschaft, aber auch mit
der atlantischen Schicksals- und Risikogemeinschaft
nicht länger vereinbar.
({5})
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir feststellen,
dass die Europäische Union auf eine bessere Verteilung
der Verantwortlichkeiten in dieser Welt bisher nicht vorbereitet ist. Daran müssen wir - auch wir von der Union
wollen das - etwas ändern.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus insbesondere für die europäische Innen- und Rechtspolitik? Die
Europäische Union hat dem Terrorismus den Kampf angesagt und sie hat bei der außerordentlichen Tagung des
Europäischen Rates am 21. September, also zehn Tage
nach den Anschlägen, einen konkreten Aktionsplan beschlossen, der unter anderem die Einführung eines europäischen Haftbefehls und die Weitergabe von den in den
Mitgliedstaaten gewonnenen Daten aus dem Bereich des
Terrorismus an Europol vorsieht. Außerdem sollen der
Kampf gegen die Finanzierung des internationalen Terrorismus verstärkt und Maßnahmen zur Erhöhung der
Flugsicherheit in der Europäischen Union ergriffen werden.
Ich will es klar und deutlich sagen: Das Maßnahmenpaket, Herr Bundeskanzler, das Sie im Rat am 21. September auf den Weg gebracht haben, ist nicht zu kritisieren; aber es zeigt gleichzeitig, wo wir in Europa in der
Innen- und Rechtspolitik derzeit stehen und wie weit wir
von dem vor zwei Jahren auf dem Rat im finnischen Tampere beschlossenen Weg - sie haben ihn zitiert - entfernt
sind, nämlich von einem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Welchen Sinn macht
es, wenn wir zwar alle die Notwendigkeit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit - etwa in Polizeifragen, bei
der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, beim
Drogenhandel, beim Menschenhandel, beim Waffenhandel, bei der Autoschieberei, beim Terrorismus - immer
wieder beschwören und betonen, aber offenbar die einfachsten Grundlagen für die grenzüberschreitende Weitergabe von Daten zum Beispiel an Europol bis heute
nicht vorhanden sind?
({6})
Meine Damen und Herren, es ist auch schwer nachvollziehbar, dass die Einführung eines europäischen
Haftbefehls bisher daran gescheitert ist, dass er aufgrund
der damit verbundenen Überstellung von Straftätern in ein
anderes Mitgliedsland wegen des unterschiedlichen Strafmaßes, das dort für einzelne Straftaten gilt, in der Europäischen Union nicht konsensfähig war. Wir brauchen
eine starke europäische Polizeibehörde; Europol muss
ähnlich arbeiten können wie das Bundeskriminalamt in
Deutschland. Wir brauchen eine europäische Staatsanwaltschaft und grenzüberschreitende exekutive Befugnisse für Polizeibehörden bis hin zu einem europäischen
Haftbefehl, der überall in der EU vollstreckbar ist.
({7})
Wir begrüßen ausdrücklich, dass sich das Europäische
Parlament und der Rat in der vergangenen Woche auf
einen Kompromiss bezüglich der Geldwäscherichtlinie
verständigt haben. Damit ist nach einer jahrelangen
Blockade im Ministerrat der Weg für die vom Europäischen Parlament seit langem geforderte Verschärfung der
Geldwäschebekämpfung frei, ohne dass es zu einer Einschränkung der verfassungsrechtlich geschützten Rechtsberatung und Prozessvertretung in den Mitgliedstaaten
der Europäischen Union kommt. Ich frage trotzdem:
Warum mussten erst die Anschläge in Amerika gescheFriedrich Merz
hen, bevor sich die Europäische Union endlich auf eine
solche Maßnahme verständigen konnte?
({8})
Was uns in den vergangenen Wochen aus gegebenem
Anlass mehr als vorher beschäftigt hat, war die Interpretation des Begriffs Terrorismus; da müssen wir in der
Wertegemeinschaft der Europäischen Union endlich zu
einer gemeinsamen Definition kommen. Eine Verständigung dahin gehend, dass wir auch das Gleiche meinen, wenn wir das Gleiche sagen, ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass wir die Maßnahmen, die wir für
den Kampf gegen den Terrorismus beschließen, auch vor
der europäischen Öffentlichkeit legitimieren können.
Weil gleich ja auch ein Vertreter der PDS sprechen wird,
will ich an dieser Stelle festhalten: Das ist die Voraussetzung dafür, dass solche unerträglichen Vergleiche unterbleiben, wie sie der letzte Ministerpräsident der DDR und,
wenn ich mich nicht irre, der bis heute amtierende Ehrenvorsitzende der PDS auf dem letzten PDS-Parteitag angestellt hat. Dort hat er die Angriffe auf das World Trade
Center in New York und die bedauerlichen Fehltreffer von
durch amerikanische Flugzeuge abgeworfenen Bomben
auf die chinesische Botschaft in Belgrad vor zwei Jahren
auf eine Stufe gestellt, indem er beide als Staatsterrorismus bezeichnet hat.
({9})
Aus dem bisher hier Gesagten und aus dem, was auch
Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung
zum Ausdruck gebracht haben, ergibt sich, dass wir die
beim Europäischen Rat in Nizza eingeleitete Debatte
über die Zukunft der Europäischen Union nicht nur institutionell führen dürfen. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit der Institutionen. Wir brauchen eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Wir brauchen die
Etablierung des Rates als zweiter Kammer bei der
Gesetzgebung in der Europäischen Union. Wir dürfen uns
dabei aber nicht nur auf schematische Lösungen
beschränken. Wir brauchen in vielen Bereichen mehr Europa und ein Mehr an europäischer Integration. Wir brauchen in den kommenden Jahren auch einen Diskussionsprozess, der die Frage beantwortet: Europa - wozu im
21. Jahrhundert? Wir dürfen diese Frage nicht nur hier im
Deutschen Bundestag stellen, wir müssen sie öffentlich
- mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes und
in der Europäischen Union insgesamt - so diskutieren,
dass der Weg zu mehr Integration in der Europäischen
Union auch in den Mitgliedstaaten auf Konsens stößt.
Wir begrüßen deshalb, dass in Nizza der Weg für eine
neue Methode der Weiterentwicklung der Europäischen
Union geöffnet worden ist. Wir begrüßen, dass in einem
Konvent oder in einer ähnlichen Institution auch die Parlamente der Mitgliedstaaten bei der weiteren Entwicklung
der Europäischen Union beteiligt werden. Kompetenzabgrenzung, Vertragsvereinfachung, die Klärung des
Rechtsstatus der Grundrechte-Charta und die Einbeziehung der nationalen Parlamente in den europäischen Einigungsprozess bleiben in vollem Umfang wichtig.
Dieser Prozess muss aber auch für andere Themen, die
sich neu ergeben und die hinzukommen, offen bleiben. Es
darf nicht nur über das Verhältnis der Organe der Europäischen Union untereinander und den weiteren Übergang
zu Mehrheitsentscheidungen im Rat diskutiert werden;
wir brauchen auch die inhaltliche Ausgestaltung der zentralen politischen Fragen, die dieser Europäischen Union
gestellt sind.
Wir müssen, so meine ich, gerade mit Blick auf das
Jahr 2004, das Jahr, in dem die erste größere Erweiterungsrunde des 21. Jahrhunderts stattfinden soll, eingestehen, dass es ungelöste Probleme gibt. Ich spreche noch
einmal die Struktur des Haushaltes der Europäischen
Union an. Aber auch die Agenda 2000, die, Herr Bundeskanzler, in der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 formuliert worden ist, ist zu nennen.
Ich denke, wir müssten uns darüber einig sein, dass das,
was vor zwei Jahren in der Agenda 2000 formuliert worden ist, für die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union, so wie Sie sie heute Morgen in Ihrer Regierungserklärung skizziert haben, nicht ausreicht. Die
Agenda 2000 muss nachgearbeitet werden, wenn die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union ein Erfolg werden sollen.
({10})
Wir müssen uns in der europäischen Politik vor allem
von einem Geiste der Freiheit und von übergeordneten
politischen, langfristig orientierten Vorstellungen leiten
lassen. Dies muss auf einem gemeinsamen geistigen
europäischen Fundament geschehen, wie das der große
spanische Philosoph und Schriftsteller Ortega y Gasset
schon vor vielen Jahrzehnten, nämlich in den 50er-Jahren
des letzten Jahrhunderts, wie folgt formuliert hat:
Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzstandes auf, so würde sich herausstellen, dass das
meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland,
sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus
entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei
weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen. Vier
Fünftel unserer gemeinsamen Habe sind unser gemeinsames europäisches Gut.
Wenn wir uns von diesem Geist leiten lassen, wenn
also der Geist der Freiheit, der europäischen Einheit, der
Demokratie, des Rechtsstaats, der Bürgerrechte und der
Menschenrechte die Politik leitet, wenn dies die Grundlage für die weitere Vertiefung und die Erweiterung der
Europäischen Union ist, dann, meine Damen und Herren,
ist Europa auf einem guten Weg in das 21. Jahrhundert.
Ich danke Ihnen.
({11})
Ich erteile dem Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Sehr verehrte und liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Merz, auf einige Punkte, die Sie gerade
angesprochen haben, mussten Sie, wie ich denke, kraft Ihrer Funktion eingehen. Aber hinsichtlich des finanz-, sicherheits- und außenpolitischen Engagements dieser Europäischen Union haben Sie leider ein Zerrbild
gezeichnet; denn es gibt viele weitere Punkte, in denen
sich diese Europäische Union engagiert. Bei der Erweiterung der Europäischen Union, beim Stabilitätspakt für das
frühere Jugoslawien, in Mazedonien, aber auch im
Barcelonaprozess oder im Mittelmeerprozess hat diese
Europäische Union finanziell, aber auch durch die Übernahme von Verantwortung Flagge gezeigt. Das sollte man
an diesem Tag deutlich herausstreichen.
({0})
Europa, die Europäische Union, ist seit dem 11. September wichtiger denn je. Wir alle haben dies nach den
Terroranschlägen in den USA gespürt. Natürlich sind jetzt
alle Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, alle erforderlichen
Maßnahmen zur Gewährleistung der inneren und äußeren
Sicherheit zu ergreifen. Aber wir wissen - und das ist viel
wichtiger -: Allein könnte kein Mitgliedstaat der Europäischen Union den Terrorismus erfolgreich bekämpfen.
Erst die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene bietet
die Gewähr dafür, dass wir beim Kampf gegen den Terror
den Erfolg haben werden, den wir uns alle wünschen.
Wieder zeigt sich gerade in der Krise, wie lebensnotwendig für uns Europäer die Europäische Union inzwischen
geworden ist.
({1})
Die Europäische Union hat sofort nach den schrecklichen Ereignissen in den USA entschlossen gehandelt.
Dies ist nicht zuletzt das Verdienst von Bundeskanzler
Gerhard Schröder und seiner Bundesregierung. Auf seine
Initiative hin hat die belgische Ratspräsidentschaft die
Staats- und Regierungschefs zu einer Sondertagung am
21. September nach Brüssel einberufen. Für diese Initiative dankt meine Fraktion, danken - davon gehe ich
aus - aber auch alle übrigen Fraktionen dieses Hauses
dem Bundeskanzler; denn es ist ein besonderes Zeichen
gewesen, dass wir auf europäischer Ebene Handlungsfähigkeit herstellen wollen.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Dank
gilt auch allen Staats- und Regierungschefs, weil das Zusammenstehen der Europäer so seinen überzeugendsten
Ausdruck gefunden hat. Auf seiner Sondertagung hat der
Europäische Rat das politische Fundament für die
Bekämpfung des Terrorismus gelegt und ein umfangreiches Maßnahmenpaket beschlossen. Eines füge ich
hinzu: Wir Europäer achten die islamische Zivilisation,
bekämpfen aber entschieden den Terror. Wir Europäer
bekämpfen kein Volk und keine Religion; wir bekämpfen
den Terror sowie Fanatismus und Intoleranz, die ihm zugrunde liegen. Europa steht solidarisch zu den Vereinigten Staaten. Daran gibt es keinen Zweifel.
Uns allen ist klar, dass die Opfer in den Vereinigten
Staaten und das afghanische Volk die Leidtragenden der
tragischen Ereignisse sind. Wir wissen um die Sorgen und
Ängste in den Vereinigten Staaten vor weiteren Terroranschlägen. Wir wissen auch um die Sorgen und Ängste und
um die schiere Not, denen das afghanische Volk jetzt ausgesetzt ist. Wir werden, ja wir müssen helfen, so gut es in
der derzeitigen Lage geht.
Aber wir wissen auch um die Sorgen und Ängste in unserer eigenen Bevölkerung. Darauf haben wir klare Antworten gegeben; das werden wir auch weiterhin tun. Die
innere Sicherheit ist bei der Bundesregierung in guten
Händen.
({3})
Lassen Sie mich zu den aktuellen Ereignissen bei uns
noch eines sagen: Wir verurteilen die Trittbrettfahrer in
unserer Gesellschaft auf das Schärfste, die in dieser Zeit
die Verunsicherung in der Bevölkerung ausnutzen und
Sorgen und Ängste schüren.
({4})
Wir wissen auch um die unabweisliche Notwendigkeit, dem fanatischen Terror ein Ende zu setzen. Dazu
müssen wir alle, die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union und die Europäische Union selbst, unseren Beitrag
leisten. Nur ein Beispiel für das, was auf europäischer
Ebene bereits vor einigen Jahren geleistet worden ist und
heute Ergebnisse zeitigt: Die europäische Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die ihren
Sitz bekanntlich in Wien hat, hat nach den Terroranschlägen antimuslimische Akte der Intoleranz in einzelnen Mitgliedstaaten festgestellt, aber zugleich darauf
hingewiesen, dass diese Vorkommnisse nicht schwerwiegend waren und die europäische Bevölkerung insgesamt
sehr wohl zwischen der im Allgemeinen friedlichen islamischen Welt und den wenigen Fanatikern zu unterscheiden weiß, die der westlichen Welt den Krieg erklärt
haben.
Meine Damen und Herren, wir können mit militärischen Mitteln erreichen, dass das Taliban-Regime in
Afghanistan gestürzt wird. Wir können erreichen, dass in
Afghanistan keine Regierung mehr existiert, die den internationalen Terror unterstützt. Wir müssen eine afghanische
Regierung beseitigen, die dem afghanischen Volk seit Jahren und für die Zukunft keine Lebensperspektive bietet.
Aber damit haben wir noch keine politische Lösung für
Afghanistan. Ich begrüße es außerordentlich, dass - dies
ist in den letzten Tagen auf verschiedenen Tagungen deutlich geworden - die Europäische Union mit Hochdruck daran arbeitet, dass Afghanistan eine Zukunftsperspektive
erhält. Europa muss und wird hier Flagge zeigen. Wir werden diesen Prozess aktiv unterstützen.
({5})
Dabei gehen wir von zwei wesentlichen Eckpunkten
aus: Die Vereinten Nationen werden eine zentrale Rolle
spielen müssen, um Afghanistan den Weg zu einer neuen,
legitimen Regierung zu ebnen. Außerdem muss ein Wiederaufbauplan für Afghanistan erarbeitet werden. Nach
über 20 Jahren Krieg und Bürgerkrieg kann das afghanische Volk den Wiederaufbau nicht aus eigener Kraft schaffen.
Wir müssen uns aber auch anderen Krisenherden noch
intensiver als bisher zuwenden. Dies gilt ganz besonders
für den Nahen Osten. Im Nahen Osten muss die Spirale
der Gewalt endlich unterbrochen werden.
({6})
Nach der gestrigen Ermordung eines israelischen Ministers scheint sich jedoch die Gewaltspirale fortzusetzen.
Wir sind uns der enormen Schwierigkeiten, die dabei
zu überwinden sind, bewusst. Daher spreche ich Ihnen,
Herr Außenminister, den Dank meiner Fraktion dafür aus,
dass Sie in dieser schwierigen Zeit nicht nur vor Ort das
Gespräch mit den Israelis und den Palästinensern gesucht,
sondern auch vehement darauf gedrungen haben, dass
dort Gesprächsfähigkeit neu entsteht. Damit haben Sie in
dieser Region für sich ebenso wie für die Bundesrepublik
Deutschland sehr viel Anerkennung erworben. Dafür sagen wir unseren herzlichen Dank.
({7})
Ich will ein weiteres wichtiges Feld für die Europäische Union nennen: Die Europäische Union muss ihr Augenmerk noch konsequenter als bisher auf ihre Mittel in
der Politik lenken. Zum Beispiel bietet der Barcelonaprozess, also das berühmte Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Ländern, die südlich und östlich
des Mittelmeers liegen, viele Ansatzpunkte, um die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und den
islamischen Staaten rund um das Mittelmeer zu verbessern. Wir haben schon viel erreicht, um gegenseitiges Vertrauen und Anerkennung zu stärken. Wir müssen diese
Länder stärker an die Europäische Union binden, damit
Stabilität und Wohlstand auch in diesen Ländern weiter
gedeihen können.
Gerade vor dem Hintergrund des angemahnten Dialogs
sage ich aber: Es muss ein wirklicher Dialog stattfinden.
Bei diesem Dialog dürfen nicht immer nur die europäischen Interessen im Vordergrund stehen; auch die Befindlichkeiten dieser Länder sind zu berücksichtigen. Andererseits sage ich allerdings auch: Wer den Dialog will,
muss auch die Assoziierungsabkommen, die die Europäische Union geschlossen hat und in denen sich beide
Parteien zur Bewahrung der Grundfreiheiten und der
Menschenrechte verpflichtet haben, beachten. Auch das
gehört zu einem wahrhaftigen Dialog.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Europäische Union hat seit dem 11. September bewiesen, dass sie
zu entschlossenem Handeln in der Lage ist. Anfang dieser
Woche haben die Justiz- und Innenminister sowie die Finanzminister der Europäischen Union gemeinsam getagt
und bereits konkrete Maßnahmen beschlossen. Sie haben
damit Aufträge der europäischen Staats- und Regierungschefs erfüllt.
Ich will aus den Beschlüssen die für uns wichtigsten
Punkte herausgreifen: Die Europäische Union wird spätestens bis zum Europäischen Rat in Laeken über eine gemeinsame Terrorismusdefinition verfügen. Es wird einen europäischen Haftbefehl geben. Dies wird die
Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Terrorismusbekämpfung erheblich erleichtern. Die Finanz- und Wirtschaftsminister haben in dieser Woche den Anwendungsbereich der Geldwäscherichtlinie deutlich ausgeweitet.
Wir werden alles Notwendige dafür tun, um den Finanzierungssumpf des Terrorismus auszutrocknen.
({9})
Ich füge hinzu: Die Mitgliedstaaten werden gemeinsam Ermittlungsteams zur Bekämpfung des Terrorismus
einsetzen. Ein anderer wichtiger Aspekt ist beispielsweise, dass die Verkehrsminister Maßnahmen zur Verstärkung der Flugsicherheit getroffen haben. Wir stehen
am Anfang der Auseinandersetzung mit dieser neuen
Form des Terrorismus. Lassen Sie uns dies auch weiterhin, wenn es geht, im besten überparteilichen Konsens
tun; denn die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land
haben einen Anspruch auf vernünftige Lösungen.
Im Anschluss an diese Debatte ratifizieren wir den Vertrag von Nizza. Man kann über diesen Vertrag unterschiedlicher Meinung sein; das betrifft nicht nur die Details des Vertrages.
({10})
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, was auch
immer in den Zeitungen gestanden hat, was auch immer
über die schwierigen Verhandlungen berichtet worden ist
und was auch immer wir im Parlament als Defizite von
Nizza beklagt haben - eines ist ganz gewiss: Der Vertrag
von Nizza ist ein Erfolg, weil er erst die notwendigen Voraussetzungen für die Erweiterung geschaffen hat.
({11})
Erst mit diesem Vertrag wurde der Weg für die Erweiterung frei. Dies - das ist nicht wenig - ist der Erfolg von
Nizza.
({12})
Wer jetzt den Nizzavertrag klein redet, verkennt die
überragende politische Bedeutung, die dieser Vertrag für
unsere Freunde in Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik und den übrigen Beitrittsländern hat. Ich würde mir
wünschen, dass Willy Brandt dies heute noch erleben
könnte; denn Willy Brandt hat mit seiner Ostpolitik die
Grundlage für die Überwindung der Spaltung unseres
Kontinents gelegt. Helmut Schmidt und Helmut Kohl haben sein Werk fortgesetzt. Heute sind wir dabei, das historische Werk Willy Brandts zu vollenden. Ich freue mich,
dass dies im breiten Konsens im Deutschen Bundestag
geschehen wird.
({13})
Der Herr Bundeskanzler hat es bereits erwähnt: Mit
dem Vertrag von Nizza droht der europäischen Integration eben kein Stillstand. Mit ihrer Erklärung zur Zukunft
der Europäischen Union haben die Staats- und Regierungschefs Grundsatzfragen der Integration auf die europäische Tagesordnung gesetzt. Diese Grundsatzfragen
sollen auf einer Regierungskonferenz 2004 entschieden
werden.
Die Staats- und Regierungschefs haben damit der Ausarbeitung einer europäischen Verfassung den Weg geebnet.
Wir wissen aber auch, dass unterschiedliche Verfassungstraditionen, zum Beispiel in Deutschland, Großbritannien,
Skandinavien und anderen Ländern, bei diesem Projekt
aufeinander stoßen.
Aber eine Verfassung für die Europäische Union muss
man sich jenseits der klassischen Kategorien und nationalen Begrifflichkeiten von Verfassung und Staatlichkeit
denken. Europa ist eben kein Staat im traditionellen
Sinne. Aber als supranationale Organisation besitzt die
Europäische Union bereits heute eine beachtliche Staatlichkeit. Ihr Vertragswerk hat schon heute verfassungsrechtlichen Charakter. Durch die schrittweise Weiterentwicklung der Verträge hat sich die Europäische
Gemeinschaft in einer unübersichtlichen Fülle von Verträgen, Artikeln und Protokollen konstituiert. Genau diese
Staatlichkeit sollte sich in einer Verfassung neuen Typs
niederschlagen.
Damit komme ich zur K-Frage - wohlgemerkt nicht zu
der K-Frage, die andere Fraktionen in diesem Hause betrifft, sondern zur Konvent-Frage. Verfassungsrecht ist
seit jeher Parlamentsrecht. Deshalb ist es gut, dass sich die
Bundesregierung und Sie, Herr Bundeskanzler, in den europäischen Räten nachdrücklich dafür eingesetzt haben,
dass zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 ein
Konvent eingesetzt wird. An diesem Konvent - das hörten wir schon - werden verschiedene Vertreter teilnehmen. Ich möchte Ihnen ausdrücklich dafür danken, dass es
gelungen ist - zuletzt am 8. Oktober -, die Weichen für
diesen Konvent zu stellen.
Erlauben Sie mir eine kurze Rückblende. Zu Beginn
dieses Jahres galt es für manchen noch als ausgemacht,
dass es einen Konvent zur Vorbereitung der Regierungskonferenz nicht geben wird. Ist es nicht ein durch
und durch demokratischer Vorgang, dass Parlament und
Regierung im Dialog ihre Positionen weiterentwickelt haben? Wir können jetzt jedenfalls ohne Übertreibung sagen, dass es bei uns eine weit gehende Übereinstimmung
zwischen Regierung und Parlament gibt. Das ist in anderen Parlamenten nicht selbstverständlich.
Auch wenn die eine oder andere Frage in Bezug auf
diesen Konvent noch zu klären sein wird, ist für mich klar,
dass mit dem Konvent die europäische Integration revolutioniert wird. Die europäischen Verträge wurden bisher
ausschließlich von den Regierungen ausgehandelt und
von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert. Diese
Verfahren drängen die nationalen Gesetzgeber in die
Rolle eines politischen Notars, dem kaum mehr übrig
bleibt, als den Vertrag mit den notwendigen Legitimationshäkchen zu versehen. Dass uns das zu wenig war und
ist, versteht sich von selbst. Ich bleibe dabei: Auf nationaler und europäischer Ebene gilt: Mehr Parlament wagen!
Mit dem Konvent ändert sich die Situation grundlegend. Es ist kaum vorstellbar, dass die nationalen
Parlamente europäische Verträge, die sie selbst mit ausgearbeitet haben, ratifizieren, wenn das Ergebnis der Regierungskonferenz zu weit vom Entwurf des Konvents
abweicht.
Der Deutsche Bundestag wird heute dem Vertrag von
Nizza mit breiter Mehrheit als verfassungsänderndem Gesetz zustimmen. Wir haben gemeinsam die eine oder andere Klippe bewältigt. Wir haben dieses im Parlament in
fairer Zusammenarbeit geschafft. Dafür möchte ich mich
im Namen meiner Fraktion bedanken, weil es auch heute
ein wichtiges Signal in der EU, aber gerade auch für die
Beitrittsländer ist.
({14})
Es kommt für die Zukunft darauf an, dass die Europäische Union aus eigenem Antrieb die notwendige Integration voranbringt. Wir müssen unsere ganze Kraft darauf
richten, auch das europäische Sozialmodell weiterzuentwickeln. Denn soziale Stabilität ist ein hohes Gut,
nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Dies gilt
es zu bewahren. Gerade deshalb ist für uns die Europäische Union auch eine Antwort auf die Globalisierung. In
Zeiten, in denen viele Menschen Verunsicherung, Sorgen
und Ängste hautnah empfinden, kommt es darauf an, dass
wir unseren Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit im Wandel geben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal auf die schrecklichen Anschläge in
den Vereinigten Staaten zurückkommen. Es sind nicht Armut und Elend, die die Menschen zu Terroristen machen.
Die Wurzeln dieses Terrorismus sind Hass, Fanatismus
und Menschenverachtung. Auch die Nationalsozialisten
bezogen aus diesen Quellen ihre mörderische Energie.
Europa hat erst nach der fürchterlichen Katastrophe
des letzten Jahrhunderts und der Befreiung von den Nationalsozialisten seinen Weg zu Ausgleich und Frieden
gefunden. Die Gründungsväter der Europäischen Union
wussten, worauf es ankommt. Sie haben die Menschen
wieder zusammengeführt. Nicht Hass, sondern Toleranz
und gegenseitige Achtung waren die Grundlage. Auf dieser Basis haben sie die Gesellschaften und die Europäische Union aufgebaut. Dies ist die Grundlage für das
heute so stabile Fundament für die europäische Integration. Wir haben Sicherungen in unsere politischen und
wirtschaftlichen Systemen eingezogen, um uns gegen das
Aufkommen von Hass, Fanatismus und Menschenverachtung zu wehren.
Unser Auftrag aber bleibt es, der Botschaft der Toleranz und gegenseitigen Achtung in der Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Das ist eine originäre Aufgabe der Europäischen Union. Wir wünschen unserer Regierung bei
den nächsten anstehenden Verhandlungen viel Erfolg.
Vielen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Helmut Haussmann, FDP-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 11. September hat
leider auf brutale Weise klar gemacht, dass der schrecklichsten Bedrohung unserer Freiheit durch internationalen
Terrorismus nicht mehr im Alleingang begegnet werden
kann. Auch die einzige verbliebene Supermacht, die USA,
wendet sich von Unilateralismus, von Alleingängen ab
und sucht die globale Partnerschaft. Diese große Chance,
die Amerikaner in gemeinsame, multilaterale Lösungen
einzubinden, dürfen wir Europäer nicht verspielen.
({0})
Nizza - darum geht es ja heute - war leider ein absolutes Negativbeispiel. In Nizza hat sich noch einmal das
alte Denken durchgesetzt; es gab keine Kompromissbereitschaft, keine Bereitschaft für gemeinsame Lösungen.
Alle Regierungen gingen nach Hause, um dort nationale
Egoismen zu begründen, und keine Regierung, auch nicht
die deutsche, hat in Nizza dafür gesorgt, dass es einen
Fortschritt hinsichtlich gemeinsamer Lösungen, Mehrheitsentscheidungen und einer stärkeren Rolle des Europäischen Parlamentes gab.
({1})
Wir stimmen dem Bundeskanzler gerne darin zu, dass
die Europäische Union das Erfolgsprojekt des 20. Jahrhunderts war. Aber um diese Erfolgsgeschichte im neuen
Jahrhundert fortzuschreiben, muss man mehr tun als das,
was in Nizza geschehen ist. Es ist richtig, dass der Bundeskanzler Europa heute als Wirtschaftsmacht rühmt, und
es ist auch gut, dass er von seiner früheren Bezeichnung
der europäischen Währung als kränkelnde Frühgeburt
abgegangen ist. Er bezeichnet sie heute als deutlichstes
Zeichen für den gewaltigen europäischen Fortschritt.
Wir sollten an einem solchen Tage auch nicht vergessen, dass der Euro fast stillschweigend und leider unbemerkt seine erste internationale Bewährungsprobe mit
großem Erfolg bestanden hat.
({2})
Wir hätten nach dem Terroranschlag mit 15 nationalen
Kleinwährungen in Europa heute große Probleme; wir
hätten einen Auf- und Abwertungswettlauf. Insbesondere
die deutsche Exportwirtschaft würde bei ihren Exportbemühungen innerhalb von Europa schwer geschädigt.
Insofern, Herr Finanzminister, sollte die Bundesregierung vor Einführung des Bargeldes jede Gelegenheit
wahrnehmen, darzustellen, dass die erste internationale
Bewährungsprobe auf hervorragende Weise gelungen ist.
Deshalb sollten Sie, Herr Finanzminister, auch die für den
1. Januar geplanten Steuererhöhungen, wie die Erhöhung
der Tabaksteuer, zurückstellen; denn nicht die Umstellung
auf den Euro erhöht die Preise, sondern die Bundesregierung tut das, indem sie zum Zeitpunkt der Euroeinführung
die Verbrauchsteuern erhöht. Das ist schlecht für die Akzeptanz dieses wichtigen europäischen Symbols.
({3})
Zweiter Punkt. Es ist gut, dass der Bundeskanzler die
Europäische Union nicht nur als Wirtschaftsmodell sieht,
sondern sie als ein genuines Gesellschaftsmodell bezeichnet. Auch hier hat sich vielleicht nicht nur die Rhetorik, sondern auch die Einstellung der europäischen Sozialisten geändert. Vor dem 11. September gab es ja häufig
die verächtliche Formulierung, auch von Grünen: Wir
wollen keine amerikanischen Verhältnisse in Europa. Diese Aussage zeugt von Arroganz. Wir Europäer haben
überhaupt keinen Anlass, uns über das amerikanische Gesellschaftsmodell zu erheben, ganz im Gegenteil. Die Solidarität und die Bereitschaft, mit anderen Ländern zusammenzuarbeiten, die Amerika im Moment zeigt, haben
die Europäer in Nizza nicht bewiesen.
({4})
Deshalb sollten wir mehr tun, Herr Schlauch. Wir sollten die Steuern senken. Wir sollten die Arbeitsmärkte
flexibilisieren. Denn Deutschland ist inzwischen das
Wachstumsschlusslicht in Europa. Dies ist gewiss kein
solidarischer Beitrag zur Weltwirtschaft.
({5})
Wir sollten mehr tun, um der Welt und den Amerikanern
auch ökonomisch zu helfen.
({6})
Blenden wir zurück zum Vertrag von Nizza! Ich zitiere
den Bundeskanzler. In seiner Regierungserklärung vor
dem Hohen Haus am 28. November 2000, also vor etwa
einem Jahr, hat er ausgeführt:
Ein Festhalten am bisher geltenden Einstimmigkeitsprinzip wäre, insbesondere für den Fall der Erweiterung der Europäischen Union, gleichbedeutend
mit einer Selbstblockade der Europäischen Union.
Deshalb ist es ... wichtig,
- so der Bundeskanzler vor Nizza in einer erweiterten Union Beschlüsse so weit wie
möglich mit qualifizierter Mehrheit fassen zu können.
Dem konnten wir nur zustimmen. Jedoch kam die Bundesregierung mit leeren Händen aus Nizza zurück, was
diesen entscheidenden Punkt angeht.
({7})
Trotz all dieser Versäumnisse werden wir als FDPFraktion dem Vertrag von Nizza zustimmen. Dafür haben
wir vor allem drei Gründe:
Erstens. Wir verlassen uns auf die Zusage der Bundesregierung, das Mandat von Laeken auf die für uns essenziellen Punkte auszuweiten: mehr Durchsichtigkeit, eine
stärkere Rolle des Europaparlaments und der nationalen
Parlamente und vor allem einen stärkeren Einstieg in das
Prinzip der Mehrheitsentscheidungen; denn ohne Mehrheitsentscheidungen wird die Erweiterung nicht funktionieren.
({8})
Zweitens. Wir wollen keinerlei Verzögerungen bei der
Osterweiterung. Wir haben begriffen, dass der Vertrag
von Nizza - zwar mehr in einem formalen Sinne, Herr
Gloser, und noch nicht inhaltlich ausreichend - das Tor
zur Erweiterung aufstößt. Das ist aus Sicht unserer
Schwester- und Bruderparteien in Osteuropa enorm wichtig.
Drittens. Wir stimmen zu, weil wir ebenfalls den Weg
für den für uns Liberale so entscheidenden Verfassungsprozess öffnen wollen. Darauf wird meine Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger noch eingehen.
Aber nochmals, damit dies ganz klar ist: Noch nie
wurde dem Deutschen Bundestag ein so schlechter Europavertrag zur Abstimmung vorgelegt.
({9})
Ich darf noch einmal den von mir hoch geschätzten sozialdemokratischen früheren Präsidenten des Europaparlamentes Hänsch zitieren:
Seit vielen Jahrzehnten gab es in Europa keinen so
miserablen Vertragsentwurf.
({10})
Meine Damen und Herren, trotz dieser Probleme verhalten wir uns in der Opposition anders als die Grünen damals, die ja dem Vertrag von Maastricht nicht zugestimmt
haben. Wir werden diesem wichtigen Vertrag trotzdem
zustimmen. Auf die Liberalen ist auch in der Opposition
europapolitisch Verlass.
({11})
Herr Bundeskanzler, Sie erwähnen zu Recht den Appell verdienter Europäer einschließlich Helmut Kohls und
Helmut Schmidts: Europa ist nur einer wirklich ernsthaften Gefahr ausgesetzt, dem Stillstand. - Leider war Nizza
Stillstand, in Teilgebieten sogar Integrationsrückschritt.
Sorgen Sie daher in Gent und in Laeken für europäischen
Fortschritt! Dabei haben Sie die volle Unterstützung meiner Fraktion.
Danke schön.
({12})
Ich erteile das Wort
dem Außenminister, Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der heutigen Ratifizierung des Vertrages von Nizza wird ein wichtiger Schritt der Europäischen Union durch das deutsche
Parlament vollzogen. Dieser Vertrag hat, wie jeder europäische Vertrag, Kompromisscharakter. Er öffnet aber
gleichzeitig die Tür zur Erweiterung der Europäischen
Union. Diese Erweiterung wurde auch von den Rednern
der Opposition als alternativlos dargestellt, aus Gründen,
die ich hier im Einzelnen nicht wiederholen will. Es sind
im wahrsten Sinne des Wortes historische, aber auch
zukunftsorientierte Gründe. Europa zusammenzuführen
liegt im deutschen Interesse. Deutschland, in der Mitte
Europas gelegen, hat ein wirklich vitales Interesse am europäischen Einigungsprozess, das heißt an dem Zusammenfügen der beiden Teile Europas, die durch den Kalten
Krieg über fünf Jahrzehnte getrennt waren.
Dennoch sollten wir in dieser Diskussion allmählich
auch die Schwierigkeiten benennen, die sich daraus ergeben. Herr Kollege Haussmann, ich teile Ihre Meinung
überhaupt nicht, dass es sich bei dem Vertrag von Nizza
um einen schlechten Vertrag handelt. Bei aller Kritik, die
es im Einzelnen gibt, hat allein die Reaktion der Beitrittsländer klargemacht, dass der Vertrag von Nizza ohne jeden Zweifel die Voraussetzung für die Herstellung der
Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union ist.
({0})
Herr Kollege Merz, das gilt auch für die Umsetzung
der Agenda 2000. Ich kann Sie nur inständig darum bitten, von der Idee - falls Sie sie ernst gemeint haben - Abstand zu nehmen, noch einmal neu über diese Agenda zu
verhandeln.
({1})
- Wir werden sehr wohl eine andere Wahl haben. Denn
wenn Sie es ernst damit meinen, das Paket der Agenda
2000 jetzt aufmachen zu wollen
({2})
- nicht nur teuer, Herr Bundeskanzler -, frage ich mich
nicht nur, wie Sie diesen Sack so füllen wollen, dass unsere Interessen gewahrt bleiben, sondern auch, wie Sie ihn
wieder zubekommen wollen. Das ist der entscheidende
Punkt. Bei wichtigen und sehr einflussreichen Partnern
finden Sie ein großes Interesse daran, Finanzentscheidungen, die wir - damit sind wir gut beraten - erst 2005, also
im Vorfeld von 2006, treffen werden, nicht bereits heute
auf die Tagesordnung zu setzen.
Wir haben mit wirklich allem Nachdruck dafür
gekämpft, dass die Erweiterung nicht mit der Frage der
zukünftigen Ausgestaltung der Strukturfonds verknüpft
wird. Allein an dieser Frage, Herr Merz, werden Sie
festmachen können, dass es überhaupt nicht im deutschen
Interesse sein kann, das Paket der Agenda 2000 jetzt
wieder aufzumachen. Bei allem Verständnis für Differenzierungsnotwendigkeiten der Opposition: Ich bitte
Sie, anzuerkennen, dass gerade in der Finanzierungsfrage
- das betrifft gar nicht so sehr die absolute Höhe, sondern
die Verteilung der Finanzen - eines der großen Probleme
liegt.
({3})
- Nicht, was die Agenda 2000 betrifft. Wir sind vielmehr
gut beraten, den in diesem Zusammenhang bereits gemachten Abschluss in der entsprechenden Größenordnung mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Wenn wir
das nicht tun und über die Agenda 2000 wieder neu verhandelt wird, wird eine Büchse der Pandora geöffnet, die
nicht nur dem Finanzminister die letzten Haare rauben
wird. Ich weiß wirklich nicht, wie wir in diesem Falle zu
einer entsprechenden Vereinbarung kommen würden.
Meine Damen und Herren, der 11. September 2001 hat
natürlich auch für Europa eine entscheidende Bedeutung.
Diese furchtbare Tragödie und die damit verbundene Herausforderung macht aber - darüber möchte ich heute
hauptsächlich sprechen - die Schwächen des europäischen Projekts schlaglichtartig klar. In dieser existenziellen Krise, in der es im wahrsten Sinne des Wortes um elementare Herausforderungen geht, in der sich die
Menschen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern
überall, im Zusammenhang mit den derzeit bestehenden
Anthraxgefahren und der Umfunktionierung von zivilen
Luftverkehrsmaschinen in fliegende Bomben durch einen
mörderischen Terrorismus plötzlich wieder an der Handlungsfähigkeit der Regierungen bzw. der Exekutive orientieren, stellt sich die Frage nach der Handlungsfähigkeit Europas, und zwar im Guten oder im Schlechten,
ganz besonders.
Da wir heute eine Debatte über Europa führen, sollten
wir insofern eine sorgfältige und, wie ich finde, auch ehrliche Analyse vornehmen, die ein Stück weit, Herr Kollege Haussmann, von den allseits geteilten, sonntagsredlichen Positionen Abschied nehmen muss, weil uns das in
der gegenwärtigen Situation zurückwerfen und nicht voranbringen würde. Mit großer Sorge beobachte ich, ob
sich Europa, was die Reaktion auf die terroristische Herausforderung angeht, sowohl in der Innen- als auch in der
Außenpolitik bewährt. Im Hinblick auf die Innenpolitik
ist völlig klar: Die Innenminister werden nicht warten
können, bis im europäischen Konzert irgendetwas geschieht. Wirksame Maßnahmen müssen vielmehr möglichst zeitnah getroffen werden. Das heißt, entweder wird
Europa die Kraft haben, diese Beschlüsse zu fassen, oder
es wird, objektiv bedingt, in der gegenwärtigen Krisensituation die nationale Ebene handeln müssen. Die Konsequenz daraus wäre, ohne dass man es will, ohne dass man
es politisch beabsichtigt, faktisch zumindest ein Stillstand
im Bereich der dritten Säule, im Bereich dessen, was in
Tampere verabschiedet wurde.
Aber dasselbe gilt natürlich auch für die Außen- und
Sicherheitspolitik; der Bundeskanzler hat es zu Recht
angesprochen. Die Frage ist: Ist Europa so weit oder gibt
es eine Möglichkeit, Europa hier sichtbarer zu positionieren? Gott sei Dank gibt es auf diesem Feld eine enge Koordination und Kooperation. Der Bundeskanzler hatte
verlangt, dass schon in der ersten Woche nach den Anschlägen ein Sonderrat stattfinden sollte, bevor die Vertreter der einzelnen Staaten nach Washington reisten. Der
Sonderrat auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs
hat dann stattgefunden. Es hat eine beeindruckende Erklärung gegeben. Es gibt eine gemeinsame Positionierung
aller europäischen Mitgliedstaaten, ob sie nun der NATO
angehören oder nicht der NATO angehören. Hier hat die
Europäische Union an einer wichtigen, an einer historischen Weichenstellung meines Erachtens entsprechend
reagiert.
Wir würden uns wünschen, dass es in dieser Richtung
weitergeht, dass zum Beispiel auch in der Frage der NachTaliban-Lösung für Afghanistan die Europäische Union
- und eben nicht nur die Mitgliedstaaten - eine sichtbare
Rolle spielt. Das ist von überragender Bedeutung. Die Europäische Union hat Stärken im humanitären Bereich und
im Bereich des wirtschaftlichen Aufbaus. Die Europäische Union hat aber mittlerweile auch Stärken in der
Konfliktmoderation. Das ist ebenfalls ein wesentlicher
Gesichtspunkt. Javier Solana hat einer gemeinsamen, koordinierten europäischen Sicherheits- und Außenpolitik
Gesicht gegeben.
Selbstverständlich werden wir im Zusammenhang mit
der GASP und im Zusammenhang mit der europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Dinge voranbringen müssen, die bereits vereinbart sind und die Sicherheitspolitik, die sicherheitspolitischen Strukturen entsprechend bestimmen. Die Bundesregierung wird hier
immer eine sozusagen parallele Politik verfolgen, nämlich einerseits unseren nationalen Beitrag einbringen - in
der Frage der politischen Lösung, in der Frage der militärischen Solidarität, in der Frage der humanitären Initiativen - und andererseits nicht müde werden, auch die
europäische Sichtbarkeit zu stärken und ein Mehr an gemeinsamer europäischer Außen- und Sicherheitspolitik zu
erreichen.
({4})
Meine Damen und Herren, im Nahen Osten stehen wir
bedauerlicherweise wieder vor einer sehr, sehr ernsten Situation. Dennoch kann man gerade an dieser Region klar
machen, wie sich die gemeinsame Außenpolitik in der Europäischen Union entwickelt hat. Javier Solana - ich erwähne ihn hier zum zweiten Mal - wurde in die MitchellKommission entsandt. Er hat durch seine Arbeit dort, aber
auch durch seine Tätigkeit hinterher klargemacht, dass die
Europäer im Nahost-Friedensprozess nicht nur eine
Randrolle spielen, wenn es um die ökonomischen Fragen,
wenn es um das Bezahlen geht, sondern dass Europa dort
in der Tat politische Interessen hat und dass Europa
- nicht als Alternative zu den USA, sondern in Kooperation mit und in Ergänzung zu den Vereinigten Staaten von
Amerika - eine ganz entscheidende Rolle spielen kann.
Genau an dieser Stelle haben auch wir unsere nationalen Beiträge anzusiedeln. Das wollen wir auch in Zukunft
so machen. Wir sehen all das, was wir tun, nicht als Alternative, nicht als ein Stück Renationalisierung deutscher
Außenpolitik, sondern als einen deutschen Beitrag zu europäischer Politik. Wir wünschen uns hier auch eine stärkere institutionelle Ausformung der europäischen gemeinsamen Außenpolitik für die Zukunft, wobei das alles
andere als einfach werden wird.
Es gibt wichtige Partner, die dazu eine distanziertere
und völlig andere Haltung haben. Aber, meine Damen und
Herren, ich bin der festen Überzeugung: Wenn die
Europäer getrennt bleiben, werden selbst die größten
Mitgliedstaaten - von den mittleren und kleineren spreche
ich dann gar nicht - in der Welt des 21. Jahrhunderts nicht
Gestaltungsfaktor sein, sondern wir werden uns dann lediglich an Positionen anschließen dürfen, die andere formulieren. Das kann weder in unserem noch im europäischen Interesse sein.
({5})
Deswegen wird es ganz entscheidend darauf ankommen,
dass wir in diesem Bereich vorankommen, auch wenn wir
über längere Zeit noch eine parallele Entwicklung brauchen und verfolgen werden.
Ich sehe, dass die Herausforderungen, die auf Europa
zukommen, in der Tat zunehmen. Der Nahe Osten ist erwähnt worden. Aber auch der Balkan ist eine Region, um
die sich Europa kümmern muss. Herr Kollege Merz, ich
halte nichts davon, Europa mit Aufgaben zu überfrachten,
indem man die Gebiete nennt, wo es noch tätig werden
könnte. Hier werden Sie sehr schnell auf eine lange Liste
kommen. Wir müssen vielmehr von dem Punkt ausgehen,
wo Europa heute tätig ist, und dann überlegen, was die
nächsten machbaren Schritte sind. Das ist der entscheidende Punkt.
({6})
- Wenn wir uns darin einig sind, dann ist es gut. Manchmal trägt eine Diskussion zur Klärung der Standpunkte
und zur Beseitigung von Missverständnissen bei. Auch
der südliche Kaukasus beispielsweise ist uns regional sehr
nah.
Aber ich möchte noch hinzufügen - das frage ich diejenigen, die die Balkanintervention nicht nur kritisch begleitet, sondern mit teilweise fragwürdigen Argumenten
abgelehnt haben -: Wo stünden wir heute, wenn Herr
Milosevic weiterhin in Belgrad an der Macht wäre?
({7})
Wo stünden wir heute angesichts von Hunderttausenden
vertriebenen albanischen Muslimen in Lagern außerhalb
des Kosovo? Wo stünden wir heute, wenn diese Krise
nach Zentraleuropa getragen worden wäre?
({8})
- Das hat überhaupt nichts mit einer Parteitagsrede zu tun,
sondern ist eine Überlegung zur Formulierung europäischer Interessen. Wenn es einen zwingenden Grund zur
Intervention gegeben hat, dann war es neben den
humanitären Gründen der Gedanke, dass sich der Balkan
nicht zu einem Teil dieses Krisengürtels entwickeln
durfte. Ansonsten hätten wir diese Krise in Europa vor unserer Haustür gehabt. Das muss doch heute jeder, der Augen für die politische Lage hat, schlicht und einfach anerkennen.
({9})
Deswegen ist es so wichtig, dass die Europäer und die
Bundesrepublik Deutschland als Teil Europas ihr Engagement auf dem Balkan fortführen. Das muss langfristig
und dauerhaft geschehen. Ich hoffe, dass die militärische
Komponente mit dem Fortgang der politischen Stabilisierung und der ökonomischen Entwicklung mehr und mehr
zugunsten des politischen und ökonomischen Engagements abnehmen wird. Davon können Sie ausgehen. Dennoch muss dieses Engagement langfristig sein.
Diese Region zu europäisieren, das heißt an das Europa
der Integration heranzuführen, entspricht genau dem, was
der Bundeskanzler mit der Qualifizierung der europäischen Integration als größtes friedenspolitisches Projekt
in seiner Regierungserklärung festgestellt hat. Das gilt sowohl für die Vergangenheit als auch für die aktive Heranführung der westlichen Balkanregion an das Europa der
Integration für die Gegenwart und die Zukunft.
Selbstverständlich wird Europa auch bei einer Lösung
des Problems für das Land und die Bevölkerung Afghanistans eine Rolle spielen müssen. Auch hier gibt es gegenwärtig zwar in der öffentlichen Debatte eine Verengung auf das Militärische - die ich verstehe -, aber ist der
Kern eigentlich politisch. Das Problem wurde durch die
Invasion der Sowjetunion, aber letztendlich durch das
Sich-selbst-Überlassen nach dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst. Es ist doch zuerst und vor allem die afghanische Bevölkerung, die zunächst über zehn Jahre unter
der Invasion der Sowjetunion, der Roten Armee, zu leiden
hatte.
({10})
- Dass Sie neuerdings bei diesem Thema keine Differenz
haben, freut mich. Ich kann mich an andere Zeiten erinnern.
({11})
Nach der Invasion war das Land durch die Kriegsherren zerrissen - etwas, das wir bei einer politischen Lösung
verhindern müssen - und am Ende stand der Siegeszug
der Taliban. All das hat dazu geführt, dass wir seit langem
eine anhaltende humanitäre Katastrophe in diesem Land
haben. Das wissen diejenigen, die sich damit beschäftigen, sehr gut. Aber die breite Öffentlichkeit hat dies bisher nicht wahrgenommen.
Übrigens gilt dies auch für andere humanitäre Katastrophen auf diesem Globus. Ich nenne als Beispiel Algerien und andere Staaten Afrikas. So lange ein Konflikt
lokal bleibt, wird er von der breiten Öffentlichkeit
- Stichwort: CNN-Effekt - nicht wahrgenommen. Deswegen weise ich auf diesen Punkt hin. Die politische Lösung muss von innen kommen.
({12})
Es wird keine tragbare Lösung in Afghanistan geben,
wenn sie von außen aufgestülpt wird. Insofern ist sich die
internationale Staatengemeinschaft einig, dass alle Möglichkeiten zur Schaffung einer neuen Legitimität geprüft
werden sollen, etwa durch den Rückgriff auf den König,
der bereit wäre, eine Übergangsrolle zu spielen.
Es ist eine Option, die, wie andere Optionen auch, sorgfältig zu prüfen ist. Die Erneuerung muss von innen kommen, es muss eine neue Legitimität durch eine große
Stammesversammlung geschaffen werden, sobald die
Voraussetzungen dazu gegeben sind. Am Ende muss eine
legitime Regierung stehen, die dem Land und den Menschen eine humanitäre Perspektive gibt und gleichzeitig
dem Terrorismus keine weitere Unterstützung mehr angedeihen lässt.
({13})
Von dieser Grundlage muss ausgegangen werden.
Das Ganze wird allerdings nur funktionieren, wenn es
in die Zustimmung der regionalen Nachbarn eingebettet
ist, die Zustimmung der internationalen Staatengemeinschaft findet und - ({14})
- Sie müssen mir einmal sagen, wie Sie die Taliban, die
für diese lang anhaltende humanitäre Katastrophe und die
Unterstützung des Terrorismus verantwortlich sind, wegbekommen wollen, ohne ihnen wirklich entgegenzutreten.
({15})
Es ist doch nicht so, dass sich irgendjemand - etwa die Regierung der Vereinigten Staaten - in den vergangenen Jahren nach einer militärischen Konfrontation gedrängt hätte.
Nicht die USA haben die Taliban angegriffen, sondern es
wurde New York City angegriffen und über 6 000 amerikanische Staatsbürger haben durch diesen Terroranschlag
ihr Leben verloren.
({16})
Nicht die Amerikaner, sondern andere haben den Konflikt
begonnen.
Wenn Sie die Argumente ernst nehmen - Sie müssen
sie nicht teilen -, müssen Sie eines akzeptieren: Keiner
von uns - angefangen von Präsident Bush über den Bundeskanzler bis hin zu den Kollegen hier, die diese Politik
unterstützen - hat sich nach diesem Konflikt gedrängt. Insofern müssen Sie schon die Frage beantworten, wie Sie
- dies ist mehr als Innenpolitik - anders als durch gutes
Zureden die Dinge so verändern wollen, dass diese über
zehn Jahre dauernde humanitäre Katastrophe und die Unterstützung des Terrorismus endlich beendet werden können. An diesem Maßstab müssen wir uns messen lassen.
({17})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen: All
das wird nur funktionieren, wenn die Vereinten Nationen
dabei eine wichtige - ich behaupte sogar: eine zentrale unterstützende Funktion haben werden. Auch hieran sehen Sie, dass diese Tragödie Chancen eröffnet, und zwar
Chancen für Europa, aber auch für eine neue multilaterale
Politik durch das Reengagement der USA. Chancen bestehen vor allen Dingen auch für die Vereinten Nationen.
Ich behaupte, dass im Zuge dieser Entwicklung auch die
Reformdebatte der Vereinten Nationen eine neue Chance
bekommen wird, diesmal zu einer substanziellen Reformdebatte zu werden.
({18})
Meine Damen und Herren, vor diesen Herausforderungen stehen wir als Deutsche in Europa, weil Europa
vor diesen Herausforderungen steht. Wenn es gelingt, in
Laeken die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die notwendigen institutionellen Fortschritte erzielen zu können,
um Europa in der Welt des 21. Jahrhunderts handlungsfähiger zu machen, liegt das in unser aller Interesse.
({19})
Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundeskanzler Schröder hat
das heute zu beratende Vertragswerk nach unserer Meinung zu Recht zu dem hier in der vergangenen Woche von
ihm und dem Bundesaußenminister begründeten und verkündeten Ansatz einer grundsätzlichen Neuorientierung
der deutschen Außenpolitik in Bezug gesetzt.
Wir widersprechen nicht der Auffassung, die Etappe
der deutschen Nachkriegspolitik sei unwiederbringlich
vorbei und Deutschland sei infolge der vollzogenen staatlichen Einigung in eine neue internationale Rolle hineingewachsen. Allerdings sagen wir: In einer solchen Situation gibt es verschiedene Möglichkeiten, die neue
Verantwortung anzunehmen. Mir wird oft entgegengehalten, die Politik sei alternativlos. Ich sage Ihnen: Politik ist
immer Menschenwerk und deshalb nie alternativlos. Es
geht auch immer anders.
({0})
Herr Bundeskanzler, Sie haben an verschiedenen Stellen wiederholt, dass es in dieser neuen Außenpolitik auch
militärische Optionen geben müsse, und zugleich betont, dass diese keinen Vorrang haben dürften. Ich finde,
Ihr aktuelles Handeln spricht eine andere Sprache. Im
Herangehen an den Kampf gegen den Terrorismus ist es
ja genau das Militärische, dem Sie den absoluten Vorrang
einräumen. Andere Optionen der Problemlösung bleiben
zurück. Deshalb sagen wir Ihnen an dieser Stelle noch einmal und mit der notwendigen Klarheit: Wir sind gegen
den Krieg in Afghanistan, weil sich viele unserer Befürchtungen leider bewahrheitet haben. Unschuldige leiden unter den Bomben; Flüchtlinge verhungern; das auch
von der Bundesrepublik unterstützte Minenräumprogramm musste wegen der Bombardierungen abgebrochen
werden. Wir müssen an dieser Stelle deutlich sagen und
wiederholen: Der Kampf gegen den Terrorismus ist zu gewinnen, ein Krieg jedoch nie.
({1})
Da Sie, Herr Bundeskanzler, ausdrücklich und eindeutig Ja zu dem Krieg in Afghanistan gesagt haben, erwartet nun die Öffentlichkeit von Ihnen - ich denke: zu
Recht -, dass Sie Klarheit im Hinblick auf eine eventuelle
deutsche Beteiligung schaffen. Sie sind in diesem Zusammenhang nicht zuletzt deshalb zu Klarheit und Wahrheit verpflichtet, weil die Soldaten und ihre Angehörigen
ein Recht darauf haben. Ich denke, Sie müssen in diesem
Sinne auch Spekulationen aller Art entgegentreten, beispielsweise solchen, die Kollege Glos in diesen Tagen in
die Öffentlichkeit getragen hat. Eines muss ich dazu noch
erwähnen, Herr Bundeskanzler - es ist eine gewisse Pikanterie -: Solange die PDS noch bei den Unterrichtungen dabei war, haben alle dichtgehalten. Jetzt ist es anders. Das ist schon eine pikante Sache.
({2})
Das belegt: Der wirkliche Grund für unseren Ausschluss
von den Unterrichtungen besteht nur darin, dass Sie in einer - das gebe ich zu - wichtigen Frage eine andere Meinung nicht ertragen können. Das ist so nicht hinzunehmen.
({3})
In der Dominanz der Logik des Militärischen liegt auch
das Problem, das wir für den europäischen Einigungsprozess sehen; denn indem Sie, Herr Bundeskanzler - ich
glaube, hier liegt die Crux -, die neue außenpolitische
Rolle aus dem NATO-Beistandsfall ableiten, definieren
Sie das Neue über das militärisch Neue. Das ist in der
Regel, wie wir finden, ein Zeichen für einen Mangel an
Visionen und Politik. Wenn wir von einer Zäsur, von einer inhaltlichen Neubestimmung der Europa- und Außenpolitik, sprechen, dann geht es immer um die Substanz,
die Richtung und die beabsichtigte Wirkung der Politik.
Hier sind wir im Unterschied zur Bundesregierung der
Meinung, dass die Europa- und Außenpolitik sehr viel
mehr in ökonomischen und kulturellen Dimensionen gestaltet werden muss. Deutschland kann seiner gewachsenen internationalen Verantwortung und seinen eigenen
staatlichen Interessen besser entsprechen, wenn es nicht
auf die militärische Logik setzt. Deshalb haben wir die
Anstrengungen des Bundesaußenministers für Friedenslösungen im Nahen Osten ausdrücklich unterstützt. Sie
finden unsere Zustimmung.
({4})
Solche politisch-diplomatischen Schwerpunktsetzungen wollen wir aber auch in Europa. Die OSZE war willkommen als Instrument zur Überwindung der Blockkonfrontation. Seitdem wird ihre Bedeutung permanent
zurückgenommen. Wer in der Öffentlichkeit kennt denn
heute überhaupt noch die OSZE? Wer im Saal kann mir
wichtige handelnde Personen der OSZE nennen? Sie werden merken, dass hier ein Problem liegt. Aber die OSZE
wäre genau das Gremium, das die neue Architektur für
Europa umreißen könnte.
Für Deutschland steht heute auf der Tagesordnung, das
Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes in Europa einzubringen, sich für eine tragfähige Sozialunion einzusetzen,
so wie es auch der französische Premier vorgeschlagen
hat.
({5})
Wir wollen, dass die Gleichstellung von Männern und
Frauen auf bestem europäischem Niveau durchgesetzt
wird und nicht etwa nach einem - verzeihen Sie den Ausdruck - südeuropäischen Machogebot. Wir finden außerdem, dass Deutschland für den Prozess der kulturellen
Annäherung in Europa viel mehr tun könnte. Wenn man
die Fremdsprachkenntnisse in unserem Land als Beispiel
nimmt, dann müsste man fast sagen: Deutschland ist kulturell nicht reif für den europäischen Prozess.
Die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten
in die EU verläuft noch immer nach dem bekannten Prinzip: Der Westen hat das Geld, also bestimmt er über die
Einbeziehung. Genau darin liegt das Problem, im Übrigen
auch das Problem der ungelösten inneren Einheit. Wer
einbeziehen sagt, der meint: Wir bestimmen die Regeln;
wer sich daran hält, darf mitmachen. Diesen Geist des
Nizza-Vertrages tragen wir nicht mit.
({6})
Meine Damen und Herren, Europa wäre für die ganze
Welt attraktiver, wenn es vorleben könnte, dass die Blockkonfrontation durch ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Ost und West überwunden ist; dass es im Angesicht der Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus dem Schutzbedürfnis der Menschen gerecht
geworden ist und die offene Gesellschaft bewahrt hat;
dass es sich beispielhaft dafür einsetzt, in den armen Ländern für Wasser, Brot und Bildung zu sorgen; dass es eine
internationale und multiethnische kulturelle Entspannungspolitik auf den Weg gebracht hat; dass es innerhalb
seiner vereinten Staaten die Versprechen der Regierenden,
zum Beispiel zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, zur
Angleichung der Lebensverhältnisse und zur Senkung der
Verschuldung, auch einlöst; dass es den religiös motivierten Bürgerkrieg in Nordirland durch vereinte Anstrengungen friedlich beendet hat; dass es auf den NATO-Partner
Türkei friedensstiftend Einfluss nimmt und so das kurdische Problem auf gerechte Weise löst. Das alles ist nicht
unmöglich. Es geht jedoch nicht, wenn dem Rückzug des
Staates aus Kernbereichen seiner Verantwortung das Wort
geredet wird oder weiter die Liberalisierung des Welthandels gefordert wird, wie es noch im Schröder/BlairPapier heißt.
Das strategische Dilemma der europäischen Sozialdemokratie scheint mir darin zu liegen, dass sie für die entscheidenden europäischen Transformationsprozesse in
die Verantwortung genommen ist, auf dem Weg, auf den
sie sich jetzt begeben hat, aber zugleich ihre eigene Abwahl vorbereitet. Da ist es gut zu wissen, dass es noch immer eine gestärkte demokratisch-sozialistische Linke in
Deutschland und Europa gibt.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In welch rasantem
Tempo bewegt sich doch Europa! Wir diskutieren heute
über die Ratifizierung. Gestern hat das britische Unterhaus den Ratifizierungsprozess abgeschlossen. Bei uns
steht das heute an. Gleichzeitig werden schon wichtige
Weichenstellungen für die Zukunft Europas vorgenommen.
Zum Nizza-Vertrag gibt es viel Kritik, nicht nur bei der
FDP, sondern auch bei uns, vor allem bei den Europapolitikerinnen und Europapolitikern. Bei aller Kritik sollten
wir gleichwohl einen wesentlichen Aspekt nicht vergessen: Dieser Nizza-Vertrag macht die Erweiterung der Europäischen Union endlich möglich. Er ist eine wesentliche
Grundlage für die nächsten Jahre der Beitrittsverhandlungen. Ohne den Nizza-Vertrag könnten die Beitritte nicht
so schnell erfolgen, wie wir alle im Deutschen Bundestag
uns das wünschen.
({0})
Natürlich dürfen wir in unserer heutigen Debatte nicht
versäumen, über den 11. September zu sprechen; meine
Vorrednerinnen und Vorredner haben das auch schon
getan. Der 11. September ist für uns Europäerinnen und
Europäer deshalb von so herausragender Bedeutung, weil
wir mit neuen zentralen Aufgaben konfrontiert werden.
Bei uns in Deutschland gibt es eine ernsthafte und auch
notwendige Debatte darüber, ob wir uns und, wenn ja, in
welchem Umfang militärisch beteiligen und damit den
Vereinigten Staaten und dem Bündnis gegen den internationalen Terrorismus zur Seite stehen. Ich begrüße diese
Debatte. Wir dürfen aber nicht vergessen - ich finde es
schade, dass das ein wenig in den Hintergrund gerät -,
dass wir als Bundesrepublik Deutschland im Kampf gegen den internationalen Terrorismus doch schon längst
aktiv sind.
Ich hatte vor wenigen Wochen Gelegenheit, in den Vereinigten Staaten Gespräche zu führen. Ich war überrascht
davon, wie positiv das bundesdeutsche Engagement gewürdigt wird. Meine Kolleginnen und Kollegen im Kongress haben anerkennend darauf hingewiesen, dass die
Zusammenarbeit der Nachrichtendienste der Bundesrepublik Deutschland und der Vereinigten Staaten hervorragend funktioniert. Die deutsch-britische Initiative, den
Finanzsumpf, aus dem sich alle diese Terrororganisationen, nicht nur al-Qaida, finanzieren, endlich trockenzulegen, ist begrüßt worden. Das sind alles wichtige Beiträge
unseres Landes.
Wir führen eine ernsthafte Debatte darüber, wie wir die
Entwicklungszusammenarbeit auf neue Füße stellen.
Auch das ist ein Punkt, bei dem wir endlich anerkennen
müssen: Wir werden mit nationalen Strategien allein diesen Kampf nicht erfolgreich werden führen können. Es
stellt sich die Frage, inwieweit wir Europa einbinden müssen. Dabei müssen unsere nationalen Interessen zum Teil
hintenanstehen.
Ich gehe auch davon aus, dass sich die Vereinigten
Staaten mittelfristig zwar nicht aus Europa zurückziehen
werden. Sie werden sich aber aus Ermangelung an Alternativen auf den asiatischen Bereich konzentrieren müssen. Sie werden sich auf die Stabilisierung von Entwicklungsländern konzentrieren müssen, die noch keine intakte Demokratie haben, die noch nicht über intakte
rechtsstaatliche Strukturen verfügen. Deshalb wird es die
Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland sein, dafür zu
sorgen, dass nicht nur die Teilung Europas zwischen Ost
und West überwunden wird, sondern dass auch der große
Versöhnungsauftrag in Südosteuropa erfolgreich auf den
Weg gebracht wird.
({1})
Wir leisten dabei Erhebliches, nicht nur als Lead Nation jetzt bei der Mazedonienaktion. Wir leisten Erhebliches in der Krisenprävention. Wir leisten auch Erhebliches bei der Aufgabe, die unterschiedlichen ethnischen
und religiösen Gruppen zusammenzuführen. Das ist der
Lackmustest für Europa. Wenn wir diese Aufgabe im Balkan erfolgreich meistern und zur Befriedung und Versöhnung beitragen, dann ist das auch ein Zeichen für die Europäische Union: Deutschland kann und muss im
internationalen Rahmen mehr Verantwortung übernehmen.
Heute Morgen waren dankenswerterweise auch einige
Ländervertreter anwesend,
({2})
jetzt sind sie leider nicht mehr da. Ich halte deren Anwesenheit auch für notwendig, weil in Gent - der Bundeskanzler hat das angemerkt - über die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen politischen Ebenen
gesprochen wird.
Es ist eine spannende Diskussion. Wir alle verbinden
etwas mit den Begriffen Kompetenzenkatalog, Kompetenzabgrenzung. Dieses Thema ist schon für die politische Agenda der Zukunftsdebatte festgelegt worden.
Wir haben aber nicht die Frage erörtert, was dies für uns
bedeutet. Wenn wir über Kompetenzabgrenzung sprechen - vor allem einige Länder -, dann verstehen wir darunter immer das Instrumentarium gegen den Moloch
Brüssel, der alle möglichen Kompetenzen an sich gesaugt, der Länder, aber auch die Nationalstaaten
schwächer gemacht hat.
Gegenwärtig führen wir eine ganz andere Diskussion.
Wir führen eine Diskussion darüber, mit welchen Instrumentarien wir die EU im Bereich der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, im Bereich der Verteidigungspolitik oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit neu auszustatten haben. Das sind alles Aufgaben, die dazu führen werden, dass die Instrumentarien von
den Nationalstaaten auf die europäische Ebene verlagert
werden. Das geschieht nicht, weil wir das nur toll finden,
sondern weil es alternativlos ist. Die Nationalstaaten müssen enger zusammenrücken, um den Aufgaben gerecht zu
werden, über die wir heute schon häufig diskutiert haben.
({3})
In der Bundesrepublik Deutschland führen wir diese
Debatte über die Kompetenzabgrenzung gerade in eine
andere Richtung, als sei sie ein Schutzmechanismus gegen Europa. Wir müssen die Debatte in eine andere Richtung führen, nämlich in Richtung eines partnerschaftlichen Verhältnisses zur Europäischen Union.
Die Agenda der Zukunftsdebatte nimmt Kontur an. Der
Bundeskanzler hat schon einige Aspekte angesprochen,
die über das hinausgehen, was in Nizza vereinbart wurde,
eben auch auf Initiative der Bundesregierung. Wenn wir
neue Handlungsoptionen für die Europäische Union wünschen und diese einfordern, weil es keine Alternative dazu
gibt, wenn wir erfolgreich sein wollen, dann müssen wir
ernsthafter darüber nachdenken, wie die Institutionen in
Europa handlungsfähiger gemacht werden können.
Handlungsfähigkeit erwächst auch aus dem, was wir
den Organen und Institutionen, vor allem dem Institutionendreieck Gerichtshof, Kommission und Parlament,
zutrauen. Diesbezüglich müssen wir noch eine ganze
Menge auf den Weg zu bringen. Es ist eine große Erwartung, dass das Institutionendreieck neu austariert wird.
Denn mehr Kompetenzen für die EU sind für uns nur akzeptabel sein, wenn auch mehr Demokratie in die europäische Ebene Einzug hält.
({4})
Im Zusammenhang mit der Agenda der Zukunftsdebatte möchte ich einen anderen Punkt erwähnen, der heute
leider ein wenig zu kurz gekommen ist: Ich habe in den
letzten Monaten häufig versucht, mit jüngeren Leuten,
mit Schulklassen, mit Jugendgruppen, zu sprechen und
dabei war - ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Kolleginnen und Kollegen - die Globalisierung immer wieder ein entscheidendes Thema.
({5})
Wenn es um dieses Thema geht, dann äußern junge Leute
ihre Angst. Um darauf zu reagieren, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir sagen: Das interessiert uns
nicht, zur Globalisierung gibt es keine Alternative, Globalisierung ist ein Faktum, mit dem wir uns abzufinden
haben,
({6})
oder wir versuchen, mit den Kritikern und Bedenkenträgern in einen Dialog einzutreten.
Ich erwähne das Thema Globalisierung vor allem im
europäischen Kontext. Wenn mir junge Leute sagen: Na
ja, die Europäische Union ist genauso der Büttel der Globalisierung wie die Staaten auch, dann besorgt mich das
schon. Wir engagieren uns doch vor allem deswegen in
der Europäischen Union, weil wir die europäische Integration als die Antwort auf die Globalisierung sehen.
({7})
Wir stehen natürlich auf der Seite derjenigen, die kritische
Fragen haben, zum Beispiel: Wie kann man in einer offenen Weltwirtschaft, in der in Bruchteilen von Sekunden
Billionenbeträge um die Welt fließen, soziale Standards,
ökologische Standards, Standards in der Entwicklungszusammenarbeit zimmern, sodass die Menschen dabei nicht
auf der Strecke bleiben? Wir versuchen, auf Fragen wie
diese eine Antwort zu geben. Ich möchte nicht, dass junge
Leute irgendwann auf die Straße gehen, um gegen Europa, gegen die Europäische Union und gegen unsere Integrationsidee zu demonstrieren. Vielmehr müssten diejenigen, die der Globalisierung kritisch gegenüberstehen,
Freundinnen und Freunde der europäischen Idee und des
europäischen Gedankens werden.
({8})
Dafür gemeinsam zu kämpfen, wäre eine lohnende Aufgabe.
({9})
Die Europapolitikerinnen und Europapolitiker haben
sich in den vergangenen Monaten sehr engagiert und sehr
leidenschaftlich um die Parlamentarisierung des verfassunggebenden Prozesses bemüht. Dabei war das Thema
Konvent oder, wie der Kollege Gloser sagte, die
K-Frage ein wichtiger Bestandteil. Die vergangenen
Wochen haben manche notwendige Frage aufgeworfen.
Wir sollten die heutige Debatte ruhig einmal zum Anlass
nehmen, uns wirklich darüber zu freuen, dass wir bei der
Konventsidee so weit gekommen sind.
Diejenigen von uns, die mit Kolleginnen und Kollegen
aus anderen Mitgliedstaaten gesprochen haben, vor allem
mit den Briten, werden noch vor einem halben Jahr oder
vor einem Dreivierteljahr wahrscheinlich gesagt haben:
Na ja, das kann irgendwie nicht funktionieren; die Briten
sind total dagegen und debattieren darüber völlig leidenschaftslos. Dass wir jetzt so weit sind, ist sicherlich auch
ein Ergebnis des partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. Dafür
möchte ich allen Beteiligten einmal ganz herzlich danken!
Einige Fragen sind noch zu klären. Manche haben beispielsweise die Frage aufgeworfen, wie die Beitrittsländer
beteiligt werden. Es ist ein toller Erfolg, wenn die Beitrittsländer ebenso wie die jetzigen Mitgliedstaaten beteiligt werden. Wenn die entsprechenden Länder die jeweiligen Verträge unterzeichnet haben und der EU
beigetreten sind, dann werden sie, auch was das Stimmrecht angeht, gleichberechtigt sein.
Es gibt eine Debatte über die Dauer des Konvents. In
der britischen Debatte wurde immer von firewall, also
von einem möglichst großen Abstand zwischen der Arbeit
des Konvents und der Aufnahme der Tätigkeit der Regierungskonferenz, gesprochen. All das ist kein Thema mehr.
Wenn sich das durchsetzt, was die belgische Präsidentschaft vorgeschlagen hat, dass nämlich darüber der Konvent selbst entscheiden möge, dann wäre das ein großer
Erfolg. Wir haben ein gutes Zeichen gesetzt, wenn die kritischen Debatten über das Präsidium, also über das Moderationsgremium des Konvents, zur Folge haben, dass es
sich um ein zuvorderst parlamentarisches Gremium handelt, das sich maßgeblich aus Repräsentantinnen und ReMichael Roth ({10})
präsentanten des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente zusammensetzt.
Wir sollten den Fehler nicht machen, uns nur auf die
Debatte zwischen den deutschen Europapolitikerinnen
und Europapolitikern zu konzentrieren; vielmehr müssen
wir auch auf die Debatte in anderen Mitgliedstaaten
schauen und daraus Konsequenzen ziehen.
Wir sollten auch einen zweiten Fehler nicht machen:
Es ist gegenwärtig sehr einfach und billig - ich verspüre
das bei den Kolleginnen und Kollegen der Opposition -,
die Bundesregierung anzuklagen, weil sie sich nicht engagiert für etwas einsetzt, wofür wir doch eigentlich alle
sind. Einer solchen Strategie stehe ich mit sehr großen
Vorbehalten gegenüber. Die eigentliche Aufgabe des
Konvents wird nämlich von uns, den Parlamentarierinnen
und Parlamentariern, bewältigt werden müssen. Es reicht
nicht aus, wenn wir die Debatte über die Parlamentarisierung des verfassungsgebenden Prozesses ausschließlich
und alleine den Europapolitikern der Fraktionen überlassen. Diese Aufgabe muss gemeinsam von allen Fraktionen, von allen Kolleginnen und Kollegen geschultert werden. Von einem Erfolg des Konvents haben wir alle etwas:
starke handlungsfähige Parlamente, engere Zusammenarbeit, mehr Demokratie, hoffentlich auch mehr Transparenz in Europa. Das nutzt allen. Hoffentlich vermag Gent
dazu einige wichtige Beiträge zu leisten.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! In diesen kritischen
Zeiten können wir feststellen: Es ist ein Glück, dass wir
die Europäische Union haben.
({0})
- Jetzt kommt es erst, Herr Haussmann. - Angesichts der
mageren Ergebnisse von Nizza müssen wir allerdings
auch feststellen, dass es ein Pech ist, dass für die Vorbereitung der Regierungskonferenz zu diesem Vertrag die
rot-grüne Regierung verantwortlich war.
({1})
Ich halte es für kühn, dass unser jetzt abwesender Bundeskanzler Schröder heute Morgen hier an dieser Stelle
wichtige europäische Staatsmänner zitierte, die vor einem
Stillstand warnen. Lateinisch könnte man das fast als eine
Contradictio in adjecto bezeichnen. Wer nämlich einen
Blick in den Vertrag von Nizza wirft, stellt auch bei liebevollster Würdigung fest, dass wir einem Stillstand sehr
nahe gekommen sind.
({2})
Der Versuch des Außenministers, den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU auf der Basis der Agenda 2000 anzugreifen, ist wohl nur mit dem Motto Angriff ist die beste Verteidigung zu erklären.
({3})
Alle Experten wissen, dass die Agenda 2000 einen kläglichen Kompromiss auf kleinstem Nenner, geprägt von
Visionslosigkeit darstellt, der aufgrund von Erschöpfung
hier in Berlin geboren wurde. Sie geht einfach davon aus,
dass die von allen Parteien im Hause geforderte und gewünschte Osterweiterung möglichst nicht während der
Laufzeit dieser Agenda stattfindet, da sie diese Erweiterung nicht tragen könnte. Das ist die Wahrheit bei diesem
Thema, meine Damen und Herren.
({4})
Warum kommt unsere Regierung in Europa so schlecht
voran?
({5})
Es fehlt an politischen Köpfen, es fehlt an visionärer Kraft
und es fehlt an dem, was Europa im Kern immer vorangebracht hat, nämlich ein gutes deutsch-französisches
Verhältnis.
({6})
Vor Berlin und vor Nizza wurde zu seiner Verbesserung
recht wenig getan.
({7})
Deswegen muss das Parlament die Sache selbst in die
Hand nehmen. Der Europa-Ausschuss unter Vorsitz von
Friedbert Pflüger hat die Initiative ergriffen und ein Treffen mit der Assemblée Nationale arrangiert. Die Frage des
Verfassungsvertrages überlassen wir nicht mehr Regierungskonferenzen, bei denen, wie Nizza gezeigt hat, wenig herauskommt, obwohl sie bis zur Erschöpfung getagt
haben. Das Parlament nimmt vielmehr seine Angelegenheiten selbst in die Hand. Das wollen wir alle mittragen.
({8})
Es soll ja immer mehr Freude über einen Sünder, der
zurückkehrt, als über 99 Gerechte herrschen. Wir haben
heute vom Herrn Bundeskanzler gehört, dass er den Euro
gut findet.
({9})
Das finde ich ja gut. Darüber wollen wir uns nicht beschweren. Es war einmal anders, doch sollen keinem die
Fehler der Vergangenheit nachgetragen werden. Werfen
Sie aber einmal einen Blick in die Broschüren unserer
Bundesregierung zum Euro! Da wird der Euro - das ist
prima - als starke, stabile und zukunftsweisende Währung
kräftig gelobt; zugleich wird aber der Eindruck erweckt,
die wahren Väter, Begründer und Gestalter des Euro seien
der heute abwesende Herr Eichel und der jetzt abwesende
Michael Roth ({10})
Herr Schröder. Vom Erstgenannten weiß ich nicht, wie er
früher über den Euro gedacht hat, vom Zweiten weiß ich
es. Beide haben nichts für den Euro getan. Wenn einer etwas dafür getan hat, dann waren das Theo Waigel und
Helmut Kohl. Das muss hier heute einmal gesagt werden.
({11})
Der Bundesaußenminister hat - in Antwort auf Herrn
Kollegen Haussmann - hier gesagt, die Staaten, die als
Beitrittskandidaten gelten, hätten das Ergebnis von Nizza
begrüßt. Solch eine Äußerung ist schon hart an der Grenze
zum Zynismus. Was sollen diese Staaten denn machen?
Wir können sie für die schwachen Ergebnisse, die die
15 EU-Staaten - leider unter unserer Nichtführung ({12})
- zustande gebracht haben, doch nicht haften lassen. Natürlich freuen sich diese jungen Demokratien darüber, dass die
formale Erweiterungsfähigkeit hergestellt ist. Aber damit
einen Nachweis über die Qualität der eigenen Arbeit zu verbinden, das ist doch etwas zu viel des Selbstlobes.
({13})
Wir stimmen dem Vertrag von Nizza aus zwei Gründen zu:
Erstens. Auch wir wollen, dass der Erweiterungsprozess vorangeht, dass Europa seinen Stabilitätsraum vergrößert und dass wir die Herausforderungen dieser Welt
gemeinsam annehmen.
Zweitens. In einer letzten Erkenntnis am Schluss der
Konferenz von Nizza hatten die Staats- und Regierungschefs selber das Gefühl, dass es so nicht weitergehen
kann. Deswegen haben sie die Tür für einen Prozess zur
Erarbeitung eines Verfassungsvertrages geöffnet, wie wir
ihn schon seit vielen Jahren gefordert haben. Wir hoffen
nun, dass es in einer guten Weise zu diesem Verfassungsvertrag kommt. Daran werden wir als Parlament uns sicherlich beteiligen.
({14})
Was hier geschieht, ist von historischer Bedeutung,
auch wenn es keine große öffentliche Aufmerksamkeit erringt. Es findet ein Systemwechsel in der Europäischen
Union statt. Nach Jahren und Jahrzehnten endloser
Regierungskonferenzen mit früher guten und zum
Schluss schwachen Ergebnissen kommt es durch den Systemwechsel zu einer Parlamentisierung des europäischen Vertragsprozesses. Das ist gut und richtig.
Wir als Parlament müssen aufpassen - ich bin dem
Kollegen Roth dankbar, dass er das hier angesprochen
hat -, dass die Regierungen das, was in Nizza in Erschöpfung, aber richtig entschieden wurde, nicht durch
die Steuerung dieses Prozesses durch die Hintertür wieder
einfangen. Darauf müssen wir aufpassen.
({15})
Es ist zu lesen, meine Damen und Herren, dieser Konvent solle von einem Präsidium gesteuert werden. In ihm
sollten wieder die Regierungsvertreter die Mehrheit haben und er solle nur unverbindliche Optionen aufzeigen.
Das Ganze sieht doch danach aus, als würden einige ihre
Entscheidung von Nizza schon fast wieder bereuen. Wir
müssen aufpassen, dass dieser Konvent so konstruiert
wird, dass er für Europa einen Fortschritt bringt. Deswegen müssen wir zusehen, dass bei der Besetzung des
Konvents die politischen Kräfte fair vertreten sind. Darüber hinaus müssen wir das Instrument, das wir beim
Grundrechtekonvent genutzt haben, nämlich mitberatungsberechtigte Stellvertreter zur Verbreiterung der parlamentarischen Basis einzusetzen, auch bei diesem Konvent für die Erarbeitung des Verfassungsvertrages nutzen.
({16})
Zum Inhalt. Es gibt zwei große Kernpunkte, und zwar
zum Ersten die Kompetenzabgrenzung nach dem Subsidiaritätsprinzip und zum Zweiten eine echte Gewaltenteilung. Ich habe dem Bundeskanzler gut zugehört. Ich
freue mich, dass er einen Vorschlag von uns aufgegriffen
hat, nämlich den, die undemokratischste und langsam
nicht mehr sehr effiziente Einrichtung der Europäischen
Union, den Rat, im Rahmen dieses Verfassungsprozesses
zu reformieren. Unser Vorschlag geht dahin, klar zwischen einem Legislativrat und einem Exekutivrat zu unterscheiden. Der Legislativrat sollte als zweite Kammer
für die europäische Gesetzgebung zuständig sein, und
zwar mit einer festen Zusammensetzung und öffentlichen
Tagungen. Der Exekutivrat sollte sich um die übrigen
Aufgaben kümmern. Beim Legislativrat sollten die Fachministerräte und die Fachausschüsse sein. Dadurch würden wir verhindern, dass sich Europa ebenso wie Nordkorea noch ein Parlament erlaubt, das im Geheimen tagt.
Das gibt es sonst nirgendwo mehr auf der Welt.
Der Rat muss als Gesetzgebungsgremium in Zukunft
öffentlich tagen. Er muss von den Bürgern anerkannt werden und muss zur Rechenschaft gezogen werden können.
Das würde auch unsere parlamentarische Mitwirkung
stark erleichtern. Wir sitzen im Europaausschuss oder im
Plenum zusammen, geben der Regierung Dinge mit auf
den Weg und wissen gar nicht, wie das Ergebnis zustande
gekommen ist. Hier benötigen wir mehr Transparenz. Das
bedeutet mehr Demokratie in Europa.
({17})
Nun beschäftigen sich viele in diesen Tagen zu Recht
mit der inneren und äußeren Sicherheit; dies zeigten
heute auch alle Reden. Eines müssen wir in diesem Zusammenhang jedoch kritisch feststellen: Vor zehn Jahren
wurden in Maastricht die Voraussetzungen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie für eine
gemeinsame Innen- und Rechtspolitik geschaffen. In der
faktischen Realisierung dieser Dinge sind wir weitgehend
stecken geblieben. Es ist eben von Tampere gesprochen
worden. Das Lastenheft von Tampere aus dem Jahr 1999
ist ziemlich lange liegen geblieben. Gestern hatten wir in
einer öffentlichen Sitzung des Europaausschusses den
Präsidenten von Europol, Herrn Storbeck, zu Gast, einen
erstklassigen Mann, der aus dem deutschen BundeskrimiPeter Hintze
nalamt kommt. Er sagte uns, er freue sich, dass er nun Unterstützung erfahre, wäre aber froh, wenn diese Unterstützung über den jeweiligen Anlass hinaus auf Dauer angelegt wäre, denn so schnell könne man beispielsweise
Aktivitäten zur Terrorismusbekämpfung aus dem Stand
heraus nicht aufbauen.
({18})
Zur äußeren Sicherheit. Aus meiner Sicht ist es jetzt
das Gebot der Stunde, die europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik, die heute bloß auf dem Papier steht,
mit Leben zu erfüllen. Hier muss etwas geschehen und
hier hat Deutschland eine Führungsaufgabe. Das geht
natürlich nicht, indem man auf der einen Seite die Bundeswehr austrocknet und auf der anderen Seite Deklarationen abgibt, in denen steht, was man vielleicht gemeinsam tun könnte. Nein, wir müssen unsere Streitkräfte in
die Lage versetzen, die Aufgaben, die sie wahrnehmen
müssen, auch wahrnehmen zu können. Das gilt in materieller ebenso wie in rechtlicher und in mentaler Hinsicht;
Letzteres bedeutet, dass wir uns hinter ihren Auftrag stellen. Außerdem müssen wir die in Europa vorhandenen
Synergien nutzen. Einen zaghaften Anfang gibt es mit den
Krisenreaktionskräften als integrierte Streitkräfte. Ich
stelle mir vor, dass diese Krisenreaktionskräfte im Laufe
der nächsten zehn Jahre so, wie wir von CDU und CSU es
in einem gemeinsamen Papier beschrieben haben, zu einer handlungsfähigen europäischen Armee weiterentwickelt werden, die wichtige Aufgaben wird übernehmen
können.
Was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
angeht, so ist Mazedonien der einzige Fall, bei dem ich
von ganzem Herzen mit dem Außenminister übereinstimme. In Mazedonien hat die Europäische Union erstmals mit Erfolg Verantwortung übernommen und hier ist
sie in der Lage gewesen, eine aktuelle Krise zu entschärfen. Dies sage ich trotz aller noch bestehenden Probleme.
Es stellt einen guten Beitrag für das Bündnis dar, dass
wir in Südosteuropa, auf dem Balkan, die Vereinigten
Staaten von Amerika stärker entlasten und die Aufgabe,
die sich in unserem eigenen Hause, in Europa, stellt, selber in die Hand nehmen. Dazu muss aber die Außen- und
Sicherheitspolitik der Europäischen Union effektiver gestaltet werden. Im Moment haben wir ein Nebeneinander
von rotierenden Ratsvorsitzenden, von Herrn Solana, der
eine sehr gute Arbeit leistet, und von Herrn Patten, der
ebenfalls eine sehr gute Arbeit macht. Nun geht Herr
Hombach in die Privatwirtschaft, was uns die Chance
gibt, eine weitere Parallelstruktur aufzulösen und Aufgaben an die Kommission zurückzuverlagern. All diese
außen- und sicherheitspolitischen Funktionen müssen in
einer europäischen Exekutive zusammengefasst werden,
damit das, was Europa tun könnte, von Europa auch geleistet werden kann, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({19})
Ich komme zum Schluss. Frieden wird es in den kritischen Regionen der Welt, aber auch in unserem europäischen Haus auf Dauer erst dann geben, wenn die Menschen in den jeweiligen Regionen selber Träger des
Friedens sind. Daher brauchen wir eine Friedensordnung für Südosteuropa. Die Kollegen Lamers, Hedrich
und ich haben dazu einen Vorschlag gemacht, der auch in
den eigenen Reihen heftig diskutiert worden ist. Uns geht
es nicht um Einzelheiten des Vorschlags, auch nicht um
den Namen Südosteuropäische Union, sondern um die
Idee: Wir brauchen eine regionale Zusammenarbeit im
Hinblick auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, die Schaffung eines Infrastrukturnetzes und das
gemeinsame Bestehen von Herausforderungen, eine Zusammenarbeit, die einen Energieverbund und wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht und durch die Minderheiten geschützt werden. Dazu bedarf es einer europäischen
Perspektive, die den Menschen in der Region klar macht,
dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können
und wir sie dabei nicht alleine lassen.
Die Lösung für den Balkan kann nicht darin bestehen,
dort auf 100 Jahre Soldaten zu stationieren. Die Lösung
für den Balkan muss vielmehr darin liegen, den Menschen
und Völkern auf dem Weg zu Frieden, Stabilität und Prosperität zu helfen und ihnen so eine europäische Perspektive zu geben. Dazu wollen wir die geeigneten Strukturen
schaffen. Dazu brauchen wir einen europäischen Verfassungsvertrag und eine klare Gewaltenteilung. Die
CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause ist bereit, in der parlamentarischen Begleitung des Post-Nizza-Prozesses daran konstruktiv mitzuwirken.
Wir stimmen dem Vertrag von Nizza heute zu, weil wir
damit weiter gehen und nicht stehen bleiben. Stillstand
wäre das Schlimmste. Europa braucht ein stärkeres Zusammenwirken, um den Herausforderungen der Welt begegnen zu können.
Ich danke Ihnen.
({20})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Christian Sterzing vom Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwischen Nizza und Gent liegt New York. Es ist heute in allen Beiträgen deutlich geworden, dass die Tagesordnung
des bevorstehenden Gipfels in Gent durch den 11. September natürlich verändert worden ist. Der Euro, die Erweiterung und die Zukunftsdebatte - das alles sollte die
Tagesordnung von Gent prägen. Nun wird sicherlich ein
Großteil dieses Treffens ganz im Zeichen der europäischenn und internationalen Kooperation im Kampf gegen
den Terrorismus stehen. Das muss auch so sein; das erwarten sicherlich auch die Bürgerinnen und Bürger.
Dennoch sollten wir den Versuch unternehmen, innezuhalten und eine Zwischenbilanz über das, was sich seit
dem 11. September - auch für die EU - unter einem integrationspolitischen Blickwinkel verändert hat, zu ziehen. Ich glaube, diese erste Zwischenbilanz fiele ambivalent aus.
Zum einen gibt es durchaus neue Impulse für den Bereich Justiz und Inneres, nämlich zum Beispiel das sehr
heftige Bemühen um gemeinsame Lösungen zur Stärkung
von Europol, das sich in einigen Sondersitzungen des zuständigen Rates niederschlägt. Die weiteren Stichworte
wurden genannt: europäischer Haftbefehl, Eurojust, Zusammenarbeit in der Flugsicherheit und Geldwäsche. All
dies hat offensichtlich einen neuen Schub bekommen,
weil allen klar geworden ist, dass die Antwort auf die
neuen Herausforderungen nach dem 11. September nicht
allein national gegeben werden kann. Gerade im Sicherheitsbereich sind europäische Antworten gefragt.
Zum anderen müssen wir aber feststellen, dass sich negative Wirkungen bemerkbar machen. Im Augenblick
wird darüber spekuliert, ob die Erweiterung der Europäischen Union so vonstatten gehen könne, wie sie geplant war. Da müsse erst einmal abgewartet werden. Hier
gilt es, sehr deutlich dagegenzuhalten und klar zu machen,
dass der Erweiterungsfahrplan gerade jetzt eingehalten
werden muss. Eine Verzögerung können wir nicht hinnehmen. Wir können der Regierung dankbar dafür sein,
dass sie mit der Entschlossenheit nach Gent reisen wird,
auch im Erweiterungsprozess keine Verzögerungen auftreten zu lassen. Das beruhigt uns. Insofern erwarten wir
von dem Gipfel in Gent, dass die richtigen Signale gesendet werden.
Ich komme zum nächsten Bereich - auch er wurde
schon angesprochen -, nämlich der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik. Es gibt sicherlich Anlass, mit einer gewissen Sorge auf die Entwicklung zu
schauen. In den letzten Wochen stand die nationale
Außen- und Sicherheitspolitik im Vordergrund. Wir müssen eine Renationalisierung sowie Rebilateralisierung der
Außen- und Sicherheitspolitik beobachten. Die EU hat es
bislang nicht geschafft, zu einem tragenden Faktor im
Rahmen der internationalen Koalition gegen den Terrorismus zu werden.
Ich glaube, dass wir das nicht dramatisieren müssen;
wir dürfen es aber auch nicht übersehen. Wenn wir uns anschauen, was die Bundesregierung in den letzten Tagen
und Wochen getan hat, zeigen sich uns besonders auch
hier der Wille und die Entschlossenheit, einer solchen
Entwicklung entgegenzuwirken und Auseinanderstrebendes wieder zusammenzufügen. Dies wird sicherlich ein
ganz beherrschendes Thema auf dem Gipfel in Gent - er
ist gerade dafür wichtig - sein.
Wir alle ahnen, dass hinsichtlich Afghanistans - nicht
nur in Bezug auf die augenblickliche Situation, sondern
auch im Blick auf die Post-Taliban-Ära - besondere Aufgaben auf die Europäische Union zukommen. Diese Diskussion hat begonnen. Die UNO mit ihrer internationalen
Präsenz, aber auch die EU werden bei der zukünftigen
Entwicklung Afghanistans ein wichtiger Faktor sein.
Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die EU im Zusammenspiel mit anderen internationalen Organisationen in erheblichem Umfang konfliktpräventive und krisenbewältigende Potenziale einbringen kann. Sie kann damit zur Stabilisierung beitragen.
Wir haben das an der Entwicklung in Mazedonien gesehen. Wir beobachten gespannt, ob das der EU und dem
deutschen Außenminister auch im Nahen Osten gelingen
wird. Die Besinnung auf dieses Potenzial innerhalb der
EU wird wichtig sein, um die EU zu einem wesentlichen
politischen Faktor in der Koalition gegen den Terrorismus
zu machen.
Der Kanzler geht mit einem ratifizierten Nizza-Vertrag
nach Gent. Dies ist wichtig, weil wir hiermit ein deutliches Zeichen setzen. Der Vertrag, mit dem im Dezember
des letzten Jahres grünes Licht für die Osterweiterung gegeben wurde, signalisiert, dass wir in der EU nicht nur erweiterungsbereit, sondern auch erweiterungsfähig sind
und dass wir dafür die notwendigen Reformen einleiten
wollen. Nizza hat auch eine Zukunftsdebatte eingeläutet.
Das hat dazu geführt, dass in den letzten Wochen und Monaten viel mehr über die Zukunft Europas geredet wurde
als über den Nizza-Vertrag und die damit verbundenen
Veränderungen der europäischen Verträge.
Der Konvent hat in den letzten Wochen die Diskussionen bestimmt. Er soll in Laeken offiziell ins Leben gerufen werden. Wir haben uns im Bundestag, vor allen Dingen im Europaausschuss, sehr intensiv damit beschäftigt
und Vorstellungen über die Zusammensetzung eines solchen Konvents, seine Arbeitsweise und seine Abstimmungsmechanismen vorgelegt. Ich glaube, wir sind hier
ein gutes Stück weitergekommen. Der Konvent wird vielleicht so etwas wie ein Nukleus von Institutionen werden,
der Integrationsentwicklungen weitertreiben kann. Wir
können an dieser Stelle durchaus daran erinnern, dass es
die Bundesregierung war, die während der deutschen Präsidentschaft den allerersten Konvent, den Grundrechtekonvent, entschlossen auf die Schienen gesetzt hat.
Das Stichwort im Zusammenhang mit dem Konvent ist
die Parlamentarisierung des Integrationsprozesses. Wir
plädieren als Parlamentarier für die Parlamentarisierung,
nicht weil wir glauben, wir würden grundsätzlich bessere
Arbeit machen als Regierungen oder Regierungsbeamte,
({0})
sondern weil wir glauben, dass eine parlamentarische
Dominanz in dem Gremium die Arbeit und die Debatten
verändern und zur Entnationalisierung der Reformdebatte
beitragen wird. Die Zukunftsdebatten im Konvent werden
sich dann nicht an nationalen Frontstellungen orientieren,
sondern an den Linien der politischen Großfamilien in
Europa. Dadurch kann es neue Impulse geben. Das ist der
Hintergrund unseres Einsatzes für einen arbeitsfähigen
und parlamentarisch dominierten Konvent.
Noch ist nicht alles unter Dach und Fach. In Gent werden die Staats- und Regierungschefs noch wichtige Debatten führen. Wir hoffen, dass von Gent die richtigen
Signale ausgehen, was die Handlungsfähigkeit der EU angesichts der Herausforderungen des 11. September, was
die Bestätigung des Erweiterungsfahrplans und schließlich was die Reformfähigkeit der EU anbelangt. Dafür
wünschen wir dem Kanzler in den nächsten Tagen in Gent
eine glückliche Hand.
Vielen Dank.
({1})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
ganze Debatte an diesem Vormittag wird von einem Wort
beherrscht, nämlich dem der Handlungsfähigkeit der
Europäischen Union. Natürlich ist die Handlungsfähigkeit gerade im Hinblick auf die Herausforderungen entscheidend, die sich durch die Ereignisse des 11. September ergeben haben. Aber warum ringen gerade wir
Liberalen bei unserer Zustimmung zum Vertrag von Nizza mit uns? Weil wir sehen, dass mit dem Vertrag von Nizza zu wenig Handlungsfähigkeit in der Europäischen
Union geschaffen wird.
({0})
Denn was heißt Handlungsfähigkeit der Europäischen
Union? Handlungsfähigkeit bedeutet in vielen Bereichen,
dass der Rat in wesentlichen Fragen leichter und besser
entscheiden kann. Dazu muss das Vetorecht weitestgehend abgeschafft werden. Das ist im Vertrag von Nizza
leider nicht in der Form erfolgt, in der es notwendig gewesen wäre.
Handlungsfähigkeit und Legitimation der Europäischen
Union bedeuten, dass das Europäische Parlament endlich
zu einem wirklichen Parlament wird. Dazu gehören das
Haushaltsrecht und das Mitentscheidungsrecht bei allen
Rechtsetzungsakten. Das ist mit dem Vertrag von Nizza
nicht geschehen.
({1})
Wir als FDP-Bundestagsfraktion stimmen dem Vertrag
zu, weil wir die Weiterentwicklung und die weitere Integration der Europäischen Union wollen, weil wir damit
nach außen deutlich machen wollen, dass wir für den
Osterweiterungsprozess stehen. Welche Partei tut das
mehr als die FDP? Sie hat immer Schelte bezogen, wenn
sie versucht hat - das ist ja auch gelungen -, mehr Druck,
auch im Hinblick auf den zeitlichen Ablauf, auszuüben.
Warum ist das Konventsmodell vor dem Hintergrund
des Vertrags von Nizza so wichtig? Weil deutlich geworden
ist, dass es immer schwieriger wird und fast nicht gelingen
kann, mit den herkömmlichen Strukturen und Verfahren,
nämlich der Regierungskonferenz, zu einschneidenden
strukturellen Veränderungen in der Europäischen Union zu
kommen. Warum ist das nicht der Fall? Weil es jetzt um
Machtfragen geht und keine Regierung, keine nationale
Regierung und auch nicht die europäischen Institutionen,
gerne Kompetenzen abgibt und das Europäische Parlament - bzw. in dieser Phase, in der es noch kein richtiges
Parlament ist, die nationalen Parlamente - stärker beteiligt.
Deshalb sind wir als Liberale so sehr für den Parlamentskonvent. Ich denke, das ist der richtige Begriff.
({2})
Wir brauchen keinen Konvent, in dem die Akteure zusammensitzen, womöglich die Regierungsvertreter eine
Mehrheit haben, ein paar Abgeordnete sich austoben und
ihre Ideen kundtun dürfen, aber vielleicht nur unverbindliche Optionen formulieren, die dann anschließend wieder
eingesammelt werden, wenn die Regierungschefs zusammenkommen. Nein, dieser Konvent bringt nur etwas,
wenn er ein wirklicher Parlamentskonvent ist.
({3})
Ich vertraue nicht darauf, dass die Regierungen einen
solchen Parlamentskonvent von sich aus schaffen.
Natürlich tun sie das nicht. Wir waren lange genug in der
Regierung und wissen, dass man natürlich versucht, an
seinen Befugnissen festzuhalten. Deshalb muss das gesamte Parlament das Bewusstsein haben, dass es auf die
Regierung Druck ausüben muss, damit der Konvent entsprechend zusammengesetzt wird. Das haben wir getan
und deshalb hat sich die Regierung auf den Konvent eingelassen. Ich teile voll die Auffassung von Herrn Hintze:
Wenn aus den Nationalstaaten zwei Vertreter entsandt
werden und das im Falle Deutschlands ein Vertreter des
Bundestages und einer des Bundesrates sind, dann muss
es darüber hinaus weitere Vertreter geben, die mindestens
anwesend sein dürfen. Herr Meyer, Sie können ein Lied
davon singen. Es ist für Sie und Ihren Kollegen Altmaier
als Ihren Vertreter schon schwierig genug gewesen, die
Fraktionen zu unterrichten und zu informieren, die im
Grundrechtekonvent nicht anwesend waren.
Deshalb brauchen wir unbedingt Vertreter in diesem
Konvent, die, auch wenn sie kein Stimmrecht haben, doch
voll beteiligt werden und voll in diesem Prozess dabei
sind. Deshalb appelliere ich auch an die großen Fraktionen in diesem Hause, daran zu denken, dass auch Vertreter kleinerer Fraktionen in der Lage sind, in diesem Konvent mit sehr klarer Stimme und, wenn sie nicht in der
Regierungsverantwortung stehen, vielleicht noch unabhängiger und selbstbewusster die Rechte der Parlamente
und damit die Rechte der Bürgerinnen und Bürger deutlich zum Ausdruck zu bringen. Die Grundrechte-Charta
und der Konvent dazu waren ein gutes Modell. Man hat
sich darauf eingelassen, weil es da noch nicht um Machtfragen ging.
Wie muss der Rat reformiert werden? Er muss transparenter werden. Natürlich muss das Vetorecht abgeschafft werden. Es muss nachvollziehbar sein, was er tut.
Das Parlament muss ihn mehr kontrollieren. Das gilt auch
gegenüber der Kommission.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vertrauen wir hier
nicht auf das, was die Regierung uns gibt, sondern seien
wir selbstbewusst genug, das einzufordern, was notwendig ist, damit dieser Konvent zu anderen Ergebnissen
führt als die bisherigen Regierungskonferenzen!
Recht herzlichen Dank.
({4})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Uwe Hiksch von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verhandlungen über den Vertrag
von Nizza haben leider zu einem Stillstand im Prozess der
europäischen Vertiefung geführt. Es ist nicht gelungen, im
Vertrag von Nizza eine Demokratisierung Europas, eine
soziale Komponente Europas oder gar die GrundrechteCharta rechtsverbindlich festzuschreiben.
Wir stellen in der europäischen Diskussion immer mehr
fest, dass es nur einen einzigen Bereich gibt, der sich immer weiter integriert: die Militärpolitik. Die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik mit den so genannten
Krisenreaktionskräften, die ein Militärkontingent von
200 000 Soldaten in Europa umfassen und die alleine in
Deutschland Rüstungsausgaben von über 200 Milliarden DM in den nächsten zehn bis 15 Jahren notwendig machen, ist der einzige Bereich, in dem sich Europa zurzeit
fortentwickelt. Dasselbe Europa, das alleine in Deutschland 200 Milliarden DM Rüstungsausgaben notwendig
macht, legt aber beispielsweise den Höchstsatz für zivile
Instrumente der Konfliktregelung pro Einsatz auf 12 Millionen DM fest. Das ist ein falscher Weg.
({0})
Deshalb, lieber Kollege Zöpel, möchte ich Sie bitten,
dem Außenminister zu sagen, dass wir uns ein Stück über
seine Rede geärgert haben. Wir haben uns deshalb geärgert, weil die Bomben, die heute auf Afghanistan fallen,
nicht damit begründet werden können, dass damit die humanitäre Katastrophe zu bekämpfen sei. Entwicklungsorganisationen, Flüchtlingsorganisationen und die Kirchen
haben seit über zehn Jahren auf das Flüchtlingselend, die
Katastrophe in Afghanistan hingewiesen.
({1})
Die Welt hat so gut wie weggeschaut.
Die demokratische Opposition in Afghanistan fordert
genau wie die PDS: Hören Sie auf mit den Bombardements! Denn durch Streubomben kann nicht dazu beigetragen werden, diese Region zu stabilisieren. Die jetzige
Kriegspolitik führt doch zu einer allgemeinen Destabilisierung der Region. Wir müssen erleben, dass im arabischen Lager, in den Nachbarstaaten gerade die Fundamentalisten mehr Zulauf als bisher bekommen. Mit den
militärischen Einsätzen wurde wieder einmal eine völlig
falsche Richtung eingeschlagen.
Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns deshalb endlich wieder darüber diskutieren, dass Krieg kein Mittel der
Politik sein darf!
({2})
Lassen Sie uns wieder darüber diskutieren, dass Krieg
keine Lösungen bringt! Terrorismus kann man nur mit Polizei und Politik und nicht mit Bomben bekämpfen. Deshalb ist das, was Außenminister Fischer ausgeführt hat,
leider die falsche Richtung. Wir hoffen, dass die rot-grüne
Bundesregierung bald wieder zur Vernunft kommt.
Danke schön.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Meyer von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Hintze hat
vorhin zunächst die Bundesregierung heftig kritisiert
({0})
und anschließend die Konventidee als einen bedeutenden
Systemwechsel gefeiert, für den wir uns, wie er sagte, gemeinsam einsetzen sollten. Das Zweite ist natürlich richtig; aber es passt nicht ganz zum Ersten. Denn Sie haben
ein wenig verdrängt, dass die Konventidee eine Erfindung
dieser Bundesregierung ist, die sie auf dem Kölner Gipfel
durchgesetzt hat.
({1})
Wir stimmen nachher über den Vertrag von Nizza ab.
Dabei geht es zum einen um die in diesem Vertrag versuchte Schaffung von Voraussetzungen für die Erweiterung der Europäischen Union.
({2})
Zum anderen geht es darum, die dem Vertrag beigefügte
Erklärung zur Zukunft der Union in unsere künftigen
Überlegungen aufzunehmen. Auf einen Satz gebracht:
Ohne den Nizza-Vertrag gäbe es das so genannte PostNizza-Verfahren nicht. Dies ist ein weiterer gewichtiger
Grund dafür, diesem Vertrag nachher zuzustimmen.
Wir sollten uns außerdem darauf besinnen - das haben
die Redner der FDP zutreffend hervorgehoben -, dass im
Rahmen dieser Zukunftsdiskussion erkennbar wird: Es
geht um eine Themenerweiterung
({3})
und dabei genau um die Fragen, deren Beantwortung im
Vertrag von Nizza aus meiner Sicht zwar vorläufig gelungen ist, aber weiterentwickelt werden muss. Zum Beispiel
ist die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen - da
sind wir einer Meinung ({4})
ein Teil der Diskussion, die in der Zeit nach Nizza geführt
werden muss.
Ich denke, wir sind auch einer Meinung, wenn ich feststelle, dass die Europäische Union zur Verbesserung ihrer
Handlungsfähigkeit nach außen und nach innen eine
kohärente Verfassung benötigt. Es ist eine Leistung der
Bundesregierung, auf dem Gipfel von Nizza auch dafür
gesorgt zu haben, dass dies durch die Erklärung zur Zukunft der Union in das Programm der Europäischen
Union aufgenommen worden ist. Wir brauchen eine Verfassung auch deshalb, weil die Erweiterung der Europäischen Union durch die Aufnahme vieler neuer Länder
selbstverständlich mit der Gefahr der Stärkung zentrifugaler Kräfte verbunden ist. Dieser Gefahr kann man nur
begegnen, wenn man die Europäische Union gleichzeitig
vertieft. Darum geht es nicht zuletzt im Rahmen der Zukunftsdiskussion.
Vorhin ist mehrfach über den Konvent gesprochen
worden. Deshalb gestatten Sie mir, dass ich meine Redezeit dazu nutze, die Grundfragen, um die es bei dem künftigen Konvent geht, zu skizzieren. Ich betone, dass mein
Eindruck ist, dass wir uns dabei fraktionsübergreifend einig sind und dass wir die volle Unterstützung der Bundesregierung bei der überzeugenden Beantwortung von
sechs Fragen haben:
Die erste Frage betrifft die Beteiligung der europäischen Öffentlichkeit an den Diskussions- und Entscheidungsprozessen der Europäischen Union. Konstitutives
Element der Konventidee ist diese Einbeziehung der
Öffentlichkeit, also auch die Einbeziehung der Nichtregierungsorganisationen, der Zivilgesellschaft. Genau das
hat der erste Konvent versucht. Wir haben nicht nur öffentlich getagt, sondern auch anlässlich von Anhörungen
und einer Vielzahl von Veranstaltungen den Gedankenaustausch mit der Zivilgesellschaft gesucht. Ich finde, die
Zeit, in der europapolitische Weichenstellungen hinter
verschlossenen Türen erfolgten, muss vorbei sein. Das ist
eine Begründung für die Konventidee.
({5})
Ich finde es auch gut, dass jetzt darüber diskutiert wird,
zusätzlich zu diesem Konvent ein Forum einzurichten,
auf dem die Zivilgesellschaft zur Sprache bringen kann,
was sie für wichtig hält. Allerdings muss klar sein: Dieses
Forum darf dem Konvent die Verantwortung für die Erarbeitung von Vorschlägen für eine künftige Verfassung
nicht abnehmen.
({6})
Die zweite Frage, um die es geht, ist eben auch mehrfach angesprochen worden. Es handelt sich um die Beteiligung der Parlamente. Ich bin der Auffassung, dass für
die Legitimität einer Verfassung das Verfahren, in dem sie
entwickelt wird, genauso wichtig ist wie der Inhalt dieser
Verfassung. In diesem Zusammenhang ist die Beteiligung
der Parlamente wichtig. Sie dient einmal der ständigen
Kommunikation zwischen den Delegierten, die auch Parlamentsabgeordnete sind, und ihren Parlamenten. Zum
anderen wird dadurch der Einfluss der Parlamente überhaupt erst ermöglicht und verstärkt.
Wenn Sie den Text der Grundrechte-Charta und die
Entschließungen des Bundestages hierzu nebeneinander
legen, werden Sie feststellen, wie viel von diesen Entschließungen in den Text der Charta eingegangen ist. Ich
will in diesem Zusammenhang die Forderung, Vertreter
der Delegierten zu wählen, mit Nachdruck unterstützen.
Dies erweitert die Kommunikations- und Einflussmöglichkeiten des Parlaments, auch der Minderheit im Parlament, und es ist eine vertrauensbildende Maßnahme gegenüber dem ganzen Parlament. - Entschuldigen Sie,
Herr Kollege Altmaier, wenn ich Sie hier als vertrauensbildende Maßnahme in die Debatte einführe.
({7}) [CDU/CSU]: Das
stimmt fast immer! - Peter Altmaier [CDU/
CSU]: Ist entschuldigt!)
Schließlich behaupte ich, dass die Sprache der künftigen europäischen Verfassung die Sprache sein muss, die
Menschen verstehen. Wenn man die bisherigen europäischen Dokumente etwa mit der Sprache der Grundrechte-Charta vergleicht, sieht man: Das ist eine Sprache, die normale Menschen, die nicht juristisch ge- oder
auch verbildet sind, verstehen können. Auch dies muss
eine künftige europäische Verfassung durch die Beteiligung von Parlamentariern leisten.
Die dritte Frage, um die es geht, ist die der Optionen.
Da scheint mir noch einiges unklar zu sein. Selbstverständlich wird der künftige Konvent keine fertige Verfassung in dem Sinne vorlegen, dass der Europäische Rat
diese Verfassung nur noch abnicken könnte, und selbstverständlich wird entsprechend dem Vorschlag der belgischen Präsidentschaft der Konvent dort, wo es Kontroversen gibt, nicht nur einen Vorschlag machen, sondern es
wird dann einen Mehrheits- und einen Minderheitsvorschlag geben. Das sind Optionen, wie sie übrigens auch in
den sehr wichtigen Diskussionsgrundlagen, die Bundeskanzler Gerhard Schröder, Außenminister Joschka
Fischer und Bundespräsident Johannes Rau geliefert haben, deutlich werden. Daran sieht man, dass Optionen
wichtig sein können, um die Diskussion zu beleben.
Aber es macht überhaupt keinen Sinn, vom Konvent
Optionen in dem Sinne zu verlangen, dass er sich nur zu
ausgewählten Fragen äußert, etwa in der Form von Schulaufsätzen, die dann von einem Lehrerkollegium zensiert
und angenommen oder verworfen werden. Wer hält eine
solche Arbeit denn eigentlich für sinnvoll?
Ich behaupte sogar: Optionen in diesem Sinne sind
sachlich gar nicht möglich. Ich nenne als Beispiel die
wichtige Frage der Kompetenzen. Wie kann man sich seriös zur Frage der Kompetenzen äußern, ohne zu wissen,
wer sie erhalten soll, ob das zum Beispiel neben dem Europäischen Parlament eine zweite Kammer in Form einer
Staatenkammer sein soll oder ob es eine Abgeordnetenkammer als dritte Kammer sein soll? Das steht in unauflösbarem Sachzusammenhang.
Oder wie kann man sich seriös zu der Frage der Verbindlichkeit der Grundrechte-Charta äußern, wenn man
damit nicht Überlegungen verbindet, wie ein individuelles Beschwerderecht für alle Bürgerinnen und Bürger der
Europäischen Union zum Europäischen Gerichtshof aussehen und gestaltet werden soll? Das gehört zusammen.
Ich will dazu ausdrücklich feststellen: Wer in diesen
Tagen von der Bedeutung einer europäischen Werteordnung spricht, muss sich selbstverständlich dafür einsetzen, dass diese Werteordnung, wie sie in der GrundrechteCharta formuliert ist, verbindlich wird.
({8})
Dr. Jürgen Meyer ({9})
Die vierte Frage ist die nach dem Präsidium. Der
künftige Präsident soll vom Europäischen Rat ernannt
werden. Ich fände es schöner, wenn er durch Wahl des
Konvents bestätigt würde. Wichtiger aber ist mir, dass der
Konvent nicht entsprechend einem Vorschlag, der wohl
von einer Regierung stammt, die früher einmal die Präsidentschaft inne hatte und gegen den Konvent war, durch
eine Troika erweitert wird, also durch Regierungsvertreter der jeweiligen, der vorangegangenen und der nächsten
Präsidentschaft. Diese Troika, die zu einem Präsidium
von sieben oder acht Mitgliedern führen und eine Minderheit der Parlamentsvertreter zur Folge haben würde,
stößt auf dreifache Kritik: Erstens. Die Minderheit der
Parlamentarier wäre in einem solchen Präsidium ihres
Einflusses weitgehend beraubt. Zweitens. Dieses so
ausgestaltete Präsidium würde sich zu einer Art Oberkonvent entwickeln, neben dem der eigentliche Konvent nur
noch wenig zu melden hätte. Drittens. Die Besetzung des
Präsidiums wäre wechselnd, abhängig von dem Zufall,
wer während der Arbeitszeit des Konvents das Präsidium
zuletzt hatte, gerade hat oder zukünftig haben wird.
Deshalb sage ich: Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben eine Bevormundung des Konvents durch
eine Steuerungsgruppe abgelehnt. Jetzt ein großes Präsidium zu installieren, das eine Steuerung in den Konvent
implantiert, hieße, auf einen Schelmen zwei draufzusetzen. Das ist kein guter Weg.
({10})
Fünftens. Ich möchte eine kurze Bemerkung zu den
Bewerberländern machen. In diesem Punkt sind wir uns
völlig einig. Ich danke der Bundesregierung für ihre Haltung, dass die Bewerberländer stärker als im ersten Konvent berücksichtigt werden sollen. Sie sollen nicht nur Beobachter sein. Man kann nicht den künftigen Mitgliedern
der Europäischen Union sagen: Hier ist eine Verfassung,
deren Entstehung ihr beobachten konntet, nun gilt sie für
euch. - Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Deshalb
sollten die Bewerberländer zumindest beratende Stimme,
Rederecht und Antragsrecht bekommen. Ich freue mich
über jede Stärkung der Mitwirkungsrechte der Bewerberländer, die demnächst in Laeken durchgesetzt werden
kann.
Sechstens. Ich komme zum Zeitfaktor: Es mag richtig
sein, dem Konvent eine Frist zu setzen, innerhalb deren er
seine Arbeit abschließen muss. Dies entspräche dem
Motto: Ohne Zeitdruck passiert in der Europäischen
Union wenig. Aber wenn diese Frist beispielsweise ein
Jahr beträgt, dann sollte ein Zwischenbericht vorgelegt
werden. Dieser Zwischenbericht sollte von den Parlamenten und in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Die
Beiträge sollten in den Schlussbericht eingehen. Der Konvent sollte zudem die Möglichkeit haben, zumindest über
das Präsidium mit dem Europäischen Rat zu kommunizieren. Dies ist nicht möglich, wenn er vorher aufgelöst
wird. Er sollte also nicht durch Zeitablauf in ein tiefes
Loch fallen, sondern auch 2004 seinen Einfluss geltend
machen können.
({11})
Mein Eindruck ist, dass wir - Parlament und Bundesregierung - in diesen Verfahrensfragen im Wesentlichen
einer Meinung sind. Diese Verfahrensfragen sind wichtig;
denn hier geht es um gelebte Demokratie in Europa. Wir
sollten uns in der Sachdebatte nicht vorzeitig auf einen bestimmten Text festlegen; denn erfahrungsgemäß - das hat
der erste Konvent gezeigt - kommt man dadurch mit den
anderen Delegierten, die einen Text aus ihrer Sicht vorlegen, nicht zu einer Übereinstimmung. Wichtig ist, dass die
Delegierten im Konvent aufeinander zugehen und unterschiedliche Verfassungstraditionen und so etwas wie die
gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Europäischen
Union berücksichtigen.
Wir haben von der Bundesregierung durch die Vorschläge, die ich erwähnte, schon jetzt sehr gute Beratungsgrundlagen. Ich freue mich, dass der Konvent als
Einrichtung ein Konsensthema ist. Die noch offenen Fragen sollten in Laeken vernünftig geregelt werden. Ich vertraue darauf, dass sich die Vernunft durchsetzt.
Lassen Sie uns auch bei der Vorbereitung des Europäischen Rates 2004 und bei den notwendigen Weichenstellungen für die Zukunft der Europäischen Union erneut
mehr Demokratie wagen!
Ich danke Ihnen.
({12})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich
dem Kollegen Christian Schmidt von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte darum
bitten, dass Sie auch diesem Redner vor der namentlichen
Abstimmung Ihre Aufmerksamkeit schenken. Vielen
Dank.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, die Tatsache, dass das Haus immer voller wird,
deutet darauf hin, dass das jetzt diskutierte Thema die
Aufmerksamkeit aller Kollegen findet.
Ich darf zum Schluss der Debatte, die ja im Wesentlichen sehr fachbezogen und sachbezogen war, Ihnen,
Herr Kollege Meyer, zu Ihren Einlassungen hinsichtlich
des Konventes Zustimmung signalisieren. Sie haben das
Prinzip der Parlamentarisierung der europäischen
Integration und deren Fortentwicklung in den Vordergrund gestellt. Eines aber - ich vermute, auch darüber
sind wir uns im Klaren - sollte nicht passieren: Der Konvent ist keine klassische Constituante. Er lebt davon, dass
er gerade von den nationalen Parlamenten nicht nur Zuarbeit und Resonanz, sondern auch Mitarbeit erhält. Deswegen kommt - ich nehme an, dass Sie dem Konvent angehören werden - auf all diejenigen, die wir entsenden
werden, eine große Aufgabe zu. Ich will betonen: Ich
hoffe und erwarte, dass die Einbindung in die parlamentarische Arbeit auf nationaler Ebene erhalten bleibt.
Dr. Jürgen Meyer ({0})
Wir haben sowieso das Problem: Wir müssen - mein
Kollege Gerd Müller hat besonders intensiv darauf hingewiesen - die Rolle der nationalen Parlamente, die Rolle
des Deutschen Bundestages, in einer weiterentwickelten
Europäischen Union diskutieren. Man sollte dieses Problem nicht gering schätzen, denn nach der Ansicht des
Bundesverfassungsgerichts gründet sich die Legitimität
der europäischen Integration bis heute auch auf die Vermittlung durch die nationalen Parlamente.
({1})
Ich möchte ein klein wenig pro domo sprechen: Uns
darf nicht das passieren, was den Kollegen aus den Länderparlamenten - bei allem Respekt - wohl passiert ist.
Sie haben vielleicht den Verlust von Kompetenzen zu spät
bemerkt und müssen feststellen, jetzt nicht mehr im Spiel
dabei zu sein. Wir vertreten unser Volk und haben deswegen einen Anspruch, auch beim Projekt Europa weiter beteiligt zu sein.
({2})
Natürlich ist aber auch die zweite Frage, die übrigens
ganz wesentlich von unserer Fraktion nach vorne gebracht worden ist, nämlich die Frage der Kompetenzabgrenzung - der Herr Bundeskanzler hat sich selbst
gerühmt, das im Post-Nizza-Prozess durchgesetzt zu haben - ein ganz entscheidender Faktor für eine stabile
Struktur einer zukünftigen europäischen Integration. Bei
der Diskussion über die Kompetenzabgrenzung werden
wir altbekannte Dinge vorfinden. Natürlich wird auch die
Landwirtschaftspolitik - mit einem entsprechenden Etat
ausgestattet - Teil der europäischen Integration bleiben.
({3})
Ich hätte mir gewünscht, dass bei der Agenda 2000 die
Vorschläge der Kofinanzierung mit der Möglichkeit einer
teilweisen Rückübertragung von der Bundesregierung
aufgenommen worden wären. Über das Elend, das sich
auf dem Berliner Gipfel im Zusammenhang mit der
Agenda 2000 abgespielt hat,
({4})
hat sich aber der Kollege Hintze schon ausführlich
geäußert. Ich schließe mich diesen Bemerkungen an.
Ein weiterer wichtiger Punkt - er ist bereits genannt
worden - treibt mich um, nämlich die Frage der Zukunft
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Was
ist mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in
einer Zeit, in der die Tagesordnung von der Außen- und
Sicherheitspolitik bestimmt wird und die Europäer nur am
Rande mitlaufen und nicht gehört werden? Es wurde
geäußert - ich stimme dem zu -, es gebe eine gewisse Renaissance der Nationalstaaten. Ist das gut? Können wir
das hinnehmen? Ist das nicht zu beachten oder schafft es
uns ein Problem?
Es ist sicher ein Problem. Wieso? Es ist ein Problem,
weil die Stärke Europas - das sagen wir alle im Konsens seit Jahren und Jahrzehnten nur darauf beruhen kann, dass
Europa gemeinsam handelt. Wir erleben allerdings gegenwärtig, dass diese gemeinsame Struktur offensichtlich
noch nicht ausreicht. Woran liegt das? - Das liegt daran,
dass das Herz der Politik, die Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem von traditionell weltweit operierenden
Ländern wie Frankreich oder Großbritannien gerne national wahrgenommen wird. Aber das kann nicht das Ende
der Entwicklung sein. Anstatt darüber zu lamentieren,
dass das so ist, wie ich gesagt habe, sollte man lieber nach
den Ursachen schauen. Hier gibt es nämlich einen bedenklichen Befund, den ich ansprechen möchte. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt, der
Gedanke der Teilhabe am Haben und Sagen sei ein genuin
europäischer. Damit hat er Recht. Wer nichts hat, der kann
nichts sagen. Wer nichts hat, der wird nicht gehört. Wer im
außen- und sicherheitspolitischen Bereich nichts zu bieten hat, der kann auch nicht erwarten, mitreden zu können.
({5})
- Ich möchte die Kollegen von der SPD bitten, sich ihr Lachen für später aufzuheben.
Sie sollten lieber einmal nachlesen, was auf dem Gipfel in Helsinki zu den headline goals gesagt worden ist,
und sich Gedanken darüber machen, wie eine gemeinsame europäische Verteidigungstruppe, deren Aufstellung
auf dem informellen Treffen in Feira beschlossen worden
ist, geschaffen werden kann und welche Antwort auf der
bevorstehenden Geberkonferenz auf die Frage Was tragt
ihr denn zu der Aufstellung der gemeinsamen europäischen Verteidigungstruppe von 60 000 Soldaten bei?
- vor ziemlich genau einem Jahr, am 20. November,
konnte in Brüssel noch kein Vollzug gemeldet werden gegeben werden soll. Am 19. November werden Sie sicherlich wieder gefragt werden: Wie weit habt ihr euch
denn eurem Ziel angenähert, bis 2003 über eine eigenständige europäische Sicherheitskomponente zu verfügen? Hier geht es um das Haben und das Finanzieren. Wir
werden in weiten Bereichen Fehlanzeige melden müssen.
Das wird sicherlich kaschiert werden. Es werden potemkinsche Dörfer errichtet werden. Aber das wird nicht ausreichen, gerade in einer Zeit, in der die Bedrohung durch
den Terror so groß ist, dass wir selbst bedroht sind, dass
wir ihr nicht ausweichen können und dass wir uns nicht
wie eine größere Schweiz neutral verhalten können.
({6})
Somit kommt man selbst bei so großen Themen in die
Niederungen des Einzelplans 14 des Bundeshaushaltes,
des Verteidigungshaushaltes, oder des Einzelplans 60.
Wir werden noch Gelegenheit haben, das zu vertiefen.
Nur eines ist ganz klar: Geld alleine ermöglicht keinen
Einfluss; aber ohne Geld, quasi ohne Hardware, ist in den
Bereichen, um die es hier geht, kein Einfluss möglich.
Deswegen fordere ich den Bundeskanzler auf, zu handeln
und die Situation auch dazu zu nutzen, die Schieflage, die
im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik entstanden
ist, weil Frankreich und Großbritannien auf ihrem Treffen
in Saint-Malo vor zwei Jahren einen Accord vereinbart
haben, zu beseitigen und diesen Accord auszuweiten.
Deutschland muss bereit sein, eine entscheidende - um
nicht zu sagen: eine führende - Rolle in diesem Bereich
zu spielen.
Christian Schmidt ({7})
In Gent wird vielleicht auch die Frage gestellt werden,
warum die Äußerungen so schwach ausgefallen sind.
Friedrich Merz hat ja dargestellt, wie wenig schlagkräftig
die Beschlüsse des Europäischen Rates waren. Wir werden in diesem Zusammenhang auch Fragen an unsere
Kollegen und an die Mitglieder der Regierungen der so
genannten neutralen Staaten, die Mitglied der Europäischen Union sind, richten müssen. Ich möchte zwar keinem Land zu nahe treten. Aber wir müssen die neutralen
Staaten, egal, ob es Schweden oder Österreich ist, fragen
- erst diese Frage macht eigentlich die inneren Reserven
deutlich -: Gegenüber wem seid ihr eigentlich neutral?
Müsst ihr euch nicht neu orientieren? Gibt es irgendeinen
Grund, sich zurückhaltend zu verhalten? - Nein, ich
glaube nicht. Gemeinschaftstreue müssen wir auch allen
neuen Mitgliedstaaten abverlangen.
Ich komme zum Schluss. Die Mitgliedstaaten, die im
Rahmen der Osterweiterung der Europäischen Union beitreten werden - der ungarische Ministerpräsident spricht
lieber von der Westverlängerung als von der Osterweiterung, weil die neuen Mitgliedstaaten in zentralen Punkten
westeuropäisch denken und handeln -, müssen schon jetzt
bereit sein, sich in schwierigen Fragen der Außen- und
Sicherheitspolitik gemeinschaftstreu zu verhalten. Die
EU muss dafür sorgen, dass schon vor den Beitritten entsprechende Strukturen vorhanden sind. Da gibt es immer
noch ein Problem. Das können wir nicht durch Verzögerung der Beitritte lösen, sondern nur durch mehr Anstrengungen bei uns selbst mit dem Ziel, die großen Posten, die
in Nizza nicht geklärt worden sind, die auf dem Tisch geblieben sind, zu lösen. Da ist noch viel an Aufgaben zu erledigen und noch viel Platz für Regierungserklärungen.
Das muss zeitig erfolgen; denn sonst läuft uns die Geschichte in diesen Fragen davon, macht uns einen Strich
durch die Rechnung und das darf in dieser Situation in Europa nicht geschehen.
Ich bedanke mich.
({8})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum
Vertrag von Nizza vom 26. Februar 2001 auf Druck-
sache 14/6146, Tagesordnungspunkt 3 b.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu
nehmen, damit wir die Abstimmungen durchführen und
den Überblick darüber behalten können, wie jeweils ab-
gestimmt wird.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europä-
ischen Union empfiehlt auf Drucksache 14/7172 die An-
nahme des Gesetzentwurfes. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetz-
entwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Frak-
tionen bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach
der in der Beschlussempfehlung des Ausschusses festge-
legten Eingangsformel zur Annahme des Gesetzentwurfs
gemäß Art. 23 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 des
Grundgesetzes eine Zweitdrittelmehrheit erforderlich ist.
Das sind mindestens 445 Stimmen.
Die Fraktion der SPD und die Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vor-
gesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen be-
setzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Sind noch Kolleginnen und Kollegen anwesend, die
ihre Stimmen nicht abgegeben haben? - Das ist offen-
kundig nicht der Fall. Ich schließe die Stimmabgabe und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen.
Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 3 c: Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß § 93 a Abs. 4 der
Geschäftsordnung, Drucksache 14/6643, zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung mit dem Titel
Mitteilung der Kommission über bestimmte Modalitäten
der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union
und Bericht über die Debatte über die Zukunft der Europäischen Union. Ich gehe davon aus, dass Sie die Berichte zur Kenntnis genommen haben.
Tagesordnungspunkt 3 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union, Drucksache 14/6646, zu dem Antrag der PDSFraktion mit dem Titel Für den Erfolg des Stockholmer
EU-Gipfels zur Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5585
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
worden mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme
der PDS-Fraktion, die dagegen gestimmt hat.
Tagesordnungspunkt 3 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union, Drucksache 14/6708, zu der Unterrichtung durch
die Bundesregierung mit dem Titel Arbeitsdokument der
Kommissionsdienststellen - Fortschritte bei den Aktionen
von E-Europe. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 3 f: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union, Drucksache 14/7002, zu dem Antrag der Fraktion
der PDS mit dem Titel Vertrag von Nizza nachverhandeln. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6443 abzulehnen. Wer stimmt für diese BeChristian Schmidt ({0})
1) Ergebnis Seite 19010 D
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU
gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Volker Rühe, Eckart von Klaeden, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Sicherheit 21 - Was zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus jetzt zu tun ist
- Drucksache 14/7065 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Wolfgang Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem Antrag Sicherheit 21 - Was zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus jetzt zu tun ist legen CDU und
CSU als erste Fraktion des Deutschen Bundestages ein
umfassendes Konzept zur dringend notwendigen Stärkung
der äußeren und inneren Sicherheit vor.
Der international operierende religiös oder politisch
motivierte Terrorismus, insbesondere jener, der von Staaten unterstützt und gedeckt wird, ist für die freie zivilisierte
Welt eine existenzielle Bedrohung, auch für unser Land.
({0})
Das haben wir schon vor Jahren festgestellt, ohne dass bis
heute daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen
worden sind.
({1})
Ich zitiere aus dem Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses Plutonium:
Möglicherweise wächst eine neue Form der Bedrohung heran, sollte es sektiererischen Organisationen,
die mit genügend Finanzmitteln, geeigneter Infrastruktur, technologischem Wissen und der nötigen
Entschlossenheit ausgestattet sind, nur noch um Vernichtung von Mensch und Material ohne rational erfassbare Zielsetzungen gehen.
Es muss doch allen in diesem Hause zu denken geben,
dass die meisten Spuren der fürchterlichen Anschläge
vom 11. September außerhalb der USA ausgerechnet in
Deutschland zu finden sind.
({2})
Wer trotz dieser Lage immer noch nicht begreift oder
nicht begreifen will, dass wir verpflichtet sind, wirklich
alles Notwendige zu tun, um unser Land vor dem Terrorismus und anderen Formen der Kriminalität wirksamer
zu schützen, ist verantwortungslos.
Wir sind nun schon seit Wochen Zeugen der koalitionsinternen Auseinandersetzungen über die notwendigen und teilweise schon seit Jahren überfälligen Maßnahmen für mehr Sicherheit. Die innere Unsicherheit der
Koalition über das, was jetzt zu tun ist, darf nicht die Sicherheit des Landes gefährden.
({3})
Entscheidend sind nicht die starken Worte des Innenministers, sondern starke Taten. Auch hierbei gilt das, was im
Leben immer gilt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Bei der Sicherheit darf es keine Kompromisse geben.
Wenn eine Maßnahme notwendig ist, dann muss sie umgesetzt werden, und zwar sofort. Es darf nicht sein, dass
notwendige Entscheidungen nur deshalb nicht getroffen
werden, weil die Grünen Vorstellungen haben, die - zumindest teilweise - schlicht abwegig sind. Der freiheitliche Rechtsstaat wird nicht von denen gefährdet, die für
mehr Sicherheit plädieren, sondern von denen, die uns
glauben machen wollen, dass Freiheit und Sicherheit Gegensätze seien.
({4})
Wir müssen immer die Balance zwischen möglichst viel
Freiheit auf der einen und einem hohen Maß an Sicherheit
auf der anderen Seite halten; aber Freiheit und Sicherheit
sind keine Gegensätze. Wer glaubt, dass weniger Sicherheit mehr Freiheit bedeutet, bringt - ob bewusst oder unbewusst - Frieden und Freiheit in Gefahr.
Beim Kampf gegen den Terror gibt es kein Patentrezept.
Aber vor allem muss sich endlich auch einmal außerhalb der Unionsfraktion die Erkenntnis durchsetzen, dass
wir in allen Fragen der Sicherheit eine andere Haltung
einnehmen müssen. Wir müssen unsere Bundeswehr wieder bündnisfähig machen. Bündnisfähigkeit beweist man
nicht durch die Zustimmung zu Auslandseinsätzen, sondern nur dadurch, indem man die Bundeswehr endlich
personell und technisch so ausstattet, dass sie die ihr übertragenen Aufgaben wahrnehmen kann. Das ist nicht der
Fall und muss geändert werden.
({5})
Die Soldaten der Bundeswehr leisten für unser Land
und das Bündnis einen unverzichtbaren Dienst. Schon
heute befinden sie sich zur Erhaltung des Friedens auf
dem Balkan in schwierigen Einsätzen. Sie haben dort
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
mitgeholfen, dem Morden Einhalt zu gebieten. Terroristen sind Mörder, Soldaten sind es nicht.
({6})
Dass man das Gegenteil dennoch in Deutschland straffrei
sagen kann, ist und bleibt für CDU und CSU unerträglich.
({7})
Wir wollen, dass unsere Soldaten endlich den Ehrenschutz erhalten, der ihnen gebührt. Die Bundesregierung hat in der letzten Zeit mehrfach betont, nach dem
11. September sei nichts mehr so wie zuvor. Wir nehmen
die Regierung beim Wort und erwarten, dass sie jetzt endlich den Widerstand gegen einen besseren Ehrenschutz
für unsere Soldaten aufgibt.
({8})
Wir wollen die rechtlichen Voraussetzungen dafür
schaffen, dass die Bundeswehr in besonderen Gefährdungslagen ihre ganz spezifischen Fähigkeiten zur Abwehr von Gefahren auch im Inland einsetzen kann. Das ist
zurzeit nur sehr bedingt möglich. Der in diesem Zusammenhang erhobene Vorwurf der Militarisierung der inneren Sicherheit ist und bleibt grober Unfug. Die Bundeswehr soll die Polizei nicht ersetzen, sondern unterstützen.
Wir müssen uns entscheiden, ob es dabei bleiben soll, dass
wir trotz besonderer, völlig neuer Bedrohungen für unsere
Sicherheit die besonderen Fähigkeiten der Bundeswehr
weiterhin auch dann nicht nutzen wollen, wenn wir sie im
Inland dringend brauchen. Wer dies kategorisch ablehnt,
handelt unverantwortlich.
({9})
Die vor wenigen Tagen erhobene Forderung der Vorsitzenden der Bündnisgrünen nach einem Ende der Bombenangriffe der USA steht nicht nur im Gegensatz zu der
uneingeschränkten Solidarität, die wir zugesichert haben
und auf die Amerika einen Anspruch hat, sondern ist auch
schon von der Wortwahl her verräterisch. Es handelt sich
nämlich nicht um eine Aggression, sondern um Prävention. Amerika greift nicht an, Amerika ist angegriffen
worden. Es ist das gute Recht der Vereinigten Staaten, sich
zu verteidigen, und zwar auch mit militärischen Mitteln.
Selbstverständlich können wir auf die Angriffe und die
Herausforderungen des Terrorismus nicht nur militärisch
reagieren, wir brauchen auch politische Maßnahmen und
humanitäre Hilfe. Wer aber in dieser Situation die Solidarität mit Amerika infrage stellt oder gar aufkündigt, schadet unserem Verhältnis zu den USA, dem Bündnis und damit Deutschland.
({10})
Unser Dank gebührt allen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten des Bundes und der Länder, die nun schon seit
vielen Wochen ganz außergewöhnlichen Belastungen
ausgesetzt sind und weit mehr als nur ihre Pflicht tun.
Auch deswegen müssen wir so genannte Trittbrettfahrer
überführen und mit der ganzen Härte des Gesetzes bestrafen.
({11})
Wer in dieser Lage Straftaten androht oder vortäuscht, die
Menschen in Angst und Schrecken versetzen, Polizeikräfte bindet und sie damit von ihren eigentlichen Aufgaben abhält, begeht kein Kavaliersdelikt, sondern entfaltet
eine kriminelle Energie, die hart bestraft werden muss.
({12})
Das von der Bundesregierung vorgelegte Maßnahmenpaket für mehr Sicherheit ist jedenfalls in der vorliegenden Form nicht ausreichend. Insbesondere fehlen konkrete Maßnahmen für eine erleichterte Ausweisung
straffälliger, extremistischer Ausländer. Wir können es
nicht länger zulassen, dass unter dem Deckmantel der Humanität oder der Religionsfreiheit Extremisten oder Terroristen ihr Unwesen in Deutschland treiben oder gar
Straftaten verüben. Es genügt doch nicht, über 32 000 bekannte extremistische Islamisten nur zu beobachten. Vielmehr müssen wir aus deren Taten Konsequenzen ziehen,
das heißt konkret, deren Aufenthalt in Deutschland ein
Ende machen.
({13})
Wir müssen das Ausländerrecht deswegen so ändern,
dass extremistische und straffällige Ausländer leichter
ausgewiesen werden können, als dies derzeit möglich ist.
Wir sind ein weltoffenes, liberales und tolerantes Land.
Das wollen wir auch bleiben. Wenn wir das aber bleiben
wollen, dann darf es niemals Toleranz für Intoleranz geben.
Danke, dass Sie mir zugehört haben.
({14})
Bevor ich
den nächsten Redner aufrufe, gebe ich das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf eines
Gesetzes der Bundesregierung zum Vertrag von Nizza
vom 26. Februar 2001 bekannt. Abgegebene Stimmen 604. Mit Ja haben gestimmt 570 Abgeordnete, mit
Nein haben gestimmt 32. Enthaltungen 2. Der Gesetzentwurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 605;
davon
ja: 571
nein: 32
enthalten: 2
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr
Doris Barnett
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Lothar Binding ({2})
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({6})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({7})
Harald Friese
Anke Fuchs ({8})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({9})
Angelika Graf ({10})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Karl-Hermann Haack
({11})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({12})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({13})
Walter Hoffmann
({14})
Iris Hoffmann ({15})
Frank Hofmann ({16})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Ilse Janz
Volker Jung ({17})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({18})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({19})
Christa Lörcher
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({20})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({21})
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Jutta Müller ({22})
Christian Müller ({23})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({24})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({25})
Birgit Roth ({26})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Otto Schily
({27})
Ulla Schmidt ({28})
Silvia Schmidt ({29})
Dagmar Schmidt ({30})
Wilhelm Schmidt ({31})
Dr. Frank Schmidt
({32})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({33})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({34})
Brigitte Schulte ({35})
Volkmar Schultz ({36})
Ewald Schurer
Dietmar Schütz ({37})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({38})
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({39})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({40})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({41})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Jürgen Wieczorek ({42})
Helmut Wieczorek
({43})
Heino Wiese ({44})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({45})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({46})
Waltraud Wolff
({47})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({48})
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({49})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Peter H. Carstensen
({50})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({51})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({52})
Axel E. Fischer
({53})
Dr. Gerhard Friedrich
({54})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({55})
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({56})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({57})
Gerda Hasselfeldt
Hansgeorg Hauser
({58})
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
({59})
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({60})
Dr. Klaus W. Lippold
({61})
Dr. Manfred Lischewski
({62})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({63})
Erwin Marschewski
({64})
Dr. Martin Mayer
({65})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({66})
Elmar Müller ({67})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({68})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({69})
Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth ({70})
Volker Rühe
Anita Schäfer
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Dr. Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({71})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({72})
Andreas Schmidt ({73})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Wolfgang Schulhoff
Gerhard Schulz
Diethard Schütze ({74})
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Michael Stübgen
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß ({75})
Gerald Weiß ({76})
Heinz Wiese ({77})
Hans-Otto Wilhelm ({78})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Werner Wittlich
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({79})
Volker Beck ({80})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({81})
Joseph Fischer ({82})
Katrin Göring-Eckardt
Gerald Häfner
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Kerstin Müller ({83})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({84})
Werner Schulz ({85})
Christian Simmert
Hans-Christian Ströbele
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({86})
Margareta Wolf ({87})
FDP
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
({88})
Rainer Brüderle
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
({89})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ute Vogt von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bosbach,
wir sind uns in einem Punkt sicherlich einig: dass es die
Aufgabe des Staates sei, die Sicherheit seiner Bürger zu
gewährleisten, damit sie in Frieden und Freiheit leben
können. Dieser Satz kann in dieser Form sicherlich vom
gesamten Haus unterstützt werden. Gegenstand der Diskussion, die vor uns liegt, ist deshalb weniger die Frage
nach dem Ziel; es muss vielmehr um die Auseinandersetzung mit den Details gehen, also zum Beispiel darum, wie
wir es schaffen werden, den Frieden und die Sicherheit zu
gewährleisten - den äußeren Frieden ebenso wie den sozialen Frieden, aber auch die innere Sicherheit, die heute
Gegenstand der Diskussion ist.
In der Bevölkerung sind Ängste vorhanden. Dies sind
zum einen Ängste vor Angriffen und vor Bedrohungen,
zum anderen aber auch Ängste vor Einschränkungen von
Freiheiten. Ich sehe uns im Parlament in der Verantwortung, diese Ängste ernst zu nehmen, dass wir aber keinesfalls dazu beizutragen, weitere solcher Ängste zu schüren.
({0})
Deshalb ist es ganz maßgeblich, wie wir in diesem Parlament mit dem Thema weiterhin umgehen; denn der Stil
der Auseinandersetzung wird in erster Linie von der Politik geprägt und erst in zweiter Linie von den Medien, weil
diese nur das aufgreifen können, wozu wir ihnen die
Stichworte liefern.
({1})
Es liegen derzeit viele Vorschläge vor. Sie von der
CDU/CSU haben in Ihrem Antrag eine ganze Reihe von
Vorschlägen gemacht, die zum Teil den Eindruck erwecken, als wenn man alles zusammengetragen hätte,
was einem zu diesem Themenbereich einfallen kann, um
etwas zu verändern.
({2})
Es gibt aber schon deutlich konkreter gefasste Vorschläge
vonseiten der Bundesregierung, die sich derzeit in der
Diskussion befinden.
Entscheidend für mich ist, dass wir überprüfen, welche
Maßnahmen tatsächlich wirksam sind.
({3})
Darüber hinaus müssen wir jede von Ihnen vorgeschlagene Maßnahme dahin gehend prüfen, in welchem Verhältnis der Aufwand, den sie schafft, und der Eingriff, den
sie darstellt, zu dem Nutzen und zu der Wirksamkeit, die
sie entfaltet, stehen. Bei den Daten müssen wir darauf
aufpassen, dass wir nicht zu viele Daten erfassen, sodass
wir sie zum Schluss nicht mehr auswerten, also verwerten
können. Es ist also eine intensive Prüfung notwendig.
Man darf nicht alles sammeln, was man nur sammeln
könnte.
({4})
Wir müssen eine Sachprüfung vornehmen und müssen
uns auf eine Gewichtung einigen.
Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, bei diesem
schwierigen Thema den Versuch zu unternehmen, die politische Diskussion für die Bürgerinnen und Bürger in einer anderen Weise nachvollziehbar zu machen, als sie es
sonst gewohnt sind.
({5})
Wenn wir in der Bevölkerung Akzeptanz erreichen wollen, müssen wir die Gründe für unsere Entscheidungen
und deren Auswirkungen deutlich machen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Horst Friedrich ({6})
Dr. Wolfgang Gerhard
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({7})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Guido Westerwelle
Nein
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Winfried Wolf
Enthalten
FDP
Hans-Joachim Otto
({8})
PDS
Manfred Müller ({9})
Insoweit wird es dem Thema nicht gerecht, Kollege
Bosbach, wenn Sie es auf die Benennung von Koalitionsstreitigkeiten reduzieren oder wenn man es gar auf Auseinandersetzungen zwischen Personen reduzierte. Mich
hat dieser Tage eine Mitarbeiterin des Hessischen Rundfunks angerufen,
({10})
die in dieser Angelegenheit ein Interview mit mir machen
wollte, um vornehmlich die Bevölkerung zu informieren.
Eine Bedingung für das Interview war allerdings, dass ich
auch Aussagen machen müsste, die sich gegen den Innenminister richten.
({11})
- Herr Marschewski, in diesem Fall ist es in unser aller Interesse - hier betrifft es die eine Partei, in anderen Fällen
betrifft es andere Parteien -, dass wir das Niveau solcher
Diskussionen nicht auf diese Weise reduzieren lassen.
({12})
Ich sehe unsere Aufgabe jetzt darin, zügig zu entscheiden, trotzdem aber gewissenhaft zu beraten. Mir liegt daran, dabei auch die Rolle des Parlaments zum Tragen zu
kommen zu lassen. Das bedeutet, dass wir Entscheidungen, die wir als Gesetzgeber treffen müssen, nicht an Ministerien delegieren dürfen.
({13})
Das bedeutet wiederum, dass wichtige Dinge, die die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar betreffen, nicht auf dem
Wege von Verordnungen erlassen werden dürfen. Nicht
nur die Regierungsmitglieder, sondern auch wir stehen
vor Ort für die politischen Entscheidungen ein und wir
haben die Entscheidungen des Parlaments zu vertreten.
({14})
Des Weiteren müssen wir als Parlamentarier bei den
Dingen, bei denen eine Erweiterung von Kompetenzen
notwendig sein wird - ich denke hier etwa an die Dienste -, unsere Kontrollaufgaben so ausweiten, dass wir sie
weiter wie bisher wahrnehmen können.
Frau Kollegin Vogt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
von Klaeden?
Ja, gerne.
Herr von
Klaeden.
Frau Kollegin
Vogt, können wir im Rahmen Ihrer Rede noch damit rechnen, dass Sie wenigstens zu einem unserer Vorschläge
konkret Stellung nehmen?
({0})
Sehr geehrter Herr von
Klaeden, nachdem Herr Kollege Bosbach hier keinen dieser Vorschläge im Detail begründet hat,
({0})
sondern es nur eine umfangreiche Auflistung gibt, sehe
ich mich jetzt nicht in der Lage, dieses Sammelsurium im
Einzelnen zu bewerten. Dies muss der Ausschussberatung
vorbehalten bleiben.
({1})
Ich wünsche mir, dass Sie das Angebot, das ich auch an
Ihre Adresse richte, annehmen und sich auf eine Diskussion einlassen, die sich ein bisschen von den gewohnten
Ritualen löst - auch wenn es manchem sichtbar schwer
fällt, wie ich sehe - und verbinde dies mit einer Bemerkung zu einem weiteren Kernbereich, der für mich untrennbar mit der inneren Sicherheit verbunden ist. Derzeit
führen wir eine Debatte über die Regelung und Steuerung
der Zuwanderung. Weil auch dieses Thema zum einen
die Sicherheit und zum anderen den sozialen Frieden betrifft, appelliere ich an Sie: Wenn wir uns beim Thema innere Sicherheit gemeinsam auf die notwendigen Maßnahmen verständigen können, dann sollten wir auch im
Hinblick auf den sozialen Frieden einig sein. Daher sollten wir nicht nur gesetzliche Regelungen treffen, die sich
unmittelbar auf die innere Sicherheit beziehen, sondern
auch solche, die das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft in Deutschland so verbessern,
dass gegenseitiges Verständnis gefördert wird. Dazu brauchen wir aber nicht nur Ihren Antrag zur inneren Sicherheit, sondern auch Ihre konstruktive Mitwirkung bei der
Regelung und Steuerung der Zuwanderung
({2})
und gleichzeitig bei Maßnahmen, die zur Integration notwendig sind.
In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie es schaffen, in einer solchen Situation nicht die üblichen Rituale zu praktizieren, sondern sich tatsächlich auf die Erwartung der
Bürgerinnen und Bürger zu konzentrieren: Wir sollten
hierüber zwar kontrovers diskutieren. Aber zum Schluss
muss etwas Konstruktives herauskommen und eine breite
Mehrheit in diesem Hause gefunden werden.
({3})
Ute Vogt ({4})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Max Stadler
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin
Vogt, ich dachte bisher, es sei unstrittig, dass die einzige
Voraussetzung für Interviews ist, dass man frank und frei
seine eigene Meinung sagt.
({0})
Diese Meinung zu dem heute behandelten Thema will ich
Ihnen für die FDP gern vortragen. Sie beruht auf drei
Grundthesen.
Erstens. Der inneren Sicherheit ist am besten gedient,
wenn die bestehenden Gesetze vollständig und konsequent angewandt werden.
({1})
- Kollege Marschewski, in den Jahren 1990 bis 1998 haben Union und FDP gemeinsam zahlreiche Gesetze zur
Sicherheit verabschiedet, aber das Defizit beim Vollzug
dieser Gesetze ist doch die Achillesferse der deutschen Innenpolitik. ({2})
Wir müssen die Sicherheitsbehörden personell, finanziell
und technisch so ausstatten, dass sie ihre Aufgaben wirkungsvoll erfüllen können.
Zweitens. Darüber hinaus wird die FDP notwendigen
und geeigneten neuen Gesetzen zustimmen, natürlich
nach einer sorgfältigen Beratung, nach Sachverständigenanhörungen, nach einem geordneten parlamentarischen
Verfahren.
Drittens. Selbstverständlich muss die Grenze der bewährten und auch nach dem 11. September 2001 weiterhin gültigen rechtsstaatlichen Grundsätze eingehalten
werden. Einige der derzeit öffentlich diskutierten Vorschläge sind daher für uns nicht akzeptabel.
Ich beginne mit dem vorliegenden Antrag der Union,
der Anlass für die heutige Debatte ist. Die CDU/CSU befindet sich gewissermaßen in einem Hase-und-Igel-Wettstreit mit dem Bundesinnenminister um immer neue Vorschläge.
({3})
Es verwundert daher nicht, dass sich bei einer solchen
Vielzahl von Vorschlägen viele richtige Gesichtspunkte
finden, dass Sie aber auch immer wieder Vorschläge aus
der Schublade geholt haben, die in der Vergangenheit zu
Recht keine Mehrheit im Bundestag gefunden haben.
({4})
Ich nenne als Beispiel nur Ihre Forderung nach der optischen Überwachung von Wohnräumen. Das geht zu weit;
das lehnen wir ab.
({5})
Meine Damen und Herren, wichtiger ist natürlich, welche Vorschläge aus dem Bundesinnenministerium kommen werden, denn von diesen kann man annehmen, dass
sie demnächst Gesetz werden. Dort wird bekanntlich über
ein Terrorismusbekämpfungsgesetz diskutiert. Darin sind
Maßnahmen enthalten, die sich auch im Sicherheitspapier
der FDP-Fraktion finden und denen wir daher zustimmen
werden. Ich nenne als Beispiele die Ausdehnung der
Sicherheitsüberprüfungen über den Kreis der an Flughäfen Tätigen hinaus für Personen, die in sicherheitsrelevanten Bereichen tätig sind. Ich nenne den Wegfall des
Religionsprivilegs im Vereinsrecht sowie verbesserte
Möglichkeiten der Identitätsfeststellung.
Aber wir werden die Diskussionsvorschläge aus dem
Innenministerium natürlich nicht unbesehen übernehmen.
Ist es wirklich richtig, privaten Stellen - privaten Stellen! eine Auskunftspflicht gegenüber dem Verfassungsschutz
aufzuerlegen? Bisher sind es die Strafverfolgungsbehörden, die von Banken, Post- oder Telekommunikationsunternehmen bei Verdacht aufgrund eines geordneten Verfahrens mit richterlichen Beschlüssen Auskünfte
verlangen können. Diese Auskünfte stehen dann auch den
Diensten zur Verfügung.
Wir finden, der bisherige Weg der Informationsgewinnung ist aus rechtsstaatlichen Gründen vorzugswürdig,
auch deshalb, weil es sonst kaum mehr einen Rechtsschutz gäbe. Es spricht also viel dafür, es in diesem Bereich bei der geltenden Rechtslage zu belassen.
({6})
Meine Damen und Herren, wir müssen uns auch
vor der Tendenz hüten, in rechtsstaatliche Grundstrukturen einzugreifen. Jedermann will eine bessere Bekämpfung der illegalen Geldströme, der Geldwäsche. Wir
sagen als FDP ganz klar: 16 Bedienstete beim Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen reichen als Aufsicht
über 3 000 Banken im Zusammenhang mit der Geldwäsche nicht aus.
({7})
Wenn man aber, wie dies die EU am Dienstag beschlossen hat, in die Berufsgeheimnisse von Rechtsanwälten und Steuerberatern eingreift und wenn man diesen
in bestimmten Fällen eine Meldepflicht gegenüber den
Strafverfolgungsbehörden auferlegt, dann sind dies doch
sehr bedenkliche Einschnitte. In der Süddeutschen Zeitung von gestern bemerkt Andreas Oldag zu Recht, dass
das Vertrauensverhältnis von Anwälten und Steuerberatern zu ihren Mandanten auf dem Spiel stehe; man dürfe
nicht die Gunst der Stunde nutzen, um ein perfektes Kontroll- und Überwachungssystem aufzubauen. - Diese
Einschätzung sollten wir sehr wohl erwägen - darüber
muss noch diskutiert werden -, wenn es um die Umsetzung dieser Richtlinie geht.
Was soll denn als Nächstes kommen? Gehen wir dann
etwa an das Berufsgeheimnis von Journalisten heran?
Sollen Journalisten verpflichtet werden, Auskunft zu
geben und gegenüber Strafverfolgungsbehörden Meldung
zu machen, wenn sie etwas Verdächtiges wissen? Warum
sollte dann am Ende nicht das Beichtgeheimnis in
gleicher Weise eingeschränkt werden? Das kann doch alles nicht richtig sein!
({8})
Ich komme damit zum Ausgangspunkt zurück: Entscheidend für die innere Sicherheit ist und bleibt die
Frage, ob die Politik willens und fähig ist, die Sicherheitsbehörden bestmöglich auszustatten. Ich nenne zum
Beispiel das Finanzvolumen für die Sachausstattung der
Bereitschaftspolizeien der Länder, wofür der Bund aufgrund vertraglicher Vereinbarungen zuständig ist.
Herr Kollege Stadler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte sehr.
Bitte,
Herr Ströbele.
Herr Stadler, geben Sie mir Recht, dass es einen
Unterschied zwischen Journalisten und Banken gibt? Das
Bundesverfassungsgericht hat den Journalisten, aber auch
der Presse und den Medien insgesamt eine ganz besondere Bedeutung in unserem Gesellschafts- und Rechtssystem zugewiesen; manche reden von der vierten Gewalt.
Stimmen Sie mir zu, dass dies für die Banken nicht zutrifft?
Herr Kollege Ströbele, gerade
die FDP hat darauf gedrängt - das entsprechende Gesetz
befindet sich zurzeit im Vermittlungsverfahren -, dass das
Berufsgeheimnis von Journalisten wesentlich besser geschützt wird als in der Vergangenheit.
({0})
Aber der entscheidende Punkt, über den wir hier diskutieren, ist doch, dass ein besonderes Vertrauensverhältnis
zwischen Anwälten und Mandanten, zwischen Steuerberatern und Mandanten sowie zwischen Journalisten und
Informanten besteht. Dieses Vertrauensverhältnis ist
schon für sich alleine ein Wert. Das wurde im Gesetz zum
Ausdruck gebracht, indem diese Berufsgruppen nach der
Strafprozessordnung ein besonderes Aussageverweigerungsrecht haben.
Wenn man in dieses Recht eingreift, dann geht es nur
vordergründig um die bessere Bekämpfung von Geldwäsche. In Wahrheit geht es darum, Hand an dieses althergebrachte Prinzip eines schützenswerten Vertrauensverhältnisses zu legen, aufgrund dessen Dinge besprochen
werden, die einen Dritten nichts, aber auch gar nichts angehen und die vor allem den Staat nichts angehen. Diese
Einschränkungen kann die FDP nicht akzeptieren. Dabei
geht es nicht allein um die Banken. Hier geht es um die
Grundsätze der freien Berufe, die plötzlich nicht mehr
gelten sollen. Da sage ich Ihnen: Diese Grundsätze gelten
nach wie vor.
({1})
Herr Kollege Stadler, erlauben Sie eine Frage des Kollegen
Wiefelspütz?
Ja.
Bitte
schön, Herr Wiefelspütz.
Geschätzter Herr Kollege
Stadler, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie das
Beichtgeheimnis in einen Zusammenhang mit dem Bankgeheimnis bringen?
({0})
Können Sie uns einmal die Maßstäbe erläutern, die Sie bei
diesem Vergleich im Kopf haben?
Ich möchte noch eine zweite Frage anschließen: Hat
die rot-grüne Koalition in ihrem entschiedenen Kampf,
Geldwäsche zu verhindern und kriminelle Geldkreisläufe
zu unterbinden, die Unterstützung der FDP?
({1})
Herr Kollege Wiefelspütz,
wenn Sie meine Rede von Anfang an aufmerksam verfolgt haben, was ich unterstelle, dann werden Sie bemerkt
haben, dass ich einen zentralen Punkt bei der Geldwäschebekämpfung bereits genannt habe. Dazu brauchen
Sie natürlich Personal in ausreichender Stärke. Es gibt
3 000 Banken und 1 700 Finanzdienstleistungsunternehmen.
({0})
Mit 16 Bediensteten beim Bundesaufsichtsamt für das
Kreditwesen können Sie unmöglich eine effektive Aufsicht über diese Institute führen. Da muss zunächst einmal
angesetzt werden. Das ist etwas, was sehr schnell machbar ist.
({1})
Zum Zweiten. Herr Kollege Wiefelspütz, Sie sind klug
genug, um zu wissen, dass es in der Juristerei ein so genanntes Argumentum ad absurdum gibt. Diese Argumentationsfigur habe ich jetzt verwendet; denn selbstverständlich will niemand das Beichtgeheimnis antasten. Ich
stelle nur folgende Frage: Wenn es wichtig ist, bestimmte
Formen von Kriminalität zu bekämpfen, und wenn deswegen plötzlich einzelne Berufsgruppen, die etwas wissen, verpflichtet werden, der Polizei ihr Wissen mitzuteilen, mit welchem Argument wollen Sie dann bei der einen
oder anderen Berufsgruppe Halt machen? Ist es dann
nicht das Interesse des Staates, dass all diese Berufsgruppen ihr Wissen offenbaren? Wenn Sie mir da zustimmen,
dann werden Sie erkennen, dass das Grundproblem immer das gleiche ist, nämlich: Der Staat muss Kriminalität
wirksam bekämpfen; es gibt aber Bereiche, in die er nicht
eingreifen darf, die er nicht antasten darf. Wir wollen eine
wirksame Bekämpfung der Kriminalität, aber nicht den
gläsernen Bürger. Deswegen wollen wir die Berufsgeheimnisse von Anwälten, Steuerberatern und Journalisten erhalten und sogar noch besser schützen.
({2})
Das Finanzvolumen für die Sachausstattung der Bereitschaftspolizei ist in den letzten beiden Jahren von
50 Millionen DM auf 10 Millionen DM gekürzt worden.
Wenn man es nun wieder um 6 Millionen DM erhöhen
will, dann ist dies keine ausreichende Maßnahme; denn
allein für die Ersatzbeschaffung von Material müsste der
alte Sockel von 50 Millionen DM wieder erreicht werden.
Außerdem müsste er für die nächsten Jahre zuverlässig
festgeschrieben werden, um den Investitionsstau von
170 Millionen DM bei der Bereitschaftspolizei zu überwinden. 50 000 Stellen für Polizeibeamte müssten in
Deutschland neu geschaffen werden.
Wie sieht das Konzept der Bundesregierung für die
Personalgewinnung aus? Wie wird der Zeitraum überbrückt, bis neue Polizeibeamte ausgebildet sind? Ist die
Koalition bereit, für die Gewinnung von hervorragend
qualifizierten Beamten attraktive Rahmenbedingungen zu
schaffen? Oder bleibt die Koalition dabei, etwa mit Eingriffen in die Altersversorgung,
({3})
die von den Betroffenen als doppelte Benachteiligung
empfunden werden, eine psychologisch verheerende Wirkung zu erzielen? Wann wird das neue polizeiliche Informationssystem INPOL, das am 1. April 2001 betriebsbereit sein sollte, endlich eingeführt? Kann man
wirklich bis zum Jahr 2006 warten, bis die technische
Ausstattung mit Digitalfunkgeräten bei der Polizei
flächendeckend eingeführt ist?
In diesen Punkten ist nach Auffassung der FDP-Fraktion allergrößter und sofortiger Handlungsbedarf gegeben.
({4})
Zum Antrag der Union eine letzte Anmerkung. Zur
dringend notwendigen Strukturreform der Bundeswehr
hat die FDP eine andere Auffassung als der Bundesverteidigungsminister, aber auch als die CDU/CSU. Wir
benötigen eine hoch motivierte, gut ausgebildete und modern ausgerüstete Bundeswehr. Sie muss kleiner werden,
wie dies von der Weizsäcker-Kommission vorgeschlagen
wurde. Sie muss deutlich mehr Geld bekommen und die
Wehrpflicht muss schnellstens ausgesetzt werden. Nur so
wird die Bundeswehr ihre Aufgaben einschließlich der
Bekämpfung des internationalen Terrorismus erfüllen
können.
Ich sage Ihnen für die FDP eines klipp und klar: Genau
so, wie Geheimdienste und Polizei ihre jeweils eigenen
Aufgaben haben, die sie getrennt erledigen müssen, bleibt
es dabei, dass Bundeswehr und Polizei unterschiedliche,
eigene Aufgaben haben.
({5})
Die Idee, die Bundeswehr über das jetzt zulässige Maß
hinaus einzusetzen, ist und bleibt daher ein Irrweg.
({6})
Vernünftige rechtsstaatliche Maßnahmen zur Verbesserung der inneren Sicherheit werden dagegen die Zustimmung der FDP finden.
({7})
Das Wort
hat jetzt der Senator für Justiz des Landes Berlin,
Wolfgang Wieland.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Durch die terroristischen Angriffe stehen wir vor einer neuen Herausforderung. Das ist
keine Frage. Auch wir als Grüne stellen uns dieser
Herausforderung. Dass Teppichmesser als Bewaffnung
ausreichen, um aus Passagierjets Angriffswaffen zu machen, die tausendfachen Tod bringen, hat sich doch vorher
außer den Tätern niemand im Ernst vorzustellen vermocht. Genauso wenig war es noch vor zehn Tagen vorstellbar, dass weltweit Briefe nur noch befangen und unter Angst geöffnet werden können - bis dato eine
Horrorvision, heute traurige Realität bei uns.
Diese neue Qualität der Bedrohung durch die Nomaden des Terrors - so hat man sie genannt und das sind sie
wohl auch - erfordert neue Antworten. Wir Grüne stellen
uns dieser Herausforderung. Wir haben das Sicherheitspaket I hier im Bundestag mitgetragen. Wir haben vor allem auch auf Landesebene, so auch hier in Berlin, mit einem Sofortprogramm zur inneren Sicherheit reagiert.
Aber alle Vorschläge, die - auch von Ihnen - gemacht
werden, müssen auf den Prüfstand, ob sie geeignet sind,
ob sie erforderlich sind und ob sie im Sinne des Rechtsstaates und der Bürgerrechte verhältnismäßig sind. Das
setzen wir als Maßstab bei uns und auch bei Ihnen an.
({0})
Es fällt in der Tat auf, dass Sie als Antworten auf neue
Herausforderungen weitestgehend alte Konzepte aus den
Schubladen und aus der Mottenkiste geholt haben, die Sie
schon immer gerne realisiert haben wollten, die Sie beispielsweise vor der Sommerpause
({1})
- ich meine Sie, die CDU-Fraktion - in Ihren Leitlinien
zur inneren Sicherheit vorgelegt haben.
({2})
- Ich folge Ihnen gerne und werde konkret.
({3})
Erstens. Verdeckte Ermittler sollen Straftaten, nicht
einmal mehr beschränkt auf den Bereich der mittleren
Kriminalität, begehen dürfen.
({4})
- Lesen Sie Ihr Sicherheitspaket 21! - Wir meinen nach
wie vor: Der Polizist und der Verbrecher müssen unterscheidbar bleiben. Diesen Irrweg gehen wir nicht mit.
({5})
- Ich habe sehr genau gelesen.
({6})
Zweitens. Wie schon in den Leitlinien zur inneren Sicherheit schlagen Sie, Herr Geis, wiederum vor, die Grenzen der akustischen Wohnraumüberwachung - vulgo:
großer Lauschangriff - zu überschreiten, ohne zu sagen,
welche Grenzen Sie eigentlich meinen. Ich habe hier seinerzeit schon gesagt: Ich kann mir nur vorstellen, dass Sie
dann auch in die Anwaltskanzleien und in die Redaktionsbüros wollen. Denn diese sind seinerzeit als Einzige
ausgenommen worden. Sie fügen nun hinzu - Herr
Stadler hat darauf hingewiesen -, Sie wollen auch noch
die Videoüberwachung. Das Richtmikrofon und die
Wanze reichen nicht. Nun soll auch noch die Videokamera
kommen. Da sagen wir ganz deutlich: Hier lässt Orwell
grüßen. Nicht mit uns! Auch diesen Weg können wir nicht
mitgehen.
({7})
Drittens - beinahe selbstverständlich -: Die alte Kronzeugenregelung, 1999 ausgelaufen, soll wieder in Kraft
gesetzt werden. Auch dies ist einer Ihrer konkreten Vorschläge.
({8})
- Wir werden etwas Besseres bekommen. Im Moment
wird über die Strafmilderung für den Aufklärungsgehilfen
- so wird er dann heißen - verhandelt. Dann haben wir
nicht mehr die Straffreiheit auch des Schwerverbrechers,
nur weil er andere belastet. Dann sind wir einen deutlichen Schritt weiter und eindeutig auf rechtsstaatlicher
Ebene.
({9})
Ich verstehe Ihre Schwierigkeit, den Bundesinnenminister sozusagen rechts zu überholen. Das verstehe ich
durchaus; er lässt da wenig Raum.
({10})
- Ja, da kann man auf unausgegorene Ideen kommen. Aber die Bundeswehr nun ergänzend im Innern einzusetzen, wie Sie es wollen, ist tatsächlich ein alter Traum aus
Zeiten der Notstandsdebatte. Selbst die Deutsche Polizeigewerkschaft hat gerade vor zwei Tagen darauf hingewiesen, dass seinerzeit abgewehrt wurde, dass die Polizei einen Kombattantenstatus erhält.
Interessant ist die Pauschalität, in der Sie Ihre Forderungen formulieren. Wir erinnern uns noch an Herrn
Schäuble, der die Bundeswehr Anfang der 90er-Jahre gegen angebliche Asylantenfluten einsetzen wollte. Wir
haben Frau Merkel täglich im Ohr - und dies, obwohl sie
von ihrem Präsidium etwas gedämpft wurde -, die sagt:
Wir brauchen die Bundeswehr ohne Beschränkungen. Wenn Sie den Einsatz der Bundeswehr so pauschal fordern, dann kann man über durchaus sinnvolle Dinge, zum
Beispiel über das Heranziehen der Bundeswehr zur Luftraumüberwachung oder über die Amtshilfe bei Milzbranduntersuchungen und anderem, nicht mehr sprechen. Sie
wollen nicht sehen, dass ein grundsätzlicher Unterschied
darin besteht, dass der Soldat seinen Feind vernichtet
- dazu ist er ausgebildet; das ist sein Berufsbild - und dass
der Polizist den Straftäter festnimmt. Letzterer soll das
Töten nach Möglichkeit vermeiden. Diese beiden Berufe
sind also zweierlei bzw. aus gutem Grund getrennt. Die
Verfassung ist hier eindeutig und so soll es auch bleiben.
({11})
Wir können doch die zum Teil nach Vorgabe der Alliierten bei uns gewachsene Verfassungstradition - das betrifft auch die Trennung von Polizei und Geheimdiensten - nicht über Bord werfen und so tun, als hätte dies
alles keinen Sinn. Es wurde niemals ein Bundessicherheitshauptamt eingerichtet - und das aus gutem Grund.
Denn man wollte hier die Balance halten und das Prinzip
des Föderalismus, also die Polizei als Länderangelegenheit, durchsetzen. Dies hat sich bewährt; daran sollte man
nicht rütteln.
Herr
Senator Wieland, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bonitz?
Gerne.
Bitte
schön, Frau Bonitz.
Herr Senator, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Polizei und BGS, die
seit dem 11. September 2001 sieben Tage die Woche ununterbrochen in Zwölfstundenschichten arbeiten, inzwischen an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen
sind, dass es besondere Gefährdungslagen geben kann, in
denen die Bundeswehr aufgrund ihrer spezifischen
Kenntnisse und Fertigkeiten
({0})
Senator Wolfgang Wieland ({1})
in Ergänzung zur Polizei durchaus herangezogen werden
sollte, und dass daher die gesetzlichen Grundlagen in
Art. 35 und 87 a des Grundgesetzes möglicherweise einer
Überprüfung bzw. Änderung bedürfen?
Wir in Berlin
wissen sehr wohl, was die Polizei leistet. Denn es ist weitgehend die Polizei des Landes Berlin, die diese Sicherungsaufgaben übernehmen muss. Sie vermag dies; sie
schafft dies; sie hat diese Leistungsfähigkeit.
Die Verfassung besagt eindeutig: Wir brauchen einen
Verteidigungsfall - den haben wir nicht -, oder wir brauchen einen inneren Notstand - davon sind wir glücklicherweise Meilen entfernt -, damit ein Bundeswehreinsatz möglich ist. - Wir werden nicht in diese Situation
kommen. Das ist völlig eindeutig; auch Rudolf Scharping
hat das deutlich betont. Daran sollte man nicht rütteln.
({0})
Terroristen bekämpft man am effektivsten durch gute
kriminalpolizeiliche Arbeit. Ich bin so altmodisch, zu sagen: Effektiver als jede Rasterfahndung ist immer noch
das Notizbuch des Kriminalhauptkommissars.
({1})
Die Täter, die in Hamburg lebten, und auch die, die im Zusammenhang mit dem geplanten Attentat in Straßburg
festgenommen worden sind, haben Spuren hinterlassen.
Hier ist Aufklärung möglich und zum Teil auch schon erfolgt. Man sollte sich nicht kleiner machen, als man ist.
Vor allen Dingen sollte man eines im Kopf haben: Den
Rechtsstaat verteidige ich nur, indem ich ihn bewahre,
und nicht dadurch, dass ich ihn abbaue. - Genau dies wollen die Terroristen. Diesen Gefallen dürfen wir ihnen
nicht tun. Liberty dies by inches - Die Freiheit stirbt
zentimeterweise -, so sagt man im Englischen. Ich füge
hinzu: Sie stirbt sogar meterweise.
Lassen wir es nicht dazu kommen! Lassen Sie uns einen kühlen Kopf bewahren und die Maßnahmen treffen,
die rechtsstaatlich verträglich sind, die Maßnahmen, die
dazu führen, dass wir uns gemeinsam der aktuellen
Bedrohung erwehren! Dann haben wir die große Leistung
vollbracht, dass ein Rechtsstaat sich einwandfrei und sauber wehrt und zeigt, dass er die überlegene Form des Zusammenlebens ist.
Vielen Dank.
({2})
Als
nächste Rednerin hat Kollegin Petra Pau von der PDSFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen!
Wir werden die Qualität und die Effizienz im Kampf
gegen den Terrorismus verbessern. Aber wir werden
unter keinen Umständen den Rechtsstaat einschränken.
({0})
Dieses Zitat stammt vom Bundeskanzler. Sie kennen es.
Wir nehmen es ernst und wir haben es in dieser einen Woche auch nicht vergessen.
({1})
Das heißt, die PDS stellt bei jedem neuen Vorschlag drei
Fragen: Erstens. Bringt er mehr Sicherheit oder gibt er das
nur vor? Zweitens. Stärkt dieser Vorschlag den Rechtsstaat oder unterläuft er seine Regeln? Wie bei jeder Medizin prüfen wir drittens: Was überwiegt, die Heilwirkung
oder die Nebenwirkungen? Diese Prüftriade kennen Sie
auch schon. Ich habe Ihnen vor einer Woche versprochen,
dass wir diese Elle an alle Dinge, die auf den Tisch des
Hauses kommen, anlegen.
Nun liegen Anträge vor und weitere sind bereits angekündigt. Dem Antiterrorpaket aus dem Hause Schily
soll ein zweites folgen. CDU/CSU mühen sich verzweifelt, dagegen nicht blass auszusehen.
({2})
Ich kenne viele Bürgerinnen und Bürger, die dazu sagen:
Wir sehen nicht mehr durch; aber die Hauptsache ist, es
wird überhaupt etwas getan.
({3})
Ich kann das sehr wohl nachvollziehen, denn es gibt berechtigte Ängste. Aber es gibt auch Angstmacherei und es
gibt Scharlatane, die aus allem privaten oder auch politischen Profit ziehen wollen.
({4})
Ich kenne jedoch auch andere, Bürgerrechtler, Rechtsanwälte, kritische Polizistinnen und Polizisten, Journalisten, seltener allerdings Politikerinnen und Politiker, die
warnen. So war in diesen Tagen in einer Berliner Zeitung
zu lesen:
Konzentrierte sich das erste Sicherheitspaket, das
vergangene Woche im Bundestag debattiert wurde,
auf die direkte Bekämpfung des Terrorismus, so legt
das Ministerium nun ein Sammelsurium von 30 Gesetzesänderungen vor, die allzu oft mit Prinzipien
des Rechtsstaates brechen.
Die PDS-Fraktion teilt diese veröffentlichte Einschätzung. Ich werde Ihnen im Detail aufzeigen, warum.
Vorher bewegt mich aber noch eine grundsätzliche
Frage. Der Bundeskanzler sagt: Mehr Sicherheit ja, aber
keine Einschränkung des Rechtsstaates. Der Bundesinnenminister scheint derweil nach dem Motto zu handeln: Mein ist die Sicherheit. Mal sehen, was vom Rechtsstaat am Ende noch übrig bleibt.
({5})
Ich frage mich schon: Wer hat nun im Bundeskabinett die
Richtlinienkompetenz, der Kanzler oder der Innenminister?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe Ihnen vor
einer Woche dargelegt, bei welchen Vorhaben Sie grundsätzlich mit unserer Unterstützung und Zustimmung rechnen können. Im Konkreten können wir hier über die sinnvollste Lösung miteinander streiten.
Ich denke, wir brauchen erstens eine Polizeireform, wir
brauchen zweitens einen effektiven Katastrophenschutz,
wir brauchen drittens internationale Kooperation und wir
brauchen viertens mehr Prävention. Denn wir wollen
fünftens mehr öffentliche Sicherheit in einer offenen,
rechtsstaatlichen Gesellschaft.
Zu alledem hat die PDS in dieser Woche Vorschläge
unterbreitet. Wir werden auch weiterhin nicht zulassen,
dass das Thema öffentliche Sicherheit zu einem Wettrennen von konservativen und rechten Parteien verkommt.
Ich finde, dort ist dieses Thema deutlich fehlbesetzt.
({6})
Öffentliche Sicherheit und soziale Gerechtigkeit sind
linke Themen und gehören im Übrigen zusammen.
Obendrein sind es wichtige Themen und so grundsätzlich, dass sich jeder Populismus verbieten sollte, egal, mit
wie viel Schill der Vorschlag daherkommt.
Nun zu den konkreten Vorschlägen: Das erste Beispiel
ist die Kronzeugenregelung. Sie besagt: Wer Straftaten
begeht und anschließend jemanden nennt, der ebenfalls ein
Straftäter sein könnte, bekommt Strafmilderung. Nun streiten sich SPD und Grüne, wie viel Strafmilderung verträglich sein könnte, um dem Rechtsstaat nicht Unrecht zu tun.
Ich sage Ihnen: Wir lehnen die Kronzeugenregelung ab.
({7})
Zugleich ist dieser Streit noch die harmlose Variante eines mittelalterlichen, aber aktuellen Ablasshandels. Im
CDU/CSU-Antrag Sicherheit 21 wollen Sie, dass sich
verdeckte Ermittler nicht strafbar machen, wenn sie - ich
zitiere - zur Sicherung ihrer Einsätze ... gegen die
Rechtsordnung verstoßen müssen. So etwas sehe ich mir
gelegentlich amüsiert in einem James-Bond-Film an.
Aber mit dem Rechtsstaat hat dieser Vorschlag überhaupt
nichts zu tun.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Sie sind genauso wie alle anderen Fraktionen in diesem
Haus aufgefordert, noch mehr Aufmerksamkeit und Gedankenarbeit darauf zu verwenden, wie wir diejenigen,
welche für die Terrorismusbekämpfung und für die öffentliche Sicherheit zuständig sind, endlich so ausstatten,
dass sie ihre Arbeit machen können, und wie wir dafür
sorgen können, dass nicht nur ihre Überstunden abgebaut,
sondern dass sie gerecht bezahlt werden. Das beziehe ich
nicht nur auf die noch bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West, sondern durchaus auch auf Ihr Versorgungsreformpaket. Das gehört endgültig in den Papierkorb.
({9})
Ein zweites Beispiel, das in der Debatte ist: Der Bundesinnenminister will, dass Personalausweise künftig
nicht nur ein Lichtbild, sondern auch Fingerabdrücke und
weitere biometrische Daten beinhalten. Das Ganze soll
möglichst fälschungssicher und verschlüsselt sein. Konsequent zu Ende gedacht, hieße das, ich würde einen Ausweis mit mir herumtragen müssen, der sehr viele erkennungsdienstliche Merkmale über mich beinhaltet, die
mir selbst aber verborgen bleiben. Wenn ich im Sinne der
Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung weiterdenke,
wäre dies nur sinnvoll, wenn es eine entsprechende zentrale Vergleichsdatei gäbe. Über einen Datenaustausch
wäre dann zu ermitteln, ob ich verdächtig bin oder nicht.
Auch das hat mit rechtsstaatlichen Prinzipien wenig zu
tun; denn dort gilt immer noch die Unschuldsvermutung.
Es darf nicht sein, dass der Unschuldige alles zu hinterlegen hat, was ihn unschuldig erscheinen lässt. Mit dem
grundlegenden Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat das Ganze nichts zu tun.
({10})
Damit komme ich zu einem letzten Beispiel: Die PDSFraktion hat die Bundesregierung gefragt, ob es angebracht ist, über einen schnelleren Ausstieg aus der
Kernenergie nachzudenken. Sie erinnern sich: Ganze
anderthalb Tage war das in der öffentlichen Debatte ein
Thema. Die kurze, knappe Antwort der Bundesregierung
ist: Nein. Das mögen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Bündnis 90/Die Grünen, verstehen; ich verstehe es
nicht.
Danke schön.
({11})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ursula Mogg von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die wir in diesen Tagen nach dem
11. September 2001 besondere Verantwortung zu tragen
haben, sind in dem Glauben aufgewachsen, die Welt sei
deshalb gefährlich, weil sich zwei mächtige Militärblöcke
gegenüberständen. Abstrakt war uns klar, dass die Gefahren nach dem Ende des Kalten Krieges nicht geringer,
sondern eher größer geworden waren.
Organisierte Kriminalität, Menschen-, Waffen- und
Rauschgifthandel, Angriffe auf unsere natürlichen Lebensgrundlagen, ethnisch und religiös motivierte Konflikte, Menschenrechtsverletzungen, Armut und Unterdrückung waren in Krisenszenarien bedacht. Konkret
fehlte uns jedoch die Fantasie, uns eine solche Art des
Angriffs auf die innere und äußere Sicherheit vorzustellen, wie es die Angriffe auf Ziele in New York und
Washington darstellen. Diese Fantasie ist jetzt unendlich
und macht den Menschen Angst.
Diese Situation erfordert Antworten. Bundesregierung
und Parlament stehen in der Verantwortung, sich der Herausforderung zu stellen, das Leben der Bürgerinnen und
Bürger zu schützen und die staatliche Ordnung zu gePetra Pau
währleisten. Für meine Fraktion darf ich feststellen, dass
die Bundesregierung dieser Aufgabe bisher in vorbildlicher Weise nachgekommen ist. Sie hat dies im Sinne
eines umfassenden und integrierten Sicherheitsgedankens getan. Der Bundeskanzler hat dies mit klaren
und unmissverständlichen Worten unterstrichen. Dafür
ein Kompliment von unserer Seite.
Ohne Zweifel: Zum Schutz der Bevölkerung - nicht
nur in Europa und in den USA - müssen alle notwendigen
Maßnahmen ergriffen werden. Ich bin der festen Überzeugung: Eine aktionistische Politik, die jedes Brainstorming gleich zum Masterplan erklärt, trägt mehr zur Verunsicherung als zur Lösung der Probleme bei.
({0})
Was wir jetzt nicht brauchen, ist eine Hysterie, die
glauben macht, wir hätten keine Zeit, über lebenswichtige
Entscheidungen nachzudenken. Wir müssen ein solches
Nachdenken in allen Politikbereichen leisten. Die Leitidee des vorliegenden Antrages ist daher nicht strittig,
auch wenn man sich nicht des Eindrucks erwehren kann,
es seien alte Papiere mit alten Forderungen zusammengeschrieben worden. Daraus allein jedoch wird noch kein
Antiterrorprogramm.
Deutlich wird dies unter anderem bei den Fragen der
militärischen Sicherheit. Die Verdoppelung der Antiterroreinsatzkräfte oder die Erhöhung des beschlossenen
Personalumfangs der Bundeswehr sind Forderungen, die
mir aus den Reihen der Union seltsam vertraut sind. Solche Forderungen klingen, als stammten sie aus der bekannten Debatte um die Bundeswehrreform.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
die Neuausrichtung der Bundeswehr ist nur eine Antwort
auf die neuen Herausforderungen. Es handelt sich um ein
Reformwerk, das lange auf sich hat warten lassen und erst
von dieser Regierung in Angriff genommen wurde. Bundeswehr im Umbau und im Einsatz ist einmal mehr die zutreffende Beschreibung der besonderen Situation. Die mit
Tatkraft angepackte Reform wird in der Umsetzung durch
die aktuellen Ereignisse zusätzlich an Geschwindigkeit
gewinnen. Die notwendigen finanziellen Mittel werden
nach unserer festen Überzeugung zur Verfügung stehen,
und zwar nicht nur im Haushalt 2002. In Ihrem Antrag ist
unzutreffenderweise festgehalten, für die Folgejahre
werde keine Vorsorge getroffen. Das ist eindeutig falsch.
Schließlich ist auch nicht beabsichtigt, die Finanzierungsgrundlagen für das Antiterrorpaket kurzfristig wieder
zurückzunehmen.
Falsch ist allerdings auch, jetzt zu glauben, wir bräuchten von allem einfach nur mehr. Notwendig ist es, unter
Berücksichtigung eines sinnvollen Einsatzes der finanziellen Mittel, ein mittel- und langfristiges Konzept zu
entwerfen. Das werden wir leisten. Qualifiziertes und motiviertes Personal sowie modernes Gerät bei der Bundeswehr sind nur ein, wenn auch notwendiger, Teilaspekt,
den wir bei der Bekämpfung des Terrorismus bedenken
müssen.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle den Hinweis: Die
fortgesetzten Spekulationen über das Wie und Wann eines
möglichen Beitrages der Bundeswehr im Kontext des
Bündnisses helfen nicht weiter. Deutschland ist willens
und in der Lage, auch einen militärischen Beitrag zu leisten. Alles Weitere sollten wir ernsthaft diskutieren, sobald
die Rahmenbedingungen bekannt sind. Diese Diskussion
erweckt unzutreffenderweise den Eindruck, Deutschland
setze allein auf militärische Mittel.
Umfassende Sicherheit braucht - wie wir wissen mehr. Sie wissen, dass dieses Parlament - vor allem die
Mehrheit in diesem Hause - in anderen Zusammenhängen
immer wieder nachdrücklich auf eine Stärkung der Rolle
der UN gedrängt hat. Internationale Politik muss der Herrschaft des Rechts folgen und nicht nur der Macht. Die Regierungskoalition ist sehr stolz darauf, dass es ihrem Einfluss zu verdanken ist, dass das aktuelle Mandant für den
Einsatz der Bundeswehr durch einen Beschluss des Sicherheitsrates abgesichert wird.
({1})
Die besondere Rolle, die der UN bei den Bemühungen
der Antiterrorkoalition zukommt, kann gar nicht überschätzt werden. Wir wünschen der UN und ihrem Generalsekretär - verbunden mit einem herzlichen Glückwunsch zur Verleihung des Friedensnobelpreises - viel
Erfolg.
({2})
Die Staaten Europas - einschließlich Russlands - haben offensichtlich nach dem 11. September ein eigenes
Gewicht in die Debatte eingebracht. Bundeskanzler
Schröder hat heute Morgen auf die eindeutig europäischen Akzente des wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen
und ökologischen Ausgleichs hingewiesen und die Entschlossenheit unterstrichen, im Kampf gegen den Terrorismus die Werte von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit um keinen Millimeter preiszugeben. Dem ist nichts
hinzuzufügen.
Frau Kollegin, ich darf Sie auf die angemeldete Redezeit hinweisen.
Wir stellen zurzeit in vielen Gesprächen fest, dass hohe Erwartungen an die Politik formuliert werden, entsprechend den Bedenken vieler Menschen in diesem Land. Lassen Sie uns gemeinsam daran
arbeiten, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit sind auch Teil des Antiterrorpaketes.
({0})
Ich erteile
nunmehr das Wort dem Innenminister des Landes Brandenburg, Jörg Schönbohm.
Jörg Schönbohm, Minister ({0}) ({1}): Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
schrecklichen Ereignisse des 11. September haben uns
wachgerüttelt. Deshalb diskutieren wir heute über die
Konsequenzen und unsere gemeinsame Verantwortung.
Wenn nicht alles täuscht, stehen wir am Anfang einer langen Wegstrecke der Auseinandersetzung mit einem nicht
klar fassbaren und definierbaren Gegner. Diese Auseinandersetzung ist durch das Hinterfragen vieler Dinge gekennzeichnet, die uns bisher sicher zu sein schienen. Bisherige Positionen müssen überprüft und weiterentwickelt
werden. Mit ihrem heute eingebrachten Antrag hat die
CDU/CSU-Fraktion ein umfassendes Konzept dazu vorgelegt. Dies ist angesichts der neuen Realität keine Hysterie, wie eben gesagt worden ist, sondern Augenmaß.
({2})
Wir bekennen uns zu Freiheit und Sicherheit durch den
aktiven Staat. Gehen Sie bitte offen und ohne Scheuklappen an unsere Vorschläge heran. Es geht doch um die Sicherheit und das Vertrauen unserer Bürger in den Rechtsstaat. Dafür sollte man einstehen und nicht für Ideologien.
({3})
Die Bitte, offen zu sein, richte ich in besonderem Maße
an diejenigen, die bisher politischen Schimären nachgejagt sind. Wir erinnern uns noch daran, dass in der Vergangenheit gesagt worden ist, innere Sicherheit sei ein
reaktionärer Reflex des Obrigkeitsstaates. Es hieß, die
Bundeswehr sei überflüssig oder müsse drastisch reduziert werden, oder auch, die Nachrichtendienste suchten
sich nach dem Ende des Kalten Krieges mit der Bekämpfung des Terrorismus nur ein neues Betätigungsfeld. An
dies alles erinnere ich mich. Sie haben sich geirrt. Nehmen Sie bitte Abschied von Ihren alten Positionen. Dann
haben wir eine neue Basis, auf der wir diskutieren können.
({4})
Die Grünen könnten von Otto Schily lernen, was aus einem wandlungsfähigen Grünen alles werden kann.
({5})
Das Glück der Einheit und die Freude, nur von Freunden umgeben zu sein, haben die Hoffnung genährt, auf
dem Wege in eine friedliche, bedrohungsfreie Zukunft zu
sein. Diese Hoffnung ist brutal zerschlagen worden. Die
gescholtenen Warner haben leider Recht behalten. Wir
müssen die neuen Herausforderungen annehmen, frei von
Ideologie, an der Realität orientiert und auf der Grundlage
unserer Verfassung. Dort, wo die Verfassung nicht mehr
der Realität entspricht, muss man prüfen, ob man die Verfassung weiterentwickeln muss. Das gilt auch für die
Frage, ob die Bundeswehr im Innern eingesetzt werden
soll. Herr Wieland, Sie haben gesagt, wir holten beim
Thema Bundeswehr wieder alte Klamotten hervor und
freuten uns noch darüber. Ich sage Ihnen: Die Innenminister haben große Sorgen, ob sie über die notwendigen
Kräfte verfügen, den Objektschutz sicherzustellen. Das
ist die Frage, um die es geht. Es geht nicht um die Frage,
ob wir uns darüber freuen können. Mit den Sorgen der Innenminister müssen wir uns befassen.
({6})
Die Entscheidung, die wir treffen müssen, lautet: Sollen wir etwas schützen oder nicht? Wenn wir ein Objekt
nicht schützen und es passiert etwas, wird uns die Bevölkerung fragen: Warum habt ihr uns nicht geschützt? Dann
müssen wir antworten: Weil wir uns geweigert haben, die
Diskussion über die innere Sicherheit zu führen. Deshalb
machen wir einen Fehler, wenn wir diese Diskussion nicht
führen. Wenn wir neue Regelungen im Bereich der inneren Sicherheit beschließen, dann müssen wir darauf achten, dass es keinen Missbrauch gibt, dass das Trennungsgebot und die Verantwortung der Länder für die Polizeien
erhalten bleiben, dass es aber möglich ist, die Bundeswehr im Innern einzusetzen, wenn es eine besondere Situation erfordert. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.
({7})
Wir unterstützen das, was der Herr Bundesinnenminister vorgelegt hat. Wir wollen nicht das tadeln, was unseren Vorstellungen entspricht. Ich kann mich noch an die
höhnischen Zwischenrufe und die höhnischen Gesichter
erinnern, als wir im Juli hier unsere Vorstellungen dargestellt haben. Damals hieß es immer: Alte Mottenkiste! Wenn Sie das Rad vollkommen neu erfinden und neue Erfahrungen einbringen wollen, dann tun Sie das. Unsere
Vorschläge entsprechen jedenfalls dem, was nach allen
Erkenntnissen die beste Möglichkeit ist, mit den Erfahrungen umzugehen. Sie scheuen sich, unsere Vorschläge
zu übernehmen, weil Sie dann zugeben müssten, dass Sie
sich geirrt haben. Geben Sie Ihren Irrtum zu und fangen
Sie neu an!
({8})
Die CDU und die CSU waren und sind - ich weiß, dass
Sie das nicht gerne hören - die Parteien der inneren Sicherheit; denn innere Sicherheit lebt von Konsequenz und
Kontinuität und nicht von kurzfristig eingebrachten Vorschlägen. Das wird auch jetzt wieder deutlich.
({9})
Wir können jetzt gemeinsam Fehlentwicklungen korrigieren; denn die neuen Herausforderungen richten sich
nicht an einzelne Parteien, sondern sie richten sich an die
Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Wir in Deutschland müssen die Herausforderungen annehmen. Die PDS
ist dazu nicht fähig - Frau Pau hat es ausgeführt -,
({10})
die Grünen schwanken zwischen Machterhalt und ihren
Grundsätzen und die SPD steht zwischen Otto Schily und
Hermann Scheer. Wir stehen geschlossen zu diesen Aufgaben der inneren Sicherheit und darum haben wir den
Antrag mit diesem Paket vorgelegt.
Mein Appell ist auch deswegen so eindringlich, weil
die Ersten das Boot der Solidarität, die unter dem Eindruck der Anschläge in den USA entstanden ist, schon
wieder verlassen. Kaum sind die Bilder von den Schutthaufen und dem Schrecken der Menschen in New York
verblasst, wird der Finger in den Wind gestreckt und wieder die ewiggestrige Stimmung der grünen Basis aufgenommen. Aber wir sind keine Stimmungsdemokratie. Darum hat der Bundeskanzler zur Disziplinierung der
Minister Jörg Schönbohm ({11})
Koalition auf die Richtlinienkompetenz verweisen müssen. So weit sind wir. Um diese Fragen geht es.
Meine Damen und Herren, bekennen Sie sich in der
Diskussion um die Fragen der inneren Sicherheit doch
endlich dazu, dass wir eine starke und wehrhafte Demokratie sind, diese auch wollen, dass wir unseren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Polizei, bei den
Nachrichtendiensten und in der Justiz vertrauen und nicht
vor ihrer Arbeit Angst haben und dass wir ihnen Dank
schulden! Das ist, meine ich, die Aufgabe, um die es geht.
({12})
Wir haben Sorgen, dass diese Mitarbeiter nicht in die
Lage versetzt werden, die neuen Aufgaben zu erfüllen,
und darum geht es doch. Gesetze müssen geändert werden. Die personelle und individuelle Ausstattung muss an
die neuen Aufgaben angepasst werden. Die Länder erwarten, dass die Bundesregierung nach den bisherigen öffentlichen Diskussionen nunmehr zur Tat schreitet. Die
Länder werden im Rahmen ihrer Zuständigkeiten ohne
Steuermehreinnahmen neue Prioritäten für die innere Sicherheit setzen müssen. Durch Prioritätensetzung werden
wir alles uns Mögliche tun, was auch unserer Verantwortung entspricht.
({13})
- Wenn es Sie interessiert: Wir können die Hundesteuer
erhöhen. Das betrifft die Kommunen.
({14})
Der Bund muss jetzt durch Prioritätensetzung den
Haushalt so zuschneiden, dass sich die neue Gewichtung
zugunsten der inneren Sicherheit auch darin widerspiegelt. Den an Entschlossenheit kaum zu überbietenden Ankündigungen zu den Maßnahmepaketen zur inneren Sicherheit müssen nun auch die Mittel folgen. Kollege
Bosbach hat dazu Ausführungen gemacht. Auch Kollege
Beckstein wird dazu etwas sagen. Ich unterstütze beides;
ich muss mich kurz fassen.
Es gibt viele Bereiche, in denen der Bund die Länder
unterstützen muss - das ist unzweideutig -: Zivilverteidigung, Katastrophenschutz, Bereitschaftspolizei, Schutz
vor biologischen oder chemischen Angriffen. Innenminister Schily übergibt heute je sechs Spürfahrzeuge an
die Länder Berlin und Brandenburg. Ich hoffe, dass diese
Übergabe nicht mit dem Termin des 21. Oktober zusammenhängt
({15})
und dass alle anderen Länder die Spürfahrzeuge auch erhalten; denn Bedrohung richtet sich nicht nach Wahlkampfterminen, sondern Bedrohung richtet sich nach anderen Gesichtspunkten.
({16})
- Damit das klar ist: Wir freuen uns darüber, dass wir sie
bekommen.
({17})
- Natürlich! Das sage ich doch. Es geht nur um den Übergabetermin; Sie sind doch auch von dieser Welt.
({18})
- Nicht Quatsch; Freude.
({19})
Wir müssen den Aufbau des digitalen Funknetzes vorziehen. Ich denke, dass der Bund beim Aufbau des Grundnetzes eine Führungsaufgabe übernehmen sollte. Wir
Länder müssen - das ist völlig klar - unseren Beitrag leisten. Der Aufbau des Grundnetzes ist von großer Bedeutung.
Meine Damen und Herren, wir sollten die Ereignisse
des 11. September gemeinsam als Herausforderung begreifen, aber auch als Anlass zur Besinnung auf das, was
wesentlich ist. Im Rahmen dieser Besinnung sollte man
vielleicht auch einmal die Scheuklappen ablegen und sehen, was, an der Sache orientiert, notwendig ist.
Wir müssen uns mit den Werten, dem Fundament unseres Handelns, und unserer Verantwortung für den Bürger beschäftigen sowie mit dem Spannungsverhältnis
zwischen Freiheit und rechtsstaatlichem Handeln zum Sichern der Freiheit. Da gibt es ein Spannungsverhältnis,
aber darüber kann man doch rational diskutieren, ohne zu
diffamieren.
Die innere Sicherheit ist eine Grundvoraussetzung des
gedeihlichen Zusammenlebens unserer Bürger und ihres
Vertrauens in den Rechtsstaat. Freiheit und Unversehrtheit unserer Bürger sind hohe Güter in unserer offenen
Gesellschaft. Sie zu schützen muss der Maßstab unseres
Handelns sein. Handeln wir, bevor es zu spät ist!
({20})
Nächster
Redner ist der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Dr. Ludger Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt
in der Tat nur wenige Probleme und wenige Politikbereiche, bei denen die Innen- und die Außenpolitik so eng verzahnt zusammenarbeiten müssen wie bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Zusammenspielen
müssen auf der einen Seite Mechanismen, die repressiv
wirken, die in der Lage sind, die aktuelle Gefahr direkt zu
unterdrücken und einzudämmen, und auf der anderen
Seite Mechanismen, die in der Lage sind, das Aufkeimen
neuer Gefahren präventiv zu verhindern. Wir reden also
über aktuelles Krisenmanagement und wir reden über
strukturelle Vorkehrungen sowohl im innen- als auch im
außenpolitischen Bereich.
Lassen Sie mich einige Aussagen zur Außenpolitik
machen. Hierbei ist das Interesse der Öffentlichkeit fokussiert auf die repressive Ebene, auf die militärische
Bekämpfung des Terrorismus, von der wir glauben,
dass sie unvermeidlich ist. Wir brauchen die militärische
Minister Jörg Schönbohm ({0})
Komponente, da der harte Kern des Terrorismus nicht für
politische Dialoge ansprechbar ist. Es ist aber, Herr
Schönbohm, mehr als berechtigt, danach zu fragen, in
welche politische Gesamtkonzeption diese militärischen
Aktivitäten eingebettet sind und ob die Außenpolitik ihren
Beitrag dazu leistet, auch die humanitären Probleme zu
lösen, die im Zuge der Terrorismusbekämpfung entstehen.
({1})
Dazu hat das Auswärtige Amt - übrigens in engem Dialog mit Abgeordneten dieses Hauses und mit den europäischen Partnern - in den letzten Wochen ein Gesamtkonzept entwickelt, das ich kurz skizzieren möchte.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dörflinger? - Bitte.
Herr Staatsminister, können Sie bestätigen, dass dem Deutschen Bundestag in seiner 13. Wahlperiode auf der Drucksache 13/4374
ein Antrag Ihrer Fraktion vorgelegen hat mit dem Titel
Mehr Effektivität und demokratische Transparenz bei
der Gewinnung und Analyse außenpolitischer Erkenntnisse durch Auflösung des Bundesnachrichtendienstes?
({0})
Können Sie ausschließen, dass dies heute zu den Grundüberzeugungen Ihres Hauses gehört?
({1})
Ich kann bestätigen, dass es in den letzten Jahren
eine intensive Diskussion darüber gab, auch in die Richtung, ob die Geheimdienste in der Form, in der sie existierten, noch in die Zeit passten. Dabei kam es zu Antworten, die damals vielleicht richtig waren, die angesichts
der neuen Situation so aber nicht mehr tragfähig sind.
({0})
Wir sind der Meinung, dass die Geheimdienste einer
Reform bedürfen, dass sie zu einer intensiveren Zusammenarbeit kommen müssen und dass sie fokussiert werden müssen auf die neuen Gefahren, während die Geheimdienste, von denen Sie sprechen, noch im Sinne Ihrer
Sicherheitsperzeption auf den Kalten Krieg gerichtet sind,
der längst vorbei ist.
({1})
Der Allgemeine Rat der Europäischen Union war sich
gestern einig in den Grundzügen eines politischen Lösungskonzepts für die Krise in Afghanistan und der
Bekämpfung des Taliban-Regimes. Wir Europäer meinen,
dass es eine innerafghanische Lösung geben muss, an der
alle politischen Kräfte beteiligt sein müssen und bei der
insbesondere die paschtunische Mehrheit eine zentrale
Funktion bei der Bildung einer neuen Regierung haben
muss. Wir meinen, dass diese Lösung durch die Einberufung der Großen Ratsversammlung gefunden werden
kann und dass der König hierbei eine Katalysatorfunktion
einnehmen kann. Das Auswärtige Amt und die anderen
europäischen Partner befinden sich in engem Dialog mit
den entsprechenden Kräften in Afghanistan und mit dem
König.
Wir meinen, dass auf der Basis dieser Ratsversammlung ein Verfassungsprozess in Gang gesetzt werden
muss, damit es nicht zu einem Rückfall in das Chaos der
Vor-Taliban-Zeit kommen kann. Wir meinen, dass die
Vereinten Nationen eine wichtige, wenn nicht entscheidende Funktion dabei haben, entsprechende Prozesse zu
stabilisieren.
In diesen Zusammenhang gehört auch die Bekämpfung
des humanitären Elends. Die Bundesregierung hat 51 Millionen DM, die Europäische Kommission hat über
600 Millionen DM für die aktuelle humanitäre Hilfe zur
Verfügung gestellt. Das entspricht dem, was im Moment
nötig ist.
Wir haben das Problem des Zugangs. Um dieses Problem zu lösen, reist der Außenminister in den nächsten Tagen in die Region, um mit Nachbarstaaten wie dem Iran
oder Tadschikistan darüber zu reden, ob die Grenzen für
humanitäre Hilfe geöffnet werden können. Das entspricht
der Politik, die der Bundeskanzler bereits angekündigt hat
und die er auch auf dem Sondergipfel in dieser Form vertreten wird.
Neben der politischen Kompetenz zur Lösung des Problems müssen wir strukturelle Vorkehrungen treffen, um
den Terrorismus auch im außenpolitischen Bereich besser
bekämpfen zu können. Dazu hat das Auswärtige Amt einige Maßnahmen ergriffen. Sie wissen, dass wir Mittel
zur Krisenprävention haben. Diese sind - ich bedanke
mich besonders bei den Kolleginnen und Kollegen des
Haushaltsausschusses - aufgestockt worden und wir werden sie auch auf die Aufgabe präziser fokussieren, um solche Konflikte zu lösen, die von Terroristen im Moment
genutzt werden, um sich einen gewissen Resonanzboden
zu verschaffen.
({2})
Das Auswärtige Amt hat einen Sonderbeauftragten zur
Terrorismusbekämpfung eingesetzt, der all diese Maßnahmen koordinieren soll und in enger Abstimmung mit
dem Innenminister stehen wird.
Erhard Eppler, unser ehemaliger Kollege, hat in einem
bemerkenswerten Aufsatz im Spiegel, darauf hingewiesen, dass Terrorismus im Zuge einer Verkennung der
Wichtigkeit staatlicher Strukturen die Ausdrucksform
einer privatisierten Gewalt ist,
({3})
was in vielen Debatten der letzten Jahre mit Bezug zum
Neoliberalismus - auch in diesem Hause - immer wieder
zum Ausdruck kam.
({4})
Wir meinen, dass in dem Moment, in dem Terrorismus
bekämpft werden muss, nicht nur hier innenpolitische
Maßnahmen getroffen werden müssen; vielmehr hat auch
die internationale Gemeinschaft die Aufgabe, über Entwicklungsfinanzierung und über andere ihr zur Verfügung
stehende Mechanismen sowohl an der Entwicklung von
Zivilgesellschaften als auch am Aufbau von staatlichen
Strukturen, von Institutionen und insbesondere von
Rechtssystemen mitzuwirken. Auch dieser Aufgabe wird
sich die Bundesregierung verstärkt stellen.
({5})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen: Eine
der wichtigsten Methoden zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist der Dialog der Kulturen. Wenn
wir das Verständnis zwischen den Kulturen aufbauen,
wenn andere Kulturen, andere Völker, andere Regionen,
andere Ethnien den Eindruck haben, dass sie weltweit
Freunde haben, dass sie verstanden werden, dass man ihre
Kultur schätzt, dass man versucht, ihre Ethik zu verstehen, wenn man versucht, die gemeinsame Ethik der
Menschheit herauszuarbeiten, dann werden sich die terroristischen Ambitionen erheblich vermindern. In diesem
Zusammenhang möchte ich hier noch einmal deutlich auf
die Wichtigkeit der auswärtigen Kulturpolitik hinweisen.
Herr Staatsminister, bitte halten auch Sie sich an die vorgegebene Redezeit.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Die auswärtige Kulturpolitik wurde über lange Zeit als
schmückendes Beiwerk zur Außenpolitik verstanden.
Heute wissen wir, dass deutsche Schulen, dass die Stipendienvergabe und dass der Schutz von Kulturdenkmälern eine wichtige Funktion haben, das Verständnis der
Völker zu vertiefen. Es kann nicht angehen, dass
Goethe-Institute aus Gründen der Mittelknappheit geschlossen werden müssen.
({0})
Das Auswärtige Amt hat Sondermittel für den Dialog
mit islamischen Ländern eingestellt. Die UNESCO führt
im Auftrag der Vereinten Nationen das Jahr des Dialogs
zwischen den Kulturen durch. Wir meinen, dass Kofi
Annan Recht hat, wenn er die Kultur der Prävention als
wichtigstes Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus bezeichnet sowie für eine Verzahnung aller Politikbereiche,
für die Ausrichtung der Politik auf frühzeitiges Erkennen
von Konflikten und für die Verhinderung von Gewalt eintritt.
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich gebe
nunmehr dem Bundesminister des Innern, Otto Schily,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Erlauben Sie
mir als Sportminister eine kurze Vorbemerkung: Der Kollege Stadler hat an einen historisch seit langem bekannten
sportlichen Wettbewerb erinnert, nämlich an den Wettlauf
zwischen Hase und Igel. Dementsprechend habe ich
meine Krawatte heute ausgewählt.
({0})
Der Ausruf des Igels lautet - Sie wissen das -: Ick bün all
dor. Was diesen Wettlauf angeht, ist das auch meine Devise.
({1})
Wir diskutieren heute über eine Vorlage der
CDU/CSU-Fraktion und, wenn ich richtig informiert bin,
über einen Antrag der FDP, der hier bisher leider unerwähnt geblieben ist, obwohl er sehr vernünftig ist. Ich
kann Ihnen mitteilen, Herr Kollege Stadler, dass das, was
Sie vorgeschlagen haben, im Wirtschaftsministerium
schon vorbereitet wird. Das ist in Ordnung.
Ich begrüße auch, dass die Opposition heute eine
Ideensammlung vorgelegt hat. Ich bezeichne diese als einen konstruktiven Beitrag zur Debatte. Warum sollte ich
das anders handhaben? Wenn man auf einen Begriff aus
dem Galerie-Deutsch zurückgreifen wollte, könnte man
sagen, das sei eine Accrochage. Das soll aber, bitte schön,
das Lob zunächst einmal gar nicht schmälern. Mir sind
diese Ideensammlungen durchaus willkommen. Wir sind
ja gerade dabei, sehr intensiv zu beraten, was wir im Rahmen des Sicherheitspakets II tun wollen. Ich denke, da
berücksichtigen wir auch Ihre Vorschläge. Warum sollten
wir das anders halten?
Ich möchte anregen, uns bei der Debatte so zu verhalten, dass wir sowohl Skepsis als auch konstruktive Vorschläge willkommen heißen. Ich finde es völlig in Ordnung, wenn einige fragen, ob dieser oder jener Vorschlag
nicht zu weit geht, wie es Herr Stadler getan hat und zum
Teil auch aus den Reihen der Grünen zu hören war. Vielleicht gilt das auch für einige aus der CDU/CSU; von
Herrn Kollegen Bosbach habe ich einige Aussagen in dieser Richtung gehört. Warum sollten wir das nicht ganz
friedlich und freundlich miteinander ausdiskutieren? Das
ist in einer rechtsstaatlichen Demokratie eigentlich die
Regel. Wir sollten aber nicht gegenseitig den Vorwurf
erheben, der eine meine es mit der Sicherheit und der andere mit der Freiheit nicht ernst. Dadurch käme die Diskussion auf ein schiefes Gleis.
({2})
Für meine Person sage ich: Wir sollten diesen Gegensatz
nicht bilden.
Ich habe es häufig genug gesagt und will es noch einmal betonen: Sicherheit ist die Voraussetzung von Freiheit.
({3})
Wer durch Kriminalität und erst recht durch Terrorismus
bedroht ist, kann nicht frei leben.
({4})
Der Rechtsstaat zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er
die Bürgerinnen und Bürger vor Kriminalität und Terrorismus schützt. Das wird die Bundesregierung auch weiterhin so handhaben.
({5})
In der Europäischen Grundrechte-Charta, der wir alle zugestimmt haben, ist das Grundrecht auf Freiheit und Sicherheit enthalten.
({6})
Diese Auffassung haben wir alle durch unsere Zustimmung bekräftigt. Darauf sind wir sozusagen vereidigt. An
diesen Eid müssen wir alle uns halten.
Meine Damen und Herren, die große Mehrheit des
Hauses ist ja der Meinung, dass wir zur Bekämpfung des
Terrorismus, dessen abgrundtiefe Dimensionen jetzt erkennbar geworden sind, auch militärische Mittel einsetzen müssen. Das sind die härtesten Mittel, die uns zur Verfügung stehen. Ich kann nun nicht verstehen, dass man an
anderen Stellen, wo es um die Schärfung der Instrumente
unserer Strafverfolgungsbehörden geht, allerlei Vorbehalte äußert. Da gehen die Dinge, wie ich finde, etwas
auseinander. Man muss das objektiv prüfen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, so sehr
ich es willkommen heiße, dass Sie eigene Vorschläge machen, denke ich doch, dass Sie sehr genau hinschauen
sollten, ob nicht einiges von dem, was Sie fordern, schon
längst erreicht ist. Der Kollege Bosbach hat in einem Interview am 8. Oktober - ich glaube, er hat es auch einmal
im Parlament gesagt - gefordert, wir bräuchten ein wirksames Zeugenschutzprogramm.
({7})
- Ich kann Ihnen, wenn Sie möchten, die Presseerklärung
zur Verfügung stellen. - Ich will Sie daran erinnern, dass
wir gerade das Zeugenschutz-Harmonisierungsgesetz
verabschiedet haben, das auch der Bekämpfung des
Terrorismus dient. Weiter haben Sie - in Ihrem Paket ist
das enthalten - die Verbesserung und Intensivierung des
Informationsaustausches gefordert. Diese Institutionalisierung ist bereits mit dem so genannten Informationsboard Finanzermittlungen umgesetzt. So finden sich eine
ganze Reihe von Forderungen, die längst umgesetzt wurden oder an deren Umsetzung gearbeitet wird. Dazu gehört etwa auch eine Datei von Ausländern, die sich extremistisch betätigen, und eine Datei von Deutschen, die
islamistischen Organisationen angehören. Die Innenministerkonferenz - es sitzen hier ja mehrere Innenminister
auf der Bundesratsbank ({8})
hat schon eine Datei erstellen lassen, in der politisch motivierte Ausländerkriminalität erfasst wird. Wenn wir die
noch um den einen oder anderen Punkt erweitern wollen,
bitte schön; aber auch das gibt es schon. Lassen Sie uns
daran anknüpfen.
Ich erinnere auch an den Satz des Kollegen Stadler: Es
geht nicht nur darum, immer neue Gesetze zu machen,
sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass der Vollzug
der bestehenden Gesetze ermöglicht wird.
({9})
Ich begrüße es, dass die Bundesregierung unterstützt
wird bei ihrem Vorhaben, die Personal- und Sachmittel
des Bundesgrenzschutzes, des Bundeskriminalamtes, des
Bundesamtes für Verfassungsschutz und anderer Institutionen aufzustocken. Von der Opposition vermisse ich allerdings Vorschläge zur Finanzierung. Sie fordern zwar
immer alles Mögliche, Vorschläge zur Finanzierung machen Sie aber nicht. Im Gegenteil: Sie widersprechen den
Maßnahmen zur Finanzierung, die wir vorgeschlagen haben. Das passt irgendwie nicht zusammen.
({10})
Ich will uns alle ermuntern, mit manchen Fragen ehrlicher umzugehen. Im Kreise der Ministerpräsidenten, die
sich kürzlich beim Bundeskanzler versammelt hatten, ist
man mit dem Thema ehrlich umgegangen. Wir wollen uns
doch gar nichts vormachen: Die alte Bundesregierung
hatte beschlossen, in bestimmten Institutionen den Personalbestand zu reduzieren, zum Beispiel beim Bundesamt
für Verfassungsschutz. Eine lineare Stellenkürzung wurde
auch im Bundeskriminalamt vorgenommen. Genauso
ehrlich und unumwunden sage ich Ihnen: Einige dieser
Personalprogramme haben wir weitergeführt. Warum
sollten wir uns gegenseitig etwas vormachen? Jetzt sind
wir aber in einer neuen Lage und wir müssen die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen. In dieser Frage bitte
ich um die Einmütigkeit dieses Hauses.
({11})
Wir werden selbstverständlich - entgegen unseren ursprünglichen Ansätzen - die Bereitschaftspolizei besser
ausstatten. Wir versuchen, einige technische Erfordernisse gemeinsam mit den Ländern voranzubringen. Diese
sind zum Teil sehr finanzaufwendig und technisch äußerst
kompliziert. Bei anderer Gelegenheit werden wir darüber
reden müssen. Herr Stadler, ich hätte mich gefreut, wenn
ich den Digitalfunk bereits vorgefunden hätte. Wir müssen jetzt aber erst einmal an diese Aufgabe, die sehr finanzaufwendig und ehrgeizig ist, herangehen.
Meine Damen und Herren, ich will auch darauf aufmerksam machen, dass das, was als Katalog der Vorschläge, die ich unterbreiten werde, kursiert, nicht vollständig ist. Es wird noch einige Veränderungen geben.
Eines will ich gleich vorwegnehmen, weil ich annehme,
dass auch der Kollege Beckstein sich dazu äußern wird:
Ich glaube, es ist notwendig - Herr Bosbach hat es angesprochen -, dass wir die Möglichkeiten zur Regelausweisung erweitern. Damit bin ich einverstanden. Ich bin mit
ihm einer Meinung, dass es nicht möglich ist, hier nach
Belieben, nach Ermessen zu verfahren. Menschen, die die
freiheitliche demokratische Grundordnung oder die
Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden,
sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen, öffentlich zur Gewalt aufrufen oder mit
Gewaltanwendung drohen, verwirken zwangsläufig ihr
Recht, sich bei uns aufzuhalten. Das halte ich für selbstverständlich. Wir werden dafür sorgen, dass diese Ausweisungstatbestände von einer Kann- zu einer Mussbestimmung geändert werden.
({12})
Dabei geht es auch um den Sofortvollzug. Auch dazu werden wir Vorschläge machen.
Ich komme zu einem anderen Thema, welches ebenfalls kürzlich behandelt worden ist: Ich bin stolz darauf,
dass es die Regierungskoalition und die Bundesregierung
waren, die den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft
an die Abgabe einer Loyalitätserklärung und daran geknüpft haben, tadelfrei, ohne extremistischen Hintergrund, zu sein. Zur Feststellung dieser Voraussetzungen
gab es eine unterschiedliche Praxis in den Ländern. Es
ging dabei um die Frage, ob eine Regelanfrage durchgeführt werden solle oder nicht. Wir haben uns jetzt mit allen Ländern darauf verständigt, dass die Regelanfrage
überall durchgeführt wird. In einigen Ländern fehlen dazu
noch die gesetzlichen Voraussetzungen, wie beispielsweise im Freistaat Sachsen. Diese werden aber noch geschaffen. Ich freue mich, dass wir uns in diesem Punkt einigen konnten.
Wir müssen selbstverständlich darauf achten, dass die
Identitätsfeststellung so gestaltet wird, dass wir Personen,
die aus irgendeinem Grund der Kontrolle unterliegen,
auch wirklich erkennen können. Wir müssen wissen, mit
wem wir es zu tun haben. Ich weiß gar nicht, was dagegen
sprechen sollte, dass man dabei auch moderne Identifizierungsmethoden verwendet. Wer das in irgendeinem
Gegensatz zur Menschenwürde oder zu den Menschenrechten sieht, verkennt die Sachlage. Auch heute gibt es
bei den Ausweisen entsprechende Methoden. Diese sind
aber leider nicht mehr ganz up to date.
({13})
Deshalb meine ich: Was zum Beispiel den Besuchern
des Hannoveraner Zoos zuzumuten ist - sie müssen, wenn
sie eine Dauerkarte haben, ihren Fingerabdruck zur Identifikation abgeben -, ist auch den Menschen an den Passkontrollstellen zuzumuten. Wer die Parole ausgibt, wir
wollten ein Volk von Verdächtigen, der redet an der Realität vorbei.
Weil die Redezeit auch von mir nicht überschritten
werden darf, erwähne ich nur stichwortartig, dass wir im
Zivilschutz eine Reihe von Maßnahmen in Gang gesetzt
haben. Dazu gehören das satellitengestützte Warnsystem,
die mehr als 600 Fahrzeuge, die den Ländern zugehen
werden, und viele andere Dinge mehr, die ich Ihnen in der
Kürze der Zeit nicht schildern kann. Wir brauchen auch
im Zivil- und Katastrophenschutz eine engere und bessere
Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern
und wir brauchen natürlich eine Ausweitung der europäischen Kooperation auf diesen Feldern. Auf europäischer
Ebene haben wir Vorschläge vorgelegt, die ich jetzt ebenfalls nicht im Einzelnen vortragen kann, weil hier schon
die Sekunden gezählt werden.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie alle,
bei der inneren Sicherheit dem Vorbild der Innenministerkonferenz nachzueifern, in der wir ein gutes Klima der
Zusammenarbeit und der Konsensbereitschaft haben. In
der Innenministerkonferenz werden - das ist keine Konsensfalle, sondern das dient den Interessen der Bürgerinnen und Bürger - Entscheidungen nur im Konsens getroffen, was die Sicherheit unseres Landes verbessert. Ich
bedanke mich bei meinen Kollegen Landesinnenministern ausdrücklich für diese hervorragende Zusammenarbeit und hoffe, dass in dieser ernsten, nicht alltäglichen
Frage der Bekämpfung des internationalen Terrorismus
auch dieses Parlament gemeinsam mit der Bundesregierung zu den notwendigen Maßnahmen kommt.
Damit erfüllen wir übrigens auch einen Auftrag, den
uns der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1373 erteilt hat, in der sehr konkrete Anforderungen enthalten
sind. Ich werde in der nächsten Woche die Ehre haben, mit
dem neu gekürten Nobelpreisträger, UN-Generalsekretär
Kofi Annan, zusammenzutreffen, und würde es sehr begrüßen, wenn ich ihm berichten könnte, dass die deutsche
Politik die zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus erforderlichen Maßnahmen einmütig und entschlossen angeht. Das wäre eine gute Grundlage für die Zukunft
unseres Landes und die Sicherheit unserer Bürgerinnen
und Bürger.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile
dem Staatsminister des Innern im Freistaat Bayern,
Dr. Günther Beckstein, das Wort.
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zuallererst bestätige ich ausdrücklich, worauf Herr
Bundesinnenminister Schily gerade hingewiesen hat: Die
Zusammenarbeit im Rahmen der Innenministerkonferenz
ist - übrigens auch und gerade nach dem 11. September,
als es eine große Anzahl von Schaltkonferenzen gab ausgezeichnet. Die überwältigende Mehrzahl der Bürger
erwartet gerade bei einer Krise der inneren Sicherheit,
dass wir nicht parteipolitisch miteinander streiten, sondern schauen, was notwendig ist, und dann gemeinsam
das Notwendige tun.
({1})
Deswegen ist es richtig, dass wir in einen vernünftigen
Wettstreit darüber eintreten, welche Maßnahmen nötig
und zweckmäßig sind und welche Maßnahmen nicht sehr
viel bringen. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen
ist völlig eindeutig und entspricht der Lagebeurteilung,
die alle Innenminister der Länder teilen: Wir sind noch
nicht am Höhepunkt der Bedrohung, sondern am Beginn
dieser Sicherheitskrise. Daher darf es nicht einfach ein
Weiter so geben, sondern wir müssen schauen, welche
Änderungen vorzunehmen sind, um die Freiheit unserer
Mitbürger zu sichern.
Das Sicherheitspaket I und auch das Sicherheitspaket II des Bundesministers des Innern halte ich im Großen
und Ganzen für akzeptabel. Ich verhehle aber nicht, dass
ich es wie meine Kollegen in der Innenministerkonferenz
sehr bedaure, dass hier keine enge Zusammenarbeit mit
den Ländern gesucht worden ist, wie es beispielsweise
beim Waffengesetz der Fall war, sondern wir nur eine
ganz oberflächliche Information bekommen haben. Als
Länder verstehen wir uns aber im Bereich der inneren Sicherheit als Partner der Bundesregierung und wollen uns
nicht wie der Koalitionspartner damit zufrieden geben,
aus der Zeitung informiert zu werden.
({2})
Die Grünen sind ja offensichtlich für solche Informationen aus zweiter Hand dankbar.
({3})
Wir erwarten auf diesem Gebiet eine enge Zusammenarbeit, damit wir deutlich machen können, was wir unterstützen und wogegen wir Bedenken haben.
Bedenken habe ich beispielsweise bei der Erweiterung der Kompetenzen des BKA. Dadurch entstünde die
Gefahr eines Kompetenzwirrwarrs. Das BKA sollte vor
allem seine unmittelbare Verantwortlichkeit in der Schaffung von INPOL neu wahrnehmen, womit wir Monate im
Verzug sind.
({4})
Wir lesen in der Zeitung, dass hier möglicherweise mehr
als 100 Millionen DM in den Sand gesetzt worden sind,
die uns beim Aufbau eines modernen Informationssystems fehlen.
({5})
Wir haben in Bayern ein umfangreiches Sicherheitspaket auf den Weg gebracht. Obwohl wir in den vergangenen Jahrzehnten keinerlei Stellenkürzungen vorgenommen haben - weder bei der Polizei noch beim Verfassungsschutz -, haben wir neue Stellen geschaffen. Wir
haben auch ausdrücklich eine beträchtliche Erhöhung der
für die Sachausstattung der Polizei bestimmten finanziellen Mittel vorgenommen, denn ich teile nicht die
Meinung meines geschätzten Kollegen Senator Wieland,
der sagt, das beste Arbeitsmittel der Kriminalpolizei seien
immer noch Bleistift und Papier. Wir meinen, dass für
eine moderne Polizei Computer und Elektronenmikroskope erforderlich sind.
({6})
Allerdings ersetzt auch das nicht das Köpfchen des Kriminalpolizisten.
Wir benötigen vom Bund ein klares Bekenntnis, dass
die Stärke des Bundesgrenzschutzes wieder auf das früher
gegebene Niveau angehoben wird. Herr Schily, ich habe
die frühere Bundesregierung kritisiert, dass sie zehn Abteilungen des BGS reduziert hat. Sie müssen sich dann
auch anhören, dass ich es für falsch halte, dass Sie diese
zehn Abteilungen nicht wieder schaffen. Wir brauchen
diese 5 000 Leute, denn beispielsweise der Berliner Innensenator ruft regelmäßig vor den Wochenenden seine
Kollegen an und bittet um Bereitstellung von Hundertschaften, weil der BGS nicht über die entsprechenden
Kräfte verfügt. Verleihen Sie dem BGS wieder seinen
früheren Stellenwert!
({7})
Ich appelliere an Sie: Erfüllen Sie Ihre Verpflichtungen
zur Ausstattung der Bereitschaftspolizei! Wir brauchen
wieder 60 Millionen DM, damit die Bereitschaftspolizeien der Länder einheitlich ausgestattet werden.
Ich appelliere an Sie: Statten Sie das THW besser aus!
({8})
Die Fahrzeuge des THW befinden sich in einem bejammernswerten Zustand. Wenn wir hier schon Freiwillige
und Ehrenamtliche einsetzen, dann müssen wir sie wenigstens ordentlich ausstatten.
Ich appelliere an Sie: Geben Sie nicht nur Berlin und
Brandenburg die ABC-Spürfahrzeuge! Ich kann diese Bevorzugung nicht akzeptieren und führe sie entweder auf
Wahlkampf oder auf Ihre Vorliebe für die preußische
Lebensart zurück. Aber auch Ihre bayerische Heimat
braucht solche Fahrzeuge.
({9})
Ich komme zu einem weiteren Gesichtspunkt. Ich verstehe ehrlich gesagt die ideologisch geführte Diskussion
über den Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren
nicht. Sie können einem bayerischen Innenminister abnehmen, dass wir keine unmittelbare Kompetenz für die
Bundeswehr im Landesinneren schaffen werden, aber die
Bundeswehr muss - auf eindeutiger Rechtsgrundlage - in
Amtshilfe für die Polizei in größerem Umfang tätig werden, als es heute der Fall ist.
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({10})
Ich nenne drei Beispiele. Ich habe etwa vier Wochen
lang mit Herrn Schily verhandeln müssen, bis für den
Truppenübungsplatz der Amerikaner in Grafenwöhr die
rund um die Uhr geforderten 120 Sicherheitskräfte bereitgestellt wurden. Anderenfalls hätten wir 600 Polizisten aus dem Landesinneren abziehen müssen, damit dieser größte amerikanische Truppenübungsplatz betreut
wird.
Hinsichtlich der Echelon-Abhöranlage in Bad Aibling
haben wir uns darauf verständigt, dass wir sie - anders als
die Amerikaner - in Deutschland als eine militärische
Einrichtung betrachten, damit eine Betreuung durch die
Bundeswehr möglich ist. Allerdings hat sich das Bundesverteidigungsministerium dieser Betrachtung bisher nicht
angeschlossen. Die Amerikaner wollen dort mehr als nur
einige Polizeibeamte mit Maschinenpistolen. Sie wollen
für die weltweit wichtigste Abhöreinrichtung angemessenen Schutz. Dafür muss Bundeswehr her.
({11})
Ein drittes Beispiel. Ich kann nicht verstehen, wie die
Frage der ABC-Abwehr auf ideologische Weise behandelt
wird und warum die Bundeswehr in diesem Bereich nicht
eingesetzt wird. Konkret: Am Freitag letzter Woche
tauchten beim Briefpostamt in Nürnberg zwei Briefe mit
der Aufschrift - in abenteuerlicher Rechtschreibung Der heilige Krieg hat begonnen auf. Aus diesen Briefen
rieselte weißes Pulver. Polizisten, die keinen Tag Ausbildung in der Abwehr biologischer Gefahren hatten, und
Feuerwehrleute, die dafür nie geübt hatten, mussten tätig
werden. 30 Kilometer entfernt erklärte ein ABC-Zug der
Bundeswehr auf Nachfrage, dass er keine Kompetenz
habe. Schaffen Sie die Kompetenz dafür!
({12})
Ansonsten machen Sie sich schuldig, dass Menschen, die
anstelle ausgebildeter Spezialisten eingesetzt werden,
längere Zeit in Quarantäne bleiben müssen. Sorgen Sie
dafür, dass die Bundeswehr endlich klare Anweisungen
bekommt! Der Verteidigungsminister sollte sich lieber um
das kümmern, was in Deutschland passiert, als um die
Frauen auf Mallorca.
({13})
Ein weiterer Punkt. Wir brauchen auch rechtliche
Änderungen. Der Datenschutz muss reduziert werden.
Herr Schily, Sie haben das zu Recht dargestellt. Wir brauchen die Änderung des Ausländergesetzes. Ich habe mich
heute gefreut, dass Sie erklären, dass Sie auch die Regelausweisung für gewaltbereite Extremisten einführen wollen. Bisher ist das in Ihrem Paket nicht enthalten.
({14})
Die Bundesländer Niedersachsen und Bayern werden
deswegen morgen im Bundesrat eine gemeinsame Initiative starten, um das Ausländerrecht entsprechend zu verbessern.
({15})
Dann ist Herr Stiegler der Letzte, der sich gegen die Ausweisung gewaltbereiter Extremisten wendet.
({16})
Herr Schily, Sie sollten besser mit Herrn Stiegler reden,
damit er nicht so viel Unsinn über den Bereich der inneren Sicherheit daherplappert.
({17})
Wir müssen die Regelanfrage nicht allein bei der Einbürgerung, sondern auch bei der Beantragung des Daueraufenthaltes einführen; denn wir wissen, dass der Daueraufenthalt nicht nur für die Schläfer, sondern auch für die
non-allied Mudschahedin - so werden sie von den Sicherheitsbehörden bezeichnet - eine wichtige Rolle spielt.
Deshalb brauchen wir auch für die Beantragung des Daueraufenthalts die Regelanfrage, zumal wir wissen, dass
unsere Kundschaft im extremistischen Bereich besonderen Wert auf die Erleichterungen legt, die sie bei ihren
weltweiten Reisen mit deutschen Reisepapieren erfahren.
({18})
Abschließende Bemerkung. Wer im Hohen Haus
meint, wir hätten Probleme, mit Herrn Schily in Konkurrenz zu stehen - wer ist besser im Bereich innere Sicherheit? -, der täuscht sich. Wir meinen, dass es sinnvoll ist,
in einen Wettbewerb der Vernünftigen und Sachkundigen
einzutreten.
({19})
Wir sind selbstbewusst genug, um zu sagen, dass diejenigen, die 10, 15 oder 20 Jahre mit großem Erfolg und mit
großer Zuverlässigkeit auf diesem Gebiet tätig waren, die
notwendigen Maßnahmen der Bevölkerung besser herüberbringen können als diejenigen, die das erst seit sechs
Wochen langsam lernen.
({20})
Der Maßstab sind nicht Ihre Reden, Herr Schily, sondern es sind die Beschlüsse der Bundesregierung, die Sie
gemeinsam mit der Koalition auf den Weg bringen. Bei
den notwendigen Maßnahmen unterstützen wir Sie.
({21})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Günter Graf das
Wort.
Nach dieser markigen Rede
({0})
- warten Sie mal ab! -, die auch in einem Bierzelt hätte
gehalten werden können, möchte ich den bayerischen Innenminister vor dem Hintergrund des Beispiels der Briefe
in Nürnberg, aus denen weißes Pulver rieselte, zum einen
fragen, ob es nicht reicht, wenn es bei der Bundeswehr
solche Einheiten gibt, denn die Amtshilfe ist noch immer
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({1})
ein gängiges Instrument. Zum anderen will ich sagen,
dass die Länderpolizeien - das müssten Sie als Dienstherr
doch wissen - ebenfalls entsprechende Trupps haben. Ich
selber habe das ja jahrelang gemacht: In besonderen, unbekannten Situationen gehen die Polizisten mit Gasmaske
vor.
({2})
Das müsste auch der Landespolizei in Bayern möglich
sein. Insofern ist das, was Sie der deutschen Öffentlichkeit hier darstellen, Bangemacherei. Sie erzählen einfach
nicht die Wahrheit!
({3})
Zur Erwiderung hat Staatsminister Beckstein das Wort.
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}):
Herr Kollege Graf, es ist definitiv falsch, dass eine Landespolizei wie die von Bayern Kräfte für die Reaktion auf
biologische, chemische oder atomare Anschläge hat.
({1})
Nach der Kompetenzverteilung - da sollten Sie sich einmal sachkundig machen - ist das die Aufgabe von Feuerwehren und Einrichtungen des Katastrophenschutzes.
({2})
Dort liegt die Zuständigkeit, wobei aufgrund der Kompetenzverteilung die Fahrzeuge vom Bund bereitzustellen
wären - deren Lieferung aber im Juni dieses Jahres für
zwei Jahre ausgesetzt worden ist.
({3})
Für Berlin und Brandenburg, Herr Kollege Graf, werden
jetzt allerdings jeweils sechs Fahrzeuge zur Verfügung gestellt.
Ich würde gerne von Ihnen hören: Warum ist es denn
so schlecht, wenn zum Beispiel die Originale der Erreger
von Milzbrand und ähnlichen Krankheiten bei keiner zivilen Einrichtung in Bayern, aber sehr wohl beim Institut
der Bundeswehr in Neubiberg vorhanden sind? Warum ist
es dann nicht möglich, innerhalb eines Wochenendes im
Wege der Amtshilfe eine Zuständigkeit herbeizuführen?
Stattdessen wird die Amtshilfe unter Hinweis auf die
Beschränkungen des Art. 35 für nicht zulässig erachtet,
({4})
weil nicht eine unmittelbare, konkrete Gefahr vorhanden
ist. Dann müssen wir eben Klarheit schaffen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen doch den Dialog nicht
stören. - Ich gebe jetzt als letztem Redner dem Kollegen
Hermann Bachmaier das Wort; er spricht für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Da Herr Kollege Graf und Minister
Beckstein gerade im Begriff sind, das Problem der Amtshilfe zu lösen, brauche ich dazu nichts weiter zu sagen. Ich
habe Ihnen allerdings die erfreuliche Mitteilung zu machen, dass für das gesamte Bundesgebiet, also unter anderem auch für Bayern, in den kommenden Wochen
650 Fahrzeuge der von Ihnen gewünschten Art angeliefert
werden. Sie werden Ihren gerechten Anteil daran erhalten.
({0})
Es steht außer Zweifel, dass wir nach den einschneidenden Ereignissen vom 11. September unsere bisherige
Sicherheitsarchitektur überdenken und überprüfen müssen. Wir müssen dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis
der Bevölkerung gerecht werden. Wir dürfen aber unsere
rechtsstaatliche Ordnung bei diesem Vorgehen keinen unzumutbaren Belastungen aussetzen.
({1})
Mit Recht hat deshalb der Bundeskanzler in seiner
Grundsatzrede vom 19. September darauf hingewiesen,
dass wir die Werte, die wir gegen den Terrorismus verteidigen, nicht selber infrage stellen dürfen. Selbstverständlich ist dabei, dass wir die möglichen Maßnahmen daraufhin überprüfen, ob sie erforderlich und geeignet sind,
der neuen Herausforderung zu begegnen und gerecht zu
werden. Augenmaß und Fingerspitzengefühl sind dabei
nicht die schlechtesten Ratgeber.
({2})
Dies hat vor allem dann zu gelten, wenn wir uns in sensiblen Bereichen unserer freiheitlichen Ordnung bewegen.
Wir sind uns darüber einig, dass die Sicherheitsorgane
personell und technisch ausgebaut werden müssen. Dies
hat auch die heutige Debatte ergeben. Sie müssen in die
Lage versetzt werden, auf die neue Gefahr angemessen zu
reagieren. Dies gilt für Polizei und Bundesgrenzschutz
ebenso wie für alle anderen Sicherheitsorgane, denen wir
uns anvertraut haben. Auch über viele einzelne gesetzgeberische und administrative Maßnahmen, die jetzt geboten sind, werden wir sicherlich schnell Einigkeit erzielen können; auch dies wurde heute deutlich.
Nicht hilfreich ist es allerdings, wenn alle erdenklichen
Vorschläge wieder aus der Schublade gekramt werden.
Jetzt ist nicht die Stunde, in der auch noch der letzte Ladenhüter aus der Wunschliste der Vergangenheit ausgegraben werden sollte, unabhängig davon, ob er uns weiterhilft oder nicht.
({3})
Es ist auch nicht die Zeit, in der wir uns wilde polemische
Schlachten darüber liefern sollten - auch dies ist heute
Günter Graf ({4})
deutlich geworden; Herr Beckstein, da wäre eine gewisse
rhetorische Mäßigung durchaus am Platz gewesen -,
({5})
wem nun die Sicherheit unseres Landes mehr oder weniger am Herzen liegt. Über die richtigen Wege können wir
streiten. Aber über das Grundanliegen sollte in diesem
Hause Einigkeit bestehen.
({6})
In einem Punkt der beabsichtigten Vorgehensweise allerdings unterscheiden wir uns doch recht wesentlich von
Ihnen. Wir alle sprechen gern davon, dass wir eine wehrhafte Demokratie haben. Das ist richtig so. Das Grundgesetz bietet genügend Spielräume und stellt genügend
Instrumentarien zur Verfügung, um die Feinde des
Rechtsstaates und der Demokratie zu bekämpfen. Wir setzen aber alles daran, die für notwendig erachteten Maßnahmen aus dem vorgegebenen Rahmen unserer grundgesetzlichen Ordnung zu entwickeln. Sie sind immer
wieder - dies zeigt auch der heute zu beratende Antrag schnell bei der Hand, ohne Not tragende Säulen der
Grundarchitektur unseres Landes infrage zu stellen.
({7})
- Ich zähle es gleich auf, Herr Marschewski.
Da werden zum Beispiel neue Kompetenzen für die
Bundeswehr und ein Ausbau ihrer Befugnisse im Innern
gefordert. Dabei bietet eine recht verstandene Amtshilfe
alle erdenklichen Möglichkeiten, die wir benötigen, und
es bleibt bei dem bisherigen verfassungsrechtlichen Rahmen.
({8})
Sie reden über die Schaffung eines Bundessicherheitsamtes zur Institutionalisierung der Zusammenarbeit aller
für die Sicherheit verantwortlichen Dienste und Einrichtungen, wie es so schön in Ihrem Antrag heißt.
Auch wird der alte Wunsch wieder aufgegriffen, verdeckten Ermittlern milieubedingte Straftaten gesetzlich
zuzugestehen.
Selbstverständlich darf, wenn man schon dabei ist, die
alte Forderung nicht fehlen, neben der so genannten akustischen Wohnraumüberwachung auch noch den Spähangriff, also die Videoüberwachung, durch eine weitere Änderung von Art. 13 des Grundgesetzes zu ermöglichen.
({9})
Wer seine Instrumentarien an derart grundsätzlichen
Eingriffen in unsere Freiheitsrechte orientiert, der ist
natürlich auch schnell bei der Hand, den verfassungsrechtlich verbrieften Datenschutz lediglich unter der Perspektive des Täterschutzes und somit als etwas
grundsätzlich Verwerfliches anzusehen; so heißt es zum
Teil wörtlich in Ihrem Antrag.
Meine Damen und Herren, nur in einem Punkt fordern
Sie größte Behutsamkeit, Augenmaß und ein hohes Maß
an Zurückhaltung, nämlich wenn es gilt, die möglichen
Finanzquellen terroristischer Angriffe aufzuspüren und
deshalb den Geldfluss besser unter die Lupe zu nehmen.
Dabei wissen wir, dass eine wirksame Kontrolle der
Geldströme eines der wirksamsten Instrumente im
Kampf gegen den Terrorismus ist.
({10})
Meine Damen und Herren, wie alle bewährten Demokratien ist auch unsere Verfassung auf dem Prinzip der
Gewaltenteilung und einem vielfältigen System von Begrenzungs- und Kontrollmechanismen, also einem System der checks and balances, aufgebaut. Dieses System
sollten wir auch in schwierigen Zeiten nicht infrage stellen. Rütteln Sie also nicht ständig an den Grundprinzipien
unserer Verfassung!
({11})
Die Ihnen und uns bereits vorliegenden Initiativen und
Vorschläge der Bundesregierung belegen, dass effizientes
Vorgehen und die Bewahrung unserer staatlichen Ordnung kein Widerspruch sind. Dies gilt - davon gehe ich
aus - auch für die bereits angekündigten und heute angerissenen Vorschläge, die von der Bundesregierung entwickelt werden. Wir sehen diesen Vorschlägen entgegen
und werden unseren parlamentarischen Rechten und
Pflichten nachkommen, aber immer gemessen an den
Maßstäben, die ich hier genannt habe.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7065 ({0}) an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf:
Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wahl eines Mitgliedes des Vertrauensgremiums
gemäß § 10 a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksache 14/7148 Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen schlagen auf Drucksache 14/7148 die Abgeordnete und Kollegin Dr. Konstanze Wegner vor.
Ein kurzer Hinweis zum Verfahren: Sie benötigen die
blaue Stimmkarte. Sie wurde verteilt. Sie brauchen außerdem Ihren weißen Wahlausweis aus Ihrem Stimmenkartenfach in der Lobby. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf
sich vereint, das heißt mindestens 334 Stimmen erhält.
Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder
Zusätze enthalten, sind ungültig. Die Wahl ist nicht
geheim. Das heißt, Sie können die Stimmkarte an Ihren
Plätzen ankreuzen. Bevor Sie die Stimmkarte einwerfen,
geben Sie bitte dem jeweiligen Schriftführer Ihren Wahlausweis als Nachweis der Teilnahme an dieser Wahl.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen, und eröffne die Wahl.
Ich darf darauf hinweisen, dass unmittelbar nach dieser
namentlichen Abstimmung weitere Abstimmungen erfolgen.
Ich frage, ob alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben haben.
({1})
- Herr Kollege Lippold erhält noch die Erlaubnis, seine
Stimmkarte einzuwerfen.
Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl gebe
ich später bekannt. Wir setzen die Beratung fort.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis o sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
26. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Risikostrukturausgleichs in der gesetzli-
chen Krankenversicherung
- Drucksachen 14/7123, 14/7168 -
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 7. Februar 2000 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Demo-
kratischen Sozialistischen Republik Sri Lanka
über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/7036 -
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 30. Juni 2000 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Volksrepublik China über
die Zusammenarbeit auf den Gebieten der
Wirtschaft, Industrie und Technik
- Drucksache 14/7037 -
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 18. Dezember 1997 über
gegenseitige Amtshilfe und Zusammenarbeit
der Zollverwaltungen
- Drucksache 14/7038 -
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 8. März 2001 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Malta zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 14/7039 -
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 24. August 2000 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteue-
rung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom-
men und vom Vermögen
- Drucksache 14/7040 -
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 19. April 2001 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und Kanada zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und be-
stimmter anderer Steuern, zur Verhinderung
der Steuerverkürzung und zur Amtshilfe in
Steuersachen
- Drucksache 14/7041 -
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 11. März 1996 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Demo-
kratischen Volksrepublik Algerien über die ge-
genseitige Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/7042 -
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 23. Mai 2000 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
Botsuana über die Förderung und den gegen-
seitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/7043 -
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Mar-
kenrechtsvertrag vom 27. Oktober 1994
- Drucksache 14/7044 -
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der am
3. Dezember 1999 in Peking beschlossenen Än-
derung des Montrealer Protokolls vom 16. Sep-
tember 1987 über Stoffe, die zu einem Abbau
der Ozonschicht führen, und zu weiteren An-
passungen des Protokolls
- Drucksache 14/7045 -
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
kommen vom 18. April 2001 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und dem Königreich
der Niederlande über soziale Sicherheit
- Drucksache 14/7046 -
m) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 19. September 2000 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Tsche-
chischen Republik über die Zusammenarbeit
der Polizeibehörden und der Grenzschutz-
behörden in den Grenzgebieten
- Drucksache 14/7095 -
n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung besoldungsrechtlicher Vorschriften
({2})
- Drucksache 14/7097 -
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Erbschaftsbesteuerung sofort reformieren
- Drucksache 14/7109 ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({3})
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Pflanzenschutzrecht darf Existenz des deutschen Obst- und Gemüsebaus nicht gefährden
- Drucksache 14/7141 Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Zu Tagesordnungspunkt 26 a liegt inzwischen auf Drucksache 14/7168 die Gegenäußerung der
Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vor, die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden
soll. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 27 b bis j.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Statistik im Handel und
Gastgewerbe
- Drucksache 14/5813 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5})
- Drucksache 14/7152 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Klaus-Peter Willsch
Wer diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
möchten, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 c auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Bereinigung von Kostenregelungen auf
dem Gebiet des geistigen Eigentums
- Drucksachen 14/6203, 14/6449 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7})
- Drucksache 14/7140 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Norbert Röttgen
Volker Beck ({8})
Dr. Evelyn Kenzler
Wer diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte
ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 d auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({9}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur 24. Änderung
der Richtlinie 76/769/EWG des Rates zur
Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der VerVizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
wendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen ({10})
KOM ({11}) 12 endg., Ratsdok. 05616/01
- Drucksachen 14/5610 Nr. 2.35, 14/6626 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Dr. Paul Laufs
Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6626, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu einigen Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses, den Tagesordnungspunkt 27 e
bis j.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 298 zu Petitionen
- Drucksache 14/7101 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 298 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 f auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 299 zu Petitionen
- Drucksache 14/7102 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 g auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 300 zu Petitionen
- Drucksache 14/7103 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 300 ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 h auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 301 zu Petitionen
- Drucksache 14/7104 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 301 ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der anderen Fraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 i auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 302 zu Petitionen
- Drucksache 14/7105 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 302 ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 j auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 303 zu Petitionen
- Drucksache 14/7106 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 303 ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur Forderung
der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte nach einer Pause der Luftangriffe auf
Afghanistan
Ich eröffne die Aussprache und gebe für den Antragsteller zuerst dem Kollegen Wolfgang Gehrcke das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das stärkste, das überzeugendste Argument gegen den Krieg - ich finde, das, was
ein Krieg ist, verdient auch die Bezeichnung Krieg - ist
der Krieg selbst. Ein Blick nach Afghanistan bestätigt das
aus meiner Sicht. Es leiden wiederum die einfachen, unschuldigen Menschen. Sie werden Opfer von Splitterbomben und Raketen. Sie hungern und verhungern.
100 000 Kinder, so warnte die UNO, werden in den kommenden Wintermonaten sterben, wenn nicht rechtzeitig
Hilfe kommt. 7 Millionen Menschen in Afghanistan, so
die UNO, müssen von außen mit Nahrungsmitteln versorgt werden. 1 Million Menschen in Afghanistan befinden sich auf der Flucht, von Bomben aus den Städten
vertrieben, oftmals in Gebiete, die vermint sind. Die Welt
- das ist keine Übertreibung - steht vor der größten humanitären Katastrophe der letzten Jahrzehnte, wenn keine
Hilfe kommt. Hilfe kann nur kommen, wenn als Erstes die
Bombardierungen aufhören, der Krieg zumindest unterbrochen oder - noch besser - eingestellt wird.
({0})
Ich habe bewusst gesagt: zumindest unterbrochen, weil
dies von der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte
vorgeschlagen worden ist. Diesen Vorschlag bringen wir
in das Parlament ein und wir möchten, dass er ernsthaft in
diesem Parlament erörtert wird.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Nun wird gesagt, so auch heute der Bundeskanzler, der
Krieg richte sich nicht gegen das afghanische Volk, sondern gegen die Taliban und gegen die Terroristen.
({1})
Es mag sein, dass diejenigen, die das sagen, das auch
glauben. Das will ich gerne unterstellen. Aber die Bomben fallen auf das afghanische Volk;
({2})
die Splitterbomben treffen das afghanische Volk und nicht
die Terroristen und deren Hintermänner. Das afghanische
Volk und niemand anderer leidet unter diesem Krieg.
({3})
Es leiden arme Menschen, die seit Jahrzehnten nichts anderes als Krieg, Vertreibung, Elend, Unterdrückung, den
Kolonialkrieg, die sowjetische Invasion, die Willkür der
Nordallianz und den Terror der Taliban kennen. Heute leiden sie wiederum unter Krieg und Bomben. Kann dieser
Kreislauf der Gewalt nicht endlich gestoppt werden?
({4})
Mit jeder Bombe - auch darüber sollte man sich klar
sein - wächst der Hass auf die Industrieländer. Terror
bekämpft man nicht, indem man Terroristen zu Märtyrern
macht, auch nicht, wenn man nur im Verdacht steht, dies
zu tun. Terroristen sind Verbrecher. Wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht zu Märtyrern werden. Auch deswegen
muss der Krieg in Afghanistan eingestellt werden.
({5})
Der Krieg wird den Hass nicht eindämmen. Er verbreitet ihn. Wir wollen eine Unterbrechung des Krieges,
damit Flüchtlinge versorgt werden können und Winterhilfe geleistet werden kann. Wir sind uns sicher - darin
unterscheiden wir uns von anderen -, dass der Krieg nicht
fortgesetzt werden kann, wenn er einmal unterbrochen
worden ist. Wir wollen, dass dieser Krieg beendet wird.
({6})
Ich habe mich gefreut, dass der Vorschlag, den Krieg
zu unterbrechen, auch von grünen Kollegen zumindest
kurzfristig unterstützt wurde.
({7})
- Ich habe mich gefreut, dass der Vorschlag der UNOHochkommissarin von grünen Kolleginnen und Kollegen
unterstützt worden ist.
So sehr ich mich über diese Unterstützung gefreut
habe, so sehr bin ich über die Töne entsetzt, die Claudia
Roth gerade aus der Fraktion der Grünen entgegenschallen. Dann kam der Kanzler mit seiner Richtlinienkompetenz. Das Wort des Kanzlers kam und der Wille aus
den Reihen der Grünen, das zu vertreten, war blitzschnell
zu Ende. Der Kanzler hat auch gesagt, in Kürze werde
deutsches Militär dabei sein. Was ist das für ein Parlament, dem nicht gesagt wird, was in Kürze bedeutet?
Wann ist in Kürze? Was für deutsches Militär wird sich
beteiligen? Wenn man will, dass dieser Krieg unterbrochen wird, wenn man will, dass nicht weiter gebombt
wird, dann muss sich Deutschland nicht nur zurückhalten,
sondern auch deutlich Nein sagen. Ich halte dieses Wort
vom Kanzler - in Kürze - für unverantwortlich. Ich
halte es auch für unverantwortlich, dass die Grünen ihren
eigenen Vorschlag, nämlich Unterstützung der Hochkommissarin, so schnell haben fallen lassen.
({8})
- Zu unterbrechen! Das ist alles nachlesbar.
({9})
Es wird nicht funktionieren, wenn man so damit umgeht. Eine Doppelstrategie der Grünen - Fischer für die
Bomben und Claudia Roth zum Heilen des Elends hinterher - wird erst recht nicht aufgehen. Entweder ist man
geradlinig und sagt Nein zum Krieg, Nein zu den Bomben, oder man hat für solche Vorschläge keine Glaubwürdigkeit.
({10})
- Ich weiß, dass ihr euch darüber aufregt. Es ist auch
meine Absicht, dass ihr euch aufregt. Ihr sollt euch endlich einmal am richtigen Punkt aufregen.
({11})
Wer diesen Krieg unterstützt, der muss auch die Verantwortung für diesen Krieg tragen.
({12})
Ich darf Ihnen zum Schluss, damit Sie sich wieder abregen können, die biblische Geschichte vom Menetekel,
das wir ja immer wieder zitieren, vorhalten, die Flammeninschrift an der Wand: mene, mene tekel. Gewogen,
geschätzt und für zu leicht befunden. Das ist das Ergebnis
Ihrer Politik: mene, mene tekel.
({13})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Johannes Pflug.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Ausgangslage für die
heutige Aktuelle Stunde ist ein Rundfunkinterview der
Hochkommissarin Mary Robinson. Ich verweise darauf,
dass Frau Robinson bereits sehr schnell nach den ersten
Meldungen der Medien dementiert hat, die auch von
der PDS heute als Forderung nach einer Beendigung der
amerikanischen Luftschläge interpretierte Äußerung in der
veröffentlichten Form so gemacht zu haben. Frau Robinson
hatte dem irischen Radiosender RTE gegenüber erklärt:
Wir brauchen eine Pause, um humanitäre Hilfsaktionen im großen Rahmen starten zu können und eine
große Zahl afghanischer Flüchtlinge über die Grenzen zu lassen.
Dann folgte die Begründung für ihre Meinung.
Ich sage hier ganz deutlich: Ich habe diese Meinung einer in humanitären und Menschenrechtsfragen sehr engagierten Hochkommissarin in keiner Weise zu kritisieren,
sondern ich bekunde Frau Robinson und ihrer Arbeit meinen ausdrücklichen Respekt.
({0})
Ich sage genauso deutlich: Ich fände es unverständlich,
wenn eine für Flüchtlingsfragen zuständige UN-Hochkommissarin in dieser Situation eine andere Haltung
einnähme. Aber es gibt natürlich auch andere Sichtweisen
der gegenwärtigen Situation, ohne die humanitäre Seite
gering zu schätzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich kurz den russischen Gouverneur der Region Moskau
zitieren, den ich an diesem Montag in einem Vortrag in der
Gesellschaft für Auswärtige Politik hier in Berlin erlebt
habe. Herr Gromov war in den 80er-Jahren als Generalkommandeur der 40. Sowjetarmee in Afghanistan.
({1})
- Ich gehe davon aus, dass er es weiß, Kollege
Gehrcke. - Er erklärte wörtlich, er sei mit allem einverstanden, was die Amerikaner zurzeit an militärischen Aktionen in Afghanistan durchführten, und halte diese auch
für richtig. Er sagte ferner, er halte den Einsatz von mobilen Luftlandeeinheiten für richtig, den Einmarsch von Bodentruppen hingegen für falsch, weil auch die Sowjetunion damals daran gescheitert sei - trotz 140 000 Mann
Bodentruppen in Afghanistan.
Worum es uns heute gehen sollte, ist eine Standortbestimmung und vor allem eine genaue Zielsetzung mit
Überprüfung der Frage, ob unsere Ziele erreichbar und rational sind. Wenn ich von unseren Zielen spreche, dann
meine ich unsere in uneingeschränkter Solidarität mit den
Amerikanern gesetzten Ziele. Diese Ziele heißen: erstens
Festnahme oder Ausschalten von Osama Bin Laden,
zweitens Zerstörung oder zumindest nachhaltige Störung
des Terrornetzes von al-Qaida und drittens politische und
wirtschaftliche Hilfe beim Aufbau demokratisch funktionsfähiger Strukturen in Afghanistan.
Diese Ziele sind vernünftig und erreichbar, wenn die
eingeleiteten militärischen Aktionen wie geplant fortgesetzt werden. Natürlich ist auch in diesem Fall der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten. Es ist
aber auch die Frage zu stellen, Kollege Gehrcke, was
wäre, wenn diese militärischen Operationen nicht stattfänden, und welche Alternativen wir eigentlich haben.
({2})
Um es gleich zu sagen: Die bloße Zurschaustellung
persönlicher Betroffenheit sowohl über die Terroranschläge in New York und Washington als auch über die
humanitäre Situation in Afghanistan und den angrenzenden Ländern sowie die verbale Verurteilung reichen nicht
aus. Sie sind eher Ausdruck persönlicher Befindlichkeit
als Ausdruck politischer Führung.
({3})
Humanitäre Hilfe und Hilfe bei der wirtschaftlichen
und demokratischen Entwicklung sind notwendig und
werden von keiner Seite bestritten. Diese Hilfe war schon
lange erforderlich, auch ohne die amerikanischen Militärschläge. Die humanitäre Katastrophe ist durch jahrelange
menschenverachtende Talibanmisswirtschaft, Unterdrückung und Vergewaltigung von Menschenrechten, insbesondere derer von Frauen, Kindern, Alten, Kranken und
Schwachen, in dieser Gesellschaft der selbst ernannten
Gotteskrieger und Bin Ladens entstanden.
({4})
Das wäre die Alternative für die Menschen in Afghanistan
geblieben.
Unsere Alternative wäre es, auch zukünftig Mordanschläge mit Tausenden von Toten durch Flugzeugbomben, Milzbranderreger, Giftgasanschläge oder sogar atomare Bedrohung lautstark zu verurteilen und natürlich
durch Resolutionen und Anträge die Beseitigung der Ursachen zu beschließen. Was Letzteres angeht, weiß eigentlich jeder in diesem Hause, dass dies zumindest in
den nächsten Jahrzehnten, wenn überhaupt jemals, nicht
möglich ist - nicht weil wir nicht wollen, sondern weil andere nicht wollen oder nicht können oder weil die Situation aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse in absehbarer
Zeit nicht änderbar ist.
Deshalb unterstützen wir weiterhin uneingeschränkt
die amerikanischen Operationen, solange sie rational und
nachvollziehbar und ihre Ziele erreichbar bleiben. Natürlich unterstützen wir auch jede vernünftige Form humanitärer Hilfe.
({5})
Ich darf an
dieser Stelle das von den Schriftführerinnen und Schrift-
führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung bekannt geben. Mitgliederzahl 666. Abgegebene
Stimmen 602. Ungültige Stimmen 2. Mit Ja haben ge-
stimmt 497, mit Nein haben gestimmt 70, Enthaltungen
33. Frau Dr. Konstanze Wegner hat damit die erforderli-
che absolute Mehrheit von mindestens 334 Stimmen er-
reicht und ist zum Mitglied des Vertrauensgremiums
gemäß § 10 aAbs. 2 der Bundeshaushaltsordnung gewählt
worden1).
({0})
1) Namensverzeichnis siehe Anlage 2
Nun darf der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff seinen
zweiten Anlauf nehmen. Ich erteile ihm das Wort. Er
spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen
Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorgestern nahm der neue amerikanische Botschafter,
Daniel Coats, als Gast an der Fraktionssitzung der
CDU/CSU teil.
({0})
Er stellte fest: Im Kampf für Freiheit und Sicherheit, gegen Terror und Unterdrückung standen die Unionsparteien immer uneingeschränkt und ohne Vorbehalt an der
Seite der Vereinigten Staaten.
({1})
Er fügte wörtlich hinzu:
An der Verlässlichkeit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat es für uns noch nie den geringsten Zweifel gegeben.
({2})
Zum Glück war Daniel Coats bei uns zu Gast und nicht
bei den Koalitionsfraktionen; denn an der Verlässlichkeit
der Grünen und leider auch der SPD sind erhebliche
Zweifel angebracht.
({3})
Die Parteivorsitzende und zahlreiche Landesverbände
der Grünen, aber auch Abgeordnete, Orts- und Kreisverbände der SPD fordern unter Berufung auf humanitäre
Motive eine Unterbrechung des Militäreinsatzes gegen
das Netzwerk des Terrors in Afghanistan. Sie stellen sich
mit der Arroganz der Friedensbewegung gegen den
Kampf der Vereinigten Staaten und der zivilisierten Welt
für Freiheit, Sicherheit und Menschenwürde.
Es gibt eben keinen Gegensatz zwischen dem Kampf
gegen Terroristen und der Hilfe für die unterdrückte Bevölkerung. Im Gegenteil: Zur konsequenten Zerschlagung terroristischer Strukturen auch mit militärischen
Mitteln gibt es keine Alternative; denn erst sie schafft die
Voraussetzungen für Nahrungsmittelhilfe, medizinische
Hilfe und den Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft. Wir sind deshalb moralisch verpflichtet, dem menschenverachtenden Terrorismus Bin Ladens mit großer
Klugheit, mit aller Entschiedenheit, mit allen Mitteln und
ohne jeden Verzug die Grundlage zu entziehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Lebensmittel und Hilfsgüter in die
Hände von al-Qaida geraten und für deren Ziele instrumentalisiert werden.
Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die Taliban als Unterstützer des Terrors reorganisieren und ihre Macht wieder festigen. Wir dürfen keinen Zweifel an der Entschlossenheit aufkommen lassen, dieses Regime so schnell wie
möglich zu Fall zu bringen. Nur ein Afghanistan, das nicht
als Operationszentrale des Terrorismus fungiert, hat Zukunft. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kampf gegen
das Netzwerk Bin Ladens als Ursache für die humanitäre
Katastrophe in Afghanistan dargestellt wird.
Der Bundeskanzler und der Außenminister haben zu
der Forderung, die Angriffe zu unterbrechen, unzweideutig Stellung genommen. Wir unterstützen ihre Haltung
ohne Abstriche. Das gilt auch für die Position, die der Kollege Pflug vorhin vorgetragen hat.
({4})
Allerdings dürfen der Bundeskanzler und der Außenminister nicht zulassen, dass Politiker der SPD und der
Grünen einer zynischen Propaganda des Terrors auf den
Leim gehen. In Richtung PDS, lieber Kollege Gehrcke,
und in Richtung der Parteivorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Frau Roth, sage ich: Ihr Pazifismus ist
nicht nur naiv, sondern auch unmoralisch, weil er der Beseitigung von Unrecht, Terror und menschlichem Leid
entgegensteht.
Vielen Dank.
({5})
Ich gebe der
Kollegin Rita Grießhaber für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was hat Mary
Robinson denn gemacht? Die UN-Hochkommissarin für
Menschenrechte hat, was ihre Aufgabe ist, auf die große
Not der flüchtenden und hungernden Menschen in Afghanistan hingewiesen. Laut Reuters vom 12. Oktober hat sie
gesagt:
Ich habe zu keinem Zeitpunkt zu einer Pause in der
Militäraktion in Afghanistan aufgerufen.
Bezogen auf
... ich hörte heute Morgen, dass es eine Suspendierung der Angriffe geben könnte. Ich hoffe sehr, dass
dies zutrifft, sodass man sich auf die Rettung von
Hunderttausenden von Menschenleben konzentrieren kann. Wir haben ein Window of Opportunity ...
Äußerungen mehr politischer Natur würde ich dem
Generalsekretär überlassen, der für die VN als
Ganzes spricht.
So weit Mary Robinson.
({0})
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
In der Tat ist die humanitäre Situation in Afghanistan
katastrophal; aber diese Katastrophe hat Jahrzehnte vor
dem 11. September 2001 begonnen und sie hat sich seit
der Herrschaft der Taliban verschärft. Wer hat denn selbst
den Witwen die Möglichkeit genommen, für sich und ihre
Kinder das Brot zu verdienen? Wer hat denn jahrelang
Mohn statt Weizen anbauen lassen? Wer hat mit den letzten Schikanen die Arbeit der internationalen Hilfsorganisationen behindert?
({1})
Das waren die Taliban.
Die Taliban haben die Bevölkerung geschunden. Sie
haben die Minderheiten brutal verfolgt und - jetzt kommt
das Wichtigste in dieser Reihe, Herr Gehrcke - sie haben
sich mit dem Terrornetz Bin Ladens verbrüdert. Nun gilt
zweierlei: Es gilt, die humanitäre Situation in Afghanistan
zu verbessern - die Bundesregierung als Vorsitzende der
Support Group für Afghanistan tut wirklich alles Erdenkliche -,
({2})
und es gilt, dem internationalen Terrorismus die Operationsbasis zu entziehen. Je schneller das Taliban-Regime
fällt, desto nachhaltiger kommt man beiden Zielen näher.
({3})
Die Bombardierung der militärischen und terroristischen Infrastruktur ist doch kein Selbstzweck. Wenn dies,
wie einige behaupten, Aktionen der Rache und der Vergeltung wären - das sind sie eben nicht -, dann könnte
man sie ganz leicht abbrechen. Da ihr Ziel aber ein anderes ist, muss auch die notwendige humanitäre Hilfe so geleistet werden, dass sie machbar ist und bei den Menschen
ankommt. Selbst die Vertreter der Welthungerhilfe, die
Hilfskorridore gefordert haben, haben auf Nachfrage zugegeben, dass diese Korridore selbstverständlich abgesichert werden müssten. Wie sollte das aussehen?
Wir alle wollen, dass der Bevölkerung in Afghanistan
geholfen wird. Wir hoffen sehr, dass die Militäraktionen
bald zu dem Erfolg führen, dass die Terroristen gefasst
werden und der Terror in Afghanistan keine Basis mehr
hat, damit das Window of Opportunity, das sich Mary
Robinson wünscht, sobald wie möglich Wirklichkeit
wird.
Wir wollen aber auch, dass alles Notwendige getan
wird, damit, wie es in der Resolution der Vereinten Nationen heißt, der Weltfrieden und die internationale Sicherheit durch diesen Terror nicht weiter gefährdet werden.
Vielen Dank.
({4})
Nun spricht
für die FDP-Fraktion der Kollege Ulrich Irmer.
Vielen Dank, Herr Präsident! Es
ist nicht das erste Mal, dass ich bei einer Rede von Frau
Grießhaber von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sagen kann: Das hätte ich genauso sagen können.
({0})
Nur, Frau Grießhaber, Sie haben hier das falsche Publikum angesprochen. Halten Sie diese Rede einmal vor den
Gremien Ihrer grünen Partei! Ich möchte einmal sehen,
was dann da passiert.
({1})
Wir alle hier sind schon katholisch.
Ich möchte insbesondere eines unterschreiben, was
Sie, Frau Grießhaber, gesagt haben: Eine Unterbrechung
der Luftschläge in Afghanistan gegen den Terrorismus
würde nichts anderes bedeuten als eine Fortsetzung und
Stärkung des verbrecherischen Talibanregimes, das ursächlich für die Flüchtlingsströme ist, die es ja nicht erst
seit gestern bzw. vorgestern gibt, sondern die aufgrund eines jahrelangen Terrorregimes im Inneren von Afghanistan entstanden. Die armen Menschen hatten keine andere
Wahl mehr, als jenseits der Grenzen Zuflucht zu suchen.
Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einem
Höchstmaß an Heuchelei zu tun. Die PDS sagt, sie sei pazifistisch.
({2})
Wir hatten ja schon einmal einen Afghanistankrieg. Was
haben Sie denn in den 80er-Jahren gesagt, als die Sowjetunion Afghanistan besetzt hat?
({3})
Ich möchte einmal wissen, wie Sie zu Ihrem Pazifismus
kommen. Sie spielen sich hier doch immer so auf als diejenigen, die für die kleinen Leute eintreten. Wissen Sie,
was die kleinen Leute wollen, auch hier in Deutschland?
({4})
Sie wollen, dass der Terrorismus mit Stumpf und Stiel
ausgerottet wird, damit sie wieder ruhig schlafen können
und keine Angst mehr vor Terrorangriffen
({5})
entweder durch Flugzeuge und Bomben von außen oder
durch Briefchen mit biologischen Kampfstoffen im Inneren haben müssen. Fragen Sie doch einmal Ihre Leute, was
die dazu sagen, dass Sie dem Terrorismus helfen wollen,
({6})
indem Sie ihn nicht entschlossen genug bekämpfen.
({7})
Wer den Terrorismus nicht entschlossen genug zu
bekämpfen bereit ist, hilft ihm. Das ist die Wahrheit.
({8})
Wir werden ja sehen, ob Ihre Wähler, die einfachen Leute,
Ihnen am Sonntag vielleicht dafür die Quittung erteilen.
Aber was ist bei den Grünen geschehen, meine Damen
und Herren? Claudia Roth fährt nach Pakistan, geht aber
nicht in die Flüchtlingslager, sondern setzt sich in die Glitzerhalle eines Luxushotels und empfängt einige wohlgenährte und gut gekleidete Repräsentanten von Organisationen.
({9})
Was ist sie, als sie zurückkommt? - Betroffen. Sie ist so
tief betroffen, wie es nur jemand sein kann, der in Wahrheit nicht betroffen ist. Wir müssen uns diese Vokabel einmal auf der Zunge zergehen lassen. Betroffen sind nämlich immer diejenigen, die es nicht getroffen hat, die fein
in Sicherheit sind und dem Rest der Welt die moralischen
Maßstäbe vorgeben wollen. So sieht Ihre Betroffenheit
aus!
({10})
Daraufhin machen Sie solche unsinnigen Vorschläge.
Frau Roth hat das doch bloß getan, um die Leute aufzufangen, die jetzt zur PDS überlaufen könnten. Davor hat
sie Angst, denn die Grünen vertreten ja offiziell die friedensbewegte Bevölkerung nicht mehr. Das fällt für mich
unter den Begriff Heuchelei.
Sorgen Sie doch einmal für Ordnung in Ihren eigenen
Reihen. Von Ihrer grünen Basis aus der Provinz - Sie werden sagen: Das hat nichts zu bedeuten - kommen Vorschläge, der Bundesaußenminister solle jetzt den Amerikanern ins Gewissen reden, dass sie endlich mit diesen
Luftschlägen aufhören.
({11})
Das stößt auf weite Zustimmung in der grünen Basis. Sie,
Frau Grießhaber, müssen trotz allem Respekt und aller
Wertschätzung, die ich für Sie persönlich - Sie wissen,
dass ich hier nicht die Unwahrheit sage, eigentlich nie hege,
({12})
schon einmal erklären, wie sich denn das, was Sie hier gesagt haben, mit dem verträgt, was landauf, landab an Ihrer grünen Basis an Moralismus gepflegt und gepredigt
wird. Das müssen die Grünen hier erklären.
({13})
Ich weiß nicht, ob Herr Lippelt, der nachher noch spricht,
({14})
die richtige Persönlichkeit ist, um das hier deutlich zu machen. Der Außenminister hat sich ja eindeutig geäußert.
Wie ist es denn um die Verlässlichkeit innerhalb einer Koalition bestellt,
({15})
in der dem einen Partner in dieser wesentlichen nationalen und internationalen Frage offensichtlich die Basis
wegbricht? Dazu müssen Sie sich noch äußern.
Wir müssen für die Zeit nach dem Krieg Konzepte für
Afghanistan entwickeln. Unser Fraktionsvorsitzender,
Wolfgang Gerhardt, hat unsere Überlegungen gestern der
Öffentlichkeit vorgestellt. Die Vereinten Nationen müssen hier eine große Verantwortung übernehmen. Wir verlangen für den Wiederaufbau nach dem Krieg einen Hohen Beauftragten der Vereinten Nationen für Afghanistan.
Natürlich muss Afghanistan sein Schicksal in die eigene
Hand nehmen. Auf längere Sicht muss es hier zu demokratischen Wahlen kommen, an der sich alle Bevölkerungsgruppen beteiligen müssen. Es muss aber auch klar
sein: Ohne eine internationale Unterstützung wird es einen Neuanfang in Afghanistan nicht geben können. Die
Vereinten Nationen sind hier gefordert. Genauso, wie wir
jetzt bei der Notwehr gegen den Terrorismus in großer und
uneingeschränkter Solidarität zu den Vereinigten Staaten
stehen, so müssen wir - als Deutsche und in der Europäischen Union - nachher auch in Afghanistan Hilfe leisten.
Ich danke Ihnen.
({16})
Für die
SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Hans-Peter
Bartels.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In einer offenen Gesellschaft,
die pluralistisch und demokratisch organisiert ist, kann
die Regierung noch so uneingeschränkt entschlossen auftreten und die Zustimmung der Bevölkerung und des Parlaments zur Politik der Regierung kann noch so groß sein:
Es wird immer auch abweichende Stimmen geben, zum
Beispiel die der PDS. Das ist das Kennzeichen der offenen Gesellschaft und dafür verteidigen wir sie.
({0})
Widerspruch, Diskussion, Meinungsstreit und Demonstrationsrecht - das sind die Freiheiten, die politische und
religiöse Fanatiker jeder Art immer wieder mit Mord, Terror und Krieg bekämpft haben.
({1})
Es ist die Pflicht der Demokraten, solchem Terror wirksam entgegenzutreten.
({2})
Wenn es nötig ist - in letzter Konsequenz -, auch mit Waffengewalt.
Lassen Sie mich einige grundsätzliche Bemerkungen
machen: Im nun zu Ende gegangenen 20. Jahrhundert hat
die Welt schlimme und tödliche Erfahrungen mit totalitären Ideologien und Regimen gemacht - auch in
Deutschland und von Deutschland aus. Jeder kann wissen, was Unfreiheit bedeutet. Wir wissen aus unserer eigenen Geschichte: Gegen die Feinde der Freiheit hilft Appeasementpolitik nicht. Deshalb darf es keinen
Unterschlupf und kein sicheres Hinterland für weltweit
konspirierende Terroristengruppen geben.
({3})
Beihilfe zum Terror und Schutz der Terroristen durch
einzelne Länder sind nicht hinzunehmen. Womit auch immer Terrorgruppen ihre Menschenverachtung zu legitimieren versuchen: Es ist die Heilserwartung, der sie dienen, der Führer, dem sie folgen, es ist ihr extremistisches
Weltbild und nicht die Welt, die ihren Taten Sinn gibt. Es
gibt keine Rechtfertigung für totalitären Terror.
({4})
Bei der Bekämpfung terroristischer Gefahren für den
Weltfrieden richten wir uns, wie Bundespräsident Rau in
seiner Ansprache in Berlin gesagt hat, nicht gegen eine
Religion, nicht gegen ein Volk und nicht gegen eine Kultur. Zu bekämpfen ist der mörderische und selbstmörderische Fanatismus organisierter Gruppen, die Freiheit und
Demokratie gewaltsam auslöschen wollen.
In der Friedensbewegung zu Zeiten des Kalten Krieges
gab es einen Slogan, der lautete: Stell dir vor, es ist
Krieg, und niemand geht hin. Das ist eine richtige und
wichtige Kontrollüberlegung. Krieg fällt nicht vom Himmel, sondern er ist immer menschengemacht. Menschen
entscheiden selbst. Aber eben nicht jeder für sich allein.
Niemand ist deshalb sicher vor Gefahr, weil er selbst für
andere keine Gefahr darstellen will. Den alten Slogan aus
den 80er-Jahren gibt es deshalb auch mit einem Nachsatz:
Stell dir vor, es ist Krieg, und niemand geht hin. Dann
kommt der Krieg zu dir. So war das am 11. September 2001. Das Schlimmste wäre, dann nichts gegen den
Terror tun zu können, wie das Kaninchen vor der
Schlange zu sitzen und vor Angst zu erstarren. Die Weltgemeinschaft kann aber etwas tun. Wir können und müssen mehr tun, als nur besorgt und beunruhigt und irgendwie solidarisch mit den Opfern zu sein.
Bereits 1998 hat der UNO-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1214 gesagt, er sei äußerst beunruhigt darüber,
dass Afghanistans Hoheitsgebiet, insbesondere die von
den Taliban kontrollierten Gebiete, nach wie vor zur Beherbergung und Ausbildung von Terroristen und zur Planung terroristischer Handlungen benutzt wird. 1999
heißt es in der UNO-Sicherheitsratsresolution 1267, dass
der Sicherheitsrat die Tatsache missbilligt, dass die Taliban Usama Bin Laden weiterhin Zuflucht gewähren und
es ihm und seinen Mithelfern ermöglichen, von den durch
die Taliban kontrollierten Gebieten aus ein Netz von
Ausbildungslagern für Terroristen zu betreiben und
Afghanistan als Stützpunkt für die Förderung internationaler terroristischer Operationen zu benutzen. Das war
1999, nach den Terroranschlägen auf die US-Botschaften
in Nairobi und Daressalam.
Erst nach den noch fürchterlicheren Anschlägen auf
das World Trade Center in New York und das Pentagon in
Washington und auf der Grundlage einer weiteren UNOResolution wird jetzt Gewalt angewendet, um den Terroristen ihre Operationsbasis zu entziehen. Was hätte denn
sonst die Antwort sein sollen? Was wäre die Alternative
zu Nichtstun?
Erhard Eppler hat im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg einmal sinngemäß gesagt: Man wird schuldig,
wenn man Gewalt anwendet, aber manchmal lädt man
größere Schuld auf sich, wenn man es nicht tut. Dies ist
heute so. Deshalb unterstützen wir die USA und die Weltgemeinschaft im Kampf gegen den Terror.
({5})
Für die
CDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen Paul Breuer
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS hat diese Aktuelle Stunde unter dem Motto Haltung der Bundesregierung zur Forderung der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte
nach einer Pause der Luftangriffe auf Afghanistan verlangt. Es ist hochinteressant, was man feststellt, wenn
man einmal danach fragt: Was hat denn Mary Robinson
eigentlich gesagt? Sie, Herr Gehrcke, haben hier praktisch
so getan, als ob Sie die Übersetzung für das liefern, was
Mary Robinson gesagt hat.
({0})
Ich will versuchen, darzustellen, was sie gesagt hat.
Sie hat zum Ersten gesagt, sie möchte eine Unterbrechung des Bombens, um Hilfe zu gewährleisten, bevor
der Winter einsetzt.
({1})
- Warten Sie ab. - Sie hat zum Zweiten gesagt: Nun gibt
es einen militärischen Einsatz und ich verstehe die
Gründe.
({2})
Sie hat zum Dritten gesagt, sie wolle nicht sehen, dass die
Zivilbevölkerung in Afghanistan indirekt zum Opfer dessen wird, was am 11. September in Amerika geschehen ist.
({3})
Bitte schauen Sie sich dies im Zusammenhang an. Sie
hat gesagt, sie verstehe die Gründe der militärischen Aktion. Wir haben hier doch sehr deutlich gemerkt, dass Sie
überhaupt nicht bereit sind, die Gründe zu verstehen.
({4})
Sie haben von Anfang an - Herr Kollege Gehrcke, das gilt
für die ganze PDS - versucht, in diese Position zu schlüpfen, ohne irgendeine Alternative auf den Tisch zu legen,
und haben geglaubt, Sie könnten damit die moralisch bessere Position in Deutschland übernehmen. Ich spreche Ihnen diese Position ab. Ich spreche sie Ihnen insbesondere
ab, weil Sie versuchen, Zeugen für Ihre Position in Anspruch zu nehmen, die sich dafür absolut nicht eignen.
({5})
Nun noch einmal zu Mary Robinson. Sie hat gesagt, sie
möchte nicht sehen, dass die Zivilbevölkerung indirekt
zum Opfer wird. Glauben Sie denn, irgendjemand hier im
Deutschen Bundestag möchte dies? Niemand möchte,
dass die Zivilbevölkerung in Afghanistan indirekt zum
Opfer der Folgen des 11. September wird. Auf eines müssen wir doch Wert legen, und zwar auf die Feststellung,
wer den 11. September verursacht hat. Ich habe den Eindruck, dass Ihnen die Taliban und Bin Laden und deren
Wohl wesentlich wichtiger sind als die tatsächlichen Folgen des 11. September und insbesondere die Opfer des
11. September in den Vereinigten Staaten von Amerika.
({6})
Ich möchte mir noch ein paar Gedanken über die Signale machen, die von der Bundesregierung und der sie
tragenden Koalition ausgehen. Diese Debatte leidet ein
Stück darunter, dass insbesondere für die Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen Abgeordnete reden, die nicht die
Position ihrer Parteivorsitzenden vertreten.
({7})
Wenn ich mir genau anschaue, wie Claudia Roth argumentiert hat, so stelle ich fest: Sie ist dabei, die vom Bundeskanzler, vom gesamten Haus mit Ausnahme der PDS
und von der rot-grünen Koalition beschworene uneingeschränkte Solidarität auf eine absolut eingegrenzte Solidarität zu reduzieren, sofern dies überhaupt noch als Solidarität bezeichnet werden kann. Das erzeugt nicht nur
Schaden im Inneren Deutschlands; das erzeugt auch außerhalb Deutschlands Schaden. Es geht nämlich nicht nur um
Solidarität mit den Vereinigten Staaten. Sie ist angesagt;
wir Deutschen müssen ganz speziell dankbar sein. Es geht
auch um unsere eigenen Interessen. Wir können es nicht
verantworten, dass in der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus diejenigen, die jetzt in jeder Hinsicht Verantwortung übernehmen, dabei allein gelassen werden.
Ich bin davon überzeugt - ich weiß es -, dass nicht nur
in den Vereinigten Staaten von Amerika sehr genau registriert wird, in welcher Art und Weise die deutsche Bundesregierung und die sie tragende Koalition agieren, sondern dass dabei auch die Frage einer Orientierung bei uns
im Land auf dem Prüfstand steht. Wir haben seit Bestehen
der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den Gebrauch des Militärischen eine hervorragende Tradition
mit großem Erfolg, aber wir stehen an einer Wegscheide.
({8})
Wir stehen vor der Entscheidung, einem Angriff auf die
gesamte zivilisierte Welt, also auch auf uns, dadurch zu
begegnen, dass wir die bisher bezogene Haltung fortschreiben müssen. Das heißt, einem Angriff, der letztendlich auch auf uns erfolgt ist, eine Antwort weit außerhalb
der eigenen Reichweite entgegenzusetzen. Dafür bedarf
die deutsche Bevölkerung der Orientierung. Eine Bundesregierung, die in dieser Art und Weise, wie das jetzt in
weiten Teilen der Grünen geschieht, reagiert, gibt dafür
nicht die richtige Orientierung.
Die PDS betreibt das Spiel mit der Angst. Das ist das
Schlimmste, was man überhaupt tun kann. Ich finde es
entsetzlich. Wir brauchen eine klare Orientierung der
deutschen Politik im Sinne der eigenen Interessen. Dafür
stehen CDU und CSU sowie die FDP, wie ich feststelle,
zusammen mit den Teilen der Koalition, die tatsächlich
uneingeschränkte Solidarität üben wollen.
Ich bedanke mich.
({9})
Das war ein
guter Schlusssatz.
Jetzt gebe ich dem Kollegen Dr. Helmut Lippelt das
Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gehrcke, Sie haben gesagt - ich habe es mir notiert -,
durch diese Art Krieg schaffe man Märtyrer. Ihr Problem
ist, dass Sie die Sache nicht genau verfolgen. Atta flog
ohne jeglichen Krieg mit anderen gegen die Türme und
veranstaltete einen Massenmord - in der Meinung, dass er
dadurch Märtyrer würde. Sie müssen sich wirklich ein
bisschen mit der Psychologie des Fanatismus, mit islamistischer Psychologie und Theologie vertraut machen, statt
uns hier einen solchen Unsinn zu erzählen.
({0})
Jetzt gehe ich auf die Frage nach der Haltung der Bundesregierung, die die PDS gestellt hat, ein. Die Antwort
richtet sich auch an andere Adressaten.
Erstens. Die Haltung der Bundesregierung und der sie
tragenden Parteien ist klar.
({1})
Der Kanzler sprach von uneingeschränkter Solidarität;
niemand von uns hat dem widersprochen. Das ist auch die
Haltung der die Bundesregierung tragenden grünen Partei.
({2})
Zweitens. Der Außenminister fliegt sofort in den Nahen Osten, besucht wie gerade jetzt die Länder der Region, um die Antiterrorismuskoalition zu festigen.
({3})
- Lassen Sie mich erst einmal als Grüner sprechen. Ich
glaube, ich kann für die Grünen besser sprechen als Sie.
({4})
- An dem Zwischenergebnis, das es in Nordrhein-Westfalen gegeben hat, werden Sie sich ewig festhalten. Dieses Zwischenergebnis ist von der Fraktion nicht übernommen worden.
({5})
Deshalb sage ich: Für die Partei und die Bundestagsfraktion darf ich jetzt hier sprechen.
({6})
Deshalb kommen wir jetzt zu der Äußerung von Mary
Robinson. Herr Breuer, in diesem Punkt stimme ich mit
Ihnen überein. Sie haben sie sehr differenziert betrachtet.
Damit bin ich völlig einverstanden. Ich kann dazu nur sagen: Das Problem der PDS ist natürlich, dass sie den Zielkonflikt,
({7})
nämlich einerseits den Terrorismus zu bekämpfen und andererseits die Bevölkerung vor dem Verhungern zu bewahren, überhaupt nicht reflektiert. Sie richtet sich nur an
einer Linie aus. Sie muss sich aber mit dem Zielkonflikt
auseinander setzen. Das hat sie nicht getan.
({8})
Jetzt wende ich mich an die andere Seite des Hauses,
an die FDP. Sie machen viel Aufheben um Claudia Roth.
Sie sprechen von Mary Robinson und spielen dabei über
die innenpolitische Bande, weil Sie damit Claudia Roth
meinen.
({9})
Dazu sage ich ganz klar: Ihrem Vorsitzenden springt doch
die Begehrlichkeit, in die Koalition einzutreten, aus sämtlichen Knopflöchern.
({10})
Seien Sie also ganz ruhig! Sie wollen die Zuverlässigen
sein und wir sollen die etwas Problematischen sein.
({11})
Ich sage Ihnen: Je entschiedener die Bundesregierung
zu dem übergeordneten Zweck des Kampfes gegen den
Terrorismus steht,
({12})
je deutlicher die Regierungsparteien sie hierin unterstützen, umso klarer darf die Frage nach der Angemessenheit
der Mittel und nach der Zielgenauigkeit gestellt werden.
Wenn man den Kampf gegen den Terrorismus klar unterstützt, dann darf man problematische Dinge als problematisch bezeichnen.
({13})
- Über die Feuerpause habe ich doch schon gesprochen.
Darüber mag Mary Robinson so denken; die Bundesregierung hat in dieser Frage eine andere Meinung und
wir unterstützen sie darin.
({14})
Es wäre falsch, durch eine Feuerpause den Erfolg der Intervention und damit das Zerschlagen dieses Regimes zu
gefährden. Für diese Intervention gibt es ein window of
opportunity, ein Zeitfenster. Der Bundeskanzler, die
Fraktion und auch ich unterstützen eine Feuerpause nicht.
Sie müssen allerdings wissen, was Claudia Roth wirklich gesagt hat. Sie hat gesagt - jetzt hören Sie einmal zu -:
Erstens. Wir stehen in Solidarität zu Amerika.
({15})
Zweitens. Wir sind ein Teil dieser Solidarität. Drittens.
Aus all diesen Gründen unterstützen wir die Forderung
von Mary Robinson.
Sie können nun behaupten, dass dies ein Widerspruch
sei. Dazu sage ich Ihnen aber Folgendes - das ist das andere Argument -:
({16})
Was erwarten die Menschen im Lande von dieser Koalition? - Sie wollen eine nachdenkliche Koalition, aber
nicht eine Koalition, die keine Fragen stellt.
({17})
- Nein, nicht sie ist dafür zuständig;
({18})
wir alle sind dafür zuständig. Verteidigen Sie die Streubomben? Wir meinen, dass wir über die Mittel diskutieren müssen. Dabei ist klar, dass sich die Regierung und die
sie tragenden Parteien solidarisch verhalten. Deshalb können wir es uns erlauben, über Zielgenauigkeiten und Mittel zu diskutieren.
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass die Bevölkerung ein Recht auf eine nachdenkliche Koalition hat.
Die Regierung braucht keinen Koalitionspartner, der nur
die Hacken zusammenschlägt und zu allem Ja sagt. Deshalb: So schnell sind Sie noch lange nicht an Ihrem Ziel.
({19})
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Petra Bläss.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Irmer, Sie haben behauptet, wer die Unterbrechung des Bombardements und
die Beendigung des Krieges fordere, würde dem Terrorismus helfen.
({0})
Ich weise eine solche unsachliche Unterstellung zurück,
weil sie dem Ernst der Lage nicht angemessen ist.
({1})
Sich gegen den Einsatz militärischer Mittel auszusprechen steht nicht automatisch im Widerspruch zu einer tief
empfundenen Solidarität mit den Opfern des menschenverachtenden Anschlags in den Vereinigten Staaten und
auch nicht zu der Forderung, dass die Urheber dieses terroristischen Aktes gefunden und angemessen bestraft
werden müssen.
({2})
Aber wir müssen einen Schritt nach dem anderen gehen.
Herr Kollege Schockenhoff, Sie sprechen von der Arroganz der Friedensbewegung. Auch das weise ich mit
aller Entschiedenheit zurück.
({3})
Politikerinnen und Politiker, das heißt, wir alle, müssen
die existenziellen Sorgen der Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land ernst nehmen, vor allem die Angst der jungen Generation vor einem Krieg, vor einem Weltbrand.
({4})
Herr Kollege Breuer, Sie unterstellen uns, es gehe uns
um die bessere Moral. Ich denke, im Moment geht es in
der Welt um Krieg und Frieden.
({5})
Ich möchte darauf verweisen, dass die PDS im Rahmen
der interfraktionellen Gespräche, die es in den vergangenen Jahren in diesem Hause gab, sehr wohl dafür
eingetreten ist, dass die Bundesregierung gegen die Menschenrechtsverletzungen des terroristischen Talibanregimes aktiv wird. Wir haben uns sehr dafür eingesetzt.
({6})
Afghanistan steht am Rande einer humanitären Katastrophe. Wenn die Bombardements weitergehen, können
die Hilfsorganisationen keine Lebensmittel, Medikamente und Bekleidung mehr ins Land bringen und die
Menschen nicht mehr erreichen,
({7})
und das kurz vor Einbruch des Winters. Mein Fraktionskollege Carsten Hübner befindet sich im Moment noch in
Pakistan. Ihm wurde bestätigt, dass das UN-Kinderhilfswerk UNICEF damit rechnet, dass bis zu 100 000 Kinder
an Kälte und Unterernährung sterben müssen, wenn jetzt
nicht schnell Hilfe erfolgt. Dramatisch ist, dass in Afghanistan etwa 1 Million Menschen innerhalb des Landes auf
der Flucht sind und gar nicht bis an die Grenzen kommen.
Deshalb müssen die internationalen Hilfsorganisationen
wieder im Land arbeiten können.
({8})
Das können sie aber nicht, solange bombardiert wird.
Dramatisch ist auch, dass die Arbeiten im Rahmen des
Minenaktionsprogramms der Vereinten Nationen fast
gänzlich unterbrochen werden mussten. Die Zivilbevölkerung flieht nun vor den Bomben in Gebiete, die noch
nicht entmint sind. In Afghanistan liegen noch 230 000 AntiPersonen-Minen, dazu kommen 10 000 Anti-Panzer-Minen und 1,5 Millionen weitere nicht identifizierte Sprengkörper.
Mit der von der UN-Hochkommissarin Mary Robinson
geforderten Unterbrechung der Bombardements
({9})
könnte zumindest die allergrößte humanitäre Katastrophe
abgewendet werden. Zudem muss der Druck auf die UNMitgliedstaaten erhöht werden, die dem UNHCR schnelle
Hilfe für die Arbeit in der Region versprochen haben. Von
den bereits zugesagten 50 Millionen Dollar sind nach Angaben des UNHCR erst 12 Millionen Dollar gezahlt worden. Wir fordern außerdem Gespräche mit dem UNHCR
über eine schnelle Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen in der Bundesrepublik.
Besonders dramatisch - es ist bereits darauf verwiesen
worden - ist die Situation der Frauen in Afghanistan. Sie
leiden unter dem menschenverachtenden Talibanregime
am allermeisten. Erst seit kurzem nimmt die Weltöffentlichkeit zur Kenntnis, dass ihnen der Zugang zu Bildung
und Beruf verwehrt wird. Mädchen dürfen nicht zur
Schule gehen, Frauen müssen sich ganz verschleiern, dürfen ohne männliche Begleitung nicht einmal das Haus
verlassen.
({10})
Medizinische Behandlung gibt es für Frauen und
Mädchen nicht mehr. Es gelten die Gesetze der Taliban;
alles Zuwiderhandeln wird mit dem Abhacken der Hände,
Steinigung und Tod bestraft. Nirgends auf der Welt würden Frauen so unterdrückt wie in Afghanistan, sagte die
afghanische Ärztin Sima Samar auf der internationalen
Konferenz zum 20-jährigen Bestehen von Terre des femmes.
Traditionelles Recht, Religion und Kultur dürfen nirgends auf der Welt als Vorwand für Unterdrückung, Kontrolle und Gewalt gegenüber Frauen verwendet werden.
Zu Recht haben afghanische Frauen größte Befürchtungen bezüglich einer Regierung der Nordallianz. Sie ist unter anderem für Ermordungen und Massenvergewaltigungen von Frauen berüchtigt.
Ich fordere die Bundesregierung auf, sich auf allen Verhandlungsebenen für eine Einbeziehung afghanischer
Frauen im Exil und demokratischer Frauenorganisationen
einzusetzen.
({11})
Fast auf den Tag genau vor einem Jahr hat der UNSicherheitsrat die Resolution 1325 verabschiedet. Sie
fordert eine stärkere Einbeziehung von Frauen in Entscheidungsfunktionen bei Konfliktbeilegungs- und Friedensprozessen. Ihre Umsetzung weltweit, aber gerade
auch in diesem Konflikt, steht immer noch aus. Ohne Beteiligung von Frauen wird es keinen Frieden in Afghanistan geben.
({12})
Für die
SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Rudolf Bindig.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer in einer so schwierigen Situation Entscheidungen zu fällen und zu verantworten hat,
muss schwierige ethische Abwägungen treffen. Ich
nehme Bezug auf den Satz von Erhard Eppler: Wer Gewalt anwendet, lädt Schuld auf sich; aber es kann auch
sein, dass derjenige, der keine Gewalt anwendet, noch
größere Schuld auf sich lädt.
Ich will ganz ernst die Argumente aufgreifen, die auch
Sie, Frau Bläss, eben vorgetragen haben. Es ist ja richtig,
was Sie über die Lage der Frauen in Afghanistan gesagt
haben. Die Hälfte der Bevölkerung befindet sich seit Jahren in einer Art Gefängnis: keine Bildung, kein Zugang
zum Gesundheitswesen, schwerste Verletzung der Menschenrechte. Dies ist so, und wenn das Talibanregime
nicht beseitigt wird, bleibt es so.
({0})
Die Menschenrechte dieser Personen werden aufs
Schwerste verletzt. Wir sehen die schwierige Lage der
Menschen, die dort leben, besonders der Flüchtlinge. Die
Flüchtlingsströme sind in den letzten Jahren durch die
Dürre entstanden. Sie sind durch die fehlgeleitete Landwirtschaft entstanden. Sie sind durch den Bürgerkrieg entstanden, der so viele Jahre angedauert hat. Das sind die
Ursachen dafür, dass die Menschen leiden.
Jetzt wird der Eindruck erweckt - manchmal sieht man
das auch in den Medien -, als ob diese Probleme erst
durch die aktuellen Kriegsereignisse entstanden seien.
({1})
- Die Hauptursachen liegen aber in der Vergangenheit.
Wir müssen die Flüchtlingsgruppen genau betrachten.
Es werden Flüchtlinge in Pakistan versorgt. Es ist möglich, Flüchtlinge im Bereich der iranischen Grenze zu versorgen. Es ist möglich, Flüchtlinge auf dem Gebiet der
Nordallianz zu versorgen. Es ist nur begrenzt möglich,
Flüchtlinge auf dem Gebiet der Taliban zu versorgen. Dort
gibt es Lagerhäuser; das World Food Programme hat sie
eingerichtet. Dazu besteht ein gewisser Zugang.
Jetzt überlege ich einmal: Wie wäre es denn, wenn man
jetzt mit den Militäraktionen aufhören und einen Korridor
einrichten würde? Ein solcher Korridor ist doch nicht einfach da. Schon jetzt halten die Taliban Hilfslieferungen,
die ins Land kommen, an und sagen: Für jede Tonne Nahrungsmittel, die ins Land kommt, verlangen wir 32 Dollar
Wegezoll. Mit einem Korridor würden wir also die Taliban finanzieren.
({2})
Das Talibanregime ist überhaupt nicht daran interessiert, wie es der Bevölkerung geht. Es geht zynisch mit
dieser Bevölkerung um.
({3})
Sonst hätte es die jetzige Lage in den letzten Jahren gar
nicht entstehen lassen. Es hat in den letzten Jahren schon
immer gesagt: Wir kümmern uns um die Aufrüstung. Aber
die Menschen in unserem Lande können international
versorgt werden; da soll das World Food Programme tätig
werden. - Man hat sich nie wirklich um die eigene Bevölkerung bemüht.
({4})
Dies alles bringt mich in der schwierigen Abwägung zu
der Einsicht: Wer jetzt den Prozess unterbricht und nicht
darauf drängt, dass das Talibanregime beendet wird, der
lädt größere Schuld auf sich.
({5})
- Krieg ist natürlich kein Weg, eine wirkliche Lösung herbeizuführen.
({6})
Aber aus welchem Grund ist die Lage so schwierig? Wir
haben einerseits die Privatisierung der Gewalt durch die
Terroristen. Andererseits gibt es eine Gruppe von Verbrechern, die die staatliche Gewalt okkupiert hat.
({7})
Da kommt man eben nicht weiter, indem man den Staatsanwalt losschickt. Man muss die Macht derjenigen, die
den Terror ermöglichen, brechen.
({8})
Dass man da die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu
wahren und das humanitäre Kriegsvölkerrecht zu beachten hat, all das ist notwendig. Aber ich glaube, in diesen
schwierigen Abwägungsentscheidungen bleibt uns leider - so muss ich sagen - nichts weiter übrig, als den Weg,
der eingeschlagen worden ist, zu unterstützen.
({9})
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Dr. Christian
Ruck.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Auch ich habe die Äußerungen von Claudia Roth und von Frau Robinson, auch die
Klarstellung von Frau Robinson, gelesen. Für mich ist
klar, Herr Lippelt, dass die PDS, aber auch Frau Roth und
weitere Teile der Grünen Frau Robinson als Kronzeugin
für Schlussfolgerungen missbraucht haben, die nicht nur
die Worte und Taten der Bundesregierung konterkarieren,
sondern auch in der Sache gefährlich falsch sind.
({0})
- Ich habe beides gelesen, auch die Richtigstellung von
Frau Robinson.
Frau Bläss, ich möchte Ihre Argumentation aufgreifen.
Es ist vollkommen richtig, was Sie sagen: Die Taliban
sind keine Gotteskrieger, sondern ein Teufelsregime. Ich
erinnere daran, dass es im Rahmen dieses Regimes schon
lange vor dem 11. September 2001 8 Millionen afghanische Flüchtlinge gab und dass die Taliban die jetzigen
Hilfskonvois nicht nur behindern, sondern teilweise auch
konfiszieren, so zum Beispiel in Masar-i-Scharif vor wenigen Stunden. Das ist der Grund dafür, dass wir alle dafür
eintreten, dass die Militäraktion gegen das jetzige Regime
konsequent zum Erfolg geführt wird. Denn das ist aus unserer Sicht die beste Hilfe für die Bevölkerung in Afghanistan.
Natürlich müssen wir über die aktuelle militärische Dimension hinausdenken: Erstens erscheint es mir dringlich, dass man jetzt und in den kommenden Wochen und
Monaten die Effizienz der humanitären Hilfe sicherstellt.
Das ist keine Frage allein der Finanzen, sondern auch eine
Frage der Koordination und der politischen Unterstützung
dort, wo Hilfen im bürokratischen Dschungel hängen
bleiben, zum Beispiel in Pakistan. Wir müssen darauf
drängen, dass Pakistan viel öfter als bisher deklarierte
Hilfskonvois zulässt, und wir müssen den Pakistani dabei
helfen, die wild entstandenen Flüchtlingslager in den
Griff zu bekommen.
Zweitens muss es aber auch darum gehen, für die Zukunft Afghanistans ein wohl überlegtes und abgestimmtes
Konzept zu entwerfen. In diesem Zusammenhang kann
ich mir ein UN-Mandat sehr gut vorstellen. Ich halte es
aber auch für entscheidend, dass in eine solche Konzeption alle Volksgruppen eingebunden werden, auch die
Paschtunen, und dass es nicht nur zu einer Machtübernahme, zum Beispiel durch die Nordallianz, kommt.
Das wäre ein schwerer Fehler. Genauso wäre es ein Fehler, zu vergessen, warum die Taliban zu Beginn ihrer Herrschaft so viel Erfolg hatten. Sie hatten nämlich - zumindest anfänglich - einen glaubhaften Kampf gegen die
korrupten Warlords geführt. Auch diesen darf Afghanistan
natürlich nicht wieder in die Hände fallen.
Wir müssen drittens - das ist die vielleicht schwerste
Aufgabe - im außenpolitischen und im entwicklungspolitischen Umgang mit vielen vom Islam dominierten Staaten neue Methoden und Instrumente entwickeln. Wir dürfen bei aller Allianz gegen den Terror nicht aufhören, eine
langfristig gute Regierungsführung anzumahnen, wenn
wir für die breite Bevölkerung in diesen Ländern wirklich
auf Dauer Stabilität, soziale Beruhigung und Entwicklungsperspektiven erzielen wollen.
Dazu ist Dialog notwendig. In diesem Zusammenhang
war und ist es für mich ein Fehler, dass der pakistanische
Militärchef Musharraf mit seinem Reformpaket entgegen
vielfältigen überparteilichen Bemühungen aus unserem
Parlament so lange von uns geschnitten wurde. Noch im
Juli dieses Jahres haben wir aus dem Bundestag heraus die
Spitze des Außenministeriums angemahnt, nicht nur mit
Indien, sondern auch mit Pakistan wieder Gespräche auf
hochrangiger Ebene zu führen. Leider ohne Erfolg! Die
Reise von Außenminister Fischer kommt zwar spät, hoffentlich aber nicht zu spät. Wenn solche Gespräche schon
im Juli geführt worden wären, stünde Pakistan, so glaube
ich, international besser da.
Dialog mit dem Islam heißt auch, dass wir für unsere
entwicklungspolitische Kooperation noch intensiver als
bisher neue und neuartige Gesprächspartner im vorpolitischen Raum dieser Länder finden müssen. Aber dazu ist
in Konsequenz notwenig, dass unsere Dialogplattformen,
zum Beispiel Auslandsschulen, Goethe-Institute und politische Stiftungen, neue Impulse - auch solche finanzieller Art - erhalten.
({1})
Die Kürzungen in der Auslandsarbeit und im Entwicklungshaushalt sind in dieser Hinsicht kontraproduktiv.
Das gilt zum Beispiel auch für Pakistan: Das Goethe-Institut in Lahore wurde geschlossen, die Stiftungsarbeit
eingeschränkt, die Entwicklungshilfe auf Sparflamme
zurückgeführt. Deswegen fordern wir auch in dieser Aktuellen Stunde: Nehmen Sie von Rot-Grün die Kürzungen
im Entwicklungshaushalt zurück
({2})
und sichern Sie diesen Haushalt auch langfristig ab. Dann
haben Sie bei dieser Politik unsere Unterstützung.
({3})
Die Kollegin Adelheid Tröscher spricht nun für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ruck, es wird nicht besser, wenn es wiederholt wird,
({0})
denn die Entwicklungspolitik in Bezug auf Pakistan und
Indien hat die letzte Regierung eingestellt, und wir sind
gerade dabei, das wieder rückgängig zu machen
({1})
und genau das zu tun, was Sie gerade gefordert haben.
Aber jetzt zu meinem Anliegen: Weltweit hat der
11. September Trauer und Betroffenheit ausgelöst. Ganz
gleich, ob es sich um Moslems, Buddhisten, Hinduisten,
Juden oder Christen handelt, alle sind fassungslos gewesen. Es steht außer Frage, dass die Verantwortlichen dafür
zur Rechenschaft gezogen werden, und zwar mit einem
entschlossenen Entgegentreten gegenüber den terroristischen Gewalttätern und mit der Zerschlagung ihrer Strukturen.
Doch gleichzeitig dürfen wir die Prävention nicht vergessen. Zu den militärischen Mitteln gibt es in der jetzigen Zeit leider keine Alternativen. Dennoch gilt auch,
dass der Terrorismus nicht nur militärisch besiegt werden
kann. Hierzu bedarf es international abgestimmter politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Maßnahmen und
Strategien.
({2})
Oder, wie es unser Bundespräsident Johannes Rau auf der
Kundgebung am 14. September hier in Berlin gesagt hat:
Der beste Schutz gegen Terror, Gewalt und Krieg ist eine
gerechte internationale Ordnung.
({3})
Dem Terrorismus kann der Nährboden auch dadurch,
ja vor allem dadurch entzogen werden, dass wir die Perspektivlosigkeit vieler Menschen, die Marginalisierung
und die Ungerechtigkeiten weltweit reduzieren. Entwicklungspolitik kann und wird dazu einen wichtigen Beitrag
leisten, aber man muss sie dann auch finanziell so ausstatten - da stimme ich mit Ihnen überein -, dass sie die
Aufgaben der Krisenprävention auch erfüllen kann. Sonst
können weltweit auf Dauer keine stabilen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Voraussetzungen geschaffen werden, die dem Bedürfnis nach Sicherheit aller Menschen gerecht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage in
Afghanistan ist ernst und sie ist besorgniserregend zugleich. Millionen Menschen sind auf der Flucht und sie
wissen vereinzelt noch nicht einmal, wohin sie fliehen
sollen, denn sie werden eigentlich nirgendwo gerne gesehen und aufgenommen. Aber dies ist keine neue Situation.
Es wurde bereits gesagt: Seit Jahren gibt es Flüchtlinge in
Afghanistan, Flüchtlinge vor den Taliban, gibt es Angst
und Terror. Jetzt muss unsere Hilfe darin bestehen, Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen,
wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und das Auswärtige Amt dies
ja auch tun.
Unser Blick muss aber auch nach vorne gerichtet sein,
indem wir uns schon heute mit der Zivilbevölkerung in
dieser Region darauf verständigen, wie wir den Menschen
wieder eine Perspektive geben können und der Region zu
mehr politischer Stabilität und Sicherheit verhelfen können.
({4})
Hierzu brauchen wir Menschen, die sich in der Entwicklungszusammenarbeit engagieren und dafür arbeiten, und
dies unter oft sehr schwierigen Umständen. Deshalb geht
an dieser Stelle auch mein Appell an die Taliban: Lassen
Sie die inhaftierten deutschen, amerikanischen und australischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Shelter
Now frei!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein
umfassendes Konzept zur Prävention und Bewältigung
von Krisen. Die Bundesregierung, insbesondere der Bundeskanzler, hat darauf bereits mehrfach hingewiesen. Wir
brauchen eine Verstärkung der entwicklungsorientierten
Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe. Wir brauchen
eine Verstärkung der Arbeit des Deutschen Entwicklungsdienstes sowie Maßnahmen des zivilen Friedensdienstes
im geographischen Umfeld von Afghanistan, aber auch
- das sollten wir nicht vergessen - in den palästinensischen Gebieten.
({5})
Gezielt müssen wir ebenso die entwicklungspolitischen Dialogstrukturen der zivilgesellschaftlichen Kräfte
in vorwiegend islamischen Ländern verstärken. Wir wollen eine verstärkte Zusammenarbeit mit Ländern, die das
friedliche Zusammenleben verschiedener Ethnien und
Religionen innerhalb ihrer Gesellschaft und ihrer Region
ausdrücklich fordern. Wir wollen eine stärkere Unterstützung beim Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen
in politisch labilen Staaten.
({6})
Wir wollen eine stärkere Kooperation im Sicherheitssektor in Partnerländern, wo die inneren Verhältnisse
demokratischen Strukturen genügen. Ein besonderes Anliegen ist: Wir müssen die Armutsbekämpfung, wie wir es
in unserem Aktionsprogramm 2015 beschrieben haben,
weiter voranbringen.
({7})
In Anlehnung an Willy Brandts Feststellung, dass Entwicklungspolitik die Friedenspolitik des 21. Jahrhunderts
sei - ich freue mich, dass es jetzt so viele Entwicklungspolitiker unter uns gibt -, muss die Entwicklungspolitik
aufgewertet werden. Sicherheit, Frieden und nachhaltige
Entwicklung können unter den Bedingungen extremer
Ungerechtigkeit und Ungleichheit nicht gedeihen.
Danke sehr.
({8})
Letzter
Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Werner
Siemann für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die barbarischen Anschläge vom 11. September 2001 haben uns die
neue Qualität des internationalen Terrorismus in erschreckender Weise vor Augen geführt. Bei den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington sind bis zu 5 200 unschuldige
Menschen - Kinder, Frauen und Männer - ums Leben gekommen. 5 200-mal wurden Schicksale besiegelt, Tod,
Leid und Trauer über die betroffenen Familien gebracht,
das zivilisierte Staatswesen letztendlich in seinen Grundfesten erschüttert.
Unter den zu beklagenden Opfern befinden sich auch
viele Deutsche. Bei keinem anderen Terroranschlag gab
es mehr deutsche Opfer zu beklagen. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass auch Deutschland Ziel dieser
unmenschlichen Tat war. Es ist bedenklich, dass dies nach
nur fünf Wochen offenbar wieder in Erinnerung gerufen
werden muss; denn einige scheinen dieses schreckliche
Ereignis bereits jetzt wieder verdrängen zu wollen oder
Täter und Opfer zu verwechseln.
({0})
Es ist nicht hinnehmbar, dass Mitglieder der Regierungsparteien die zugesicherte uneingeschränkte Solidarität - Beispiele sind bereits genannt worden - infrage
stellen und damit vor der Verantwortung flüchten. Die
PDS will ich an dieser Stelle gar nicht erwähnen, da ich
ohnehin der Meinung bin, dass sie - diese Debatte hat es
wieder bewiesen - demokratisch im Abseits steht.
({1})
Richtig ist, dass sich in Afghanistan, während wir hier
debattieren, eine humanitäre Katastrophe abspielt, die
aber weder am 11. September noch am 7. Oktober, dem
Tag des Beginns der Luftschläge, begonnen hat. Bereits
im Februar dieses Jahres spricht der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen von einem afghanischen Flüchtlingsdrama. Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit seien über 170 000 Afghanen nach Pakistan
geflohen. Seit Ausbruch der Dürre, also seit drei Jahren,
sind sechs bis sieben Millionen Afghanen latent vom
Hungertod bedroht. Der jahrelange Bürgerkrieg hat ein
Übriges zu dieser Situation beigetragen.
Die Forderung der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, nach einer Feuerpause - das
ist schon mehrfach zitiert worden - verkennt deshalb leider die Realität in Afghanistan. Eine Feuerpause wäre
zwar vordergründig human, würde sich aber binnen kurzer Zeit in das Gegenteil verkehren. Nicht die Luftangriffe, sondern die Terrorherrschaft der Taliban und deren
fortlaufende Menschenrechtsverletzungen verhindern die
Lebensmittelversorgung der Menschen in Afghanistan.
Ziel der Taliban ist die Errichtung eines Gottesstaates
unter Missachtung jeglicher Menschenrechte, nicht die
humanitäre Versorgung der afghanischen Bevölkerung.
Eine Feuerpause würde deshalb einzig und allein dem Talibanregime dienen. Wiederhergestellte Befehlsstrukturen
und Flugabwehrstellungen verlängern die Operation und
gefährden damit unnötig Menschenleben. Es gilt zu verhindern, dass sich die Macht der Taliban konsolidieren
kann. Es gilt zu verhindern, dass sich deren Kämpfer personell regenerieren können. Es gilt zu verhindern, dass
sich die Strukturen des Terrors reaktivieren können. Dass
auch unter militärstrategischen Gesichtspunkten eine
Aussetzung der Operation ein schwerwiegender Fehler
wäre, braucht nicht ausdrücklich erwähnt zu werden.
Immer wieder betont werden muss hingegen, dass es
sich bei den amerikanischen und britischen Luftschlägen
nicht um rachsüchtige Vergeltungsmaßnahmen, sondern
um einen Akt der Selbstverteidigung und der Prävention
handelt. Es sind völkerrechtlich gerechtfertigte Aktionen
der Vernunft, nicht der Vernichtung. Nicht der Islam oder
das islamische Volk sind unsere Gegner, sondern allein
diejenigen, die unter dem Deckmantel der Religion unvorstellbare Verbrechen begehen. Eine Unterbrechung der
militärischen Operation wäre gleichbedeutend mit einer
Verschärfung der humanitären Situation in Afghanistan,
da sich auf diese Weise nur das Leid der Bevölkerung verlängern würde.
Frieden, Freiheit und Sicherheit unserer Menschen lassen es nicht zu, dem Terror und den ihn unterstützenden
Staaten eine Atempause zu gönnen. Terrorakte sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Täter und deren
Unterstützer haben keine Nachsicht verdient.
({2})
Graham Greene hat einmal gesagt: Früher oder später
muss man Partei ergreifen, wenn man Mensch bleiben
will. Am 11. September haben wir uns entschlossen,
massiv Partei zu ergreifen. Lassen Sie uns an der Seite der
USAund der Weltgemeinschaft den eingeschlagenen Weg
fortsetzen, um die Wurzeln des Terrorismus nachhaltig
auszurotten und der Not leidenden afghanischen Bevölkerung endlich wieder ein menschenwürdiges Leben zu
ermöglichen.
Vielen Dank.
({3})
Die Aktuelle
Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 g auf:
a) Beratung des Zwischenberichts der Enquete-Kommission
Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten
- Drucksache 14/6910 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrages der Abgeordneten Dr. Sigrid
Skarpelis-Sperk, Brigitte Adler, Klaus Barthel
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Kristin
Heyne, Annelie Buntenbach, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherung eines fairen und nachhaltigen Handels durch eine umfassende Welthandelsrunde
- Drucksache 14/7143 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Ulrich von Weizsäcker, Dr. Sigrid SkarpelisSperk, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Werner Schulz ({3}), Andrea Fischer ({4}),
Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zugang der Zivilgesellschaft zur WTO-Ministerkonferenz in Doha, Katar, gewährleisten
- Drucksache 14/5805 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G.
Fritz, Gunnar Uldall, Wolfgang Börnsen ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Stärkung des freien Welthandels durch neue
WTO-Runde
- Drucksache 14/5755 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
e) Beratung des Antrages der Abgeordneten Ursula
Lötzer, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Neoliberale Globalisierung - kein Sachzwang
- Drucksache 14/6889 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Partnerschaftsabkommen vom 23. Juni 2000 zwischen
den Migliedern der Gruppe der Staaten in Afrika,
im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean
einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und
ihren Mitgliedstaaten andererseits ({9})
- Drucksache 14/7053 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({10})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
g) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Rainer Brüderle, Ulrich Heinrich, Gudrun Kopp,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Aktuelle handelspolitische Fragen bei der Welthandelsorganisation
- Drucksachen 14/4194, 14/5227 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst der Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk für die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Zwei Gespenster gehen derVizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
zeit in der Welt um: das Gespenst des Terrors und das Gespenst der Globalisierung. Die schrecklichen Ereignisse
vom 11. September haben die Menschen weltweit aufgewühlt und zutiefst verunsichert. Das bleibt nicht ohne
Konsequenzen für die Weltwirtschaft. Die Auswirkungen
des Anschlages und der Vergeltungsmaßnahmen treffen
auf eine schon fragile Ökonomie in den USA und auch
weltweit und sind derzeit in ihrer Gesamtwirkung nicht
wirklich vorhersehbar.
Die Schwächen und offenen Fragen unserer derzeitigen Weltwirtschaftsordnung und ihrer wesentlichen Bestandteile, nämlich des Welthandelssystems und des Weltfinanzsystems, treten noch schärfer als zuvor in das
Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik. Es wird
sichtbar, dass der Deutsche Bundestag richtig gehandelt
hat, eine Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten einzusetzen und einen derart weitgehenden, umfassenden und
vorausschauenden Arbeitsauftrag zu formulieren.
Die Enquete-Kommission macht mit dem jetzt dem
Parlament vorgelegten Zwischenbericht der Öffentlichkeit wichtige Schwerpunktthemen mit einem breiten Hintergrund an Materialien verfügbar. Ein Themenkomplex
durchzog allerdings unsere gesamte Arbeit und regte zu
intensiven Diskussionen an: Was hat es mit dem Phänomen Globalisierung auf sich, das in seinem Ausmaß und
Tempo so viele Menschen fasziniert und abschreckt?
Handelt es sich um einen naturgesetzlichen Prozess und
hat die Politik, vor allem die nationale Politik, in diesem
Prozess noch Handlungsspielräume oder ist sie ohnmächtig? Wir sind gemeinsam zu dem Ergebnis gekommen,
dass Politik nicht ohnmächtig ist, sondern handelt und
entscheidet und somit durchaus ein wesentlicher Gestalter dieses Globalisierungsprozesses war und ist.
({0})
So haben zum Beispiel die politisch veranlasste Bildung der großen Freihandelszonen oder Wirtschaftsunionen wie NAFTA und die Europäische Union sowie die
fortschreitende Handelsliberalisierung, zunächst im
GATT und dann in der WTO, die Globalisierung massiv
vorangetrieben. Die rasante Expansion und globale
Reichweite der internationalen Finanzmärkte wären ohne
weitgehende politische Deregulierung überhaupt nicht
denkbar gewesen. In der Enquete-Kommission haben wir
festgestellt, dass die Globalisierung in vielen Bereichen
große Chancen, aber auch Risiken mit sich bringt, dass
aber Risiken und Chancen zwischen den Nationen und
Regionen ungleich verteilt sind; auch innerhalb der Staaten sind die Früchte mehr oder weniger ungleich verteilt.
Marktöffnungen führen zu mehr Wettbewerb, Kostensenkungen und schnellerem Strukturwandel. Das ist
grundsätzlich auch so in Ordnung. Es erfordert aber von
allen Beteiligten ein Maß an Anpassungsbereitschaft und
-fähigkeit, aber auch die Bereitschaft, die Anpassungslasten nicht einseitig anderen aufzubürden oder auf den
Schultern der Schwächeren abzuladen und dort zu belassen.
({1})
Deutschland und Europa haben sich im Globalisierungsprozess gut behauptet und werden das auch künftig
tun, wenn sie ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten, Innovationen konsequent fördern sowie soziale Stabilität bewahren und weiterentwickeln. Auch eine Reihe von
Schwellenländern hat von der stärkeren Integration in das
Welthandelssystem profitiert. Aber diese positive Entwicklung - das sagte ich schon - ist nicht allen zugute gekommen. Es sind vor allem die ärmsten Länder, denen
Ausschluss und völlige Abkoppelung von den internationalen Märkten drohen. Ohne die Teilhabe dieser Länder
an den Gewinnen der internationalen Arbeitsteilung ist
aber die gemeinsame Zukunft der Welt nicht nachhaltig zu
sichern.
({2})
Deswegen ist es dringend notwendig, die Chancen der
Globalisierung fairer zu verteilen.
Auch die immer häufiger auftretenden Finanzkrisen
hatten erhebliche negative soziale, politische und ökonomische Folgen. Die Armut hat in den betroffenen Ländern zugenommen. Infolge solcher Krisen sind die Länder zum Teil um zehn Jahre in ihrer Entwicklung
zurückgeworfen worden. In nicht wenigen Ländern drohen der Zusammenbruch des Staatswesens und die
Privatisierung der Gewalt. Die organisierte Kriminalität
kontrolliert in den betroffenen Ländern zunehmend nicht
nur die klassischen kriminellen Aktivitäten, sondern auch
immer größere Teile der legalen Wirtschaft. Nicht selten
maskiert sich die organisierte Kriminalität auch als politische oder religiöse Bewegung.
Armut ist keineswegs allein die Ursache für die Entstehung terroristischer Gruppen. Aber sie ist zusammen
mit dem Ärger über die einseitige Verteilung des großen
Reichtums in der globalisierten Welt jene Hefe, auf der
der Terrorismus wächst.
({3})
Fehlentwicklungen und Instabilitäten in der bestehenden Weltwirtschaft aufzuspüren und Empfehlungen zu ihrer Beseitigung zu geben war eine weitere Aufgabe unserer Enquete. Wir sind zu einer Reihe von Empfehlungen
gekommen, die meines Erachtens gerade nach den tragischen Ereignissen in den USA an aktueller Bedeutung gewonnen haben.
Wir waren uns in der Enquete einig, dass wir zur Schonung der Ressourcen und zur Vermeidung einer weiteren
Belastung des Weltklimas eine nachhaltige Verkehrspolitik brauchen, die eine vollständige Internalisierung der sozialen und ökologischen Kosten des Verkehrs erfordert.
({4})
Ebenso brauchen wir eine neue internationale Wettbewerbsordnung, weil sonst die Global Players kleinere Unternehmen, ja selbst kleine Nationen massiv unter Druck
setzen. Aber dann hörte der Konsens über die Empfehlungen leider schon auf.
Für die Mehrheit war klar, dass eine größere Stabilität
der Finanzmärkte und die Vermeidung weiterer Finanzkrisen nur erreichbar sind durch eine Reregulierung der
internationalen Finanzmärkte, durch eine Reform der
internationalen Finanzinstitutionen wie IMF und Weltbank an Haupt und Gliedern, aber auch durch eine
schnelle, wirksame und erheblich größere Kooperation
der für die Geld-, Währungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik zuständigen Regierungen und Notenbanken. Es geht
nicht länger an, dass beispielsweise die Zentralbanken der
großen Handelsblöcke und die G 7 nahezu ausschließlich
Entscheidungen nach ihren innenpolitischen Interessen
treffen und die Auswirkungen auf 80 Prozent der Menschheit nicht berücksichtigen.
({5})
Zu der bereits erwähnten Reregulierung der Finanzmärkte gehören aber nicht nur Transparenz und Finanzaufsicht - darüber waren wir uns noch einig -, sondern
auch ein entschiedenes Vorgehen gegen die Geldwäsche
in Verbindung mit Drogenhandel, Waffenhandel, Menschenhandel und Zwangsprostitution sowie ein Vorgehen
gegen Steueroasen und gegen die schwarzen Schafe in
den OECD-Ländern selbst.
({6})
Wir freuen uns, dass unsere Empfehlungen - nicht zuletzt aufgrund der schrecklichen Vorkommnisse am
11. September - so schnell Eingang in die Gesetzgebungsarbeit des Deutschen Bundestages gefunden haben.
Die Aufnahme der schweren Steuerhinterziehung in den
Katalog der Geldwäschevortaten wird noch in diesem
Jahr Gesetzeskraft erlangen.
({7})
Die EU-Richtlinie zur Geldwäsche wird schnell folgen.
Dann brauchen wir noch reale Fortschritte in der OECD,
um einen großen Sprung im Kampf gegen Terrorismus
und organisierte Kriminalität zu machen.
({8})
Ich darf an dieser Stelle einen Wunsch äußern, nämlich
den, dass die CDU/CSU wenigstens im Kampf gegen die
Finanzierung von Terror und organisierter Kriminalität
endlich von ihrem angesichts der Ereignisse vom 11. September völlig unverständlichen Nein zu unseren Vorschlägen abrückt.
({9})
Leider konnte sich weder die CDU/CSU noch die FDP
dazu verstehen, die Kernarbeitsnormen als verpflichtendes Recht auch in der Welthandelsordnung zu verankern.
Dabei geht es doch nur um die Beseitigung bzw. Pönalisierung von schreienden Missständen, die abzuschaffen sich
175 Nationen in einer Konvention verpflichtet haben:
Zwangsarbeit, Lohnsklaverei, ausbeuterische Kinderarbeit, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen.
Nein, meine Damen und Herren, wir streben eine neue
Weltwirtschaftsordnung an, die sozial und ökonomisch
gestaltet ist, eine menschliche Gesellschaft für alle auf
diesem Planeten, in der sich Märkte und Privatinitiative
ebenso entfalten können wie Bürgersinn und gemeinschaftliche Aktivitäten;
({10})
eine Weltgesellschaft also, in der nicht alles zur Ware gemacht wird und in der die Völker selbst noch die Entscheidung darüber treffen können, wie sie die einzelnen
Bereiche, zum Beispiel bei der Daseinsfürsorge, geregelt
haben wollen. Für uns ist der menschliche Körper keine
Ware, ist die Gesundheit des Menschen keine Ware und
sind auch die Werke des menschlichen Geistes, das überkommene Wissen und das Erfahrungswissen traditioneller Kulturen keine Ware.
({11})
- Dann müssen Sie das im TRIPS und in anderen Abkommen auch berücksichtigen.
({12})
Deswegen wollen wir auch, dass die Europäische
Union und die Bundesregierung die von uns begrüßte und
gewünschte Ausweitung des Welthandels und die weitere
Öffnung der Märkte zu einer wirklichen Teilhabe der Entwicklungsländer führen und dass vor allem die Interessen
der ärmsten Länder zum Zuge kommen. Deswegen fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auch
auf, mit dafür zu sorgen, dass sich die weiteren
Liberalisierungsmaßnahmen innerhalb der WTO am Prinzip der nachhaltigen Entwicklung orientieren und damit
eine soziale und ökologische Gestaltung der Globalisierung ermöglichen,
({13})
dass die internationale Umwelt- und Sozialpolitik gestärkt und sichergestellt wird, dass internationale Abkommen und Konventionen auf diesen Gebieten für die WTO
bindendes Recht werden, dass das Vorsorgeprinzip
ebenso in der WTO verankert wird wie der multifunktionale Ansatz der europäischen Landwirtschaft nachhaltig
unterstützt wird, dass der Zugang zu lebensnotwendigen
Medikamenten gegen Aids durch eine Präzisierung und
gegebenenfalls Revision des TRIPS-Abkommens gesichert wird und dass schließlich die Kernarbeitsnormen
Schritt für Schritt in der WTO verankert werden.
Zum Schluss: Wir brauchen auch eine institutionelle
Reform der WTO mit dem Ziel von mehr Öffentlichkeit,
Offenheit und Demokratisierung.
({14})
Die WTO muss zu einer gewandelten, tragenden Säule einer neuen Weltwirtschaftsordnung werden, die sozial und
ökologisch gestaltet ist und alle Menschen an den Chancen der internationalen Arbeitsteilung wirklich teilhaben
lässt.
Frau Kollegin, Sie
hatten schon den Schluss versprochen. Sie müssen jetzt
zum Schluss kommen.
Erreichen wir
dies nicht, dann können uns größere Krisen wieder in die
unseligen Zeiten von Protektionismus und Handelskrisen
zurückwerfen, die im 20. Jahrhundert so viel Unheil auslösten. Öffnung und Demokratisierung, soziale und ökologische Gestaltung der Welthandelsordnung
({0})
ist ohne Zweifel die bessere Alternative.
({1})
Sie haben es gesehen:
Offensichtlich hatten Sie das Einverständnis des ganzen
Hauses.
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hartmut Schauerte.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Globalisierung wird mit Sicherheit scheitern, Frau Kollegin, wenn
man seine Versprechen nicht hält und weitermacht, obwohl man versprochen hat aufzuhören. So fängt es im
Kleinen an. Das funktioniert nicht.
({0})
Enquete Globalisierung: Wissenschaftlich begründete Erkenntnis gewinnen mit den Methoden des Parteienstreits - das ist eine schier unlösbare Aufgabe.
({1})
Unterwegs zu dieser unlösbaren Aufgabe, zu der auch
ganz bestimmte Persönlichkeiten gehören, gab es sehr
viel kleine Münze. Lediglich die Bedeutung des Themas
verbietet es mir, über diese kleine Münze und das, was uns
so schrecklich belastet und daran gehindert hat, wirklich
voranzukommen, zu berichten.
Ich lasse es auch nicht zu, Frau Skarpelis-Sperk, dass
Sie hier ein Bild von der Union malen, nach dem wir am
Ende noch für die Sklaverei sind.
({2})
Das ist so weit weg von der Wirklichkeit, dass es mir zu
simpel ist, um überhaupt darauf einzugehen.
({3})
Ich möchte in meinem Beitrag die Unterschiede herausstellen, die zwischen uns bestehen. Die Gemeinsamkeiten stehen ausreichend schriftlich fixiert in dem Bericht.
Der erste große Unterschied ist, dass die Union ganz
eindeutig positiver an die Entwicklung der Globalisierung herangeht als die SPD, die Grünen und die PDS. Wir
sind sicher, dass die positiven Wirkungen der Globalisierung die Probleme und Gefahren nicht nur geringfügig,
sondern bei weitem übersteigen. Wenn wir den Globalisierungsteil unserer Wirtschaft wegdenken, der in den
letzten zwanzig Jahren gewachsen ist, dann wären wir in
Deutschland bitter arm.
({4})
Mehr als 30 bis 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
und unseres Wohlstandes sind aus der Arbeitsteilung und
dem Zusammenarbeiten der Völker entstanden. Deswegen ist die Globalisierung zunächst einmal ein für
Deutschland und die Welt positiver Prozess.
({5})
Das gilt auch für die armen Länder. Denn selbst wenn
gesagt wird, die Armut sei gewachsen - man kann hinterfragen, ob das stimmt -, dann muss man auf jeden Fall
fragen, ob das ein Ergebnis der Globalisierung oder ein
Ergebnis anderer Entwicklungen ist.
({6})
Dass die Armut in der Welt nicht so abgenommen hat, wie
wir uns das gemeinsam wünschen, liegt zum Beispiel daran, dass wir eine Bevölkerungsentwicklung haben, die
unglaublich ist und die nicht ohne weiteres aufgefangen
werden konnte. Das wissen wir.
Die Daten sind eindeutig. Ich möchte ein paar Zahlen
nennen. Volkswirtschaften, die sich dem Prozess der Globalisierung geöffnet haben, sind drei- bis viermal schneller gewachsen als Volkswirtschaften, die sich diesem Prozess verschlossen haben.
({7})
Erstaunlicherweise gilt das für Entwicklungsländer und
entwickelte Länder gleichermaßen. In beiden Kategorien
von Ländern haben sich die Länder, die sich geöffnet haben, besser entwickelt als die Länder, die sich verschlossen haben. Deswegen ist die Empfehlung zu größerer Abschottung ein Irrweg, der lebensgefährlich für die
Entwicklung dieser Völker ist.
({8})
- Doch! - Deswegen dürfen wir diesen Eindruck erst gar
nicht entstehen lassen.
Die Verdienste sind gestiegen. Die Beschäftigung ist
gestiegen. Die absolute Zahl der Armen ist in den letzten
30 Jahren trotz enormen Wachstums der Bevölkerung
nicht gestiegen, sondern konstant geblieben. Das ist ein
Ergebnis, das uns nicht befriedigen kann. Aber zu sagen,
die Globalisierung sei daran schuld, das heißt SchwarzerPeter-Spiele zu veranstalten und Schuldige für einen Prozess zu suchen, mit dem richtig umzugehen man nicht gelernt hat.
({9})
Handel und Arbeitsteilung, Informationsaustausch,
Wissensaustausch, Kulturaustausch - alles wichtige Bausteine der Globalisierung - sind Treibkräfte eines positiven Wandels der Welt.
Herr von Weizsäcker, in diesem Zusammenhang ist mir
heute ein Interview von Ihnen in der Frankfurter Rundschau aufgefallen. Ich möchte Sie bitten - Sie gelten ja
als jemand, der eine mittlere Position einnimmt und kein
Scharfmacher ist -, zu überlegen, ob Sie mit dem Begriff
der Globalisierung richtig umgehen, wenn Sie sagen:
Trotzdem: Solange die Themen Sklaverei, Umweltzerstörung und dergleichen auf der internationalen
Agenda sind, wird die WTO
- eine der wichtigsten Organisationen, die wir haben nicht zur Ruhe kommen. Denn so lange wird der
Freihandel als Verschärfung und nicht als Lösung
des Problems wahrgenommen.
Das ist genau das gefährliche Spiel mit dem Wort. Ich als
Jurist weiß, dass das Wort wahrnehmen nicht bedeutet,
dass ich mich damit identifiziere. Das weiß ich, aber das
wissen die, die das lesen, beileibe nicht alle. Das ist der
Punkt, an dem wir uns unterscheiden.
Ich bin der Meinung, dass die Globalisierung kein Teil
des Problems, sondern ein Teil der Lösung ist. Wir sollten
uns darüber streiten, ob sie intelligent und wirksam genug
zur Lösung der Probleme beiträgt. Die Globalisierung ist
jedenfalls nicht das Problem, auch wenn dieser Eindruck
immer wieder erzeugt wird.
Politik, die aufgrund von Angst und anderen negativen
Gefühlen betrieben wird, scheitert und kann für die Welt
kein Signal sein. Man sollte die Dinge zwar nicht schönreden; aber vor allem darf man sie nicht schlechtreden.
({10})
Ich komme auf die Finanzmärkte zu sprechen. Eigentlich sind wir uns diesbezüglich einig. Ungeklärt ist allerdings die Frage der juristischen Behandlung der schweren
Steuerhinterziehung in Deutschland. Darüber können
wir reden.
({11})
- Das habe ich immer gesagt. - Wir haben keinen einzigen Rechtsprofessor nach strafrechtlichen Konsequenzen
befragt. Mit uns ist es nicht zu machen, einfach so Rechte
aufzugeben, die in einer freien Gesellschaft existenziell
sind. Es bedarf stets einer gründlichen Prüfung des Vorgangs. Alles, was zielführend ist, um den internationalen Terrorismus wirksam zu bekämpfen - es geht nicht darum, jetzt ideologische Altträume zu realisieren -, findet die hundertfünfzigprozentige Unterstützung der
CDU/CSU.
({12})
Was die Tobinsteuer angeht, haben Sie, Herr von
Weizsäcker, eine interessante Wandlung mitgemacht.
Zunächst waren Sie dafür, dann haben Sie sich dagegen
geäußert. Kurz bevor sich der Bundeskanzler dieser Idee
gegenüber etwas geöffnet hat, hatte ich Ihnen einen Brief
geschrieben, in dem ich Sie nach Ihrer Meinung gefragt
hatte. Ihre Antwort war: Das weiß ich nicht so genau.
Nachdem sich der Bundeskanzler nun ein wenig zugunsten dieser Steuer ausgesprochen hat, sind auch Sie dafür.
Wechsel dieser Art sind schon interessant.
Wir fordern für die internationale Finanzwirtschaft
klare und verlässliche Regeln. Im Einzelfall befürworten
wir volkswirtschaftliche Regulierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. In Zeiten des Übergangs kann die Freiheit
des Kapitalverkehrs eingeschränkt werden. All das ist
kein Thema. Allerdings sind wir gegen ideologische Rasenschnitte nach dem Motto: Einfach alles weg! Viele in
der Kritik stehende Institutionen haben eine äußerst positive Wirkung gehabt und wir können sie nicht gewissermaßen wie das Kind mit dem Bade ausschütten. Man
muss vielmehr sorgfältig hinschauen und in dieser Hinsicht sind wir gründlicher als Sie.
({13})
Sie sind oberflächlich, schnell und modisch, weil das zur
Mentalität Ihrer Klientel passt. Nein, wir arbeiten diese
Fragen gründlich ab; denn wir wollen unserer Verantwortung gerecht werden.
({14})
NGOs sind ein wichtiges Thema, das von uns unterschiedlich beurteilt wird. Es gibt mittlerweile 20 000 NGOs,
also Nichtregierungsorganisationen. Keiner hat überprüft,
wie wichtig bzw. wie wertvoll sie sind, auf welcher Gehaltsliste sie stehen, wie ehrenamtlich sie arbeiten und wie
ernsthaft ihr Anliegen ist. Diese Organisationen können
uns politisch zwar gerne beraten, aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Grenzen der Verantwortlichkeiten verwischt werden. Entscheidungen sind von Parlamenten,
die gewählt werden, und von Regierungen, die abgewählt
werden können, zu treffen und von niemandem sonst.
({15})
Wenn dieser Weg eingehalten wird, können NGOs
gerne wie Sachverständige wirken, und zwar sowohl was
die Schaffung als auch was die Begleitung der Anwendung von Gesetzen angeht. Damit haben wir kein Problem. Man möge aber bitte schön auf dem Teppich bleiben! Die Vertreter der NGOs sind keine Weltverbesserer,
die den vom Volk gewählten Politikern in allen Ländern
dieser Erde vorschreiben können, was sie zu tun haben.
Das dürfen sie auch nicht - das gehört ebenfalls zu diesem
Spektrum - in Form gewalttätiger Demonstrationen. Im
Hinblick auf das, was zu passieren hat, möge man eine realistische Betrachtung an den Tag legen.
Es wird keine Weltregierung geben. Da die Welt nicht
immer rational reagiert, müssen wir darauf setzen, dass an
möglichst vielen Stellen der Welt möglichst viel gleiches
Denken entsteht. Dieser Prozess muss durch vernünftige
Streitschlichtungselemente gesteuert werden. Wenn das
geschieht, kommt es zu mehr Frieden. Wir wollen keinen
Saal, sondern ein Haus mit vielen Zimmern, ein Dorf mit
vielen Häusern, auch wenn damit viele Unterschiede einhergehen. Deswegen sollte es keine zu strengen Regulierungen geben.
Ich komme - das ist der letzte Gedanke, den ich äußern
möchte - auf die Entwicklungsländer zu sprechen, was
mir besonders wichtig ist. In der ganzen Enquete ist viel
von dem die Rede, was die Industrienationen machen
müssen. Obwohl in Afrika sehr viel gemacht worden ist Afrika hat die privilegiertesten Handelsbeziehungen zur
Europäischen Union; man kann sie nicht weiter privilegieren -
Herr Kollege
Schauerte, auch Sie muss ich jetzt erinnern und mahnen.
Ich habe den
Schluss meiner Rede aber noch nicht versprochen, gnädige Frau.
({0})
Afrika - ich möchte nur noch diesen Gedanken zu
Ende bringen - ist wirklich privilegiert und dennoch sind
die Ergebnisse katastrophal. Das heißt, ohne intensive Anstrengungen dieser Länder, ihre Regierungsformen zu demokratisieren, ihre Korruption in den Griff zu bekommen
und die Gefahr von Militärdiktaturen einzudämmen - da
sind sie selber gefordert, das können wir ihnen nicht aufoktroyieren -, wird es keine Verbesserung dieser Situation
geben. Deswegen wird es - auch dieser Schwerpunkt
muss genannt werden - gemeinsamer Anstrengungen
aller Beteiligten bedürfen. Einseitige Schuldzuweisungen
helfen nicht weiter. Auch die Entwicklungsländer sind gefordert, ihren Beitrag zu leisten.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich kontere jetzt nicht
mit der Anrede gnädiger Herr. Vielmehr rufe ich jetzt
die Kollegin Annelie Buntenbach von der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch die Arbeit der Enquete-Kommission kann von
den Ereignissen des 11. September und ihren Folgen nicht
unberührt und unbeeinflusst bleiben. Negative Folgen
von Globalisierung, die Zunahme von Ungleichheit und
Ungerechtigkeit, von Hunger und Armut in der Welt können und dürfen nicht als Rechtfertigung für Terror und
Verbrechen herhalten. Klar ist aber auch, dass Ungerechtigkeit und Hoffnungslosigkeit die Wurzeln und den geistigen Nährboden bilden können, auf dem terroristische
Gewalt gedeihen kann. Deshalb ist es so wichtig, dass sich
die Enquete-Kommission mit den Folgen der Globalisierung und den Möglichkeiten der Regulierung beschäftigt.
({0})
Von den 6 Milliarden Menschen auf der Erde leben
2,6 Milliarden, also fast die Hälfte, von weniger als 2 USDollar pro Tag und 1,2 Milliarden, also ein Fünftel, sogar
von weniger als 1 Dollar. Dies stellt der aktuelle
Weltentwicklungsbericht der Weltbank fest. Er sagt ebenfalls, dass sich der Abstand zwischen den Durchschnittseinkommen der reichsten und der ärmsten Länder der
Welt in den letzten 40 Jahren, Herr Schauerte, verdoppelt
hat. Zwar hat der globale Wohlstand ohne Zweifel erheblich zugenommen - das ist natürlich gut so -, aber es ist
keineswegs gut, dass er eklatant ungerecht verteilt ist. Die
Folgen sind Armut, hohe Kindersterblichkeit, Krankheit
und Hunger in vielen Teilen der Welt.
Wir müssen feststellen: So international wie unsere
Märkte ist unsere Solidarität offensichtlich nicht. Das
wird sich auch nicht dadurch ändern, dass die Liberalisierung und Internationalisierung der Märkte voranschreitet.
Der freie Fluss der Marktwirtschaft bringt immer auch
Ungerechtigkeiten mit sich, gegen die Politik aktiv ansteuern muss. Zu dieser Erkenntnis ist zumindest noch
Ludwig Erhard gekommen, einer der Begründer der sozialen Marktwirtschaft.
({1})
Auf der internationalen Ebene - das wissen wir nach
den langen Diskussionen in der Enquete-Kommission alle
gut genug - ist das leichter gesagt als getan. Klar ist eben
auch, dass politische Einmischung und Regulierung dringend nötig sind, um soziale und ökologische Ziele in diesem Prozess fest zu verankern und mehr Transparenz,
Teilhabe und Demokratisierung durchzusetzen.
({2})
Was können wir tun? In dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission, aber auch in dem Antrag der Koalitionsfraktionen zur WTO-Runde werden eine ganze Reihe
von Schritten genannt. Ich kann hier nur einige herausgreifen.
Wichtiger Motor der Globalisierung sind die rasant gewachsenen internationalen Finanzmärkte. Zum einen
sind sie aus der internationalen Wirtschaft nicht mehr
wegzudenken, zum anderen aber zirkuliert hier spekulatives Kapital in einem irrsinnigen Tempo rund um den Globus. Das ist mit hohen Risiken verbunden, zumal die
Schocks der Krisen insbesondere schwache Volkswirtschaften treffen. Ein Instrument, um die Spekulation einzudämmen, ist die Tobinsteuer, also die Besteuerung von
kurzfristigen Devisentransaktionen. Hierfür setzt sich die
grüne Fraktion ein,
({3})
wohl wissend, dass die Tobinsteuer kein Allheilmittel ist,
sondern nur ein Instrument.
Genauso wichtig für eine neue Architektur der Finanzmärkte ist es aus unserer Sicht, zum Beispiel die internationalen Standards endlich auch auf Offshorezentren auszudehnen; diese werden von den einen Steuerparadiese,
von den anderen Geldwaschanlagen genannt. Da muss
dringend etwas passieren, damit in diesen auch die internationalen Standards gelten.
({4})
Den internationalen Institutionen muss eine neue
Orientierung gegeben werden: weg von einem isolierten
Liberalisierungsansatz in der Handels- bzw. Finanzpolitik
hin zur Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen
Auswirkungen ihrer Interventionen. Wie dringend hier
ein Umdenken nötig ist, zeigt die Erklärung des IWF vom
August dieses Jahres, in der gesagt wird, dass man sich
nicht an die zahlreichen Menschenrechtsdeklarationen
und -konventionen gebunden fühle, da diese schließlich in
den eigenen Statuten nicht erwähnt seien.
Die Enquete-Kommission empfiehlt - bezogen auf den
IWF und die Bretton-Woods-Institutionen -, die Politik
nach den negativen Lehren der Strukturanpassungsmaßnahmen grundlegend zu ändern: Es müsse auf soziale
und ökologische Belange Rücksicht genommen und Formen der Partizipation der Bevölkerung müssten gefunden
werden.
({5})
In Katar soll eine neue, mehrjährige WTO-Runde eingeleitet werden. Dieser Prozess darf nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Wir brauchen Transparenz
gegenüber der Zivilgesellschaft und die Evaluation der
bisherigen Vereinbarungen im Rahmen der WTO. Wir
brauchen eine parlamentarische Versammlung mit
beratender Stimme gerade dann, wenn wir erreichen
wollen, dass die Handelspolitik nicht mehr isoliert betrieben, sondern mit nachhaltiger Umwelt- und Sozialpolitik
gekoppelt wird.
({6})
Verstehen Sie das nicht falsch: Es geht mir nicht darum, dass die WTO oder der IWF die Instrumente werden
sollen, um die Umwelt- oder Sozialpolitik durchzusetzen.
Es kann aber nicht sein, dass in der WTO gesagt wird, sie
sei ausschließlich für die Handelspolitik zuständig; die
Umwelt- und Sozialfolgen ihrer Politik interessierten sie
nicht; diese sollten durch andere behoben werden, wie
zum Beispiel durch das Weltumweltprogramm der Vereinten Nationen, die UNEP, oder die Weltarbeitsorganisation, die ILO. Diese haben aber wiederum gar nicht die
notwendigen Instrumente und Mittel, um dies zu tun. Deshalb treten wir dafür ein, dass in der WTO das Vorsorgeprinzip verankert, die ILO gestärkt und die UNEP zu einer Umweltorganisation mit größerem Gewicht innerhalb
der UNO ausgebaut wird.
Es geht aber bei dem Stichwort global governance,
worüber wir in der Enquete-Kommission ausführlich diskutiert haben und diskutieren, nicht allein um eine Reform
der internationalen Institutionen, sondern auch um die
Einbeziehung neuer Akteure. Global governance setzt
auf das Zusammenwirken von staatlichen und nicht staatlichen Akteuren auf lokaler bis hin zur internationalen
Ebene. Die tatsächliche Umsetzung von Kernarbeitsnormen, die - das sehe ich genauso, wie Sigrid SkarpelisSperk es eben vorgetragen hat - in der WTO verankert
werden müssen, und die tatsächliche Umsetzung von Umwelt- und Sozialstandards vor Ort hängen von den strategischen Allianzen zwischen Konsumenten und Produzenten und zwischen Nord und Süd ab.
Die Absichtserklärungen mulinationaler Konzerne,
Umwelt- und Sozialstandards zu respektieren, dürfen
nicht zu folgenlosen Werbestrategien im Norden verkommen, sondern müssen dazu genutzt werden, um gemeinsam konkrete Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen im Süden zu erreichen.
({7})
Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion
über die Globalisierung; sie muss offen geführt werden.
Sie darf weder kriminalisiert werden, wie in Genua, noch
praktisch ausgeschlossen werden, wie dies in Katar vorgesehen ist. In diesem Zusammenhang freut es mich, dass
morgen hier in Berlin der erste große Kongress der globalisierungskritischen Attac-Bewegung stattfinden wird.
Ich erhoffe mir davon auch für unsere Diskussion hier im
Parlament wichtige Anstöße.
Herr Schauerte, das heißt nicht, dass die politische Diskussion an die NGOs delegiert werden soll; das will hier
niemand.
({8})
In diesem Zusammenhang sind wir als Parlament gefragt. Statt uns darauf zu beschränken, bereits Entschiedenes nur noch zu ratifizieren, wie dies in der Vergangenheit oft genug der Fall war, müssen wir uns - als
Parlament - in Zukunft mit viel größerer Selbstverständlichkeit in die Gestaltung und Vorbereitung der auf internationaler Ebene anstehenden Entscheidungen einmischen.
Wir werden uns in der Enquete-Kommission jedenfalls
bemühen, Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bis
zum Endbericht noch einen ganzen Strauß weiterer, ausgesprochen kluger Handlungsempfehlungen für die Einmischung des Parlaments vorzulegen.
({9})
Für die FDP-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Herren und Damen! Ich will ein wenig Wasser in den Wein
gießen und damit beginnen, dass sich Verzicht manchmal
als wahre Stärke erweisen kann. Insofern hätte ich mir gewünscht - und habe in der Enquete-Kommission auch
dafür plädiert -, dass wir diesen Zwischenbericht nicht
verfasst hätten. Wir hätten uns vielmehr schnellstens, und
zwar mangels Substanz in vielen Themenbereichen, auf
den Schlussbericht konzentrieren sollen.
Ich bemängele - das sage ich auch noch einmal ausdrücklich -, dass wir einen Bericht vorgelegt haben, der,
zum Beispiel bezogen auf die Arbeitsmärkte und viele andere Bereiche - auch bei den Waren und Dienstleistungen bis hin zur Einleitung, in aller Eile erstellt und nicht sorgfältig wissenschaftlich erarbeitet wurde. In der Konsequenz ist er im Grunde genommen für mich eher enttäuschend.
Sie alle haben in einem Kommentar der FAZ vom
15. dieses Monats lesen können - ich zitiere -:
In billigster Art und Weise, wissenschaftlich unqualifiziert und ideologisch eingefärbt wird dort mit populären Ängsten hantiert.
Ich finde, das ist für die Mehrheit in dieser Enquete-Kommission eine schallende Ohrfeige. Wir sollten alles daransetzen, die nächsten sechs Monate, die uns noch verbleiben, um einen wirklich inhaltsträchtigen Schlussbericht
zu erstellen, zu nutzen und zu einem Ergebnis zu kommen, das sich sehen lassen kann.
({0})
Wir als FDP-Fraktion sind jedenfalls schon dabei, an einem solchen Schlussbericht zu arbeiten, weil wir uns verpflichtet sehen, hier konsequent zu arbeiten.
Was bringt die Globalisierung den Armen in diesen
Ländern? Diese Frage wird häufig gestellt. Ich habe einen
Aufsatz von Professor Franz Nuscheler gelesen, der in
einer Passage sehr interessant für mich war. Professor
Nuscheler, der als Experte der Grünen für die EnqueteKommission benannt war, schreibt in diesem Aufsatz,
dass die Zahl der Armen zwar gestiegen sei, dass sich dabei die Weltbevölkerung aber seit 1960 verdoppelt habe
und de facto also der Anteil der Armen zurückgegangen
sei. Außerdem hätten sich die Lebenserwartung und die
Alphabetisierung verbessert - sie seien permanent gestiegen - und die Kinder- und Müttersterblichkeit sei
deutlich gesunken.
Das alles ist nicht ausreichend; es zeigt aber, dass das
bisschen Globalisierung, das wir in den letzten Jahren hatten, mit Sicherheit nicht für schlechtere, sondern für bessere Verhältnisse gesorgt hat. Das heißt also: Nur mit
freien Märkten und mit Transparenz schaffen wir mehr
Demokratie, mehr Menschenrechte, mehr Bildung und
damit auch insgesamt ein menschenwürdigeres Leben.
({1})
In der Tat ist weltweit weniger Geld in die Entwicklungshilfe geflossen. Dafür haben sich aber die Direktinvestitionen in die armen Länder verfünffacht; das muss
man sich einmal überlegen: verfünffacht! Ich finde, das ist
ein hervorragendes Ergebnis.
Ich spreche mich im Namen der FDP ausdrücklich
gegen eine Koppelung des Handels mit Sozialstandards
aus, weil ich der Überzeugung bin - das ist auch EU-Position -, dass die IAO, nicht die WTO, über Sozialstandards zu beraten hat. Ich finde es richtig, anstelle dessen
die Einbindung der armen Länder in die Arbeitsteilung
und die Marktöffnung voranzutreiben. Im Übrigen ist, wie
ich neulich in einer Anhörung erfahren konnte - sehr interessant -, auch die Bundesregierung der Meinung, man
solle Sozialstandards nicht mit dem Handel koppeln. Vielleicht sollten Sie sich einmal beraten lassen.
Zum Thema Tobinsteuer. Auch hier kann ich mich
sehr kurz fassen: Die FDP lehnt die Tobinsteuer schlicht
ab. Sie ist kein Instrument, um hier erfolgreich arbeiten zu
können. Sie schafft nur neue Steueroasen und führt dazu,
dass der internationale Handel verteuert wird. Das geht
zulasten der gesamten Bevölkerung. Wir haben auch andere Beispiele. Ich nenne hier noch einmal Rasen für die
Rente, Rauchen für den Frieden und Spekulieren für
die Entwicklungshilfe. Das kann es nicht sein; das ist
keine Ordnungspolitik.
({2})
Wir als FDP sehen: Die Globalisierung eröffnet uns
große Chancen zu wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung für die Menschheit. Wir sehen neue Möglichkeiten
der weltweiten Arbeitsteilung durch Handel und Kapitalmobilität. Wir sehen eine Überwindung geographischer
Standortnachteile durch neue Technologien und Bildungsangebote.
Wir wissen aber auch: Es gibt Risiken. Diese Risiken
bestehen in einer möglichen Ausuferung lokaler Störfälle
zu globalen Krisen, einer Entwicklung privater Monopolmacht von weltweit agierenden Großkonzernen, einer
Untergrabung der Steuerbasis usw. Natürlich gibt es das.
Dazu wirken als Krisenvermeidung Reformschritte,
die zu mehr Transparenz an den Kapitalmärkten und damit zu einer präziseren Bewertung der Risiken durch die
Kreditgeber führen. Hier sind zunächst einmal die nationalen Regierungen gefragt und dann erst der IWF.
Der freie Handel mit Gütern und Dienstleistungen
- das ist bei den Vorrednern gar nicht oder nur am Rande
vorgekommen - ist ein Kernziel liberaler Wirtschaftspolitik. Ein Schritt in Richtung Liberalisierung ist die Frage
an uns selbst, an die EU und an die USA, wie wir es mit
der Öffnung unserer Agrar- und Textilmärkte halten.
Es ist nicht akzeptabel, wenn die USA eine Subventionsaufstockung um 15 Milliarden DM beschlossen haben
und erst ab dem Jahr 2012 bereit sind, diese Beträge allmählich herunterzufahren. Wir müssen auch uns selbst
fragen, wie wir damit umgehen wollen.
Wir Liberalen wollen keinen Wettbewerb à la Wildwest, in dem alles möglich ist, sondern wir haben als langfristiges Ziel eine globale Wettbewerbsordnung unter dem
Dach der WTO vor Augen. Wir wünschen uns dazu vier
Schritte, und zwar erstens erweiterte Notifizierungspflichten bei der WTO, zweitens Wettbewerbspolitik als
neuer Bestandteil der WTO-Berichtsmechanismen, drittens Verständigung über die Vereinbarung eines Rahmens
gemeinsamer Wettbewerbsregeln und viertens ein Weltkartellamt mit eigener Klagebefugnis. Es könnte entweder bei der WTO oder gegebenenfalls auch bei der UN angesiedelt sein. Letzteres wäre unseres Erachtens nicht die
Ideallösung.
Wir stehen vor einer neuen WTO-Runde. Wir sind uns
wohl alle darüber im Klaren, wie wichtig es ist, dass diese
Runde auf jeden Fall stattfindet und dass sie umfassend
sein wird, also möglichst viele Themen zur Sprache kommen.
Wir richten an diese WTO-Runde sechs Forderungen:
erstens die Stärkung der WTO durch eine umfassende
neue Welthandelsrunde, wie ich sie eben beschrieben
habe, zweitens eine weitere Liberalisierung der Agrarund Textilmärkte, die den Entwicklungsländern zugute
käme, drittens eine Stärkung internationaler Organisationen und Foren als Möglichkeiten zum Austausch von
Meinungen, viertens weitere Fortschritte im Hinblick auf
das langfristige Ziel einer globalen Wettbewerbsordnung unter dem Dach der WTO, fünftens Fortentwicklung und nicht Abbremsung der Funktionsfähigkeit der
internationalen Finanzmärkte, sechstens eine Stärkung
multilateraler Streitschlichtungsmechanismen, wie sie
zum Beispiel bei der WTO anstelle des bilateralen Aushandelns bestehen, damit nicht immer der Stärkere Recht
bekommt.
Summa summarum gilt für uns als FDP: Wir sehen die
Globalisierung als Chance. Wir verteufeln sie nicht, sondern haben den Anspruch auch an den Deutschen Bundestag, diese Globalisierung offensiv zu gestalten. Aus
unserer Sicht überwiegen die Chancen gegenüber den Risiken. Wir wünschen uns mehr und nicht weniger Globalisierung.
Vielen Dank.
({3})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Ulla Lötzer.
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Mehrfach wurde heute wieder erklärt,
langfristig sei eine soziale Weltwirtschaft nötig, um dem
Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Doch zu einer
langfristigen Perspektive gehören auch kurzfristig
Schritte, die einen Kurswechsel ermöglichen. Deshalb sehen wir im Gegensatz zu Ihnen, Frau Kollegin Kopp, die
Empfehlungen der Enquete-Kommission in einem Zwischenbericht durchaus als notwendig und hilfreich auf
dem Weg in eine solche Richtung an.
Auch wir sagen: Globalisierung ist kein Sachzwang,
dem Politik sich ohnmächtig beugt, im Gegenteil: Regierungskonferenzen wie die G 8 und internationale Institutionen legen die Leitlinien der internationalen Politik fest.
Aber Maßnahmen zu ihrer Demokratisierung, die eine
gleichberechtigte Partizipation der Entwicklungsländer
ermöglichen, die Einbeziehung der Parlamente, die viel
beschworene oder auch umstrittene Partnerschaft mit
NGOs sind seit langem in der Diskussion. Sie fehlten in
Genua, sie fehlen in der vorgesehenen Abschlusserklärung zur Welthandelsrunde, sie fehlen auch weitgehend in dem Antrag der Regierungsfraktionen. Auch
Ohnmacht und Demütigung bilden einen Boden, auf dem
Terrorismus gedeiht.
Den Empfehlungen der Mehrheitsfraktionen im Zwischenbericht haben wir zugestimmt. Allerdings vermissen
wir Maßnahmen zur demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte und ihre Einbindung in eine nachhaltige
Entwicklung. Deshalb haben wir in unserem Minderheitenvotum ergänzende Empfehlungen vorgelegt. Ich will
wenigstens zu zwei Empfehlungen kurz Stellung nehmen.
Eine Empfehlung betrifft gerade den Faktor Demokratisierung des Internationalen Währungsfonds. Es
kann nicht hingenommen werden, dass Industrieländer
eine der UN unterstellte Organisation dominieren. Statt
die Stimmrechte allein nach ökonomischer Stärke zu verteilen, schlagen wir vor, auch die Zahl der von den Entscheidungen betroffenen Menschen und Fortschritte bei
der qualitativen Entwicklung mit zu berücksichtigen. Im
Gegensatz zu Ihnen wollen wir die Einführung der Tobinsteuer. Mit Freude habe ich in der Debatte gehört, dass die
Vertreter der Regierungsfraktionen diese in ihre Empfehlungen heute aufgenommen haben.
({0})
Die Europäische Union würde mit einer Einführung im
Alleingang einen pionierhaften Beitrag zu mehr Gerechtigkeit hier und heute leisten. Die Argumente, die auch die
Bundesregierung immer wieder dagegen anführt und die
auch heute angeführt wurden, sind im Zwischenbericht
widerlegt. Ich empfehle insbesondere Herrn Minister
Eichel und Staatssekretär Tacke vor dem nächsten Interview die Lektüre.
Die Diskussion nach Genua hat die Tobinsteuer und
weitere Maßnahmen zur Regulation der Finanzmärkte auf
die Tagesordnung der europäischen Finanzminister gesetzt. Bis zum Dezember soll ein Bericht dazu vorliegen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, bei der Erstellung
dieses Berichts Positionen von NGOs wie Attac, von Gewerkschaften und kritischen Wissenschaftlern ergänzend
einzubeziehen und die Parlamente an der Entscheidungsfindung zu beteiligen. Befassen Sie sich ernsthaft mit den
Argumenten, statt diese einfach, wie in der Vergangenheit, weiter zu ignorieren!
Die soziale Dimension des Welthandels wird im Zwischenbericht wie auch in Ihrem Antrag aufgegriffen. Die
völlige Freizügigkeit von Kapital und Handel ohne soziale Standards ermöglicht transnationalen Konzernen
und Investoren, gerade die Länder, Herr Kollege
Schauerte, die sich geöffnet haben, in die Konkurrenz um
Sozialdumping zu treiben. Die immer wieder beschworene Standortkonkurrenz, die für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit zum Abbau sozialer Leistungen zwinge,
und die Erosion sozialer Standards in Industrie-, Entwicklungs- und Schwellenländern sind die Folgen. Die
Zunahme des informellen Sektors ohne Arbeitsschutzgesetze und die Explosion der Sonderwirtschaftszonen sind
deutliche Belege dafür, wie die Liberalisierung die Erosion sozialer Standards vorangetrieben hat. Der Sprecher
der ärmsten Entwicklungsländer spricht angesichts der
kommenden WTO-Runde von ihrer tiefen Enttäuschung,
weil ihre völlige Marginalisierung im Welthandel in der
vorgesehenen Abschlusserklärung noch nicht einmal Erwähnung findet.
Die EU will dieser Entwicklung, unterstützt von der
Enquete-Kommission, mit einem globalen Forum für
soziale Entwicklung entgegenwirken. Wir begrüßen,
dass die soziale Dimension in die Diskussion einbezogen
wird. Allerdings finden wir davon kein Wort in der vorgesehenen WTO-Abschlusserklärung. Während über Soziales diskutiert werden soll, wird die Liberalisierung mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket der WTO-Agenda
forciert und damit die Erosion vorangetrieben. Deshalb
sagen wir: Eine faire Verteilung wird erst möglich, Frau
Kollegin Skarpelis-Sperk, wenn in einem solchen Forum
die Auswirkungen hinsichtlich der sozialen und ökologischen Dimension evaluiert werden. Solange daraus keine
Schlussfolgerungen vorliegen, sollte keine weitere
Forcierung der Liberalisierung vorgenommen werden.
Ergänzende Maßnahmen dazu haben wir in unserem
Minderheitenvotum in einem umfangreichen Maßnahmenpaket vorgeschlagen.
Eine soziale Dimension setzt auch eine Entwicklungsperspektive für die ärmsten Länder voraus, davon
war mehrfach die Rede. Zwar kommt dieser Satz auch in
der Abschlusserklärung, auch in ihrem Antrag vor; auch
in der heutigen Debatte war er mehrfach zu vernehmen.
Doch mit den konkreten Forderungen der ärmsten Länder
setzen Sie sich leider kaum oder gar nicht auseinander.
Auch die ärmsten Länder wollen keine weitere Liberalisierung. Sie treten insbesondere für die Aufnahme einer
speziellen Entwicklungsagenda in den Verhandlungen
ein.
Wir fordern die Bundesregierung, aber in der weiteren
Arbeit der Enquete-Kommission auch die Regierungsfraktionen und alle anderen auf, diese Position zu unterstützen und weiterhin mit aktuellen und konkreten
Empfehlungen zu unterlegen. Globale Sicherheit und globaler Frieden setzen eine weltweite Allianz für eine soziale, ökologische und demokratische Dimension der
Globalisierung voraus.
Danke.
({1})
Der Parlamentarische
Staatssekretär Siegmar Mosdorf hat seine Rede zu Proto-
koll gegeben1). - Ich höre keinen Widerspruch im Hause;
dann ist das möglich.
({0})
- Ich glaube, das haben die Stenographinnen und Stenographen festgehalten.
Jetzt erteile ich dem Kollegen Erich Fritz von der Fraktion der CDU/CSU das Wort.
Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Debatte ist kein Glanzlicht für die Parlamentsdramaturgie. Wir machen uns mit dieser Debatte
lächerlich angesichts des Anspruchs der Öffentlichkeit an
dieses Thema.
({0})
Dass hier heute die Globalisierungsdebatte mit der Diskussion über die WTO-Anträge, die allein schon genug
Stoff für eine ausführliche Debatte bieten würden,
({1})
und mit dem AKP-Gesetz vermischt wird, und zwar innerhalb einer Debattenzeit von 75 Minuten, ist der Sache
nicht angemessen.
({2})
Die Bundesregierung interessiert das Thema offensichtlich überhaupt nicht.
Ich habe Verständnis, dass durch die Verschiebung der
Debatte jemand das Plenum früher verlassen muss;
({3})
aber ich rechne es hoch an, dass Ministerin WieczorekZeul anwesend ist, die jedoch in dieser Debatte keine Redezeit hat. Auch die Anwesenheit des Kulturministers
nehmen wir gerne zur Kenntnis. Aber wo sind der Außenminister und der Finanzminister?
({4})
Die Mitglieder des Kabinetts, die für die zentralen Fragen
der Globalisierung zuständig sind, sind hier nicht vertreten. Das ist der Sache nicht angemessen.
({5})
Wenn wir nun überall dafür werben und auch mit allen
europäischen Parlamenten im Gespräch darüber sind, um
diese Debatte von der Straße in die Parlamente zurückzuholen, dann tun wir der Sache keinen Dienst, wenn wir
uns jetzt so verhalten. Deshalb ist hier eine andere Dramaturgie dringend erforderlich.
({6})
Hier werden doch nur Überschriften ausgetauscht. Das
geht bei den vorgesehenen Debattenbeitragszeiten auch
1) Anlage 3
gar nicht anders. Ich will die paar Minuten, die ich habe,
aber doch darauf verwenden, etwas zur WTO zu sagen,
weil wir in einer schwierigen Situation sind und nach den
Anschlägen in den USA weltwirtschaftlich sicher in noch
schwierigere Situationen kommen werden.
Für uns gibt es gar keinen Zweifel, dass wir allen
Grund haben, dazu beizutragen, dass die Voraussetzungen
für offene Märkte erhalten bleiben und dass es weitere
Handelsliberalisierungen gibt, weil nur aus ihnen
Entwicklungsmöglichkeiten und Wachstum entstehen
können.
({7})
Genauso wichtig ist aber, dass wir alles Mögliche tun,
um faire Handelsbedingungen zu schaffen und einen internationalen Ordnungsrahmen zu entwickeln, der die
gleichberechtigte Teilhabe aller Partner an der globalen
Wirtschaft möglich macht und die Chancen so verteilt,
dass alle mit diesem System leben können.
Das, was hier sowohl von Frau Skarpelis als auch von
Frau Buntenbach und Frau Lötzer vorgetragen worden ist,
klingt für die deutsche Öffentlichkeit insofern gut, als es
immer heißt: Wir Deutschen haben diese und jene Forderungen, die wir jetzt kraftvoll durchsetzen werden. Sagen wir doch lieber ehrlich, dass es um einen multilateralen Prozess geht, in dem Groß und Klein, wichtig oder
unwichtig, die gleiche Stimme haben, dass es immer darum geht, Geschäfte auf Gegenseitigkeit zu machen, dass
man über Themen nur dann reden kann, wenn alle dazu
bereit sind, und dass noch so machtvolle Demonstrationen
nichts an diesem Zustand ändern.
Deshalb müssen wir uns darauf einlassen, dass das,
was wir gerne erreichen wollen, einen langen Prozess erfordert, den wir nicht durch eine und auch nicht durch
zehn Konferenzen erreichen, sondern nur durch eine hartnäckige, andauernde Entwicklung dieses multilateralen
Systems, dass aber die Alternative dazu schrecklich ist.
Die Alternative ist nämlich der Rückfall in den Bilateralismus, in die Durchsetzung der politischen und wirtschaftlichen Macht der Großen gegenüber den Kleinen.
Die Alternative ist der Regionalismus mit neuem Protektionismus, mit der Abschirmung der Märkte. Zu wessen
Lasten das geht, das wissen wir doch.
({8})
Meine Damen und Herren, gerade weil wir eine Phase
vermutlich schwierigen Fahrwassers in der Weltpolitik
und der Weltwirtschaft vor uns haben, müssen wir alles
daransetzen, dass dieser Prozess nicht unterbrochen, sondern fortgesetzt und ausgebaut wird. Vor allem die Entwicklungsländer müssen ihre Stimme erheben können,
müssen ihre Produkte auf den Märkten anbieten können.
Wir müssen alles tun, damit Entwicklung möglich wird.
Aber diese Länder - wir reden da in der Regel von bestimmten Regimen - müssen auch bereit sein, das, was
wir good governance nennen, durchzusetzen. Es hat
überhaupt keinen Sinn, theoretisch Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen, wenn sie aufgrund der Praxis in diesen
Ländern und der tatsächlichen Macht- und Verteilungsverhältnisse überhaupt nicht die Wirkungen erzeugen, die
wir alle gerne hätten.
({9})
Meine Damen und Herren, wir als CDU/CSU-Fraktion
haben unseren Antrag bereits im Frühjahr vorgelegt, weil
wir eine breite Debatte im Vorfeld der nächsten WTOKonferenz wollten. Diese breite Debatte haben wir heute
nicht. Deshalb bitte ich alle, die jetzt zuhören, darum,
dazu beizutragen, dass die Fraktionen diese Debatte zumindest nach der nächsten Ministerkonferenz ermöglichen, wo es ja noch nicht um Verhandlungen geht,
sondern nur um die Frage, ob und, wenn ja, unter welcher
Tagesordnung überhaupt verhandelt wird. Denn ohne eine
breite Beteiligung des Parlaments wird dieser Prozess in
der Bevölkerung nicht akzeptiert werden und die NGOs,
die an mancher Stelle nur ein bestimmtes Interesse haben,
werden eine höhere Akzeptanz als das Parlament haben.
Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass in der Bevölkerung klar ist, dass wir den Willen haben, diesen Prozess zu gestalten, und dass wir die Kraft haben, auch wenn
es sich um Regierungsverhandlungen handelt, diesen Prozess als Parlament so zu begleiten, dass jeder darauf vertrauen kann, dass wir das richtig hinkriegen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Kristin Heyne für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Fritz, ich teile Ihr Bedauern darüber,
dass die Debattenzeit relativ kurz ist und auch die Präsenz
nicht ganz der Bedeutung des Themas entspricht. Aber ich
kann Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass auch Ihre
Fraktion die Möglichkeit gehabt hätte, heute Morgen in
der Kernzeit nicht die siebte Debatte zur inneren Sicherheit zu führen, sondern über die Globalisierung zu debattieren. Diese Möglichkeit hätte jede Fraktion des Hauses
gehabt.
({0})
Damit will ich nicht sagen, dass die Debatte unwichtig
war.
({1})
Aber ich glaube, dass auch diese Debatte wichtig ist.
Ich bin froh darüber, dass etliche Redner in dieser Debatte deutlich gemacht haben: Globalisierung ist kein
Schreckgespenst. Wir müssen sie weder fürchten noch
bekämpfen. Globalisierung ist auch weit mehr als nur die
Öffnung von Märkten. Sie eröffnet weltweit Möglichkeiten zur Durchsetzung sozialer, ökologischer und demokratischer Grundprinzipien und sie eröffnet Chancen für
eine gerechtere Teilhabe an Frieden, Freiheit und Wohlstand. Diese Chancen und Möglichkeiten gilt es zu fördern und auszubauen.
({2})
Globalisierung birgt allerdings auch die Gefahr ungleicher und ungerechter Beziehungen zwischen den Staaten.
Wir dürfen nicht zulassen, dass gerade die ärmsten
Staaten nicht an den internationalen Entwicklungen teilhaben. Die Politik im 21. Jahrhundert ist gefordert, die
Globalisierung sozial und ökologisch gerecht zu gestalten.
Ein wichtiger Beitrag zu diesem Ziel kann die Welthandelsrunde in Katar sein, wenn die Industrieländer
bereit sind, stärker auf die Bedürfnisse, Schwierigkeiten
und Vorschläge einzugehen, wenn es also zu einer Entwicklungsrunde kommt, die diesen Namen auch verdient.
Dabei wird es allerdings um Fragen gehen, die auch in
Deutschland und in der EU kontrovers diskutiert werden.
Es geht um eine stärkere Marktöffnung gerade bei den
Produkten, die für die Entwicklungsländer von besonderer Bedeutung sind. Ich spreche dabei von der Landwirtschaft und vom Textilsektor. Es geht um die Verringerung
von Zöllen auf verarbeitete Produkte. Wer den Entwicklungsländern empfiehlt, ihre Wirtschaft zu diversifizieren,
und dann das Ergebnis dieses Prozesses mit Zöllen bestraft, der handelt unglaubwürdig. Schließlich geht es
um die schrittweise Abschaffung von Exportsubventionen
innerhalb der EU, durch die in der Vergangenheit immer
wieder lokale Märkte in den Entwicklungsländern gestört
oder sogar zerstört wurden. Es wird sich erweisen, ob die
Industrieländer bereit und in der Lage sind, auf die Ereignisse des 11. September 2001 auch in Fragen des gerechten Welthandels besonnen und entschieden zu reagieren.
Lassen Sie mich ein weiteres wesentliches Entwicklungshemmnis ansprechen: Globale Kapitalströme und
offene Finanzmärkte schaffen in vielen Schwellen- und
Entwicklungsländern erhebliche Probleme. Die Folge ist
häufig ein Kreislauf von übermäßiger Verschuldung, Entschuldung und erneuter Verschuldung. Bei den Entschuldungsverhandlungen beispielsweise im Pariser Klub sind
die Gläubiger de facto Gutachter, Kläger und Richter in
einer Person. Die Bedingungen der Entschuldung gehen
häufig zulasten der Bevölkerung und der Entwicklungsperspektive der entsprechenden Länder.
Die HIPC-Initiative ist ein erster wichtiger Schritt in
die richtige Richtung, schafft aber keine dauerhafte Lösung. Deshalb spricht sich die grüne Fraktion für ein internationales Verfahren zur Bereinigung der Überschuldung von Staaten aus. Dabei soll die Beteiligung von
Schuldnern, Gläubigern, einem unabhängigen Schiedsrichter und von Vertretern der Zivilgesellschaft ein faires
und transparentes Verfahren ermöglichen.
So wie das nationale Insolvenzrecht privaten Schuldnern den Schutz der Menschenwürde zugesteht, so zielt
ein internationales Insolvenzrecht auf neue Entwicklungschancen in den betroffenen Ländern.
({3})
Dabei soll ein Existenzminimum im Hinblick auf
Ernährung, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur gesichert sein. Die Schulden sollen bis auf ein tragfähiges Niveau reduziert werden, damit die betroffenen Staaten den
restlichen Schuldendienst nachhaltig leisten können, ohne
auf die Entwicklung ihrer Volkswirtschaft und die Verbesserung der Lebenssituation ihrer Bevölkerung verzichten zu müssen.
Das Verfahren zur Bereinigung von Überschuldung
zielt auf eine größere Verantwortung sowohl bei den
Gläubigern als auch bei den Schuldnern und dient der Stabilisierung der Finanzmärkte. Die Enquete-Kommission
hat sich diesen Vorschlag zu Eigen gemacht. Ich hoffe,
dass auch die Bundesregierung dies demnächst tun wird.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt erwähnen: Für eine wirksame Unterstützung der Entwicklungsländer ist es notwendig, dass alle Maßnahmen an
den konkreten regionalen Problemstellungen orientiert
sind. Wir begrüßen deshalb, dass die G 8 auf ihrem Gipfel in Genua beschlossen haben, einen Aktionsplan zur
Unterstützung der New African Initiative zu erarbeiten.
Mit der Parlamentarischen Staatssekretärin Uschi Eid hat
der Kanzler eine herausragende und engagierte Afrikakennerin für diese wichtige Aufgabe benannt. Wir freuen
uns darüber - wir sind darauf auch ein bisschen stolz und wünschen ihr ein gutes Gelingen.
Danke schön.
({5})
Jetzt spricht für die
CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thomas Rachel.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Die Globalisierung ist ein
vielschichtiges Phänomen. Über kaum eine andere Entwicklung in unserer Zeit wird so viel diskutiert und keine
andere ist so umstritten wie die Globalisierung der Weltwirtschaft. Die einen verbinden mit ihr Hoffnungen und
Chancen auf Teilhabe, die anderen - wie die Globalisierungsgegner in Genua - sehen in ihr vor allem Gefahren
und lehnen sie ab.
Eine Sicht der Dinge dahin gehend, dass sich jeder
Staat ohne gravierende Folgen einfach für oder gegen
Globalisierung aussprechen könne, ist jedoch ein Trugschluss.
({0})
Globalisierung kann man nämlich nicht abschaffen.
Wahrscheinlich wäre dies auch gar nicht erstrebenswert.
Beschleunigt durch die neuen Informationstechnologien
nimmt der Austausch von Gütern, Kapital und Dienstleistungen, ja sogar von Menschen und Wissen bis hin zu
Menschenrechten immer weiter zu.
({1})
Worum geht es also? Ich denke, es muss darum gehen,
die Vorteile der Globalisierung zu nutzen und die Nachteile zu minimieren.
({2})
Dies ist auch der Auftrag der Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft des Bundestages. Sie soll
für die Politik auf internationaler und nationaler Ebene
Antworten finden. Dies wird nicht einfach sein. Denn in
Zeiten der Globalisierung entwickeln sich Weltökonomie
und Nationalstaat auseinander. Dabei dürfen wir die Sorgen der Menschen nicht einfach abtun. Viele haben Sorgen. Sie fühlen sich ohnmächtig vor dem Tempo der wirtschaftlichen Veränderung und sind verunsichert. Gerade
wir als Christdemokraten nehmen diese Sorgen ernst und
wollen tragfähige Lösungen finden.
Völlig verfehlt ist es allerdings, wenn, wie die PDS es
tut, gefordert wird, die Liberalisierung des Welthandels
zu stoppen.
({3})
Verzicht auf weiteren Welthandel bedeutet Verzicht auf
Wohlstandszuwachs für die Menschen.
({4})
Autarkie ist in unserer Welt nicht mehr möglich. Wer sie
will, propagiert Rückschritt.
Manche versuchen, die Globalisierung zum Sündenbock für die Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu machen.
Aber eine positive Beschäftigungsentwicklung resultiert
aus wirtschaftlichem Wachstum. Für dieses sind wachsender Handel und zunehmender Kapitalverkehr hilfreich. Gerade die internationale Arbeitsteilung durch die
Globalisierung befreit die Volkswirtschaften von den Fesseln heimischer Nachfragebeschränkung und eröffnet ihnen neue Einkommensperspektiven.
Empirisch ist bewiesen, dass offene Volkswirtschaften
schneller wachsen als Länder, die sich der internationalen
Arbeitsteilung verweigern. Auch steigen Beschäftigung
und Verdienste in offenen Volkswirtschaften schneller als
in geschlossenen. Somit bleibt der Handel ein effektives
Instrument bei der Armutsbekämpfung. Der Economist hat dazu eine einfache Antwort gegeben: Globalisierung, das ist der Unterschied zwischen Südkorea und
Nordkorea. Dies ist eine überaus zutreffende Beschreibung.
({5})
Natürlich sind nicht alle Probleme gelöst - im Gegenteil. In vielen Ländern gibt es schreckliche Abhängigkeitsverhältnisse und unsoziale Strukturen, aber die Antwort darauf ist eben nicht die Abschaffung der
Globalisierung. Was auf globaler Ebene fehlt, ist eine Entwicklung hin zu einer internationalen sozialen Marktwirtschaft. Dies ist der Ordnungsrahmen, für den wir uns
politisch einsetzen wollen.
({6})
Gegenüber anderen Produktionsfaktoren wie Kapital,
Rohstoffen oder menschlicher Muskelkraft gewinnen die
Faktoren Information und Wissen die entscheidende Bedeutung, und das durch sekundenschnelle Verbreitung
durch die Informationstechniken.
Handel hat es auch in anderen Jahrhunderten gegeben,
aber die lautlose Revolution hat durch die Informationstechnologien stattgefunden. Die gute Nachricht dabei
ist: Der Mensch wird an Bedeutung gewinnen, denn nur
der Mensch ist in der Lage, Information zu Wissen zu verarbeiten. Allerdings: Nur ausgebildete Menschen können
Nutzen aus diesem Fortschritt der neuen Technik ziehen.
Die Globalisierung und der Weg in die Wissensgesellschaft haben in den entwickelten Gesellschaften zu einer
zunehmenden Beschäftigung hoch qualifizierter Personen
geführt. Im Umkehrschluss sind Arbeitsplätze für Unqualifizierte verloren gegangen. Dies zeigt, dass die Frage
nach Gewinnern und Verlierern im Prozess der Globalisierung auch die Frage nach Bildung und Qualifikation
ist.
({7})
Die OECD hat vor zwei Wochen Indikatoren für die
wissensbasierte Gesellschaft nach Ländern geordnet
zusammengestellt. Wesentliche Kriterien sind dabei die
Ausgaben der einzelnen Nationen für Bildung, Forschung
und Software. Deutschland liegt bei der Realisierung der
Wissensgesellschaft nur im Mittelfeld. Andere Länder
wie Schweden, Finnland, die USA und Japan sind viel
weiter.
Woran liegt dies? Es liegt bestimmt nicht an der Zahl
der staatlichen Programme. Die Bundesregierung hat in
ihrem Bericht an die Enquete-Kommission allein 43 Programme zur Gestaltung der Wissensgesellschaft angeführt. Manchmal ist auch weniger mehr.
Es geht nicht um die Erhöhung staatlicher Mittel. Auch
die privaten Investitionen in die Ausbildung müssen
durch entsprechende Rahmenbedingungen erhöht werden.
({8})
Bei der Schaffung von Wissen durch Forschung ist ein erheblicher Nachholbedarf festzustellen. Die Forschungsausgaben in den USA und Schweden sind vor allem im
Wirtschaftssektor wesentlich höher. Nicht staatliche Programme waren hierbei entscheidend.
Die wissensintensiven Unternehmen, die wir brauchen, verlangen möglichst freie Entfaltung, Reduzierung
staatlicher Interventionen und neue Rahmenbedingungen
für die Vernetzung von Arbeit, Wohnen und Freizeit. Die
Bundesregierung tut aber genau das Gegenteil dessen,
was die moderne Wissensgesellschaft braucht. Ich verThomas Rachel
weise nur auf die vielen neuen Restriktionen im Arbeitsund Steuerrecht.
Unsere Aufgabe als Enquete-Kommission bleibt es
deshalb, im Endbericht die Herausforderungen für Bildung und Wissenschaft zu untersuchen und notwendige
Reformmaßnahmen zu benennen, damit möglichst alle an
der globalisierten Wissensgesellschaft teilhaben können,
sowohl im Verhältnis der Bürger unseres Landes untereinander als auch zwischen Industrieländern, Entwicklungsländern und Schwellenländern.
({9})
Deshalb lassen Sie mich mit einem Zitat des UNO-Generalsekretärs Kofi Annan schließen:
Die Globalisierung funktioniert nur, wenn sie für alle
funktioniert. Ansonsten wird sie für niemanden
funktionieren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Dagmar Schmidt für die Fraktion der
SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war wichtig und richtig, die Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft einzusetzen. Wir alle wissen um die Ängste
vieler Menschen vor einer Aufspaltung der Gesellschaft
in Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer. Politik muss - will sie glaubwürdig bleiben - diese
Sorgen ernst nehmen und Risikoreduzierung in allen Facetten zum politischen Programm machen!
({0})
Die Philosophin Hannah Arendt hat einmal gesagt,
Gottes Thron sei leer. Aber dürfen die Euphoriker der
Globalisierung diese vermeintliche Leere mit ihrem Anbetungsmodell ausfüllen, das da heißt: Die Wirtschaft
wird es schon richten; der freie Markt reguliert sich
selbst? - Sie dürfen nicht! Sie müssen begreifen: In Fragen der Globalisierung wird es für niemanden dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg geben, wenn es uns nicht gelingt, zu einer Globalisierung mit menschlichem Antlitz
zu gelangen.
({1})
Glaubt jemand ernsthaft, dass wir und die Generation
nach uns dauerhaft in Sicherheit und Wohlstand leben
können, wenn die Mehrzahl der Menschen unterhalb der
Armutsgrenze lebt und von Hunger bedroht ist, wenn
Menschenrechte und Demokratie als exklusive Luxusgüter den reichen Ländern vorbehalten bleiben?
Nehmen wir einmal die Auswirkungen der Globalisierung auf die Entwicklungsländer näher in den Blick.
Diese Auswirkungen haben Rückwirkungen auf uns alle.
Die Verheißungen einer globalisierten Weltwirtschaft haben sich nur für wenige Schwellenländer erfüllt und auch
dort nicht für die Mehrheit der Menschen. Besonders die
ärmsten Länder sind marginalisiert worden. Diese Tatsache stellt uns und die Länder innerhalb der Europäischen
Union vor die Aufgabe, unserer globalen Verantwortung
gerecht zu werden.
({2})
Die Europäische Union muss den Interessen der Entwicklungsländer bei den kommenden WTO-Runden angemessen Rechnung tragen.
({3})
Sie kann dabei auf ihre langjährige Tradition der Partnerschaftsabkommen mit den AKP-Staaten aufbauen. Mit
dem Abkommen von Cotonou ist es gelungen, verbesserte
und WTO-konforme Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung der Partnerländer zu schaffen.
Somit kann auch die kommende WTO-Runde zu einer
ehrlichen Entwicklungsrunde werden. Dies ist insbesondere dem persönlichen Einsatz unserer Ministerin
Wieczorek-Zeul zu verdanken.
({4})
Entwicklungsrunde heißt für die entsprechenden Länder, eine leistungsorientierte Marktöffnung zuzulassen.
Das heißt: keine übereilte Handelsliberalisierung und
keine übereilte Finanzmarktliberalisierung. Entwicklungsrunde heißt aber für uns alle: Orientierung am Prinzip der Nachhaltigkeit und Eingehen eines Bündnisses für
globale Gerechtigkeit. In diesem Bündnis müssen wir
Überzeugungsarbeit leisten, damit kurzfristige komparative Handelsvorteile durch Sozial- und Umweltdumping
als Strohfeuerpotenziale erkannt werden. Nur die Einhaltung angemessener sozialer und ökologischer Standards
garantiert dauerhaft Wohlstand und Sicherheit. Dazu
gehören auch die Kernarbeitsnormen.
Auf dem Gebiet der Ressourcen muss es uns gelingen,
sie effizienter zu nutzen. Die Entwicklungsländer sollen
die Chance erhalten, durch Teilhabe am weltweiten Wissenszuwachs und eigene Produktion eine größere Autonomie zu erlangen. Nur so können sie sich aus der unwürdigen Rolle des manipulierbaren Rohstofflieferanten
emanzipieren.
({5})
Elend trotz Reichtum an Bodenschätzen? Ganze Landstriche unbewohnbar, weil einigen der Boden und das,
was in ihm ist, mehr wert ist als das, was bescheiden darauf leben möchte? Entwicklungspolitik muss also eine
wichtige Rolle im Globalisierungsprozess spielen. Sie hat
bewährte Instrumente, die zunehmend von politisch weitsichtigen Entscheidungsträgern - auch anderer Ressorts genutzt werden.
Deshalb bin ich froh, dass unser Gedankengut gerade
durch die vernetzte Arbeit in der Enquete-Kommission zu
einer klugen und nachhaltigen Globalisierungspolitik
beiträgt. So - und nur so - kann unser Bündnis für globale
Gerechtigkeit gelingen.
({6})
Jetzt spricht für die
CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Dagmar Wöhrl.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Volkswagen Polo, montiert im spanischen Pamplona, enthält Zulieferteile aus 16 Ländern - von Mexiko bis Tschechien.
Das ist Globalisierung.
Ein Gespräch von New York nach London kostete im
Jahr 1930 - umgerechnet auf heutige Preise - noch
300 Dollar in der Minute. Heute kostet es gerade noch einen Dollar. Unternehmen sind heute in der Lage, ein und
dasselbe Produkt an verschiedenen Standorten zu entwickeln, zu produzieren und zu vermarkten. Auch das ist
Globalisierung.
Globalisierung ist jedoch kein neues Phänomen, sondern nur ein neues Wort für eine Entwicklung, die schon
seit über 100 Jahren vor sich geht. Auch unsere Großeltern
haben bereits eine zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft gekannt.
({0})
- Genau, lieber Herr Kollege Fritz.
Die Informationstechnologie hat in den letzten Jahren
diesem langen Prozess einen sehr kräftigen Qualitätsschub gegeben.
Wir sollten aber nicht so tun, als ob die Globalisierung
eine Art Epidemie wäre, die neuerdings die Weltwirtschaft befallen hat. Richtig ist: Wir müssen die Ängste der
Menschen in Bezug auf mögliche Folgen und Nebenwirkungen der Globalisierung ernst nehmen, müssen uns
aber davor hüten, solche Ängste zu schüren.
Wir haben bei den globalen Veränderungen ein immens
hohes Tempo und dieses hohe Tempo beschleunigt den
Strukturwandel. Für uns gilt es, die Chancen dieses
Wandels zu erkennen und durch eine aktive Gestaltung zu
nutzen.
({1})
Denn die Globalisierung ist - anders als sie sehr oft dargestellt wird - kein Nullsummenspiel, in dem der eine das
gewinnt, was der andere verliert. Fakt ist, dass diese Grenzen sprengende Liberalisierung für alle Beteiligten Vorteile bringen kann.
({2})
Die Zahl der Teilnehmer am Welthandel wird immer
größer und die Schwellenländer Südostasiens sind inzwischen zu neuen Konkurrenten geworden. Uns Deutschen
fällt die Argumentation besonders leicht. Schließlich sind
wir als Vizeweltmeister im Export einer der Hauptgewinner einer internationalen Arbeitsteilung und des Welthandels.
({3})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition: Wenn sich einige von Ihnen der Rhetorik der
Globalisierungsgegner anschließen, erinnert mich das
an jemanden, der den Ast, auf dem er sitzt, absägen will,
weil ihm die Sitzgelegenheit zu hart ist.
({4})
Die Globalisierung hat ihre Tücken; das ist klar. In diesem Punkt sind wir nicht auseinander. Aber die internationale Verflechtung über Handels- und Finanzströme bewirkt eine neue Dynamik. So kann es passieren, dass sich
eine Krise von einem Ende der Welt zum anderen in Windeseile ausbreitet. Wenn die Weltbörse erkältet ist, kann
es passieren, dass auch unsere Wirtschaft einen Schnupfen bekommt. Aber dann muss man vorbereitet sein. Dadurch zeichnet sich eine gute Wirtschaftspolitik aus.
({5})
Am weitesten fortgeschritten ist inzwischen die Globalisierung der Finanzmärkte. Diese Märkte sind allein
in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt um 15 Prozent
gewachsen. Der Umsatz am Devisenmarkt betrug im Jahr
2000 2,5 Billionen Dollar am Tag. Ende der 70er-Jahre
waren es noch 75 Milliarden Dollar. Ich bitte, sich diesen
Riesenunterschied einmal zu vergegenwärtigen.
Es kommt - das wissen Sie - auch zu Kursschwankungen an den Finanzmärkten, verbunden mit Fehlentwicklungen an den Devisen- und Aktienmärkten, die die Gefahr
von internationalen Finanzkrisen in sich bergen. Dennoch sind wir der Auffassung, dass eine Rückkehr
zu Kapitalverkehrsbeschränkungen der vollkommen
falsche Weg wäre. Die so genannte Tobinsteuer als vermeintliches Gegengift, deren Einführung Sie, Frau
Wieczorek-Zeul, hier wieder gefordert haben, ist in den Augen der Union ein denkbar ungeeignetes Instrument, um die
Stabilität der internationalen Finanzmärkte sicherzustellen.
({6})
Wir brauchen andere Ansätze. Ein richtiger Ansatz
wäre die Stärkung des Bankensektors durch die Unabhängigkeit von politischen Einflüssen und durch eine
funktionierende Bankenaufsicht. Das heißt, die neuen
Entwicklungen bringen auch Herausforderungen und
Probleme mit sich. Aber es ist falsch, sich einfach hinter
dem Rücken der Globalisierung zu verstecken. Wenn ich
mir die deprimierenden Wachstums- und Arbeitslosenzahlen Deutschlands anschaue, dann muss ich feststellen,
dass diese nicht importiert sind. Sie sind einfach made in
Germany.
({7})
Dagmar Schmidt ({8})
Dass Deutschland hinterherhinkt, hat viele Gründe,
allen voran die Sklerose des Arbeitsmarktes. Hier muss
der Kanzler endlich einmal dem Charme der Gewerkschaften widerstehen, liebe Frau Kollegin Dr. SkarpelisSperk, Charakter zeigen und die Arbeitsmärkte flexibler
gestalten.
({9})
Was machen Sie stattdessen? - Vor dem Hintergrund einer labilen, wegbrechenden Konjunktur erhöhen Sie die
Steuern. Sie müssen dringend ein wirtschaftliches Krisenmanagement betreiben, und zwar durch rasche Steuersenkungen und echte - ich betone: echte - Reformen! Hier
helfen keine nebulösen europäischen Konjunkturprogramme, mit denen der Kanzler in Quedlinburg geliebäugelt hat.
Es gibt eine einzige intelligente Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung: Es müssen vor Ort
die richtigen Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaft
geschaffen werden, damit sich Deutschland im scharfen
internationalen Wettbewerb der Standorte um Märkte,
Kunden, Produkte und Technologien behaupten kann.
({10})
Hieran fehlt es dieser Regierung.
Vielen Dank.
({11})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Die letzte
Stunde war von Streit geprägt. Er ist in zivilen Formen abgelaufen. In Genua, in Seattle und in Göteborg ging es
nicht ganz so friedlich zu. Aber wir alle müssen zur
Kenntnis nehmen, dass das Thema Globalisierung Streit
erzeugt. Das müssen auch diejenigen anerkennen, die
gute Argumente dafür haben, warum die Globalisierung
kein Nullsummenspiel ist und allen nützt. Trotzdem müssen auch Sie, Frau Wöhrl, zur Kenntnis nehmen, dass es
Streit gibt. Nun stellt sich die Frage: Wie geht man mit
dem Streit um?
Ich möchte jenseits allen Streites zuerst mit großer
Dankbarkeit den Zwischenbericht unserer Enquete-Kommission dem Hohen Hause vorstellen und mich bei dieser
Gelegenheit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Sekretariats und bei all denjenigen ganz herzlich bedanken, die an diesem Bericht mitgearbeitet haben.
({0})
Ich schließe in meinen Dank selbstverständlich auch diejenigen ein, die in Bezug auf die Einschätzung anderer
Meinung als die Mehrheit waren.
Frau Kollegin Kopp, ich muss aber das, was die FAZ
geschrieben hat, zurückweisen, nämlich dass der Zwischenbericht billig und unwissenschaftlich sei.
({1})
Ich müsste auch Ihre Meinung zurückweisen, wenn dies
die Ihrige wäre. Zu einer solchen Beurteilung kommt man
als Ökonom vermutlich dann, wenn man die Ausweitung
des Freihandels als Vermehrung der Wohlfahrt definiert.
Wenn man es einfach so definiert, dann hat man kein Beweisproblem mehr.
({2})
- Auf die positiven Seiten komme ich noch zu sprechen. - Also: Diese Beschimpfung vonseiten der FAZ
ist völlig ungerecht.
Gestört hat manche von Ihnen, zum Beispiel Herrn
Kollegen Schauerte, dass wir im Bericht mit einigem
Nachdruck über die Probleme und weniger über die positiven Seiten der Globalisierung gesprochen haben. Der
Grund für diese scheinbare Schlagseite ist ganz einfach:
Bei den positiven Seiten gibt es sehr viel weniger Handlungsbedarf; dort, wo es Probleme gibt, müssen wir dagegen etwas tun und darüber dann auch etwas schreiben.
({3})
Niemand, Kollege Schauerte und Frau Kollegin Kopp,
setzt hier auf Abschottung. Soweit ich das überblicke, haben Sie das zumindest heute von niemandem gehört, von
mir ganz gewiss nicht. Aber Handlungsbedarf gibt es
trotzdem, und zwar sehr vielfältig.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich Millionen,
vielleicht Milliarden von Menschen gegenwärtig in einem
Zustand der Hilflosigkeit sehen und in aller Regel die
Globalisierung als Ursache dafür betrachten. Wenn einer
Textilarbeiterin in Thailand gesagt wird, ihr kärglicher Arbeitsplatz könne jederzeit gestrichen werden, wenn es für
die internationale Firma, bei der sie beschäftigt ist, rentabler wird, in Vietnam statt in Thailand zu produzieren,
dann fühlt sie sich ausgeliefert. Aus dieser Stimmungslage heraus entsteht dann ein Problem für unsere Demokratie; denn es nützt der jungen Thailänderin nicht furchtbar viel, wenn sie weiß, dass sie alle vier Jahre zur
Wahlurne gehen kann. Es nützt ihr auch nicht furchtbar
viel, Frau Wöhrl, wenn wir sie mit der Aussage, das Ganze
sei kein Nullsummenspiel, zu trösten versuchen. Sie ist
eindeutig in einer höchst prekären abhängigen Situation
und fühlt sich gefährdet. Aus diesem Gefühl entsteht empirisch eine schleichende Verdrossenheit mit der Demokratie selbst.
({4})
Darin liegt die Gefahr, dass sich Menschen resigniert
zurückziehen oder aber sich radikalen und undemokratischen Strömungen anschließen. Herr Kollege Schauerte,
ich stimme Ihnen völlig zu: Das soll man nicht schüren.
Das tun wir auch nicht. Aber man soll die Probleme schon
beim Namen nennen.
({5})
Es hatte ja alles so gut begonnen. Wir alle waren doch
so glücklich, als 1989 die Mauer fiel und die Marktwirtschaft als Sieger aus dem Systemwettbewerb hervorgegangen ist. Niemand bestreitet doch, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass das siegreiche
System, der Freihandel, die Globalisierung, viel mehr
Wohlstand schafft als die autoritäre Kommandowirtschaft
oder auch eine Einigelungsstrategie.
Aufgrund dieser Beobachtungen meine ich - da bin
ich, soviel ich sehe, mit allen im Hause einig -, dass wir
von folgender optimistischer Annahme ausgehen können: Die Globalisierung kann so gestaltet werden, dass
es insgesamt viel mehr Gewinner als Verlierer gibt.
Tatsächlich, empirisch, aber tut sich die Schere zwischen
Arm und Reich in den letzten 20 Jahren immer weiter
auf.
({6})
In den 70er-Jahren verdienten die reichsten 20 Prozent der
Erdbevölkerung etwa 30-mal so viel wie die ärmsten
20 Prozent. In den 80er-Jahren, als die Phänomene der unbeschränkten Marktwirtschaft vor allem in Nord- und
Südamerika auftraten, stieg der Abstand von einem Faktor 30 auf einen Faktor von etwa 45. In den 90er-Jahren,
in denen sich die Globalisierung weltweit durchgesetzt
hat, ist der Abstand auf einen Faktor 74 gestiegen.
({7})
Das kann man nun wirklich nicht leugnen und das ist ein
gesellschaftliches Problem allererster Ordnung.
({8})
Die Vorrednerinnen und Vorredner haben schon die
wichtigsten inhaltlichen Aspekte unserer eineinhalbjährigen Arbeit skizziert. Lassen Sie mich noch zwei Themen
hinzufügen: erstens die große Aufgabe des Nord-SüdAusgleichs, von dem Frau Schmidt gesprochen hat, und
zweitens den Schutz der öffentlichen Güter im Zeitalter
der Globalisierung.
Zur Situation der Entwicklungsländer wiederhole ich
nicht das, was Frau Schmidt gesagt hat, ich sage lediglich,
dass das Abkommen von Cotonou vom 23. Juni dieses
Jahres einen Lichtblick in der ansonsten traurigen Lage
der Finanzierung der Entwicklung darstellt.
({9})
Mit dem eindrucksvollen Finanzvolumen von immerhin
13 Milliarden Euro bis zum Jahr 2005 leistet es einen
großen Beitrag zur Herbeiführung globaler Gerechtigkeit.
({10})
- Nein.
Kommen wir zum zweiten Punkt, dem Schutz öffentlicher Güter wie zum Beispiel der Umwelt, der sozialen
und ökonomischen Stabilität, der Rechtssicherheit, dem
Zugang zu Bildung und Informationen, der Infrastruktur
usw. Die Sicherung und Fortentwicklung öffentlicher Güter erfordert in erster Linie staatliches Handeln. Eben dies
ist aber unter dem Konkurrenzdruck der Standorte gegeneinander in jüngster Zeit finanziell erschwert worden.
Man kann nicht bestreiten, dass praktisch die gesamten
riesigen Wohlfahrtsgewinne der 90er-Jahre in den privaten Sektor geflossen sind, während in der Mehrzahl aller
Länder die Finanzierung der öffentlichen Güter schwieriger, in manchen Fällen notleidend geworden ist.
Der Schutz der öffentlichen Güter, und das auf globaler
Ebene, ist das wichtigste Ziel dessen, was man heute als
Global Governance bezeichnet. Zwei Hoffnungen verbinden sich mit dem Stichwort der Global Governance,
dem sich ein Kapitel unseres Zwischenberichts widmet.
Das ist einerseits die Stärkung der staatlichen Seite, der
Vereinten Nationen, der internationalen Verträge und andererseits die Stärkung derjenigen zivilgesellschaftlichen
Akteure, die sich den Schutz der öffentlichen Güter zur
Aufgabe gemacht haben. Dabei geht es um die Menschenrechte, deren Einhaltung sich sowohl viele kirchliche
Gruppen als auch Amnesty International, Terre des
Hommes, Ärzte ohne Grenzen und andere zum Ziel gesetzt haben.
In diesem vierten Kapitel des Berichts wird eine systematische Kooperation zwischen staatlichen und nicht
staatlichen Akteuren entworfen, die sich zum Grundpfeiler einer demokratischen Weltkultur entwickeln kann. Die
Demokratie wurde schließlich im 17., 18. und 19. Jahrhundert nur für den Nationalstaat entwickelt. In dem
Maße, in dem die Wirtschaft, die Medien, der Tourismus
und die Umweltgefährdung global geworden sind, wird es
zur Verpflichtung für uns alle, demokratische und freiheitliche Formen der Mitgestaltung zu entwickeln und politisch durchzusetzen.
({11})
Es ist offenkundig, dass wir die Arbeit an dieser Jahrhundertaufgabe noch ein gutes Stück fortsetzen müssen.
Ich stimme Frau Kopp darin vollständig zu. Wir müssen
auch noch mehr Wissenschaft hineinpacken. Aber der
Zwischenbericht einschließlich seiner Sondervoten lohnt
auf jeden Fall Ihre Lektüre.
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/6910, 14/7143, 14/5805, 14/5755,
14/6889 und 14/7053 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 14/7143 soll zusätzlich an den Rechtsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerald
Weiß ({0}), Karl-Josef Laumann, Brigitte
Baumeister, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Kapitalteilhabe stärken Vermögensbildungsförderung altersvorsorgegerecht ausbauen
- Drucksache 14/6639 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Nach der interfraktionellen Absprache ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bessere
Rahmenbedingungen für mehr Mitarbeiterbeteiligung in
Deutschland zu schaffen, das ist sozusagen die Quintessenz des von der CDU/CSU vorgelegten Antrags. Wir
wollen mit diesem Antrag die Kapitalteilhabe stärken und
die Vermögensbildungsförderung altersvorsorgegerecht
ausbauen.
({0})
Wir machen eine ganze Reihe von konkreten Vorschlägen, die gemeinsam das Ziel haben, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärker am Produktivkapital und an
den Erträgen der Wirtschaft zu beteiligen.
({1})
Unser Ziel ist es, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer à la longue zu Mitunternehmern zu machen. Wenn
wir es richtig anpacken, können wir durch eine stärkere
Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am
Produktivkapital auch - was zu beweisen sein wird - einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten.
Arbeit für alle und Eigentum für alle; diese Ziele hängen eng zusammen.
({2})
- Ich höre Sozialismus? - Die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu Mitunternehmern zu machen, das ist das
Gegenteil von Sozialismus.
Wir müssen jetzt etwas für die Teilhabegerechtigkeit
tun. Eigentum stärkt Unabhängigkeit. Eigentum und persönliche Freiheit stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang. Eine breite Streuung von Eigentum wirkt der
Konzentration von Macht in der Wirtschaft entgegen. Eigentum ist ein wesentlicher Bestandteil einer Ordnung der
Freiheit. Wir müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch deshalb am Kapital der Wirtschaft stärker
beteiligen, weil auf der einen Seite Arbeitseinkommen
und auf der anderen Kapitaleinnahmen sich bedenklich
weit auseinander zu entwickeln drohen. Der Gesellschaft
bekommt es nicht gut, wenn die Einkommensschere zu
weit auseinander geht.
({3})
Es muss erfolglos bleiben, gegen diese Entwicklung
ausschließlich mit Strategien zur Erhöhung des Nominallohns - Barlohnstrategien - anzugehen. Deshalb müssen
die Barlohnstrategien durch Kapitallohn- und Erfolgslohnstrategien ergänzt werden. Sie sind das Gebot der
Stunde. Dafür müssen wir bessere Bedingungen schaffen.
Eine Forderung besteht darin, die Einkommensgrenzen im Vermögensbildungsgesetz - es geht darum, den
von der unionsgeführten Regierung eingeschlagenen Weg
fortzuführen -, von 35 000 DM bzw. 70 000 DM auf
50 000 DM bzw. 100 000 DM anzuheben. Kapitaleinkommen werden für breite Bevölkerungskreise insbesondere als Alterseinkommen in Zukunft eine immer größere
Rolle spielen. Mit unserem Antrag verfolgen wir das Ziel,
die Vermögensbildungsförderung altersvorsorgegerecht
auszubauen.
Wir wissen: Auch eine nach unseren Vorstellungen verbesserte Förderung kann eine gezielte Unterstützung für
den Aufbau einer privaten bzw. betrieblichen Altersvorsorge zwar nicht ersetzen; sie kann sie aber sehr wohl
sinnvoll ergänzen. Die so genannte Riester-Förderung in
dem entsprechenden Rentengesetz ist so verkorkst, so
bürokratisch, so kompliziert und in Teilen auch so himmelschreiend ungerecht, dass sie eine Ergänzung dringend braucht.
({4})
Die von Riester geschaffene Regelung sieht zwölf
komplizierte Förderkriterien vor, obwohl man im Grunde
genommen nur zwei Kriterien braucht: Sicherheit und
Langfristigkeit.
({5})
- Warum haben Sie dann zwölf Kriterien in das Gesetz
hineingeschrieben,
({6})
die große Behörden munter prüfen müssen?
Der Staat muss überall da, wo er die Bildung von Eigentum und Vermögen aus knappen Ressourcen fördert,
Langfristigkeit in Form dauerhafter Bindungen belohnen.
Deshalb kann unser Ziel nicht sein, kurzfristige Konsumschübe zu finanzieren. Vermögensbildung bis zur nächsten Kreuzfahrt ist nicht das Ziel, sondern langfristige,
dauerhafte Kapitalbeteiligung - dauerhaftes Produktiveigentum.
({7})
Das muss das strategische Ziel der Vermögensbildungsförderung sein. Also müssen wir sie auf Langfristigkeit
neu ausrichten. Deshalb wollen wir die Arbeitnehmersparzulage für langfristige, das heißt mindestens auf
15 Jahre oder bis zum 60. Lebensjahr festgelegte Produktivkapitalbeteiligungen stärker fördern, nämlich mit einem Fördersatz von 30 statt bisher 20 Prozent.
Auch wollen wir beim § 19 a Einkommensteuergesetz
einen zusätzlichen Freibetrag von 500 DM als Anreiz zur
Vereinbarung langfristiger Mitarbeiterbeteiligungen vorsehen und darüber hinaus den Grundfreibetrag erhöhen,
sodass 1 000 DM bei der Überlassung von Mitarbeiterbeteiligungen steuerfrei bleiben.
({8})
- Ja, wir sind ganz nahe bei dem, was Ihnen in Ihrer Oppositionszeit eingefallen ist. Wenn Sie einmal in der
Drucksache 13/4373 nachlesen wollen: Da fordern die
Abgeordneten Gerd Andres, Ulrike Mascher, Doris
Barnett, Ottmar Schreiner und weitere Abgeordnete der
SPD die Erhöhung der Einkommensgrenzen für die Arbeitnehmersparzulage von 50 000 auf 100 000 DM und einen Freibetrag von 1 000 DM. Da unsere Initiative davon
nicht weit entfernt ist, muss sie auch unter neuen Bedingungen eine Chance haben.
Nicht irgendwelche sozialromantischen Schwärmereien sind es, die uns leiten, sondern das Gebot der Gerechtigkeit, aber auch wirtschaftspolitische Vernunft. Für
Mitarbeiterbeteiligungen sprechen auch volkswirtschaftliche, betriebswirtschaftliche und vor allem beschäftigungspolitische Gründe.
Erstens können Investivlohnvereinbarungen die direkten Arbeitsfixkosten begrenzen. Sie können damit die
Voraussetzungen für die Entstehung neuer Arbeitsplätze
verbessern. Hierauf hat der Präsident des Ifo-Institutes,
München, Professor Sinn, in Untersuchungen immer wieder hingewiesen.
Zweitens lassen sich die positiven betriebswirtschaftlichen Effekte der Mitarbeiterbeteiligung an dem klaren
Produktivitätsgefälle zwischen Unternehmen, die Mitarbeiterbeteiligungen haben, und solchen, die sie nicht haben, ablesen. Das hat eine Untersuchung des Institutes für
Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg anhand
eines schwierigen ökonometrischen Modells klar nachgewiesen. Es besteht ein klares Gefälle - übrigens in Ost und
West unseres Vaterlandes -, ein deutlicher Abstand in der
Produktivität zwischen Betrieben, die Mitarbeiterbeteiligungen haben, und solchen, die keine haben. Das hängt
mit Motivation zusammen. Nutzen wir doch die Motivationskräfte, die Miteigentum aufschließt - zumal sie klar
nachzuweisen sind; ich habe gerade die entsprechende
Untersuchung erwähnt -: Aus höherer Motivation aufgrund von Kapitalmiteigentum erwächst eine höhere Produktivität.
Ein weiterer positiver betriebswirtschaftlicher Effekt
liegt - drittens - in der Stärkung der Eigenkapitalbasis der
Wirtschaft. Gerade sind die neuen Eigenkapitalkriterien
bei der Kreditprüfung entwickelt worden - Stichwort Basel II. Das ist insbesondere für unsere mit Eigenkapital
chronisch unterversorgte mittelständische Wirtschaft eine
beachtliche Schwierigkeit. Mitarbeiterbeteiligung kann
auch die Eigenkapitalversorgung in der Wirtschaft, in mittelständischen Unternehmungen verbessern. Nutzen wir
also den Finanzierungsaspekt, den die Mitarbeiterbeteiligung eröffnet, für die Stärkung der Kapitalbasis in unserer mittelständischen Wirtschaft - mehrere Fliegen mit einer Klappe!
Alles spricht für eine neue Initiative in der Vermögensbildungsförderung, für die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Wenn ich mir vor Augen halte, was er
auf einer Kundgebung zum 1. Mai 2000 gesagt hat, sieht
das auch der Bundeskanzler so. Dennoch ist, wie so häufig, nichts passiert. Die Vermögensbildungsförderung ist
zu schade, um eine rhetorische Eintagsfliege des Bundeskanzlers zu bleiben.
({9})
Lassen Sie uns deshalb eine gemeinsame große Anstrengung daraus machen. Wir bitten um Zustimmung zu unserem Antrag.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Grotthaus für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Weiß, gestatten Sie mir vorab zwei Anmerkungen: Ich
glaube, wir sind uns fast alle einig, dass Eigentum die
Freiheit stärkt. Es sollte aber auch jedem klar sein, dass
dieses Eigentum nur dann die Freiheit stärken wird, wenn
man eine direkte Einflussnahme auf das Eigentum hat.
({0})
Wer also eine Beteiligung am Produktivkapital fordert,
sollte sich in diesem Hause auch einmal über die qualifizierte und insbesondere die wirtschaftliche Mitbestimmung in den Betrieben unterhalten.
({1})
Wenn Sie einen solchen Antrag einbringen, sind wir sofort bereit, mit Ihnen viel intensiver darüber zu diskutieren, als dies heute überhaupt der Fall sein kann.
({2})
Eine zweite Anmerkung. Als jemand, für den dies die
erste Legislaturperiode als Mitglied des Deutschen Bundestages ist, stelle ich fest, dass Sie als Opposition nach
dem Motto handeln: Wir haben die besten Ideen! Aber
Gerald Weiß ({3})
dass Sie uns 1 500 Milliarden DM Schulden hinterlassen
haben
({4})
und wie diese Ideen nun zu verwirklichen sind, darüber
machen Sie sich keine Gedanken, darüber soll sich die Regierungskoalition Gedanken machen.
({5})
Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Sie in Ihren
Ausführungen keine Aussagen zu den entstehenden Kosten gemacht haben. Sie haben zwar Maßnahmen vorgeschlagen; welche Haushaltsbelastungen diese aber letztendlich mit sich bringen, haben wir nicht gehört. Deshalb
will ich es Ihnen sagen: Die Annahme Ihres Antrags zur
Förderung einer zusätzlichen Altersvorsorge würde noch
einmal 1,25 Milliarden DM pro Jahr kosten.
({6})
Wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie uns einen
Gegenfinanzierungsvorschlag machen. Sie sagen in Ihrem Antrag, dass dies durch Umschichtungen und rückläufige Belastungen an anderer Stelle aufgefangen werden könne.
({7})
Wo denn, bitte schön? Kommen Sie - vielleicht der nachfolgende Redner - nach vorne und sagen Sie sehr deutlich,
zu wessen Lasten Sie Umschichtungen vornehmen oder
wie Sie die zusätzlichen Haushaltsmittel aufbringen wollen.
({8})
Es ist die von Ihnen bekannte Methode, die letztendlich
dazu führt, dass es zu einer weiteren Mehrbelastung des
Haushaltes kommt. Sie wollen Ihre unsolide Haushaltspolitik der letzten Jahre fortsetzen. Dass wir dies nicht
mitmachen, ist Ihnen - davon gehe ich aus - schon im
Vorfeld klar gewesen. Deswegen sei bereits an dieser
Stelle gesagt: Wir werden Ihren Antrag ablehnen.
Im CDU/CSU-Antrag wird des Weiteren bemängelt,
dass die Zahl der Beteiligungen am Produktivvermögen zu gering sei. Auch hierzu haben Sie keine Zahlen genannt. Ich will Ihnen einige nennen. Damit Sie die Beteiligungen erhöhen können, wollen Sie - so ihr Vorschlag eine Erhöhung zusätzlicher Freibeträge.
({9})
Ich sage Ihnen: Die zu erwartenden jährlichen Mehrkosten, wenn wir also die Freibeträge erhöhen, betragen
250 Millionen DM - zusätzlich zu den gerade von mir genannten Kosten. Auch hierzu kam von Ihrer Seite keine
Aussage.
Eines steht fest: Zurzeit erwerben etwa 1 Million
Arbeitnehmer jährlich Beteiligungen im Wert von rund
750 Millionen DM. Die staatliche Förderung dafür beträgt
200 Millionen DM jährlich. Insgesamt sind also 2 Millionen Arbeitnehmer - das sind 6 Prozent aller Arbeitnehmer - in rund 2 000 Unternehmen am Kapital des Arbeitgebers beteiligt. Damit ist nichts darüber ausgesagt, in
welcher Form diese Beteiligungen bestehen, ob dies Aktien, Anlagen mit breitgestreuten Risiken oder was auch
immer sind. Von daher sage ich: Diese Beteiligung lässt
sich sicherlich ausbauen, aber nicht unter den Bedingungen, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben.
Die Antragsteller kritisieren weiter, dass wir die Mitarbeiterbeteiligung bei der Förderung nach dem Altersvermögensgesetz ohne triftigen Grund nicht berücksichtigt haben.
Es gibt weiß Gott einen triftigen Grund. Die Mitarbeiterbeteiligungen wurden deshalb nicht in die Förderung des Altersvermögensgesetzes aufgenommen, weil sie wegen der
fehlenden Risikostreuung und des fehlenden Verbraucherschutzes nicht für die Altersvorsorge geeignet sind. Wo
kommen wir denn hin, wenn sich Mitarbeiter zur Altersvorsorge über Kapitaleinlagen an einem Unternehmen beteiligen, dieses Unternehmen aber in alleiniger Entscheidung
bewusst Risiken eingeht, auf die der Arbeitnehmer keinen
Einfluss hat? Im Alter steht dann der Arbeitnehmer möglicherweise da, ohne das, was er investiert hat, zumindest
zum Teil mit Zinsen zurückzubekommen.
({10})
Das kann nicht sein. Das werden wir nicht mitmachen.
({11})
Deswegen sage ich Ihnen: Verbraucherschutz und Verbrauchersicherheit finden im Altersvermögensgesetz insbesondere darin ihren Ausdruck, dass die Anlageninstitute
Informations- und Berichtspflichten einzuhalten haben.
Ich will diese hier nicht aufzählen; Sie können sie nachlesen. Ich würde Ihnen empfehlen, dafür Sorge zu tragen,
dass sich der Verbraucherschutz zugunsten der Arbeitnehmer auch in Ihrem Antrag wiederfindet.
Ein weiterer Grund, weshalb wir Ihren Antrag ablehnen werden, ist: Die Arbeitnehmer sollen nicht in doppelter Weise - nämlich mit ihrem Arbeitsplatz und mit ihrer
Altersvorsorge - vom wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens abhängig sein. Sie sehen also, es gibt durchaus
triftige Gründe, warum sich Mitarbeiterbeteiligungen
nicht als Altersvorsorge im Rahmen des Altersvermögensgesetzes eignen.
Die CDU/CSU-Fraktion hält die durch das dritte Vermögensbeteiligungsgesetz erreichten Verbesserungen für
nicht ausreichend und führt dies im Wesentlichen auf die
zu niedrigen Einkommensgrenzen zurück. Was macht
die CDU/CSU da? - Ganz einfach - ich habe es gerade
schon erwähnt -: Sie erhöht die Einkommensgrenzen, damit mehr Menschen erfasst werden. Ob dies sinnvoll ist,
wird hier nicht hinterfragt.
Ich will Ihnen auch dies an zwei Zahlenbeispielen
deutlich machen. Eine erneute Anhebung der Einkommensgrenzen auf 50 000 bzw. 100 000 DM würde dazu
führen, dass circa 90 Prozent aller Arbeitnehmer Anspruch auf eine Arbeitnehmersparzulage haben. Das hört
sich positiv an, aber die Frage ist: Wen wollen Sie mit
Ihrem Antrag zusätzlich fördern? Arbeitnehmer, die mehr
als 120 000 DM im Jahr verdienen, werden dann auf einmal auch noch vom Staat gefördert. Das war weiß Gott
nicht der Sinn der Arbeitnehmerförderung.
Der Sinn der Arbeitnehmerförderung war es, die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu fördern und
sich auf diese zu konzentrieren. Diesen Weg wollen Sie
mit Ihrem Antrag verlassen. Wir werden diesen Weg nicht
mitgehen. Aus diesem Grund stimmen wir auch gegen
Ihren Antrag.
({12})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ihre kategorische Ablehnung dieses Vorschlages, Herr Grotthaus,
verwundert mich ein wenig. Sie setzen sich damit eindeutig in Widerspruch zur Aussage des Bundeskanzlers und
Parteivorsitzenden der SPD, Gerhard Schröder. Sie setzen
sich - meiner Erinnerung nach - auch in Widerspruch zu
Ihrem Verhalten in der letzten Legislaturperiode. Als wir
nämlich im März 1998
({0})
das dritte Vermögensbeteiligungsgesetz verabschiedet haben - damals sind die jetzt aufgeführten Elemente schon
einmal verbessert worden -, hat die sozialdemokratische
Fraktion dem zugestimmt.
({1})
Ich habe das nicht überprüft, aber ich habe das sehr deutlich so in Erinnerung.
Das heißt also, dieser Vorschlag der CDU/CSU ist eine
konsequente Fortsetzung der Vermögensbeteiligungspolitik der vergangenen Jahrzehnte, die ja immer wieder
neue Initiativen erfahren hat und die eigentlich gesamtgesellschaftlicher Konsens in diesem Hause war. Für die
FDP war es schon immer, seit ihrem Freiburger Parteitag
1971, eine der zentralen gesellschaftspolitischen Aufgaben, eine breite Eigentumsstreuung und eine Beteiligung der Arbeitnehmer auch am Produktivvermögen zu
erreichen, nach dem Motto: Wir wollen ein Volk von Eigentümern und kein Volkseigentum.
({2})
Das entspringt einfach der Überzeugung, dass Eigentum
frei und unabhängig macht und vor sozialer Not schützt,
besonders auch im Alter. Gerade deswegen kommt es darauf an, dass wir eine breite Vermögensstreuung erreichen.
Wir haben bereits große Fortschritte erzielt; denken Sie
allein an die große Streuung des Wohneigentums, die wir
heute erreicht haben. Im Westen ist das schon länger der
Fall, aber im Osten findet auf diesem Gebiet ebenfalls eine sehr aktive Vermögensbildung statt. Bereits
im März 1998 wurden mit der Novelle zum Vermögensbildungsgesetz die Möglichkeiten der Vermögensbildung
im Osten seitens des Staates besonders herausgehoben.
Bei dem ganzen Vorgehen habe ich nur ein Bedenken.
Die Zeit ist weitergegangen. Wir haben uns im letzten Jahr
mit der Reform der Rentenversicherung befasst. Es war
Anliegen aller klassischen Parteien in diesem Hause und
Inhalt des entsprechenden Gesetzes, die gesetzliche Rentenversicherung zu ergänzen und sie teilweise durch eine
private Altersvorsorge zu ersetzen, die einer staatlichen
Förderung bedarf. Wir haben das nicht abgelehnt, weil wir
diese Zielsetzung für falsch gehalten hätten, im Gegenteil.
Wir haben gerade das immer gefördert. Wir hielten lediglich die Technik, die Art und Weise für falsch, wie Sie das
in Gang gesetzt haben. Es bestätigt sich jetzt in der Praxis, dass diese zwölf von Ihnen aufgeführten Kriterien das
Ganze unpraktikabel machen. Die Situation ist kaum
handhabbar; immer mehr große institutionelle Vermögensanleger entfernen sich daher von diesem Gedanken.
({3})
- Ja, natürlich werben sie. Ich habe jetzt mit einigen gesprochen, die sagen, sie überlegten, ob sie das weiter machen sollen. Trotz Werbung sei der Erfolg gering, weil die
Komplikationen so groß seien. Die Arbeitnehmer sehen
die zahleichen Bedingungen offenbar als Ablehnungsgründe an. Sie sehen einfach keinen Anreiz, um sich daran zu beteiligen.
({4})
Wir können ja noch etwas abwarten und noch mehr Erfahrungen sammeln; aber wenn sich das so herausstellt, ist
es angezeigt, diese private Altersvorsorge drastisch zu
vereinfachen, attraktiver für die Betroffenen zu machen
und mit der Vermögensbeteiligung und der Vermögensbildung zu verzahnen. Im Moment habe ich an Ihrem Vorschlag zu kritisieren, dass diese Verzahnung noch nicht
recht gelungen ist.
({5})
- Im Rahmen der Ausschussberatungen sollten wir uns
darüber Gedanken machen, wie wir die dringende Notwendigkeit stärkerer, breit gestreuter privater Altersvorsorge mit dem Gedanken der Vermögensbeteiligung verbinden können.
({6})
Wenn uns das gelänge, wäre das ein erheblicher Fortschritt. Das müsste eigentlich unser aller Anliegen sein,
ohne Unterschied zwischen den Fraktionen und Parteien.
Denn die Erneuerung der Altersvorsorge - der gesetzlichen Rentenversicherung genauso wie der privaten
Vorsorge - ist ein ganz dringendes gesellschaftspolitisches Anliegen. Darüber gibt es in diesem Hause keinerlei Zweifel oder Streit.
Wir fordern Sie auf, diesem Gedanken nahe zu treten
und dies in den Ausschussberatungen noch einmal genau
zu überprüfen. Vielleicht können wir dann zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Sie sehen, meine Damen und Herren, wie vorbildlich ein Vizepräsident ist,
wenn er einen Redebeitrag hält. Er hat uns eine ganze
Minute geschenkt. Vielen Dank dafür; das ist als vorbildlich anzusehen.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin
Christine Scheel für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in diesem Sommer ein sehr umfangreiches und
in seinen Grundzügen wirklich von allen Seiten gelobtes
Förderprogramm zur privaten Altersvorsorge - das muss
man wirklich sagen, Herr Dr. Solms; das müssen auch Sie
zugestehen - durch den Bundestag und den Bundesrat gebracht. Ich bedaure es daher ein wenig, dass die CDU/
CSU-Fraktion diesen Antrag, über den wir heute erstmals
beraten, nicht im Hinblick auf die aktuelle Situation formuliert und all das, was bereits geschehen ist, nicht
berücksichtigt hat.
({0})
Die Forderungen, die Sie in dem Antrag aufstellen
- mehr private Altersvorsorge, Verbesserung der Vermögenssituation vor allem in den unteren Einkommensschichten, Einbeziehung der mittleren Einkommen in die
Förderung und stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer
und Arbeitnehmerinnen am Produktivvermögen -, betreffen Anliegen, die wir mit dem Altersvorsorgegesetz bereits entscheidend vorangebracht haben.
Mit unserer neuen Förderung verfolgen wir im Wesentlichen das Ziel, dass die Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land mehr privates Vermögen für ihre Altersvorsorge bilden können. Diesem Ziel kommen wir Schritt für
Schritt näher.
({1})
Wenn die Förderung, die wir beschlossen haben, voll
wirksam ist - wir müssen in diesem Zusammenhang auch
einmal über Finanzvolumina reden -, wird in der letzten
Förderstufe ein Volumen von jährlich konstant 20 Milliarden DM zur Verfügung stehen, mit denen der Staat die
Bürgerinnen und Bürger beim Aufbau einer privaten Altersvorsorge unterstützt. Diesen Punkt muss man auch
einmal zur Kenntnis nehmen.
({2})
Wir haben vor allem darauf Wert gelegt, dass Geringverdienende und Familien mit Kindern stärker von der
Förderung profitieren. Viele können jetzt aufgrund der,
wie ich finde, sehr großzügig bemessenen Zuschüsse sparen, die dazu sonst nicht in der Lage gewesen wären. Ich
nenne Ihnen ein Beispiel: Eine Familie mit zwei Kindern
bekommt 1 320 DM vom Staat, wenn die Förderung voll
wirksam wird. Dieses ist ein aktiver Beitrag dazu, dass
wir die Verteilung von Vermögen in diesem Land gerechter gestalten.
Im Übrigen finde ich es etwas eigenartig, wenn die
CDU/CSU die ungleichmäßige Vermögensbeteiligung
laut Armuts- und Reichtumsbericht beklagt,
({3})
diesem Mangel aber durch eine Ausweitung der Einkommensgrenzen bei der Vermögensbildungsförderung abhelfen will. Das passt irgendwie nicht zusammen. Wir
wissen laut Prognos-Gutachten, dass vom Vermögensbildungsgesetz in der Form, die wir bis jetzt haben, die
Haushalte aus der Mitte der Einkommensverteilung stärker profitieren und nicht die Einkommensschwachen.
Wenn man etwas für die Einkommensschwachen tun will,
dann muss man zielgenau hohe Zuschüsse auch bei im
Extremfall sehr geringer Eigenbeteiligung zulassen, sonst
funktioniert die Vermögensbildung nicht. Genau so haben
wir es vorgesehen. Im Extremfall, das heißt bei einem
sehr niedrigen Einkommen, kann eine Familie mit zwei
Kindern eine Zulage von 1 320 DM im Jahr vom Staat bei
einer geringen Eigenbeteiligung in Höhe von 120 DM erhalten.
({4})
Das ist eine sehr wirksame Förderung der Einkommensschwächeren.
({5})
Diese Förderung beschränkt sich nicht auf bestimmte
Einkommensgruppen. Jeder prinzipiell Förderfähige, also
grundsätzlich jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin, kann die Altersvorsorgeaufwendungen bis zu einem
Betrag von 4 100 DM pro Jahr steuerlich geltend machen.
Ich nenne ein Beispiel, damit man sich die Dimension
vorstellen kann: Bei einem Bruttoeinkommen von 80 000
DM im Jahr können 1 000 DM Steuern gespart werden.
Auch das muss in diesem Zusammenhang gesagt werden.
Wir finden, dass der Sparer und die Sparerin frei bestimmen müssen, wie sie sparen wollen. Herr Dr. Solms
hat die Freiheit bei den Anlagemöglichkeiten erwähnt. Ich
teile diese Auffassung; bei den Beratungen haben wir von
grüner Seite immer darauf hingewirkt. Diese Möglichkeit
ist in dem Gesetz enthalten. Wir haben gemeinsam beschlossen, dass jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin die Option haben, sich über den geförderten Erwerb von Fondsanteilen, ob sie nun privat oder
betrieblich sind, an der Wachstumsdynamik der Wirtschaft zu beteiligen. Damit stärken wir ganz entscheidend
die geförderte Beteiligung von Arbeitnehmern und
Arbeitnehmerinnen am Produktivvermögen. Diesen Zusammenhang muss man sehen.
({6})
Es liegt jetzt in der Hand der Tarifparteien, einen
Schwerpunkt auf die bessere Beteiligung der Arbeitnehmer und der Arbeitnehmerinnen am Produktivvermögen
zu legen. Das Instrumentarium dafür, nämlich ein individuelles Recht auf Entgeltumwandlung, Pensionsfonds
und volle Förderung auch für die betriebliche Altersvorsorge, haben wir geschaffen. Es liegt jetzt an den Tarifparteien, diese Rahmenbedingungen zu nutzen, die Regelungen mit Leben zu erfüllen und das Angebot stärker
auszubauen.
Wir haben auch einiges in Bezug auf die private Vermögensbildung getan. Es wird immer nur darauf hingewiesen, dass es etwa 2 Milliarden DM für vermögenswirksame Leistungen und rund 100 Millionen DM
Steuererleichterungen bei der Überlassung von Vermögensbeteiligungen an Arbeitnehmer gäbe. Man muss aber
sehen, dass die Förderung des Bausparens in Höhe von
rund 1 Milliarde DM pro Jahr hinzukommt. Das ist ein
ganz wichtiger Bestandteil privaten Vermögensaufbaus.
Hinzu kommen Vergünstigungen, die sich positiv auf die
Eigentumsbildung auswirken, zum Beispiel die aufgestockte Eigenheimzulage, der Sparerfreibetrag, die Steuerfreiheit von Spekulationsgewinnen, der Sonderausgabenabzug für Lebensversicherungen und die steuerfreien
Erträge bei Laufzeiten über zwölf Jahre, um hier nur einiges zu nennen. Man muss das Gesamtpaket sehen.
Ich fände es gut, wenn wir in der Zukunft auf der einen
Seite die Wahlfreiheit beibehielten, auf der anderen Seite
aber auch mehr Transparenz hinsichtlich der Fördermöglichkeiten schaffen würden. Ich glaube, dass es für
die Bürgerinnen und Bürger aufgrund der vielen Angebote oftmals schwierig ist, zu durchschauen, was es alles
gibt. Diese Aufgabe müssen wir in der Zukunft noch lösen. Da sind wir gerne zu Gesprächen bereit. Wir werden
über dieses Thema auf der Basis dieses Antrags in den
Ausschüssen beraten und hoffen, dass wir das Ziel gemeinsam weiterverfolgen. Die Bundesregierung und die
sie vertretenden Fraktionen, Grüne und SPD, haben einen
breiteren Weg für die Förderung von Eigenleistungen für
die Altersvorsorge beschritten und diesen Weg werden
wir weiterhin gehen.
Danke schön.
({7})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Pia Maier für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Weiß und die CDU/CSU-Fraktion
haben hier nahe gelegt, dass sie mit ihrem Antrag die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen angehen wollen. Ich möchte dazu zunächst einmal die Frage
stellen: Was bedeutet diese ungleiche Verteilung eigentlich für die normalen, durchschnittlichen Leute?
Ein Mensch mit durchschnittlichem Lohneinkommen
verdient circa 2 900 DM netto. Stellen Sie sich einmal vor,
Sie müssten damit zurechtkommen. 1 000 DM für Miete,
Strom, Wasser, Telefon, 700 DM für Lebenshaltung, Ernährung, Kleidung. Von den restlichen 1 200 DM gehen,
je nach Vorlieben, 700 DM für Auto und andere Freizeitvergnügen ab. Es bleiben noch ungefähr 500 DM für Kultur, Urlaub, Versicherungen, längerfristige Investitionen
und zum Sparen. Wundert es Sie da noch, dass so wenige
Menschen Vermögen bilden? Diese Menschen haben einfach nicht genug Geld übrig, um Vermögen zu bilden. Wer
nichts hat, kann eben auch nicht sparen. Das betrifft die
private Altersvorsorge, die Riester-Rente, Aktien und
auch die vermögenswirksamen Leistungen, die Sie jetzt
besser ausgestalten wollen.
Mich interessiert: Was hilft den Menschen, die noch
kein Stück vom Vermögenskuchen haben? Hilft diese
oder auch eine ähnliche Form der staatlich geförderten
Vermögensbildung? Solche Förderungen helfen immer
denen, die an der Oberkante der Einkommensgrenzen liegen, die Sie jetzt noch hochsetzen wollen. Sie helfen deutlich weniger denen, die es sich gerade leisten können, so
viel Geld zur Seite zu legen, dass sie Zuschüsse bekommen, und sie helfen gar nicht denen, die nicht sparen können, weil sie das Geld dafür nicht haben.
({0})
Wäre es da nicht sinnvoller, die 1,25 Milliarden DM an
geplanten Fördermitteln so einzusetzen, dass alle etwas
davon haben, auch die, die kein Vermögen bilden können,
weil sie kein Geld haben?
Anregungen für die Nutzung solcher Fördermittel gibt
es genug: Die Kindergelderhöhung reicht noch immer
nicht aus, die Kindergarten- und Hortgebühren liegen zu
hoch. Hier zu investieren wäre eine Förderung des
menschlichen Vermögens, meinetwegen auch des Humankapitals, wenn Sie so wollen.
({1})
Man könnte auch einen Beitrag zur Förderung der
Ärmsten leisten. Die Regelsätze der Sozialhilfe sollten
dringend an die Preisentwicklung der letzten Jahre angepasst werden. Das würde den Armen zugute kommen, die
damit dringende Konsumbedürfnisse befriedigen könnten. Sinnvolle Möglichkeiten gibt es wirklich genug. Ihre
scheint mir nicht dazuzugehören.
Sie wollen mit Ihrem Antrag Unternehmensbeteiligungen altersvorsorgegerecht ausbauen, also Riesterfähig machen. Die PDS-Fraktion hat an der Rentenreform
vor allem den Weg aus der paritätischen Rentenfinanzierung kritisiert. Danach muss ein Arbeitnehmer für einen
Teil der Lebensstandardsicherung im Alter allein sorgen.
Ihrem Vorschlag nach soll das aber wenigstens seinem
Betrieb zugute kommen, der sich gerade aus der paritätischen Finanzierung verabschiedet hat. Der Betrieb kann
mit diesem Kapital in der Zwischenzeit wesentlich mehr
Zinsen erwirtschaften, als ein Rentner durch die Vermögensbildung wieder herausbekommt. Ist das für einen
Normalverdiener nicht ziemlich zynisch?
Aber ich will Ihren Vorschlag nicht völlig schlecht
machen. Immerhin wollen Sie damit fördern, dass Menschen einen kleinen Anteil am Eigentum, an Produktivkapital und damit auch an den Produktionsmitteln erlangen können. Leider hat das bisher kaum funktioniert.
Auch Ihre Vorschläge werden nicht zu einer besseren
Aufteilung des Vermögenskuchens führen. Diese Form
des Mitunternehmertums bringt nicht viel, vor allem
keine Mitbestimmung. Ohne solche Elemente ist das
weder sozial noch sozialistisch. Sie sollten die Geldmittel, die Sie hierfür einsetzen wollen, lieber für eine sinnvolle, gleichmäßige Vermögensverteilung einsetzen und
nicht für eine Förderung derer, die ohnehin schon Geld
haben und verdienen.
Danke.
({2})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Schild für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Selbstverständlich ist die SPDBundestagsfraktion in völliger Übereinstimmung mit dem
Bundeskanzler der Auffassung, dass die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand in diesem Lande gestärkt werden muss.
({0})
Offensichtlich ist einigen entgangen: Das größte Projekt der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand in diesem Lande ist das Altersvermögensgesetz. Die Kollegin
Scheel hat eben gesagt, um welche Volumina es sich handelt. Beginnend mit dem Jahre 2002, führen wir staatliche
Zuschüsse ein, die bis zum Jahre 2008 auf jährlich 20 Milliarden DM steigen.
({1})
- Pro Jahr!
({2})
Allen, die sich mit dieser Geschichte befasst haben, ist
klar, wie viel Kapital diese Anregung frei macht. Die Vermögensbildung wird Größenordnungen annehmen, die
wir in diesem Lande noch nie gehabt haben.
Wir erleben zurzeit eine Renaissance der betrieblichen Altersvorsorge. Auf allen Ebenen sind bereits Tarifverträge über Altersvorsorge abgeschlossen
worden oder sie sind in der Diskussion. Was ist ein Pensionsfonds anderes als eine Möglichkeit der Vermögensbildung?
Was Sie hier vorschlagen, ist nicht die große
Vermögensbildungsinitiative dieses Jahrzehnts, sondern
der Versuch, auf eingeschlagenen Wegen weiterzugehen.
Natürlich kann man sich über die Erhöhung von Freibeträgen und Einkommensgrenzen und über Förderungsmargen unterhalten. Aber bitte fordern Sie nicht auf
der einen Seite etwas, was enorme zusätzliche Haushaltsmittel kostet - der Kollege Grotthaus hat eben Zahlen
genannt -, während Sie auf der anderen Seite ständig
beklagen, der Haushalt sei unterfinanziert! Dann muss
man sich einigen.
Sie haben in Ihrem Konzept einen zweiten, letztlich
ganz traditionellen Weg vorgeschlagen, nämlich die Freibeträge nach § 19 a des Einkommensteuergesetzes zu
erhöhen. Nun wundert mich nicht, dass diesen Antrag niemand von Ihren Finanzpolitikern unterschrieben hat und
dass auch niemand von Ihren Finanzpolitikern da ist.
({3})
Das will ich Ihnen gerne erläutern.
§ 19 a des Einkommensteuergesetzes ist - das wird sicherlich auch von Ihren Finanzfachleuten nicht bestritten - eine der kompliziertesten Regelungen des deutschen
Einkommensteuerrechts. Kollege Weiß, werfen Sie da
einmal einen Blick hinein! Wenn Sie das verstanden
haben - ich habe damit große Probleme, muss ich gestehen -, dann können wir uns gerne einmal darüber
unterhalten.
Der Kollege Uldall aus Ihrer Fraktion war 1995 einer
der Ersten, der in seinen Steuervorschlägen die Streichung
des § 19 a des Einkommensteuergesetzes vorschlug. Im
Übrigen wollte er nicht nur den § 19 a des Einkommensteuergesetzes streichen.
({4})
Vielmehr wollte er den gesamten Komplex staatlicher
Förderung der Vermögensbildung in einem Umfang von
jährlich 2 Milliarden DM streichen. In seinem Finanzkonzept war am Ende eine Ersparnis von 2 Milliarden DM
vorgesehen. Das war offensichtlich die große Initiative
zur Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Lande an der Vermögensbildung.
Dann hat der damalige Finanzminister Waigel eine
Kommission unter Vorsitz von Professor Bareis eingerichtet, die Steuervorschläge erarbeiten sollte. Diese Kommission hat vorgeschlagen, den § 19 a des Einkommensteuergesetzes zu streichen. In den Vorschlägen
der CDU/CSU zum Einkommensteuerrecht, den so genannten Petersberger Beschlüssen, war vorgesehen, den
§ 19 a des Einkommensteuergesetzes zu streichen. Das
sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen!
Nun kann man sich über den § 19 a des Einkommensteuergesetzes sicherlich unterhalten. Er stellt im Rahmen
der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand in bestimmten Teilbereichen - aber wirklich nur in kleinen - zweifellos einen gewissen Baustein dar; das kann man an den
steuerlichen Förderungssummen, die dahinter stehen,
sehr schnell feststellen. Diese Regelung hat nicht zu einer
großen Verbreitung von Produktivvermögen in Arbeitnehmerhand in diesem Lande beigetragen.
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass Professor
Bareis, wenn wir anlässlich von Anhörungen im Finanzausschuss über dieses Thema diskutiert haben, im Zusammenhang mit der steuerlichen Förderung nach § 19 a
des Einkommensteuergesetzes davon sprach, dass diese
die Größenordnung einer Schachtel Zigaretten habe.
Zukünftig wollen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern also zwei Schachteln zugestehen.
Auch der von Ihnen als Kronzeuge für die Vereinfachung des Steuerrechts immer wieder gern zitierte Professor Kirchhoff
({5})
- genau, er ist ein guter Mann; aber man muss seine Vorschläge auch ernst nehmen -, der neulich im Finanzausschuss war, schlägt vor, § 19 a des Einkommensteuergesetzes zu streichen.
({6})
- Gut, ein Punkt.
Auch in Ihrem Antrag wird vollmundig eine Vereinfachung des Steuerrechts gefordert. Die geforderte Streichung ist wahrhaftig kein Beitrag zur Vereinfachung des
deutschen Steuerrechtes. Darüber werden wir sicherlich
noch sprechen müssen.
Des Weiteren werden wir über die Verbreiterung der
Bemessungsgrundlage und die Absenkung der Tarife
- das ist auch bei Ihren Finanzpolitikern unumstritten diskutieren müssen. Davon profitieren ebenfalls die Arbeitnehmer.
Wir werden uns in Zukunft sicherlich noch intensiv
über Fragen der Vermögensbildung in diesem Lande unterhalten. Der von Ihnen vorgeschlagene Weg ist in der
Vergangenheit wenig erfolgreich gewesen. Der Weg, den
wir im Zusammenhang mit der Riester-Rente vorgeschlagen haben, wird ein erfolgreicher Weg sein, um Produktivvermögen in Arbeitnehmerhand zu fördern.
Danke schön.
({7})
Jetzt erteile ich für die
CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Franz Romer das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Grotthaus, Sie haben hier von all
dem gesprochen, was nicht geht. Es gibt im Versicherungswesen Absicherungsmodelle. Eine gute Arbeitsmarktpolitik refinanziert sich von selbst. Herr Kollege
Schild, das Altersvermögensgesetz ist ein Rentenersatzgesetz und kein Vermögensbildungsgesetz.
({0})
In unserem Antrag sind knapp und prägnant konkrete
Forderungen formuliert, die wir für eine verbesserte Vermögensverteilung dringend benötigen. Mit Vermögensverteilung meine ich eine Vermögensverteilung zwischen
Unternehmen und Mitarbeitern, zwischen Ost und West
und zwischen Gegenwart und Zukunft, sprich: die Altersvorsorge.
Eine gerechte Vermögensverteilung erreichen wir
durch eine Beteiligung der Mitarbeiter am Produktivvermögen der Unternehmen. Darauf ausgerichtet setzen wir
in der Tarifpolitik verstärkt auf Investivlohnvereinbarungen. Das bedeutet, dass ein Teil des wachsenden Lohneinkommens Investitionen zugeführt wird. Die Tarifvertragsparteien benötigen Anreize, sich auf neue Wege
einzulassen, und fundierte rechtliche Rahmenbedingungen.
({1})
Wenn wir von der Vermögensbildung sprechen, denken wir natürlich sofort an die Vorsorge für das Alter. Der
Alterssicherung kommt eine immer größere Bedeutung
zu. In unserem Antrag legen wir daher besonderen Wert
auf die Langfristigkeit der Vermögensbildung, um im
Alter darauf zurückgreifen zu können. Langfristigkeit
wird nach unserem Willen mit einer Sparzulage von
30 Prozent und einem zusätzlichen Freibetrag belohnt.
Die Vermögenspolitik darf sich nicht ausschließlich
am altbekannten Geldvermögen und Wohnungseigentum
orientieren. Bisherige Anreize, die Vermögensbildung in
Arbeitnehmerhände zu geben, haben nicht zu einschneidenden Veränderungen geführt. Deshalb ist es immer eine
Daueraufgabe. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat
die Ursachen analysiert und in der Konsequenz den vorliegenden Antrag eingebracht.
Bei der heutigen, sehr ernsten Wirtschaftslage sind die
Unternehmen mehr denn je auf hoch motivierte Mitarbeiter angewiesen. Jeder Schritt hin zu materieller Gerechtigkeit stärkt die Leistungsbereitschaft und ist daher begrüßenswert.
({2})
Aus diesem Grund sollten wir alle, meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen, den vorliegenden Antrag unterstützen.
Mitarbeiter, die am Kapital beteiligt sind, können sich
viel stärker mit ihrem Unternehmen identifizieren. Alle
Beteiligten sollen profitieren, die Mitarbeiter über eine
höhere Entlohnung und die Unternehmen über höhere Gewinne. Die Unternehmen erhalten zudem eine nicht zu unterschätzende Stärkung der Eigenkapitalbasis. Es werden
auf diese Weise für die Wirtschaft zur Deckung des Kapitalbedarfs Bevölkerungskreise erschlossen, die sich bisher nicht an der Finanzierung der Unternehmen beteiligt
haben.
Doch es ist nicht nur materielle Gerechtigkeit innerhalb des Unternehmens und seiner Mitarbeiter gefragt.
Auch elf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung besteht immer noch ein materielles Ungleichgewicht zwischen West- und Ostdeutschland. Mit unserem Antrag
können die Rahmenbedingungen für neue Arbeitsplätze
sowie eine weitere Angleichung des Einkommensniveaus
geschaffen werden. Eine bessere Förderung ausschließlich nach der Vermögensbildung reicht hier nicht aus.
Wir befürworten angesichts der besonderen Situation
in den neuen Bundesländern eine Verlängerung der erhöhten Förderung auch über das Jahr 2004 hinaus. Ich appelliere daher auch besonders an die Kolleginnen und
Kollegen aus den neuen Bundesländern, sich unserem Antrag anzuschließen.
Bekannt ist, dass wegen der nach wie vor zu niedrigen
Einkommensgrenzen einfach zu wenige Menschen vom
Vermögensbildungsgesetz erfasst werden. Auch die Damen und Herren Abgeordneten der Regierungsparteien
müssen daher zu dem logischen Schluss kommen, dass
diese Grenzen anzuheben sind. Unser Vorschlag beinhaltet eine Anhebung auf 50 000 bzw. 100 000 DM.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Unser Antrag
fördert eine investive Tarifpolitik und eine Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Unser Antrag fördert damit
eine Sparlohn-Politik, begrenzt also die Arbeitskosten,
und unser Antrag bietet die besten Voraussetzungen für
mehr Beschäftigung.
Es spricht daher nichts dagegen, sondern alles dafür,
dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zuzustimmen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Es spricht nun für die
SPD-Fraktion die Kollegin Erika Lotz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In dem Antrag der CDU/CSU wird
festgestellt, dass laut Armuts- und Reichtumsbericht die
Vermögen und Einkommen in Deutschland nach wie vor
ungleichmäßig verteilt sind. Einige Redner, wie Herr
Weiß, haben dies hier auch noch einmal betont. Den Armuts- und Reichtumsbericht diskutieren wir morgen früh,
aber ich muss jetzt doch einmal sagen, dass dieser Bericht
eine Bestandsaufnahme und eine Analyse bis 1998 ist.
Ihre Beschreibung im Antrag ist also die Beschreibung
des Ergebnisses Ihrer 16-jährigen Politik der Umverteilung von unten nach oben.
({0})
Wenn hier jetzt flammende Reden für die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand gehalten werden, frage ich:
Warum haben Sie es in der Vergangenheit nicht getan?
({1})
Sie haben doch steigende Lohnnebenkosten verursacht,
weil durch die Sozialversicherung Dinge finanziert wurden, die mit dem Faktor Arbeit nichts zu tun haben.
({2})
Sie haben der Sozialversicherung gesamtgesellschaftliche
Aufgaben aufgebürdet. Diese Politik hat Rot-Grün umgekehrt.
({3})
Wir haben die Rentenbeiträge sowie die Lohn- und Einkommensteuer gesenkt, wir haben das Kindergeld dreimal erhöht, um nur einige Verbesserungen für Arbeitnehmer und ihre Familien zu nennen.
Ihr Antrag fordert, Vermögensbildung altersvorsorgegerecht auszubauen. Herr Weiß, ich will auf Ihren Antrag
aus der vorherigen Legislaturperiode zurückkommen. Ich
war damals dabei. Es war so, dass vonseiten der SPD ein
Antrag für mehr Vermögensbildung - er bezog sich jedoch auf die damaligen Belastungen von Arbeitnehmern
und Arbeitnehmerinnen - eingebracht worden ist.
({4})
Ich frage mich, ob Sie den vorliegenden Antrag mit den
Ländern abgestimmt haben.
({5})
Das Fünfte Vermögensbildungsgesetz ist durch den Vermittlungsausschuss gegangen. Dem Ergebnis haben wir
zugestimmt, weil wir es als eine faire Vermittlung angesehen haben. Wenn Sie schon zitieren, dann, meine ich, ist
es fair, alles zu zitieren.
({6})
Am 11. Mai 2001 hat das Parlament das Altersvermögensgesetz beschlossen und ein zusätzliches Brückenstück
zur Altersvorsorge auf den Weg gebracht. Schon ab 2002
fördert der Staat die zusätzliche Altersvorsorge. Kollege
Schild hat die Summe genannt. Warum haben Sie, werte
Antragsteller, diesem Gesetz nicht zugestimmt? Ich erinnere mich nicht an einen einzigen Antrag von Ihnen, der
unser heutiges Anliegen in das Altersvermögensgesetz
aufgenommen hätte. Sie haben keinen Antrag gestellt.
({7})
Herr Solms, auch die FDP und die PDS haben dem
Altersvermögensgesetz nicht zugestimmt. Wenn Sie
heute technische Mängel anführen, dann muss ich Ihnen
sagen: Auch von Ihrer Seite ist kein einziger Antrag gekommen. Sie hätten ja einen Antrag stellen können, in
dem Sie gezeigt hätten, wie es anders hätte aussehen können.
({8})
Sie haben gesagt, die Versicherungsunternehmen täten
sich mit der Werbung für ihre Produkte schwer. Die Art,
wie Arbeitnehmer jetzt von Versicherungsunternehmen
mit ihrer geballten Macht umworben werden, zeigt, dass
dahinter die Aussicht auf einen Vertragsabschluss steht.
Ansonsten würden diese Unternehmen kein Geld in die
Werbung investieren.
({9})
Lassen Sie mich noch einmal sagen, was das Altersvermögensgesetz bedeutet. Alleinstehende erhalten ab
2002 eine in vier Stufen jährlich steigende Förderung,
die dann ab 2008 300 DM beträgt. Für Verheiratete verdoppelt sich der Betrag. Familien mit Kindern erhalten
darüber hinaus einen Zuschuss, der sich ebenfalls in vier
Stufen aufbaut und in der Endphase 360 DM je Kind beträgt. Familien mit Kindern profitieren also besonders davon. Der Staat legt bei einer durchschnittlichen Familie
mit zwei Kindern und einem jährlichen Einkommen von
60 000 DM mehr als die Hälfte zu den eigenen Aufwendungen dazu. Noch einmal zur Erinnerung: Es ist wie
beim Kindergeld. Die Förderung wird so lange als Zulage
gewährt, bis Steuerfreibeträge günstiger sind. Sie sehen
also: Diese Regierung und diese Koalition haben durchaus etwas für eine Verbesserung der Altersversorgung getan.
({10})
Ich bin ganz zuversichtlich, dass die Arbeitnehmer das
Angebot annehmen werden. Ziel unseres Gesetzes war
die Stärkung der betrieblichen Altersversorgung. Aus den
ursprünglich vier Wegen der betrieblichen Altersvorsorge, der so genannten Direktvorsorge, der Unterstützungskasse, der Direktversicherung und der Pensionskasse, wurde als neuer fünfter Weg der Pensionsfonds für
die betriebliche Altersvorsorge zugelassen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind dabei, Tarifverträge zur
Entgeltumwandlung abzuschließen. Anfang September
zum Beispiel haben IG Metall und Gesamtmetall das gemeinsame Versorgungswerk Metall unter Dach und Fach
gebracht, welches allen 3,5 Millionen Beschäftigten dieser Branche offen steht.
({11})
Mit unserem Gesetz und den Tarifverträgen können
auch Beschäftigte in kleinen und mittleren Betrieben, in
denen bisher Betriebsrenten wenig verbreitet waren, erreicht werden. Herr Romer, Sie haben beklagt, dass die
Tarifvertragsparteien das Angebot Investivlohn nicht aufgegriffen haben. Ich denke, dass wir mit dem Altersvermögensgesetz und der jetzigen Regelung ein gutes Angebot
auf den Weg gebracht haben, das beide Tarifvertragsparteien angenommen haben, weil unser Weg ganz einfach
der bessere Weg ist.
({12})
Der Vorteil der Pensionsfonds für die Arbeitnehmer ist,
dass sie mit ihren Ansprüchen nicht mehr an den Betrieb
gebunden sind. Wir haben für eine sofortige Unverfallbarkeit von durch Umwandlung von Entgeltteilen erworbenen Anwartschaften in der betrieblichen Altersversorgung gesorgt; wir haben eine solche Regelung gesetzlich
verankert.
Ich bin der Auffassung: Wir beschreiten mit der Förderung im Altersvermögensgesetz einen guten Weg.
Eine Zersplitterung ist nicht notwendig. Herr Kollege
Grotthaus hat bereits die Finanzierung angesprochen. Ich
denke, es ist ein bisschen windig, wenn man keine Vorschläge macht. Als wir in der Opposition waren, haben
wir immer Finanzierungsvorschläge gemacht.
({13})
Die Arbeit, nach Wegen der Finanzierung zu suchen, würden Sie wohl gerne der Koalition überlassen, um uns dann
vor Wählerinnen und Wählern zu kritisieren. Darauf,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, fallen wir
nicht herein.
Mir scheint, Ihnen geht es mit Ihrem Antrag um eine
Fortsetzung Ihres Zehnpunkteprogramms vom Juni. Im
Zuge dieses Programms hatten Sie ja auch Belastungen
von 58 Milliarden DM vorgesehen. Sie wollen offensichtlich mit dem Schuldenmachen fortfahren. 1,5 Billionen DM Schulden und 82 Milliarden DM an jährlicher
Zinsbelastung - also jede vierte Steuermark für Zinsen das hatten wir vorgefunden. Wir verstehen mehr von der
Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, denn wir bauen
Staatsschulden ab. An dem Spiel Wer bietet mehr? werden wir uns nicht beteiligen.
({14})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6639 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 i sowie den
Zusatzpunkt 5 auf:
7 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Karin Rehbock-Zureich, HansGünter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Albert Schmidt ({1}),
Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Bahnreform fortführen und die Zukunft
der Schiene in Deutschland sichern
- Drucksachen 14/5665, 14/6425 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Georg Brunnhuber
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Karin Rehbock-Zureich, Angelika Mertens, HansGünter Bruckmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Albert Schmidt ({2}), Franziska Eichstädt-
Bohlig, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Bahnreform und Eisenbahnpolitik
- Drucksachen 14/2551, 14/3682 -
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Eduard Lintner, Dirk Fischer ({3}), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Aktuelle Eisenbahnpolitik
- Drucksachen 14/4955, 14/6483 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({4}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy,
Dr. Klaus W. Lippold ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Konsequente Trennung von Netz und Betrieb
im deutschen Schienenverkehr
- Drucksache 14/6440 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({7}), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP.
Sofortmaßnahmen zur Stärkung des Schienenverkehrs einleiten
- Drucksache 14/6454 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({9}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine
Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der
PDS
Bau- und Betriebsordnung für Regionale Eisen-
bahnstrecken
- Drucksachen 14/998, 14/6034 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Hasenfratz
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({10}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({11}),
Dr. Karlheinz Guttmacher, Hans-Michael
Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eisenbahnpolitische Reformschritte zügig einleiten
- Drucksachen 14/5666, 14/6421 Berichterstattung:
Abgeordneter Helmut Wilhelm ({12})
h) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter,
Uwe Hiksch, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Gewährleistung des Schienenpersonenfernverkehrs ({13})
- Drucksache 14/5662 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({15})
- Drucksache 14/6498 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
i) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({16}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Eduard Oswald, Dirk Fischer
({17}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Gewährleistung des Schienenpersonenfernverkehrs
- Drucksachen 14/5451, 14/6498 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Dehnel, Günter Nooke, Klaus Brähmig, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Konsequenter Ausbau der Schienenwege - Erhöhung der Planungskapazitäten der Deutsche
Bahn AG
- Drucksache 14/7142 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Zu der Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem
Titel Die Bahnreform fortfüren und die Zukunft der
Schiene in Deutschland sichern sowie zur Großen Anfrage der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen. Bahnreform und Eisenbahnpolitik liegt je ein
Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
({19})
- Nachdem ich die Aussprache eröffnet habe, erwarte ich,
dass der Teil, der im Saal bleibt, zuhört, weil es - insbesondere zu dieser Tagesstunde - für den Redner angenehmer ist, wenn es im Saal nicht zu laut ist.
Ich gebe das Wort der Kollegin Karin Rehbock-Zureich
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eine leistungsfähige
Verkehrsinfrastruktur ist Voraussetzung für Mobilität in
unserer Gesellschaft, für Wachstum und Beschäftigung in
Deutschland. Sie ist auch Voraussetzung für den Austausch von Waren sowie Dienstleistungen und ermöglicht
den Menschen Arbeit und Urlaub. Wie die Mobilität von
morgen aussehen wird, entscheiden wir heute.
Mobilität muss drei Kriterien erfüllen: Die Mobilität
der Zukunft muss umweltschonend, ökonomisch tragbar
und sozial gerecht sein. Die Menschen müssen sich Mobilität leisten können und jederzeit davon Gebrauch machen können.
({0})
Dies ist der Rahmen unserer Politik. Alle Verkehrsträger müssen eine wichtige Rolle übernehmen, um Mobilität weiterhin zu sichern und zu erhalten. Zusammen
müssen sie ein integriertes Gesamtsystem bilden. Nur im
Zusammenspiel werden die prognostizierten enormen
Verkehrszuwächse bewältigt werden können. Zuwächse
von 64 Prozent im Güterverkehr und von 20 Prozent im
Personenverkehr kann nicht allein der Verkehrsträger
Straße aufnehmen.
({1})
Die Schiene wird einen wichtigen Teil des Zuwachses
aufnehmen müssen, um Mobilität für uns alle sicherzustellen.
Wir haben für die Schiene viel erreicht. In unserer Politik der vergangenen drei Jahre gab es drei große Schwerpunkte:
Erstens. Wir haben das Investitionsniveau erhöht.
Zweitens. Wir haben den Wettbewerb zwischen den
Verkehrsträgern auf der Schiene und zwischen den Verkehrsträgern Straße, Schiene und Wasserstraße verstärkt.
Drittens. Wir haben die Rahmenbedingungen für die
Schiene entscheidend vorangebracht.
({2})
Ich möchte einige wichtige Hinweise zu den Investitionen geben. Seit unserer Regierungsübernahme sind die
Investitionen für die Schiene gestiegen. 2002 werden wir
8,75 Milliarden DM zur Verfügung stellen. In den Jahren
2001 bis 2003 wird ein Gesamtvolumen von 26,4 Milliarden DM für die Schiene bereitgestellt.
({3})
Dieses Investitionsniveau war in der Bahnreform vorgesehen. Die Bundesregierung hat die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt.
Herr Lintner, Sie haben mit Ihrem Zwischenruf Recht.
2001 und 2002 werden nicht alle Mittel abfließen. Aber
wir, die SPD-Fraktion, werden dafür sorgen, dass alle
Mittel in die Verkehrsinfrastruktur investiert werden.
({4})
Die DB AG hat keine fertigen Pläne in der Schublade.
({5})
Die Planung von neuen Projekten braucht Zeit. Fragen Sie
sich doch einmal - das gilt besonders für Sie, Herr
Friedrich -: Warum hat die DB AG solche Schwierigkeiten? Warum können die Mittel nicht so abfließen, wie wir
es gerne hätten? Seit der Bahnreform - das müssen Sie
sich sagen lassen - haben Sie die Investitionen Jahr für
Jahr zurückgedreht.
({6})
1998 war der Tiefpunkt Ihrer Bilanz: Es wurden nur noch
5,7 Milliarden DM investiert.
({7})
Gelder für das Bestandsnetz haben daher immer gefehlt.
Dringend notwendige Investitionen mussten unterbleiben.
({8})
Wir erwarten von der DB AG, dass sie die Chance, die
sie jetzt hat, ergreift. Wir erwarten, dass die Planungskapazität erhöht wird, dass die bereitgestellten Mittel sinnvoll in das Schienennetz investiert werden, dass laufende
Bauprojekte rasch beendet werden und dass neue Planungen zügig vorangetrieben werden.
({9})
Dafür gibt die Politik - genauer: diese Bundesregierung der DB AG die Werkzeuge an die Hand, die benötigt
werden. Die zusätzlichen Mittel aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm können bis 2004 ausgegeben werden. 400 Millionen DM können als Planungsmittel eingesetzt werden. Wir können das hohe Niveau nur dann
verstetigen - das ist uns allen klar -, wenn die DB AG ihre
Chance ergreift und diese Mittel bis 2004 investiert.
({10})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Zum Punkt Wettbewerbsbedingungen. Die Öffnung
der europäischen Netze bringt den Wettbewerb auf der
Schiene sowie zwischen der Schiene und der Straße
voran. Gerade die grenzüberschreitenden Güterverkehre
weisen ein großes Wachstumspotenzial auf. Es sind große
Anstrengungen notwendig, damit europaweit grenzenlos
auf der Schiene gefahren werden kann, wie dies schon auf
der Straße der Fall ist.
({11})
Die Entfernungspauschale für alle Verkehrsmittel nutzt
der Schiene genauso wie dem ÖPNV und dem Fahrrad.
Mit der LKW-Maut, die ab 2003 in Deutschland gilt,
haben wir einen Paradigmenwechsel vorgenommen. Damit wird erstmals zur Nutzerfinanzierung übergegangen:
Die LKWs tragen zur Finanzierung der Wegekosten bei.
All das wird in die Verkehrsinfrastruktur zurückfließen.
({12})
Mit diesem Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik
werden wir auch insgesamt neue Finanzierungsmöglichkeiten eröffnen.
({13})
Die AEG-Novelle, die wir eingebracht haben, ist ein
erster wichtiger Schritt zu einem diskriminierungsfreien
Wettbewerb auf der Schiene. Sie von der Opposition müssen sich schon fragen lassen,
({14})
mit welchen Verfahrenstricks und mit welcher Berechtigung Sie diese AEG-Novelle, die Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, zeitlich behindern.
({15})
Sie als Gralshüter der Wettbewerbspolitik haben dazu
beigetragen, dass diese Novelle, die von allen Ländern,
von den Verkehrsverbünden, vom Ministerium und von
unserer Arbeitsgruppe unterstützt wird, nicht zum 1. Januar in Kraft treten kann.
({16})
Das heißt, Sie verhindern, dass das Eisenbahn-Bundesamt
als Aufsichtsbehörde seine Stärken so ausspielen kann,
wie wir das vorgesehen haben.
({17})
Sie verhindern Wettbewerb und tragen dazu bei, dass die
Regulierungsbehörde Eisenbahn-Bundesamt nicht ab 1. Januar von sich aus tätig werden kann. Sie verhindern, dass ein
Bußgeld von 1 Million DM für den Fall, dass der Zugang
nicht diskriminierungsfrei gestaltet wird, ein Bußgeld, das
den Firmen wirklich wehtut, verhängt werden kann.
({18})
Sie verhindern auch, dass man von § 11, der Streckenstilllegungen betrifft, zu einem Paragraphen kommt, der
Streckenübernahmen betrifft und nach dem die Möglichkeit der Übernahme transparent veröffentlicht wird, auch
im Internet und im Bundesanzeiger. Sie verhindern, dass
in einem ersten Schritt ab Januar 2002 mehr Wettbewerb
herrscht, was Sie ja sonst immer wollen.
({19})
Dass uns der Wettbewerb auf der Schiene wichtig ist,
zeigt auch die Tatsache, dass wir eine Taskforce eingesetzt haben. In der Diskussion um die Trennung von Netz
und Betrieb ging es ja um eine sinnvolle Organisationsform für die Zukunft.
({20})
Die Taskforce hat festgelegt,
({21})
dass die DB Netz eigenständig wirtschaften muss, dass
Trassenpreisfestsetzung und Trassenvergabe in der Zukunft in eigener Kompetenz der Netz AG funktionieren
werden und dass für die Zukunft eine unabhängige Trassenagentur beim EBA eingerichtet wird, die Preise und
Vergabe von Trassen kontrolliert.
Wichtig ist der diskriminierungsfreie Zugang zum
Schienennetz für alle Wettbewerber und wichtig sind
diskriminierungsfreie Trassenpreise. Die Wettbewerbsaufsicht, die ab 1. Januar 2002 nach dem AEG bestehen
sollte, haben Sie verhindert. Wir werden die Ergebnisse
der Taskforce bei einer weiteren Novellierung des Allgemeinen Eisenbahngesetztes berücksichtigen.
Mit diesen Schwerpunkten, nämlich Investitionen,
Rahmenbedingungen, Wettbewerbsaufsicht und Chance
des diskriminierungsfreien Zugangs, haben wir dazu beigetragen, dass die Voraussetzungen für mehr Verkehr auf
der Schiene geschaffen wurden. Machen Sie den Weg frei
({22})
für eine schnelle Verbesserung des Wettbewerbs in einem
ersten Schritt ab dem Jahr 2003! Machen Sie den Weg frei
für mehr Wettbewerb auf der Schiene!
Vielen Dank.
({23})
Nun hat der Kollege
Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Eugen
Roth hat einmal formuliert:
Ein Mensch, der sonst zwar das Vergnügen recht
gern genießt in vollen Zügen, /legt gerade beim Reisen umgekehrt auf volle Züge wenig Wert.
({0})
- Wie wahr!
({1})
Leider muss man aber sagen, dass Leistungsfähigkeit,
Service und Pünktlichkeit im Schienenverkehr noch immer keine Selbstverständlichkeit sind. Wir brauchen aber,
damit der Schienenverkehr wieder wächst, attraktiven,
kundenorientierten und preiswerten Schienenverkehr, der
die Straße entlastet, die erheblichen Verkehrszuwächse an
sich bindet und den Personen- und Güterverkehr reibungslos, sicher und umweltverträglich bewältigt.
({2})
Trotz erheblicher Investitionen und Subventionen ist der
Verkehrsträger Schiene im Verkehrsmarkt immer weiter
zurückgefallen.
({3})
Für seine verbesserte Positionierung im intermodalen
Wettbewerb ist es noch nicht zu spät, aber höchste Zeit.
Ohne fairen Wettbewerb möglichst vieler Schienenverkehrsunternehmen auf ein und demselben Schienennetz
wird auch diese Zeit ungenutzt verstreichen.
({4})
Deshalb fragen wir als Opposition: Wann geben Verkehrsminister Bodewig und Bahnchef Mehdorn ihre verantwortungslose Blockadehaltung endlich auf
({5})
und machen den Weg frei für einen diskriminierungsfreien Netzzugang zu gleichen Bedingungen für alle
Schienenverkehrsunternehmen?
({6})
Herr Schmidt, ich weiß, dass auch Sie so denken, nur im
Moment von Ihrer Koalition eine Denkpause verordnet bekommen haben, und dass Sie, wenn Sie wieder einmal die
Freude der Opposition haben, wieder frei denken dürfen und
dann genauso reden werden wie ich. Dessen bin ich sicher.
({7})
Meine Damen und Herren, ohne strikte Trennung von
Netz und Betrieb in organisatorischer, wirtschaftlicher
und rechtlicher Hinsicht wird es Wettbewerb auf der
Schiene nicht geben. Damit wird es auch nicht die erforderliche Qualitäts- und Kostenoptimierung und auch
keine Zunahme von Gütertransporten auf der Schiene geben. Herr Bodewig, Sie können sich das in Ihrem Verkehrsbericht genannte Ziel, bis zum Jahr 2015 eine Verdoppelung
des Schienengüterverkehrs zu erreichen, vollständig abschminken.
Wir müssen wohl davon ausgehen, dass Bahnchef
Mehdorn beratungsresistent bleiben wird. Seine Unternehmensphilosophie ist offensichtlich die dauerhafte Verankerung der fünf Einzel-AGs unter dem Dach einer übermächtigen Holding. Dies hat mit unserer Bahnreform
überhaupt nichts mehr zu tun.
({8})
Mehdorn verteidigt in Wahrheit die Quasi-Monopolstellung der DB AG mit Zähnen und Klauen, nur um ernst
zu nehmende Konkurrenten zu behindern und möglichst
ganz zu verhindern.
({9})
Man lässt lediglich einige Nebennetze, die nicht weh tun,
zu und sagt dann: Wir haben doch 135 oder 150 Wettbewerber im Netz.
({10})
Das ist aber Kleinkram gegenüber dem Wettbewerb im
Kerngeschäft und im Hauptnetz, wo dieser Wettbewerb
überhaupt nicht stattfindet.
({11})
Es darf nicht sein, dass die DB AG kein Interesse daran hat, das unter ihrer Verantwortung stehende Schienennetz bestmöglich zu vermarkten, nur weil sie dafür keine
vollständige finanzielle Verpflichtung trägt. Durch die
Trennung von Netz und Betrieb würde dem derzeit zu beobachtenden Rückbau des Netzes, das nur noch den Interessen der DB AG und nicht denen der anderen Mitbewerber dienen soll, ein Riegel vorgeschoben.
Wenn Minister Bodewig den diskriminierungsfreien
Zugang zur Schiene wirklich wollte, würde er nichts unversucht lassen, um die DB AG von ihrer Netzverantwortung zu befreien. Investitionspflichten, Ablauforganisation und Haftungsrisiken wären dann für die DB AG in
Wahrheit unüberwindbare Wettbewerbsnachteile, ein
wirklicher Klotz am Bein.
({12})
Wenn es anders wäre, dann hätte die DB AG überhaupt
kein Interesse daran, das Netz in ihr Unternehmen integriert zu behalten.
Ergo: Minister Bodewig widerrief seine Ankündigung
vom Parteitag der Grünen in Stuttgart zur Trennung von
Netz und Betrieb. Er verhindert damit den erfolgreichen
Fortgang der Bahnreform und entfernt sich von den europäischen Zielvorgaben
({13})
für einen liberalisierten Verkehrsmarkt auf der Schiene.
({14})
Minister Bodewig hatte allerdings die Partie bereits
verloren, als er Mehdorn nachträglich in die Taskforce berief. Statt gefeierter Bahnreformator, Herr Minister, drohen Sie nun zum Totengräber der Bahnreform zu werden.
({15})
Dirk Fischer ({16})
Wann erkennen Sie endlich, dass deutsche Schienenverkehrspolitik etwas anderes als der schonende Umgang mit
dem Sanierungsfall DB AG ist?
({17})
Sie, Herr Minister Bodewig, sind auf dem ordnungspolitischen Auge in Wahrheit blind.
({18})
Statt das Schienennetz aus dem Bahnkonzern herauszulösen, bietet der Abschlussbericht der Taskforce nur halbherzige Lösungen an. Die getroffenen Entscheidungen
schaffen nämlich keine Unabhängigkeit von Trassenvergabe und Trassenpreisfestsetzungen. Da sich vielfältige
DB AG-interne Verflechtungen zwischen Netz und Betrieb ohne die Herauslösung der Netz AG aus der Holding
nicht kappen lassen, behält die DBAG den entscheidenden
Wettbewerbsvorteil der kurzen Dienstwege, der Mitbewerber abschreckt - er stellt ein Frühwarnsystem zulasten
anderer Güterverkehrstransportunternehmen im Wettbewerb dar -, in einen tatsächlich funktionierenden Wettbewerb einzutreten.
({19})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert ganz ausdrücklich, die Trennung von Netz und Betrieb in Organisationsform, Rechtsform und in betrieblicher Rechnungslegung vollständig und konsequent zu vollziehen.
({20})
Das Schienennetz muss organisationsprivatisiert in staatlichem Eigentum verbleiben. Wir können uns aber sehr
wohl auch vorstellen, dass sich neben dem Bund andere
Gebietskörperschaften als Anteilseigner beteiligen. Die
falsche Weichenstellung wäre sicherlich die staatliche Infrastruktur als Renditeobjekt à la England. Das wollen wir
nicht.
({21})
Technische und hoheitliche Aufsichtsbehörde über das
Netz bleibt das EBA, das die Aufsicht über die Betriebssicherheit sowie die Planfeststellungskompetenz behält.
Um eine möglichst effiziente Netzauslastung zu gewährleisten, würde eine Netzgesellschaft Fahrplantrassen in
hoher Qualität und Güte und in ausreichender Menge bereithalten. Da aber die Einnahmen aus den bei der Schiene
erhobenen Trassenbenutzungsgebühren zum Erhalt und
Ausbau des Schienennetzes nicht ausreichen dürften, ist
eine ergänzende Steuerfinanzierung unumgänglich. Eine
starke Wettbewerbsaufsicht kann nur beim Bundeskartellamt, keinesfalls beim EBA liegen. Kartellaufsicht und
Fahrplankoordinierung in einer Behörde vertragen sich
nach unserer Überzeugung nicht.
({22})
Von der Last des Netzes befreit, können die derzeit
noch im Bundesbesitz befindlichen Schienenverkehrsunternehmen der DB AG börsenfähig gemacht und je nach
Lage auch materiell privatisiert werden. Die DB Holding
AG kann aufgelöst und die 1994 begonnene Bahnreform
konsequent zum Abschluss gebracht werden.
Wir fordern die Bundesregierung mit unserem Antrag
zu einer konsequenten Trennung von Netz und Betrieb im
deutschen Schienenverkehr auf. Sie soll anstelle immer
neuer Lippenbekenntnisse einen diskriminierungsfreien
Zugang zum Schienennetz, und zwar zu angemessenen
Preisen für Mitbewerber, garantieren. Folgen Sie, meine
Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, den
Empfehlungen der überwältigenden Mehrheit der Schienenverkehrsexperten in diesem Land und schaffen Sie die
gesetzlichen, organisatorischen und technischen Voraussetzungen zur Trennung von Netz und Betrieb. Sorgen Sie
für ein Erfolgsmodell Deutschland im Schienenverkehr,
das für alle Unternehmen und ihre Mitarbeiter eine hervorragende Zukunftsperspektive bietet.
({23})
Das Wort hat nun der
Kollege Albert Schmidt für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vorstand und Aufsichtsrat sind zweierlei. Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Das kommt noch. Eines nach dem anderen.
({1})
Wir sind nach der Bundestagswahl 1998 mit dem verkehrspolitischen Ziel angetreten, für die Schiene auf dem
Verkehrsmarkt verbesserte Chancen zu schaffen.
({2})
Ich will Ihnen heute die fünf wichtigsten Punkte in Erinnerung rufen und Ihnen den Beleg dafür liefern, dass wir
nicht nur Wort gehalten haben, sondern dass sich unsere
Politik auch positiv auf den Verkehrsmarkt ausgewirkt
hat.
Erstens. Wir wollten für die Straße wie für die Schiene
gleich hohe Investitionen. Mittlerweile sind die Investitionen für den Straßen- wie für den Schienenbau
annähernd gleich hoch. Das können Sie in den aktuellen
Haushaltsplänen nachlesen.
({3})
Dirk Fischer ({4})
Zweitens. Wir wollten mehr Baukostenzuschüsse haben, weniger zinslose Darlehen, weil das vor allem für die
regionalen Projekte besser ist. Auch das haben wir eingelöst. Der Schwerpunkt der Investitionstätigkeit liegt nicht
mehr auf den überteuerten Großprojekten, sondern auf
dem Erhalt und der Modernisierung des Bestandsnetzes.
Das ganze System Bahn wird runderneuert. An dieser
Stelle haben wir ebenfalls Wort gehalten.
({5})
Wir wollten drittens - das haben wir sogar in den Koalitionsvertrag geschrieben - den Erhalt und die Verbesserung der Regionalisierungsmittel, also auch der konsumtiven Mittel zur Bestellung von Nahverkehrszügen.
({6})
- Sie wissen ganz genau, dass nicht nur Waigel, sondern
auch andere Finanzminister immer einmal auf die Idee gekommen sind, dass man da kürzen könnte.
In der Tat haben wir seit 1998 dreimal die Regionalisierungsmittel für die Länder um rund eine halbe Milliarde DM erhöht. Auch hier haben wir Wort gehalten.
({7})
- Das konzediere ich ja gern.
Nun möchte ich aber ein Wort zu dem sagen, was aktuell zwischen Ländern und Bund diskutiert wird: Wie
geht es mit den Regionalisierungsmitteln weiter? Sie wissen, dass die Verkehrsministerkonferenz der Länder in
der vergangenen Woche nicht nur eine Verstetigung auf
hohem Niveau, sondern auch eine weitere Dynamisierung
dieser Mittel gefordert hat.
({8})
Ich möchte für meine Fraktion hier ganz klar sagen:
Wir unterstützen eine Position, die besagt: Wir müssen
auf dem heutigen Kostenniveau aufsetzen und wir brauchen auch weiterhin eine maßvolle Dynamisierung dieser
Mittel, und zwar inklusive zusätzlicher Mittel, um das
Problem Interregio, das heute auch Gegenstand zweier
Anträge ist, zu lösen.
({9})
Denn es kann nicht sein, dass die Länder ein Stück Mitverantwortung für diesen Grauzonenverkehr zwischen
Nah- und Fernverkehr übernehmen sollen, aber gleichzeitig weniger Geld vom Bund bekommen. Das wird nicht
aufgehen.
({10})
- Jetzt kann von euch aber auch Beifall kommen; es gibt
auch SPD-regierte Länder.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wenn wir den Ländern bei den Regionalisierungsmitteln eine ordentliche
Finanzausstattung geben und einen Extrazuschlag für den
Interregio bzw. für Ersatzbestellungen, für Kofinanzierung, dann wird dieser Zug im Interesse der Fahrgäste
auch erhalten bleiben, und um die geht es uns doch allen.
({11})
Der Beschluss der Verkehrsministerkonferenz wurde
übrigens einstimmig gefasst.
Vierter Punkt: Entfernungspauschale. Wir wollten
Schluss machen mit der Ungleichbehandlung von Autonutzerinnen und Autonutzern und Nutzerinnen und Nutzern des Umweltverbundes Fahrrad, Bus und Bahn auf
dem Weg zur Arbeit und wir haben damit Schluss gemacht. Alle bekommen seit dem 1. Januar 2001 dieselbe
steuerliche Entlastung angerechnet.
({12})
Wir wollten eine LKW-Maut einführen und wir werden
sie einführen. Das Gesetz befindet sich im parlamentarischen Verfahren. Das heißt, künftig wird für den 40-Tonner statt bisher im Schnitt 2 Pfennig pro Kilometer mit Sicherheit das 15- bis 20-fache zu bezahlen sein. Auch das
wird selbstverständlich eine Entlastung der Straßen bringen und ein Plus für Schiene und die Wasserstraße bedeuten.
({13})
Wir wollten eine Ökosteuer einführen. Auch wenn Sie
hundertmal Kampagnen dagegen gestartet haben - wir
haben diese Energiesteuer eingeführt
({14})
und wir haben den gesamten öffentlichen Verkehr - vom
Linienbus bis zum ICE - vom halben Steuersatz befreit.
({15})
Das bedeutet, dass mit jedem Erhöhungsschritt der relative Wettbewerbsvorteil der Bahn wächst.
Nun komme ich zur Verkehrsentwicklung, Kollege
Friedrich. Das Ganze funktioniert auch. Wir haben in diesem und im letzten Jahr einen konstanten Zuwachs im
Schienenverkehr in einer Größenordnung zwischen 2 und
4 Prozent, je nach Fern- oder Nahverkehr. Wir haben beim
Schienengüterverkehr im letzten Jahr ein Plus im zweistelligen Prozentbereich.
({16})
Wir hatten bei den privaten Güterbahnen im letzten Jahr
ein Plus von 50 Prozent. Wir haben doch nie gesagt, dass
die Verdoppelung des Schienengüterverkehrs allein von
DB Cargo zu leisten sei. Das ist ein Irrtum. Ich glaube
nicht, dass der schwerfällige Koloss an der Spitze der
neuen Güterverkehre rangieren wird, sondern es werden
die privaten, die nicht staatlichen Eisenbahnen sein. Diese
Albert Schmidt ({17})
sind bereits auf dem Weg, auf einem guten Weg, wie ich
finde. Von daher, glaube ich, kann sich unsere Bilanz sehen lassen.
({18})
- Natürlich von einem niedrigen Niveau ausgehend; das
ist doch klar. Aber es geht in die richtige Richtung, und
zwar massiv, mit einem Affenzahn.
({19})
Nun ein Wort zum Thema Unabhängigkeit des Netzes.
({20})
- Kollege Fischer, wenn ich Ihnen so zuhöre, entsteht bei
mir der Eindruck: Es grenzt an Wettbewerbsfetischismus,
was Sie hier vorbeten, muss ich beinahe sagen.
Ich bin immer ein Freund des Wettbewerbs gewesen.
Aber das Ziel ist doch entscheidend und nicht das Instrument. Das Ziel ist: Wir müssen eine klare Rollenverteilung zwischen dem Staat als Eigentümer, der nach
Art. 87 e Grundgesetz die Verantwortung für die gemeinwohlorientierte Infrastruktur trägt, und der Deutschen
Bahn AG bzw. Netz AG schaffen, die als privatwirtschaftlich organisiertes Unternehmen rentabel zu arbeiten hat.
Diesen Grundwiderspruch, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir auflösen. Ich sage ganz offen, dass ich
dieses Problem mit den Vorschlägen der Taskforce nicht
in Gänze gelöst sehe. Das Problem wird uns wieder
beschäftigen.
({21})
Das entscheidende Ziel ist aber, mehr Unabhängigkeit
im Netzzugang und damit mehr Verkehr im Interesse der
Fahrgäste und der Güterverkehrskunden zu erreichen. Mit
den Vorschlägen der Taskforce erreichen wir da eine
ganze Menge. Wir bekommen die bilanzielle Trennung.
Zum ersten Mal wird DB Netz eine unabhängige Bilanz
veröffentlichen müssen, in der Innen- genauso wie
Außengeschäfte verrechnet werden müssen. Die
Weisungsbefugnis des Konzerns gegenüber DB Netz wird
abgeschafft. Aufgrund dieser Teilentherrschung wird das
Netz selbstständig agieren können. Wir bekommen ein
unabhängiges Trassenmanagement und wir bekommen
eine neutrale Wettbewerbsaufsicht über das technische
Eisenbahn-Bundesamt und das wettbewerbsrechtlich
agierende Bundeskartellamt. Es wird also praktisch eine
doppelte Schiedsrichterfunktion eingeführt. Dies alles
sind richtige und notwendige Zwischenschritte, die wir
begrüßen und die Sie in den langen Jahren Ihrer
Regierungszeit nicht umgesetzt haben.
({22})
Ich komme nun - das kann ich Ihnen nicht ersparen zum Urheberrecht. Wer hat als Erstes all diese Dinge
verlangt? Ich zitiere, weil Sie hier so auftreten, als hätten Sie es immer schon gesagt, die Bundestagsdrucksache 13/7283 vom 19. März 1997.
({23})
- Wir waren damals in der Opposition, Sie in der
Regierung. Da heißt es wörtlich:
Es hat sich herausgestellt als schwerwiegender
Konstruktionsfehler der Bahnreform, trotz der im
Grundgesetz verankerten Gemeinwohlverantwortung des Bundes für Erhalt und Ausbau des
Schienennetzes der privatwirtschaftlich handelnden
DB AG das Schienennetz zu übertragen. Aufgrund
dieser Fehlkonstruktion ergibt sich das Paradoxon,
dass wenig ausgelastete Schieneninfrastrukturen
stillgelegt werden, wenig ausgelastete Straßen aber
nicht.
Das war der Begründungstext.
Im Antrag heißt es dann:
Wir beantragen, die Schieneninfrastruktur für die
Eisenbahnen des Bundes in das Eigentum einer zu
gründenden Schieneninfrastruktur-GmbH ... zu übertragen.
Das war unser grüner Antrag. Sie haben das damals noch
nicht einmal gedacht, geschweige denn gesagt und umgesetzt. Nichts haben Sie gemacht!
({24})
Es gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer.
Jetzt bin ich aber gespannt.
Sie sind also einverstanden. - Bitte.
Ich möchte den
Antrag, den Sie gestellt haben, ausdrücklich rühmen und
Ihnen anraten, bei der Linie zu bleiben.
Das tun wir, keine Sorge.
({0})
Stimmen
Sie mir aber darin zu, dass in den Unterlagen zur Bahnreform als dritte Stufe die Option enthalten ist, nach der die
Holding beseitigt würde, die AGs zu selbstständigen
Albert Schmidt ({0})
Gesellschaften entwickelt würden und damit automatisch
die Folge verbunden wäre, dass die Netz AG in einer handelsrechtlichen Form im Bundeseigentum verselbstständigt worden wäre, sodass aus unserer Sicht beim normalen Ablauf der Bahnreform ein solcher Antrag nicht
vonnöten gewesen wäre, wir im Ziel aber dennoch
übereinstimmen?
Herr Fischer, ich stimme Ihnen gerne darin
zu, dass diese Option in den Papieren zur Bahnreform
- nicht auf der gesetzlichen Ebene - angedeutet worden
ist. Automatisch aber passiert in diesem Lande - und
besonders bei der Bahnreform - überhaupt nichts. Das
wissen Sie genauso gut wie ich. Sie hätten schon mit den
Ministern, die Sie zur damaligen Zeit gestellt haben, hier
im Parlament vorstellig werden müssen. Sie hätten ein
Gesetz auf den Tisch legen und sagen müssen: Jetzt üben
wir diese Option aus. Genau das haben Sie nicht nur nicht
gesagt, sondern auch nicht gemacht.
({0})
Das können Sie hinterher auch nicht bestreiten.
Wollen Sie noch eine
Zwischenfrage des Kollegen Fischer zulassen?
Ich glaube, dass der Bedarf an Zwischenfragen gedeckt ist. An mir soll es aber nicht liegen.
Also eine Frage noch,
dann fahren wir fort. Bitte sehr.
Es geht mir nur
um eine sachliche Frage zu einem Punkt, in dem wir identische Ausgangspositionen haben.
Identisch? Vorsicht!
Sind Sie bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass wir die Option hineingeschrieben haben, weil wir sie mit der ausdrücklichen
Bedingung wollten, dass die Option nach Abschluss der
Sanierungsphase, deren genauer Zeitpunkt nicht erkennbar war, ausgeübt werden sollte? Das war nämlich unsere
Vorstellung.
Das ist genau der Punkt, an dem wir nicht nur
nicht identisch sind, sondern diametral unterschiedliche
Auffassungen haben. Sie haben nämlich den Sanierungsprozess nicht konsequent zu Ende geführt. Sie haben die
Investitionen - das ist mehrfach gesagt worden - von
einstmals 9 auf 5,7 Milliarden DM zusammengestrichen.
Dabei muss die Bahn - da können Sie eine Organisationsreform durchführen, wie Sie wollen - doch Pleite gehen,
egal, ob Netz und Betrieb getrennt werden oder nicht. Sie
entziehen ihr nämlich die Substanz.
Die Löcher im Netz und die Langsamfahrstellen sind
die Folgen Ihrer Politik. Jetzt von Wettbewerb zu
schwafeln und damals der Bahn das Geld systematisch
entzogen zu haben, das ist zutiefst unglaubwürdig.
({0})
- Das ist ein Märchen. Hätten Sie damals für genug Geld
gesorgt, dann bräuchten Sie jetzt nicht von Wettbewerb zu
fantasieren.
({1})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es bleibt in der Bahnpolitik noch viel zu tun; das ist
überhaupt keine Frage. Deshalb empfinde ich viele
Gedanken in eigentlich allen Anträgen als bedenkenswert; wir sollten sie im Ausschuss auch sorgfältig diskutieren. Wir müssen uns gemeinsam darum bemühen, dass
wir die Investitionen für das System Schiene - ich sage
bewusst: für das System Schiene, nicht nur für die
Deutsche Bahn AG - auch nach 2003 auf hohem Niveau
verstetigen, da es unmöglich ist, Bahnbau zu betreiben,
wenn man alle drei Jahre darüber nachdenken muss, ob es
noch Geld gibt oder nicht bzw. ob es genug Geld gibt.
Zweitens müssen wir alles für eine Qualitätsverbesserung im Güterverkehr auf der Schiene tun.
Dort ist es nicht mit mehr Geld und niedrigeren Trassenpreisen getan, sondern dort brauchen wir Logistikfähigkeit: moderne Technik, neue Lokomotiven, elektronische Stellwerke usw.
({2})
Deswegen bin ich froh, dass jetzt die Investitionen
schwerpunktmäßig ins Bestandsnetz gehen.
Drittens und letztens brauchen wir - davon bin ich
überzeugt; vielleicht liegt es daran, dass ich aus Bayern
komme und man den Bayern nachsagt, sie seien geborene
Föderalisten - regionale Verantwortung auch für die
Schieneninfrastruktur. Das heißt, die Nebennetze und
Nebenstrecken werden über kurz oder lang verschwinden
bzw. immer mit dem Verschwinden zu kämpfen haben,
wenn wir nicht das Eigentum an diesen Netzen und damit
auch die Fürsorge für die Strecken dorthin bekommen, wo
auch der Verkehr bestellt wird, nämlich in die Bundesländer.
({3})
Deshalb sehe ich mit großer Sympathie die Ansätze in
Schleswig-Holstein, aber auch in Sachsen, Teile dieser
Dirk Fischer ({4})
Nebennetze in dem Sinne zu regionalisieren, dass man
den Regionalisierungsgedanken bei der Bestellung von
Nahverkehrszügen nun auch auf die Streckennetze überträgt. Diese Länder sagen, sie seien bereit, ein Stück
Mitverantwortung - in welcher Form auch immer: auf der
Basis von Pacht oder Eigentumsübertragung - für diese
Nebennetze zu übernehmen, wenn sie eine gewisse Mittelausstattung nach dem Bundesschienenwegeausbaugesetz oder aus anderen Finanzierungstöpfen bekommen.
Eine Flächenbahn ohne Regionalisierung der Infrastrukturverantwortung ist auf die Dauer eine Illusion.
Deshalb bitte ich Sie auch von dieser Stelle aus, diese
neue gemeinsame Aufgabe, die nicht von heute auf morgen zu leisten sein wird, sehr ernst zu nehmen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Jetzt hat der Kollege
Horst Friedrich für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben bisher, zumindest von der
Koalition, Reden gehört, in denen so getan wurde, als sei
die arme Bahn Opfer bestimmter Entscheidungen und
müsse ansonsten nichts machen. Bevor ich zu den
wesentlichen Punkten des Wettbewerbs komme, möchte
ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die zwar wie ein
Märchen von den Gebrüdern Grimm klingt, sich tatsächlich aber im Juli des Jahres 2001 bei einer Firma Streck,
einem Transportunternehmen im südbadischen Freiburg,
abgespielt hat.
Dieses Unternehmen wollte nach zehn Jahren erstmals
wieder seinen hauseigenen Gleisanschluss benutzen. Ein
Schreiben der Bahn bestätigte, dass das Gleis in Betrieb
sei. Was dann passierte, will ich Ihnen erzählen:
({0})
Es war einmal ein Spediteur,
({1})
der 1980 ein neues Gut bezogen hatte, das auch einen
eigenen Gleisanschluss hatte. Darüber freute er sich so
sehr, dass er seine Güter in den Waggons deponierte und
zu seinen Kunden transportierte. Im Laufe der Jahre kamen allerdings die Kunden des Spediteurs mit immer
neuen Wünschen und wollten ihre Waren in immer kürzeren Abständen und immer schneller geliefert bekommen.
Doch so laut sie auch riefen, die Ohren der Bahn waren
verstopft. Teilweise verschlechterte sich ihr Angebot
sogar; so hängte sie zum Beispiel den ehemaligen großen
Umschlagplatz in der nahe gelegenen Großstadt vom
Güterverkehrsnetz ab.
({2})
Der Spediteur war ganz traurig, denn von nun an wuchs
Gras über seinem Gleisanschluss. Damit er weiterhin sein
Auskommen hatte, suchte er sich neue Partner.
({3})
Fortan nutzte er mehr und mehr den LKW-Verkehr und
lebte mit seinen Kunden glücklich und zufrieden.
Doch die Zeiten änderten sich: Es kam ein neuer Zauberer in die Stadt, der viele gute Umweltgedanken mitbrachte.
({4})
Der Spediteur hörte, dass es viel besser sei, Gütertransporte mit der Bahn abzuwickeln und Belastungen durch
den Straßenverkehr zu verringern. Und weil er ein moderner Spediteur war, nahm er viele Goldstücke aus seiner
Schatzkammer, führte ein Umweltmanagement ein und
ließ sich sogar nach DIN ISO 14001 zertifizieren. Er ließ
auch seine Heinzelmännchen prüfen, ob und wie man den
Gleisanschluss wieder nutzen könnte.
({5})
- So ist es, Herr Ramsauer.
Sie schwärmten aus und fanden tatsächlich einen italienischen Geigenbauer ganz tief im Süden, der sich anmaßen wollte, 25 000 Musikinstrumente auf Paletten
- 1 500 Stück immerhin - mit Bahnwaggons über die
Alpen zu schicken. Der Spediteur sollte sie in seinem
Lager eine Weile aufheben, bis alle Orchester in Deutschland nach ihnen riefen.
So weit, so schlecht, denn der Spediteur hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Heinzelmännchen fanden nämlich bei der Bahn in ihrer Stadt niemanden, der
ihnen Auskunft geben konnte, ob und wann die Waggons
die eigenen Gleise wieder erreichen konnten. Die Herren
der Stadt waren im Besitz eines erst acht Wochen alten
Briefes, der allerdings besagte, dass das Gleis ja in Betrieb
sei. Deshalb spannten die Heinzelmännchen die Kutschen
an, fuhren nach Karlsruhe, nach Basel und weiter nach
Duisburg, aber alle Statthalter der DB Cargo erschraken
fürchterlich, als da jemand Geschäfte mit ihnen machen
wollte, und schickten die Heinzelmännchen wieder fort.
Von dem Brief, den die Stadtherren erhalten hatten, wollte
niemand etwas wissen.
({6})
48 Stunden, bevor die Frist für den Transport der
Musikinstrumente abgelaufen war, wurde den Heinzelmännchen der Name eines Wahrsagers kund. Sie machten
sich auf den Weg, trafen tief in der Nacht, um
16.05 Uhr, bei ihm ein und standen vor verschlossenen
Türen. Als sie endlich vor ihm standen, sagte er: Das
Gleis wurde schon länger nicht mehr benutzt, es muss
überprüft werden. Die Bedienung des Gleises passt nicht
Albert Schmidt ({7})
in den bestehenden Fahrplan. Die Heinzelmännchen
wandten sich ab und weinten bitterlich.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es nicht so
traurig wäre, dann würde ich sagen: Das ist die Realität in
der Landschaft der Bahn. Deswegen, Frau Kollegin
Rehbock-Zureich, müssen Sie sich jetzt fragen lassen, ob
Sie mit Ihrer bedauernswerten Absicht, ein Gesetz zu verhindern, das den Wettbewerb beschleunigt, tatsächlich
das richtige Ziel verfolgen. Was soll denn passieren? Wie
will denn das Eisenbahn-Bundesamt von sich aus diskriminierungsfrei feststellen, ob der Wettbewerb behindert
wird oder nicht?
({9})
Sie haben eigentlich schon den richtigen Weg beschritten. Im Antrag der Koalition in der Drucksache vom März
dieses Jahres lese ich Folgendes:
Es bestehen jedoch Zweifel, ob ein fairer Wettbewerb auf einem Netz, das im ausschließlichen Eigentum des größten Anbieters von Schienenverkehrsleistungen auf diesem Netz steht, überhaupt zu
gewährleisten ist. Eine Wettbewerbsaufsicht bzw.
eine Regulierungsstelle ist dazu bei der Vielzahl
denkbarer Diskriminierungsmöglichkeiten nur unvollkommen in der Lage.
Einige Tage später kam Herr Bodewig zum Parteitag
der Grünen und verkündete dort unter anderem:
({10})
Dazu muss vor allem die Unabhängigkeit des Netzes
gesichert werden. Der Prozess der Trennung von
Schienennetz und Schienenbetrieb ist unverzüglich
einzuleiten, um endlich die Kundenorientierung des
Schienenverkehrs zu begründen.
({11})
Ich will es noch einmal unterstreichen: Das, was ich
eben zitierte, stammt tatsächlich aus dem Jahr 2001, nicht
von irgendwann früher.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage?
Aber bitte, dem
Kollegen Weis immer.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege
Friedrich, Sie sprachen wieder das Problem der Trennung von Netz und Betrieb an und setzten sich dafür vehement ein. Deswegen frage ich Sie, ob Sie es verantwortliches Handeln nennen, ohne Kenntnis der Konsequenzen die Trennung von Netz und Betrieb im Sinne der
reinen Lehre zu fordern. Wie sonst sollen wir den Antrag
der FDP-Fraktion verstehen, der gestern bei den
Haushaltsberatungen zum Einzelplan 12 eingebracht
wurde, 10 Millionen DM für Forschung aufzuwenden, um
die möglichen Konsequenzen der Trennung von Netz und
Betrieb zu überprüfen?
Genau deswegen,
Herr Kollege Weis, weil wir eben der Meinung sind, dass
das exakt erforscht werden soll. Aus diesem Grund wollen
wir Forschungsgelder lockermachen. Wenn ich sie lockermachen will, muss ich doch aber erst einmal den Grundsatzbeschluss fassen, dass ich es will.
({0})
- Wenn ich auf politischer Ebene den Grundsatzbeschluss
nicht fasse, dass ich das Schienennetz vom Betrieb trennen will, kann ich es auch nicht untersuchen. Wir sind
doch gar nicht schlauer als alle anderen. - Ich bin immer
noch bei der Beantwortung Ihrer Frage, Herr Kollege
Weis.
Deswegen haben wir am 26. Juni 2001 in einem SechsPunkte-Antrag, der heute im Übrigen auch zur Beratung
vorliegt, mehreres gefordert. Erstens soll die Netz AG aus
der Bahn-Holding herausgelöst werden. Zweitens soll die
Bundesregierung das Ganze überprüfen und zusätzliche
Forschungsmittel einstellen; erst dann sollen die Konsequenzen gezogen werden.
Ich verstehe daher Ihre Frage nicht, Herr Kollege Weis.
({1})
Denn Sie haben im März nachweislich erklärt - ich zitiere
Sie -, dass der Deutsche Bundestag die Ankündigung von
Bundesminister Bodewig begrüßt, die Trennung von Netz
und Betrieb zu verwirklichen. Was denn nun? Was hätten
Sie denn gerne? Das, was Sie selber beantragt haben, oder
das, was jetzt herauskommt? Zugegebenermaßen: Die
Taskforce lieferte ein Ergebnis, das ich vorausgesagt
habe.
({2})
- Ja, sicher. Ich kann es Ihnen noch einmal sagen, obwohl
Sie es nicht hören wollen. Ich habe von dieser Stelle aus
schon einmal erklärt: Wenn Sie Herrn Mehdorn in die
Taskforce aufnehmen, dann ist es genau so, als wenn
Sie die Frösche beauftragen würden, den Sumpf trockenzulegen. Genau ein solches Ergebnis ist herausgekommen.
({3})
Herr Mehdorn hat in seiner Rolle als Eisenbahnminister
dieses Landes, unterstützt vom Kanzleramt, genau das
Horst Friedrich ({4})
durchgesetzt, was er durchsetzen wollte. Er gibt nämlich
genau in den Punkten nach, die ihm nicht wehtun. Aber
da, wo es wirklich um Wettbewerb geht und wo er sich
entsprechend anstrengen müsste, da blockt er.
({5})
Meine sehr verehrten Kollegen von der Koalition,
wenn Sie glauben, dass die Holding der Bahn AG - der
Vorstand der Netz AG ist nämlich nicht gänzlich unabhängig; er ist nur in einigen Punkten unabhängig von Weisungen des großen Vorsitzenden - tatsächlich in der Lage
wäre, ohne Einflussnahme mithilfe der so genannten
chinese walls eine Trennung durchzuführen, um den armen, bedauernswerten Nebenbahnen mehr Chancen zu
geben, dann muss ich sagen, dass Sie - positiv ausgedrückt - bestenfalls blauäugig, man könnte auch sagen:
naiv sind. Das wird nicht passieren. Herr Mehdorn denkt
überhaupt nicht daran, auf dem Sektor etwas preiszugeben, was ihn in den Wettbewerb führt.
Deswegen ist es wichtig, unsere Anhörung durchzuführen. Wir werden den neu gegründeten Verband nicht
bundeseigener Eisenbahnen mit Herrn Leister und Herrn
Rochlitz als Sachverständige einladen.
({6})
Sie werden Ihnen aus der Praxis erzählen, was Diskriminierung tatsächlich bedeutet. Dann können wir uns gerne
ernsthaft über das Thema noch einmal unterhalten. So
lange ziehe ich mir den Schuh, liebe Frau Kollegin
Rehbock-Zureich, überhaupt nicht an.
({7})
Nun hat der Kollege
Winfried Wolf das Wort für die PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Diese große
Zahl von Anträgen und die beiden Großen Anfragen sind
natürlich Anlass für eine Generaldebatte, einmal mit ernstem Hintergrund in Märchenform und einmal ohne. Wir
können festhalten, dass die Bahnreform im Jahre 1993/94
das klare Ziel hatte, mehr Anteile des Verkehrsaufkommens auf die Schiene zu bekommen. In mehreren Dokumenten und in den entsprechenden Antworten wird heute
davon gesprochen, dass dieses Ziel für den Fernverkehr
und für den Güterverkehr nicht und im Nahverkehr nur
punktuell erreicht wurde.
Wenn man diese drei Bereiche abgrast und darauf eingeht, was im Nahverkehr in diesem Jahr neu ansteht - die
Interregio-Expresse sollen die Interregios ersetzen, Regionalbahnen und Regionalexpresse sollen reduziert
werden -, wenn man sich weiterhin anschaut, was im
Fernverkehr ansteht - in diesem Jahr wird der Abbau von
Interregios real und im nächsten Jahr soll mit der Bahnpreisreform eine Halbierung des Bahncard-Rabatts relevant werden; die Fahrpläne, die für das Jahr 2003 heute
skizziert werden, weisen aus, dass Regionen ganz vom
Fernverkehr abgehängt werden; zum Beispiel werden
Saarbrücken und Trier nicht mehr Teil des Bahnfernverkehrs im Jahre 2003 sein -, dann wird klar, dass die Entwicklung in die falsche Richtung geht.
({0})
Für den Güterverkehr sind schon mehrere Beispiele
genannt worden. Ich will nur ergänzen, dass in Westdeutschland, in Mannheim, der größte Hersteller von
Bahntechnik, Bombardier Transportation, früher Adtranz,
für keinerlei Transport von Gütern den Gleisanschluss
mehr benutzt, weil es für ihn günstiger ist, die riesigen
Transformatoren auf der Straße zu transportieren.
Wir haben einen Antrag zum Fernverkehr und zum Erhalt der Interregio-Verbindungen eingebracht. Wir beziehen uns hier auf Art. 87 e des Grundgesetzes. Der Antrag
ist - die CDU/CSU und die FDP wissen es - wortgleich
mit dem, den die CSU-, CDU- und FDP-geführten Landesregierungen in Bayern und in Baden-Württemberg im
Bundesrat eingebracht haben. Sie können hier Konsequenz zeigen.
Die Debatten zu großen Themen reduzieren sich
manchmal auf Zauberformeln. Eine Zauberformel ist die
Trennung von Netz und Betrieb. Diese Zauberformel
wurde von mehreren Parteien benutzt. Ich glaube, dass
sich das teilweise auf einen Show-down zwischen Rambo
Mehdorn und dem zarter besaiteten Verkehrsminister
Bodewig reduzieren wird.
Wir sollten hier lieber konkret darauf eingehen, dass
die Ängste zum Beispiel der Gewerkschaften in Bezug
auf die Trennung von Netz und Betrieb real sind. Wir sollten konkret darauf eingehen, dass damit eine neuerliche
Zerschlagung der Bahn und noch mehr Personal- und
Infrastrukturabbau suggeriert wurden.
({1})
Wir sollten einen anderen Ansatzpunkt wählen. Wir
sollten klipp und klar sagen, dass - das ist weitgehend im
Sinne dessen, was der Kollege Fischer ausgeführt hat der Staat die Verantwortung für die Infrastruktur im
Schienenverkehr übernehmen muss.
({2})
Wir sollten feststellen, dass dieses Eigentum des Bundes
und gegebenenfalls der Länder dann auch in eine entsprechende klare juristische Form gebracht werden muss.
Wir sollten auch konzedieren, Herr Fischer, dass Herr
Mehdorn in einem Punkt Recht hat und das demagogisch
ausnutzt, nämlich dass Fahrweg und Betrieb eine gewisse
inhaltliche, materielle Einheit bilden, dass sie enger verbunden sind als bei der Straße und im Binnenschifffahrtsverkehr. Deswegen glaube ich, dass der Unterhalt des
Schienennetzes durchaus beim Main-Operator, wie es
neudeutsch heißt, bleiben kann, aber das juristische Eigentum der Infrastruktur beim Staat liegen soll.
Ich glaube, dass wir keine sehr weitreichende Forderung aufstellen, sondern wir fordern nur die Gleichstellung mit den anderen Verkehrsträgern, dem Straßennetz
und der Binnenschifffahrt.
({3})
Horst Friedrich ({4})
Die Koalition plant das Gegenteil. Sie plant jetzt auch
im Taskforce-Bericht in Punkt 7, dass die Bahn an die
Börse gebracht werden soll. Wir meinen, Frau RehbockZureich, dass die Rahmenbedingungen hier nicht verbessert worden sind, dass die Bahn an der Börse im Wettbewerb gegen die Straße und die Binnenschifffahrt keine
Chance haben wird und der Abbau sich beschleunigen
wird.
Wir wollen eine Bahn für die Allgemeinheit, das heißt
gerade für diejenigen, die in unserer Gesellschaft schwach
gemacht und schwach gehalten werden. Gerade in diesem
Bereich sieht man oft, in welche Richtung die Bahn geht,
nämlich gegen die Schwachen in der Gesellschaft.
In der gestrigen Ausgabe der Berliner Zeitung wurde
berichtet, dass sich 24 Rollstuhlfahrer ein halbes Jahr lang
bemüht haben, jetzt im Oktober ein gemeinsames Ticket
für eine Fahrt von Berlin nach Weimar zu bekommen Fehlanzeige. Die Tatsache, dass bei den neuen Ansagen in
den Zügen nicht mehr die Verbindungen beim nächsten
Haltepunkt durchgesagt werden, stieß bei den Blindenverbänden auf heftige Proteste, weil denen der Hinweis
nichts nützt, das könne man in den Faltblättern mit den
Reiseverbindungen, die im Zug ausliegen, nachlesen. Auf
diese Proteste gab es keine Reaktion.
Wenn wir jetzt feststellen, dass Herr Mehdorn in der
letzten Ausgabe der Bild am Sonntag eine neue Sau
durchs Dorf getrieben hat, indem er die Wirkungsweise
der Bahnhofsmission - Jahrzehnte, wenn nicht ein halbes
Jahrhundert lang integraler Bestandteil der Bahnhöfe - reduzieren will, dann glaube ich, dass wir das Recht haben,
einen Antrag zu stellen, dass das nicht geschehen soll. Es
ist so weit gekommen, dass die PDS Anträge zur Verteidigung der Caritas und des Diakonischen Werkes stellt.
Ich bitte Sie, dem zuzustimmen.
Danke schön.
({5})
Nun hat der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Kurt
Bodewig, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich freue mich, dass diese Debatte stattfindet,
({0})
weil sie ein Zeichen dafür ist, dass die Bahn Teil dieser
Gesellschaft und für das Thema Mobilität von ganz besonderer Bedeutung ist. Sonst hätten Sie nicht so viele,
auch wichtige Dokumente für die heutige Debatte erarbeitet. Das sage ich ausdrücklich, weil ich glaube, dass
wir schon in der Haushaltsdebatte sehr deutlich machen
konnten, dass die Bundesregierung der Bahn eine hohe
Wertschätzung entgegenbringt. Wir haben einen Rekordhaushalt. Das kann man ruhig unterstreichen. Wir haben
bei den Investitionen in die Schiene nicht nur mit den
Investitionen in die Straße gleichgezogen, sondern haben
bei 9 Milliarden DM in einer mittelfristigen Phase
des Zukunftsinvestitionsprogramms zusätzlich 6 Milliarden DM organisiert. Ich denke, das lässt sich sehen; das
unterstreicht die Bedeutung der Bahn.
({1})
Ich habe mit Interesse Ihren Ausführungen gelauscht.
Sie haben sich auf die Bahnreform von 1994 bezogen. Das
war eine Bahnreform, die in diesem Hause in großem
Konsens beschlossen wurde; aber danach ist auf Ihrer
Seite nichts mehr geschehen.
({2})
Sie haben in Ruhe abgewartet, was sich bei der Bahn ergibt. Das ist eine Form der Untätigkeit, die auch auf anderen Feldern dazu führte, dass Ihre Regierung 1998 abgewählt wurde,
({3})
obwohl - insofern muss ich mich korrigieren, Herr
Fischer - Sie ja tätig waren: Sie haben die Investitionen
für die Bahn von 9 Milliarden DM in 1995 auf 6 Milliarden DM in 1998 zurückgeführt. Das ist natürlich verhängnisvoll für die Bahn.
({4})
Daran hat die Bahn dauerhaft zu leiden. Wir merken das
zurzeit bei der Diskussion um die Planungskapazität.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert von
der PDS?
Ja, gern.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Mehdorn -
Bodewig heißt der
Minister.
({0})
Entschuldigung, das nehme ich
gern zurück.
Herr Kollege Bodewig, können Sie vielleicht einmal
eine Bemerkung zu dem machen, was der Kollege Wolf
gerade sagte: dass eine Gruppe von Rollstuhlfahrerinnen
und Rollstuhlfahrern aus Berlin seit einem halben Jahr
vergeblich versucht, nach Weimar zu fahren, das Hinz und
Kunz bekannt macht - auch Ihrem Ministerium - und die
Bahn nicht in der Lage ist, so etwas zu ermöglichen, und
dafür fadenscheinige und dumme Ausreden angibt? Wie
wollen Sie das ändern?
Können Sie vielleicht auch einmal etwas zu dem Vorschlag aus der Behindertenbewegung sagen, dass Verkehrsmittel, die nicht jede und jeden mitnehmen - zum
Beispiel Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer -, nicht
das Recht haben sollen, sich öffentliches Verkehrsmittel
zu nennen?
({0})
Ich war gerade am Beginn meiner
Rede. Aber ich gehe gerne darauf ein.
Mit dem Gleichstellungsgesetz, das nicht nur, wie Sie
wissen, im Hause des Bundesministers für Arbeit, sondern auch in unserem Hause sehr intensiv vorbereitet
wird, unternehmen wir alle Anstrengungen, um sicherzustellen, dass diese Probleme, die Sie beschreiben, im öffentlichen Verkehr - nicht nur im Personennahverkehr zukünftig ausgeräumt werden. Wir werden uns nicht nur
im Ausschuss, sondern auch in diesem Hause mit dieser
Problematik intensiv beschäftigen. Ich glaube, dass wir
hier große Schritte vorankommen.
Ich sage noch etwas anderes und greife dabei in meiner
Rede vor: Ich habe nicht die Vision einer Börsenbahn und
auch nicht einer Bürgerbahn - also Anspruchsbahn -, sondern ich habe die Vision einer Kundenbahn, die die Interessen und Bedürfnisse der Kunden berücksichtigt. Das
ist ein langer Weg; das wissen wir. Aber wir werden daran
arbeiten. Ich werde in meinen weiteren Ausführungen
noch darauf eingehen, mit welchen Maßnahmen wir dies
erreichen können.
Lassen Sie mich noch einmal kurz Herrn Fischer erläutern, wie das mit der Taskforce war. Wir haben das im
Ausschuss und hier im Hause bei der Haushaltsdebatte
diskutiert. Sie waren zu dieser Zeit wahrscheinlich in
Hamburg und hören auch jetzt nicht zu - was konsequent
ist.
({0})
Aber ich will es trotzdem noch einmal erläutern.
Es geht um die Unabhängigkeit durch Entherrschung.
Es geht um Prozesskontrolle durch eine Trassenagentur,
die eben nicht Teil des EBA ist. Vielmehr ist diese Trassenagentur unabhängig und beim EBA angesiedelt, um
Overheadkosten zu sparen. Das ist wirklich volkswirtschaftlich sehr sinnvoll.
Wir schaffen Transparenz durch eine eigene Bilanz, die
es nie gegeben hat. Das hätten Sie in Ihrer Regierungszeit
locker durchsetzen können. Aber das hat es nie gegeben.
Nicht zuletzt geht es um die Wettbewerbskontrolle
durch das Eisenbahn-Bundesamt für das Eisenbahnrecht
und durch das Bundeskartellamt für das Preisrecht.
Jetzt kommt ein Vorgang, der mir völlig unerklärlich
ist. Da beschwören Sie immer den Wettbewerb. Ich sage
Ihnen: Ich bin für diskriminierungsfreien Zugang.
({1})
Wir brauchen die Unabhängigkeit von Trassenvergabe
und Preisfestsetzung. Wir haben eine AEG-Novelle, die
den Sanktionsrahmen auf 1 Million DM heraufsetzt, die
ein Initiativrecht des EBA bei Wettbewerbsbehinderungen festschreibt, und Sie behindern das, indem Sie das
verzögern.
({2})
Wo ist denn da Ihre Konsequenz? Ich muss wirklich sagen: Ich verstehe Sie nicht, schon gar nicht Ihre Handlungen.
({3})
Ich will noch einmal deutlich machen, worin unsere
Verantwortung für die Bahn liegt. Wir haben erstmalig
eine trilaterale - ({4})
- Wollen Sie sich untereinander unterhalten? Dann lasse
ich Ihnen die Zeit. - Achten Sie bitte auf die Redezeit,
Frau Präsidentin!
Ich habe Ihre Redezeit gestoppt, Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Das ist schön.
- als Sie sich mit
Herrn Seifert unterhalten haben. Jetzt haben Sie wieder
das Wort.
Vielen Dank.
Wenn ich noch etwas
empfehlen darf: Es ist immer ganz gut, wenn man
zunächst einmal zuhört. Denn dann kommt auch eine interessantere Debatte zustande.
({0})
Sie haben das Wort, Herr Minister.
Ich kann das nur unterstreichen. Vielen
Dank, Frau Präsidentin.
Worin liegt unsere Verantwortung? Es ist die Finanzverantwortung für dieses komplexe System Schiene. Eine trilaterale Vereinbarung wurde erstmalig abgeschlossen, mit
einem Investitionsvolumen für drei Jahre von 26,4 Milliarden DM.
6 Milliarden DM davon gehen ins Bestandsnetz. Denn
es macht Sinn, nicht nur überteuerte Neubaustrecken - die
Sie zu verantworten haben, nicht wir; nicht die neue Regierung, sondern die alte - abzufinanzieren. Vielmehr
möchte ich, dass das gesamte Netz der Bahn schneller und
leistungsfähiger wird. Denn ich möchte nicht nur volle
Züge, wirtschaftliche Züge, sondern auch ein volles Netz.
({0})
Deswegen ist festzustellen: 26,4 Milliarden DM lassen
sich sehen. Damit besteht für die Bahn Kalkulierbarkeit.
Ich sage auch: Ich bekenne mich ausdrücklich zur
Querfinanzierung im Rahmen der LKW-Maut. Wir werden mit den Mitteln aus der LKW-Maut auch Schienenprojekte realisieren. Denn den Unsinn der Vergangenheit,
der Maßstab Ihrer Politik war, sollten wir nicht fortsetzen.
Es macht keinen Sinn, die Verkehrsträger, also die
Schiene und die Straße, gegeneinander auszuspielen.
({1})
Ich bin vielmehr für ein integriertes Verkehrssystem, was
wir auch umsetzen werden.
({2})
Das Ziel, das wir verfolgen, heißt: Wir wollen den Güterverkehr auf der Schiene verdoppeln. Dies ist notwendig, weil wir im Jahr 2015, verglichen mit dem Jahr
1997, 64 Prozent mehr Güterverkehr haben werden. Das
heißt, zum heutigen Verkehr kommen zwei Drittel hinzu.
Dies in den Griff zu bekommen, schaffen wir nicht, wenn
wir die Straße gegen die Schiene ausspielen, sondern nur
dann, wenn wir den Transport auf der Schiene, auf der
Straße und auch auf den Binnenschifffahrtswegen fördern. Das ist der richtige Weg.
({3})
Deswegen werden Mittel für den kombinierten Verkehr
bereitgestellt. Er stützt die Schiene, weil er auf die
Schiene setzt. Das ist genau richtig.
Jetzt komme ich auf ein paar so genannte Sumpfblüten
zu sprechen, die einem in diesem Zusammenhang entgegenblubbern. Ich habe mit Interesse gelesen, dass der Bürgerblock in Hamburg aus CDU, Schill-Partei und FDP
ernsthaft über die Wiedergeburt des Transrapids auf der
Strecke Hamburg-Berlin diskutiert.
({4})
Was bedeutet das? Soll ich Herrn Mehdorn auffordern, sofort alle Maßnahmen zur Beschleunigung des Ausbaus
der Strecke Hamburg-Berlin für ICE-Verkehre einzustellen? Ich glaube, dass das nicht richtig sein kann. Die
verkehrspolitische Qualität, wie ich sie zurzeit in Hamburg erkennen kann, spricht für sich. Sie spricht nur nicht
für Sie von der Opposition.
({5})
In der Verantwortung des Staates liegt es, Investitionssicherheit zu gewährleisten. Dies bedeutet für mich, kalkulierbare Grundlagen für das Unternehmen Bahn zu
schaffen, das sich auf dem Schienennetz bewegt, das wir
erhalten und ausbauen müssen und dessen Qualität wir
verbessern müssen. Da haben wir eine Menge erreichen
können. Ich habe soeben von den trilateralen Vereinbarungen gesprochen. Sie umfassen 26,4 Milliarden DM.
Ich füge hinzu: Wir werden die Planungskapazitäten
aufbauen, die heruntergefahren wurden. Sie haben die Investitionen von 9 Milliarden DM auf 6 Milliarden DM gesenkt. Wir bauen sie wieder auf. Wir investieren in die Zukunft. Wir haben den Sanierungsprozess in der
mittelfristigen Finanzplanung bis zum Jahr 2005 festgeschrieben. Das wird erfolgreich sein und dazu führen,
dass unsere Verkehre wirtschaftlich werden. Das spricht
nicht gegen die Investitionsverantwortung im Rahmen
des Netzes. Das sage ich ausdrücklich; denn dies ist kein
Gegensatz.
Weil das so ist, haben wir mit dem Unsinn eines zinslosen Darlehens aufgehört und auf einen Baukostenzuschuss umgestellt. Das sollten Sie würdigen. Denn es ist
Ihnen während Ihrer gesamten Regierungszeit nicht gelungen, Ihren Finanzminister zu überzeugen, dass er diese
wichtige Maßnahme akzeptiert. Uns ist dies gelungen. Ich
denke, darauf kann man stolz sein.
({6})
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Ich gebe einer Bahn Zukunft, die sich in jeder Beziehung am Kunden orientiert und die deutlich macht, dass sie im Rahmen
des Sanierungsprozesses aus eigenen Anstrengungen heraus sehr viel leisten muss. Seit 1994 ist es zu einer Produktivitätssteigerung um 143 Prozent gekommen. Das
kann sich sehen lassen; das ist doch etwas. Hier ist viel in
Gang gekommen. Dieser Sanierungsprozess muss fortgesetzt werden. Gleichzeitig sage ich: Dies muss mit Unterstützung des Bundes geschehen. Denn nur wirtschaftliche
Verkehre sind tragfähig.
({7})
Sie sagen, es gebe im Güterverkehr nur 200 kleine
Bahnen. Dazu muss ich feststellen: Vor drei Jahren hätten
Sie sich gar nicht vorstellen können, dass eine Kölner Hafenbahn zusammen mit der SBB Cargo, also mit den
Schweizer Bahnen im Cargobereich, Alpentransitverkehre organisiert. Wir sehen, dass dies klappt.
({8})
Wir werden auf der Basis der Taskforce-Ergebnisse
wahrscheinlich das erste europäische Land sein, das die
EU-Infrastrukturvorgaben realisiert. Auch das kann sich
sehen lassen. Insofern bedanke ich mich dafür, dass wir
heute die Gelegenheit hatten, eine Debatte über die Bahn
zu führen. Denn ich glaube, dass die Bundesregierung und
die Koalition diese Debatte mit Genugtuung führen können.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Lintner.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich muss mich
schon wundern, denn immerhin hätten Sie insoweit der
Wahrheit die Ehre geben müssen, als all das, was Sie jetzt
so selbstlobend hervorgehoben haben, natürlich nur möglich war, weil wir seinerzeit, zum Teil gegen heftige Widerstände, die Bahnreform eingeleitet haben.
({0})
Das heißt, wir haben Ihnen ein Fundament hinterlassen,
das in der Tat tragfähig ist, um all die Probleme zu lösen,
die hier angesprochen worden sind. Aber Sie dürfen auch
nicht übersehen, dass Sie in der kurzen Zeit, in der Sie im
Amt sind, schon manchen Rückschlag hinnehmen mussten, nicht zuletzt durch Ihren Purzelbaum in Sachen Trennung von Netz und Betrieb.
({1})
Ich wollte aber darauf nicht näher eingehen - Kollege
Dirk Fischer hat dies dezidiert getan - sondern ich wollte
einfach darauf hinweisen, wie die Bundesregierung beispielsweise mit dem in Art. 87 e des Grundgesetzes niedergelegten Gewährleistungsgebot umgeht. Sie haben
hier mit vielen Worten Ihre Sympathie für den Bahn- und
Schienenverkehr bekundet, aber Sie drücken sich in den
entscheidenden Festlegungen immer wieder um klare
Aussagen herum.
Wir fordern die Bundesregierung beispielsweise dauernd auf, sie möge endlich definieren, was Inhalt dieses
Gewährleistungsanspruches ist; denn daraus ergibt sich
konsequenterweise auch das, was Sie auf Dauer, und zwar
stetig, bereitstellen müssen. Sie haben aber eine entsprechende Gesetzesinitiative der Länder Bayern und BadenWürttemberg erst vor kurzem abgewiesen, weil Sie sich
weigern, diese Sicherheit zu bieten.
Diese Sicherheit wäre deshalb so entscheidend und so
wichtig, weil für Planungen und Investitionen im Verkehrsbereich lange Zeiträume erforderlich sind. Das kostet auch sehr viel Geld. Deshalb reicht es einfach nicht,
dass der Zustand, den wir immer noch haben, weiter anhält, dass nämlich im Grunde genommen die Bahn AG bis
heute nur von einer sicheren Mittelzusage bis zum Jahre
2003 ausgehen kann. Bis zum Jahr 2004 ist es vage. Herr
Mehdorn selbst hat mehrfach betont - und er wiederholt
es immer wieder -, dass man in diesem Bereich für Investitionen eine Planungssicherheit von mindestens sechs,
aber möglichst zehn Jahren braucht.
({2})
Diese Planungssicherheit verweigern Sie ihm. Deshalb
ist Herr Mehdorn auch nicht in der Lage, die Planungskapazitäten anzuheben, denn er muss dafür Personal anwerben. Deshalb gibt er Jahr für Jahr 1 bis 1,5 Milliarden DM
Ihrer hoch gelobten Mittel zurück, weil er sie gar nicht
verwenden kann.
({3})
Sie tragen die Verantwortung dafür.
({4})
Reden Sie bitte nicht immer von Bruttozahlen, sondern
nennen Sie die Nettozahlen, die der Bahn tatsächlich zur
Verfügung stehen.
({5})
Sie können es nachlesen: Im Haushalt 2001 waren es beispielsweise 6 Milliarden DM und nicht 9 Milliarden DM,
wie Sie dauernd behaupten.
({6})
Sie haben dann aus den Sondererlösen weitere Gelder in
der Form von Sonderprogrammen nachgeschossen. Aber,
wer langfristig planen und Geld ausgeben muss, dem ist
mit Sonderprogrammen nur sehr mäßig gedient, weil er
sich weder darauf vorbereiten konnte noch, wie hier die
Bahn, die entsprechenden Planungskapazitäten aufbauen
konnte, um das Geld tatsächlich in Anspruch zu nehmen.
({7})
Das heißt, man muss Ihrer Bahnpolitik - das kann ich
nicht anders formulieren - den Stempel der Unseriosität
aufdrücken. Alles Reden und Predigen von Herrn
Mehdorn, von uns oder sogar von Herrn Schmidt von den
Grünen hat bis dato nicht dazu geführt, dass Sie dazugelernt hätten.
({8})
Meine Damen und Herren, ich wollte des Weiteren ansprechen, wie Sie mit den Problemen, die die Bahn mit der
europäische Ebene hat, umgehen. Ich habe mich in den
letzten Tagen etwas genauer damit befasst und dabei bestürzende Erkenntnisse gewonnen. Zunächst einmal über
die Tatsache, dass sich einer unserer wichtigsten EUPartner, nämlich Frankreich, nach wie vor strikt weigert,
die geforderte Liberalisierung durchzuführen, und die
Deutsche Bahn AG deshalb nicht in der Lage ist, die
berühmten lange Strecken fahrenden Güterzüge, bei denen sie den Systemvorteil ausspielen könnte, in Europa
tatsächlich auf die Schiene zu bringen. Diese Tatsache haben Sie in Ihrer heutigen Rede - in der Sie gesagt haben,
Sie seien dankbar, die Probleme ansprechen zu können überhaupt nicht erwähnt.
Ich muss sagen: Was Sie bisher aus Europa mitgebracht
haben, war mehr als blamabel. Wir hören immer starke
Worte von Ihnen: Beim nächsten Gipfel werden wir allerhand erreichen. Dann kommen Sie zurück und sind angesichts des französischen Widerstandes wieder einmal
eingeknickt. Bezahlen tut die Zeche die Bahn AG. Deshalb tragen Sie die Verantwortung, wenn wir auf diesem
wichtigen Gebiet nicht vorwärts kommen.
({9})
Es kommt noch hinzu: Sie erlauben dem französischen
Partner, gestützt auf das staatliche Monopol, sich hier im
Lande wie der Hecht im Karpfenteich zu benehmen.
Ganze Stadtwerke werden aufgekauft und der dortige
Nahverkehr von einer französischen Firma übernommen.
Die Bezahlung des Personals erfolgt dann auf der Basis
deutlich schlechterer Tarife als die, die die Bahn zahlen
muss. Diesen Wettbewerbsvorteil in den Personalkosten
spielen die französischen Unternehmen vor den Augen einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung gnadenlos aus, ohne dass diese protestiert. Von einer sozialdemokratisch geführten Regierung hätte ich etwas
anderes erwartet.
({10}) -
Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Quatsch! Das ist nicht Sache
der Verkehrspolitiker!)
Wenn wir uns das seinerzeit erlaubt hätten und gegen ein
solches Vorgehen nicht eingeschritten wären, dann hätte
es Demonstrationen vor dem Parlament gegeben.
({11})
- Es geht nicht darum, unseren Zustand zu verschlechtern,
Herr Schmidt, aber die Franzosen müssen massiv und
nachhaltig dazu gedrängt werden, mit diesem Unsinn aufzuhören und selber die notwendige Liberalisierung
herbeizuführen.
({12})
Bei dieser Gelegenheit ist mir noch ein Beispiel genannt worden. Die EU plant eine Lärmschutzrichtlinie
für den Schienenverkehr. Die französische Regierung
hat bereits 32 Ballungsräume in Frankreich bei der EUKommission angemeldet, die nicht unter diese Verordnung fallen dürfen. Damit hat sich das Land von dieser
Regelung praktisch befreit. Die Bahn wird in nächster
Zeit - so sagte es mir Herr Mehdorn - 8 Milliarden DM
als Konsequenz dieser EU-Richtlinie ausgeben müssen,
um sie umzusetzen. Ich habe nirgends gelesen, dass sich
die Bundesregierung überlegt hätte, wie die Bahn diese
8 Milliarden DM lockermachen soll und wie das finanziert werden soll. Oder haben Sie wie die französische Regierung gegenüber der EU-Kommission in Brüssel schon
erklärt, dass Sie das Ruhrgebiet, Frankfurt, Berlin und andere Städte von dieser Regelung ausgenommen haben
wollen?
({13})
Auch hier haben Sie nichts getan. Durch Ihr Schweigen sagen Sie Ja und Amen zu solchen Entwicklungen.
Die Zeche dafür muss hinterher die Deutsche Bahn bezahlen. Ich bin gespannt, was Sie bei diesem Vorgang
tatsächlich gemacht haben. Immerhin wäre es interessant,
wenn der zuständige Verkehrsausschuss über solche
Dinge unterrichtet würde, zumal erhebliche Konsequenzen damit verbunden sind.
Ich bin froh, dass wir heute wieder einmal Gelegenheit
hatten, zumindest kurz über die Eisenbahnpolitik dieser
Regierung zu sprechen. Wie Sie schon sehen, ist keines
der Probleme auch nur im Ansatz gelöst. Wir werden noch
öfter, darüber sprechen müssen. Ich hoffe nur, Herr Minister, dass Sie dann außer Polemik auch sachlich einiges zu
bieten haben.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Hasenfratz.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als Erstes möchte ich
Minister Bodewig dafür Dank sagen,
({0})
dass er erläutert hat, wie sich die Bahnpolitik der
Bundesregierung darstellt und wie die Zukunft der Bahn
aussieht. Ich glaube, das ist eine positive Zukunft.
Herr Fischer meint offenbar, man könne Qualität durch
Lautstärke ersetzen. Das ist ihm diesmal wieder nicht gelungen. Seine angeführten Argumente sind unwahr. Er
sagte beispielsweise - das habe ich mir aufgeschrieben -:
Die Trennung von Netz und Betrieb soll nach der Sanierungsphase eingeleitet werden. Das ist richtig. So steht es
auch in der Option für die Bahnreform von 1994. Aber
Herr Kollege Lintner, Sie haben sie nicht gemacht. Ich erinnere daran, dass dies eine Arbeit des gesamten Parlamentes war. Das noch einmal zur Klarstellung.
Nach der Sanierungsphase sollte im Rahmen der Option eine Trennung von Betrieb und Schiene vollzogen
werden. Das Ergebnis war, dass Sie keine Sanierung geEduard Lintner
macht haben. Sie haben bis 1998 die Bahn zu einem Sanierungsfall gemacht.
({1})
Jetzt sind wir dabei, die Bahn - Minister Bodewig, meine
Vorrednerin Karin Rehbock-Zureich sowie der Kollege
Albert Schmidt haben entsprechende Zahlen vorgetragen wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
Es wird von Totengräbern der Bahnreform und von einem Chaos gesprochen. Ich bin kein Freund vieler Zahlen, weil man mit Zahlen vieles machen kann, will Ihnen
aber ein paar Zahlen nennen. Ich habe sie nicht einer Bilanz der DB AG oder einer Werbebroschüre der Sozialdemokraten, sondern dem Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes - die dort veröffentlichten Zahlen werden Sie ja
wohl anerkennen - entnommen.
Nach der Statistik haben wir im Personenverkehr
- Regional- und Fernverkehr - von 1997 bis 2000 eine
Steigerung von 73,9 Milliarden Personenkilometer auf
75,1 Milliarden Personenkilometer zu verzeichnen. In
diesem Zusammenhang ist - wie es Norbert Blüm immer
gesagt hat - ganz einfach nach Adam Riese zu fragen: Ist
das besser oder schlechter geworden? Jeder kann sich darauf seinen Reim machen.
Güterverkehr: Natürlich ist die Entwicklung in diesem Bereich nicht gut. Aber die Verhältnisse sind nicht so
- wie Sie es darstellen -, als sei alles im Niedergang und
es müsse der Totengesang angestimmt werden. Beim Güterverkehr haben wir von 1997 bis zum Jahre 2000 eine
Steigerung von 72,7 Milliarden Tonnenkilometer auf
76 Milliarden Tonnenkilometer. Das ist eine Steigerung.
Damit sind wir natürlich nicht zufrieden. Deshalb sehen
wir hohe Investitionen in die Verkehrswege sowie eine
Verbesserung des kombinierten Verkehrs - wir haben in
den Haushalt entsprechende Mittel eingestellt - vor.
({2})
- Also, jede Meile fängt mit einem Schritt an, Herr
Friedrich. Wenn Sie alles mit einem Schritt erledigen können, dann bewundere ich Sie. Ebenso bewundere ich immer die Voraussagen von Herrn Fischer, der zum Beispiel
sagt, wir müssten uns eine Verdoppelung des Güterverkehrs bis zum Jahre 2015 abschminken. Mir ist nicht klar,
woher Herr Fischer das immer weiß. Vielleicht steht er in
engster Verbindung mit David Copperfield, der so etwas
voraussagen kann. Wir sind jetzt im Jahre 2001.
({3})
- Dann müssen Sie Herrn Mehdorn ansprechen.
({4})
Unsere Politik ist darauf angelegt, den Güterverkehr bis
zum Jahre 2015 zu verdoppeln.
({5})
- Ich glaube eher, die vom neu gewählten Hamburger Senat ins Gespräch gebrachte Wiederbelebung der Transrapidstrecke von Hamburg nach Berlin ist eine Lachnummer. Das ist ein Highlight.
({6})
Es wird gesagt - ich kann es mir nicht verkneifen -,
man müsse alles den freien Kräften des Marktes überlassen und mit mehr Wettbewerb funktioniere das schon. Zu
der Taskforce will ich nichts sagen. Es gibt einen Antrag
von Eduard Oswald und anderen Kollegen der CDU/CSU
Gewährleistung des Schienenpersonenfernverkehrs. In
dem Antrag wird gefordert - Kolleginnen und Kollegen,
das müsst ihr euch reinziehen -
Herr Kollege,
denken Sie bitte daran, dass Sie nicht mehr viel Redezeit
haben. Genau genommen haben Sie gar keine mehr.
Frau Präsidentin, Sie müssen mir gestatten, das noch zu erwähnen. Das wird auch
für Sie interessant sein.
Ich gebe Ihnen
noch eine halbe Minute.
In dem Antrag heißt es unter anderem:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf ... Der Bund gewährleistet, dass dem
Wohl der Allgemeinheit bei Verkehrsangeboten des
Schienenpersonenfernverkehrs auf dem Schienennetz der Eisenbahnen des Bundes Rechnung getragen wird ...
({0})
- Ich will das noch steigern.
Nein.
Ich zitiere weiter - jetzt
wird es interessant -:
... der Bund gewährleistet, dass hierzu anderweitig
nicht erbrachte Verkehrsangebote im Schienenpersonenfernverkehr durch den Abschluss von Verkehrsdurchführungsverträgen mit Eisenbahnverkehrsunternehmen sichergestellt werden ...
Also, wenn von Pinneberg nach Vegesack kein anderweitiger Verkehr erbracht wird, dann beschließen wir hier,
dass zwischen diesen beiden Städten Schienenverkehr
stattfinden muss.
Ich zitiere weiter - es kommt noch dicker -:
({0})
... der Bund legt den Mindestumfang für den Gewährleistungsauftrag in Zugkilometern pro Kalenderjahr fest ...
Die PDS hat in ihrem Gesetzentwurf den Gewährleistungsauftrag des Bundes auf 180 Millionen Zugkilometer
pro Kalenderjahr festgeschrieben, egal, ob jemand fährt
oder nicht.
Die CDU/CSU-Fraktion fordert weiter, dass die
Entwicklung des Schienenpersonenfernverkehrs in einem
Schienenpersonenverkehrsplan dargestellt wird, der
alle zwei Jahre fortgeschrieben wird. So sehen Ihre Vorstellungen von Privatisierung und Wettbewerb aus. Die
Staatsbahn lässt wieder grüßen. Herr Fischer möchte mit
seinen Freunden - den Kollegen Horst Friedrich nehme
ich aus - offenbar wieder alles festlegen.
Herr Kollege
Hasenfratz, jetzt müssen Sie Ihre Rede wirklich beenden.
Sie reden hier den größten
Blödsinn.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Klaus Lippold.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Minister Bodewig, es ist schon erstaunlich, wenn Sie zum
Kernsatz Ihrer Aussage machen, dass der Bahn eine hohe
Bedeutung für die Mobilität in Deutschland zukomme,
({0})
und wenn ich dann von Ihnen nichts zur Schließung von
Bahnwerken, zur Stilllegung von Strecken und zum Rückzug aus der Fläche höre. Sie sprechen zwar immer von
Mobilität. Aber dazu sagen Sie kein Wort. Sie nehmen es
einfach tatenlos hin, wenn Herr Mehdorn den Interregioverkehr einstellt. Den Wegfall von 30 Millionen Zugkilometer hat er bereits geplant. Jetzt sollen noch 17 Millionen
Zugkilometer hinzukommen. Die Bahn verkommt zur
Schrumpfbahn.
({1})
Private Schienenverkehrsunternehmen, die Interesse
am Betrieb von der DB AG verschmähten Verbindungen
haben, bekommen von Herrn Mehdorn keine Chance.
Auch im Güterverkehr droht ein Kahlschlag. Auch hier
zieht sich die Bahn AG aus der Fläche zurück. Dazu habe
ich von Ihnen kein einziges Wort gehört.
Die Frau Präsidentin hat vorhin zu Ihnen, Herr
Bodewig, gesagt: Herr Minister, Sie haben das Wort. Aber
Sie haben nicht das Sagen. Das hat Herr Mehdorn. Das ist
der Unterschied.
({2})
Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Wenn er tief Luft
holt, dann hängen Sie quer unter seiner Nase. Sie haben
zu dem Rückzug aus der Fläche kein einziges Wort gesagt.
Ein Mitglied des Bahnvorstandes sagt - das habe ich
gelesen -, schlimm sei, dass der Rückzug aus der Fläche
nicht schneller vonstatten gehe; denn jede Verzögerung
gefährde die Sanierung der Bahn. Der Prozess des Rückzugs aus der Fläche, Herr Bahnminister - so bezeichnen
Sie sich ja selber -, wird also noch beschleunigt werden.
Trotzdem reden Sie von Mobilität mit der Bahn und von
Mobilität in der Fläche. Das kann doch so nicht stimmen.
Herr Minister, die Art und Weise, wie Sie hier auftreten - freundlich lächeln und zu den eigentlichen Problemen nichts sagen -, müssen wir deutlich herausarbeiten.
Sie sagen weder im Ausschuss noch im Parlament etwas
zu den eigentlichen Problemen.
({3})
- Sei vorsichtig, auch du musstest heute in der Frage der
Trennung von Netz und Betrieb einiges revidieren.
Herr Minister, Sie haben in Ihrer Rede, die Sie heute
Abend gehalten haben, die Frage der Trennung von Netz
und Betrieb überhaupt nicht angesprochen. Sie haben
auch dies unterschlagen, Herr Minister. Ich möchte Ihnen
auch sagen, warum. Auf dem Parteitag der Grünen haben
Sie vollmundig erklärt, dass Sie die Trennung von Netz
und Betrieb als einen bedeutenden Reformschritt in Angriff nehmen werden. Sie haben so getan, als sei dies de
facto schon entschieden. Sie haben gesagt: Jetzt geht es
los! Sie sind dafür von denselben Leuten, die, hier sitzen
frenetisch gefeiert worden.
({4})
Ich kann Ihnen anhand der Protokolle nachweisen,
dass Sie sich von Ihren damaligen Aussagen systematisch
distanziert haben und dass jetzt das genaue Gegenteil erfolgt. Die Sozialdemokraten haben ausweislich der Protokolle über ihre Fraktionssitzungen und ihrer Anträge
({5})
festgestellt, dass mehr Wettbewerb auf der Schiene ohne
diskriminierungsfreien Zugang zum Netz nicht denkbar
sei.
({6})
Es bestünden jedoch Zweifel, ob ein fairer Wettbewerb in
einem Netz zu gewährleisten sei, das sich im ausschließlichen Eigentum des größten Anbieters von Schienenverkehrsleistungen befinde.
({7})
- Herr Schmidt, das, was Sie sagen, hört sich genauso an.
({8})
Sie halten die Trennung, so steht es im Protokoll, für
zwingend erforderlich, weil der heutige Zustand wettbewerbsfeindlich sei. Die Praxis habe gezeigt, dass die
DB Netz AG und die anderen Betriebsunternehmen unter
dem Dach der Deutschen-Bahn-Holding den Wettbewerb
verhinderten. Sie machen im Nachgang deutlich, dass
dies de facto nur durch die klare Trennung von Netz und
Betrieb zu lösen sei. Heute eiern Sie hier herum.
({9})
Im Klartext heißt das, Herr Bodewig: Die Bahnreform
ist von uns begonnen worden und Sie verwässern sie.
({10})
Dann rühmen Sie sich auch noch, dass Sie mehr Geld
für die Bahn zur Verfügung stellen. Dieses Geld, die
UMTS-Milliarden, haben Sie ja nur deshalb zur Verfügung, weil wir gegen den Widerstand Ihrer Fraktion die
Privatisierung durchgesetzt haben.
({11})
Ohne die Privatisierung der Post, ohne die Schaffung der
Telekom hätten Sie das Geld gar nicht zur Verfügung. Und
heute tun Sie so, als sei das von Ihnen geleistet worden.
Geleistet haben Sie nichts.
({12})
Mit den Maßnahmen, die wir eingeleitet haben, versuchen Sie jetzt, kümmerlich Politik zu machen, und dort,
wo Sie Schritt für Schritt versagen, halten Sie es noch
nicht einmal für notwendig, im Parlament eine hinreichende Erklärung dafür zu geben.
Es ist wirklich so: Wir haben in dieser Republik einen
Minister für Verkehr und einen Minister für Bahn, wie es
der Kollege von der PDS ja schon mit seinem Versprecher
deutlich gemacht hat. Der Minister für Bahn heißt
Mehdorn und der ausführende Beamte - nicht der gestaltende Kopf - sitzt dort auf der Bank.
Besten Dank.
({13})
Damit schließe
ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/6425 zu dem Antrag der
Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit
dem Titel Die Bahnreform fortführen und die Zukunft
der Schiene in Deutschland sichern. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? ({0})
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen worden mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten
Opposition.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7182. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt worden mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS, die zugestimmt hat.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS zur Großen Anfrage der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen zur Bahnreform und Eisenbahnpolitik. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag, Drucksache 14/7175? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch
dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
({1})
Tagesordnungspunkte 7 d und 7 e: Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/6440
und 14/6454 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. - Offensichtlich sind Sie damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/6034 zum Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel Bau- und Betriebsordnung für Regionale
Eisenbahnstrecken. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen, Drucksache 14/6421, zum
Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel Eisenbahnpolitische Reformschritte zügig einleiten. Der Ausschuss
empfiehlt, auch diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Gewährleistung des Schienenpersonenfernverkehrs, Drucksache 14/5662. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/6498, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
FDP gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung der
CDU/CSU abgelehnt worden.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Behandlung.
Dr. Klaus W. Lippold ({2})
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen zum Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel Gewährleistung des Schienen-
personenfernverkehrs, Drucksache 14/6498. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen worden mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von
CDU/CSU und PDS. Es gab keine Enthaltungen.
Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 14/7142 an die in der Tagesord-
nungspunkt aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Rainer Funke, Hildebrecht
Braun ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Ende der Exklusivlizenz für die Deutsche Post
zum 31. Dezember 2002
- Drucksachen 14/5333, 14/6326 Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller ({5})
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Postgesetzes
- Drucksache 14/7093 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP sieben Minuten erhalten soll. - Es gibt keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Änderung des Postgesetzes sieht auf den ersten Blick
ganz harmlos aus.
({0})
Nach den Worten der Bundesregierung handelt es sich lediglich um eine Folgeänderung, bei der die gesetzlichen
Bestimmungen der Verlängerung der Exklusivlizenz für
die Deutsche Post angepasst werden. Das ist aber nur die
halbe Wahrheit.
Tatsächlich folgt ein neuer Sündenfall dem vorangegangenen Sündenfall. Diese sozialdemokratisch geführte
Bundesregierung hat mit der Verlängerung des Postmonopols bis zum 31. Dezember 2007 bewiesen, dass sie von
sozialer Marktwirtschaft nichts hält und billigend in Kauf
nimmt, dass bei privaten Wettbewerbern der Post AG
mindestens 30 000 Arbeitsplätze vernichtet werden. Das
ist weder sozial noch marktwirtschaftlich.
({1})
Die Grünen, die hier im Bundestag noch große Sprüche
geklopft - namentlich Frau Hustedt -, und gesagt haben,
sie würden sich bei einer Verlängerung des Postmonopols
der Bundesregierung widersetzen, sind natürlich eingeknickt und können noch nicht einmal mehr kleine Brötchen backen.
Der Wirtschaftsminister, der seinen beruflichen Werdegang in der Energiewirtschaft, zu einem Zeitpunkt
hatte, zu dem auch in der Energiewirtschaft das Wort
Wettbewerb ein Fremdwort war, kann offensichtlich
nicht in den Kategorien des Marktes denken und will
mit dem heute zu diskutierenden Gesetzentwurf zur Änderung des Postgesetzes den Markt weiter massiv regulieren.
Dabei besteht weder eine entsprechende Notwendigkeit für die Post AG, noch ist eine solche Änderung unter
europarechtlichen Gesichtspunkten zu rechtfertigen.
Wenn man schon die Exklusivlizenz verlängert, hätte man
auch eine Marktöffnung zum Beispiel hinsichtlich der
Grammzahlen und der Massensendungen vornehmen
können und müssen. Dann hätten auch die privaten Wettbewerber eine Perspektive für ihre künftige Entwicklung
gehabt. Aber offensichtlich hat der Wirtschaftminister
nichts anderes im Kopf, als auch diese privaten Wettbewerber platt zu machen und in die Insolvenz zu treiben,
um allein der Post AG den Markt zu überlassen.
Es wäre auch unter europäischen Gesichtspunkten
gut gewesen, wenn Deutschland so vorangeschritten
wäre, wie es uns die skandinavischen Länder vorgemacht
haben. Wenn das der Fall gewesen wäre, dann wäre der
Druck auf Frankreich, auf Großbritannien und auf die
südeuropäischen Staaten größer gewesen, ihre Märkte zu
öffnen. Es gibt keine nachvollziehbaren Gründe dafür,
dass der Postmarkt weiterhin in staatlicher Hand oder bei
einem Unternehmen, das eine Exklusivlizenz besitzt, verbleibt.
Es ist schon ein eigenwilliges Verständnis, wenn einem
inzwischen privatisierten Unternehmen, nämlich der
Deutschen Post AG, über die Exklusivlizenz die Erlaubnis zum Gelddrucken gegeben wird.
({2})
Für mich ist das nicht nur eine ordnungspolitische Frage;
vielmehr geht es auch darum, dass dieses Verfahren letztlich den Verbrauchern und der deutschen Wirtschaft schadet.
({3})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Auf diese Weise werden nämlich die Preise künstlich
hoch gehalten. Schon heute könnte der Marktpreis für einen einfachen Brief nicht bei 1,10 DM, sondern bei
90 Pfennig liegen. Das zeigt, wie unsinnig die fortdauernde Geltung der Exklusivlizenz ist.
Dasselbe gilt für das Festschreiben bestimmter Zahlen zum Zwecke der Aufrechterhaltung von Postfilialen.
Nichts anderes wäre es, heute gesetzlich vorzuschreiben,
dass die deutschen Banken verpflichtet sind, ihre Bankdienstleistungen in einer festgeschriebenen Anzahl von
Filialen anzubieten, oder dass die Bäckerinnungen, eine
bestimmte Anzahl von Filialen vorhalten müssen, in denen vielleicht sogar nur eine bestimmte Sorte Brötchen
oder eine bestimmte Sorte Brot angeboten werden
dürfte.
({4})
- Sie haben noch nicht gelernt, was Marktwirtschaft ist,
alle anderen allerdings schon.
({5})
Wir haben gelernt, dass in einer Marktwirtschaft alle
für den Verbraucher notwendigen Dienstleistungen auch
angeboten werden, wenn sie nachgefragt werden. Ich
halte nichts davon, der Post AG aufzuerlegen, unrentable
Postfilialen aufrechtzuerhalten, wenn sie die entsprechenden Dienstleistungen zum Beispiel über Postagenturen
besser - häufig den ganzen Tag über; ich denke etwa an
Postagenturen in Lebensmittelgeschäften oder an sonstige
Verkaufseinrichtungen der Privatwirtschaft - anbieten
kann. Postdienstleistungen sollen dem Verbraucher nutzen und nicht etwa der Postgewerkschaft.
({6})
Es kommt auf die Dienstleistung an sich an und nicht darauf, in welcher Form sie der Bevölkerung angeboten
werden kann.
Die Postpolitik der Bundesregierung ist von Grund auf
verkorkst; da helfen auch keine Anpassungsgesetze; deswegen werden wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Margareta
Wolf.
Sehr geehrte
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat richtig, sehr geehrter Herr Funke,
dass wir vor einigen Wochen im Bundestag eine Postgesetzänderung beschlossen und die Exklusivlizenz der
Deutschen Post AG bis zum 31. Dezember 2007 verlängert haben. Aber mit dieser Entscheidung haben wir den
Weg - Stichwort Europa - für weitere Verhandlungen auf
der europäischen Ebene frei gemacht, die das Ziel haben,
den Postsektor innerhalb Europas weiter für den Wettbewerb zu öffnen. Das liegt auch im Interesse des Verbrauchers. Man sollte nicht so tun, als wäre es nicht schon
heute so, dass Postdienstleistungen gerade in der Fläche
in Lebensmittelläden angeboten werden.
({0})
Mit der Exklusivlizenzverlängerung wollten wir einen deutschen Sonderweg in der Postpolitik vermeiden.
Das ist der wesentliche Punkt, der uns von der Position
der FDP unterscheidet, die in ihrem Antrag ein Auslaufen
der Exklusivlizenz zum 31. Dezember 2002 fordert, ohne
dafür einen gemeinsamen europäischen Fahrplan abgewartet zu haben.
Dass der von uns eingeschlagene Weg richtig war,
zeigte sich auch am Montag, dem 15. Oktober - also am
vergangenen Montag -, als im zuständigen Ministerrat
weitere Schritte zur Liberalisierung des Postmarkts vereinbart wurden. So wurde unter anderem beschlossen, im
Jahre 2003 das Höchstgewicht für Briefsendungen, die einem Monopol unterworfen werden dürfen, auf 100 Milligramm zu senken.
({1})
- Entschuldigung, Gramm ist richtig, Frau Kollegin
Blank. - Ab 2006 soll eine Grenze von 50 Gramm gelten.
Damit steht zwar nach wie vor kein Datum für die vollständige Öffnung fest - auch das zeigt, wie schwierig die
Verhandlungen in Europa sind -, aber der Luxemburger
Kompromiss geht weit über das hinaus, was beim gescheiterten Telekommunikationsrat im Dezember 2000
möglich erschien. Deshalb werten wir die jetzigen Ergebnisse als weiteren Fortschritt auf dem langen Weg der EUweiten Liberalisierung des Postsektors. Ich denke, der
vereinbarte Stufenplan enthält hierfür verbindliche Vorgaben.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beschlüsse des Ministerrates werden nun im
Europäischen Parlament behandelt werden. Nach der endgültigen Verabschiedung der Richtlinie wird sich auch
Anpassungsbedarf für unser nationales Recht ergeben.
Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit immer
wieder betont, dass sie bereit ist, die bisherigen Grenzen
zu reduzieren, wenn auf europäischer Ebene weitere Fortschritte erzielt werden. Die Bundesregierung ist ihrem
Ziel nun erheblich näher gekommen, die Postmärkte im
europäischen Gleichklang zu öffnen.
Aber, meine Damen und Herren, wir beraten heute
auch über Folgeänderungen im Postgesetz, die aufgrund
der Verlängerung der Exklusivlizenz erforderlich sind.
Dabei handelt es sich zum Ersten um eine Fortschreibung
der Regulierung aller Brieftarife, einschließlich der Massenpost, innerhalb der Exklusivlizenz, zum Zweiten um
die Ausweitung der Möglichkeiten, während der Geltungsdauer der Exklusivlizenz ausschließlich die Deutsche Post AG zum Universaldienst zu verpflichten, und
zum Dritten um eine Verlängerung des ausschließlichen
Rechts der Deutschen Post AG, hoheitliche Postwertzeichen zu verwenden. Last, but not least soll auch eine
Regelung zu den Postfilialen in der Universaldienstleistungsverordnung verlängert werden.
Diese Regelungen sind, so meinen wir, notwendig, um
den gegenwärtigen Status quo des Ordnungsrahmens
nach 2003 beizubehalten. Sie entsprechen aber auch den
vom Bundesrat bei der ersten Postgesetznovelle eingebrachten Änderungswünschen. Zeitkritisch ist dabei vor
allem die Verlängerung der Tarifregulierung für Massenpost, weil diese auch Gegenstand der jetzt anstehenden
Entscheidung der Regulierungsbehörde zum ab 2003 geltenden Briefporto ist.
Ich gehe davon aus, dass bezüglich der Notwendigkeit
der Regulierung der Tarife im Monopolbereich ein breiter
parlamentarischer Konsens besteht, und bitte Sie, das anstehende Gesetzgebungsverfahren konstruktiv zu begleiten.
Ich bedanke mich.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Elmar Müller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat beginnen:
Für die Wirtschaft, insbesondere für kleine und
mittelständische Unternehmen, entstehen keine zusätzlichen Kosten ...
Dieser Satz in der Begründung des Entwurfes eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes, also zur
Verlängerung des Postmonopols um fünf Jahre mit entsprechenden Folgeänderungen in der Post-Universaldienstleistungsverordnung, den Sie, Frau Staatssekretärin, gerade
vorgetragen haben,
({0})
ist schon eine Aussage, die der Trickkiste der Propaganda
entnommen ist und im Grunde genommen genau das Gegenteil von dem ausdrückt, was Sie mit diesem Gesetz erreichen werden.
({1})
Die Regierung - das lässt sich nachweisen; Herr Funke
hat vorhin davon gesprochen - drückt sich mit Aussagen
vor der Wahrheit, die so falsch wie bösartig gegenüber jenen 600 Unternehmen sind, die sich noch am Markt halten können, die eine Postlizenz haben und von denen mindestens die Hälfte vor dem unternehmerischen Aus steht.
Durch dieses Gesetz - Herr Funke hat auch das genannt werden noch in diesem Jahr zwischen 20 000 und 30 000
Arbeitnehmer ihren Job verlieren. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang.
({2})
Nachdem Anfang des Jahres der Monopolverteidiger
auf dem Stuhl des Bundeswirtschaftsministers erklärt hat,
dass das Postmonopol verlängert wird, bestand für die
Unternehmensneugründer - solche waren es in der Regel - keine Chance mehr, von ihren Banken die Kredite
verlängert zu bekommen, die sie zur Überbrückung der
Zeit bis zum Ende des Postmonopols brauchen. Sie wissen: Jede Unternehmensneugründung durchläuft, bis sie
am Markt etabliert ist, etwa drei Kreditverhandlungen mit
den Hausbanken und entsprechend viele Kreditaufnahmen.
Die Unternehmen - und mit ihnen die Beschäftigten in
diesen Unternehmen - hatten sich auf den Gesetzgeber
verlassen. Die Vorgängerregierung wollte nämlich das
Postmonopol ab dem Jahre 2003 abschaffen und den
Wettbewerb freigeben. Einzelne Unternehmen mit bis zu
450 Arbeitskräften haben sich mit Briefen an die Bundestagsabgeordneten verabschiedet und darauf hingewiesen,
dass es ihnen Leid tue, dass sie ihre Mitarbeiter entlassen
müssten, sie trauten dieser Regierung nicht mehr und
seien nicht mehr in der Lage, in diesem Markt tätig zu
sein.
Eigentlich müsste diese Regierung für die 600 Unternehmen, die am Markt tätig sind, dankbar sein. Diese haben in den zehn Jahren, in denen die Post 140 000 Mitarbeiter entlassen hat, wenigstens 30 000 Mitarbeiter eingestellt. Nun sorgen Sie dafür, dass neben den 140 000
auch die 30 000 Mitarbeiter, die in am Markt tätigen Unternehmen beschäftigt waren, entlassen werden.
({3})
Mitarbeiter in kleinen Unternehmen und deren Schicksal
sind dieser Regierung und den Fraktionen, die diese Regierung stützen, völlig gleichgültig.
({4})
Wie hat doch gleich die Wirtschaftswoche über die
ordnungspolitische Substanzlosigkeit geschrieben, die
das Wirtschaftsministerium, das diesen Gesetzentwurf
vorgelegt hat, kennzeichnet? Ich zitiere:
Für Müller - gemeint ist der Wirtschaftsminister heißt dies: Gute Kontakte zu Großunternehmen helfen bei der politischen Entscheidungsfindung, ordnungspolitische Maßnahmen werden völlig überflüssig.
Das ist ein Zitat aus der Wirtschaftswoche. Es ist die
Wahrheit, und zwar die ganze Wahrheit über eine Entwicklung, die wir bedauern müssen.
Der Wirtschaftsminister begründet seine Monopolstrategie damit - er gibt viele falsche Gründe für diese
Maßnahme an -, dass es darum gehe, aus der Post AG eiParl. Staatssekretärin Margareta Wolf
nen Global Player zu machen. Dieser Minister ist kein
Weltökonom, sondern höchstens - ich hoffe, ich trete dem
prominenten Nationalökonomen mit dieser Zuordnung
nicht zu nahe - ein Nationalökonom.
({5})
Diese Regierung verschafft - und auch das ist die
Wahrheit - der Post AG in den nächsten fünf Jahren Einnahmen und Gewinne in Milliardenhöhe, ohne dass sie
auch nur eine Gegenforderung erhoben hätte.
({6})
Ich erinnere beispielsweise an die massenhaften Filialschließungen, die es derzeit gibt, und an die vielen Einschränkungen im Servicebereich. Bei den Briefkastenleerungen werden jetzt zum Beispiel Einschränkungen
vorgenommen, die in einer Situation, in der das Monopol
für dieses Unternehmen verlängert wurde, unmöglich
sind.
Ich sage Ihnen: Wir wissen, dass wir mit dieser Regierung bis zu den Neuwahlen im nächsten Jahr an der Situation nichts ändern können. Ich verspreche Ihnen aber:
Wir werden nach der nächsten Bundestagswahl dafür sorgen, dass diese Maßnahmen zurückgenommen werden.
Die Chancen dazu stehen nicht schlecht.
({7})
Wir machen Ihnen heute den Vorschlag, mit uns wenigstens ein paar kleine Schritte zugunsten der wenigen
Unternehmen, denen Sie noch eine Marktpräsenz ermöglichen, zu gehen. Diese besitzen noch einen Marktanteil
von 1,5 Prozent. Das ist weniger als das, was die Post AG
allein an Umsatzzuwachs in einem Jahr erzielt. So viel erwirtschaften also diese 600 Unternehmen. Selbst dies ist
Ihnen zuviel; auch das wollen Sie kaputtmachen.
Im Zusammenhang mit der Kapitalumwandlung, die
heute ebenfalls im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
noch auf der Tagesordnung steht, werden wir Vorschläge
einbringen, die sich auf die Änderung des Postgesetzes
beziehen. Wir nehmen die beiden Gesetzentwürfe zusammen, da Sie für die Kapitalumwandlung eine Mehrheit im
Bundesrat brauchen. Diese Mehrheit werden Sie nur bekommen, wenn Sie uns wenigstens ein paar Schritte entgegenkommen.
({8})
Ich trage Ihnen nun die Vorschläge vor, die wir in das Gesetzgebungsverfahren einbringen werden.
Erstens: Verkürzung der Laufzeit der Exklusivlizenz
um wenigstens zwei Jahre. Frau Staatssekretärin, dieses
Angebot, statt die vorgesehenen fünf Jahre festzuschreiben einen Kompromiss zu suchen, kam aus Ihren Reihen.
Wir würden einen Kompromiss mittragen.
({9})
Zweitens: Absenkung der Gewichtsgrenze im Postbereich von bisher 200 Gramm auf nunmehr 50 Gramm.
Drittens: Absenkung der Mindestpreisgrenze von dem
Fünffachen eines Standardbriefes auf nunmehr das Zweieinhalbfache. Hier geht es um das, was die Privaten nehmen müssen, wenn sie im Rahmen der Exklusivlizenz der
Post tätig werden.
Viertens: Freigabe der Infopost durch Absenkung des
Gewichtslimits von bisher 50 Gramm auf nunmehr null
Gramm.
Fünftens: Freigabe der abgehenden grenzüberschreitenden Post durch Absenkung des Gewichtslimits von bisher 200 Gramm auf nunmehr null Gramm.
Sechstens: Freigabe der Kataloge, ebenfalls ab null
Gramm.
Siebentes: Erweiterung der Lizenzklassen durch die
Zulassung der Teilleistung Einsammeln von Post. Es ist
doch ein unglaublicher Vorgang, dass die Post AG Taxiunternehmen beschäftigt, die die Briefkästen leeren.
Diese Taxiunternehmen sind aber nicht den für die Post
geltenden Rechtsvorschriften unterworfen, nicht einmal
den einschlägigen Bestimmungen über das Briefgeheimnis, während private Unternehmen, die lizenziert sind und
dem Postgesetz unterliegen, dies nicht dürfen. Das sollte
doch einer der wenigen Schritte sein, die Sie mit uns gehen können.
Achtens: Wegfall der Ausnahmeregelung bei der Exante-Preisregulierung, also genereller Wegfall der Ausnahmeregelung bei der Ex-ante-Regulierung für Mindesteinlieferungsmengen von 50 Stück.
Neuntens: Wegfall des Sonderrechts für Postwertzeichen. Ich erinnere nur daran, dass die Deutsche Post heute
durch Abgabe von Postwertzeichen an die über 3 Millionen Briefmarkensammler Jahr für Jahr Gewinne in dreistelliger Millionenhöhe macht, im Gegenzug aber überhaupt keine Forderungen vom Finanzministerium oder
vom Wirtschaftsministerium gestellt werden. Herr Funke
hat diese Einnahmen mit dem Wort Gelddruckmaschine
charakterisiert. Wenigstens ein Teil dieser Einnahmen
sollte abgeschöpft werden.
Zehntens - hier sind wir uns einig; das ist ein Angebot
an Sie und an die Post AG -: Aufgabe des Mindestbestandes an unternehmenseigenen Filialen. Das kann anders gelöst werden, allerdings nicht so, wie die Deutsche
Post AG es derzeit macht. Sie wandelt erst posteigene Filialen in Agenturen um, doch jetzt schließt sie wieder
flächendeckend Agenturen, die vor ein, zwei Jahren mit
großem Propagandaaufwand eröffnet worden sind.
Meine Damen und Herren, mit einem Wirtschaftsministerium, das einen solchen Gesetzentwurf vorlegt, ist
wirklich kein Staat zu machen, schon gar nicht eine Wirtschaftspolitik, die in die Zukunft gerichtet ist. Deshalb
nochmals ein Zitat aus demselben Artikel aus der Wirtschaftswoche
({10})
Elmar Müller ({11})
über ein internes Papier von Beamten des Wirtschaftsministeriums: Die Entwicklung gehe ... vom Konzept der
sozialen Marktwirtschaft zur instrumentalen Beliebigkeit,
zum Punktualismus!. So bezeichnen die Beamten des eigenen Hauses die Politik ihres Wirtschaftsministers. Ich
bin der Meinung, dass man einen Wirtschaftsminister von
kompetenter Seite schlimmer nicht kritisieren kann.
Im Wirtschaftsausschuss haben wir den FDP-Antrag
mitgetragen und tun dies weiterhin. Wir werden aber, sehr
verehrte Frau Staatssekretärin und verehrte Kollegen von
der Regierungsseite, Ihren Gesetzentwurf nicht mittragen,
es sei denn, Sie kommen uns in den von mir vorgetragenen Punkten entgegen.
Ich bedanke mich.
({12})
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Barthel.
Meine Damen und
Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Mit dem Antrag
der FDP, der das vollständige Auslaufen der Exklusivlizenz fordert, haben wir uns heute nicht zum ersten Mal
auseinander zu setzen. Ich verweise dazu auf das, was wir
dazu bereits in den Plenardebatten am 15. März, am
1. Juni und am 28. Juni 2001 gesagt haben.
({0})
Die Argumente, die Sie für diesen Antrag vorgetragen haben, waren von Anfang an schlecht. Sie sind seitdem nicht
besser geworden, wovon wir uns heute Abend gerade wieder überzeugen konnten.
({1})
Leider hindert diese Tatsache weder Sie, Herr Funke,
noch Sie, Herr Müller daran, immer wieder dieselben Behauptungen aufzustellen, die wir längst widerlegt haben,
wie man nachlesen kann.
Die Entwicklung auf der europäischen Ebene gibt
uns im Nachhinein wieder einmal Recht und widerlegt
das Gerede von Union und FDP vom Stillstand der Liberalisierung im Postwesen. Wie schon erwähnt, hat sich der
Ministerrat in Luxemburg am vergangenen Montag auf
maßvolle, kontrollierte und aufeinander abgestimmte
Schritte zur weiteren Liberalisierung geeinigt. Die Gewichtsgrenzen sollen europaweit ab 2003 auf 100 Gramm
und ab 2006 auf 50 Gramm reduziert werden. Das bedeutet, dass ab 2006 ungefähr ein Viertel des Briefmarktes
dem Wettbewerb unterliegt.
Wir haben oft genug dargestellt, dass wir aus der Sicht
aller Beteiligten ein solches Vorgehen einer Liberalisierung mit der Brechstange, wie Sie sie wollen, vorziehen,
({2})
und zwar im Interesse der Kunden, im Interesse der Zuverlässigkeit und der Qualität, weil wir sowohl bei der
Post AG, aber vor allen Dingen auch bei den neuen Wettbewerbern in Randbereichen Qualitätsmängel feststellen.
Wir ziehen das jetzige Vorgehen eines im Interesse für alle
bezahlbaren flächendeckenden Angebots an Postdienstleistungen vor, weil wir feststellen, dass viele Wettbewerber nur an Geschäftskunden und an Großkunden in Ballungsräumen interessiert sind und eben keine bezahlbaren
Dienstleistungen für alle anbieten wollen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Funke?
Ja, bitte.
Herr Kollege Barthel, ist Ihnen
bekannt, dass Sie im Vermittlungsausschuss und anschließend im Bundesrat und im Bundestag dem Auslaufen der Exklusivlizenz zum 31. Dezember 2002 zugestimmt haben? Warum sind Sie jetzt der Auffassung, dass
die Exklusivlizenz mindestens bis 2007 verlängert werden muss?
Das haben wir ausdrücklich nicht getan, ein Bestandteil dieses damaligen
Kompromisses im Bundesrat war nämlich, dass durch die
Regulierungsbehörde regelmäßig über das Auslaufen der
Exklusivlizenz zu berichten ist,
({0})
dieser Bericht den gesetzgebenden Körperschaften,
sprich Bundestag und Bundesrat, vorgelegt wird und erst
danach zu entscheiden ist, ob und in welchem Umfang die
Exklusivlizenz verlängert werden kann. Diese Passage
können Sie in dem Gesetz nachlesen. Welchen Sinn hätte
eine solche Überprüfungsklausel, wenn wir damals definitiv festgelegt hätten, sie wirklich am 1. Januar 2003 auslaufen zu lassen?
Alle Kommentatoren - darauf habe ich in der letzten
Debatte hierüber ausführlich hingewiesen - stützen unsere Rechtsauffassung, auch der nicht gerade der Sozialdemokratie nahe stehende Professor Badura.
({1})
- Das war der damalige Kompromiss im Vermittlungsausschuss. Die Kommentatoren sind sich also einig.
Ich beschäftigte mich aber noch einmal mit dem Problem - davon lassen wir uns auch nicht ablenken -, dass
Wettbewerb allein eben nicht die Bedienung der Fläche
sichert. Wir erhielten gerade wieder einen Hinweis darauf. Warum haben denn die Wettbewerber dagegen geklagt, dass sie - wenn sie eine Lizenz haben wollen - von
der Regulierungsbehörde dazu gezwungen werden, bestimmte Flächen in der Größe des Saarlandes mit zu bedienen? Sie haben dagegen geklagt, weil sie eben nicht im
Traum daran denken, Kunden in der Fläche zu bedienen,
({2})
Elmar Müller ({3})
sondern sie wollen bestimmte Kundengruppen und bestimmte Ballungsräume bedienen. Das ist die Rosinenpickerei, gegen die wir etwas tun müssen.
({4})
Wir haben uns weiterhin für eine harmonisierte Liberalisierung entschieden, weil es um die Arbeitsplätze in
den Postunternehmen geht und weil nur eine schrittweise
Marktöffnung soziale Standards und Arbeitsplätze in der
gesamten Branche sichern kann. Soweit die Sicherung
nicht erfolgen kann, soll zumindest der Übergang abgefedert werden.
Ich kann die Geschichten von Herrn Funke und von
Elmar Müller mit den 30 000 Arbeitsplätzen, die jetzt angeblich bei den Wettbewerbern gefährdet sind, nicht mehr
hören.
({5})
Welcher Wettbewerber stellt im Jahre 2000 30 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Hinblick auf eine
Gesetzeslage ein, die erst ab 1. Januar 2003 gültig ist und
über die er überhaupt nichts weiß? So einen Unternehmer
möchte ich einmal sehen. Das sind Abenteurer. Solchen
Abenteurern - wenn es sie überhaupt in Bezug auf eine
Gesetzeslage ab 2003 geben sollte - können wir doch
durch Gesetz nicht einen Erfolg garantieren. Das wäre ein
Lotteriespiel.
({6})
Herr Kollege
Barthel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Müller?
Aber sicher.
Herr Kollege
Barthel, Sie hatten vorhin die Klagen der Wettbewerber
gegen die Pflicht zur Bedienung der Fläche in der Größe
des Saarlandes genannt und gesagt, die Wettbewerber
seien deshalb vor Gericht gegangen, weil sie eine solch
große Fläche nicht bedienen wollten. Stimmen Sie mir zu,
dass junge, neu gegründete Unternehmen, deren Betriebsaufwand zu etwa 90 Prozent aus Personalkosten besteht, nicht in der Lage sind, von Anfang an Flächen von
der Größenordnung des Saarlandes zu bedienen, sondern
nur in der Lage sind, kleinere Flächen zu bedienen?
({0})
Stimmen Sie mir ferner zu, dass die Unternehmen, die
am Markt sind, nicht in Ballungsgebieten, sondern - im
Gegenteil - auf dem flachen Land ihre Dienste anbieten?
Das ist einfach deshalb der Fall, weil sie in Ballungsgebieten überhaupt keine Mitarbeiter bekommen.
Es gibt eine erhebliche Gegenwehr gegen die Verpflichtung - ob es nun Ballungsgebiete oder Kleinstädte sind -, sich in der Fläche zu
betätigen, sonst hätten die Unternehmen nicht dagegen
geklagt.
({0})
Der Punkt ist auch nicht, ob man diesen Unternehmen
eine Übergangsfrist einräumt; darüber hätte man ja reden
können. Der Punkt ist vielmehr der, dass sie gegen die
Zulässigkeit dieser Flächenbedienungspflicht generell
geklagt haben. Sie haben damit vor den Gerichten sogar
Recht bekommen. Aber die Konsequenz daraus kann
doch für uns nicht sein, dass uns die Fläche egal ist und
dass wir sagen, die Fläche soll bedienen, wer will. Wir
müssen vielmehr der Deutschen Post AG Einnahmen
dafür sichern, dass sie die Fläche in der Zukunft bedienen
kann. Das ist der Sinn der Übung. Uns kann niemand sagen, wer das in der Zukunft machen soll. Das ist der
Punkt.
({1})
Die von uns jetzt durchgesetzte Verlängerung der Exklusivlizenz bis 2007 - was Sie versuchen hochzuziehen
ist Schnee von gestern - erlaubt uns in den nächsten Jahren, die Grammgrenzen schrittweise an die europäischen
Vorgaben anzupassen. Das werden wir tun.
Worum es heute auch noch geht - das ist für die Bevölkerung wesentlich wichtiger - ist der Entwurf eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes. Wir
halten Wort, weil wir nämlich sagen: Das eine sind gesicherte Einnahmen und berechenbare Marktbedingungen
durch die Exklusivlizenz für die Deutsche Post AG und
das andere sind Preiskontrolle und Universaldienstverpflichtungen für die Deutsche Post AG. Deswegen werden
wir diese Regelungen, die die Deutsche Post AG zur
Flächendeckung verpflichten, entsprechend den Fristen
der Exklusivlizenz verlängern. Das haben Sie von uns vor
dem Sommer verlangt. Sie haben immer angezweifelt,
dass wir das tun. Jetzt tun wir es und es passt Ihnen ebenfalls nicht. Jetzt wollen Sie sogar dagegen stimmen. Wir
erteilen keine Lizenz zum Gelddrucken, auch keine Exklusivlizenz. Wir sind vielmehr für eine gerechte Verteilung von Verpflichtungen einerseits und Einnahmen andererseits. Um dieses Verhältnis geht es.
Für die Bevölkerung ist dabei wichtig, dass die Zahl
der Filialen bis mindestens 2007 erhalten bleiben muss,
also insgesamt wenigstens 12 000, davon 5 000 eigenbetriebene. Dazu muss ich noch einige Bemerkungen machen, weil auch wir mit großer Sorge verfolgen - das haben Sie schon angesprochen -, dass die Deutsche Post AG
wieder einmal ihr Filialnetz - wie es so schön heißt überprüft und zurzeit im Bereich der Agenturen Vertragsänderungen und Kündigungen betreibt. Wir wollen
bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass die PostUniversaldienstleistungsverordnung nicht nur eine Mindestzahl von Filialen vorsieht - übrigens sind es bei uns
12 000 und nicht nur 10 000, wie Sie es damals vorhatten -,
sondern beispielsweise auch die 2 000-Meter-Regel. Wer
in die Verordnung schaut, wird feststellen, dass die Regel
nicht nur für Ortschaften mit über 4 000 Einwohnerinnen
Klaus Barthel ({2})
und Einwohnern, sondern für alle geschlossen bebauten
Wohngebiete gilt. Wir werden darauf achten, dass die
Post AG diese Regelung einhält. Mittlerweile ist auf unser Betreiben hin die Regulierungsbehörde bei Verstößen
der Post AG nachweisbar in einzelnen Fällen eingeschritten.
Die Verlängerung der Gültigkeit der Gesamtzahl von
mindestens 12 000 Filialen stellt ein wichtiges Signal für
die Post AG dar; denn die forcierte Schließung angesichts
der heute noch ungefähr 13 300 Filialen macht keinen
Sinn mehr, wenn das Unternehmen nicht damit rechnen
kann, dass es aus dieser Regelung bald entlassen wird,
sondern die Filialen bis mindestens 2007 noch erhalten
muss.
Auch erinnern wir die Post AG daran, dass zu scharfer
Druck auf die Agenturnehmer dem Geist des Postgesetzes
widerspricht, das sowohl ein flächendeckendes Angebot
als auch die Einhaltung sozialer Standards vorsieht. Auch
für den Einzelhändler und die Einzelhändlerin gibt es
nicht die Pflicht der Selbstausbeutung; auch sie haben einen Anspruch auf angemessene Vergütung in der Agentur. Wir sind deswegen froh, dass sich jetzt auch die
Agenturnehmerinnen und Agenturnehmer zur Wehr setzen, indem sie sich organisieren, zum Beispiel in der Gewerkschaft Verdi, und für ihre Arbeitsbedingungen kämpfen.
({3})
Gerade in diesem Zusammenhang hat es sich bewährt,
dass die SPD die Erhaltung von 5 000 unternehmenseigenen Filialen durchgesetzt hat. Einerseits hat diese
Regelung die Grundlage für den Schaltervertrag zwischen
der Gewerkschaft und der Deutschen Post AG dargestellt
und damit den Erhalt von Arbeitsplätzen im Kernbestand
qualitativ hochwertiger Filialen gesichert. Andererseits
werden diese 5 000 posteigenen Filialen angesichts der
Agenturschließungen immer wichtiger.
Hier haben wir leider wieder einmal Recht bekommen.
CDU/CSU und FDP haben die Agenturen stets als Patentrezept für die Erhaltung der Post auf dem Land gepriesen:
besser, billiger, flexibler, mittelstandsfreundlich und was
Sie alles gesagt haben. Wir haben Ihnen in bestimmten
Fällen und unter bestimmten Bedingungen Recht gegeben. Auch viele Kommunen haben auf diese Lösung gesetzt und daran geglaubt. Heute aber sehen sie sich vielfach getäuscht, weil auch private Einzelhändler und das
Outsourcing keine Allheilmittel sind, denn das kostet
ebenfalls Geld. Außerdem kann auch ein Einzelhändler
keine Wunder vollbringen; denn er muss - genau wie in
einer kleinen posteigenen Filiale - seine Arbeit machen.
Aber gerade hier liegt das Problem: Wenn eine solche
Agentur schließt, dann ist die Post AG aus der Verantwortung und schiebt sie auf den Agenturnehmer. Wie sollen wir sie dann noch regulatorisch in die Pflicht nehmen?
Deswegen sind wir etwas überrascht, dass jetzt sowohl
von der Union als auch vom Bundesrat ausgerechnet die
Vorgabe der 5 000 eigenen Filialen wieder infrage gestellt
wird. Wir wollen aus Arbeitsplatz- und Kundenschutzgründen unbedingt an diesem Rückgrat der posteigenen
Filialen festhalten. Deswegen begrüßen wir auch, dass die
Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates an ihrem Vorschlag festhält.
Es gibt von Kundenseite eine Menge anderer Vorschläge zur Verbesserung der Universaldienstleistungsverordnung. Ich kann das jetzt nicht mehr alles ausführen.
Es geht darum, Zeiten der Leerung von Briefkästen vorzuschreiben. Es gibt immer mehr Anregungen zu Reklamationen von verloren gegangenen Sendungen, zu Öffnungszeiten von Filialen, zu Wertbriefen, zu Grenzen der
Fremdvergabe von Einzelleistungen - also Taxis -, zur
späteren Briefkastenleerung in einzelnen Stadteilen und
auf Dörfern. Der Wunschkatalog ist lang.
Wir werden versuchen, praktikable Lösungen zu finden. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es
politisch entschieden ist, dass es die Liberalisierung und
die Deregulierung geben soll. Wir wollen in der Übergangszeit dem Teilmonopolisten Grenzen der Macht gegenüber Kunden und Wettbewerbern setzen; aber wir
können der Post AG nicht wie einer Behörde bis ins Detail alles vorschreiben.
Was wir jetzt tun, ist unter den gegebenen Voraussetzungen der einzig vernünftige Weg: schrittweise Marktöffnung, Kundenschutz, Arbeitsplatzerhaltung. Leider
hören wir außer in sich widersprüchlichen Hauruck- und
Scheinlösungen von der CDU/CSU und der FDP nichts
Konstruktives. Auf Ihre Antworten in den Ausschussberatungen über das Zweite Gesetz zur Änderung des Postgesetzes sind wir äußerst gespannt. Wir lehnen den Antrag
der FDP, den Markt ab 2003 mit der Brechstange zu öffnen, aus den bekannten guten Gründen ab.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Jüttemann.
Frau Präsidentin! Meine
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eines vorweg erwähnen: Es war im Jahr 1994, als die Postliberalisierung
durchgesetzt wurde. Die PDS war die Einzige, die klar
und deutlich gesagt hat: Es geht in die falsche Richtung.
({0})
Wenn man den Bürgern eine flächendeckende Grundversorgung unter gleichen Bedingungen bieten will, widerspricht das den klassischen Gesetzen des Marktes.
Dort will man Profit machen. Ein Brief, der in ein kleines
mecklenburgisches Dorf an die Küste oder in die Alpen
geht, wird wohl erst nach Tagen zugestellt, mit Sicherheit
nicht genauso flott wie in der Stadt.
Die Unternehmen, die sich heute bewerben, betreiben
doch nur Rosinenpickerei. Herr Müller, wenn Sie heute
beklagen, die 30 000, die jetzt im Wettbewerb tätig seien,
bangten um ihre Arbeit, dann muss ich Ihnen sagen: Was
haben wir nach der Privatisierung erreicht? Knapp
150 000 haben ihren Arbeitsplatz bei der Post AG verloren. 30 000 Arbeitsplätze wurden parallel geschaffen. Was
ist das für ein Verhältnis?
Elmar Müller ({1})
Und wie sehen die 30 000 Arbeitsplätze aus? Nicht einmal die Hälfte davon ist sozialversicherungspflichtig.
({2})
Wenn ich Ihnen sagen würde, wie die Fahrzeuge der privaten Anbieter aussehen, die bei mir zu Hause die Briefe
zustellen, dann würden Sie sich erschrecken, dann würden Sie für diese Betriebe keine Reklame machen.
Wir hatten einmal 27 000 posteigene Filialen. Was haben wir heute noch? 13 500, und die meisten davon sind
schon Agenturen. Die Postfilialen bei mir zu Hause im
Eichsfeld kann ich an einer Hand abzählen. So weit sind
wir schon gekommen. Von Qualität und Angebot ist nichts
mehr da.
({3})
Ich erinnere daran: Die SPD hatte im Jahr 1994 in
ihrem Wahlprogramm angekündigt, wenn sie die Wahl
gewinne, werde sie diesem Gesetz nicht zustimmen; sie
werde dieses Ansinnen rückgängig machen. - Sie hat es
nicht gemacht. Gott sei Lob und Dank kriegt sie wenigstens jetzt die Kurve und setzt sich für die Beschäftigten
der Deutschen Post AG ein, auch im Interesse der Postkunden. Dieser Weg ist zumindest anerkennenswert.
Wenn der Antrag der FDP tatsächlich greifen würde
und Ende 2002 die Exklusivlizenz ausliefe: Was schätzt
du, Elmar Müller, wie viele Arbeitsplätze bei der Post AG
dann verloren gehen würden? Wir haben doch jetzt schon
die Situation, dass die Post AG aufgrund des Druckes aus
der Privatwirtschaft von den bisherigen Tarifen abweicht.
Wer jetzt eingestellt wird, wird schon wesentlich schlechter bezahlt. Die Bedingungen für die Beschäftigten und
die Leistungen werden schlechter. Ich habe in keinem Bereich eine Verbesserung der Leistungen gesehen.
({4})
Wir haben gerade vorher die Diskussion zur Bahn
gehört. Wo ist denn der Erfolg der Privatisierung der
Bahn? Wir haben doch nur Probleme.
({5})
Deswegen finde ich es gut, wenn es die Exklusivlizenzverlängerung gibt. Auch die Beschäftigten müssen
gesichert sein. Das ist das A und O. In dieser Richtung
werden wir die SPD unterstützen.
Wir können das Rad der Geschichte nicht mehr
zurückdrehen. Wir haben noch viele Probleme vor uns.
Dann werden wir hoffentlich gemeinsam streiten, auch
gegen den Widerstand dieser rechten Seite.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/6326 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel Ende der Exklusivlizenz für die Deutsche Post zum
31. Dezember 2002. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 8 b: Interfraktionell wird die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/7093 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ablösung des Arznei- und Heilmittelbudgets ({0})
- Drucksache 14/6309 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Ablösung des Arznei- und Heilmittel-
budgets Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz -
ABAG)
- Drucksache 14/6880 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- Drucksache 14/7170 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Schmidbauer ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Schmidbauer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 10,9 Prozent mehr
Arzneimittel im ersten Halbjahr 2001: Das ist eine alarmierende Zahl. Diese Ausgabenentwicklung alarmiert
uns natürlich auf das Entschiedenste und zwingt uns mehr
denn je zum raschen Handeln.
Das Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz und das Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz, das morgen beraten wird, sind die beiden zentralen Bausteine eines neuen
Weges. Dass wir einen neuen Weg gehen, bedeutet nicht,
dass wir unbekannte Wege gehen. Wir brauchen den
neuen Weg, weil starre Budgets und die Kollektivhaftung
der Ärzte nicht die Wege sind, die uns zum Ziel führen. Es
sind auch keine Wege, die zu mehr Akzeptanz führen.
Was uns auf dem neuen Weg als Kompass bleibt und
auch noch verstärkt wird ist zum einen das Qualitätsziel
einer optimalen Versorgung der Patientinnen und Patienten und ist zum anderen das Wirtschaftlichkeitsgebot.
Das Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz schafft dazu
neue Instrumente. Die Trias von Zielvereinbarungen, Informationen und qualifiziertem Prüfwesen schafft die
Voraussetzungen, um den Arzneimittelmarkt mit einer
verbesserten Qualität bei gleichzeitiger Kostensenkung
zu steuern.
({0})
Wir werden zeigen, dass Qualität und Wirtschaftlichkeit kein Gegensatzpaar bleiben muss. Wir sind mit der
Qualität der Versorgung auf dem richtigen Weg. Der
Arzneimittel-Report widerspricht der These der pharmazeutischen Industrie von einer drastischen Unterversorgung mit innovativen Arzneimitteln.
({1})
Stattdessen zeigt der Report, dass es gerade bei den Therapien, für die ein therapeutischer Zusatznutzen belegt ist,
zu deutlichen Verordnungsanstiegen gekommen ist. Als
Beispiel werden Opiate, also starke Schmerzmittel, für
die Behandlung von Tumorpatienten genannt, bei denen
im Jahr 2000 ein Umsatzzuwachs von 232 Millionen DM
- das sind 31,9 Prozent - zu verzeichnen war. Jetzt kommt
das für uns Interessante: Die verordnete Menge an Tagesdosen reicht zur Behandlung von 96 Prozent der geschätzten Zahl der Tumorpatienten aus. 96 Prozent der
Menschen können damit versorgt werden, sodass sie
schmerzfrei sind. Das Gleiche gilt für die Krankheitsbilder der Epilepsie und der koronaren Herzerkrankungen,
die große Volkskrankheiten sind. Bei den untersuchten
Krankheiten kann keineswegs von einer Unterversorgung
gesprochen werden. So werden mit 1,134 Milliarden verordneten Tagesdosen an Antidiabetika täglich 3,1 Millionen Diabetiker ordnungsgemäß versorgt. Dies entspricht
der geschätzten Zahl an Diabetikern, die Antidiabetika zur
Therapie benötigen. Großer Handlungsbedarf besteht hier
also nicht.
Großer Handlungsbedarf besteht aber in Bezug auf
die Unwirtschaftlichkeit. Der Arzneimittel-Report von
2001 zeigt auf, wo die Wirtschaftlichkeit im Argen liegt:
Die Unwirtschaftlichkeit bzw. das Einsparpotenzial lag
im Jahr 2000 bei Generika, Analogpräparaten und den so
genannten umstrittenen Arzneimitteln zusammen bei
8,1 Milliarden DM. Das sind mehr als 20 Prozent des Gesamtumsatzes. Bei einem rationelleren Arzneimittelverschreibungsverhalten der Ärzte können somit 8,1 Milliarden DM für Arzneimittel in Deutschland eingespart
werden, ohne dass ein Qualitätsverlust eintreten würde
und ohne dass dadurch auch nur eine Patientin oder ein
Patient qualitativ schlechter oder unzureichend versorgt
würde.
({2})
Obwohl der Anteil an generischen Verordnungen in
Deutschland mit mittlerweile 49 Prozent im internationalen Vergleich ungeschlagen hoch liegt, besteht hier
immer noch ein Einsparpotenzial von insgesamt 3 Milliarden DM. Denn zwischen den Generikapräparaten bestehen große Preisunterschiede, die immer noch nicht
richtig ausgenutzt werden.
Gleiches gilt für Analogpräparate. Durch die Substitution mit therapeutisch vergleichbaren Leitsubstanzen ergibt sich ein mögliches Einsparvolumen von 2,4 Milliarden DM. Die Verordnung umstrittener Arzneimittel,
also von Arzneimitteln, deren Wirkung nicht ausreichend
belegt ist, ist seit Jahren rückläufig. Nach den Berechnungen des Reports besteht aber auch in diesem Segment immer noch ein Einsparpotenzial von 2,65 Milliarden DM.
Aber wo sind wir eigentlich in Deutschland gelandet?
({3})
- Sie werden es gleich hören.
Der Wert der verordneten Arzneimittel hat die Arzthonorare bei weitem überflügelt.
({4})
Im Jahr 2000 hat der Arzneimittelverbrauch in der vertragsärztlichen Tätigkeit die tatsächlichen ärztlichen Honorare um das Doppelte überstiegen.
Laut BMG betrug die Gesamtsumme der verordneten
Arzneimittel in den Kassenärztlichen Vereinigungen rund
39,4 Milliarden DM. Die GKV-Umsätze mit den Vertragsärzten beliefen sich auf 43,2 Milliarden DM. 55 Prozent oder 23,2 Milliarden DM davon waren Praxiskosten.
Wenn man diese abzieht, bleiben als ärztliche Honorare
19,0 Milliarden DM, denen 39,4 Milliarden DM Arzneimittelverordnungen gegenüberstehen. Das ist einmalig in
der Welt. Es gibt kein weiteres Land mit einem solchen
Missverhältnis.
({5})
Wir müssen mit den Ärzten aus dieser Arzneimittelfalle herauskommen. Es macht Mut, was jetzt schon läuft.
Die Selbstverwaltung von Ärzten und Kassen beginnt
bereits jetzt, auf regionaler Ebene Versorgungsziele und
Wirtschaftlichkeitsziele verbindlich zu machen. Das
schafft Vertrauen für die Instrumente, die wir in diesem
Gesetz vorsehen.
Für diesen Weg müssen wir den Verantwortlichen, den
Ärzten, per Gesetz ein Handwerkszeug mit Gütesiegel
beschaffen. Mit gutem Werkzeug schaffen wir auch die
Akzeptanz bei Ärztinnen und Ärzten. Diese Qualitätswerkzeuge bestehen aus konkreten Zielvereinbarungen,
aus Information und Beratungspflicht, aus einem Frühwarnsystem, verknüpft mit Controlling, aus einer Trennung von Arznei- und Heilmittelbudget zur besseren
Klarheit, aus Richtgrößen, die nicht schematisch sind,
sondern sich an medizinischen Gesichtspunkten und an
Praxisbesonderheiten orientieren - mit Differenzierungen
nach Altersstufen der Patienten und Krankheitsarten -,
aus Schnellinformation, Transparenz und Beratung für
Horst Schmidbauer ({6})
Ärztinnen und Ärzte bei der Verordnung von Arzneimitteln.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Diese Vorleistungen unsererseits setzen auch Gegenleistungen voraus.
Wir werden deshalb Ärztinnen und Ärzte nicht aus der
Verantwortung entlassen. Auch sie haben Verantwortung
für rationelles Verordnungsverhalten im Arzneimittelbereich und für eine stabile Entwicklung unserer Beitragssätze.
({7})
Wir werden aber auch die Voraussetzung dafür schaffen, dass die Verantwortung wahrgenommen werden
kann. Dabei werden wir die Ärztinnen und Ärzte unterstützen und ihnen helfen, zum Beispiel durch eine Beratungspflicht - eine Beratungspflicht, die industrieunabhängig ist, eine Beratungspflicht, die dem Arzt einen Weg
durch den Dschungel von Tausenden von Arzneimitteln
bahnt, eine Beratungspflicht, bei der Information, Transparenz und Vergleichbarkeit groß geschrieben werden.
Wir sehen: Ein solches Werkzeug bringt es, weil wir
zwar neue, aber keine unbekannten Wege gehen. Es hat
sich sehr deutlich gezeigt, dass in der KV Hessen mit einer Budgetüberschreitung von 0,2 Prozent unter den zehn
am häufigsten verordneten Präparaten kein umstrittenes
Arzneimittel vertreten war, während in der KV Nordbaden mit einer Budgetüberschreitung von 8,3 Prozent unter den zehn am häufigsten verordneten Präparaten vier
umstrittene Arzneimittel vertreten waren.
Diese geringere Verordnung von umstrittenen Arzneimitteln im Bereich der KV Hessen ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass dort schon seit mehreren Jahren eine intensive Pharmakotherapieberatung der
Vertragsärzte stattfindet. Wir werden allerdings Rechtssicherheit schaffen, weil es uns nahegegangen ist, dass
Herr Bausch, der lange die KV Hessen geleitet hat, darunter gelitten hat, dass er angesichts der Rechtsunsicherheit Gefahr lief - entsprechende Androhungen gab es sich mit der Industrie vor Gericht treffen zu müssen, wenn
er solche Beratungstätigkeiten durchführt. Wir werden die
Ärzte nicht im Regen stehen lassen, sondern ihnen helfen.
Dafür werden wir eine rechtssichere Beratungsgrundlage
schaffen.
({8})
Sie sehen: Unsere Werkzeuge sind schon erprobt.
({9})
- Sie haben nicht zugehört.
({10})
Werfen wir einmal einen Blick auf Ihre Werkzeugkiste.
Da Sie von der Opposition so vollmundig erklären, Sie
wüssten alles genau und seien schon auf dem richtigen
Weg gewesen, dann müssten Sie mit Ihrem Gesetz eigentlich das bessere Werkzeug vorweisen können, ein
Werkzeug, das eine Entwicklung wie seinerzeit unter
Seehofer unmöglich macht. Sie erinnern sich sicherlich
noch daran, wie zu Herrn Seehofers Zeiten die Arzneimittelausgaben von 27,8 Milliarden DM auf 39,4 Milliarden DM gestiegen sind.
({11})
Man braucht Ihre Werkzeugkiste nur aufzumachen.
Darin findet man dann Werkzeuge mit dem Prädikat
mangelhaft. Böse Zungen sprechen gar von der Kategorie Weichei. Sie, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, würden damit keine Steuerung auf der
Kollektivebene vornehmen, keine Zielvereinbarungen für
Qualität und Wirtschaftlichkeit treffen, kein Controlling und
keine industrieunabhängige Beratung schaffen können.
Weil Ihre Werkzeuge schon von vornherein stumpf sind,
kommen Sie erst gar nicht - wenn man es bildlich sehen will
- an den Kern der eigentlichen Probleme heran. Es wäre gut,
wenn Sie Ihr Werkzeug austauschen und sich für unsere
Ausstattung, unser ABAG, entscheiden würden.
({12})
Fest steht: Ohne Steuerung geht es nicht. Alles in allem
ist belegt, dass bei Arzneimitteln in Deutschland nicht von
einer Unter-, sondern von einer Fehlversorgung gesprochen werden kann.
({13})
Ein rationelles Verordnungsverhalten der Ärzte würde zu
mehr Qualität, aber auch zu mehr Wirtschaftlichkeit
führen. Deswegen brauchen wir dieses Gesetz. Wir brauchen diesen neuen Weg, damit der Streit bei den Arzneimitteln nicht auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten ausgetragen wird.
({14})
Wir schaffen Sicherheit, Vertrauen und Hilfe für diejenigen, die uns dabei unterstützen.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Lohmann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gut,
Herr Schmidt, dass Sie bei der Gesundheitspolitik nicht
mitgewirkt haben, sonst wäre alles noch viel schlimmer.
Herr Schmidbauer, der über viele Jahre einer der
glühendsten Verfechter der Budgetierungspolitik war, hat
nun in seiner Rede nach den gemachten Erfahrungen mit
Tremolo in der Stimme von ganz neuen Rezepten gesprochen, die sich schon bewährt hätten, bevor sie überhaupt
in Kraft getreten sind.
({0})
Horst Schmidbauer ({1})
In der ersten Hälfte Ihrer umfangreichen Ausführungen, Herr Schmidbauer, haben Sie über ein Gesetz gesprochen - ich erinnere Sie daran -, das erst morgen von
Ihnen eingebracht werden soll.
({2})
Sie haben hier alles über das Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz vorgetragen. Vielleicht haben Sie für
morgen keine Redezeit bekommen. Das aber ist eine andere Frage. Jedenfalls konnten Sie Ihre Rede schon einmal vortragen.
({3})
Das Gesetz zur Ablösung des Arznei- und Heilmittelbudgets wäre ein wichtiger, wenn auch längst überfälliger
Schritt zur Abschaffung von Budgets gewesen. Allerdings
ist nach unserem Eindruck an diesem Gesetz einzig und
allein der Titel gut. Wie Sie wissen, tritt die CDU/CSU
aufgrund der Erfahrungen, die sie zwischen 1993 und
1996 mit diesem Instrument selbst gemacht hat, schon
länger für eine völlige Abschaffung der Budgets ein. Wir
haben die Budgets in allen Leistungsbereichen 1997 abgeschafft. Die Union hatte erfahren, dass Budgets auf
Dauer zur Rationierung und Einschränkung der ärztlichen
Therapierfreiheit sowie zur Beschränkung der ärztlichen
Freiberuflichkeit führen.
Diese Erfahrungen haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, weil Sie damals noch zu den Verfechtern des
Budgets gehörten. Sie haben - man kann es fast so sagen wie ein verstocktes Kind gesagt: Diese Erfahrung wollen
wir erst selbst machen. Wir werden jetzt das, was ihr aus
der Erfahrung heraus gemacht habt, nämlich Budgets abzuschaffen, rückgängig machen und Budgets wieder einführen.
({4})
Die Abschaffung der von uns eingeführten, die Budgets ablösenden Richtgrößen und die Einführung dieser
strengen - ich sage gelegentlich: brutalen - sektoralen
Budgets kann man sich im Grunde genommen nicht anders erklären, als dass es eben um den Erfahrungshorizont
ging. Was wollten Sie erreichen? Erreicht werden sollte
eine wirtschaftliche Verordnung bei Arznei- und Heilmitteln. Was ist letztendlich erreicht worden? Eine akute
Beeinträchtigung der Arzneimittelversorgung. Patienten
konnten nicht mehr entsprechend dem medizinischen
Fortschritt behandelt werden. Bei MS-Kranken, Krebskranken, Diabetikern und anderen kam es sogar zu einer
regelrechten Unterversorgung - kein Wunder also, dass
das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt, das
Vertrauen der Bürger in das System der gesetzlichen
Krankenversicherung und das Vertrauen der Bürger in die
Fähigkeiten der rot-grünen Bundesregierung auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik schwer beschädigt wurden.
Trotz alledem konnte die Budgetierung einen Ausgabenanstieg bei den Arzneimitteln nicht verhindern. 1999
wurde das Arznei- und Heilmittelbudget um 1,1 Milliarden DM und 2000 sogar um rund 1,5 Milliarden DM
überschritten. Also: Auf der einen Seite Vorenthaltung
von Leistungen und Rationierung - wir haben das immer
angesprochen - und auf der anderen Seite trotzdem eine
Überschreitung des Arzneimittelbudgets. Diese Erfahrung mussten Sie erst machen. Vor allem mussten Sie,
wenn sie sich einmal bei Ihren Kolleginnen und Kollegen
in den Wahlkreisen vor Ort erkundigt haben, das erst nach
Berlin bringen, bevor sie nun versuchen, auf diesem Wege
zu handeln.
({5})
Nun haben Sie angekündigt, das Budget rückwirkend
abzuschaffen. Darüber hinaus haben Sie nur den Kollektivregress im Auge gehabt und es deshalb versäumt, andere Möglichkeiten zu einer Verbesserung einer wirtschaftlichen Verordnungsweise zu erkennen. All das war
von vornherein abzusehen. Wir haben bereits im November 2000 einen Antrag zur Abschaffung der sektoralen
Budgets verfasst und ihn am 6. Februar in den Deutschen
Bundestag eingebracht.
Unmittelbar nach der Amtseinführung von Frau Ministerin Schmidt - sie konnte heute aus verständlichen, terminlichen Gründen nicht kommen; Frau Staatssekretärin
seien Sie so freundlich und geben Sie das, was ich an ihre
Adresse sagen muss, an sie weiter, vielleicht tun Sie das
ja gerne - hat sie am 31. Januar in einer Pressekonferenz
die Abschaffung der Arznei- und Heilmittelbudgets angekündigt. Da kam Hoffnung auf und mit der Hoffnung
auch die Versuchung - bzw. die Notwendigkeit, wenn
man davon ausgeht, dass vorher Leistungen vorenthalten
wurden -, das Versäumte nachzuholen. In der Folge stiegen die Arzneimittelausgaben sprunghaft an, allein im
ersten Halbjahr dieses Jahres um rund 11 Prozent; das ist
bereits gesagt worden. Die rot-grüne Bundesregierung,
Herr Schmidbauer, sollte für diese Entwicklung nicht die
Ärzte, Apotheker oder die Pharmaindustrie verantwortlich machen, sondern lieber über eigene Versäumnisse
nachdenken.
({6})
Es war ein schwerer Fehler, die rückwirkende Abschaffung der Budgets anzukündigen, ohne parallel geeignete Steuerungsinstrumente vorzusehen.
({7})
Ich sage ausdrücklich: parallel dazu! Es nützt nichts,
Steuerungsinstrumente vorzusehen, die irgendwann wirken. Herr Schmidbauer sprach sogar davon, sie wirkten
jetzt bereits - also noch bevor das Gesetz überhaupt in
Kraft getreten ist.
Sie haben eben den Arzneimittel-Report zitiert. Man
kann selbstverständlich aus dem Zusammenhang zitieren;
ich tue das auch. Professor Schwabe, der Mitherausgeber
des Arzneimittel-Reports, der weiß Gott nicht im Verdacht steht, die Gesundheitspolitik der Regierung zu unterstützen oder zu fördern, hat gestern Frau Ministerin
Schmidt vorgeworfen, sie habe durch ihr Handeln eine
Ausgabenlawine ausgelöst. Nicht Patienten, Ärzte, Apotheker oder Industrie seien für die Misere der GKV verantwortlich, sondern allein die Ministerin.
Wolfgang Lohmann ({8})
Es reicht eben nicht aus, sich nur freundlich durch das
entstandene Chaos zu bewegen. Man erwartet von der Ministerin ein konzeptionelles Denken und Handeln. Der
jetzt vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Ablösung des
Arznei- und Heilmittelbudgets erweist sich als Schnellschuss. Wir lehnen den Entwurf daher ab. Zwischenzeitlich vorgelegte Änderungsanträge, die am Mittwoch im
Ausschuss beschlossen worden sind, ändern nichts an unserer grundsätzlichen Haltung. Wir möchten den Patienten in den Mittelpunkt aller Überlegungen rücken.
({9})
Das geht nur, wenn der Patient darauf vertrauen darf, von
seinem Arzt die Medikamente verordnet zu erhalten, die
er aufgrund seines Krankheitsbildes benötigt.
Die Abschaffung der Budgets ist dafür zwar Voraussetzung. Der Gesetzentwurf suggeriert aber nur, dass eine
Abschaffung vorgesehen sei. Wenn man die Sache genauer betrachtet, kann man erkennen, dass der Entwurf
statt eines vorgegebenen Budgets nunmehr die Partner der
Selbstverwaltung ermächtigt, Ausgabenobergrenzen zur
Steuerung festzulegen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat nichts gegen
eine Flexibilisierung in den Organisationsstrukturen der
GKV. Auch die Stärkung von Selbstverwaltungsorganen, Herr Schmidbauer, kann man grundsätzlich nur begrüßen. Allerdings haben wir zunehmend den Eindruck,
dass die Regierung nur die politische Verantwortung für
die Steuerung der Arzneimittelausgaben auf die Selbstverwaltung abschieben will.
({10})
Kritisch ist in diesem Zusammenhang auch die weit gehende Kompetenzübertragung zu sehen. Bereits in der
Vergangenheit sind den KVen und den Krankenkassen bei
der Bewältigung ihrer Aufgaben erhebliche Schwierigkeiten entstanden. Das bestreitet heute doch niemand
mehr. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Selbstverwaltung strukturell und personell überhaupt so ausgestattet ist, um selbst bei gutem Willen auf allen Seiten
- der ist ja nicht selbstverständlich - die Fülle der anstehenden Entscheidungen zeitgerecht zu treffen.
Ein Beispiel ist die nunmehr beabsichtigte Einführung
einer Pflicht für die Vertragsärzte - Sie haben das eben erwähnt -, über preisgünstige verordnungsfähige Leistungen einschließlich der jeweiligen Preise und Entgelte zu
informieren bzw. zu beraten, nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu informieren und Hinweise zur Indikation und zum therapeutischen Nutzen zu geben. Völlig unklar ist bei diesem
Vorschlag, wie künftig Kassenärztliche Vereinigungen
sowie Krankenkassen und ihre Verbände diese Pflichtaufgabe personell erfüllen sollen. Betrachtet man die Zielsetzung, vergleichend über preisgünstige verordnungsfähige Leistungen einschließlich der jeweiligen Preise
zu informieren, tut sich eine Reihe von Fragen auf. Handelt es sich dabei etwa um Produktempfehlungen, die unter Beachtung des EU-Kartellrechts als rechtswidrig anzusehen sind? Oder schränkt man das Informationsrecht
unzulässigerweise nur im Hinblick auf das Billigsegment
ein?
Unklar ist auch die Umsetzung der vorgesehenen
Pflichtberatung der Vertragsärzte. Wer soll beraten?
Welche Ausbildung und welchen Kenntnisstand braucht
der Berater? Wann hat der Arzt für eine Beratung Zeit?
Was passiert, wenn er dieser Pflicht nicht nachkommt?
Wo findet die Beratung statt? - Fragen über Fragen, wo
Lösungen und Antworten wichtig wären! Auf die europaund verfassungsrechtlichen Einwendungen, die gegen die
Zielvereinbarungen erhoben werden, möchte ich dabei
nur hinweisen. Klar ist nur: Kostenneutral kann die Umsetzung nicht gelingen, und das bei einem Gesamtdefizit
von 5 Milliarden DM, von dem wir zurzeit mindestens
ausgehen.
In die gleiche Richtung läuft die im Gesetzentwurf enthaltene und ebenfalls nicht hinreichend konkretisierte Bonusregelung. Die Gefahr, dass eine Vereinbarung zulasten der Patienten vorgenommen wird, ist doch nicht von
der Hand zu weisen. Wie so das Vertrauen gestärkt werden soll, ist mir nach wie vor schleierhaft.
Das Beispiel macht deutlich, dass Rot-Grün angesichts
der jetzigen Situation im Gesundheitswesen Apothekern
und Pharmaindustrie den Fehdehandschuh hingeworfen
hat. Sie sollen für die Fehler rot-grüner Gesundheitspolitik einstehen. Den Apothekern wird mit Versandhandel gedroht. Der Apothekenrabatt wird erhöht. Der Pharmaindustrie werden Preissenkungen bzw. Preisabschläge
aufgezwungen. Neuerdings wird auch über einen Rabatt
diskutiert, über dessen Ausgestaltung und Wirkungsweise
man sich in der Regierung offenbar nicht im Klaren ist.
Man kann nur sagen - ich bitte, auch das der Frau Ministerin mitzuteilen -: Weiter so, Frau Schmidt! Sie schaffen es schon, den Wirtschafts- und Forschungsstandort
Deutschland zu ruinieren
({11})
und den wichtigsten Pfeiler unserer Marktwirtschaft,
nämlich den Mittelstand, zu zerstören.
({12})
- Herr Schmidt, wir haben das Budget abgeschafft und
auch die entsprechenden Instrumente eingeführt. Aber all
das haben Sie als Erstes wieder rückgängig gemacht. Sie
wissen das nicht mehr, weil Sie sich mit der Materie kaum
beschäftigen.
Die Krankenhausreform - die Ministerin hat in diesem
Zusammenhang vor wenigen Tagen von großen Gesetzen gesprochen - und die Reform des Risikostrukturausgleichs werden auch zu höheren Ausgaben der Kassen
führen. Beitragsstabilität lässt sich mit diesen Gesetzen
mit Sicherheit nicht erreichen, geschweige denn, dass
man über eine Senkung der Beiträge sprechen könnte. Allein von 1998 bis heute hat Rot-Grün mit Leistungsausweitung, Bürokratisierung, Reglementierung und Verschiebebahnhöfen der GKV Mehrbelastungen in Höhe
von 5 Milliarden DM aufgebürdet. Nun dafür andere verantwortlich zu machen ist nach unserer Auffassung nicht
redlich.
({13})
Wolfgang Lohmann ({14})
Man kann der Ministerin nur raten, endlich den Mut für
ein umfassendes Konzept zur Gesundheitsreform zu fassen; denn erst wenn ein Konzept vorliegt, können wir beurteilen, ob ihre Trippelschritte und ihre Trostpflaster, die
sie zurzeit verteilt, überhaupt in ihr eigenes Konzept passen.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
({0})
Ein letzter Satz. - Es bleibt als Fazit ein Satz, den mir
nicht Frau Schmidt-Zadel aufgeschrieben hat, sondern
den ich mir selbst zurechtgelegt habe: Der Titel ist gut
- ich sagte es eingangs; bei meinen Reden schließt sich
der Kreis meist -, aber wie in vielen anderen Bereichen
des Lebens gilt auch hier: Was draufsteht, muss auch drin
sein. Weil das nicht gegeben ist, können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Monika Knoche.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Es war eine Art Themenpotpourri, das Sie aufgemacht haben, um irgendwie ein paar Kritikpunkte zusammenzukratzen.
({0})
Am konkreten Gesetzentwurf haben Sie sich ganz wenig
aufgehalten. Ich verstehe das auch, weil es daran eigentlich nicht viel zu mäkeln gibt. Herr Lohmann, mir war
nicht klar, auf was genau Sie Ihre Kritik fokussieren. Wollen Sie mehr dirigistischen Staat
({1})
oder mehr Selbstverwaltung
({2})
oder völlig freie Hand bei der Arzneimittelverordnung
({3})
ohne staatliche Aufsicht und Selbstregulierung? Ich bin
daraus nicht ganz schlau geworden.
Die Budgetierung ist sehr heftig kritisiert worden.
Wenn wir schon in die Historie gehen: Sie wissen noch,
dass die Ablösung der sektoralen Budgets der eigentliche Gedanke war.
({4})
Wie Sie wissen, braucht man die Zustimmung des Bundesrats dazu. Die hatten wir nicht. Von daher waren andere Lösungen zu finden.
Am allermeisten wurde der Kollektivregress kritisiert.
Wenn ich daran denke, welche Kategorien heutzutage für
erfolgreiche Regierungspolitik erfunden werden, dann
kann ich nur sagen: Es herrscht auch dann schon eine
enorme Geschichtsvergessenheit, wenn es sich um Prozesse handelt, die nur zwei, drei Monate alt sind.
({5})
Als die neue Ministerin unserer Regierungskoalition
angetreten ist, gab es eine Instrumentalisierung der Patientinnen und Patienten in den Praxen, um diesen Kollektivregress zu diskreditieren. Sie hat dann gesagt: Ich baue
auf den guten Erfahrungen auf, die innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen unter Budgetbedingungen
gemacht worden sind. - Nahezu die Hälfte der KVen
konnte nämlich unter dem Budget alles Notwendige verordnen und im oder sogar unterhalb des Budgets bleiben.
Die Ministerin war der Auffassung: Jawohl, es ist mir lieber - mir übrigens auch! -, nicht zu viele staatliche Vorgaben zu machen, sondern es der Ärzteschaft zu überlassen, in ihrer eigenen Verantwortung ein Regelwerk zu
finden, das die medizinische Versorgung inklusive der
Arzneimittelverordnung im Rahmen der Beitragssatzstabilität gewährleistet. - Deshalb ist sie dazu gekommen,
dass die Selbstverwaltungsregelung greifen soll.
Die Richtgrößen sind heute so angelegt, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen dem jeweiligen Bedarf der
einzelnen Praxen Rechnung tragen können. Es gibt Flexibilisierungslösungen.
({6})
Es gibt Möglichkeiten, Praxisbesonderheiten zu berücksichtigen, ohne dass ein Regress entsteht.
({7})
Das ist insbesondere deshalb erforderlich, weil im ambulanten Bereich sehr viele chronisch Kranke zu versorgen
sind, nicht zuletzt deswegen, weil nicht so lange stationär
behandelt werden soll. Es sind also alle Spielräume da, sodass die Ärzteschaft ihre hohe Verantwortung wahrnehmen kann. Der Gesetzgeber ist dabei sozusagen stützend
tätig, greift aber nicht dirigistisch ein.
Was wollen Sie als CDU/CSU daran noch kritisieren?
({8})
In diesem Verfahren ist ein Schiedsgericht installiert,
durch das sichergestellt werden kann, dass die VereinbaWolfgang Lohmann ({9})
rungen auch greifen. Es werden neue Angebote etabliert.
Über Preisvergleichslisten wissen die Ärztinnen und
Ärzte, welche Wirkstoffe sie bei welchem Krankheitsbild
verordnen können, um ihrem Versorgungsauftrag gerecht
zu werden. Alles das ist in diesem Gesetzentwurf aufgenommen.
({10})
- Nein, da haben Sie die Vorlage für die heutige Beratung
nicht exakt gelesen, vielleicht auch die Änderungsanträge
nicht zur Kenntnis genommen.
Fakt ist, dass die Ärztinnen und Ärzte im Rahmen der
Selbstverwaltung - Krankenkassen und KVen - eine Liste
bekommen, in der nicht nur Wirkstoffe, sondern auch
Preise genannt werden,
({11})
sodass sie bei ihren Verordnungen aufgrund der sehr zeitnahen Datenaufbereitung genau wissen, wie sie sozusagen in ihrem Budget liegen.
Damit ist das Primat erfüllt, dass die Selbstverwaltung
die Vorfahrt hat und der Staat sich darum kümmert, dass
eine qualitativ gute Arzneimittelversorgung gewährleistet
wird. Wir müssen wie jede Regierung berücksichtigen,
dass die Pharmaindustrie naturgemäß versucht, über viele
Verordnungen den Arzneimittelmarkt aus der Praxis heraus zu erweitern. Das ist ein legitimes Interesse. Wir als
Politiker haben aber die Aufgabe, in diesem durchaus
komplizierten Spiel von freier Wirtschaft und solidarischer gesetzlicher Krankenversicherung dafür zu sorgen,
dass unter Beachtung der Beitragsstabilität Innovationen
im Arzneimittelmarkt erfolgen und keine übermäßigen
Verordnungen Platz greifen. Das, denke ich, ist in diesem
Gesetz gut gelungen.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Endlich ist es so weit! Zu dieser erleichternden Überzeugung könnte man kommen, Frau
Schmidt-Zadel, wenn man die Überschrift des Gesetzentwurfes liest: Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz. Hat
die Gesundheitsministerin also verstanden? Ordnet sie
die Budgetierung endlich unter die staatsdirigistischen
Zwangsinstrumente ein, die nur zur Rationierung, zu willkürlichen Leistungseinschränkungen zulasten der Patienten, zur Fremdbestimmung der Ärzteschaft führen?
({0})
Nein. Frau Schmidt-Zadel, wenn Sie Shakespeare gelesen
haben: Wieder mehr Schein als Sein.
({1})
Warum haben Sie nicht den Mut, das Ganze vernünftig
neu zu gestalten? Warum richten Sie die Grundlagen dieses Gesetzes nicht endlich an den medizinischen Notwendigkeiten, am tatsächlichen medizinischen Bedarf aus?
({2})
Statt die arztgruppenspezifischen Richtgrößen zum bestimmenden Faktor zu machen und auf dieser Ebene festzulegen, was notwendig ist, um die Patienten in ausreichendem Maße mit Arzneimitteln und Heilmitteln zu
versorgen, wie das auch die Idee der Leitlinien vorgibt,
wird das Ausgabenvolumen zur bestimmenden Größe
gemacht. Das Ausgabenvolumen ist aber im Prinzip
nichts anderes als das heutige Arzneimittelbudget.
Das konnte man auch eindeutig einem ddp-Interview
mit der Gesundheitsministerin entnehmen. Darin spricht
sie unverblümt nur noch von einer Neuordnung des Arznei- und Heilmittelbudgets. Von Abschaffung ist schon
gar nicht mehr die Rede. Sie bezeichnet das Ganze sogar
als großen Reformschritt.
Diese Erkenntnis bestätigt sich auch insofern, als für
den Übergang auf die Ausgabenvolumina vorgesehen ist,
dass die Budgets des Jahres 2001 zur Grundlage gemacht
werden. Wenn Vereinbarungen in die Schiedsstelle gehen - Frau Knoche, dieses Instrument haben Sie gerade
gelobt -, wird dieser gar nichts anderes übrig bleiben, als
auf die alten Werte zurückzugreifen.
({3})
Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Veränderungen in der Zahl oder Struktur der Versicherten oder
durch Markteinführung innovativer Arzneimittel zwar
berücksichtigt werden sollen, jedoch wiederum nicht auf
der Ebene der Richtgrößen, die für den einzelnen Arzt
von entscheidender Bedeutung sind, sondern auf der
Ebene der Ausgabenvolumina.
Die Praxis wird nach unserer Überzeugung dazu
führen, dass die Ärzte nun zwar nicht mehr mit einem
- im Übrigen ohnehin nicht vollziehbaren - Kollektivregress zu leben haben, wohl aber mit einem viel stärker bedrückenden Instrument, nämlich den Richtgrößen, die
nicht aufgrund medizinischer Notwendigkeiten bestimmt
werden, sondern nach einem nach bestimmten Kriterien
aufgeteilten Aufgabenvolumen.
In der Begründung zu § 84 Abs. 1 heißt es - ich zitiere -:
Versorgungsziele
- die von den Spitzenverbänden und der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung vorgegeben werden sollen zum Beispiel die eingeschränkte Verordnung
von Arzneimitteln mit nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht
oder nicht ausreichend nachgewiesener therapeutischer Wirksamkeit zum Gegenstand haben.
Das bedeutet nichts anderes, als dass die Selbstverwaltung bestimmte Arzneimittel von der Verordnung de facto
ausschließen soll.
({4})
Wie passt das mit der Rechtsprechung zusammen, die
dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen eine
solche Kompetenz abgesprochen hat und dies auf der
Ebene der Vertragspartner, Krankenkassen und Ärzte sicherlich nicht anders sehen wird?
Fazit: An den Kritikpunkten haben auch die im Gesundheitsausschuss eingebrachten Änderungsanträge aus
unserer Sicht nichts geändert. Es bleibt deshalb dabei: Die
FDP ist für die Abschaffung des Arznei- und Heilmittelbudgets. Sie ist aber gegen diesen Gesetzentwurf. Er führt
im Endeffekt nur dazu, dass es nach wie vor zu einer Rationierung in den Arztpraxen kommt, die die Ärzte auf
dem Rücken ihrer Patienten verantworten sollen.
({5})
Als letzte Rednerin in der Debatte hat die Abgeordnete Ruth Fuchs das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gestern wurde der Arzneimittel-Report vorgestellt. Er hat erneut bestätigt: Im Arzneimittelbereich gibt es vermeidbare Ausgaben in Milliardenhöhe.
({0})
Das heißt schlicht und einfach: Rot-grüne Gesundheitspolitik hat auf diesem Gebiet - jedenfalls bis heute - noch
nichts Positives gebracht.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, Ihrem an die Entwicklung der Grundlohnsumme gebundenen Arzneimittelbudget lag die Vorstellung, besser gesagt: die Hoffnung zugrunde, dass sich mit
rigorosen Mittelverknappungen eine rationellere Verordnungsweise erzwingen lässt. Das hat sich als Trugschluss
erwiesen.
({2})
Dieses Vorgehen führte nicht nur zur Vermeidung von
Überflüssigem, sondern auch zur Rationierung von medizinisch Notwendigem. Dies hat zur Folge: Die Ärzte
werden in Gewissenskonflikte gebracht, Patienten werden verunsichert und das Arzt-Patient-Verhältnis wird erheblichen Belastungen ausgesetzt. Das ist eine Entwicklung, die niemand wollte und die beendet werden muss.
({3})
Wir halten es deshalb für richtig, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das bisherige sektorale Budget und
der Kollektivregress abgeschafft und durch regionale
Ausgabenobergrenzen sowie Richtgrößen ersetzt wird.
Wir begrüßen auch die Absicht, der Selbstverwaltung
größere Verantwortung zu übertragen und mehr Gestaltungsspielräume zu geben. Ohne Frage haben die KVen
die Verpflichtung zu einer wirtschaftlichen Versorgung
und sie müssen sich dieser engagiert stellen.
({4})
Allerdings kann Ihnen niemand die Verantwortung für
eine bedarfsgerechte und qualitativ hoch stehende Therapie abnehmen.
({5})
Zur Qualität gehört nicht nur, Unnötiges oder Fragwürdiges zurückzudrängen, sondern auch, bestehende medikamentöse Unterversorgung, wie es sie bei Hochdruckpatienten, Diabetikern oder psychisch kranken Patienten gibt,
zu überwinden.
({6})
Zweifellos trägt das Gesetz dazu bei, für die Selbstverwaltung verbesserte Rahmenbedingungen zur Bewältigung dieser Aufgaben zu schaffen. Wir halten es insbesondere für wichtig, dass die KVen die notwendigen
Informationen jetzt schneller erhalten und dass ihre eigenen Informations- und Beratungsrechte über wirtschaftliche Arzneimitteltherapien und Preisvergleiche gestärkt
werden. Eine überzeugende Grundlage für eine wirksame Ausgabensteuerung - ganz im Sinne einer rationellen Arzneimitteltherapie - ist der Gesetzentwurf allerdings noch nicht. Dazu gehört mehr. Ich nenne nur die
unzureichende rechtliche Grundlage für Festbeträge und
Arzneimittelrichtlinien sowie die noch immer fehlende
Positivliste.
({7})
Leider hat die Ministerin den Fehler gemacht, die Budgetabschaffung anzukündigen, ohne eine sinnvollere
Ausgabensteuerung sofort parat zu haben. Das trug aus
meiner Sicht zum gegenwärtigen Anstieg der Arzneimittelkosten wesentlich bei.
Auch deshalb ist zu begrüßen, dass auf der Grundlage
einer Bundesempfehlung von Ärzteschaft und Krankenkassen inzwischen in nahezu allen KV-Bereichen Zielvereinbarungen zur Steuerung der Arznei- und Verbandsmittelausgaben abgeschlossen wurden. Ob die
vorgeschalteten Aktivitäten ebenso wie das neue Gesetz
tatsächlich greifen werden, bleibt jedoch abzuwarten.
Skepsis ist angezeigt. Dass Sie selbst, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Regierungskoalition, das genauso
sehen, zeigt eigentlich die Tatsache, dass wir morgen zu
genau diesem Thema einen weiteren Gesetzentwurf auf
den Tisch bekommen, mit dem Sie das, was wir heute besprochen haben, korrigieren.
({8})
Wir werden uns damit erst morgen auseinander setzen, obwohl es in diesem Bereich bereits heute Verwischungen gab.
Wir von der PDS sagen zu dem heute zur Abstimmung
stehenden Gesetzentwurf: Mehr als eine Enthaltung ist
nicht drin.
({9})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
gebrachten Entwurf eines Arzneimittelbudget-Ablö-
sungsgesetzes. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Entwurf ei-
nes Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetzes in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Fraktion der
PDS angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Gesundheitsausschuss, den Entwurf eines Arzneimittel-
budget-Ablösungsgesetzes der Bundesregierung auf
Drucksache 14/6880 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist damit
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Schauerte, Wolfgang Börnsen ({0}), Hansjürgen Doss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für ein modernes Wettbewerbs- und Kartellrecht in Europa
- Drucksache 14/6634 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht des Bundeskartellamts über seine
Tätigkeit in den Jahren 1999/2000 sowie über
die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 14/6300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Rechtsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Hildebrecht Braun ({3}), Jörg van
Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Bundeskartellamt personell stärken
- Drucksache 14/5575 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Haushaltsausschuss
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann verfahren
wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Schauerte.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir
sprechen wieder einmal über Wettbewerb. Man kann gar
nicht oft genug über Wettbewerb sprechen; denn er ist das
Element, das die Wirtschaft voranbringt und Erfolge ermöglicht.
Die CDU/CSU-Arbeitsgruppe Wirtschaft hat gestern
einen Entschließungsantrag zum Bericht der Monopolkommission vorgelegt. Diesen und auch den Bericht der
Monopolkommission hätten wir heute gern mit diskutiert.
Leider ist unser Antrag - obwohl der Kollege Jens, dem
wir das vorgelegt hatten, außerordentlich freundlich war abgelehnt worden. Die Ablehnungsgründe sind in außerordentlich freundlicher Weise vorgetragen worden. Auch
wir haben uns jede unverschämte Bemerkung gespart.
Die Ablehnung sollte uns daran hindern, auch etwas
zur Monopolkommission zu sagen. Ich sage Ihnen jedoch:
Wir lassen uns nicht daran hindern, wir sprechen sowohl
zum Wettbewerbsrecht als auch zur Monopolkommission. Lassen Sie mich nun einige Bemerkungen dazu machen.
Erstens. Die Monopolkommission hat einen Bericht
für die Jahre 1998 bis 1999 vorgelegt. Das war also noch
in der jungfräulichen Zeit der jetzigen Regierung. Ich befürchte, dass dies, bei aller Kritik, ein noch einigermaßen
freundlicher Monopolbericht war. Der Nächste wird
fürchterlich; denn die Hauptsünden gegen den Wettbewerb und die Liberalisierung sind erst in den Jahren 1999,
2000 und 2001 begangen worden.
({0})
Nun zum wesentlichen Inhalt: Die Monopolkommission - kein Gremium, das die CDU/CSU eingerichtet hat
oder das von ihr beherrscht würde, sondern es entstammt
handverlesen Ihrer Verantwortung - beklagt, die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation sei bedroht. Sie hat Recht. Wir haben
heute Nachmittag eine Debatte dazu gehabt und teilen
diese Sorge. Wir lehnen wie die Monopolkommission die
zwischenzeitlich erfolgte Verlängerung der Exklusivlizenz der Deutschen Post für die Briefbeförderung ab - ein
Schlag gegen den Wettbewerb, ein Schlag gegen die Investoren. Diese hatten sich in diesem Feld engagiert und
darauf gebaut, dass die Fristen eingehalten werden. Am
Ende jedoch wird nicht der Kleine geschützt, sondern den
Großen das Monopol verlängert. - Eine sehr ärgerliche
und für viele existenzvernichtende Entscheidung.
Wir haben ernste Bedenken bezüglich der Politik gegenüber der Deutschen Telekom. Nicht die Exmonopolisten, sondern die Verbraucher und die potenziellen
Mitbewerber brauchen die Unterstützung der Wettbewerbspolitik. Ich weiß nicht, ob der Finanzminister gegenüber der Telekom etwas gutmachen will, weil er diese
Branche bei den UMTS-Lizenzen zu Summen getrieben
hat, die von den Preisen her am Ende nicht bezahlbar ist.
Wir werden es erleben. Es gibt mittlerweile interessante
Rechnungen: Der Finanzminister soll infolge von Kursverlusten nach diesen Operationen bei der Telekom
größere Aktienverluste gehabt haben - die Aktien liegen
ja zum großen Teil bei ihm -, als er bei der Versteigerung
an Ertrag erzielt hat. Allein der Kursrückgang bei der Telekom in den letzten Monaten soll sich für ihn auf 52 Milliarden Euro belaufen. Das kommt dabei heraus, wenn
man den Hals nicht voll bekommt und die moderne Telekommunikation - wie in keinem anderen Land der Welt durch eine Preisgestaltung, die schon atemberaubend ist,
in ihrer Existenz gefährdet.
({1})
- Passen Sie einmal auf und halten Sie sich fest. - In keinem Land der Welt wurde die UMTS-Lizenz so verteuert
wie in Deutschland. Sie waren an dieser Stelle wirklich
ein Trittbrettfahrer; denn Sie waren sogar gegen die Liberalisierung der Märkte.
({2})
- Nein, nein. Wir fahren Straßenbahn zusammen. Das ist
gar kein Thema.
({3})
- Ja, ja, Sie werden schon erleben, was Ihnen dabei passiert.
({4})
Ich kann Ihnen nur ganz ruhig sagen: Sie sind Trittbrettfahrer dieser Aktion gewesen und haben die Preise
gnadenlos ausgereizt.
Wenn Sie die Bevölkerungszahlen, die Marktpotenziale und die Preisgestaltungen bei den UMTS-Lizenzen
europa- und weltweit untersuchen, stellen Sie fest, dass
der deutsche Preis um einen Faktor x höher liegt als in
anderen Ländern.
({5})
- Es waren ja zum Teil auch die von Ihnen geschützten
Monopolunternehmen, die glaubten, sie könnten das bezahlen. Nun sind sie in den Brunnen gefallen und Sie verlängern ihr Monopol, damit der Schaden nicht ganz so
groß wird. So ähnlich läuft das.
({6})
Darüber hinaus ist aber auch - das mahnt die Kommission an - eine institutionelle Wettbewerbspolitik aus
einem Guss und keine weitere Sektoralisierung erforderlich. Wir haben eine Reihe von Anträgen eingebracht, wonach die Anzahl der Regulierungsbehörden begrenzt gehalten werden soll. Wir möchten die Übersicht behalten.
Wir wollen nicht bei der Bahn, der Bundeswehr, der Telekom, der Post und ich weiß nicht, wo überall noch, eine
Regulierungsbehörde haben. Alles, was reguliert werden
muss, gehört unserer Meinung nach ganz konsequent, zuverlässig und berechenbar in die Zuständigkeit des Kartellamtes.
({7})
Es drohen Regulierungen bei Strom und Gas. Überall,
wo man hinschaut, sprießen Regulierungsbehörden aus
dem Boden. Das alles ist dem Ministerium unterstellt und
politisch beeinflusst. Wir wollen die Unabhängigkeit des
Kartellamtes nutzen, um faire und verlässliche Rahmenund Wettbewerbsbedingungen für all das zu erreichen,
was reguliert werden muss.
({8})
Einiges muss reguliert werden, da gibt es überhaupt kein
Vertun.
Das Bundeskartellamt ist - wie gesagt - unsere erste
Wahl. Ich bitte Sie herzlich, sich diesem Thema ein wenig
zu nähern. Das gilt, so wie ich es gerade für Gas und
Strom gesagt habe, auch für den diskriminierungsfreien
Zugang zum Schienennetz. In allen Bereichen muss eigentlich derselbe Grundansatz herrschen.
Auf den Energiemärkten gibt es eine große Fehlentwicklung: Mit der Liberalisierung des Energiemarktes
haben wir für den Standort Deutschland einen Vorteil von
etwa 30 Milliarden DM pro Jahr erwirtschaftet. Das war
mehr, als wir uns über die jahrlang diskutierten Steuerreformen vorgenommen hatten. Von diesem Standortvorteil
in Höhe von 30 Milliarden DM, der Deutschland unglaublich gut bekommen ist, wurden mittlerweile etwa
zwei Drittel durch künstliche und politisch bedingte
Preiserhöhungen auf den Energiemärkten wieder verbraucht,
({9})
als wäre das Ganze nur ein Schelmenspiel gewesen. Sie
handeln nach der Methode: In Deutschland muss die
Energie verteuert werden. Das ist der falsche Ansatz. Wer
hohe Löhne zahlen will, kann nicht auch noch hohe Preise
haben. Das ist der richtige Ansatz.
({10})
Wir als Union haben die Abschaffung von Rabattgesetz
und Zugabeverordnung immer begrüßt.
({11})
Wir haben dies allerdings mit der klaren Aufforderung
verbunden, ein europäisches Kartellrecht ein europäisches Lauterkeitsrecht, auf den Weg zu bringen. Nichts
ist geschehen.
Der Herr Müller kommt nun einmal aus einem Bereich,
in dem er nie Erfahrungen mit dem Wettbewerb gemacht
hat; er hatte immer nur mit Großkonzernen und Monopolen zu tun. Wir haben ihm schon ein wenig beigebracht, es
wird aber nicht reichen. Es klappt nicht, er kapiert es
nicht.
({12})
Er lässt es laufen.
({13})
Er ist wirklich so wettbewerbsfaul, wie es noch nie ein
Wirtschaftsminister in der Bundesrepublik Deutschland
war.
({14})
- So ist es, deswegen leisten ihm in Berlin sehr wahrscheinlich eine Menge Leute Abbitte. Sie sagen, nachdem
sie jetzt Müller kennen gelernt haben, dass der Rexrodt so
schlecht gar nicht gewesen sein kann. Das wird sehr wahrscheinlich zum Erfolg für die Berliner FDP führen. Der tut
mir ein bisschen, aber nur ein bisschen, weh.
({15})
Ich komme zum europäischen Kartellrechtsverfahren. Wir sind uns in den Zielen einig, in ihnen lassen wir
uns von niemandem überbieten. Wir sind einvernehmlich
der Meinung, dass ein hoher Wettbewerbs- und Verbraucherschutz, eine hohe Rechtssicherheit und eine hohe
Rechtskohärenz für die Unternehmen gelten müssen. Die
Innovation, die Wettbewerbsfähigkeit und der Standort
Deutschland müssen gestärkt werden. Die dezentralen
wirtschaftlichen Strukturen dürfen nicht benachteiligt
werden. Bei all dem gibt es überhaupt kein Vertun. Die
Frage ist, was zielführend ist, um dahin zu kommen.
Wir sind der Meinung, dass wir auch wegen der Osterweiterung der Europäischen Union an dem bisherigen
System der europäischen Wettbewerbsbehörde nicht festhalten können. Wir folgen ihr in dem Reformansatz, die
Legalausnahme zu ändern. Wir sind auch bereit, die Sanktionen gegen Verstöße zu verschärfen; damit haben wir
kein Problem. Aber heute werden nicht einmal 20 Prozent
der Anmeldungen bei der europäischen Wettbewerbsbehörde auch nur bearbeitet. Was soll es dann? Wenn in
weniger als 20 Prozent aller Fälle eine Bearbeitung erfolgt, dann bedeutet dies ein Festhalten an der kritisierten
Praxis. Ich weiß nicht, was man dort bezweckt. Will man
Datenfriedhöfe sammeln, in denen man lustlos herumstochern kann? Dabei kommt nichts heraus. Mir ist viel
wichtiger, dass diejenigen, die Probleme haben, einen Anspruch auf eine Rechtsauskunft bekommen, damit sie erfahren, ob ihr Vorgehen rechtmäßig oder rechtswidrig ist.
Das ist zielgerichtet; alles andere ist ein falscher Weg.
Lassen Sie mich noch kurz ein paar andere Dinge ansprechen, zum einen den FDP-Antrag, das Kartellamt
personell zu stärken.
({16})
- Wir haben im Ausschuss einen Antrag gestellt. Sie
haben mit uns zusammen für diesen Antrag gekämpft. Er
ist im Ausschuss abgelehnt worden. Nun haben Sie einen
ähnlichen Antrag im Plenum gestellt.
Wir wollten 40 neue Stellen für das Kartellamt und haben sogar exakt beschrieben, welche Stellen wir für wichtig halten. Ich kann nur hoffen, dass Sie den Wettbewerb
ernst nehmen, lieber Herr Kollege Jens, und dann auch für
eine Personalverstärkung sorgen werden. Wir haben dem
Kartellamt etliche neue Aufgaben übertragen, und wir
wollen, dass der Wettbewerb schärfer kontrolliert wird
und Verstöße klarer geahndet werden. Außerdem verfügt
das Kartellamt noch über den großen Charme, dass es
mehr als rentierlich arbeitet, wenn es Bußgelder verhängt.
Es hat nur den Fehler, dass die Einnahmen aus den Bußgeldern bei Eichel landen, während die Kosten für das
Kartellamt beim Wirtschaftsminister Müller bleiben.
({17})
Hier bekommen wir keine Kongruenz hin; aber Sie könnten ein bisschen helfen, indem Sie einfach mit Eichel reden. Mit einer Personalverstärkung in der Kartellbehörde
täten Sie dem Gesamthaushalt und auch der Wettbewerbspolitik etwas Gutes.
Ich wollte heute Abend nicht meine gesamte Redezeit
ausschöpfen und lasse jetzt 20 Sekunden übrig.
Ich bedanke mich.
({18})
Ich danke Ihnen für
die 18 Sekunden und gebe das Wort dem Kollegen Uwe
Jens, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wir haben hier natürlich schon zu späterer
Stunde diskutiert. Ich fand es sehr nett vom Kollegen
Schauerte, dass er das Haus ein bisschen zum Schmunzeln
gebracht hat. Wir haben es hier heute mit einer trockenen
Materie zu tun, die niemanden vom Stuhl reißt. Gleichwohl ist sie sehr wichtig; das ist meine feste Überzeugung. Gerade in unserer Zeit ist sie wichtig, denn wir
haben in der gesamten Wirtschaft Probleme mit der Stimmungslage. Die Lage insgesamt ist etwas besser als die
Stimmung, die miserabel ist. Um die Stimmung zu verbessern, reicht es aus meiner Sicht nicht aus, wie
Erhard gut zuzureden, sondern es kommt schon darauf an,
dass wir die Marktöffnungs- und Liberalisierungspolitik, die wir eingeleitet haben, fortsetzen und Fakten verändern.
In diesem Zusammenhang danke ich der EU-Kommission. Sie hat es wirklich verdient, einmal positiv erwähnt
zu werden; das gilt insbesondere für Herrn Monti. Er hat
ebenso wie sein Vorgänger van Miert sehr viel getan, um
bei uns die Märkte in Bewegung zu bringen. Es ist ein
großer Irrtum, zu glauben, man könne etwa durch Kontrolle oder durch Bürokratie etwas verändern. Das einzige
Instrument, das zur Änderung beiträgt, ist die Einführung
eines kräftigen Wettbewerbs.
({0})
- Beifall von der falschen Seite.
({1})
- Nein, dafür schäme ich mich überhaupt nicht. Wir
Sozialdemokraten haben uns nun wirklich schon immer
massiv für Wettbewerb eingesetzt.
({2})
Wir haben 1957 Erhard dabei unterstützt, vernünftige Gesetze zu machen, als die CDU/CSU-Fraktion, zum Teil
geleitet durch den Bundesverband der Deutschen Industrie, ihn nicht mehr unterstützt hat. Das geht alles auf die
Sozialdemokraten zurück. Aber das ist eine lange Geschichte. Wenn ich sie erzählte, würde ich meine Redezeit
überziehen. Ich will sie hier also nicht ausbreiten.
Die EU-Politik hat auf den Märkten für Telekommunikation, Postdienstleistungen, Elektrizität und Gas wirklich etwas bewegt. Das ist hervorragend. Die Preise sind
nach unten gegangen; das ist positiv. Gleichwohl bin ich
der Meinung, Herr Kollege Schauerte, wir mussten die
Nachhaltigkeit, die Sustainability, verstärkt vorantreiben.
Das hat natürlich auch ein wenig zur Preissteigerung beigetragen, aber das war unvermeidlich.
Auf dem Gasmarkt muss jetzt in der Tat auf nationaler
Ebene etwas passieren. Wir beraten zurzeit noch das Energiewirtschaftsgesetz. Wir brauchen hierfür keine Regulierungsbehörde - das wäre aus meiner Sicht völlig falsch;
das will auch niemand -, sondern das Kartellamt. Dazu
sind zwei Maßnahmen nötig. Wir müssen es zum einen
materiellrechtlich besser ausstatten. Wir brauchen zum
Beispiel eine Ex-ante-Regelung für die Entgeltfestsetzung, das Verbot einer aufschiebenden Wirkung bei Unterlassungsverfügungen und die Umkehr der Beweislast.
Das ist notwendig, um die Kontrolle des Gasmarktes, aber
auch des Elektrizitätsmarktes durch das Kartellamt durchführen zu lassen.
Herr Kollege Schauerte, wir brauchen auch keine
40 neuen Posten. Wir brauchen - damit ist Herr Böge völlig einverstanden - unter Umständen nur vier oder fünf
neue Posten, die diese Aufgaben dann übernehmen. Das
reicht völlig aus. In diesem Sinne werden wir auch noch
einmal mit Eichel reden.
Falsch ist es aus meiner Sicht auch, immer darauf zu
verweisen, dass wir unsere Märkte nur öffneten, wenn andere dies auch täten. Das nennt man - ein schrecklicher
Ausdruck - Reziprozitätsklausel. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt: Wettbewerb per se ist positiv. Davon sind
wir wohl alle überzeugt. Er bringt Dynamik in den Markt,
fördert die Innovationen, bringt Preissenkungen für die
Verbraucher und positive Effekte für kleine und mittlere
Unternehmen. Deshalb scheint es mir sehr sinnvoll zu
sein, wenn wir manchmal mit der Öffnung der Märkte
voranschreiten, ohne darauf zu bestehen, dass andere das
auch tun.
In einem anderen Punkt, zu dem ich mich kurz äußern
möchte und den Herr Kollege Schauerte auch angesprochen hat, unterscheiden wir uns elementar von der CDU.
Es geht um das so genannte System der Legalausnahmen.
Die EU-Kommission will in Zukunft bestimmte horizontale Kartelle nicht mehr angemeldet wissen, sondern sie
sollen gewissermaßen per Gesetz sanktioniert werden.
Man kann sie erst einmal praktizieren; ob sie später vielleicht als wettbewerbswidrig eingestuft werden, ist eine
zweite Frage.
Dies ist aus meiner Sicht und aus Sicht der Sozialdemokraten ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Wenn
jemand dafür kämpfte - wir Sozialdemokraten haben
auch dafür gekämpft -, dass es per se ein Verbot von Kartellen, insbesondere von horizontalen Kartellen, gibt,
dann war es der später in die CDU eingetretene ehemalige
Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard. Er setzte sich
wirklich massiv für ein Kartellverbot per se ein.
({3})
Jetzt soll es aufgehoben werden. Herr Schauerte hat gesagt, er sei auch dafür, dass das passiert.
({4})
Jetzt wird es erheblich aufgeweicht. Die Monopolkommission ist ganz anderer Ansicht. Wir Sozialdemokraten
sind auch anderer Ansicht.
({5})
- Das ist ja schön. Dann macht einmal unter euch aus,
welcher Ansicht ihr denn nun seid.
({6})
Ich finde, das ist wirklich schlimm. Wenn Ludwig
Erhard davon erfahren könnte, dann würde er sich im
Grabe herumdrehen, und zwar mindestens zweimal, weil
hier das Prinzip, das er erkämpft hat, aufgeweicht wird.
Das ist keine vernünftige Entwicklung. Man muss wirklich sagen: Überlegen Sie sich das noch einmal; das können Sie so wirklich nicht gemeint haben.
({7})
Herr Kollege Jens,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schauerte?
Bitte sehr.
Bitte sehr, Herr
Schauerte.
Sehr verehrter Herr
Kollege Jens, so wie Sie es gesagt haben, habe ich es wirklich nicht gemeint.
({0})
Sind Sie mit mir einer Meinung, dass eine Sache verboten
sein kann, ohne dass man sie vorher anmelden muss? In
der Regel werden Verbotstatbestände nicht anmeldepflichtig gemacht. Man hat sie vielmehr zu beachten.
Nach meinen Ausführungen soll das Kartellverbot im
vollen Umfang bestehen bleiben; man muss ein Kartell
nur nicht mehr anmelden.
({1})
Wo ist es denn sonst üblich, dass man etwas anmelden
muss, wenn man dagegen verstoßen will? Das ist eher die
absolute Ausnahme. Ich bin deswegen der Meinung, dass
ich in diesem Punkt richtig liege.
({2})
Im Kartellrecht gab es nie das,
was Sie dargestellt haben. Herr Kollege Schauerte, es war
schon immer notwendig, dass man diese Kartelle anmeldet. Erst danach wurden sie genehmigt. Deshalb gab es
- und gibt es immer noch - eine Fülle von Ausnahmebereichen im Gesetz. Kartelle sind aber per se verboten,
wenn sie nicht ordnungsgemäß angemeldet und genehmigt worden sind. Das war genau Ludwig Erhards Linie.
({0})
Nach Ihren Vorstellungen soll man Kartelle nicht mehr
anmelden müssen. Das heißt im Grunde genommen, dass
sie in allen Wirtschaftszweigen verstärkt praktiziert werden würden. Dann ist man da, wo man in der Weimarer
Republik schon einmal war, nämlich bei einer durchkartellierten Wirtschaft. Das verstößt elementar gegen die
Ansichten von Walter Eucken und Ludwig Erhard. Lassen
Sie sich das gesagt sein.
({1})
Ich bin auch der Meinung, dass Wettbewerb und Wettbewerbspolitik nicht alles sind. Aber sie sind ein ganz
wichtiger Bereich. Wir müssen weiter an der Öffnung der
Märkte arbeiten - nicht nur national und europaweit, sondern auch weltweit -, wenn wir etwas für die Verbraucher
und für die breiten Schichten tun wollen. Wir müssen alles tun, um Protektionismus zu unterbinden. Wir sollten
mehr tun zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Wir sollten vor allem mehr tun für die Förderung
von Innovation und Existenzgründungen.
Schließlich muss die Steuerpolitik auf die Ordnungspolitik Rücksicht nehmen, indem wir zum Beispiel die
großen Unternehmen nicht stärker begünstigen als die
kleinen und mittleren. Umgekehrt wird eher ein Schuh daraus, wenn wir eine marktwirtschaftliche und eine Wettbewerbsordnung erhalten wollen. Das wollen wir schließlich alle.
Ich wünsche Ihnen noch einen vergnüglichen Abend.
({2})
Vielen Dank. Das
war, Herr Schauerte, eine Zeitersparnis von zwei Minuten.
({0})
Das Wort für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin
Gudrun Kopp.
({1})
- Zu Ihrem Geburtstag gratulieren wir Ihnen alle sehr
herzlich und freuen uns, dass Sie diesen Abend mit uns
verbringen.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts ist schöner, als mit Ihnen
den Geburtstag zu verbringen.
({0})
Wenn wir am Ende der Tagesordnung sind, kann das Feiern losgehen.
Wir sind uns in diesem Plenum darüber einig, dass es
keinen Wettbewerb ohne den Markt gibt und dass es folglich wichtig ist, unser Wettbewerbsrecht - man kann sagen, es ist das Grundgesetz des Wettbewerbs - zu pflegen
und entsprechend zu stärken.
Ich komme von Ludwig Erhard zurück zum nationalen
Wettbewerbsrecht.
({1})
- Das könnte heute Abend vielleicht noch passieren. - Es
ist ganz wichtig, dass wir überlegen, wie wir unser Wettbewerbsrecht, das auf EU-Ebene und weit darüber hinaus
höchste Anerkennung findet, stärken. Wir können es nicht
durch die derzeit recht schwache Wettbewerbspolitik des
Bundeswirtschaftsministers stärken.
({2})
Herr Schauerte hat eben schon die Sünden aufgezählt.
Die staatlichen Monopole, die noch am Markt bestehen,
bringen für den Verbraucher natürlich erhebliche Nachteile mit sich. Herr Schauerte, Sie haben das Monopol
Deutsche Bahn AG genannt. Es ist absolut unverständlich, warum unser Verkehrsminister Bodewig, der am Anfang noch für eine Trennung von Netz und Betrieb war,
nun plötzlich wieder umgefallen ist und entsprechende
Vorschläge wieder rückgängig macht.
({3})
Das ist sehr tragisch. Ein ähnliches Beispiel hatten wir bei
dem vorherigen Tagesordnungspunkt, als es um die Verlängerung des Briefmonopols ging. Es geht aber auch um
Initiativen im Bereich der Wasserwirtschaft und - nicht zu
vergessen - um das Hantieren unseres Bundeswirtschaftsministers mit nationalen Energiesockeln. Wir verfrühstücken allmählich all die Vorteile, die in der vorigen
Legislaturperiode mit großer Mühe in Form von Liberalisierung auf den Weg gebracht wurden. Das ist einfach
traurig.
({4})
Ich sprach eingangs davon, dass die Wettbewerbsstrukturen gestärkt werden müssten. Ein Bundeswirtschaftsministerium, das in dieser Legislaturperiode so
viele Kompetenzen abgegeben hat, muss bei einem unveränderten Personalstab in der Lage sein, eine Umschichtung vorzunehmen. Das wäre sogar kostenneutral,
Kollege Schauerte. Wir haben in unserem Antrag gefordert, 25 Mitarbeiter des höheren Dienstes und 30 Mitarbeiter des gehobenen Dienstes aus dem Bonner Dienstbereich in das Bundeskartellamt zu transferieren, damit sie
dort die Arbeit erledigen, die vermehrt anfällt. Denn unser Wettbewerbsrecht ist in der Gefahr, ausgehöhlt zu
werden. Es gibt inzwischen in der Tat eine Menge mehr
Aufgaben als bisher. Ein Rumpfministerium, wie es das
Wirtschaftsministerium heute ist, sollte sich mit weniger
Personal bescheiden und einen entsprechenden Beitrag
zur Konsolidierung unseres Wettbewerbsrechts leisten.
27 Sekunden schenke ich Ihnen heute Abend.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das ist für das Präsi-
dium ein denkwürdiger Tag. Vielen herzlichen Dank und
noch einen schönen Abend.
Die Rede der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau
Wolf wurde zu Protokoll gegeben, ebenso die Rede der
Kollegin Ulla Lötzer für die PDS1). Damit schließe ich die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/6634, 14/6300 und 14/5575 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Helga
Kühn-Mengel, Hildegard Wester, Regina
Schmidt-Zadel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Monika
Knoche, Christa Nickels, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Brustkrebs - Mehr Qualität bei Früherkennung, Versorgung und Forschung
Für ein Mammographie-Screening nach europäischen Leitlinien
- Drucksache 14/6453 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin
Helga Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Am kommenden Samstag gehen Frauen und auch Männer hier in Berlin auf die Straße,
um für mehr Qualität in der Brustkrebsversorgung zu demonstrieren. Frauen wollen eine Qualitätsverbesserung in
diesem Bereich und sie üben zu Recht Druck auf die Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen aus.
({0})
Deshalb ist das jetzt der richtige Zeitpunkt, unseren
Antrag Brustkrebs einzubringen, mit dem wir uns für
mehr Qualität bei Früherkennung, Versorgung und Forschung und für ein Mammographie-Screening nach europäischen Leitlinien einsetzen.
({1})
Wir beginnen mit dem ersten Schritt in der Brustkrebsversorgung, der Früherkennung, weil wir schon hier Defizite feststellen können; denn trotz der etwa 4 Millionen
Mammographien pro Jahr, größtenteils nicht qualitätsgestützt, wurde eines nicht geschafft: die Zahl radikaler
Operationen zu senken, die Zahl der brusterhaltenden zu
erhöhen, die Prognose der betroffenen Frauen zu verbessern und vor allem die Brustkrebssterblichkeit zu reduzieren, härtester Faktor für die Effizienz einer Maßnahme.
Die Wurzeln des heute eingebrachten Antrages reichen
in die 13. Legislaturperiode zurück. Bereits damals hat die
SPD einen Antrag zur frauenspezifischen Gesundheitsversorgung eingebracht und auf Defizite in diesem Bereich
hingewiesen. Dieser Antrag wurde - ich muss das an dieser Stelle immer in einem kleinen Schlenker erwähnen ({2})
von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP, mit der damaligen Mehrheit mit dem
Hinweis darauf abgelehnt, dass Männer und Frauen den
1) Anlage 4
gleichen Zugang zum Gesundheitswesen hätten und
Frauen ohnehin älter würden.
({3})
- Das ist etwas spektakulär ausgedrückt, ich gebe es zu;
aber die Tendenz war so. Lesen Sie es einfach nach!
Nachdem die Wählerinnen und Wähler uns mit der Regierung beauftragt haben, haben wir dieses Thema noch
einmal aufgegriffen und im letzten Jahr einen aktualisierten Antrag eingebracht. Hier wurde schon auf die nötigen
Leistungsverbesserungen in diesem Bereich hingewiesen.
Die Anhörung zum Thema Frauengesundheit, unter anderem Brustkrebs, hat uns bestätigt: Qualitätsverbesserungen bei der Früherkennung, Versorgung und Erforschung
des Brustkrebses sind uns einen eigenen Antrag wert.
Kurz gesagt: 50 Frauenleben am Tag dulden keinen weiteren Aufschub.
({4})
Die Zahlen sind bekannt. Brustkrebs ist die häufigste
Krebserkrankung bei Frauen. Jedes Jahr erkranken etwa
47 000 Frauen neu. 1999 starben 17 600 Frauen, etwa
38 Prozent der Erkrankten, an Brustkrebs, der bei Frauen
in Deutschland, wie die Sachverständigen uns jetzt dargestellt haben, mit fast 310 000 Jahren den größten krebsbedingten Verlust an Lebensjahren verursacht - Zahlen, die
wir uns vergegenwärtigen müssen.
Während sich in Deutschland die bis 1996 stets gestiegene Neuerkrankungsrate - hören Sie zu; das fiel in Ihre
Regierungszeit ({5})
dann stabilisiert hat, hat sich in den letzten Jahren dennoch die Brustkrebssterblichkeit kaum geändert. In Ländern, die ein bevölkerungsweites Screening eingerichtet
haben, zum Beispiel in Großbritannien und in den Niederlanden, sank die Sterblichkeitsrate trotz steigender
Neuerkrankungsrate. Das sind Zahlen, mit denen wir uns
auseinander setzen müssen.
Wenn Sie sich mit Brustkrebs befassen, werden Sie sehen, dass es fast überall Defizite gibt. Das reicht von der
Ausbildung der Ärzte und Ärztinnen über die Früherkennung, die Ursachenforschung und die Präventionsforschung bis hin zur Nachsorge. Wir beginnen hier mit dem
ersten Baustein in der Versorgungskette und wir weisen
ganz deutlich darauf hin: Mangelhafte Qualität in diesem
Bereich hat nicht nur mit Geld zu tun. Es wird sehr viel
Geld ausgegeben im Bereich des Brustkrebses.
Ich zitiere: Es gibt zu viele radikale Operationen, ungezählte Strahlentherapien. Es gibt Unter-, aber auch
Überversorgung bei Chemo- und Hormontherapie. Es
gibt zu viel Diagnostik in der Nachsorge, kein sinnvolles
Zusammenspiel der Versorger in der Palliation. - Das sagt
nicht die deutsche Sozialdemokratie. Das sagt der Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft.
Es fehlen datengestützte Leitlinien in der Behandlung.
Es fehlen überhaupt Daten, auch über das, was vielleicht
gut läuft. Es fehlt Ursachen- und Präventionsforschung;
ich sagte es schon. Es fehlt ein Krebsregister nach Eurostandard. Es fehlt an Transparenz.
Es kann doch nicht wahr sein, dass Bildungsstatus und
Wohnort eine Rolle spielen und Frauen fragen: Wie bekomme ich Informationen aus erster Hand, nicht unter der
Hand? Wie erfahre ich, wo qualifizierte Ärzte und Ärztinnen arbeiten? Wer sagt mir, welche radiologische Praxis
nach europäischen Leitlinien mammographiert? Woher
weiß ich, wenn ich bei mehreren Ärzten war, welche der
unterschiedlichen Diagnosen und Therapien die richtige
ist?
Meine Erfahrung aus Gesprächen mit Onkologen, Wissenschaftlern, Wissenschaftlerinnen, Patienten und Ärzten sagt mir eines: Meine Prognose als Krebspatientin
hängt stark vom Wissen, von der Kompetenz, der Erfahrung und der Teamfähigkeit der ersten Adresse ab, die ich
anlaufe. So gibt es neben der Krankheit noch weitere Risikofaktoren, die mit unterschiedlicher Behandlung
- Behandlungsvarianz sagen die Mediziner - und fehlender Vernetzung zu tun haben. Ich denke, das kann nicht
sein.
({6})
Wir wollen ein flächendeckendes MammographieScreening nach europäischen Leitlinien, das heißt eine
Art Reihenuntersuchung, von der ich aber dann weiß, dass
sie auf höchstem Qualitätsniveau stattfindet. Das bedeutet: Schon die Technik, die Geräteausstattung ist optimal,
die Assistenz ebenfalls. Die an diesem Vorgang Beteiligten haben eine Zertifizierung. Es gibt eine tägliche Kontrolle der Geräte. Es gibt Doppelbefundung. Es gibt ein
Einladesystem. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Diesen Punkt erwähnen wir in unserem Antrag.
Auch die CDU/CSU, die ja einen Antrag zur frauenspezifischen Gesundheitsversorgung vorgelegt hatte,
spricht von notwendiger Qualitätsverbesserung. Sie haben aber eines vergessen, nämlich dass diese sich an den
europäischen Leitlinien auszurichten hat. Das ist ein ganz
wichtiger Punkt, denn Qualitätsverbesserungen und Zertifizierungen finden jetzt überall statt. Wichtig ist, dass sie
durchsichtig sind und sich an den höchsten europäischen
Standards ausrichten. Das ist es, was wir wollen.
({7})
Flankierend gehört dazu eine Brustkrebsregistrierung,
ein Einladungssystem - ich sagte das schon - und vor allem auch eine Erfassung und Aufbereitung der Daten an
neutraler Stelle sowie die Verpflichtung der Krankenkassen, Mammographien, die den europäischen Leitlinien
entsprechen, in den Leistungskatalog aufzunehmen. Diesen Prozess wollen wir bis 2003 eingeführt wissen. Dabei
muss auch die Transparenz vorhanden sein, die ich bereits
beschrieben habe. Auch die Einbindung von Selbsthilfepotenzialen ist hier natürlich zu erwähnen.
Ich sage es noch einmal - weil immer wieder auch
nach den Kosten gefragt wird -: Es wird sehr viel Geld
im System bewegt. Ich erwähnte die große Zahl von
Mammographien, verbunden mit einer großen Zahl
falsch-positiver Befunde, die wiederum eine Kette von
weiteren Untersuchungen in Gang setzen, von der Biopsie über die Magnetresonanztherapie bis hin zu unnötigen
Operationen, die alle nicht nur mit psychischen Belastungen, sondern vor allem auch mit enormen Kosten für das
System verbunden sind. Eine Zahl, die uns die Sachverständigen genannt haben, ist kaum zu glauben: Von
100 000 nicht notwendigen Operationen ist die Rede. Das
sind zweimal so viele nicht notwendige Operationen wie
Neuerkrankungen pro Jahr; auf drei Operationen kommen
also zwei nicht notwendige. Über die Qualität der dritten
Operation muss man eigentlich auch noch sprechen. Bei
diesem Beispiel versteht man, warum wir die evidenzbasierte Medizin fordern.
({8})
Der dritte Band der Sachverständigen zu Über-, Unterund Fehlversorgung sagt hier Deutliches - ich sehe schon,
meine Redezeit reicht nicht aus -; das geht von der Diagnostik bis hin zur Nachsorge. Sie sagen aber eben auch,
dass es eine qualitätsgesicherte Früherkennung in
Deutschland praktisch nicht gibt. Sie verweisen auf den
europäischen Kontext. Deutschland liegt weit abgeschlagen hinter den Niederlanden, Schweden, Norwegen,
Finnland, Großbritannien und Frankreich. Selbst in einem
chronisch unterfinanzierten System wie in Großbritannien und auch bei einem nicht optimal aufgebauten
Screeningverfahren mit einigen Lücken wurde die Sterblichkeitsrate gesenkt. Das müssen wir doch zur Kenntnis
nehmen.
Die Kosten - das ist schnell festzustellen -, die durch
die Abschaffung des so genannten grauen Screenings, das
wir jetzt haben, und die Einsetzung eines qualitätsgesicherten Screenings entstehen, sind angesichts der
Reduzierung der vielen nicht notwendigen operativen
Eingriffe, die sich auf der Grundlage falsch-positiver Befunde abspielen, sicherlich gerechtfertigt. Wir haben hier
also ein robustes Potenzial für die Verbesserung der
Versorgungsqualität.
Dann wird immer wieder gefragt: Wo ist der Nutzen für
die einzelne Frau? Dazu gibt es einige kritische Untersuchungen. Da sagen wir aber: Wir wissen aus wirklich validen wissenschaftlichen Studien, dass sich die Zahl der
Brustkrebstodesfälle für Frauen zwischen 50 und
70 Jahren, wenn sie am Screening teilnehmen, deutlich reduziert, und zwar um 20 bis 30 Prozent; das sind 3 500 pro
Jahr. Es gibt wenige andere Vorsorge- und Screeningprogramme in der Medizin, deren Nutzen so gut belegt ist.
Auch das muss gesagt werden.
Ein Letztes - Frau Präsidentin, ich bin sofort fertig -:
Der Vorwurf, wir nähmen hier der Selbstverwaltung etwas
weg, ist nicht gerechtfertigt. Die Selbstverwaltung hat
sehr lange nichts unternommen. Das, was von ihr jetzt an
Qualitätsverbesserungen entwickelt wird, genügt nicht
den europäischen Standards.
({9})
Da werden wir auf mehr Qualität zu drängen haben. Das
Bisherige kann es nicht sein. Wir nehmen hier Verbesserungen für den gesamten onkologischen Bereich vor. Es
geht darum, Frauenleben zu retten.
Ich danke Ihnen.
({10})
Jetzt hat die Kollegin
Annette Widmann-Mauz für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Gesundheitswesen finden die Bedürfnisse von Frauen kaum
Beachtung. Mit dieser ebenso lapidaren wie profunden
Feststellung des ersten Frauengesundheitsberichts düpierte sich die Bundesregierung jüngst selbst.
({0})
Auch die Anhörung Anfang März hat die Defizite im
Bereich der frauenspezifischen Gesundheitspolitik schonungslos aufgezeigt. Die Sachverständigen waren sich einig: Die Bundesregierung hat die drängendsten Probleme
nicht angepackt.
Nicht zuletzt der Protestmarsch - im Übrigen gibt es
nicht nur diese Woche einen, es gab im vergangenen Jahr
auch schon einen - hatte konkretes Regierungshandeln
angemahnt. Vor genau einem Jahr haben wir von der
Union den Antrag Konkrete Gesundheitspolitik für
Frauen vorgelegt. Dieser Antrag forderte bereits damals
konkrete Maßnahmen gegen die dringendsten frauenspezifischen Gesundheitsprobleme ein.
Sie legen heute einen Antrag für ein flächendeckendes
Mammographie-Screening für Brustkrebs vor, und das
ist gut so.
({1})
Während wir bereits seit einem Jahr - man muss sich das
auf der Zunge zergehen lassen - die flächendeckende qualitätsgesicherte Versorgung über ein Screening fordern,
waren Sie bis kurz vor der Sommerpause noch der Meinung, dass die Unterstützung der laufenden Modellversuche ausreichend sei.
({2})
Ich erinnere mich noch lebhaft an die Debatte, die wir in
diesem Hause zu diesen Anträgen hatten und mit welcher
Begründung Sie unseren Antrag mit konkreten Umsetzungsschritten für ein flächendeckendes MammographieScreening abgelehnt haben.
({3})
Ich will Ihnen in allem Ernst und in aller Ruhe sagen:
Uns ärgert nicht, dass Sie unseren Antrag abgelehnt haben
und jetzt das Gleiche selbst einbringen. Wir beanspruchen
hier keine Urheberrechte. Sie haben bei uns abgeschrieben, seis geschenkt.
({4})
Was uns auf die Palme bringt, ist etwas ganz anderes. Ihnen sind die Fakten genauso bekannt wie uns; die Zahlen
stehen in Ihrem Antrag auf Seite 1.
({5})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so erregen.
({6})
Wir finden es doch gut, dass Sie diesen Antrag einbringen.
Dass meine Argumentation stimmt, lässt sich in den Bundestagsdrucksachen nachlesen.
In Ihrem Antrag schreiben Sie: Jährlich erkranken in
Deutschland etwa 47 000 Frauen an Brustkrebs ... Der
Ihnen bekannte Professor Lauterbach hat in der Anhörung
mit aller Sachlichkeit betont - ich darf aus dem Protokoll
der Anhörung zitieren -:
Zwei Jahre bedeuten für die Einführung einer evidenzbasierten Maßnahme wie dem Screening bei
Brustkrebs viel. Zwei Jahre bedeuten im Prinzip
8 000 vermeidbare Todesfälle. Das ist es also, worüber wir hier sprechen.
Meine Damen und Herren, wir haben ein Jahr Zeit verloren.
({7})
Das, worüber wir heute debattieren, hätten wir vor einem
Jahr schon längst beschließen können, ach was, ich sage
sogar: beschließen müssen.
({8})
Uns brauchen Sie hier nichts vorzumachen. Wir kennen
Ihre parteitaktischen Spielchen zur Genüge. Nicht uns
müssen Sie dies erklären, sondern den betroffenen Frauen
in unserem Land.
({9})
Bei Brustkrebs besteht seit langem dringender Handlungsbedarf. Sie haben nicht nur unseren Antrag aus parteipolitischen Gründen abgelehnt. Mit Ihrer Haltung haben
Sie zudem den einstimmigen Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz vom Juni letzten Jahres, die klaren
Aufforderungen der Womens Health Coalition, der
Brustkrebs-Initiative und der zahlreichen anderen engagierten Gruppen in unserem Land schlichtweg ignoriert.
Dass Sie sich erst jetzt dem Druck beugen und endlich
zur Vernunft kommen, verdient nun wahrlich keinen Applaus.
Aber - das will ich Ihnen hier auch ganz klar sagen, damit keine Missverständnisse aufkommen -: Ich kritisiere
Sie im Stil, nicht in der Sache. Wissenschaftlich ist es unumstritten, dass das Screeningverfahren die derzeit beste
Methode zur Erkennung von Brustkrebs ist.
({10})
Brustkrebs gehört zu den häufigsten und gefährlichsten Krankheiten bei Frauen. Probleme der Brustkrebsfrüherkennung, Behandlung und Nachsorge begleiten
viele Frauen über mehrere Lebensjahrzehnte hinweg.
Jede achte bis zehnte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens
an Brustkrebs. Mehr als bei jeder anderen Erkrankung bedarf es einer allgemein verständlichen Information, um
die Frau in den Entscheidungsprozess über Diagnostik
und Therapie einzubinden.
Gerade heute hat mich die Womens Health Coalition
wieder über eine neue Studie informiert, die in Kürze veröffentlicht wird. Die Beteiligung von Frauen an Krebsfrüherkennungsmaßnahmen ist in der Bundesrepublik
erschreckend niedrig. Teilweise liegt die Beteiligung unter 50 Prozent. Deshalb sage ich klar: Seit wir die Versicherungschipkarte haben, brauchen wir dringend wieder
Anreize, damit Frauen die bereits bestehenden Angebote
wahrnehmen. Jede Frau mehr, die zur Vorsorgeuntersuchung geht, bringt uns unseren gesundheitspolitischen
Zielen näher.
({11})
Entstehung, Verlauf und Folgen einer Brustkrebserkrankung erfordern eine langfristige qualitätsgesicherte
ärztliche Begleitung. Dies hat unsere politische Unterstützung. Gerade angesichts der vielen falsch-positiven
Befunde ist aber auch die geschulte psychologische Betreuung enorm wichtig. Dieser Aspekt fehlt in Ihrem Antrag allerdings komplett.
Wir müssen ein flächendeckendes, qualitätsgesichertes
und fachübergreifendes Brustkrebsfrüherkennungskonzept fördern. Darin sind wir daccord. Das Problem,
das wir in Deutschland haben, ist die Finanzierung der
Früherkennung. Heute wird die Brustkrebsfrüherkennung
durch Mammographie nur erstattet, wenn ein Verdacht
oder ein besonderes Risiko vorliegen. Das ist widersinnig,
denn die Früherkennung hilft. Sie nutzt und ist wissenschaftlich gesichert. Deshalb muss sie auch ohne Vorliegen eines Verdachts oder eines besonderen Risikos durchgeführt werden. Auch hier sind wir uns einig.
Die europäischen Leitlinien fordern insbesondere
Standards bei der jährlichen Mindestfrequenz von Mammographien und der obligatorischen Doppelbefundung.
Diese sind mit der gegenwärtigen Versorgungsstruktur in
Deutschland nur schwer machbar. Dies hat das Sachverständigengutachten belegt. Die Niederlande und
Deutschland sind eben an dieser Stelle nicht von vornherein vergleichbar. Es ist deshalb wichtig, dass unsere vorhandenen vertragsärztlichen Kompetenzen und Strukturen in das Mammographie-Screening eingebunden
werden.
({12})
Deshalb ist es zu begrüßen, wenn sich die Kassenärztliche
Bundesvereinigung ihrer Verantwortung stellt. Sie hat erkannt: Mammographien können nur dann qualitätsgesichert durchgeführt werden, wenn eine entsprechende
Prüfung abgelegt und eine regelmäßige Fortbildung zur
Pflicht gemacht wurde.
Ich will jetzt nicht auf jeden einzelnen Punkt Ihres Antrags eingehen. Dazu werden wir im Ausschuss kommen.
Vielmehr frage ich Sie: Wann können wir damit rechnen,
dass Sie in den anderen Bereichen unseres Antrags endlich Konsequenzen folgen lassen? Wir haben konkrete
Maßnahmen nicht allein zur Bekämpfung von Brustkrebs
gefordert. Das war aber unsere erste Forderung. Es gibt
darüber hinaus eine Vielzahl drängender Gesundheitsprobleme von Frauen. Ich möchte Ihnen ein paar nennen.
Rund 6 000 Frauen in Deutschland erkranken jährlich
an Gebärmutterhalskrebs. 2 800 Frauen sterben jährlich
sogar daran. Damit nimmt Deutschland in Westeuropa
den drittschlechtesten Rang ein. Weltweit ist diese Krebsart mit etwa 500 000 Fällen im Jahr die zweithäufigste
Krebsart bei Frauen. Wenn der Krebs rechtzeitig entdeckt
wird, dann gibt es auch hier sehr gute Heilungschancen.
Wie die Anhörung gezeigt hat, ist die Diagnose über den
herkömmlichen Pap-Abstrichtest hinaus zu verbessern.
Qualitätssteigerung bei der Abstrichentnahme durch Kolposkopie, bei der Auswertung und mit neuen Tests zur Erkennung des HP-Virus sind ebenfalls dringend notwendig. Wissenschaftlich tut sich auch hier sehr viel. So gibt
es beim HPV-Nachweis neue Erkenntnisse, die wir zur
Zeit der Anhörung noch gar nicht kannten. Es gibt neues
Material. Es wird Zeit, dass wir dies prüfen.
({13})
Weiterhin erkranken in Deutschland über sechs Millionen Menschen an Osteoporose. Das Verhältnis von
Frauen zu Männern liegt bei drei zu eins. Wir brauchen
dringend ein Programm zur Früherkennung, Prophylaxe
und Therapie, um Osteoporosefolgen frühzeitig zu vermeiden und nicht erst nach einer Fraktur zu behandeln.
({14})
Professor Minne hat in der Anhörung den Handlungsbedarf auf den Punkt gebracht: Pro Jahr könnten zwischen
60 000 und 70 000 Menschen in Deutschland der Oberschenkelhalsbruch erspart werden. Von diesen Menschen
verstarben frühzeitig 20 Prozent. Professor Minne hat
eine Studie mit der Schlussfolgerung vorgelegt, dass eine
Reduktion der Zahl der Frakturen um 50 Prozent möglich
ist. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Sie, SPD
und Grüne, nicht mit einer Silbe auch diese Probleme in
Ihrem Antrag angehen. Wir jedenfalls sehen hier nach wie
vor großen Handlungsbedarf.
Wir haben im Übrigen gefordert, dass die Gesundheitserziehung als ein Schwerpunkt ausgebaut wird. Es
ist darauf hinzuwirken, dass es bereits im Rahmen der
schulischen Bildung zu einer intensiven geschlechtsspezifischen Gesundheitserziehung kommt. Auch hier haben
Sie unsere Forderung vor der Sommerpause abgelehnt.
Ich frage Sie: Wann kommt Ihr Antrag zum Gebärmutterhalskrebs, zur Osteoporose und zur Gesundheitserziehung? Von mir aus nehmen Sie ruhig wieder unseren Antrag als Vorlage. Das ist uns egal, wenn wir nur endlich in
der Sache vorankommen.
({15})
Das Wort hat nun die
Kollegin Monika Knoche für das Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Erstmals - meines Wissens; ich glaube, diese Meinung teilen alle - in der Geschichte der Bundesrepublik
wurde am Vorabend des 8. März dieses Jahres das Thema
frauenspezifische Gesundheitsversorgung in einer öffentlichen Anhörung aufgrund eines Antrages der rot-grünen Regierungsfraktionen behandelt.
({0})
In unserem Antrag ist zum Ausdruck gekommen, dass
erstmals eine Gesundheitsministerin und gesundheitspolitische Sprecherinnen der Koalitionsfraktionen das
Thema Frauengesundheit zum Qualitätsmerkmal von Gesundheitspolitik erhoben haben. Frauen haben einen Anspruch auf frauengerechte Gesundheitspolitik und Gesundheitsversorgung.
({1})
Der umfassende Antrag, der von uns vorgelegt worden ist,
war bereits lange im Verfahren, bevor Frau WidmannMauz entdeckt hat, dass sich auch die CDU/CSU dazu
äußern sollte.
({2})
Heute kümmern wir uns um ein ganz spezifisches Problem, dem in den Strukturen der deutschen Gesundheitsversorgung am hartnäckigsten eine Qualitätsverbesserung
verweigert wurde.
({3})
Es handelt sich nicht - ich sage das ausdrücklich; alle, die
den Antrag kennen, wissen das - um eine umfassende Behebung von Problemen der Versorgung und Erkennung,
sogar der Vorsorge, die insgesamt auf dem großen Feld
der Frauengesundheit und des spezifischen Problems des
Brustkrebses zu leisten ist. Unser Antrag konzentriert sich
auf eine sehr wichtige Maßnahme, nämlich auf die
Früherkennung durch Screening für Frauen ab 50 Jahren,
für die - wissenschaftlich erwiesen und in europäischen
Nachbarländern glücklicherweise mit großen Erfolgen erprobt - ein Zugewinn an Lebensqualität und Gesundheitschancen durch eine frühe Erkennung einer nach den
Wechseljahren auftretenden spezifischen Brustkrebserkrankung erreicht werden kann.
Wir erheben damit nicht den Anspruch, eine Brustkrebserkennung durch Screening verbessern zu wollen,
weil das medizinisch nicht richtig wäre. Früherkennung
durch Screening bedeutet für Frauen in dem genannten
Alter einen wirklichen Zugewinn an Lebensqualität.
Screening sollte aber nicht für Frauen, die in jüngeren Jahren an anderen Arten von Brustkrebs erkranken, durch die
Politik ermöglicht werden, weil ihnen das Screening nicht
helfen würde. In diesem Bereich ist die ärztliche Ausschlussdiagnostik als richtige Maßnahme gefordert.
Mit unserem Antrag erreichen wir zugleich, dass die
Maßnahmen des Mammographie-Screenings als Früherkennungsmaßnahme einen neuen Leistungsbereich mit
einem eigenen Anspruch für Frauen in diesem Alter eröffnen und dass darüber hinaus in qualifizierten Zentren
Screening durchgeführt wird sowie Mammographie-Bewertungen gemacht werden.
({4})
Dadurch werden auch Frauen, die in jüngeren Jahren auf
Verdacht eine Mammographie erhalten, eine qualifizierte
Aussage bekommen und es werden Fehldiagnosen vermieden.
({5})
Das große Problem in Deutschland sind falsch-positive
oder falsch-negative Diagnosen, weil die Testungen bzw.
Untersuchungen in Praxen durchgeführt werden, die die
Qualitätsstandards nicht gewährleisten können. Unsere
Maßnahmen führen zu keiner Ausuferung. Wir gehen mit
einer großen Verantwortung an dieses sehr komplexe
Thema. Wir wollen dort einen Regelleistungsanspruch
auf Früherkennung und dort qualifizierte Screening-Maßnahmen einführen, wo Frauen tatsächlich einen Zugewinn
haben. Wir wollen - das ist das Surplus -, dass die Mammographie-Testung in Deutschland einen höheren Standard erreicht, weil es wichtig ist, dass die Therapie richtig, zeitnah und qualifiziert durchgeführt wird. Das ist ein
Gewinn auch für andere Frauen.
({6})
Screening ist keine Vorsorgemaßnahme. Screening ist
eine Früherkennungsmaßnahme für die Frauen, die die
entsprechende Indikation haben. Nicht mehr und nicht
weniger! Wenn es uns gelingt, Screening als Früherkennungsmaßnahme zu etablieren, dann haben wir ein enormes frauenspezifisches Qualitätsdefizit im Gesundheitswesen behoben. Dem sollten eigentlich alle in diesem
Hause zustimmen.
({7})
Nun hat der Kollege
Detlef Parr für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich weiß nicht, warum wir die Diskussion
über die Mammographie heute Abend so verbissen
führen. Das ist keine Angelegenheit für parteipolitische
Auseinandersetzungen.
({0})
Die aktuelle Zahl der Brustkrebsneuerkrankungen und
die Zahl der Todesfälle in Deutschland sind und bleiben
erschreckend. Jahrelang haben sich die Verantwortlichen
um die bei Frauen am häufigsten vorkommende Krebstodesursache zu wenig gekümmert. Das sage ich auch in
Richtung der Vorgängerregierung.
Ich wohne in Ratingen, 50 Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt. Ich hatte schon 1994, als ich
mich im Bundestag zum ersten Mal mit Brustkrebs beschäftigte, kein Verständnis dafür, dass im Vergleich zum
nahen Nachbarland in Deutschland mehr Frauen an Brustkrebs sterben müssen. Ich habe heute, sieben Jahre später,
erst recht kein Verständnis dafür. Es ist also richtig, endlich aufzuwachen und initiativ zu werden. Aber wie das so
ist, wenn man eine Entwicklung verschläft: Einmal wach
geworden, springt man oft auf einen Zug auf, der längst
abgefahren ist.
Verfolgt man die aktuelle wissenschaftliche Diskussion, dann stellt man fest, dass eine Tatsache unbestritten
ist: Nach einem jahrzehntelangen Anstieg und einer kurzen Phase der Stagnation ist die Zahl der Fälle, in denen
Frauen an Brustkrebs gestorben sind, in den 90er-Jahren
erkennbar zurückgegangen. Die Sterblichkeitsrate in
Deutschland ist allerdings im Vergleich zu vielen europäischen Nachbarländern noch immer zu hoch. Liegen
wir also richtig, wenn wir uns, wie im vorliegenden Antrag gefordert, vornehmlich auf das MammographieScreening nach europäischen Leitlinien konzentrieren?
Mein Blick in die Literatur belehrt mich eines Besseren, Frau Kühn-Mengel. Ich möchte Dr. Nikolaus Becker
vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg
zitieren. Er weist überzeugend nach, dass die Umstände
dieser Trendwende - gemeint ist die Senkung der Sterblichkeitsrate - darauf hindeuten, dass die Ursachen in
erster Linie bei Fortschritten in der Therapie und nur zum
geringeren Teil in Veränderungen bei der Prävalenz von
Risikofaktoren oder der Einführung von Screeningprogrammen liegen dürften. Demzufolge greift der Antrag
der Regierungsfraktionen - das ist zumindest mein erster
Eindruck - zu kurz. Er führt vielleicht sogar in die Irre.
Die Modellversuche in den Regionen Bremen, Wiesbaden und Weser-Ems sollen zu einem wertvollen Gewinn an Kompetenz und Erfahrung für die Einführung eines qualitätsgesicherten Screenings in Deutschland
führen, so steht es in Ihrem Antrag. Das ist richtig. In der
Weser-Ems-Region hat ein solcher Modellversuch soeben
begonnen. In Bremen und Wiesbaden fiel der Startschuss
im Mai 2000. Bei einer Laufzeit von drei Jahren - es verbleibt also ein überschaubarer Restzeitraum - plädiere ich
dafür, den Wert dieser Modellversuche nicht bereits dadurch zu schmälern, dass man jetzt mit einem zweifelhaften Schnellschuss Präjudizien schafft.
Die FDP ist zu der Überzeugung gelangt, dass ein Gesamtkonzept von Frühuntersuchung und Früherkennung
sowie von Therapie und Nachsorge innerhalb der Regelversorgung unser gemeinsames Ziel eher erreichen lässt.
Frau Kühn-Mengel, Sie nennen zwar diese Begriffe in
Ihrem Antrag; aber Sie füllen sie nicht mit Inhalt. Sie konzentrieren sich ausschließlich auf das MammographieScreening. Das ist aus meiner Sicht zu wenig. Die verbesserte Versorgung unserer Frauen in Deutschland muss
eher erreicht werden. Der vorliegende Antrag wird lediglich in einem Satz in dem Punkt II.5 dieser aus Sicht der
FDP erfolgversprechenderen Konzeption gerecht.
Wir müssen in diesem Zusammenhang auch die
Qualifizierungsbemühungen der KBV in Sachen Mammographie-Befundung und Röntgentechnik anerkennen.
Die Zusammenarbeit von KBV und den Spitzenverbänden der Krankenkassen muss allerdings dringend forciert
werden. Wir dürfen nicht nur über Vorsorge und deren
wachsende Bedeutung reden; wir müssen sie auch zu einer kassenärztlichen Leistung machen und angemessen
honorieren. Der Leistungskatalog lässt sich zugunsten
dieser Maßnahmen in anderen Bereichen kürzen.
({1})
Abschließende Bemerkung: Wichtig für unsere weiteren Beratungen ist auch, der Nachsorge bei Krebserkrankungen ein größeres Augenmerk zu schenken. Wenn nach
einer Krebsoperation für die Betreuung der Patientin nicht
mehr der Gynäkologe, sondern der Hausarzt zuständig
wird, stellt sich die Frage nach der Qualität der notwendigen psychosomatischen Betreuung.
Die FDP begrüßt die Antragsinitiative. Über deren inhaltliche Ausgestaltung müssen wir uns im Ausschuss
aber noch eingehend unterhalten.
({2})
Nun hat die Kollegin
Petra Bläss für die PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Brustkrebsvorsorge in Deutschland ist mehr als mangelhaft - davon war jetzt schon
mehrfach die Rede -, obwohl jährlich 47 000 Frauen an
Brustkrebs erkranken und 17 000 Frauen an dieser Krebsart sterben.
Wir begrüßen es, dass nun endlich ein Antrag vorliegt,
der dieses Problem angeht. Wir unterstützen diese Initiative ausdrücklich.
({0})
Der Druck und das Engagement vieler Gruppen, die
sich für die Verbesserung der Vor- und Nachsorge stark
machen - einige Kolleginnen haben bereits auf die am
Sonnabend stattfindende Demonstration der Brustkrebsinitiativen hingewiesen -, haben zweifellos dazu beigetragen, dass wir dieses Thema im Parlament endlich auch
einmal separat behandeln.
({1})
Ich bedaure allerdings, dass wir es nicht geschafft haben, schon eher eine interfraktionelle parlamentarische
Initiative vorzulegen, wie es ursprünglich einmal angedacht war. Herr Kollege Parr, ich kann Sie nur unterstützen: Das Thema eignet sich wirklich nicht für parteipolitische Auseinandersetzungen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, internationale Untersuchungen belegen, dass sich die Zahl der Todesfälle
durch Brustkrebs durch qualitätsgesicherte Früherkennung erheblich senken lässt. Doch genau hier ist das Problem. Wir haben in der Bundesrepublik keine angemessene Beratung für Frauen und keine flächendeckenden
Untersuchungen für Frauen im besonders gefährdeten Alter ab 50 Jahren. Dabei fehlt es bekanntlich nicht an Technik und Ausstattung. Es wird viel untersucht, aber nicht
systematisch und nicht in der nötigen Qualität.
Auch der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen kommt zu dem Ergebnis, dass
hier ein dringender Investitionsbedarf besteht, um durch
gezielte Qualitätsmaßnahmen und durch regionale Kompetenzbündelung eine leitliniengerechte und qualitativ
hochwertige therapeutische Versorgung von Frauen mit
Brustkrebs zu gewährleisten.
Wir haben es mit Defiziten in allen Bereichen der Versorgungskette zu tun: bei Früherkennung, Diagnose, Behandlung und Nachsorge. Größtes Defizit ist das Fehlen
eines qualitätsgesicherten Früherkennungsprogramms, eines Mammographie-Screenings nach europäischen Leitlinien. Wie schon gesagt wurde: Deutschland liegt hierbei
nach wie vor weit abgeschlagen hinter Ländern wie den
Niederlanden, Schweden, Norwegen, Finnland, Großbritannien und Frankreich. Deswegen begrüßen wir den vorliegenden Antrag der Koalition, mit dem das Screening
flächendeckend eingeführt werden soll.
({3})
Wir unterstützen das Anliegen, die Krankenkassen zu
einem einheitlichen und gemeinsamen flächendeckenden
Screening-Programm zu verpflichten. Wir teilen auch die
Forderungen in dem Antrag nach einem Krebsregister und
externem Qualitätsmonitoring.
({4})
Besonders wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ist uns darüber hinaus eine bessere Beratung von Frauen.
Ihre Akzeptanz und die Inanspruchnahme der Untersuchungen sind meines Erachtens wesentliche Voraussetzungen dafür, die Zahl der Erkrankungen tatsächlich zu
senken.
Wir müssen die Aufmerksamkeit auf die Ursachenforschung und auf die Forschung auf dem Gebiet der Primärprävention lenken; denn seit Jahren stellen wir eine ZuDetlef Parr
nahme von Brustkrebserkrankungen fest und wissen noch
immer relativ wenig über die Ursachen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass wir
im Laufe der Beratungen noch zu einigen konkreten Vorschlägen kommen, wie die Forschung unterstützt und
ganz konkret weitergeführt werden kann.
Danke.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6453 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem An-
trag der Abgeordneten Ursula Burchardt, Brigitte
Adler, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Winfried Hermann, Franziska Eichstädt-Bohlig,
Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nationale Nachhaltigkeitsstrategie
- Drucksachen 14/4606, 14/6031 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ursula Burchardt
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto-
koll gegeben worden.1) Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/6031 zu
dem Antrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/4606 anzunehmen. Wer ist für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Gegen die Stimmen von CDU/CSU und bei Enthaltung
der PDS ist der Antrag angenommen.
({1})
- Trotzdem ist die Mehrheit vorhanden.
({2})
- Das ist so.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Uwe
Hiksch, Eva Bulling-Schröter, Gerhard Jüttemann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung
- Drucksache 14/6791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Protokoll
gegeben worden.2) Deshalb schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/6791 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie darüber hinaus an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bodo
Seidenthal, Klaus Barthel ({5}), HansWerner Bertl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Hans-Josef Fell, Dr. Reinhard Loske, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
6. Forschungsrahmenprogramm 2002 bis
2006 ({6}) Europäische Forschung stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP:
6. Forschungsrahmenprogramm 2002 bis
2006 transparenter und unbürokratischer
gestalten - KMU besser einbeziehen Europäische Energieforschung weiter ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Friedrich ({7}), Thomas Rachel, Ilse
Aigner, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Mit dem 6. EU-Forschungsrahmenpro-
gramm 2002 bis 2006 den europäischen
Forschungsraum stärken
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Vorschlag für einen Beschluss des Europä-
ischen Parlaments und des Rates über das
1) Anlage 5 2) Anlage 6
mehrjährige Rahmenprogramm 2002 bis
2006 der Europäischen Gemeinschaft im
Bereich der Forschung, technologischen
Entwicklung und Demonstration als Beitrag zur Verwirklichung des europäischen
Forschungsraums
Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über das mehrjährige Rahmenprogramm
2002 bis 2006 der Europäischen Atomgemeinschaft ({8}) im Bereich der
Forschung und Ausbildung als Beitrag zur
Verwirklichung des europäischen Forschungsraums
KOM (2001 94 endg.; Ratsdok. 06921/01
({9})
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Bodo Seidenthal
Erich Maaß ({10})
Hans-Josef Fell
Angela Marquardt
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto-
koll gegeben worden.1) Deshalb schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/7173. Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung über einen Vorschlag für ein 6. europäisches
Forschungsrahmenprogramm 2002 bis 2006, Ratsdokument 06921/01, den Antrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6541
mit dem Titel 6. Forschungsrahmenprogramm 2002 bis
2006 - Europäische Forschung stärken anzunehmen.
Wer dieser Beschlussempfehlung folgen möchte, den
bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
und bei Enthaltung der PDS ist die Beschlussempfehlung
angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/6549 mit dem Titel 6. Forschungsprogramm
2002 bis 2006 transparenter und unbürokratischer gestalten - KMU besser einbeziehen - Europäische Energieforschung weiter ausbauen in Kenntnis der genannten Unterrichtung durch die Bundesregierung abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/6948 mit dem Titel Mit
dem 6. EU-Forschungsrahmenprogramm 2002 bis 2006
den europäischen Forschungsraum stärken in Kenntnis
der genannten Unterrichtung durch die Bundesregierung
abzulehnen.
Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Postumwandlungsgesetzes
- Drucksache 14/7027 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Protokoll
gegeben worden.2) Deshalb schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/7027 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung abweichend von der Tagesordnung beim
Haushaltsausschuss liegen soll. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Oktober 2001, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.