Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich eröffne die Sitzung.
({0})
Mit Erschütterung haben wir die Nachricht von dem
äußerst schweren Erdbeben in Kolumbien aufgenommen, das am Montag weite Teile des Landes verheert
hat. Das ganze Ausmaß der Katastrophe ist bisher noch
nicht zu übersehen, jedoch sind nach neuesten Meldungen wahrscheinlich mehr als 2 000 Menschen ums Leben gekommen. Das schwere Erdbeben ließ zahlreiche
Häuser einstürzen. Unter den Trümmern werden noch
zahlreiche Opfer vermutet. Allein in der Stadt Armenia,
die in eine Ruinenlandschaft verwandelt wurde, sollen
rund drei Viertel aller Gebäude zerstört worden sein. In
mehreren Gegenden wurden Nachbeben registriert, die
die Rettungsarbeiten stark erschweren. Schwere Schäden an Straßen und Verkehrswegen behindern zusätzlich
den Einsatz von Rettungseinheiten. Die Europäische
Union hat bereits eine Soforthilfe von 2 Millionen DM
zugesagt.
Unser Mitgefühl gilt vor allem den Verletzten und
den Angehörigen der Opfer. Der Deutsche Bundestag
spricht dem kolumbianischen Volk, dem Parlament und
der Regierung Kolumbiens seine tiefempfundene Anteilnahme aus. Nun möchte ich dem Kollegen Wieland Sorge, der
gestern seinen 60. Geburtstag feierte, im Namen des
Hauses sehr herzlich gratulieren.
({1})
Die Fraktion der SPD teilt mit, daß der Kollege Rolf
Schwanitz auf seine Mitgliedschaft im Beirat beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR verzichtet. Als Nachfolger wird der Kollege Stephan Hilsberg vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Damit ist der Kollege Stephan Hilsberg
gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Unterlagengesetzes in den
Beirat gewählt.
Weiterhin teilt die Fraktion der SPD mit, daß der
Kollege Günter Verheugen aus dem Rundfunkrat der
Deutschen Welle ausscheidet. Für den Rest der Amtszeit
des Rundfunkrates wird als Nachfolger der Kollege
Ludwig Stiegler vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der
Kollege Ludwig Stiegler in den Rundfunkrat der Deutschen Welle gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste
vorliegenden Punkte zu erweitern:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.:
Haltung der Bundesregierung zum Notenwechsel mit
Frankreich und Großbritannien zur friedlichen Nutzung
der Kernenergie und seiner rechtlichen Bindungswirkung
2. Weitere Wahl zu Gremien
Parlamentarischer Beirat der Stiftung für das sorbische
Volk - Drucksache 14/320 3. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({2})
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN: Unterstützung der demokratischen
Entwicklung in Nigeria - Drucksache 14/315 4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Sich
häufende Unfälle bei der Deutschen Bahn AG vor dem
Hintergrund unterschiedlicher Zwischenergebnisse der
Untersuchungen des Eschede-ICE-Unglücks
5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heidi KnakeWerner, Dr. Klaus Grehn, Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs und
der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Wiederherstellung des Interessenausgleichs zwischen Arbeitslosen und Beitragszahlern - Interessenausgleichsgesetz
({3}) - Drucksache 14/208 Des weiteren ist vereinbart worden, die Beratung des
Tagesordnungspunktes 11 - es handelt sich um die Änderung des Atomgesetzes - abzusetzen.
Außerdem weise ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste hin:
Der unbehandelte Teil des Koalitionsentwurfs zum Steuerentlastungsgesetz ({4}) soll nachträglich dem Ausschuß für
Arbeit und Sozialordnung zur Mitberatung überwiesen
werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zum Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002
- Drucksache 14/23 überwiesen:
Finanzausschuß ({5})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Bildung und Forschung
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Die in der 17. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Vorlagen sollen nachträglich dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse - Drucksache 14/280 überwiesen:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({6})
Innenausschuß
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß
Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Beschäftigung fördern
- soziale Sicherung verbessern - Flexibilisierung erhalten
- Drucksache 14/290 überwiesen:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({7})
Innenausschuß
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Finanzauschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß
Entsprechend einer interfraktionellen Vereinbarung
mache ich darauf aufmerksam, daß in der Haushaltswoche vom 22. Februar keine Regierungsbefragung, keine
Fragestunden und keine Aktuellen Stunden stattfinden
sollen. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Die F.D.P. hat fristgerecht beantragt, die Tagesordnung um die erste Beratung des von ihr eingebrachten
Entwurfs eines Integrationsförderungsgesetzes zu
erweitern. Das Wort zur Geschäftsordnung hat Herr
Westerwelle.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Namens der Freien Demokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag beantrage ich,
daß wir die Beratung des Integrationsförderungsgesetzes
auf Drucksache 14/296 auf die Tagesordnung setzen.
Die F.D.P. hat bereits in der letzten Woche einen Gesetzentwurf zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts zugunsten der in Deutschland geborenen
Kinder eingebracht. Wir sind der Meinung, daß der
Deutsche Bundestag diese Sitzung - es ist die letzte
Gelegenheit vor der hessischen Landtagswahl - nutzen
sollte, um auch über diesen Gesetzentwurf zu sprechen.
({0})
Offengestanden bin ich ein wenig über Ihre Reaktionen irritiert, aus einem einfachen Grunde: Sie von der
SPD und den Grünen kritisieren die Unterschriftenaktion der Union, indem Sie sagen: Das gehört nicht auf die
Straße; das gehört in das Parlament.
({1})
Aber hier verweigern Sie auf Grund Ihrer Mehrheit eine
Aussprache.
({2})
Die Landtage diskutieren; die Stadtparlamente diskutieren; an den Infoständen wird diskutiert. Die Bürgerinnen und Bürger berührt und bewegt dieses Thema. Auch
das erste Forum dieser Republik, der Deutsche Bundestag, sollte über die Reform der Staatsangehörigkeit diskutieren.
({3})
Wir sind deswegen der Auffassung, daß es der Öffentlichkeit kaum zuzumuten und auch kaum erklärbar
ist, daß auf Grund eines Fehlers im Regierungsmanagement der morgige Freitag jetzt für sitzungsfrei erklärt
wird, während in dieser Woche noch Arbeit anliegt. Das
kann man nicht erklären.
({4})
Es ist aus Sicht der Freien Demokraten falsch, daß die
Abgeordneten einen Tag früher nach Hause in ihre
Wahlkreise geschickt werden, obwohl hier Arbeit anliegt, obwohl ein wichtiger Gesetzentwurf vorliegt, über
den vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit diskutiert werden muß.
({5})
Mit ein bißchen gutem Willen wäre es ohne weiteres
möglich, diese Debatte am heutigen Donnerstag zu führen. Dementsprechend waren die Initiativen unserer
parlamentarischen Geschäftsführung im Ältestenrat.
Dort konnte keine Einigung erzielt werden. Wir als
Minderheitsfraktion haben lediglich die Möglichkeit,
dies hier im Rahmen eines Geschäftsordnungsantrages
anzusprechen. Ein Erzwingungsrecht haben wir noch
nicht. Aber es ist im Hinblick auf die politische Kultur
kein gutes Zeichen, daß Sie eine solche Debatte im
Deutschen Bundestag verweigern.
Wir appellieren an Sie: Nehmen Sie Ihre Rolle als
Abgeordnete wahr! Diskutieren Sie vor den Augen der
Öffentlichkeit über etwas, was die Herzen und auch die
Köpfe der Menschen draußen wirklich berührt und bewegt! Jeder in Deutschland diskutiert mittlerweile über
das Thema doppelte Staatsangehörigkeit und über eine
Präsident Wolfgang Thierse
Politik der Integration der in Deutschland geborenen
Kinder. Nur der Deutsche Bundestag verweigert mit seiner Mehrheit eine Diskussion. Das ist nicht gut für die
politische Kultur. Deswegen ist der Antrag der Freien
Demokratischen Partei notwendig.
({6})
Wir werden zweifelsohne für eine Einigung mehr
Zeit brauchen als eine Debatte und eine Diskussion. Wir
werden zweifelsohne über die Parteigrenzen hinweg
noch manche Beratung brauchen. Dies kann, was Einigungsmöglichkeiten angeht, sinnvollerweise erst nach
der Landtagswahl stattfinden. Aber es ist ein Fehler, den
Eindruck zu erwecken, als sei das hier irgendein geschlossener Club. Der Deutsche Bundestag dient zunächst einmal den Bürgerinnen und Bürgern. Die Bürgerinnen und Bürger wollen eine Diskussion über die Zukunft der Ausländerintegration in Deutschland. Die
Mehrheit des Deutschen Bundestages sollte diese Diskussion hier in diesem Hohen Hause nicht verweigern.
({7})
Für die SPDFraktion hat Kollege Wilhelm Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Westerwelle, um
es gleich vorweg zu sagen: Wir sind Ihnen dankbar dafür, daß Sie selbst in Ihren Ausführungen sehr deutlich
darauf hingewiesen haben, daß Sie Ihren Gesetzentwurf
ausdrücklich vor der Hessen-Wahl debattieren wollten.
({0})
Damit erkennt man die Absicht und ist nicht verstimmt,
weil man von Ihnen nichts anderes erwartet hat.
({1})
Im übrigen ist es schon sehr verwunderlich, daß uns
die Opposition in jeder Sitzungswoche neu ein Schauspiel dahin gehend bietet, was sie selbst als Regierungsfraktionen in den vergangenen 16 Jahren versäumt hat.
({2})
Bei der heutigen Debatte über den Antrag zur Geschäftsordnung betreffend das Integrationsförderungsgesetz geht es um ein Thema, bei dem die Koalitionsfraktionen der früheren Jahre es nicht nur nicht geschafft haben, sich zu einigen, sondern auch zielgerichtet ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht zu produzieren. Sie
beharren immer noch darauf, ein Staatsangehörigkeitsrecht auf der Ebene der Gesetzgebung des Jahres 1913,
also aus der Kaiserzeit, zu setzen.
({3})
Wir sagen Ihnen dazu: Wir wollen ein anderes Staatsangehörigkeitsrecht.
({4})
Wir werden ein neues Staatsangehörigkeitsrecht zu präsentieren wissen. Wir werden dies den modernen Erfordernissen der heutigen Zeit und auch denen der Nachbarländer anpassen. Wir werden diesbezüglich eine
wohlvorbereitete Debatte in diesem Hause zulassen,
Herr Westerwelle, die Sie nur nicht heute, übrigens auch
nicht morgen, sondern im Laufe des ersten Halbjahres
bekommen werden. Damit erhalten Sie ausreichend Gelegenheit, hier im Deutschen Bundestag über das Staatsangehörigkeitsrecht zu sprechen.
({5})
Es handelt sich um den untauglichen Versuch der
F.D.P., in diesem außerordentlich sensiblen Feld Wahlkampf erneut auf die Spitze zu treiben und ihn hier ins
Haus zu holen, in das er zur Zeit jedenfalls nicht hineingehört, um in einer Weise auf Wählerstimmenfang zu
gehen, die wir nicht mitmachen wollen und werden. Wir
meinen, gerade das Staatsangehörigkeitsrecht sollte an
der Stelle nicht in dieser Weise behandelt werden.
Ich nutze die Gelegenheit, die uns dankenswerterweise gegeben ist, darauf hinzuweisen, daß wir auch die
Kampagne der CDU/CSU zum Thema der Staatsangehörigkeit auf das schärfste verurteilen.
({6})
Wir werden - das ist Ihnen durch die öffentlichen
Ankündigungen bekanntgeworden - ein modernes
Staatsangehörigkeitsrecht schaffen, das den seit langer
Zeit hier lebenden und in Deutschland geborenen Ausländern die deutsche Staatsangehörigkeit anbietet.
({7})
Damit es klar ist: Auch wir fordern - wie Herr Westerwelle - die CDU/CSU auf, ihre Auseinandersetzung
zu dem Thema nicht auf der Straße, sondern hier im
Parlament zu führen.
({8})
Kehren Sie zurück auf Ihren Platz als parlamentarische
Opposition, und gehen Sie nicht auf die Straße!
({9})
- Das ist auch richtig. - Wir werden Ihnen dazu, wohlvorbereitet wie immer,
({10})
die Gelegenheit bieten.
Um es auf den Punkt zu bringen - Sie brauchen sich
da auch gar nicht übermäßig zu echauffieren -: Wir bereiten den Gesetzentwurf in Ruhe vor. Wir werden ihn
hier vorlegen. Deswegen können und wollen wir heute
eine solche Debatte nicht führen. Ich füge im übrigen
gleich hinzu, daß wir deswegen - das ist durchaus ausreichend diskutiert - am morgigen Freitag im Bundestag
keinen Sitzungstag durchführen werden. Daher bitten
wir darum, die Präsenz aufzuheben.
({11})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Hans-Peter Repnik.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die
Integration der auf Dauer rechtmäßig bei uns lebenden
ausländischen Mitbürger in unserer Gesellschaft ist eine
der wichtigen Fragen unserer Zeit. Die ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger sind eine Bereicherung
unserer Gesellschaft. Ihre Integration ist deshalb nicht
nur eine Notwendigkeit. Ihre Integration ist für unsere
Gesellschaft gleichzeitig auch Chance und Ziel. Was
liegt also deshalb näher, als diese Frage im Deutschen
Bundestag zu debattieren?
({0})
Doch, meine sehr verehrten Damen und Herren hierbei richte ich mich an die Kolleginnen und Kollegen
von der F.D.P. -, was wir brauchen, ist ein Integrationskonzept, das nicht nur einzelne Facetten erfaßt, sondern
ein umfassendes Problemlösungsangebot macht.
({1})
Die Regierung Schröder hat hierzu bisher nichts Substantielles beigetragen. Auch der vorliegende Entwurf das ist seine Schwäche, Herr Westerwelle - tut das
nicht. Die von seiten der SPD anvisierte doppelte
Staatsbürgerschaft schafft ebensowenig Integration wie
der vorgelegte Gesetzentwurf der F.D.P.
Wir haben eben vom Kollegen Schmidt gehört, daß
ein „wohlvorbereiteter“ - wie bei anderen Themen auch
- Entwurf der Regierung kommen soll.
({2})
Wer sich allein einmal den Sitzungsplan dieser Woche
vor Augen hält, wer berücksichtigt, daß wir den morgigen Tag, wenn es nach Ihrem Antrag geht - darüber
werden wir nachher abstimmen -, sitzungsfrei stellen
müssen, weil Sie Ihren Entwurf über die Atomgesetznovelle nicht sorgfältig vorbereitet haben,
({3})
der weiß, wie diese Regierung in den letzten hundert
Tagen gearbeitet hat: schlampig auf allen Ebenen.
({4})
Dies, verehrter Herr Kollege Schmidt, ist keine billige Oppositionspolemik.
({5})
Wer heute einmal einen Blick in die Wochenzeitung
„Die Zeit“ wirft, in der diese hundert schlampigen Tage
der Regierung Schröder beschrieben werden, der kann
den Sachverhalt - dies ist ein Zitat aus der „Zeit“ - auf
folgende Worte bringen: „flockig reden, oberflächlich
planen und flüchtig arbeiten“. Bei all den Vorlagen von
Ihnen sind Sie bisher so verfahren, leider auch in dem
sensiblen Bereich des Ausländerrechts und der Integration.
({6})
Der Kollege Schmidt hat unsere öffentliche Aktion
angesprochen. Wir, die Union - dazu stehen wir -, haben die Themen „Integration unserer ausländischen Mitbürger“ und „regelmäßige Hinnahme der doppelten
Staatsangehörigkeit“ - das ist von Ihnen vorgeschlagen
worden - in die Öffentlichkeit getragen. Wir haben eine
öffentliche Diskussion in Gang gesetzt, die dort geführt
wird, wo sie hingehört, nämlich in die Mitte unserer Gesellschaft.
({7})
Wir müssen uns darüber im klaren sein: Wer ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger integrieren will,
der braucht auch die Bereitschaft und Offenheit unserer
deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger, und deshalb
müssen wir diese Diskussion in der Gesellschaft führen
und für Integration werben.
({8})
Aber wir müssen genauso deutlich machen, daß der
Weg, den die Koalition und die Schröder-Regierung anbieten, nämlich die regelmäßige Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit, integrationsschädlich ist. Auch
darüber müssen wir mit den Menschen reden.
({9})
Lieber Kollege Schmidt, ich kann Ihre Sorge sehr
wohl verstehen. Es lohnt sich, einen Blick in das letzte
„Politbarometer“ zu werfen. Ich sage das, weil Sie von
ausländerfeindlichen Aktionen gesprochen haben. Zwei
Umfragedaten möchte ich Ihnen zur Kenntnis geben:
Immerhin sind im Januar 63 Prozent der Bevölkerung in
der Bundesrepublik Deutschland der Meinung, daß die
doppelte Staatsangehörigkeit ein Fehler sei, und sie lehnen sie deshalb ab. Das muß Ihnen doch zu denken geben.
({10})
- Das hat doch nichts mit „Kampagne“ zu tun.
({11})
Vielmehr ist dadurch, daß wir das in die Öffentlichkeit
hineingetragen haben, den Bürgerinnen und Bürgern
überhaupt erst klargeworden, was Sie bei diesem Thema
vorhaben. Damit werden Sie natürlich konfrontiert.
({12})
Wilhelm Schmidt ({13})
Die gleichen Befragten, von denen ja zwei Drittel die
doppelte Staatsangehörigkeit ablehnen, antworten auf
die Frage, ob die Kampagne ausländerfeindlich sei
- dies tun 75 Prozent -, die Kampagne der Union sei
nicht ausländerfeindlich. Auch dies ist doch ein Befund,
mit dem Sie leben müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen ein Integrationskonzept. Wir werden in den nächsten Wochen Vorlagen zur Integration und zur doppelten
Staatsangehörigkeit in das Parlament einbringen. Der
heute von der F.D.P. vorgelegte Gesetzentwurf ist zur
Lösung dieser gesamten Probleme nicht geeignet. Kein
Wort zum Thema Sprachausbildung, Schule, berufliche
Integration, Wohnumfeld, Kultur und Religion, genausowenig wie von der Regierungsseite!
Deshalb halten wir das Thema heute nicht für beratungsfähig. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von
der F.D.P. um Verständnis, daß wir ihrem Antrag heute
nicht zustimmen können.
({14})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat nun Kollege Cem Özdemir
das Wort.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der F.D.P. findet nicht unsere Zustimmung, weil er
zu kurz gesprungen ist. Das Optionsmodell, das die
F.D.P. vorschlägt, vergißt die entscheidende Gruppe, um
die es bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes
geht:
({0})
Zur ersten Generation sagen Sie gar nichts. Nach 30, 40
Jahren Migration, nachdem diese Generation zum Wohlstand dieser Republik beigetragen hat, zu ihr nichts zu
sagen, das ist nicht nur zuwenig, das ist einfach auch eine Ungerechtigkeit gegenüber Menschen, die zum
Wohlstand dieses Landes beigetragen haben.
({1})
Aber mein entscheidender Kritikpunkt ist ein ganz
anderer. Das von Ihnen vorgeschlagene Optionsmodell
ist insgesamt nicht schlüssig,
({2})
weil es dem Anliegen - ich vermute, dem gemeinsamen
Anliegen - an einer Stelle nicht gerecht wird.
({3})
- Sie sollten einmal zuhören; dann lernen Sie meine Argumente kennen. - Wir sind der Meinung, daß Kinder,
die bei uns geboren werden, Teil dieser Gesellschaft sein
sollen. Die CDU sagt, sie seien Ausländer und sollten
Ausländer bleiben. Sie macht sie zu Ausländern auf Lebenszeit.
({4})
Die F.D.P. sagt, Ausländer bis zum 18. Lebensjahr. Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin ich der Meinung, daß dieser Antrag unserer Sache nicht weiterhilft.
Sie haben klar gesagt, warum Sie den Antrag vor der
Hessen-Wahl stellen: weil es Ihnen um Wahlkampf
geht. Ich glaube, daß es der Sache auch nicht weiterhilft,
hier eine Wahlkampfshow zu machen.
Lassen Sie mich noch etwas zur Unterschriftenaktion
der Union sagen.
({5})
- Doch, das paßt zu diesem Thema. Das paßt auch zur Geschäftsordnung; keine Sorge, Herr Kollege Westerwelle.
Ich halte es für ein jämmerliches Bild, daß eine Partei
wie die Volkspartei Union es zuläßt, daß Menschen bei
dieser Unterschriftenaktion unterschreiben, denen es
nicht um die Debatte über das Staatsangehörigkeitsrecht
geht, denen es nicht um den besseren Vorschlag geht,
sondern die mit ihrer Unterschrift ausdrücken wollen,
daß es ohnehin schon zu viele Ausländer gebe; Ausländer gehörten raus. Diese Unterschriften sammeln Sie.
({6})
Auf unseren Informationsständen informieren wir die
Menschen über das, was wir vorhaben. Dort fragen uns
Menschen, wo man hier gegen Ausländer, gegen Türken
unterschreiben könne. Diese Unterschriften sammeln
Sie. Sie sollten sich schämen, daß Sie dafür ein Forum
bieten. Das ist eine Schande!
({7})
Ich möchte ausdrücklich all diejenigen, die sich mit
uns um den besseren Vorschlag streiten, davon ausnehmen. Die F.D.P. hat ein eigenes Konzept. Ich weiß, daß
auch manche in der Union mit dem Vorgehen ihrer Parteien nicht einverstanden sind. Auch die möchte ich ausdrücklich ausnehmen. Es ist ein Streit der Gerechten,
daß man sich um eine bessere Lösung bemüht. Aber mit
Unterschriften, die gegen jede Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes gerichtet sind, fügen Sie nicht nur sich
selber Schaden zu, sondern auch unserem gemeinsamen
Land. Sie fügen dem Zusammenleben von Deutschen
und Nichtdeutschen Schaden zu: einen Schaden, den wir
wiedergutmachen müssen;
({8})
denn wir werden uns jetzt darum kümmern müssen, daß
die Ängste, die jetzt bei Nichtdeutschen entstanden sind,
wieder eingefangen werden.
({9})
Wir bekommen viele Anrufe von Nichtdeutschen, die
vor dem Angst haben, was jetzt wieder passieren wird,
und auch von vielen Deutschen, die verunsichert sind.
Zum Schluß möchte ich Sie bitten, liebe Kolleginnen
und Kollegen, auch in Wahlkampfzeiten, in denen wir
uns streiten, nicht so weit zu gehen, daß wir mit Unwahrheiten und Teilwahrheiten arbeiten.
({10})
In dieser Diskussion wird wie in kaum einer anderen mit
Unwahrheiten gearbeitet. Es wird gesagt, wer die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem rotgrünen Gesetzentwurf bekomme, dürfe sich aussuchen, wo er Steuern
zahlt, dürfe sich jederzeit der Wehrpflicht entziehen. Es
wird auch gesagt, wer über die Grenze komme, bekomme sofort einen deutschen Paß.
Dies alles ist nicht richtig. Unser Gesetzentwurf
schafft bei der Einbürgerung Hürden, die zum Teil höher
als das sind, was Sie gemacht haben. Wir werden von
den Leuten das verlangen, was Sie abgeschafft haben:
Sie haben abgeschafft, daß man sich zu dieser Gesellschaft bekennen muß; Sie haben es abgeschafft, daß man
Deutsch können muß. Das werden wir wieder einführen.
Wir entwerfen ein Gesetz, das ausgewogen ist und das
die Ängste der Menschen ernst nimmt.
Darüber hinaus unterscheiden wir uns in einem von
Ihnen: Wir entwerfen ein Gesetz, das aus Ausländern
Inländer macht. Sie wollen Ausländer, wir wollen Inländer. Das ist der Hauptunterschied zwischen uns. Ich fordere Sie von der F.D.P. auf: Machen Sie bei unserem
Gesetzentwurf mit!
({11})
Kommen Sie zu unserer ursprünglichen Position zurück!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man sollte es vielleicht noch einmal sagen, weil viele es nicht mehr wissen: Die ursprüngliche Position der F.D.P. war ein Gesetzentwurf von Frau Schmalz-Jacobsen, mit dem die
Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft zugelassen
werden sollte. Genau das haben wir umgesetzt. Bitte,
machen Sie mit! Helfen Sie uns, die Mehrheit der Bevölkerung von der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zu überzeugen!
Danke sehr.
({12})
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat Kollege Roland Claus.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wir können es uns nicht
so leicht wie meine Vorredner machen. Wenn es einen
Beweis dafür gibt, wie notwendig diese Diskussion ist,
dann war es das, was meine Vorredner abgeliefert haben,
({0})
weil sie - zumindest nach meinem Empfinden - ausdrücklich in der Sache argumentiert haben.
({1})
Meine Damen und Herren von der F.D.P.-Fraktion,
wir lehnen Ihren Gesetzentwurf grundsätzlich ab. Ich
darf Ihnen aber in der Geschäftsordnungsdebatte nicht
sagen, warum wir das tun.
({2})
Aber: Trotz dieser erheblichen Differenzen in der Sache
- darum geht es dem Kollegen Westerwelle zunächst
nicht.
An die Adresse der F.D.P. will ich aber auch sagen:
Unser Wohlwollen wäre bedeutend größer gewesen,
wenn Sie diesen Antrag eine klitzekleine Wahlperiode
früher gestellt hätten.
({3})
Lassen Sie uns doch nun einmal überlegen, was für
den F.D.P.-Antrag sprechen könnte. Bei aller inhaltlichen Differenz meine ich: Darüber reden müßten wir
schon.
({4})
Die Koalition hat als erstes die Gesellschaft wirklich
berührendes, weil veränderndes Projekt die Reform des
Staatsbürgerschaftsrechtes angekündigt. Daraufhin und,
wie gesagt, noch bevor ein Gesetzentwurf vorliegt, hat
sich die CDU unter dem Druck der CSU zu dieser unseligen Unterschriftenaktion entschlossen und hat überall
etwas trotzig gesagt: Die Straße ist unser.
Ich will Ihnen eines sagen: Nicht dieser F.D.P.Antrag spaltet das Parlament, sondern die in ihrer gesellschaftlichen Wirkung verheerende CDU/CSU-Aktion.
({5})
Darüber zu reden - mehr nicht - wird durch den Geschäftsordnungsantrag der F.D.P. verlangt.
Was macht die Bundesregierung in dieser Situation?
Sie sagt, sie „hätte bald fertig“. Sie „hat“ schon alles
Mögliche „fertig“, nur nicht dieses Gesetz. Obwohl in
der Sache vieles gegen den F.D.P.-Antrag spricht, haben
wir uns entschlossen, einer Aufsetzung auf die Tagesordnung zuzustimmen. Es hat der Regierungsarbeit noch
immer genützt, es hat sie auch beschleunigt und meistens auch qualifiziert, wenn vor dem Einbringen eines
Gesetzentwurfs der Regierung bereits ein Entwurf der
Opposition das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren passiert hat.
Ich danke Ihnen.
({6})
Wir kommen zur
Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag
der F.D.P.? - Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktionen von F.D.P. und PDS abgelehnt.
Die F.D.P.-Fraktion hat eine Unterbrechung der Sitzung und eine Sitzung des Ältestenrates beantragt. Ich
unterbreche damit die Sitzung für 15 Minuten.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Sitzung wird fortgesetzt.
Durch die Absetzung des Tagesordnungspunktes 11,
die Behandlung der Atomrechtsnovelle, sieht die Tagesordnung für morgen keine Beratungspunkte vor.
Die F.D.P.-Fraktion möchte eine förmliche Abstimmung zu der Frage, ob die Präsenzpflicht für morgen
aufgehoben werden soll.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag der
F.D.P. zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Der Antrag der F.D.P., die Präsenzpflicht
nicht aufzuheben, ist gegen die Stimmen von SPDFraktion und Bündnis 90/Die Grünen bei mehrheitlicher
Stimmenthaltung der CDU/CSU-Fraktion und Stimmenthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt worden.
Damit kommen wir zum Tagesordnungspunkt 3:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst
- Drucksache 14/232 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Innenausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Karl-Hermann Haack, SPD-Fraktion, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist
das erste Mal, daß wir in der 14. Legislaturperiode ein
solches Thema in diesem Hause behandeln: die Beschäftigungssituation Schwerbehinderter in unserer Gesellschaft. Es liegt der Bericht der alten Bundesregierung zur Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst vor. Dies ist gewissermaßen ein Teilausschnitt aus der Gesamtsituation der Beschäftigten in unserer Gesellschaft.
Dieser Bericht gibt uns eine Menge statistischer Informationen zum Stand der Beschäftigung, aber auch zu den
Bemühungen zur Integration Behinderter in unserer Gesellschaft. Dieser Bericht ist auch ein Abbild der Integrationsfähigkeit des Sozialstaates Bundesrepublik Deutschland. Auch zeigt er die Defizite auf, die in diesem Bereich
durch politisches Handeln noch aufzulösen sind.
Ich möchte in diesem Zusammenhang, wenn wir solche Berichte als Abbild der Integrationsfähigkeit von Behinderten in unserer Gesellschaft sehen, darauf hinweisen,
daß wir in diesem Jahr am 24. Mai im Rahmen eines
Staatsaktes unserer Staatsgründung vor 50 Jahren und der
Tatsache gedenken, daß in der verfassunggebenden Versammlung von 1949 die Aufnahme des Sozialstaatsgebotes in das Grundgesetz beschlossen wurde. Dieses Sozialstaatsgebot ist 1993 durch eine Erweiterung des Art. 3 unseres Grundgesetzes ergänzt worden, daß niemand wegen
seiner Behinderung in unserer Gesellschaft benachteiligt
werden darf. Damit hat dieses Parlament für die 14. Legislaturperiode den Auftrag, die Integration behinderter
Menschen, behinderter Frauen und Männer, Jugendlicher
und Kinder, weiter voranzutreiben.
Zunächst einmal ist festzuhalten - hier wende ich
mich an den früheren Bundesarbeitsminister Norbert
Blüm -, daß dieser Bericht ausweist, daß die Bundesbehörden, besonders das Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung, in hervorragender Weise die
Pflichtquote erfüllt haben.
({0})
Das will ich hier ausdrücklich sagen, weil wir in den
vorangegangenen Debatten immer feststellen und den
Satz des früheren Bundesarbeitsministers unterstreichen
konnten, daß die öffentliche Hand in dieser Hinsicht
eine Vorbildfunktion zu erfüllen hat.
Wenn ich dieses Lob ausspreche, dann will ich aber
auch nicht verschweigen, daß es in der letzten Legislaturperiode zu gravierenden Verschlechterungen der materiellen Situation der Behinderten gekommen ist und
daß wir uns vorgenommen haben, in dieser Legislaturperiode hierzu etwas Neues zu machen, das heißt, diesen
Trend umzukehren.
({1})
Ich widme mich nun den Einzelheiten des Berichtes.
Nachdem ich den früheren Bundesarbeitsminister gelobt
habe, will ich generell feststellen, daß der Bericht ausweist, daß wir in einer unbefriedigenden Situation leben.
Herr Kollege Haack,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ilja Seifert, PDS-Fraktion?
Ja. Nur zu!
Herr Kollege Haack, mit
Freude höre ich, daß Sie beabsichtigen, die Situation
von Menschen mit Behinderungen in dieser Legislatur1266
periode entscheidend zu verbessern. Heißt das, daß Sie
wirklich Nachteilsausgleiche einführen wollen, die substantiellen Charakter in Richtung selbstbestimmtes Leben haben? Dann würde ich mich freuen, wenn Sie hier
einige Eckpunkte nennen könnten.
Wir haben
in unserer Koalitionsvereinbarung vier Punkte definiert,
die wir abarbeiten wollen.
Der erste Punkt bezieht sich auf das Sozialgesetzbuch IX. Hierbei werden wir die Frage zu diskutieren
haben, inwieweit es ein Entweder-Oder oder ein Sowohl-Als-Auch geben soll. Sie wissen, daß es in der Debatte um die zukünftige Situation von Behinderten zwei
unterschiedliche Auffassungen gibt, die zur Zeit sehr
energisch und intensiv diskutiert werden. Die eine Seite
hat sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß sie,
gebunden an ihre traditionellen Werke wie Caritas und
Diakonie, zu hören bekommt: Behinderte sind in diesen
Einrichtungen mehr Objekt als Subjekt. Zum anderen
sagt die Arbeitsgemeinschaft „Selbstbestimmtes Leben“,
der Sie ja zuneigen: Der Behinderte muß von seiner gesellschaftlichen Situation, Objekt von Betreuung zu sein,
„erlöst“ werden, und man muß eine emanzipatorische
Behindertenpolitik betreiben, das heißt Formen selbstbestimmten Lebens entwickeln.
In Vorbereitung der Änderung des Sozialgesetzbuches IX haben wir vor einigen Tagen mit dem Vorstand
der „Lebenshilfe“ die Frage diskutiert, ob dort Wahlfreiheiten mit hineingenommen werden könnten. Damit
könnte beispielsweise ein benachteiligter Mensch selbst
oder in partnerschaftlicher Beratung entscheiden, ob er
in eine Werkstätte für Behinderte geht oder ob er die
Assistenz von Integrationsfachdiensten und von Integrationsfirmen in Anspruch nimmt und in der Arbeitswelt
ein selbstbestimmtes Leben führt.
Wir werden also gewissermaßen eine Brücke bauen
zwischen früheren traditionellen Einrichtungen beschützten Arbeitens und dem ersten Arbeitsmarkt, so
daß der benachteiligte Mensch seine Situation selbst bestimmen kann. Wir sind auf dem Weg hierzu und werden uns bei der Konzipierung des Sozialgesetzbuches IX
intensiv darauf einzurichten haben.
Des weiteren - um den zweiten Punkt zu sagen, der
mich sehr beeindruckt hat - hat die „Lebenshilfe“ vorgeschlagen, eine Wahlfreiheit dahingehend zu schaffen,
daß ein Mensch mit Benachteiligungen im Leistungsgeschehen entweder die traditionelle Sozialbürokratie in
Anspruch nimmt oder, nach Prüfung dem holländischen
Modell folgend, gewissermaßen über ein Budget verfügt
und selbst die Leistungen „einkaufen“ kann, die er für
nötig hält.
Sie sehen also, daß wir auf dem Wege sind, einen
Kompromiß zwischen den unterschiedlichen Auffassungen zu finden. In meiner Position als Beauftragter der
Bundesregierung für die Belange der Behinderten sage
ich: Ich will einen Beitrag zur Integration leisten. Ich
will keine Situation des Entweder-Oder, sondern eine
Situation des Sowohl-Als-Auch befördern. - Dies ist
meine Antwort auf Ihre Frage.
Der Kollege Seifert
möchte eine Nachfrage stellen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Haack, es war
sehr interessant zu hören, daß Sie mit den Behindertenverbänden und insbesondere mit der „Lebenshilfe“ reden. Vielleicht reden Sie mit den anderen Verbänden
auch noch etwas öfter.
Konkrete Nachfrage: Haben Sie eine zeitliche Vorstellung, wann Sie das, was Sie jetzt gesagt haben, als
Antrag oder Gesetzentwurf vorlegen, über den wir dann
wirklich reden können und über den auch in der Öffentlichkeit geredet werden kann?
Am 3. Dezember letzten Jahres habe ich anläßlich des Weltbehindertentages folgendes gesagt:
Im Koalitionsvertrag stehen vier Punkte. Das erste ist
die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation unter dem Stichwort Eingliederung von Menschen
mit Benachteiligungen in unserer Gesellschaft. Zweitens
müssen wir uns in dieser Legislaturperiode über die Arbeitsplatzsituation dieser gesellschaftlich benachteiligten Gruppe unterhalten. Insoweit haben wir zum Beispiel darauf hingewirkt, daß in dem 100 000-PlätzeProgramm für Jugendliche insbesondere Jugendliche mit
Benachteiligungen berücksichtigt werden. Dies ist eine
ganz konkrete Aufgabenstellung, die die örtlichen Arbeitsämter abzuarbeiten haben. Ich kann die Kolleginnen
und Kollegen des Hauses nur bitten, zu kontrollieren, ob
die Arbeitsämter das auch tun.
Der dritte Punkt, über den wir uns zu unterhalten haben, betrifft ein Gleichstellungsgesetz. Hier nehme ich
zunächst einmal zur Kenntnis, daß die Kollegin Stolterfoht in Hessen mit ihrem Gesetzesentwurf gescheitert
ist, und zwar im eigenen Kabinett. Man muß prüfen,
woran das gelegen hat.
Der vierte Punkt ist die Gebärdensprachprüfung.
Diesem Hause hat im letzten Jahr ein Antrag vorgelegen, der dann abschlägig beschieden worden ist. Auch
da werden wir auf der Basis dessen, was dieses Parlament wollte, weiterarbeiten müssen. Ich habe versucht,
für diese Debatte eine Gebärdendolmetscherin zu engagieren. Das ist aber unter Hinweis auf die Beschlußlage
des vergangenen Jahres abgelehnt worden. Wir müssen
uns überlegen, wie wir dieses Problem im Berliner Parlament lösen. Ich halte das für wichtig.
Sie sehen: Wir sind auf einem guten Wege. Sie sind
herzlich eingeladen, uns mit Ihrer Fachkompetenz kritisch zu begleiten. Ich glaube, daß wir dann noch etwas
von Ihnen lernen können.
Ich fahre fort in dem Bericht. Die Quote der Beschäftigung von Behinderten ist im öffentlichen Dienst insgesamt sehr schlecht. Im öffentlichen Dienst der Bundesländer sind wir bei 5,2 Prozent angelangt; bei den
privaten Arbeitgebern sind es 3,4 Prozent. Es gibt aber
gewaltige Ausreißer. Ich möchte hier feststellen, daß
man über den früheren Ministerpräsidenten des Saarlandes und heutigen Bundesfinanzminister eine positive
Aussage machen kann: Das Saarland hat eine vorbildliche Beschäftigungsquote von 7,3 Prozent.
({0})
Das Schlußlicht bilden Bayern mit 4,8 Prozent
({1})
und Sachsen mit 3,8 Prozent. Ich habe die Bitte an die
Kolleginnen und Kollegen aus Sachsen und Bayern, daß
sie mit ihren Landesregierungen da entsprechend nacharbeiten.
({2})
Das bedeutet: Wir dürfen die Arbeitsmarktsituation
dieser Bevölkerungsgruppe nicht aus dem Auge verlieren. Ich betone ausdrücklich, daß - quer durch die Fraktionen - die Feststellung gilt: Die Pflichtquote ist eine
Mindestquote; sie ist der unterste Level und nicht das
Optimum. Um das zu erreichen, was wir uns vorstellen,
muß noch mehr getan werden.
Bedauerlicherweise ist, wenn man die Einstellungsquoten und die Abgangsquoten betrachtet, festzustellen,
daß beim Ausscheiden älterer Mitarbeiter in den Firmen
oder in den öffentlichen Einrichtungen nicht die Chance
genutzt wird, Behinderte einzustellen. Da steht das Kostenargument im Vordergrund. Es wird gesagt, die Behinderten seien zu teuer und man könne das nicht machen. Das Ganze müßte flexibler gehandhabt werden.
Die Antwort auf diese Argumentation findet sich in
dem vierten Bericht der Bundesregierung. Dort wird
dargestellt, was durch die Integrationsfachdienste, die
angeboten werden, durch die finanziellen Leistungen,
die von den Hauptfürsorgestellen erbracht werden, und
die Beratungsdienste der Hauptfürsorgestellen erreicht
wird. Das zeigt, daß die Argumentation unzutreffend ist.
Da, wo Hauptfürsorgestellen angesprochen werden, sind
meistens sehr gute Einstellungsquoten nachzuweisen.
Die Beschäftigungsquote wird in den nächsten Jahren erhöht werden müssen. Wir werden dem vierten
Bericht der Bundesregierung folgen. Wir wollen die
Integrationsfachdienste ausbauen, um zu erreichen, daß
gewissermaßen eine spezielle Arbeitsvermittlung für
diesen Teil der benachteiligten Bevölkerungsgruppen
eingerichtet wird. Insofern meine ich, daß es nur eine
zynische und faule Ausrede ist, wenn man sich darauf
zurückzieht, daß die Vermittlung und die Beschäftigung von behinderten Menschen in unserer Gesellschaft zu bürokratisch organisiert und zu teuer sei. Man
muß sich da nur um die entsprechenden Fachdienste
kümmern. Dann wird man feststellen, daß dies nicht
der Fall ist.
Wir leben darüber hinaus in einer Umbruchsituation,
die eben durch die Nachfrage des Kollegen Seifert noch
einmal deutlich gemacht worden ist. Viele behinderte
Menschen in unserer Gesellschaft möchten nicht mehr in
Werkstätten für Behinderte, die klassische Form der Beschäftigung, gehen, sondern einen Weg finden, in den
ersten Arbeitsmarkt zu gelangen. Hier werden wir auch
die Integrationsfachdienste auffordern müssen, diesem
Rechnung zu tragen. Dazu gibt es eine Menge Modellversuche.
({3})
Ich führe gerade Gespräche darüber, diese Modellversuche - weil jetzt erkennbar wird, daß sie positiv sind vorzeitig zu beenden mit der Zielsetzung, im Jahre 2000
auf der Basis dieser Modellversuche einen Akzent zu
setzen und die Erfahrungen umzusetzen.
Ich möchte noch einmal auf die vier wichtigen Punkte
hinweisen, die für die Arbeit dieser Koalition und der
neuen Bundesregierung bedeutsam sind. Erstens. Wir
werden auf der Basis von Art. 3 des Grundgesetzes Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen in unserer Gesellschaft - ein Gleichstellungsgesetz vorlegen.
({4})
Dieses Gleichstellungsgesetz wird mit 16 Bundesländern
abzustimmen sein. Da wird ein gewaltiges Stück Arbeit
auf uns zukommen. Als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten verschaffe ich mir
zur Zeit eine Übersicht über die Rechtslage auf diesem
Gebiet. Die neuen Bundesländer erarbeiten bereits entsprechende Gesetzentwürfe. Ich will versuchen, die Zusammenarbeit in diesem Bereich so zu organisieren, daß
wir noch in dieser Legislaturperiode ein Gleichstellungsgesetz verabschieden können.
({5})
Zweitens. Im Rahmen des SGB IX, also der Neuordnung des Schwerbehindertenrechts und des Rehabilitationsrechts, wollen wir erreichen, daß auch emanzipatorische Ansätze, wie sie zur Zeit von Behindertenorganisationen vorgetragen werden, ihren Niederschlag finden.
Ich habe das eben an zwei Beispielen erläutert.
Zum einen möchte ich eine Wahlfreiheit für behinderte Menschen sicherstellen. Das heißt, daß sie sich
entscheiden können, entweder in eine geschützte Werkstatt zu gehen oder über eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zu gehen und unter Inanspruchnahme von
Assistenz selbstbestimmt zu leben und zu arbeiten. Das
ist ein großer Wunsch, der mir auch gestern wieder von
einer Besuchergruppe aus Bethel vorgetragen worden
ist. Sie hat gesagt: Wir möchten nicht mehr in den geschützten Werkstätten sein, sondern mit entsprechenden
Hilfen der Hauptfürsorgestelle in Bielefeld arbeiten. An
dem Punkt müssen wir ein Wahlrecht schaffen.
Zum anderen muß im Rahmen dieses Gesetzes folgende Frage erörtert und entschieden werden: Können
wir Menschen mit Behinderungen die Wahlfreiheit geben, entweder direkt Fachdienste und andere Hilfen in
Anspruch zu nehmen oder - nach dem holländischen
Modell - ein Budget zu erhalten, mit dem sie selbst entscheiden können, welche Art von Hilfe sie in Anspruch
nehmen wollen? In Holland läuft das sehr gut. Ich werde
mir das dort ansehen und dann die Kolleginnen und
Kollegen hier bitten, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.
Karl-Hermann Haack ({6})
Drittens. Die Frage der Arbeitslosigkeit in diesem Bereich habe ich bereits hinreichend erörtert.
Viertens. Bei der Einführung der Gebärdensprache
gibt es unterschiedliche Konzeptionen. Ich war vor Antritt meines Amtes der Auffassung - in einer etwas oberflächlichen Befassung mit diesem Problem; das will ich
hier gerne sagen -, Gebärdensprache sei international.
Ich mußte feststellen: Gebärdensprache ist national.
In dem Zusammenhang gibt es einen zweiten Konflikt. Einem Kind sollte man, wenn es dazu in der Lage
ist, sehr früh die Lautsprache beibringen und nicht die
Gebärdensprache. Eventuell muß es beide erlernen. In
Frankreich gibt es Formen der bilingualen Erziehung,
das heißt, die Kinder erlernen sowohl die Laut- als auch
die Gebärdensprache.
Wir haben zu diesem Punkt in der letzten Legislaturperiode unterschiedliche Anträge vorgelegt. Ich möchte
Sie bitten, zu akzeptieren, daß zunächst eine fachwissenschaftliche Erörterung stattfinden muß, bevor wir besondere Gesetze machen. Ich bin nämlich fest davon
überzeugt, daß wir die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung nicht führen können.
Die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder hat angekündigt, im Sommer 1999 einen umfassenden Bericht
zu diesem Thema vorzulegen. Auf der Basis dieses Berichtes werden wir dann versuchen, ein Gesetz auf den
Weg zu bringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wünsche mir, daß wir in dieser Legislaturperiode vor dem
Hintergrund des Sozialstaatsgebots Art. 3 konkretisieren
und die Benachteiligung von behinderten Menschen in
unserer Gesellschaft nicht länger zulassen. Die Tatsache,
daß die Bundesrepublik Deutschland dieses Jahr 50 Jahre alt wird, sollten wir zum Anlaß nehmen, etwas für die
Benachteiligten in unserer Gesellschaft zu tun.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun die
Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können
feststellen, daß der diesjährige Bericht über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst in
der Kontinuität der letzten Jahre steht und eine im Vergleich zu den Vorjahren fast unveränderte Situation widerspiegelt.
Der Bund erfüllt die gesetzliche Vorgabe mit deutlich
über 6 Prozent. Beim Bund, also bei allen obersten Bundesbehörden und nachgeordneten Dienststellen, liegt die
Beschäftigung Schwerbehinderter bei 6,7 Prozent. Ich
finde schon, das ist eine erfreuliche Tatsache; denn das
ist keine Selbstverständlichkeit. So etwas kommt nicht
von alleine, sondern es sind viele Bemühungen unternommen worden, um diesen Stand zu erreichen.
Dann kommt aber auch schon das Aber; dieses Aber
wird durch diesen Bericht auch deutlich. Keine Frage,
wir hatten im öffentlichen Dienst in den letzten Jahren
einen erheblichen Stellenabbau, also weniger Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst und damit sicherlich auch
weniger mit Behinderten zu besetzende Arbeitsplätze.
Die Zahl der Arbeitsplätze aber, die tatsächlich mit
Schwerbehinderten besetzt worden sind, ist deutlicher
zurückgegangen als die Zahl der zu besetzenden Arbeitsplätze.
Die Ursache dafür ist vor allen Dingen in der geringen Neueinstellung zu suchen. Wir haben bei den Neueinstellungen eine Schwerbehindertenquote von nur 3
Prozent. Daraus ergibt sich dann natürlich auch ein negatives Verhältnis von Neueinstellungen bzw. neu in
den Grad der Schwerbehinderten aufgenommenen Beschäftigten zu den Abgängen von Schwerbehinderten im
öffentlichen Dienst. Das ist ein krasses Mißverhältnis,
was über die Zeit ganz zwangsläufig zum Abbau der
Schwerbehindertenquote beitragen wird. Das heißt, wir
haben eine Neueinstellungsquote von Behinderten, die
weit unter der liegt, die zur Erfüllung der Beschäftigungsquote langfristig notwendig ist.
({0})
Man darf ja auch nicht vergessen, daß der Hauptteil
an Neuzugängen im öffentlichen Dienst bei Schwerbehinderten diejenigen sind, die schon Beschäftigte sind
und neu eingestuft werden, nicht aber direkt Neueinstellungen. Das heißt, daß Außenstehende kaum eine
Chance haben, in ein Beschäftigungsverhältnis zu gelangen. Das bedeutet, daß trotz der guten Bilanz Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Abgänge von Schwerbehinderten durch ausreichende Neueinstellungen zu kompensieren.
Ich hätte mich gefreut, Herr Haack, wenn wir über Ihre Vorstellungen, wie das geschehen soll, etwas mehr
gehört hätten. Mein Kollege Franz Romer wird darauf
eingehen.
({1})
Sie wissen doch: Wir haben in den Jahren 1991, 1992
und 1993 viele Beschlüsse gefaßt, damit wir heute überhaupt diese Beschäftigungsquote von 6,7 Prozent erreichen, Herr Kollege. Sie sind natürlich jetzt in der
Pflicht, diesen Stand zu halten. Deswegen wäre es interessant zu erfahren, welche konkreten Vorstellungen Sie
haben, wie Sie das sicherstellen wollen.
({2})
- Ich habe Sie gefragt. Sie haben da wenig genannt.
Meine Damen und Herren, wenn sich beim Bund
schon ein ungünstiger Trend zeigt, so ist es noch unbefriedigender, daß sich die Situation in den Ländern und
Kommunen doch noch deutlich schlechter darstellt. Eine Behindertenquote von 5,2 Prozent bei den öffentlichen Arbeitgebern von Bund, Ländern und Kommunen
zusammen und von nur 4,6 Prozent bei den obersten
Landesbehörden bleibt ganz klar hinter den gesetzlichen
Vorgaben zurück.
Karl-Hermann Haack ({3})
Herr Haack, da nützt es nichts, wenn Sie hier eine
selektive Betrachtungsweise praktizieren. Wenn Brandenburg eine Beschäftigungsquote von 3,1 Prozent und
Niedersachsen von 4,5 Prozent zu verzeichnen hat, dann
ist das auch nicht so berauschend; vielmehr sind sie
gleichermaßen gefordert.
({4})
Ich denke, wir sind uns darüber einig, daß auf diese
Weise die Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes
nicht wahrgenommen werden kann. Diese ist aber dringender denn je, denn wenn man sich die Beschäftigtenquote von Schwerbehinderten in der privaten Wirtschaft anschaut, erweist sich, daß es absolut inakzeptabel ist, was wir dort erleben.
Wie seit Jahren schon ist die Beschäftigungsquote
von Schwerbehinderten in der privaten Wirtschaft auf
einem äußerst niedrigen Niveau und mit 3,5 Prozent
wiederum niedriger als im letzten Jahr.
Kollegin Nolte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Nein.
Keine Frage, die schwierige Arbeitsmarktlage wirkt
sich auf bestimmte Gruppen besonders gravierend aus.
Hierzu gehören die Schwerbehinderten, zumal wir alle
wissen, daß sie in der Regel mehrere Merkmale auf sich
vereinen, die einer Einstellung oft entgegenstehen, wie
zum Beispiel Langzeitarbeitslosigkeit oder ein höheres
Alter. Im Durchschnitt des Jahres 1998 waren fast
195 000 Schwerbehinderte arbeitslos. Auch wenn wir
gegenüber 1997 einen Rückgang von etwa 0,4 Prozent
zu verzeichnen haben, muß man feststellen, daß dieser
Stand eindeutig zu hoch ist. Die Situation stellt sich
regelrecht kraß dar, wenn man die 520 000 unbesetzten
Pflichtarbeitsplätze betrachtet.
Drei Viertel aller Arbeitgeber kommen ihrer Beschäftigungspflicht nicht oder nicht in vollem Umfang
nach. Verständlicherweise ist die Situation bei kleineren Betrieben schlechter. Mit diesem Zustand dürfen
wir uns einfach nicht abfinden. Es ist ein Zeichen von
Menschlichkeit unserer Gesellschaft, inwieweit wir
Ausgrenzung verhindern und inwieweit wir jedem die
Chance geben, am Arbeitsleben gleichberechtigt teilhaben zu können; denn Arbeit ist mehr als nur Geldverdienen, weil sich auch aus ihr das Selbstbewußtsein
entwickelt.
({0})
Wir sind uns darüber einig, daß die gesetzlichen
Grundlagen ausreichend sind. Wir brauchen aber eine
veränderte Einstellung. Wir werden das Problem nur lösen können, wenn Arbeitgeber die Einstellung von Behinderten zu ihrem eigenen Anliegen machen. Deshalb
ist es so wichtig, daß der öffentliche Dienst in diesem
Bereich voranschreitet. Er hat die Chance, mit Hilfe von
verschiedenen Maßnahmen, die zu einer höheren Beschäftigung von Schwerbehinderten führen, Ideengeber
für die private Wirtschaft zu sein.
({1})
Es ist schon angedeutet worden, daß wir heute zum
erstenmal die Gelegenheit zu einer Debatte haben, in der
behinderte Bürger im Mittelpunkt stehen. Daraus ergibt
sich zwangsläufig die Erwartung, daß die jetzige Regierungskoalition etwas Grundsätzliches über ihre Behindertenpolitik sagt. Auch für diesen Bereich war im
Wahlkampf das Motto „Wir werden nicht alles anders,
aber vieles besser machen“ zu hören. Nur, wie das im
Detail geschehen soll, wird sicherlich die Diskussion in
den nächsten Monaten zeigen. Einige Punkte wurden
von Ihnen ja schon angesprochen.
Für die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe
ist das Vorhandensein eines Arbeitsplatzes entscheidend. Das Bemühen um die Integration Behinderter allein auf dem Arbeitsmarkt reicht aber natürlich nicht
aus. Ich bin deshalb dankbar, daß Sie einen etwas weiteren Bogen geschlagen haben.
Wir müssen in vielen Bereichen Barrieren und Benachteiligungen abbauen. Hierzu gehören die schulische
und berufliche Ausbildung als Grundlage für die berufliche Eingliederung. Hierzu gehören Fragen hinsichtlich
der Alltagsbewältigung - wie ist das Wohnumfeld, wie
sehen die Wohnungen aus, wie können öffentliche Gebäude und Einrichtungen erreicht werden, wie sieht die
Situation im öffentlichen Nahverkehr aus, wie stellt sich
die Unterstützung von Familienangehörigen dar? - und
auch Fragen hinsichtlich der Beratung und Pflege.
In der Bundesrepublik Deutschland hat sich ein beachtliches und differenziertes System von Leistungen
und sonstigen Hilfen entwickelt. Mir wird dieses umfassende Leistungsspektrum vor allem immer dann bewußt,
wenn ich mich an die Situation der Behinderten vor
1990 in der ehemaligen DDR erinnere. Wenn man sich
anschaut, welche Entwicklungen dort in den letzten
neun Jahren möglich gewesen sind, dann kann man feststellen, daß die durch unsere Hilfen ermöglichte Entwicklung beispiellos war.
({2})
Das differenzierte Hilfe- und Leistungssystem
schlägt sich nieder im Rehabilitations- und Schwerbehindertengesetz, im Bundessozialhilfegesetz und in einer
Vielzahl von Einzelvorschriften anderer Gesetze und
Verordnungen. Diese Vielzahl führte allerdings dazu,
daß Rechtsauslegung, -anwendung und -nutzung dieser
Vorschriften immer komplizierter wurden, gerade auch
für die Betroffenen selbst. Aber auch für die Fachkräfte
ist die Arbeit dadurch beeinträchtigt, daß immer komplexere und in Teilen nicht miteinander kompatible Regelungen zu beachten und zu prüfen sind. Deshalb besteht die Notwendigkeit, vorhandene Leistungen zielgerichteter einzusetzen und vor allem eine Harmonisierung
und Koordinierung von Leistungen zu gewährleisten.
Dies gilt um so mehr, als wir inzwischen einen Perspektivwechsel im Behindertenbereich, wie in vielen
anderen Bereichen der Sozialpolitik, vollzogen haben:
weg von dem trägerbezogenen und konfektionierten
Maßnahmenkatalog, dem im Zweifelsfall der Behinderte sozusagen angepaßt worden ist, hin zu einer individuellen Betrachtungsweise, also zu individuellen Hilfemaßnahmen, um Hilfe zur Selbsthilfe zu ermöglichen.
Dieser Perspektivwechsel ist durch die Aufnahme des
Benachteiligungsverbotes in das Grundgesetz seit 1994
ausdrücklich befördert worden. An diese Verfassungsänderung knüpfen sich natürlicherweise Erwartungen. Das ist die Ausgangsposition für jede Behindertenpolitik in der Zukunft.
Ein Blick in die Koalitionsvereinbarung, die ja die
Grundlage für die Vorhaben in dieser Legislaturperiode
darstellt, zeigt, daß versäumt wurde, den Belangen von
Behinderten in den verschiedenen Politikbereichen gerecht zu werden. Dies ist ein Versäumnis, dem wir zugegebenermaßen wohl alle häufig unterliegen, das aber
eben dazu führt, daß die Behindertenpolitik oft sehr isoliert betrachtet wird. Sie haben dafür in Ihre Koalitionsvereinbarung einen eigenen Abschnitt eingefügt, in dem
Sie eine Reihe von Gesetzesinitiativen ankündigen. Verständlicherweise bleibt manches davon sehr unbestimmt,
wenn es zum Beispiel heißt:
… die Schwerbehindertenabgabe und die Integrationsfachdienste werden verbessert und weiterentwickelt.
Wir warten darauf, was darunter konkret zu verstehen
sein wird.
Sie haben mit der Absicht, ein Sozialgesetzbuch IX
zu verfassen, ein wichtiges Vorhaben in Ihre Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Gerade weil wir so viele
verschiedene gesetzliche Grundlagen haben, kommt der
Weiterentwicklung des Rechts hinsichtlich der Eingliederung Behinderter, der Einordnung des Rehabilitationsund Schwerbehindertenrechts in die Sozialgesetzgebung
eine besondere Bedeutung zu.
Ich danke Ihnen für Ihre grobe Skizzierung dessen,
was Sie sich in diesem Bereich vorstellen können. Sie
wissen, wir hatten dies in der letzten Legislaturperiode
ja selbst geplant. Bei Gesprächen mit den Verbänden
und den Vertretern der Länder haben wir, wie das oft der
Fall ist, sehr schnell grundsätzliche Übereinstimmung
dahin gehend gefunden, daß die Einführung eines SGB
IX ein geeigneter Weg sei. Nur, wenn es dann ganz
konkret werden sollte, mußten wir feststellen, daß sowohl die Erwartungen auf der einen Seite als auch die
eingeschränkten Möglichkeiten auf der anderen Seite
nicht zusammenzubringen waren. Wir sind aber von der
Richtigkeit eines solchen Vorhabens überzeugt. Deshalb
können Sie davon ausgehen, daß wir Sie in Ihren Bemühungen unterstützen werden.
({3})
Sie haben des weiteren vereinbart - ich zitiere -:
Der grundgesetzliche Gleichstellungsauftrag wird
in einem Gesetz umgesetzt.
Was sich dahinter verbirgt, wird in der Koalitionsvereinbarung erst einmal offengelassen. Aber es ist zu vermuten, daß Sie den Entwurf des Gleichstellungsgesetzes der letzten Legislaturperiode im Hinterkopf haben.
Es bleibt abzuwarten, was in einem neu eingebrachten
Gesetzentwurf letztendlich konkret stehen wird. Sicher
ist, daß sich an ein solches Gleichstellungsgesetz hohe
Erwartungen, vor allen Dingen hinsichtlich Leistungsverbesserungen, knüpfen.
Grundsätzlich möchte ich deshalb schon jetzt zu bedenken geben, daß zum einen neben dem allgemeinen
Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes und den speziellen einzelgesetzlichen Leistungsregelungen kaum
noch Raum für ergänzende Gleichstellungsregelungen
besteht und daß zum anderen ein gesondertes Leistungsgesetz für Behinderte mit schon bestehenden Leistungen
- vor allem mit der Eingliederungshilfe im Bundessozialhilfegesetz - kollidiert. Ich vermute zudem, daß Ihr
genereller Finanzierungsvorbehalt auch hier seine Wirkung entfalten wird.
Meine Damen und Herren, wir sind gespannt, was Sie
von der Koalition uns in den nächsten Monaten im Bereich der Behindertenpolitik vorlegen werden.
({4})
Wir werden Sie dort unterstützen, wo Sie geeignete Initiativen zugunsten Behinderter ergreifen. Sie dürfen davon ausgehen, daß uns Ihre Initiativen der letzten Jahre
noch gut in Erinnerung sind. Das, was wir in der Koalition der vergangenen Jahre geleistet haben,
({5})
und das, was Sie gefordert haben, ist die Meßlatte, an
der wir Sie messen werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In solchen
Debatten sollte man sagen: Jeder bestellt das eigene
Haus. Sie haben hier die Länder miteinander verglichen.
Es ist schon bemerkenswert, daß unter den alten Bundesländern ausgerechnet Bayern und BadenWürttemberg im Hinblick auf die Beschäftigung von
Behinderten die Schlußlichter im Rahmen der Beschäftigungsquote öffentlicher Arbeitgeber sind. Daß es in
Ostdeutschland Probleme gibt, ist nicht anders zu vermuten. Diese Länder haben sehr viele schwierige Aufgaben zu lösen. Aber auch in diesem Bereich gibt im
Ländervergleich insbesondere Sachsen kein gutes Bild
ab. Wir haben vorhin über Hessen gesprochen. Das
Land Hessen hat zum Beispiel als Arbeitgeber eine Beschäftigungsquote von 6,3 Prozent,
({0})
während Bayern mit 4,8 und Baden-Württemberg mit
5,1 Prozent nicht gut dastehen.
({1})
- Wir bemühen uns. Ich denke, wir sollten feststellen,
daß wir hier alle etwas zu leisten haben.
({2})
Es gibt keinen Grund, sich auszuruhen. In den Bereichen des öffentlichen Dienstes, wo wir als öffentliche
Arbeitgeber keine Ausgleichsabgaben zahlen müssen,
können wir nicht sagen: Da es sich nicht auf die Kasse
auswirkt, legen wir die Hände in den Schoß. Es bedarf
vielmehr immer wieder - in jeder Behörde, in jedem
Ministerium, in jeder öffentlichen Einrichtung, da, wo
wir als Politiker direkt Verantwortung tragen -, Anstrengungen. Wir müssen überlegen, wie wir Arbeitsplätze für Behinderte bzw. solche Arbeitsbedingungen
schaffen können, daß Behinderte überhaupt eingestellt
werden können, woran es klemmt,
({3})
und wie man in den Köpfen und vor Ort die Situation
entsprechend verbessern kann.
({4})
Meine Damen und Herren, der uns heute vorliegende
Bericht enthält für den Bund eine gute und eine
schlechte Nachricht. Zunächst die gute Nachricht: Der
Bund erfüllt die Schwerbehindertenquote, ja er übererfüllt sie.
({5})
Die schlechte Nachricht, Frau Schnieber-Jastram: Allein
im letzten Jahr hat sich die Quote um 0,3 Prozent reduziert. Es geht also in die falsche Richtung. Hier muß
man Entscheidendes verändern.
Wenn wir uns die Gesamtsituation von Behinderten
am Arbeitsmarkt anschauen und nicht nur, weil es das
Thema des Berichts ist, die öffentliche Hand betrachten,
so muß man sagen - da ist Ihre Bilanz wirklich desaströs
zu nennen -: Von 1982 bis 1996 hat sich der Anteil von
Behinderten auf dem normalen Arbeitsmarkt drastisch
verringert. Hatten wir 1982 noch eine Quote von 5,9
Prozent, so waren es 1996 gerade noch 3,9 Prozent. Das
sollte Anlaß dafür sein, tatsächlich über die Instrumente
nachzudenken und zu fragen: Wie können wir es Arbeitgebern erleichtern, wie können wir sie motivieren,
Behinderte einzustellen? Wie können wir den Druck erhöhen, damit Arbeitgeber diese Aufgabe als ihre eigene
begreifen?
Ich finde es schon bemerkenswert, daß 37,5 Prozent
der Unternehmen keinen einzigen Schwerbehinderten beschäftigen, 38,5 Prozent ihrer Quote nicht in vollem Umfang genügen und nur 13 Prozent aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber auf dem privaten Arbeitsmarkt die
Quote voll erfüllen. Das kann nicht so bleiben, wenn wir
die Situation von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt verbessern wollen. Die Situation ist wirklich dramatisch. So
beträgt die Arbeitslosigkeit unter den Behinderten im Westen 17 Prozent und im Osten 24,5 Prozent.
({6})
Das sollte Ansporn für uns sein, die Punkte, die wir in
der Koalitionsvereinbarung festgehalten haben, einmal
ernsthaft zu prüfen.
Frau Nolte, was eine Verbesserung des Instruments
der Schwerbehindertenabgabe bedeutet, ist klar: Wir
müssen darüber nachdenken, ob sie weiterhin aus der
Portokasse zu bezahlen sein soll oder ob wir mehr erheben und dieses Geld investieren, um den Arbeitgebern,
die sich besonders engagieren wollen, finanziell zu helfen.
({7})
Aber es wird nicht ausreichen, alleine über die Schwerbehindertenabgabe zu reden. Ich bin sehr dankbar, Herr
Haack, daß Sie schon einmal angekündigt haben, was
die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Behindertenpolitik insgesamt plant; denn ich meine, auch die
übrigen Maßnahmen, die wir in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, sind wichtige Elemente, um die
Rahmenbedingungen für die Beschäftigung von Behinderten zu verbessern.
Entscheidend ist zum Beispiel, daß Arbeitgeber, die
Behinderte einstellen wollen, Arbeitsplätze in Gebäuden haben, die barrierefrei sind. In meinem Wahlkreis
wollte ein Arbeitgeber einen Rollstuhlfahrer beschäftigen. Es handelt sich aber um ein Gebäude, in dem zehn
Treppen zum Aufzug führen. Es ist für willige Arbeitgeber, die finanziell nicht so potent sind - es gibt kleine
Unternehmen und Sozialeinrichtungen, die mit jedem
Pfennig und mit jeder Mark rechnen müssen -, ungeheuer schwierig, die entsprechenden Zugangsvoraussetzungen zu erfüllen.
({8})
Wir stellen fest, daß wir bezüglich der Standards des
barrierefreien Bauens und des barrierefreien Nutzens
von Verkehrsmitteln in den letzten Jahren insgesamt viel
zuwenig gemacht haben, um dafür zu sorgen, daß sich
die Situation verbessert.
({9})
Deshalb werden wir es in Angriff nehmen - wir haben
es in der Koalitionsvereinbarung niedergeschrieben -,
die Änderung des Art. 3 GG in einem einfachen Gesetz
auszuprägen.
Das bedeutet für mich ein Antidiskriminierungs- und
Gleichstellungsgesetz, wie es beide Koalitionsfraktionen
zu Zeiten der Opposition vorgelegt haben.
({10})
- Herr van Essen, wir arbeiten einfach sorgfältiger als
Sie.
({11})
Volker Beck ({12})
Wir arbeiten nicht so, daß wir jeden Tag irgendein Gesetz durchs Haus jagen, dessen Änderungen wir dann
gleich mit beschließen müssen. Sie haben uns als Opposition in den letzten Wochen in der Rechtspolitik ja eine
Reihe von Anträgen vorgelegt, die nur die Behebung
von Flickschusterei aus der letzten Wahlperiode beinhalten. Wir arbeiten sorgfältiger und gründlicher, und
wir werden uns jetzt die Zeit nehmen, um die Dinge
gründlich vorzubereiten
({13})
und sie mit den Ländern und den Verbänden abzustimmen. An dieses Tempo und auch an diese Gründlichkeit
werden Sie sich noch gewöhnen müssen. Das ist eine
neue Qualität von Politik.
({14})
Herr van Essen, vielleicht lassen Sie mich einfach zur
Sache sprechen, damit ich konturieren kann, was wir
vorhaben. Wir werden ein Antidiskriminierungsgesetz
auf den Weg bringen, das regeln soll, daß alle Minderheiten, die Behinderten, die Migranten, die Homosexuellen, bei Diskriminierungen im privaten Rechtsverkehr
das Recht stärker auf ihrer Seite wissen, als das bis heute
der Fall ist.
Es hat gerade für den Bereich der Behinderten in den
letzten Jahren zwei betrübliche Urteile gegeben. Das
darf sich nicht wiederholen. Ich meine zum einen das
Flensburger Urteil zum Reiseverkehrsrecht, in dem festgestellt wurde: Wenn Behinderte in einem Raum gemeinsam mit anderen Urlaubern essen, dann haben die
anderen einen Anspruch auf Preisnachlaß. Das, finde
ich, ist ein Skandal; das ist eine Herabwürdigung der
Behinderten.
({15})
Es muß gesetzlich klargestellt werden, daß sich so etwas
nicht wiederholt.
Es gab in meiner Heimatstadt eine rechtliche Auseinandersetzung und ein Urteil, das ich ebenfalls skandalös
finde. Es geht um ein OLG-Urteil aus Köln. Der Sachverhalt war, daß in einer Behinderteneinrichtung sich
tagsüber im Garten geistig und seelisch behinderte Menschen aufhielten; sie unterhielten sich auf ihre Art und
Weise und in ihrer Sprache. Der Nachbar hat dagegen
geklagt und gefordert, daß sich die Behinderten zu bestimmten Zeiten nicht mehr im Garten aufhalten dürften.
Er hat recht bekommen.
Das Skandalöse - wie ich finde - ist nicht, daß das
Gericht etwa gesagt hat: Die sind zu laut. Über Lautstärke kann man objektiv streiten; Behinderte und Nichtbehinderte müssen sich an bestimmte Normen halten, und
da muß man auch bestimmte Zeiten einhalten. Vielmehr
hat das Gericht festgestellt, die „Art der Geräusche“ der
Behinderten sei unzumutbar, und deswegen wurde ihnen
der Aufenthalt im Garten zu bestimmten Zeiten untersagt. So etwas müssen wir durch ein Antidiskriminierungsgesetz abstellen.
({16})
Herr Haack, lassen Sie mich zum Schluß noch einen
letzten Punkt ansprechen. Wir wollen die Anerkennung
der deutschen Gebärdensprache gesetzlich regeln. Der
Deutsche Bundestag hat das am Ende der letzten Wahlperiode beschlossen. Die Streitfragen unter den Pädagogen, die Sie angesprochen haben, nämlich was der richtige Weg ist, können und werden wir hier politisch nicht
entscheiden.
({17})
Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es, die gesetzliche Voraussetzung für die Menschen, die sich der deutschen Gebärdensprache bedienen wollen, zu schaffen
und dafür zu sorgen, daß sie gesetzlich anerkannt ist und
daß Gebärdendolmetscher zur Verfügung stehen. Auf
Grund meiner Konversation und Kommunikation mit
Gehörlosen kann ich nur sagen, daß es für die Persönlichkeitsentwicklung gerade der gehörlosen Kinder ganz
entscheidend ist, daß sie die Möglichkeit der Gebärdensprache haben, weil sie sich nur mit ihrer Hilfe emotional und kommunikativ voll ausleben können. Dies ist für
sie allein mit der Lautsprache, die sie gleichzeitig durchaus lernen können und sollen - das hilft ihnen bei der
Integration -, nicht möglich.
Auf einem Kongreß, wo Gehörlose miteinander nur
über die Gebärdensprache kommunizieren, fühle ich
mich als jemand, der die deutsche Gebärdensprache
ebenfalls nicht beherrscht manchmal selber behindert,
weil ich der Kommunikation nicht folgen kann. Das
sollten wir Nichtbehinderte alle einmal erleben.
Ich meine, wir dürfen beim Implantieren der deutschen Gebärdensprache in unser Recht nicht zurückhaltend sein.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({18})
Das Wort hat Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Bericht ist ein Ausweis der erfolgreichen Anstrengungen
der alten Bundesregierung von CDU/CSU und F.D.P.,
({0})
die Integration Behinderter in ihrem Verantwortungsbereich voranzutreiben. Die Zahl 6,7 Prozent ist ja auch
von dem Kollegen Haack entsprechend gewürdigt worden. Ich finde es gut, daß Sie das Arbeitsministerium besonders hervorgehoben haben.
({1})
Volker Beck ({2})
- Gut, ich kann ebenfalls nachvollziehen, daß Sie das
getan haben, weil Norbert Blüm Ihr Freund ist.
Festzuhalten bleibt, daß im gesamten Bereich der
Bundesbehörden - Ministerien, nachgeordnete Behörden, Bundespräsidialamt und alle Gerichte, die dazu gehören - die Schwerbehindertenquote nicht nur eingehalten wird, sondern daß mehr Schwerbehinderte beschäftigt werden. Damit haben wir einen guten Status
quo übergeben.
Ist das eine Selbstverständlichkeit? Der Blick auf die
Länder und Gemeinden zeigt, daß es das nicht ist. Die
Länderquoten sind hier schon genannt worden; sie
schwanken in der Tat zwischen 3,5 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und 7,3 Prozent im Saarland, und all
das auf derselben gesetzlichen Grundlage.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf eines hinweisen: In den ostdeutschen Bundesländern, die allesamt
keine sehr hohen Quoten vorweisen können, ist wegen
des großen Nachholbedarfs und wegen der völligen
Umorientierung, der dort auch die öffentliche Verwaltung ausgesetzt war, vieles nachvollziehbar. Aber nicht
nachzuvollziehen ist, daß bei den Ländern die Vorgabe
von 6 Prozent überwiegend nicht erreicht wird.
Daß es auf derselben gesetzlichen Grundlage so unterschiedliche Quoten gibt, zeigt doch, daß hier noch
etwas Zusätzliches zu bedenken ist. Da muß es doch
wohl eine Rolle spielen, ob der Wille da ist, Schwerbehinderte tatsächlich auch zu beschäftigen. In meiner eigenen Erfahrung als Behördenleiterin war das ein ganz
entscheidender Punkt. Man wird in der privaten Wirtschaft genauso wie im öffentlichen Dienst einen Personalleiter nicht dazu bringen können, einen Schwerbehinderten einzustellen, wenn er nicht davon überzeugt ist,
daß die erforderliche Leistung gebracht wird.
Hier müssen wir ansetzen, meine Damen und Herren:
an den Vorurteilen, was die Leistungsfähigkeit von
Schwerbehinderten insgesamt anbetrifft. Es gibt ungeheuer viele behinderte Menschen, die eine höhere Disziplin, eine höhere Leistungsbereitschaft, eine höhere
Qualifikation als Millionen nicht behinderter Menschen
in Deutschland aufweisen. Es geht darum, ihnen die
Chance zu geben, ihre Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft nachzuweisen, und diesbezügliche
Vorurteile abzubauen.
({3})
Vorurteilsabbau ist die eine Sache. Die andere Sache
ist aber, daß zum Ausgleich der vorhandenen Einschränkungen - im wesentlichen körperlicher Art - auch
die notwendigen Arbeitshilfen gewährt werden. Da ist
einiges geschehen. Aber wir haben guten Grund, darüber
nachzudenken, wie diese Entwicklung weitergetrieben
werden kann. Es sind hier in der Debatte auch schon einige Beispiele gebracht worden. Es ist eine eminent
wichtige öffentliche Aufgabe, und man muß auch darüber nachdenken, in welcher Art und Weise die Bundesanstalt für Arbeit ihre Eingliederungshilfen für Behinderte weiter umgestalten kann. Chancen für Behinderte
zu fördern bleibt auch weiterhin Aufgabe.
Meine Damen und Herren, es ist völlig klar, daß in
regelmäßigen Abständen die Diskussion über die Ausgleichsabgabe auf den Tisch kommt. Wer sich aber
einmal konkret in den Betrieben oder auch in der öffentlichen Verwaltung umsieht, wird feststellen, daß eine
Ausgleichsabgabe, wie auch immer sie gestaltet ist und
in welcher Höhe sie auch immer erhoben wird, eher als
Einstellungshindernis denn als Einstellungsförderung
wirkt.
({4})
Deswegen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sagen wir Ihnen zu, daß wir sehr sorgfältig und ohne Vorbehalte prüfen werden, was Sie als
Formulierung eines Sozialgesetzbuches IX vorlegen
werden. Sicherlich gibt es vieles, über das man sich in
diesem Bereich noch unterhalten muß. Richtig ist, daß
wir darüber diskutieren müssen, ob nicht durch eine spezielle Rechtsnorm die Diskriminierung Behinderter, die
in einigen Urteilen oberster Gerichte in den vergangenen
Jahren zum Ausdruck gekommen ist, abgebaut werden
muß. Wir unterstützen voll und ganz die Überlegungen,
die dazu von dem Kollegen Volker Beck von den Grünen eben vorgetragen worden sind.
Lassen Sie mich zum Bericht zurückkommen: Die
alte Regierung hat Ihnen von der Regierungskoalition
mit einer Beschäftigungsquote von 6,7 Prozent eine gute
Vorlage gegeben.
Der Umzug nach Berlin steht vor uns. Wir wissen,
daß gerade für Behinderte, die nach Berlin umziehen
müssen, einige spezielle Probleme anstehen. Deswegen
möchte ich nachdrücklich darauf hinweisen, daß alles
getan werden muß, daß diese gute Beschäftigungslage
Behinderter im öffentlichen Dienst des Bundes beim
Umzug nach Berlin nicht abbröckelt.
({5})
Dies ist eine Aufgabe, die von den jetzt Verantwortlichen aktiv angegangen werden muß. Ich wünsche mir,
daß Bundeskanzler Schröder mit allem Nachdruck auf
seine Minister einwirkt und die entsprechenden Vorgaben macht, damit wir in der ersten Debatte in Berlin
über diesen Themenbereich sagen können: Den Belangen der Behinderten im Verantwortungsbereich des
Bundes ist auch nach dem Regierungswechsel Rechnung
getragen worden.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat nun
Kollege Ilja Seifert, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich bin wirklich beeindruckt, was die Vertreterinnen der abgewählten Regierungskoalition hier
sagen - insbesondere was die psychologische Seite angeht, Frau Schwaetzer. Nur, es reicht nicht aus, zu sagen, daß Arbeit mehr als Broterwerb ist; vielmehr müssen wir dafür auch die entsprechenden Voraussetzungen
schaffen. Wenn Sie sagen, daß Sie die Ausgleichsabgabe nicht einfach erhöhen wollen, dann entgegne ich
dem: Ich wäre schon zufrieden, wenn sie wenigstens eine Strafe wäre. Bis jetzt kann man die Ausgleichsabgabe
sogar von der Steuer absetzen. Das ist doch wohl ein
Witz!
Führen Sie bitte ein Bonus-Malus-System ein: Diejenigen, die mehr Behinderte beschäftigen, als sie müssen, bekommen etwas dazu, und diejenigen, die weniger
beschäftigen, müssen mehr bezahlen. Das wäre zum
Beispiel eine Variante.
Ihre positive Bilanz, Frau Schwaetzer, besagt vor allem: Es gibt nur 3 Prozent Einstellungen, wo 6 Prozent
erforderlich sind. Der Rückgang ist ein bißchen dramatisch. Ich weiß gar nicht, wie das so leicht aufgeholt
werden soll. Es reicht nicht aus, zu sagen, daß Menschen
mit Behinderungen durchaus in der Lage sind, genausogut und manchmal besser als andere zu arbeiten. Man
muß ihnen vielmehr die Chance geben, die entsprechenden Berufserfahrungen überhaupt zu sammeln. Ausbildungsmöglichkeiten sind insofern nicht hinreichend;
wir brauchen darüber hinaus auch Beschäftigungsmöglichkeiten.
Ich freue mich wirklich, Frau Nolte, wie Sie die Situation der Schwerbehinderten in der DDR beschreiben.
Sie kennen sie wahrscheinlich aus eigener Erfahrung.
Ich weiß jedenfalls, daß dort tatsächlich staatlicher
Zwang - zum Beispiel auf die Betriebe - ausgeübt wurde, beschützte Abteilungen bzw. beschützte Einzelarbeitsplätze einzuführen. Das hatte die Konsequenz, daß
fast alle Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen einen richtigen Arbeitsvertrag besaßen. Sie gehörten wirklich zum Betrieb.
({0})
- Sie können Ihre Einwände nachher vortragen.
Ich weiß, daß dort viele Menschen - viel mehr als
jetzt - eine Arbeit hatten, und - das ist nicht unwichtig sie hatten einen Arbeitsvertrag und waren nicht, wie in
den Werkstätten für Behinderte, nur Taschengeldempfänger. Das muß man zumindest einmal sagen.
Das einzige Positive an der Unterrichtung 14/232,
was ich feststellen kann, ist, daß die Einstellung von
schwerbehinderten Frauen ein bißchen weniger schlecht
als die Einstellung von schwerbehinderten Männern ist.
Das möchte ich positiv erwähnen. Ich bin durchaus bereit, Ihre Aussagen richtig zu lesen. Ich fordere die neue
Regierung auf, in diesem Bereich so weiterzumachen,
aber mit viel mehr Tempo.
Das Entscheidende ist, daß nicht nur in den obersten
Bundesbehörden, sondern überall die Schwerbehindertenquote erfüllt wird. Insofern ist es schon ziemlich verheerend, daß der Bund genauso wie viele Kommunen allein schon dann mit schlechtem Beispiel vorangeht, wenn
es um die Besetzung des Postens des oder der Behindertenbeauftragten geht. Es wäre schon ein ziemlich deutliches Zeichen, wenn wir die Selbstvertretung tatsächlich
ermöglichen, wenn wir Menschen mit Behinderungen
ermöglichen, auch Leitungsfunktionen innerhalb der
Verwaltung überhaupt erst einmal auszuüben.
Leider ist es so, daß meistens nur irgendwelche Beamten aus dem Überhang übernommen werden, die sich
mit Behinderten vorher nie beschäftigt haben, selbst
nicht behindert sind und sich sozusagen erst in das Geschäft einarbeiten müssen. Ich unterstelle durchaus, daß
es welche gibt, die das sehr gut machen, aber die Vorbildwirkung, die möglich wäre, fehlt.
Insofern muß ich sagen: Es ist zwar schön, daß der
Bund keine Ausgleichsabgabe zahlen muß, wenn aber
alleine in so einem „weit abgelegenen“ Oberlausitzer
Landkreis wie Löbau-Zittau, unmittelbar am Dreiländereck zu Polen und der Tschechischen Republik,
35 000 DM eingeplant werden müssen, um die Ausgleichsabgabe zu zahlen, dann ist das für den dortigen
Haushalt ein richtig großer Posten. Menschen mit Behinderungen wird damit nicht geholfen.
Selbstverständlich müßte die Funktion der Werkstätten
für Behinderte neu definiert werden, wenn wir wirklich
erreichen wollen, daß viel, viel mehr Menschen mit den
unterschiedlichsten Behinderungen die entsprechenden
Nachteilsausgleiche bekommen, damit sie auf dem ersten
Arbeitsmarkt tatsächlich Fuß fassen können. Dann würden
die Werkstätten wieder denen offenstehen, die unter den
heutigen Verhältnissen keine andere Chance haben zu arbeiten. Momentan haben wir einen Verdrängungswettbewerb zwischen weniger Behinderten und schwerer Behinderten aus den Werkstätten heraus. Es kann nicht sein, daß
dort am Ende auch Akkord gearbeitet wird.
Ich finde auch ziemlich verheerend, daß die Auftragsvergabe von öffentlicher Hand an die Werkstätten
für Behinderte und für Blinde um über 20 Prozent zurückgegangen ist. Ich denke, dieser Trend muß umgekehrt werden. Ich fordere Sie alle auf, das zu tun.
Ein letzter Satz. Wenn hier Gleichstellungs- und
Antidiskriminierungsgesetze von der Regierung vorgelegt
werden, dann hoffe ich, daß die entsprechenden Nachteilsausgleiche gleich mitgeplant werden. Wir jedenfalls
werden etwas Derartiges vorschlagen. Ich hoffe, daß es
tatsächlich darum geht, das zum Ziel von Behindertenpolitik zu machen, was die Standard Rules der Vereinten
Nationen vorschreiben. Es geht nämlich um volle Teilhabe am Leben der Gemeinschaft und nicht um Almosen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun
Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Schwaetzer, Sie haben vorhin
die gute Vorlage der alten Bundesregierung angesprochen, aber dann gleichzeitig auch Forderungen für den
Umzug nach Berlin erhoben. Ich denke, es wäre gut gewesen, wenn die alte Bundesregierung in dieser Hinsicht
schon Vorarbeit geleistet hätte. Dann wäre die ganze Sache sicherlich einfacher gewesen.
({0})
Ich kenne die Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen, der behinderten Menschen aus beruflicher Erfahrung. Aus langjähriger Tätigkeit als Betriebsratsvorsitzende und beim hessischen Gewerkschaftsbund weiß
ich, was eigentlich inzwischen jedem klar sein sollte: Es
sind Kollegen und Kolleginnen, die ihre Arbeit genauso
gut oder ebenso schlecht machen wie jeder und jede andere auch. Angesichts ihrer Behinderung sind sie meiner
Erfahrung nach oft sogar ganz besonders motiviert. Sie
wollen beweisen, was sie können und wie belastbar sie
sind. Und sie sind es!
Deshalb ist es für mich besonders unverständlich und
alarmierend, daß in den vergangenen Jahren immer weniger private Arbeitgeber bereit waren, behinderte Bewerber einzustellen und ihre Beschäftigungspflicht zu
erfüllen. Die Arbeitslosenquote ist mit 17,8 Prozent bei
den Schwerbehinderten erschreckend hoch. Dementsprechend hat die Beschäftigungsquote in der Privatwirtschaft 1997 mit 3,4 Prozent ihren tiefsten Stand seit
Jahren erreicht.
Insgesamt waren rund 190 000 Arbeitgeber beschäftigungspflichtig. Von ihnen haben nur 13 Prozent - in
absoluten Zahlen sind das 24 100 - ihre Beschäftigungspflicht in vollem Umfang erfüllt. 71 200 beschäftigungspflichtige Arbeitgeber - gleich 37,5 Prozent haben überhaupt keine Schwerbehinderten beschäftigt nicht einen einzigen! Erfreulicherweise stehen dieser
Zahl auch 125 300 Schwerbehinderte gegenüber, deren
Arbeitgeber sie eingestellt haben, obwohl sie laut Gesetz
nicht dazu verpflichtet gewesen wären.
Daß ich das hier extra erwähnen muß, obwohl es in
meinen Augen eine Selbstverständlichkeit ist, sich auch
in dieser Beziehung solidarisch zu verhalten, zeigt, daß
die Beschäftigungssituation Behinderter noch weit von
unseren Wunschvorstellungen entfernt ist. Der Trend,
zunehmend weniger Behinderte einzustellen, darf nicht
so bleiben. Wir müssen und werden ihn umkehren.
({1})
Dafür steht uns heute schon eine ganze Reihe von Instrumenten zur Verfügung. Ein Beispiel dafür ist das
Sonderprogramm, das das Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung gerade erst aufgelegt hat. Die neue
rotgrüne Bundesregierung stellt darin 100 Millionen DM
bereit, mit denen zum erstenmal Einstellungen Schwerbehinderter in befristete Arbeitsverhältnisse gefördert
werden. Wir werden das sorgfältig beobachten.
Behinderte Jugendliche werden aus dem Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, für
das allein in diesem Jahr 2 Milliarden DM zur Verfügung stehen, besonders gefördert. Die Frage des Geldes
kann es für die Arbeitsgeber jedenfalls nicht sein, nach
der sie entscheiden, ob sie behinderte Bewerberinnen
und Bewerber einstellen oder nicht.
Den Arbeitsämtern, den Hauptfürsorgestellen und
den anderen Trägern beruflicher Rehabilitation steht
ein ganzes Bündel finanzieller Hilfen für die berufliche
Eingliederung und die begleitenden Hilfen zur Verfügung. In vielen Fällen werden nicht nur die Kosten dafür getragen, behindertengerechte Arbeits- und Ausbildungsplätze neu zu schaffen, sondern auch dafür,
schon vorhandene Arbeitsplätze entsprechend umzugestalten. Ebenso werden Personalkosten übernommen,
wenn behinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
auf besondere Betreuung angewiesen sind. Daneben
fördern die Arbeitsämter die Einstellung und Beschäftigung Schwerbehinderter mit Lohnkostenzuschüssen
aus Haushaltsmitteln und Mitteln der Ausgleichsabgabe.
Sicher können und müssen wir das Instrumentarium
zur Förderung der Einstellung und Vermittlung Schwerbehinderter noch weiter verbessern. Insgesamt kommt es
jetzt darauf an, daß die Politik zusammen mit der Bundesanstalt für Arbeit und den Arbeitgebern nach Mitteln
und Wegen sucht, die Beschäftigungssituation von behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürgern nachhaltig zu
verbessern.
Ich sage noch einmal deutlich: Ohne die Solidarität,
ohne die Verantwortung der Arbeitgeber läßt sich eine
Verbesserung nicht erreichen.
({2})
Deshalb fordere ich die Arbeitgeber eindringlich auf,
sich dieser Verantwortung bewußt zu werden. Die Beschäftigungsquote von 6 Prozent ist eine Mindestquote der Kollege Haack hat schon darauf hingewiesen -, und
sie wird derzeit in der privaten Wirtschaft um fast 50
Prozent unterschritten. Die Ausgleichsabgabe ist nicht
als Möglichkeit gedacht, sich dieser Verpflichtung zu
entziehen. Wir werden die Arbeitgeber nicht aus ihrer
Verantwortung entlassen.
({3})
Leistungsbereiten und leistungswilligen Menschen
darf die Teilnahme am Arbeitsleben nicht verweigert
werden. Das Problem der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter wäre schon wesentlich kleiner, wenn jeder von
den 71 200 Arbeitgebern, die heute überhaupt keine
Schwerbehinderten beschäftigen, auch nur einen einzigen oder eine einzige einstellen würde. Würde sogar jeder beschäftigungspflichtige Arbeitgeber zusätzlich einen Schwerbehinderten einstellen, hätten wir bei den
Behinderten eine sensationell niedrige Arbeitslosenquote.
Werte Kolleginnen und Kollegen, als hessische Abgeordnete möchte ich kurz etwas zur Beschäftigungssituation der Behinderten in meinem Bundesland sagen.
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß neben
dem Saarland Hessen mit 6,3 Prozent als einziges weiteres Bundesland die Beschäftigungsquote von 6 Prozent
erfüllt.
Insgesamt sind in Hessen 9 120 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst mit Schwerbehinderten besetzt. In einem Sonderprogramm zur Einführung jüngerer Schwerbehinderter in den Landesdienst stellt das Land 250
Dauerarbeitsplätze zur Verfügung. Im Rahmen der
Maßnahmen für ältere Schwerbehinderte stehen im Landesdienst weitere 132 Dauerarbeitsplätze bereit.
Bis 1998 wurden in Hessen im Rahmen des ersten
Sonderprogramms zur besonderen Förderung und Einstellung Schwerbehinderter 2 800 Dauerarbeitsplätze
vermittelt. Das Land hat dafür insgesamt 95 Millionen
DM ausgegeben. Für die Neuauflage des Sonderprogramms stehen in diesem und im nächsten Jahr noch
einmal 15 Millionen DM bereit; damit können die Einstellung und Beschäftigung von rund 800 schwerbehinderten Menschen gefördert werden.
Darüber hinaus gab es in Hessen 1998 bereits vier Integrationsfachdienste. Zum Vergleich: Der Freistaat
Bayern hatte - zumindest im vergangenen Jahr - noch
nicht einen einzigen Integrationsfachdienst. Diese Maßnahmen sind - im gesamten gesehen - sicher einige
wichtige Gründe dafür, weshalb in Hessen die Beschäftigungsquote von Behinderten - auch bei den privaten
Arbeitgebern - mit 3,7 Prozent leicht über dem Bundesdurchschnitt liegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle
möchte ich auf die besondere Situation behinderter
Frauen eingehen. Sie werden doppelt diskriminiert: als
Behinderte und als Frauen. Das gilt - ich muß das sicherlich nicht betonen - auch auf dem Arbeitsmarkt.
Durch eine Zahl wird die doppelte Diskriminierung besonders eindringlich deutlich: Nur 16 Prozent der behinderten Frauen nehmen am Erwerbsleben teil. Das ist ein
viel kleinerer Anteil als bei den behinderten Männern.
Auch bei der beruflichen Rehabilitation, in den meisten
Fällen der Schritt in ein selbstbestimmtes Leben, stellen
Frauen nur ein Drittel der Teilnehmer. Der Grund dafür
ist Ihnen sicher genauso bekannt wie mir: Die Angebote
zur Rehabilitation sind ebenso wie leider auch der Arbeitsmarkt immer noch an einer männlichen Norm ausgerichtet; den weiblichen Bedürfnissen entsprechen sie
im Regelfall nicht.
Zu Zeiten der alten Bundesregierung war die strukturelle Ausgrenzung von Frauen in allen Lebensbereichen
Bestandteil der Regierungspolitik. Mit dem Ergebnis
dieser Politik müssen wir uns nun herumschlagen. Deshalb sind wir jetzt dringend gefordert, auf die doppelte
Diskriminierung von Frauen mit Behinderung zu reagieren.
({4})
Wir müssen dafür sorgen - und wir werden dies tun -,
daß Frauen bei der Umsetzung der vorhandenen Instrumente, mit denen die Einstellung Schwerbehinderter gefördert wird, nicht weiterhin zu kurz kommen. Bei den
Instrumenten, die wir in Zukunft neu einführen, werden
wir darauf achten, daß sie sich auch und besonders an
der Lebenssituation behinderter Frauen orientieren.
({5})
Wir alle wissen, daß die meisten Menschen in unserer Gesellschaft ihr persönliches Selbstwertgefühl in
erster Linie aus ihrer Erwerbstätigkeit ziehen. Das gilt
für Behinderte und speziell für behinderte Frauen in
ganz besonderem Maße. Die Teilnahme am Erwerbsleben bedeutet für sie nicht nur Existenzsicherung und
Unabhängigkeit, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe, Kommunikation und Integration. Behinderte
Frauen müssen ebenso vollständig am gesellschaftlichen Leben teilhaben können wie jeder andere. Dazu
gehört selbstverständlich auch, sie ins Erwerbsleben
einzubeziehen.
Auch in diesem Bereich können wir uns an Hessen
orientieren: Weil die Benachteiligung behinderter Frauen am Arbeitsplatz besonders kraß ist, gibt es dort ein
Netzwerk für behinderte Frauen. Hessen hat als erstes
Bundesland ein Koordinationsbüro eingerichtet, das
die Integration ins Erwerbsleben erleichtert und fördert.
Mobile Beratungsstellen und Orientierungskurse helfen
den behinderten Frauen in Hessen darüber hinaus noch
bei der Suche nach einem Arbeitsplatz und bei der Wiedereingliederung.
Den Appell, den Zugang zum Erwerbsleben auch und
gerade für behinderte Frauen zu erleichtern, richte ich
nicht nur an die Arbeitgeber in der Privatwirtschaft;
auch der Bund muß sein Augenmerk besonders darauf
richten, daß bei Neueinstellungen behinderte Frauen angemessen berücksichtigt werden. Ich bin überzeugt, die
neue Bundesregierung wird dieses tun.
({6})
Es gibt einen leichten Aufwärtstrend, aber insgesamt
sind nur ein knappes Drittel der Schwerbehinderten im
öffentlichen Dienst des Bundes Frauen. Ebenso liegt der
Frauenanteil bei der Neueinstellung Schwerbehinderter
nur bei 32,4 Prozent. Ich bin davon überzeugt, daß sich
diese Quote ändern wird. Wir sind nicht damit zufrieden, daß der Bund die Beschäftigungsquote insgesamt
erfüllt. Der öffentliche Dienst - das ist schon gesagt
worden - muß eine Vorreiterfunktion wahrnehmen und
wird dieses auch bei der Beschäftigung von Frauen tun.
Ich bin überzeugt, die neue Bundesregierung wird dies
leisten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der
Kollege Franz Romer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
diskutieren den Bericht der Bundesregierung über die
Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen
Dienst.
({0})
Der Bericht behandelt das Jahr 1997 und bezieht sich
auf den Stichmonat Oktober.
Es ist wichtig, daß ein solcher Bericht alljährlich von
der Bundesregierung vorzulegen ist; denn BeschäftiErika Lotz
gung ist der entscheidende Faktor für die Integration
behinderter Menschen in das gesellschaftliche Leben.
({1})
Das Gefühl, den Lebensunterhalt selbst zu verdienen,
stellt behinderte Beschäftigte ebenso zufrieden wie ihre
nichtbehinderten Kolleginnen und Kollegen. Es geht um
mehr als nur darum, Geld zu verdienen. Ein Arbeitsplatz
ist eine Herausforderung, bietet Abwechslung, sichert
Kontakte zum Kollegenkreis und schafft Erfolgserlebnisse.
({2})
Der Bericht wurde von der alten Bundesregierung in
den vergangenen Jahren immer weiter fortentwickelt
und um mehrere Details ergänzt, bis er die heutige Gestalt annahm. So enthält er genaue Angaben über Neueinstellungen und ausgeschiedene Schwerbehinderte,
und er weist den Anteil an beschäftigten schwerbehinderten Frauen aus. Er legt die Beschäftigungssituation
Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst offen. Es ist
von großer Bedeutung, daß diese Daten öffentlich diskutiert werden. Die Schwerbehinderten bekommen einen genauen Einblick in die aktuelle Lage und können
an Hand der Daten konkret Einfluß auf zukünftige Entwicklungen nehmen. Auch private Arbeitgeber müssen
sich an diesen Vorgaben messen lassen. An dieser Stelle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist auch jeder einzelne von uns in der Pflicht.
({3})
1997 waren 6,7 Prozent der Beschäftigten beim Bund
Schwerbehinderte oder diesen gleichgestellt. Als Sozialpolitiker freue ich mich, daß damit auch im vergangenen
Jahr die im Schwerbehindertengesetz vorgeschriebene
Mindestquote von 6 Prozent deutlich überschritten
wurde.
Gegenüber 1996 ist die Beschäftigungsquote aber bedauerlicherweise um 0,2 Prozent zurückgegangen. Es
wird deutlich, daß sich der allgemeine Abbau von Arbeitsplätzen und die angespannte Situation auf dem
Arbeitsmarkt besonders auf die Beschäftigung von
Schwerbehinderten auswirken. Der Rückgang um 0,2
Prozent ist zwar nicht dramatisch, sollte aber Anlaß genug sein, frühzeitig geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Dieser Trend darf sich nicht fortsetzen.
Um so erfreulicher ist, daß sich trotz der insgesamt
rückläufigen Gesamtzahl der schwerbehinderten Beschäftigten der Anteil der Frauen um 1,6 Prozent erhöht hat. Er beträgt nunmehr 30,9 Prozent der beschäftigten Schwerbehinderten.
({4})
Die Kabinettsbeschlüsse der alten Bundesregierung
aus den Jahren 1991, 1992 und 1993 haben Wirkung gezeigt. Die darin beschlossenen Maßnahmen wurden erfolgreich umgesetzt, so daß seit 1994 jedes Jahr die vorgeschriebene Mindestquote erreicht wurde. Unter anderem hat die regelmäßige Befragung der Ressorts das
Einstellungsverhalten beim Bund nachweislich verbessert.
Herr Kollege Romer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Büttner?
Nein, danke.
({0})
Trotz der insgesamt positiven Bilanz muß zur dauerhaften Erfüllung der Beschäftigungsquote der Anteil
Schwerbehinderter bei Neueinstellungen deutlich erhöht
werden.
Der Bericht zeigt auf, daß mittel- und langfristig eine
Quote von 3 Prozent nicht ausreicht, um die Zu- und Abgänge von Schwerbehinderten auszugleichen. Hier sehe
ich die neue Bundesregierung und insbesondere Sie, Herr
Haack, als den neuen Beauftragten der Regierung für
Schwerbehinderte besonders in der Pflicht. Ziel muß es
sein, die erreichte Beschäftigungsquote langfristig zu sichern oder - noch besser - sie weiter auszubauen.
Die Chancen der Schwerbehinderten im Wettbewerb
um einen Arbeitsplatz sind zwar durch das Benachteiligungsverbot in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes verbessert worden; dennoch liegt beim Bund eine große Verantwortung.
Wir verlangen, daß die rotgrüne Regierungskoalition
ebenso wie die alte Bundesregierung auf die Behinderten zugeht, um sie zur Einreichung ihrer Bewerbungsunterlagen zu ermuntern. Die personalführenden Stellen
der Ressorts sind entsprechend zu schulen. Weiterhin ist
eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Behindertenorganisationen, den Arbeitsämtern und den Hauptfürsorgestellen notwendig.
({1})
Der Bund muß seiner Vorbildfunktion gegenüber den
privaten Arbeitgebern gerecht werden.
({2})
Die Arbeitslosenquote unter den Schwerbehinderten
ist, verglichen mit der Arbeitslosenquote insgesamt,
immer noch überdurchschnittlich hoch. Dies können wir
so nicht hinnehmen. Deshalb sind Qualifizierungsmaßnahmen, Fort- und Weiterbildung der Behinderten
notwendig, um die Chancen auf Einstellungen auch bei
höher qualifizierten und besser bezahlten Tätigkeiten zu
vergrößern. Es müssen mehr behindertengerechte Arbeitsplätze geschaffen werden.
Nicht zu ändern ist, daß einige Arbeitsplätze für
Schwerbehinderte ungeeignet sind. Dazu zählen beispielsweise die Arbeitsplätze, die Polizeidiensttauglichkeit voraussetzen. Bei den Polizeivollzugsbeamten wird
daher die Mindestquote nicht erfüllt. Erwähnenswert
aber ist, daß diese strukturellen Schwierigkeiten durch
einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Schwerbehinderten in anderen Bereichen des BMI und seinen
nachgeordneten Dienststellen ausgeglichen werden. Ohne die Polizeivollzugsbeamten in die Rechnung mit einzubeziehen, wird hier die Quote von erfreulichen 8,7
Prozent erreicht.
Bei anderen Ministerien und Behörden zeigt sich bei
Quoten von weit unter 5 oder sogar unter 4 Prozent allerdings noch erheblicher Nachholbedarf. Dort - dies ist
mein Appell an die Bundesregierung - ist die Suche
nach den Ursachen angesagt.
Der Bericht behandelt ferner die Vergabe von Aufträgen an Werkstätten für Behinderte und Blindenwerkstätten. Ein erzieltes Auftragsvolumen von über
2,5 Millionen DM ist schon eine stattliche Summe. Es
ist aber gegenüber dem Vorjahr leider erheblich gesunken.
({3})
Ich erwarte von der neuen Bundesregierung eine
Analyse dieses Rückgangs.
({4})
Es muß geprüft werden, wie das Auftragsvolumen wieder an die Beträge früherer Jahre anknüpfen kann. Möglichkeiten dafür gibt es genug. Ich denke hier nur an das
Beispiel der Aufträge zur Landschaftspflege usw.
Eine große Herausforderung bedeutet der anstehende
Regierungsumzug. Schon jetzt bewirkt der Wechsel
nach Berlin eine hohe Fluktuation unter den Beschäftigten beim Bund. Schwerbehinderte werden durch den
Umzug sicherlich vor noch größere Probleme als ihre
nichtbehinderten Kolleginnen und Kollegen gestellt.
Daher sind besondere Anstrengungen erforderlich, zum
Beispiel bei der Wohnungsfürsorge, zum Beispiel bei
den Bedingungen am Arbeitsplatz, die behindertengerecht ausgestaltet werden müssen. Gerade die schwerbehinderten Arbeitnehmer müssen bei dem für alle Betroffenen schwierigen Umzug besonders unterstützt werden.
Die neue Bundesregierung sollte den durch den Umzug verursachten personellen Umbau aller Ressorts nutzen. Freie Stellen sind vorrangig mit schwerbehinderten
Arbeitnehmern zu besetzen.
({5})
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die
konsequente Umsetzung der Kabinettsbeschlüsse der
alten Bundesregierung dazu geführt hat, daß der Bund
im Berichtsjahr den Anforderungen gerecht geworden
ist. Die Bundesregierung fordere ich auf, das Bemühen
zur Förderung der Einstellung und Beschäftigung
Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst des Bundes
unvermindert fortzusetzen und weiter auszubauen.
Ich betone am Ende meiner Rede, daß Schwerbehinderte sehr gute Eignungen mitbringen und hervorragende Arbeit beim Bund leisten. Daher begrüßen wir jede
Neueinstellung - nicht um der Erfüllung der Quote willen. Jeder Schwerbehinderte stellt eine Bereicherung für
das Ressort und den Kollegenkreis dar.
({6})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/232 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Bundeshaushalt 1999 umgehend vorlegen
- Drucksache 14/184 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die
CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Dietrich Austermann
das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Dies ist unser dritter Versuch, die Regierung im Parlament zu einem verfassungsgemäßen Verhalten zu zwingen, nämlich zur
rechtzeitigen Vorlage des Haushaltsplanentwurfs für das
Jahr 1999, die nach der Verfassung eigentlich bis zum 1.
Januar dieses Jahres hätte erfolgen müssen.
Die CDU/CSU-Fraktion hat mehrere Anläufe genommen, um die Regierung zu zwingen, ihren Haushalt
und damit die ganze Wahrheit auf den Tisch zu legen,
und zwar vor der Wahl in Hessen. Herr Kollege Diller,
damals noch Sprecher der Opposition im Haushaltsausschuß, hat gesagt, das einfachste wäre, den Entwurf von
Theo Waigel zu übernehmen
({0})
und ihn mit geringen Korrekturen zu versehen. Das ist
nicht gemacht worden, obwohl es ein guter Entwurf war.
Lafontaine hat dies abgelehnt.
Am 20. Januar hat das Kabinett nun endlich Eckdaten
beschlossen. Die sofortige Behandlung hat der Ältestenrat mit der rotgrünen Mehrheit abgelehnt, und zwar mit
dem Hinweis, der Haushalt sei noch nicht beratungsreif.
Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Das Kabinett beschließt am 20. Januar den Haushaltsplanentwurf, und SPD und Grüne im Ältestenrat
sagen, er sei nicht beratungsreif. Gilt also die Kabinettsentscheidung nicht mehr? Ist der vom Kabinett beschlossene Haushalt Makulatur oder Schotter?
Wir erkennen hierin eine Fortsetzung der Haushaltspolitik der 70er Jahre. Nie wurde ein Haushaltsplanentwurf rechtzeitig vorgelegt. Wir haben 1982 vorgemacht, wie man es machen kann. Innerhalb von vier
Wochen war der Haushalt fertig.
({1})
1994 haben wir den Haushalt innerhalb von vier Wochen vorgelegt. Dies wäre ja auch einfach. Aber wahrscheinlich scheut man die gute Anfangs- und Schlußbilanz der alten Regierung.
Wir haben die Regierung bei kräftigem Wirtschaftswachstum - dem stärksten seit der Wiedervereinigung:
2,8 Prozent -, bei sinkender Arbeitslosigkeit, stabilen
Bundesfinanzen und bei sinkender Staatsquote übergeben. Der Anteil des Bundes am BIP ist gesunken, ebenso
das Bundesdefizit.
Rotgrün hat nun versprochen, nicht alles anders, aber
manches besser zu machen.
({2})
Nun erkennt man: Das, was Sie bisher anders machen,
ist schlechter. Das erkennt man auch an diesem Haushalt.
({3})
Die neue Mitte der Bürger erwartet Sparsamkeit, Steuersenkungen, mehr Investitionen, Fortführung des Abbaus der Arbeitslosigkeit, weniger Bürokratie, schnelles
Regierungshandeln. Die Bürger werden enttäuscht und
in den Hintern getreten. An die Stelle von Reformen, die
wir vorgelegt haben, an die Stelle von 16 Erfolgsjahren
mit wichtigen Reformen sind bisher 90 Chaostage getreten.
({4})
- 90 Chaostage. Sie brauchen doch bloß die Tageszeitungen aufzuschlagen. Wenn Sie die täglichen Headlines
lesen, dann werden Sie genau wissen, was gemeint ist.
Das, was beim Haushalt erkennbar ist, spricht ja
auch eine entsprechende Sprache. Sparsamkeit? - Die
Bundesausgaben steigen 1999 nach dem Willen der
Regierung um 6,8 Prozent, also mit der doppelten BIPRate.
({5})
Das Wachstum schrumpft. Aber daran sind wahrscheinlich wieder andere schuld. Die Arbeitslosigkeit wird sicherlich nicht sinken, auf jeden Fall aber sinkt die Beschäftigung. Der Anteil der Bundesausgaben an der
Staatsquote steigt. Die Investitionsquote sinkt.
Das ist eine erste Zwischenbilanz, die man dem
Haushalt entnehmen kann. Es ist nicht alles anders.
Nein, ich sage: Was Sie anders machen, ist schlechter.
Wir bewerten diesen Bundeshaushalt - den bisher
bekannten Entwurf; vielleicht gibt es ja bald einen anderen - so, daß wir sagen: Das, was dort angesetzt ist, bewirkt schon deshalb Investitionsstaus, weil der Haushalt
so spät und so langfristig behandelt wird. Was Sie in 15
Einzelplänen an Änderungen vorhaben, ändert allenfalls
etwas hinter dem Komma. Lafontaine legt den größten
Haushalt aller Zeiten vor: 488 Milliarden DM, 31 Milliarden DM Ausgaben mehr als im letzten Jahr. Da helfen
keine Rechentricks und keine Nachweise, daß man
möglicherweise an anderer Stelle manches hätte anders
machen können.
Ich nehme als Beispiel einmal die Finanzen der Rentenversicherung. Die Leistungen an die Rentenversicherung sollen wegen einer Fehlentscheidung - Rücknahme der Reform - 1999 auf sage und schreibe 119
Milliarden DM ansteigen. Das sind 24,4 Prozent aller
Bundesausgaben, Tendenz weiter steigend. Damit entfernt man sich von der beitragsfinanzierten Rente - eine
gefährliche Entwicklung. Im Jahr 2000 dürfte der Rentenzuschuß auf 125 Milliarden DM ansteigen.
Der Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit ist
sehr üppig bemessen, obwohl wir bei der Arbeitslosigkeit eine sinkende Tendenz hatten: 11 Milliarden DM
statt etwa 3 bis 4 Milliarden DM, die angemessen wären.
Offensichtlich möchte man den zweiten Arbeitsmarkt
zementieren. Das ist falsch. Wir fordern eine Senkung
des Arbeitslosenversicherungsbeitrags. Dies unterstützt
die Schaffung von Lehrstellen; es hilft den Betrieben
und der Wirtschaft.
({6})
Der Anteil der Bundesausgaben am Bruttoinlandsprodukt steigt auf 12,5 Prozent. Das ist das Gegenteil
von sparsamer Haushaltspolitik. Die Investitionsquote
sinkt. Es wäre Ihnen nicht gelungen, bei den Investitionsausgaben unter der Grenze der Nettoneuverschuldung zu bleiben, wenn Sie nicht einige buchmäßige
Tricks angewendet hätten. Deshalb sagt der Sachverständigenrat: Die Aufgaben zur Verbesserung der Rahmenbedingungen und zur Konsolidierung sind nur zu lösen, wenn gleichzeitig die Staatsausgaben und die
Staatsquote abgesenkt werden.
Diese Regierung tut dies offensichtlich nicht. Sie helfen sich mit Tricks, zum Beispiel durch die Einbeziehung der sogenannten Sonderhaushalte. Der Erblastentilgungsfonds, der eigentlich da ist, um den Wiederaufbau in den neuen Bundesländern zu finanzieren, wird
um 9 Milliarden DM geplündert. Nur so bleiben Sie unterhalb der Grenze der Nettokreditaufnahme, die Sie
nach der Verfassung nicht überschreiten dürfen - und
das, obwohl durchaus die Möglichkeit besteht, weiter zu
tilgen, weiter die Schulden und die rote Erblast abzubauen.
({7})
- Ja, die sozialistische Erblast, Frau Matthäus-Maier. Sie
können Sie meinetwegen auch lila nennen.
({8})
- Ich glaube, ich habe mich deutlich ausgedrückt. Ich
habe vom Erblastentilgungsfonds, von den Schulden der
SED gesprochen.
({9})
- Wenn ich nach Mecklenburg-Vorpommern schaue und
sehe, wer da inzwischen alles regiert, kann ich die Abkürzung PDS nun anders übersetzen: Partei der Spitzbuben.
({10})
Das wochenlange rotgrüne Gerede von angeblichen
Haushaltslöchern ist zusammengebrochen. Oswald
Metzger hat gestern mit Recht in der Zeitung gesagt, er
könne das Gerede von der Erblast der alten Regierung
nicht mehr hören. Es ist völlig richtig: 10 Milliarden
DM Privatisierungserlöse konnten als Mitgift von Theo
Waigel in das Jahr 1999 übernommen werden, obwohl
es sicher besser gewesen wäre, damit im letzten Jahr die
Neuverschuldung noch geringer zu halten.
({11})
Zu den Zinslasten könnte man ähnliches sagen. Diejenigen, die beklagen, daß die Zinslasten im Bundeshaushalt so hoch sind, sind diejenigen, die beklagen, daß
wir den Wiederaufbau in den neuen Bundesländern finanzieren müssen. Es sind diejenigen, die es mit der
Wiedervereinigung nie gut gemeint haben und die möglicherweise auch übersehen, welche Situationen im
Saarland, bezogen auf die Zinsnot, und in anderen Ländern, in denen die SPD regiert, tatsächlich vorzufinden
sind.
Auf der Einnahmeseite haben wir eine ähnliche Entwicklung, obwohl es Steuereinnahmen in Rekordhöhe
gibt. Die Steuereinnahmen in 1999 liegen um 30 Milliarden DM über denen des Vorjahres. Diese Last müssen Bürger und Betriebe schultern. Das ist klar. Professor Hax sagt, das, was Sie dort tun, behindere Investitionen und führe zum Rückgang der Beschäftigung. Wir
sagen: Sie müssen in diesem Bereich eine Kurskorrektur
vornehmen. Der Kollege Jacoby wird gleich noch darauf
eingehen.
Aber man kann sich das ganz einfach ausrechnen.
Wenn man den Bürgern auf der einen Seite 5,7 Milliarden DM mehr in der Tasche beläßt, indem man die
Steuern über höheres Kindergeld reduziert, und auf der
anderen Seite Steuermehreinnahmen von 31 Milliarden
DM verzeichnet, ist doch klar, daß die Belastung der
Bürger und der Betriebe netto ansteigen muß. Das zeigt
doch ganz deutlich, daß die Wirtschaft und die Menschen im Lande stärker unter der Steuerlast leiden
müssen, und das zeigt, daß diese Politik falsch ist. Wir
müssen zu niedrigeren, nicht zu höheren Steuern kommen.
({12})
Die Politik der sogenannten neuen Mitte schafft bisher nur Irritationen. Industrie und Mittelstand sind verunsichert. Die Rücknahme einer Vielzahl von Reformen
der christlich-liberalen Koalition und die Verwirklichung der Koalitionsvereinbarung werden sich verheerend auf den Standort Deutschland auswirken. Das kann
jeder Abgeordnete schon jetzt in seinem Wahlkreis spüren, egal ob er beim Handwerk, beim Einzelhandel, in
der chemischen Industrie, im Kraftwerk, in seiner Gemeinde oder bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben
nachfragt.
Ich bin der Meinung, daß selbstverständlich auch
der Bundeskanzler die Pflicht hat, die Wahrheit zu sagen, wenn er über Steuern, wenn er über Einnahmen,
wenn er über den Haushalt redet. Ich erinnere mich an
ein Interview im „Focus“ der letzten Woche und an ein
Interview im deutschen Fernsehen am letzten Sonntag.
Da hat der Bundeskanzler wieder einmal gesagt: Diese
Regierung hat einen guten Einstieg. Sie hat die Steuerlast gesenkt. - Er erwähnt dabei zum Beispiel die
Anhebung des Grundfreibetrages. Ich weise darauf
hin, daß die Entscheidung, den Grundfreibetrag zu erhöhen, schon im Jahre 1996 getroffen worden ist. Die
Anhebung des Grundfreibetrages ist die wesentliche
Steuerentlastung in diesem Jahr. Ich bitte darum, daß
weder das Bundespresseamt noch der Bundeskanzler,
noch der Bundesfinanzminister den Menschen die Unwahrheit zumutet. Wir haben diese Steuersenkung bewirkt, niemand anders.
({13})
Meine Damen und Herren, soweit im Haushalt bisher
erkennbar, herrscht auch in der Personalpolitik rotgrüner Filz: Nicht nur, daß 61 Spitzenbeamte der alten Regierung gegen Genossen ausgetauscht wurden; es kamen
noch neue Spitzenstellungen hinzu. Insgesamt dürfte es
sich um etwa 100 Spitzenstellungen handeln. Das ist ein
kräftiger Schluck aus der Pulle: etwa 100 neue Beamte
an neuen Stellen. Das ist keine Politik für die neue Mitte, das ist Politik für neue Sozis.
({14})
Diese Zahl muß man sich einmal vorstellen: Innerhalb
von drei Monaten gibt es 100 zusätzliche Spitzenbeamte.
„Loyalität gegen Loyalität“ hatte der Kanzler versprochen. Es folgte sein dankbarer Fußtritt. Es begann
mit dem teuren Koch in der saarländischen Landesvertretung, ging weiter mit fünf Staatssekretären bei Herrn
Lafontaine. Spitzenbeamte an allen Orten! Wer bezahlt
das alles? Schauen wir uns einmal die Kürzungen im
Haushalt an: Kürzung bei der Landwirtschaft, Kürzung
beim Straßenbau, Kürzung bei Verteidigungsausgaben,
Kürzung beim Wohngeld, Kürzung beim sozialen Wohnungsbau; das Hochschulprogramm erhält angeblich
200 Millionen DM mehr, an anderer Stelle werden aber
200 Millionen DM kassiert; Frau Bulmahn, die Forschungsministerin, hat weniger Geld zur Verfügung, als
Herr Rüttgers gehabt hätte. - Die einzige Stelle im
Haushalt, an der Sie die Ausgaben kräftig erhöhen, ist
die Steinkohle, die höhere Subventionen erhält. - Ich
höre immer das Gerede, wir müßten uns neuen Technologien zuwenden. Die gibt es sicher auch im Bereich der
Kohle.
({15})
- Kollege Wagner, 713 Millionen DM mehr im neuen
Haushalt für Steinkohle, das ist, glaube ich, nicht das,
was man sich unter Subventionsabbau vorstellt.
Rotgrüne Politik verunsichert allenthalben. Das gilt
auch für die Energiepolitik. Da sagt man mit großer
Bravour ein Programm von 1,1 Milliarden DM an: Die
Solarenergie werde in Deutschland jetzt eingesetzt; die
habe es vorher gar nicht gegeben. - Schaut man in den
Haushaltsentwurf, stellt man fest, daß dort für 1999 eine
Million DM für Studien im Bereich der Solarenergie
und Zinszuschüsse für spätere Jahre vorgesehen sind.
Vorgesehen waren 1,1 Milliarden DM.
Wir haben in den letzten Jahren eine Spitzenstellung
im Bereich der erneuerbaren Energien erreicht: bei der
Windenergie, bei der Solarzellenproduktion und in vielen anderen Bereichen. Sie sind jetzt dabei, vorhandene
gute Strukturen im Energiebereich kaputtzumachen.
Das gilt auch für das Thema Kernenergie. In meinem Wahlkreis befinden sich zwei Kernkraftwerke.
({16})
Sie machen vorhandene intakte Strukturen kaputt.
({17})
Der Bundeskanzler hat am letzten Sonntag auf die
Frage „Ist der Fahrplan für den Atomausstieg wirklich
einzuhalten?“ gesagt: Das ist einzuhalten; ich sehe da
gar keine Schwierigkeiten. - Auf die Frage nach der
Entschädigung sagt er: Der Umweltminister hat in dieser
Frage recht. Er bewegt sich auf dem Boden der Koalitionsvereinbarung, auf dem Boden dessen, was wir ins
Werk setzen wollen. - Wie paßt das zu der drei Tage
später abgegebenen Erklärung, was man in der Energiepolitik jetzt anders machen will? Energiepolitik ist ja
wichtig. In Schleswig-Holstein hängt das wirtschaftliche
Wachstum einzig und allein davon ab, ob das eine oder
andere Kernkraftwerk läuft oder nicht.
Auf die Frage „Können Sie sich vorstellen, Herr
Schröder, daß wir dadurch, daß wir dann Strom im
Ausland kaufen müssen, möglicherweise Hunderttausende werden entlassen müssen?“ antwortet er: Niemand
kann das ausschließen. - So leichtfertig geht er mit diesem Problem um. Ich sage: Jetzt läßt Schröder Trittin
fallen wie eine heiße Kartoffel, oder besser: wie eine
grüne Gurke.
Sehen wir uns das in anderen Bundesländern an. Ich
glaube, es ist notwendig, daß im Bereich der Haushaltspolitik eine Umkehr stattfindet. Wir fordern mit der
Mehrheit der Ökonomen und der internationalen Institutionen die Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung,
durchgreifende Steuerreformen, mehr Investitionen,
mehr Politik für Arbeitsplätze. Nur wenn dies geschieht,
kann das Chaosorchester endlich aufhören zu spielen.
Der ganze Haushalt, die ganze Wahrheit muß auf den
Tisch - im Interesse der Menschen in diesem Land.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich gebe zur Geschäftsordnung dem Kollegen Dr. Peter Ramsauer das
Wort.
Herr Präsident!
Ich möchte namens der CDU/CSU-Fraktion beantragen,
daß der Bundesminister der Finanzen jetzt sofort herbeigerufen wird.
Ich begründe dies damit, daß bereits der Beginn dieser
Debatte zeigt, wie viele offene Fragen es zum Bundeshaushalt 1999 gibt, was die Anwesenheit des Bundesfinanzministers im Bundestag erforderlich erscheinen läßt.
({0})
Ich gebe das Wort
der Kollegin Susanne Kastner für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir werden dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion nicht zustimmen, weil wir der Meinung sind, daß der Finanzminister in der Befragung der
Bundesregierung zu diesem Thema gestern ausführlich
Stellung genommen hat.
({0})
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen, oder möchten Sie noch ergänzen,
Frau Kastner?
({0})
Von der CDU/CSU-Fraktion ist der Antrag zur Geschäftsordnung gestellt worden. Die SPD-Fraktion beantragt Unterbrechung der Sitzung, aber ich muß über
den ersten Antrag zunächst abstimmen lassen, es sei
denn, es gibt eine Vereinbarung zwischen den Fraktionen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das der Fall ist.
({1})
Wenn das nicht der Fall ist, dann lasse ich abstimmen.
Es ist der Antrag gestellt worden, nach § 42 der Geschäftsordnung den Bundesfinanzminister herbeizuzitieren. Ich stelle die Frage, wer für diesen Antrag stimmt.
({2})
Gegenprobe!
({3})
Es gibt im Präsidium keine übereinstimmende Meinung
({4})
über die Mehrheit.
({5})
- Es gibt im Präsidium keine Übereinstimmung hinsichtlich der Mehrheitsverhältnisse, und die Geschäftsordnung des Bundestages sieht vor, daß in einem solchen Falle ein Hammelsprung stattfindet. Ich bitte also
die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu verlassen.
Ich bitte die Mitarbeiter des Hauses, die entsprechenden
Vorkehrungen zu treffen und zu gegebener Zeit die Türen für den Hammelsprung zu öffnen.
Darf ich die anwesenden Kolleginnen und Kollegen
bitten, den Saal zu verlassen, damit wir gleich mit der
Abstimmung beginnen können? Solange Sie im Saal
anwesend sind, können wir das Verfahren nicht weiter
fortführen.
Ich richte die Frage an die Schriftführer, ob alle Türen mit Schriftführern besetzt sind. Ich bitte um eine
Mitteilung, ob die ordnungsgemäße Durchführung des
Hammelsprungs jetzt möglich ist. Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung und bitte, mit dem
Durchgang durch die jeweiligen Türen für Ja, Nein und
Enthaltung zu beginnen.
Ich darf die Gelegenheit nutzen, unsere Gäste auf der
Tribüne zu begrüßen. Ich bitte Sie um ein bißchen Geduld. Aber auch ein solcher Hammelsprung gehört zum
parlamentarischen Leben. Wir werden in einigen Minuten mit der Debatte fortfahren können, wenn das Ergebnis der Abstimmung feststeht.
Ich bitte um einen Hinweis von den Schriftführern,
ob die Abstimmung beendet ist. Meine Damen und Herren, ich bitte, die Plätze einzunehmen, die Türen zu schließen und mir das Ergebnis
der Abstimmung mitzuteilen. Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der
Abstimmung bekannt. Für den Antrag, den Bundesfinanzminister herbeizurufen, haben 291 Abgeordnete,
gegen diesen Antrag 331 Abgeordnete gestimmt.
({6})
Damit ist der Antrag abgelehnt.
Wir fahren in der Aussprache fort. Eine Kurzintervention hat die Kollegin Antje Hermenau vom Bündnis
90/Die Grünen angemeldet.
Ich beziehe mich auf den Redebeitrag des Kollegen
Austermann von der CDU/CSU-Fraktion. Herr Kollege
Austermann hat entgegen seiner Ankündigung, er werde
hier eine redliche Haushaltsbilanz ziehen, dargestellt,
daß nach seiner Auffassung der Haushaltsansatz für die
Steinkohle übermäßig angehoben werde, was politisch
unklug sei. Um der Redlichkeit der Debatte Genüge zu
tun, stelle ich hiermit fest, Herr Kollege Austermann,
daß diese Aufwüchse aus Zahlungen resultieren, die der
Minister Rexrodt über Jahre hinweg immer wieder hinausgeschoben hat, um Konsolidierungsbemühungen in
seinem Einzelplan zu vermeiden. Es handelt sich hier im
Prinzip also nur darum, daß wir etwas bereinigen, was
Sie jahrelang versäumt haben.
Danke schön.
({0})
Zur Erwiderung gebe ich Herrn Kollegen Austermann das Wort.
Bevor ich zu
dem Stellung nehme, was die Kollegin Hermenau eben
gesagt hat, möchte ich meinem Befremden darüber Ausdruck geben, daß der Finanzminister an der Abstimmung
über unseren Antrag, ihn herbeizuzitieren, teilgenommen
hat, jetzt aber nicht auf der Regierungsbank Platz nimmt.
({0})
Ich halte das für ein unglaubliches parlamentarisches
Verfahren und für eine Mißachtung des Parlaments insgesamt, nicht nur der Opposition.
({1})
Zu der angeblichen Klarstellung der Kollegin von den
Grünen möchte ich feststellen: Sie hat bestätigt, daß,
statt Subventionsabbau vorzunehmen, im Haushalt des
Bundeswirtschaftsministers an vielen Stellen eine Kürzung erfolgt ist und lediglich bei den Subventionen für
die Kohle ein Aufwuchs um 713 Millionen DM vorgesehen ist.
Ich bedanke mich für die Bestätigung. Ihre Aussage
bestätigt mir, daß die Anlage des Etats für das Wirtschaftsministeriums und des Etats für die Bundesrepublik insgesamt völlig falsch ist.
({2})
Zu einer weiteren
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen
Schmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen, nur damit das hier klar ist: Wenn Sie bei
Showanträgen der Art, wie Sie sie stellen, das Herbeizitieren eines Ministers auf die Spitze treiben - wie Sie es
hier versucht haben -, dann werden wir auch künftig unsere Mehrheit nutzen und das Verfahren entsprechend
bestimmen.
Der Minister hatte einen Termin mit einem internationalen Gast und wird in Kürze wieder an der Sitzung
teilnehmen.
({0})
Betrachten Sie das einmal ganz entspannt!
Wir befinden uns
im Augenblick in einer Grauzone der Geschäftsordnung.
Das gilt aber für beide Seiten. Ich denke, das Vorgehen
dient der Lebendigkeit der Debatte.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Repnik.
Herr Präsident,
ich verwahre mich mit Nachdruck gegen die Behauptung des Kollegen Schmidt, daß es sich hier um einen
„Showantrag“ handelt.
({0})
Ich will das begründen. Wir haben bereits im vergangenen Jahr, im Dezember, diesen Antrag eingebracht.
Zwischenzeitlich - dies wurde bereits von unseren Sprechern begründet - hat das Kabinett den Haushalt 1999
verabschiedet. Da dieser Haushalt im Kabinett verabschiedet worden ist, ist er eigentlich beratungsreif. DesVizepräsident Rudolf Seiters
halb haben wir darum gebeten, daß dieser Haushalt
heute bzw. in diesen Tagen auf die Tagesordnung
kommt.
Wir halten es für einen Skandal und für eine eklatante
Verletzung der Rechte des Parlaments, daß sich der Finanzminister, obgleich er hier ist, dieser Debatte entzieht, weil er offensichtlich ein schlechtes Gewissen hat.
({1})
Ich gebe für die
Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär
im Finanzministerium, Karl Diller, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit der Bildung der neuen Bundesregierung vor drei Monaten streuen CDU und CSU in immer neuen Variationen haltlose Verdächtigungen.
Die allererste war, wir würden den Haushalt nicht am
20. Januar, sondern erst nach dem 7. Februar im Kabinett beraten. Wir haben dies stets als unzutreffend zurückgewiesen und, wie angekündigt, am 20. Januar im
Kabinett den Regierungsentwurf verabschiedet. Unmittelbar danach hat Minister Lafontaine dem Parlament
Rede und Antwort gestanden und, wie seit Wochen abgesprochen, dem Haushaltsausschuß die Eckdaten des
Regierungsentwurfs erläutert.
Wir haben in der Sitzung den Obleuten aller Fraktionen erstens die Kabinettsvorlage mit dem Entwurf des
Haushaltsgesetzes 1999 samt Begründung, zweitens den
Entwurf des Bundeshaushaltsplans, drittens einen Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft nach § 31 Bundeshaushaltsordnung, also die Erläuterung aller wichtigen Eckdaten
und wesentlichen Veränderungen, und viertens die Personallisten, die Personalveränderungslisten und den
engzeilig beschriebenen Computerausdruck aller Einzelpläne, insgesamt ein Werk von 7 Zentimeter Höhe,
überreicht.
Als früherer Obmann der SPD-Fraktion im Haushaltsausschuß kann ich mich nicht erinnern, daß uns die
Regierung Kohl jemals so frühzeitig die Kabinettsvorlage überreicht hat.
({0})
Ich stelle also fest: Die Bundesregierung Schröder hat
ihre Ankündigung, am 20. Januar im Kabinett den Regierungsentwurf zu beschließen, eingehalten
({1})
und sich gegenüber dem Parlament informationsfreudiger gezeigt, als die Regierung Kohl es je getan hat.
({2})
Herr Staatssekretär,
einen Moment! Ich möchte Ihnen die notwendige Ruhe
verschaffen. - Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen,
die im hinteren Teil des Plenarsaales Gespräche führen,
diese doch bitte nach draußen zu verlagern.
Sie haben das Wort.
Nun arbeitet die Druckerei mit Hochdruck
daran, den Haushalt in gedruckter Form allen Abgeordneten vorzulegen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist ein
Werk, das 14 cm dick sein wird, weil es zusätzlich alle
Erläuterungen zu den vielen tausend Titeln enthält. Für
Freunde großer Zahlen in Ihren Reihen: Wissen Sie eigentlich, wieviel Blatt Papier dafür bedruckt werden
müssen? 44,5 Millionen Seiten müssen für den Druck
des Bundeshaushalts bedruckt werden. Das schafft auch
die beste Druckerei nur in 13 Arbeitstagen. Deswegen
wird das Kanzleramt dem Deutschen Bundestag und
dem Bundesrat den Haushaltsentwurf erst am 5. Februar
1999 zuleiten.
({1})
Sie haben dann Zeit, sich vertieft mit dem Zahlenwerk
zu beschäftigen und sich auf die seit langem vereinbarte
erste Lesung in der letzten Sitzungswoche im Februar
vorzubereiten.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, vor einem so
großen Kreis von Kolleginnen und Kollegen die Eckdaten und besonderen Akzente des Regierungsentwurfs zu
erläutern:
Dies ist der erste Haushalt der neuen Bundesregierung. Der alte Regierungsentwurf mußte grundlegend
überarbeitet und in wichtigen Politikbereichen neu ausgerichtet werden. Wir haben von Herrn Bundeskanzler
Kohl und von Herrn Waigel eine extrem schwierige Finanzlage geerbt.
({2})
Im letzten Jahr mußte jede vierte Mark, die wir an
Steuern eingenommen haben, für das Zahlen von Zinsen
ausgegeben werden. Das heißt, wir haben einen Bundeshaushalt mit Haushaltsnotlage übernommen.
({3})
Angesichts dieser Situation können wir sagen: Der neue
Bundeshaushalt ist ein guter Haushalt, ein Haushalt für
neue Arbeitsplätze und für finanzpolitische Stabilität.
({4})
Der Haushalt 1999 setzt ein Stabilitätssignal. Die
Neuverschuldung sinkt auf 56,2 Milliarden DM und
liegt 2 Milliarden DM unter der verfassungsrechtlichen
Verschuldungsgrenze. Der Anstieg der Ausgaben wird
- Sonderfaktoren herausgerechnet - auf 1,7 vom Hundert begrenzt.
Mit dem Haushalt vollziehen wir in wichtigen Bereichen den politischen Neuanfang, den wir vor der Wahl
versprochen haben: Wir erhöhen die Mittel für Zukunftsinvestitionen, für Forschung, Bildung und Wissenschaft gegenüber 1998 um 1 000 Millionen DM. So
gibt es 200 Millionen DM mehr für den Hochschulbau,
und die BAföG-Mittel steigen um 6 Prozent, meine Damen und Herren.
({5})
Wir stellen deutlich mehr Geld bereit für die Forschungsförderung kleiner und mittlerer Unternehmen,
({6})
für die Förderung moderner Schlüsseltechnologien, für
die Förderung von Begabten und des wissenschaftlichen
Nachwuchses, für ein Sonderprogramm für den Ausbau
der Forschungslandschaft in den neuen Ländern, und wir
starten das 100 000-Dächer-Programm zur Förderung
der Solarenergie. Es ist geradezu ein Armutszeugnis für
den Kollegen Austermann, daß er in diesem Haushalt
schon nennenswerte Millionenbeträge einfordert für ein
Programm, das ein Zinszuschußprogramm sein wird, für
das logischerweise die ersten richtig großen Beträge frühestens in einem Jahr bereitgestellt werden müssen.
({7})
Aber wir haben in der mittelfristigen Finanzplanung und
im Verpflichtungsrahmen die notwendigen Mittel ausgewiesen.
Mit dem Haushalt 1999 setzt die neue Bundesregierung kräftige Akzente zugunsten Ostdeutschlands:
Wir führen die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“
vorrangig weiter. Wir sorgen dafür, daß im Rahmen der
regionalen Wirtschaftsförderung neue Bewilligungen in
der Größenordnung von 6 Milliarden DM eingegangen
werden können. Wir erhöhen die Forschungs- und Entwicklungssonderprogramme für Mittelstand und Handwerk in den neuen Bundesländern auf 325 Millionen
DM. Wir stellen zur Sicherung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze bei ehemaligen Treuhandunternehmen gegenüber dem Regierungsentwurf Kohl 500 Millionen
DM zusätzlich zur Verfügung. Wir unterstützen mit
einer weiteren Milliarde DM für die anderen Treuhandnachfolgeeinrichtungen zum Beispiel die Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft und die Sanierung der
dortigen Braunkohlereviere.
({8})
Bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze setzt die Regierung vor allem auf Mittelstand und Handwerk. Wir
erhöhen die Förderung des Mittelstandes auf 2,2 Milliarden DM. Wir kürzen nicht - wie es die Regierung
Kohl vorhatte - die Forschungsförderung für kleine und
mittlere Unternehmen, sondern wir stocken die Mittel
um rund 100 Millionen DM auf.
({9})
Wir starten ein neues Programm zur Verbesserung der
Innovationsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen
mit 20 Millionen DM.
Die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik wird die
neue Bundesregierung um 6 Milliarden DM erhöhen,
damit die Jugendarbeitslosigkeit mit einem Sofortprogramm, das 100 000 arbeitslose Jugendliche in Ausbildung und Beruf bringen soll, bekämpft werden kann.
({10})
Wir verlängern das Programm zur Bekämpfung der
Langzeitarbeitslosigkeit bis zum Jahre 2002 mit weiteren 2,25 Milliarden DM, mit denen wir Lohnkostenzuschüsse an Arbeitgeber finanzieren, die Langzeitarbeitslose einstellen.
({11})
Die Zuschüsse des Bundes an die gesetzliche Rentenversicherung steigen auf 119 Milliarden DM, damit wir
den Beitragssatz auf 19,5 Prozent senken können.
({12})
Für Investitionen in Schiene, Straße, Wasserwege,
Städtebau und sozialen Wohnungsbau stehen 1,5
Milliarden DM mehr zur Verfügung. So gibt es erstmals
- das ist ein uraltes Anliegen der SPD und der Grünen 100 Millionen DM für die Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen. Im Städtebau starten wir ein Programm zur Förderung von Stadtteilen mit besonderem
Entwicklungsbedarf.
({13})
Mit dem Haushalt 1999 stellt die neue Bundesregierung sicher, daß die Bundeswehr ihren Auftrag erfüllen
kann; der Plafond des Einzelplans steigt um fast 400
Millionen DM.
Im Bereich der internationalen Zusammenarbeit erhöhen wir die Mittel gegenüber dem alten Regierungsentwurf um 124 Millionen DM. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel im Sommer in Köln wird die Bundesregierung zusammen mit den anderen Ländern der G 7 eine
internationale Entschuldungsinitiative zugunsten der
ärmsten Entwicklungsländer auf den Weg bringen.
Meine Damen und Herren, mit dem neuen Haushalt
stellt die Bundesregierung die Weichen zur Konsolidierung der Bundesfinanzen. Die Ressorts haben einen
Konsolidierungsbeitrag in Höhe von 0,5 Prozent ihres
Ausgabenvolumens erbracht, neue Ausgaben durch Einsparungen in ihrem Einzelplan gegenfinanziert und damit die Voraussetzung geschaffen, daß das von der Vorgängerregierung übernommene Erblastproblem in den
nächsten Jahren abgebaut werden kann.
({14})
Mit dem neuen Etat schaffen wir mehr Haushaltswahrheit und -klarheit, weil wir die angeblichen
„Sondervermögen“ wie Erblastentilgungsfonds - in dem
Wort steckt schon eine Täuschung der Öffentlichkeit -,
Verstromungsfonds und Bundeseisenbahnvermögen auf
den Bund übernehmen und den Schuldendienst im
Haushalt offen ausweisen. - Sie werden sich wundern,
wieso man einen Schuldendienst für Vermögen ausweisen muß. Ich will es gleich erklären. - Mit dieser Übernahme ist eine Entlastung des Haushalts 1999 nicht verbunden.
In diesen „Sondervermögen“ hatte die alte Regierung
Schulden in Höhe von 390 000 Millionen DM versteckt.
Eine echte Tilgung dieser Schulden aus dem Bundeshaushalt fand - abgesehen von der Sondertilgung durch
den 7 Milliarden DM übersteigenden Bundesbankgewinn - nicht statt. Für ihre angebliche Tilgung hat die
Regierung Kohl zusätzliche Kredite aufgenommen; es
fand also keine Schuldentilgung, sondern eine Umschuldung auf den Bund statt.
Bundesbankgewinne, die 7 Milliarden DM übersteigen, werden wir auch künftig voll und ganz zur Tilgung
im Erblastentilgungsfonds einsetzen. Die Zahlungen der
neuen Länder für kommunale Altschulden in Höhe von
jährlich 300 Millionen DM werden wir nur noch zur
Tilgung verwenden.
Die Erlöse aus Privatisierungsmaßnahmen liegen mit
rund 12 Milliarden DM deutlich niedriger als im Vorjahr. Weitere 7 Milliarden DM aus Privatisierungserlösen werden - den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend - eingesetzt, um die Deckungslücke der Postunterstützungskasse zu schließen.
Die Bundesregierung verfolgt einen mittelfristig angelegten Kurs der Konsolidierung, der den konjunkturellen Erfordernissen Rechnung trägt. Den Finanzplan
für den Zeitraum bis 2003 werden wir turnusgemäß zusammen mit dem Haushaltsentwurf 2000, im Sommer,
auf der Basis der im Frühjahr stattfindenden Aktualisierung der gesamtwirtschaftlichen Prognosen und Steuerschätzungen aufstellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nachdem es
uns gelungen ist, für 1999 einen soliden und zukunftsweisenden Haushaltsentwurf vorzulegen, bin ich sicher,
daß uns dies im Sommer auch für die Folgejahre gelingen wird.
({15})
Das Wort hat der
Kollege Dr. Günter Rexrodt für die F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Haushalt ist das Schicksalsbuch
der Nation.
({0})
Deshalb sieht unsere Verfassung vor, daß die Menschen
noch vor Ablauf des alten Jahres Kenntnis von ihrem
Schicksal im neuen Jahr bekommen. Nun akzeptieren
wir - ich habe das schon an anderer Stelle gesagt -, daß
durch die Bundestagswahl und den Regierungswechsel
eine Verschiebung in das neue Jahr stattfand. Wir akzeptieren aber nicht die Verschiebung der ersten Lesung
auf Ende Februar.
({1})
Der Haushalt ist beratungsreif. Wenn der Kollege
Diller hier sagt, die Drucker schafften es nicht eher, ist
das ein Armutszeugnis. Sie sind doch für die Organisation verantwortlich.
({2})
Da stimmt doch irgend etwas nicht. Dann bemühen Sie
sich doch, den Haushaltsentwurf mit Hilfe privater
Druckereien rechtzeitig fertigstellen zu lassen. Das Parlament und die Bürger haben einen Anspruch darauf,
daß hier zur rechten Zeit die erste Lesung stattfindet.
({3})
Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit sind Sie
mit Ihrem Haushalt nicht klargekommen, weil Ihre gesamte Politik in nie dagewesener Weise unkoordiniert
und unprofessionell angelegt ist; dementsprechend haben Sie auch begonnen. Sie haben einfach nicht nachgedacht. So haben wir denn auch von einem Haushaltsentwurf Kenntnis zu nehmen, der in den Eckwerten
zwar stimmt, bei näherem Hinsehen aber von außerordentlicher Einfallsarmut zeugt und ein Langweiler par
excellence ist.
({4})
Das Ganze begann seitens des neuen Finanzministers
mit dem Verwirrspiel um den sogenannten Kassensturz.
Als ob die ehemalige Opposition nicht jeden Posten und
jedes Detail des alten Waigelschen Haushaltsentwurfs
gekannt hätte! Alles hat sie gekannt.
({5})
Sie hat mit diesem Popanz ein Verwirrspiel begonnen
und die Dinge nicht richtig diskutiert und betrachtet.
Ansonsten hätten wir schon eher Klarheit über Ihren
neuen Entwurf gehabt und ihn zur rechten Zeit diskutieren können.
Nun redet die Regierung auch nicht mehr von
Deckungslücken im alten Haushalt.
({6})
Jetzt spricht der Bundesfinanzminister davon, daß die
Zinslastquote seit 1980 auf 25 Prozent gestiegen sei.
- Nun ja, das ist richtig. Aber, meine Damen und Herren - das sage ich mit aller Deutlichkeit -: Wer wüßte
denn nicht, daß dies das Ergebnis der Investitionen ist,
die wir für die Wiedervereinigung Deutschlands tätigen
mußten? Nichts anderes steckt dahinter.
({7})
Noch eines sage ich an die Adresse der Regierung,
Herr Diller: Die Koalition kann nicht auf der einen Seite
Klage darüber führen, daß Leistungen für die neuen
Länder durch das Versicherungssystem und nicht durch
Steuern finanziert wurden, und auf der anderen Seite
über die hohe Zinslastquote klagen. Das verträgt sich
nicht. Wenn man nicht auf die Versicherungssysteme
zurückgegriffen hätte, hätte die Verschuldung noch
weiter steigen müssen und wäre die Zinslastquote noch
höher gewesen. Solche Forderungen sind nichts als reine
Semantik.
({8})
Ich möchte noch einmal festhalten, daß der Bundesfinanzminister aus dem alten Haushalt 1998 von Theo
Waigel eine Vorlage in Höhe von fast 10 Milliarden DM
aus der veranlagten Einkommensteuer bekommen hat.
Das erlaubt es ihm, Privatisierungen in einer vergleichbaren Größenordnung auf 1999 zu verschieben. Dazu
kommen noch die günstigen Entwicklungen auf dem
Arbeitsmarkt im vergangenen Jahr. Das alles verschaffte
Luft.
Der Haushalt ist ein Langweiler - ein Langweiler
gemessen an dem, was Sie hier vor der Bundestagswahl
angekündigt haben, und gemessen an dem sogenannten
Reformbedarf, den Sie sich selbst als Maßstab gewählt
haben. Der Haushalt enthält Unwägbarkeiten par excellence und Risiken, für die keine Deckung herbeigeführt
worden ist. Es werden keinerlei politische Akzente und
keine Schwerpunkte gesetzt.
({9})
- Das ist so. Darauf gehe ich der Reihe nach ein. Der
Gestaltungswille, der von Ihnen immer zur Schau getragen worden ist und den Sie für sich selbst zum Maßstab
gemacht haben, ist jedenfalls in diesem Haushalt nicht
erkennbar.
Da wird von der Steigerung des Haushalts für Forschung und Entwicklung um 1 Milliarde DM gesprochen. Man kann allenfalls - bei großzügiger Betrachtung
- von 430 Millionen DM sprechen. Das ist eine geringere Steigerung, als sie im Haushalt von Herrn Waigel
vorgesehen war. Bei dieser Steigerungsrate frage ich
mich, wie Sie Ihr Versprechen wahr machen wollen, innerhalb einer Legislaturperiode die Ausgaben für Forschung und Wissenschaft zu verdoppeln. Davon ist
nichts, aber auch gar nichts erkennbar.
({10})
Da wird von einer kräftigen Steigerung beim Aufbau
Ost von 91 Milliarden DM auf 99 Milliarden DM gesprochen. Das ist eine Luftblase! Richtig ist, daß die
Subventionierung von Arbeitsplätzen generell aufgestockt wird. Richtig ist in diesem Zusammenhang auch,
daß der größere Teil den Menschen in den neuen Bundesländern zugute kommt. Aber Sie - auch das sage ich
mit Nachdruck - waren doch diejenigen, die diese Art
der Zurechnung bei sogenannten Osttransfers immer
wieder kritisiert haben. Ich habe gesagt, daß es dazu eine
gewisse Berechtigung gibt. Jetzt aber haben Sie die Regierungsverantwortung übernommen und rechnen sich
normale Steigerungen auf Grund des Ausfüllens ganz
normaler Programme als eine Steigerung beim Aufbau
Ost zu. Das ist eine Luftblase. Da wird den Menschen
ein X für ein U vorgemacht.
({11})
Das gilt gleichermaßen für das Sonderprogramm Jugendarbeitslosigkeit. Das gilt für das Programm Innovationskompetenz im Mittelstand. Und was die BvS angeht, so wurde schon bisher jedes Projekt, das irgendwie
sinnvoll erschien, finanziert.
Ihnen ist anzulasten, daß es Risiken gibt, die auf
Grund Ihrer dilettantischen, bürokratischen und weitgehend unberechenbaren Regelungen zu den 630-DM-Jobs
entstehen. Ihnen ist das Risiko bei der Energiesteuer und
vieles andere mehr anzulasten. Ich könnte das, wenn die
Zeit dazu vorhanden wäre, im einzelnen mit ganz konkreten Zahlen darlegen.
Aber alles, was hier vorgetragen bzw. vorgelegt wird,
ist nur ein Teil dessen, was Sie uns mit Ihrer Politik insgesamt zumuten, nämlich ein unkoordiniertes Verwirrspiel. Die Menschen wissen nicht, wo es langgeht.
Schauen Sie in den Zeitungen nach, was da jeden Tag
geschrieben wird. Es ist zwar nicht alles richtig, was in
der Zeitung steht, aber daß Ihre Regierung an ein so
wichtiges Werk, wie es der Bundeshaushalt nun einmal
ist, dilettantisch herangeht, ist ein Faktum. Das ist ein
weiterer Beweis dafür, daß Sie schlecht gestartet sind.
({12})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Oswald Metzger für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
von der Sache etwas versteht, ist man gehalten, einen
Strich unter die Debatte, wie sie bis dato lief, zu ziehen
und das Ganze einmal von der Sache her anzugehen.
Das vordergründige Gerede von der Erblast, daß man
sozusagen alle Übeltaten dieser Welt bei der alten Regierung ablädt und die Wohltaten dieser Welt ans Revers der neuen Regierung heftet, mache ich einfach nicht
mit. Das wäre zu banal.
({0})
- Sie klatschen zu früh.
Zu berücksichtigen ist aber auch dies: Die Privatisierungserlöse aus dem letzten Jahr, die die neue Regierung
in ihren Etat herübergerettet hat ({1})
weil die Steuereingänge besser waren -, haben wir gebraucht, um Unterdeckung und Nichtveranschlagung im
Entwurf von Theo Waigel auszugleichen. Auch das ist
die Wahrheit! Denken Sie an die Ergänzungszuweisungen an Bremen, denken Sie an die Überveranschlagungen im Verkehrshaushalt. Das alles sind Dinge, die sich
zu einer Summe in der Größenordnung von 10 Milliarden DM addieren. Damit sind wir bei einer fairen Geschäftsgrundlage.
Wie würden Sie heute, Kollege Austermann, vor der
Hessen-Wahl dastehen, wenn das eingetreten wäre, was
Sie sich politisch-taktisch gewünscht haben: daß wir die
Verschuldungsgrenze überschreiten? Wir haben sie nicht
nur eingehalten, wir haben sogar noch Reserven eingebaut. Sie, Herr Kollege Austermann, hatten inzwischen
Gelegenheit, als Obmann der CDU in den Haushaltsentwurf 1999 hineinzuschauen, während Sie uns
früher, als ich Obmann einer Oppositionsfraktion war,
erst mit der Übersendung der Drucksache des Haushaltsentwurfs die Einzelpläne haben zukommen lassen.
Sie haben sie am Tag der Kabinettsentscheidung mittags
im Haushaltsausschuß auf den Tisch bekommen.
({2})
- Was wahr ist, muß wahr bleiben.
Der Finanzminister muß im Parlament nicht noch
einmal den Entwurf der Regierung vorstellen, den er am
Mittwoch der letzten Woche im Haushaltsausschuß und
hier in der Fragestunde vertreten hat.
({3})
Jetzt sind wir als Parlament Herr des Verfahrens. Jetzt
wird im Haushaltsausschuß in der ersten Lesung im
Februar darüber geredet.
Die zwei Wochen Übersendungs- und Druckfrist,
Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., gab es zur
Zeit der alten Regierung natürlich auch. Das ist ein übliches Verfahren, im Ältestenrat im Dezember mit allen
Fraktionen und im Obleutegespräch der Haushälter abgestimmt, was den Fahrplan betrifft. Auf dieser Ebene
haben wir uns wirklich nichts vorzuwerfen.
Jetzt aber zur Sachdiskussion: Niemand in diesem
Land sollte sich hinstellen und die Ressourcenknappheit
der öffentlichen Haushalte kleinreden. Wir machen eine
faire Eröffnungsbilanz, die ich einmal an einigen Zahlen vergleichend darstellen möchte, die die letzte Legislaturperiode der alten Koalition betreffen: 18 Prozent
aller Ausgaben sind im letzten Jahr in Zinsen für alte
Schulden geflossen. Noch 1994, zu Beginn Ihrer letzten
Legislaturperiode, hatten Sie 14 Prozent aller Ausgaben
für Zinsen aufzuwenden. 1994 haben Sie 17 Prozent für
Pensionen und Bundeszuschüsse an die Renten aufgewendet. Letztes Jahr waren es 26 Prozent aller Ausgaben
im Bundeshaushalt.
Dies ist eine gigantische Finanzsumme. Das sind über
60 Milliarden DM an Ausgaben, die durch diese zwei
Kostenblöcke gebunden sind. Wenn man glaubt, diese
Kosten mit einfachen, billigen Wahrheiten loszuwerden,
dann täuscht man sich. Dies muß man so nüchtern festhalten, weil das, was in der Oppositionszeit richtig war,
auch jetzt in der Regierungszeit richtig ist.
Eine Fehlfinanzierung der deutschen Einheit, die die
Arbeit verteuert hat, hat Arbeitslosigkeit provoziert, hat
damit Sozialversicherungsbeitragseinnahmen und Steuereinnahmen verhindert und die Ausgaben für den Arbeitsmarkt nach oben getrieben. Das ist ein Riesenproblem. Denken Sie an den Eiertanz - da Herr Rexrodt gerade geredet hat -, den
({4})
die F.D.P. seinerzeit in Sachen Solidarzuschlag aufgeführt hat. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. In der Anfangsphase hat man sich geweigert, die
gigantische Erblast der alten DDR mit Steuererhöhungen als Sonderopfer zu finanzieren mit dem Ergebnis,
daß man damals sowohl die Sozialkassen belastet als
auch Arbeit verteuert hat und damit die Konsequenzen
bekam, die ich eben beschrieben habe. Dadurch hat man
auch die Neuverschuldung nach oben katapultiert mit
der Folge, daß die Zinslasten gestiegen sind.
Das sind die objektiven Ursachen, die den Sachverständigenrat - im Gutachten 1997 - zu der Feststellung
bewogen haben: Es gibt im Bundeshaushalt ein strukturelles Defizit in der Größenordnung von etwa 40 Milliarden DM. - Das sind objektivierbare Daten, die wir
vor Augen haben müssen, wenn wir die finanzpolitischen Notwendigkeiten in Angriff nehmen. Diese werden wir im Sommer angehen - Staatssekretär Diller hat
es formuliert -, und zwar mit der Finanzplanung, die die
neue Regierung jetzt auf den Weg bringen muß. Mit
dem Haushalt 2000 werden wir das auszufüllen haben,
was Oskar Lafontaine der EU-Kommission vorletzte
Woche als Stabilitätsprogramm übermittelt hat.
Wir haben eine Strategie, die darauf abzielt, die Neuverschuldung aller staatlichen Ebenen bis zum Ende dieser Legislaturperiode auf einen Satz von maximal 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu reduzieren. Das ist
ein hehres Ziel, das aus heutiger Sicht bedeuten würde,
daß sich die Neuverschuldung des Bundes innerhalb von
vier Jahren halbierte, und zwar auf noch 30 Milliarden
DM im Jahre 2002. - Der Kollege Waigel sitzt im
Raum: In der letzten Legislaturperiode mußte der Bund
im Durchschnitt jährlich 60 Milliarden DM neue Schulden machen. - Das ist ein ehrgeiziges Ziel, das wir nur
durch ein intelligentes Doppelpaßspiel erreichen können:
Erstens muß im konsumtiven Bereich konsolidiert
werden. Es ist richtig, daß die investiven Ausgaben im
Bundeshaushalt zu niedrig sind. Aber auch hier, Kollege
Rexrodt, schaffen wir es - nicht nur als Placebo, sondern
ernsthaft -, den Investitionsanteil im Haushalt 1999 etwas zu erhöhen. Die Investitionsquote steigt - das gebe
ich zu - nur marginal, aber angesichts Ihrer Erblast
durchaus beachtlich.
({5})
Sie hätten die Investitionsquote in den letzten vier
Jahren deutlich erhöhen können. Faktisch haben Sie sie
aber heruntergefahren.
Zum zweiten brauchen wir natürlich ein international konkurrenzfähiges Steuerrecht, das auch den Unternehmenssektor einschließt
({6})
und das dazu führt, daß wir den Trend bei der volkswirtschaftlichen Steuerquote brechen. Die Steuerquote ist in
den letzten vier Jahren Ihrer Regierung eingebrochen,
was zu den gigantischen Problemen der Staatshaushalte
geführt hat.
Wenn wir uns im Steuerrecht und in der Konsolidierung einig sind, dann werden wir auch die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem jüngsten Verfassungsgerichtsurteil schultern.
({7})
Dies werden wir gemeinsam zu leisten haben. Hierbei
sitzen die Länder - auch die von der Union regierten ebenfalls mit im Boot. Sie wissen genau, was Steuerausfälle dieser Größenordnung durch die gerichtlichen Vorgaben bedeuten. Man muß eine Lösung finden, die unter
dem Strich nicht neue Löcher in die öffentlichen Haushalte reißt, sondern die Mittel in erster Linie durch Einsparungen erwirtschaftet und in zweiter Linie durch
Umschichtungen von den bisher privilegierten Steuerzahlern ohne Kinder hin zu den Steuerzahlern mit Kindern.
Außerdem müssen wir klar sagen: Haushaltslöcher
durch Neuverschuldung zu schließen ist der schlechteste
und falscheste Weg. Er verbietet sich von selbst, und in
Konsequenz verbietet sich eigentlich auch eine vorschnelle Debatte über Steuererhöhungen. Wir müssen
also - wir alle gemeinsam in diesem Haus - mühsam einen Wertewandel herbeiführen. Denn die öffentlichen
Haushalte - Bund, Länder und Gemeinden - haben bisher über ihre Verhältnisse gelebt.
Einschnitte im konsumtiven Bereich sind in Sonntagsreden leicht eingefordert.
({8})
Aber wenn es konkret wird, verteidigt jede Gruppe und
jede politische Partei ihren Besitzstand. So werden wir
das ehrgeizige Ziel, das sich im Stabilitätsprogramm von
Oskar Lafontaine widerspiegelt, nicht erreichen. Aber
wir sind guten Mutes, daß im Bereich der Finanz-, Steuer- und Haushaltspolitik eine Linie fortgesetzt wird, die
immerhin dazu geführt hat, daß wir trotz aller Unkenrufe
unter der Verschuldungsobergrenze des Grundgesetzes geblieben sind. Wir haben im Dezember unser Wort
gegeben, wir haben es vor der hessischen Landtagswahl
gehalten, und wir gedenken es auch weiterhin einzuhalten.
Unsere Fraktion wird dieses angestrebte Ziel jedenfalls massiv unterstützen. Wir treten für eine nachhaltige
Finanzpolitik ein, die auch den nachwachsenden Generationen noch politischen Gestaltungsspielraum läßt und
sie nicht mit einer überbordenden Zinsbelastung und
Kostenlast der sozialen Sicherungssysteme erdrückt.
({9})
Für die PDSFraktion hat Frau Dr. Christa Luft das Wort.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion hält es
durchaus nicht für unproblematisch, daß wir den Haushaltsplan für dieses Jahr erst Mitte des Jahres abschließend bestätigt haben werden. Aber, Kollege Austermann, Kollege Rexrodt, ich denke, daß auch eine Oppositionspartei redlicherweise nicht das Faktum außer acht
lassen kann, daß ein Regierungswechsel stattgefunden
hat - von dem wir immer noch hoffen, daß er zu einem
Politikwechsel führt - und daß es insoweit dauert, bis
das Zahlenwerk für den Haushalt vorgelegt werden
kann.
({0})
Im übrigen - auch das darf ich Herrn Kollegen
Austermann sagen - haben wir als Oppositionspartei die
Zeit, die bis zur Vorlage und Beratung des Haushaltsentwurfes vergangen ist, nicht einfach verstreichen
lassen. Wir haben konstruktive Anträge gestellt, und wir
haben Gesetzentwürfe vorgelegt, die noch Haushaltsrelevanz haben könnten. Das habe ich bei Ihnen von der
größten Oppositionspartei wirklich vermißt.
({1})
Schauen Sie sich einmal an, was in den letzten Plenarsitzungen von der größten Oppositionsfraktion, der
CDU/CSU, gekommen ist. Das war unter dem Strich
wirklich blamabel.
Ich darf daran erinnern, daß wir als kleine Oppositionspartei hier eine Wohngeldnovelle beantragt haben.
Wir haben die Wiedererhebung der Vermögensteuer beantragt. Wir haben den Stopp des Transrapid beantragt.
Dies alles sind haushaltsrelevante Vorschläge. Von Ihnen fehlt so etwas. Von daher ist der Antrag, den Sie
hier eingebracht haben, in der Tat ein Schaufenstermanöver. Es ist eine folgenlose Shownummer.
Wenn Sie etwas hätten bewirken wollen, dann hätten
Sie heute morgen die sofortige Aufsetzung des Themas
„Einbringung des Bundeshaushalts 1999“ auf die Tagesordnung verlangen können. Sie hätten auch verlangen können, daß der morgige Tag, der nun plötzlich frei
geworden ist - unser Geschmack ist das auch nicht, daß
wir so mit unserer Zeit umgehen -, für diese Debatte genutzt wird. Dann hätte man in Ihrem Antrag eine gewisse Ernsthaftigkeit erkennen können.
({2})
Herr Kollege Austermann hat darauf hingewiesen,
daß aller guten Dinge drei seien und er deshalb heute
zum drittenmal den Antrag gestellt habe. Ich glaube, es
geht nicht darum, irgendwelchen Slogans zu folgen und
dreimal etwas zu verlangen. Ich habe in der Aktuellen
Stunde, die wir Anfang Dezember zu ebendiesem auch
von Ihrer Fraktion beantragten Thema hatten, für die
vorläufige Haushaltsführung ein paar aus unserer Sicht
ganz konkrete Forderungen gestellt. Wir werden in
den nächsten Wochen und Monaten prüfen, ob die Bundesregierung solchen Mindestanforderungen an die vorläufige Haushaltsführung entsprechen wird.
Ich nenne sie noch einmal: Bei der Bewilligung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen darf es keine Reibungsverluste geben. Die vorgesehenen InfrastrukturOswald Metzger
maßnahmen und Projekte der Wirtschaftsförderung
müssen beschäftigungsorientiert anlaufen oder weiterlaufen. Kommunen dürfen durch Haushaltsentscheidungen des Bundes nicht zusätzlich belastet werden. Überlebensfähige Unternehmen, die wegen schlechter Zahlungsmoral ihrer Kunden in Liquiditätsengpässe kommen, müssen vor dem Konkurs gerettet werden. - Das
sind für uns Mindestanforderungen, und wir werden
aufmerksam verfolgen, wie sie in der Praxis umgesetzt
werden.
Aber, Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen und auch von der Bundesregierung, Sie
müssen sich schon noch einige unangenehme Dinge ins
Stammbuch schreiben lassen. Sie haben während des
Wahlkampfes bei der Bevölkerung große Erwartungen
geweckt, größere, als Sie mit den jetzt bekannten Eckpunkten des Haushaltes erfüllen werden. Darüber müssen Sie natürlich noch Rechenschaft geben.
Ich nenne beispielsweise das Wohngeld. Es hieß von
Bundeskanzler Schröder, daß die Anhebung des Wohngeldes bei einer von ihm geführten Bundesregierung
ganz oben auf der Agenda stehen würde.
({3})
Bisher können wir davon nichts erkennen. Ich muß aber
auch sagen: Wenn Frau Rönsch in der heutigen Debatte
einen CDU/CSU-Antrag zur Wohngeldnovellierung
stellen will, dann kommt dieser ziemlich spät und viel
zu spät für den Haushalt 1999, wenn Sie das am 1. September umsetzen wollen. Ich glaube, auch das, was
heute von der CDU/CSU zum Wohngeldprojekt veranstaltet werden wird, ist ein durchsichtiges Manöver;
denn Sie hatten 16 Jahre Zeit, das zu verändern, was
dort zu verändern ist.
({4})
Der Hinweis seitens der neuen Regierung auf die von
der Vorgängerregierung übernommene Erblast - ich
darf einmal anmerken: nur ein Teil der Erblast der Vorgängerregierung speist sich aus dem, was aus der DDR
mitgebracht worden ist; die Art und Weise, wie die
deutsche Einheit vollzogen worden ist, hat selbstverständlich zur Anhäufung der Erblast beigetragen ({5})
ist zwar berechtigt, aber er rechtfertigt nicht jede Verzögerung bei der Vorlage eines verläßlichen Zahlenwerkes. Wenn ich daran denke, was Sie mit dem Vorschaltgesetz und mit dem Steuerentlastungsgesetz gemacht
haben und was Sie mit den 630-Mark-Jobs sowie hinsichtlich des Atomausstiegs machen, stelle ich fest: Das
alles ist ein Tohuwabohu.
({6})
Man kommt nicht zu einem Zahlenwerk, auf das man
sich wirklich stützen kann. Es ist statt einer geraden Linie in der Regel ein Zickzackkurs.
Wir erwarten mehr von der neuen Regierung: mehr
Solidität, mehr Verläßlichkeit. Wir erwarten, daß bald
Grund in das Zahlenwerk gebracht wird.
({7})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Peter Jacoby.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ein Widerspruch fällt mir bei dieser
Debatte nachhaltig auf: Wer in der Vergangenheit die
Vorgängerregierung ob ihrer Haushaltspolitik so mit Fundamentalopposition überzogen hat, wie es der Fall gewesen ist, wer auch noch nach dem Regierungswechsel nicht
müde geworden ist, mit falschen Behauptungen in der Öffentlichkeit einen falschen Eindruck von der Haushaltslage des Landes zu erwecken, der müßte doch ein Interesse
daran haben, daß sein eigener Haushaltsplanentwurf für
dieses Jahr im Parlament schnellstmöglich diskutiert und
verabschiedet wird. Aber das Gegenteil ist der Fall.
({0})
Sie spielen auf Zeit. Sie verschleppen die Dinge. Sie
versäumen zum verfassungsgemäß gebotenen Zeitpunkt,
die von Ihnen vorgesehenen Weichenstellungen in allen
Teilen der Politik vorzunehmen, und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Verteilung der Wohltaten;
das haben wir vor Weihnachten erlebt. Jetzt geht es um
das Gesamtkonzept und um die Frage der Finanzierung. Da wollen wir ebenfalls Klarheit haben.
({1})
Ich will darauf hinweisen, daß man zum Beispiel auf
Grund der Zahlen, die Staatssekretär Diller eben mehr
oder weniger zusammenhanglos genannt hat, eine Generaldebatte zum Haushalt hätte führen können.
({2})
Wir fragen uns: Warum kneifen Sie in dieser Situation?
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Kollege
Metzger, der eben gesprochen hat, hat es fertiggebracht,
einige Tage nach der Vorlage des Haushaltsplanentwurfs in der Öffentlichkeit und im Haushaltsausschuß
seinerseits Maßstäbe im Blick auf eine seriöse Haushaltspolitik zu formulieren. Wir stellen aber fest: Die
Maßstäbe, die er formuliert hat, haben mit allem Möglichen zu tun, jedoch nichts mit dem Haushaltsplanentwurf, der von der rotgrünen Bundesregierung vorgelegt
worden ist.
({4})
Kollege Metzger, um eine Sache kommen Sie einfach
nicht herum:
({5})
Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, sich eine Woche
nach der Präsentation eines Haushaltsplanentwurfs in
der Öffentlichkeit unter der Überschrift „Die Grünen
verlangen für den Haushalt ein Konsolidierungsprogramm“ zu äußern, wenn ein solches Konsolidierungsprogramm trotz besserer Voraussetzungen, als die Vorgängerregierung sie hatte, an keiner Ecke zu erkennen
ist. Das ist schon ein bemerkenswerter Widerspruch.
({6})
Zur Haushaltslage 1999: Die Steuererosion ist offensichtlich beendet. Wir haben eine bessere Arbeitsmarktsituation als in der Vergangenheit. Und die Privatisierungserlöse, die 1998 zur Tilgung hätten genutzt werden
können, haben Sie in das Jahr 1999 gebucht. Früher hieß
so etwas kreative Buchführung. Früher hieß so etwas
Verschiebebahnhof. Früher wurde mit unmäßigen Worten Finanzminister Waigel kritisiert für ein Verhalten,
das Sie selbst heute schamlos an den Tag legen. Da ist,
denke ich, die Glaubwürdigkeit auf der rotgrünen Seite
in Frage zu stellen.
({7})
Meine Damen und Herren, da ich gerade beim Thema
Glaubwürdigkeit und Widersprüchlichkeit in der Haushaltspolitik bin, will ich auf folgendes hinweisen. Kollege Metzger wird mit der Aussage zitiert: „Die konsumtiven Ausgaben müßten zurückgedrängt … werden.“ In
Wirklichkeit werden sie 1999 um zweistellige Milliardenbeträge nach oben gefahren, wie es noch niemals zuvor der Fall gewesen ist. Der Kollege Metzger wird
weiter zitiert mit der Aussage:
Um dies zu erreichen, sei zum Beispiel eine Strukturreform der Rentenversicherung notwendig.
Jetzt frage ich mich, meine Damen und Herren: Wer hat
denn als erste Maßnahme das, was wir mit der Rentenstrukturreform veranlaßten, aus wirtschaftspolitischen
und aus arbeitsmarktpolitischen Gründen zurückgedreht
und ist jetzt mit der nicht gesicherten Finanzierung einer
nur scheinbaren Wohltat konfrontiert, als die sie sich
ganz offensichtlich erweist?
({8})
Herr Kollege Metzger, abschließend muß ich sagen:
Wenn Sie in den überregionalen Medien mit dem Satz
zitiert werden: „Einer rot-grünen Regierung werde man
es eher abnehmen, daß Einsparungen im Sozialbereich
notwendig seien, um den Sozialstaat auf Dauer funktionsfähig zu halten“,
({9})
dann offenbart diese Aussage nichts anderes als einen
gnadenlosen Zynismus. Es offenbart, daß Ihr Verhalten
in der Vergangenheit, als Sie bei keiner Strukturreform
der Vorgängerregierung mit von der Partie waren, sondern alles blockiert haben, nur aus der parteipolitischen
Perspektive heraus motiviert war, und das ist schädlich
für unser Land.
({10})
Also, meine Damen und Herren, wir haben keine
Strukturreformen festzustellen, wir haben keine Konsolidierung festzustellen, wir haben keine strukturellen
Weichenstellungen festzustellen, insbesondere gibt es
Probleme auch auf der Einnahmenseite des Haushalts
1999 - darüber wollen wir in aller Umfänglichkeit diskutieren -, und darum steht der Haushalt auf tönernen
Füßen.
Die Finanzierung des Kindergeldes im Bund-LänderVerhältnis ist nicht geklärt, ebenso nicht die Finanzierung der 630-DM-Jobs. Die erste Stufe der Steuerreform, die für dieses Jahr geplant ist, ist nicht geklärt,
schon gar nicht die Frage, wie wir letztendlich die Ökosteuerreform finanzieren. Und am heutigen Tag werden
wir mit der Aussage konfrontiert, 1 Milliarde DM fehle
zusätzlich.
Herr Kollege Jacoby, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Koppelin?
Jawohl.
Kollege Jacoby, habe ich
es richtig in Erinnerung, daß der Bundesfinanzminister
noch im Haushaltsausschuß gesagt hat, es gebe da wohl
ein Loch von 700 Millionen DM, was ich vorhin bei
Staatssekretär Diller überhaupt nicht gehört habe? - Sie
sprechen jetzt von den neuesten Zahlen und einem Fehlbetrag von 1 Milliarde DM.
Heißt nicht die Konsequenz aus dem Fehlen von 1
Milliarde DM für die Ökosteuerreform, daß die rotgrüne Regierung die Autofahrer auffordert, möglichst viel
Auto zu fahren, und diejenigen, die zu Hause eine Heizung haben, die Heizung möglichst kräftig aufzudrehen,
damit die Lücke bei Finanzminister Lafontaine geschlossen wird?
({0})
In Beantwortung Ihrer
Frage, Herr Kollege Koppelin, möchte ich zunächst
einmal auf folgendes hinweisen: Wir haben bis zur
Stunde festzustellen, daß uns im Grunde genommen in
jeder Woche eine neue Ausprägung dieser Ökosteuerreform - auch mit jeweils unterschiedlichen finanziellen
Auswirkungen auf den Haushalt insgesamt - geboten
wird.
Wir haben gestern gehört, es bestehe eine Deckungslücke von 1 Milliarde DM. Obwohl man jetzt alle Betriebe des gewerblichen Bereichs einer Besteuerung unterziehen will - das ist ja bereits problematisch genug -,
besteht trotzdem eine Deckungslücke von 1 Milliarde
DM. Heute morgen erklärte die Staatssekretärin im Finanzministerium, darauf angesprochen, das könne sie so
nicht bestätigen. Zur Zeit jedenfalls ginge sie nicht davon aus. Über eine eventuelle Anhebung der Ökosteuern
einschließlich der Mineralölsteuer auf Kraftstoffe würden die Entscheidungen rechtzeitig getroffen.
({0})
Das, meine Damen und Herren, ist eben der Beleg dafür, daß man politische Wege eingeschlagen hat, um
Begriffe zu besetzen, die in ihrer Auswirkung höchst
problematisch sind. Insbesondere hat man nicht bedacht,
welche Rückwirkungen sich auf den Haushalt ergeben.
Man verschanzt sich hinter der Formulierung „Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit“, man redet von
Durchlaufposten. In Wirklichkeit sind damit Risiken
verbunden, die in ihrer Summe möglicherweise nicht
mehr beherrschbar sind.
Deshalb haben wir den Antrag gestellt, daß
schnellstmöglich über diesen Haushaltsplanentwurf diskutiert werden muß, und zwar nicht nur in den Ausschüssen und in den Kungelrunden von SPDFinanzministern und den Vertretern des Bundesfinanzministeriums, sondern im Parlament.
({1})
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Metzger, Bündnis 90/
Die Grünen.
Kollege Jacoby, ich finde es immer gut, wenn man sich
in einer Debatte im Parlament auf Kollegen beziehen
kann. Das Rollenspiel auf allen Seiten des Hauses, das
man immer dann beobachten kann, wenn eine Seite neu
in die Opposition oder in die Regierung gewählt wurde,
ist bekannt. Einen entsprechenden Reflex Ihrer Fraktion
habe ich vorhin erlebt. Er widerspricht Ihren alten Aussagen zum Thema konsumtive Ausgaben. Wenn es um
die von der PDS geforderte Erhöhung des Wohngeldes,
einer konsumtiven Ausgabe, geht, dann erlebt man, daß
Ihre große Volkspartei plötzlich reflexartig Beifall
klatscht. Das Fordern von Wohltaten fällt der Opposition natürlich immer leichter als der Regierung, die für
die entsprechenden Regelungen in der Verantwortung
steht.
Jetzt zur Sache. Es ist eine Tatsache - sie ergibt sich
aus einer entsprechenden Analyse -, daß die öffentlichen Haushalte über ihre Verhältnisse gelebt haben, daß
wir zuviel für die Tilgung von Zinsen ausgeben und daß
sich wegen der Altersstruktur unserer Gesellschaft Stichwort: Pensionslasten, Stichwort: Lasten durch die
Rentenversicherung, die teilweise steuerfinanziert werden - eine immer größere Beschränkung unseres Gestaltungsspielraumes ergibt. Dies ist eine Hiobsbotschaft, die die Opposition wie auch die Regierung elektrisieren muß.
Wenn man an der Struktur etwas ändern will, dann
muß man den mühsamen Weg gehen und sozial gerecht,
ohne Schieflage und unter Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen sparen. Im Steuerrecht müssen wir auch
dort für Gerechtigkeit sorgen, wo Sie jahrelang zugesehen haben. Beispielsweise haben Großbetriebe unser altes, immer noch bestehendes Steuersystem für die Steuergestaltung nutzen können, während der Mittelstand
geblutet hat, weil er sich diesem Steuersystem nicht entziehen konnte.
({0})
- Einen Moment, Herr Kollege Waigel!
Wir werden eine machbare Steuergesetzgebung auf
den Weg bringen, die die Gerechtigkeit im System beinhaltet. Wir wollen dies aber nicht über eine Nettoentlastung erreichen. Diese Art von Schlaraffia-Steuerpolitik
wollten Sie im Rahmen der alten Koalition durchsetzen.
Jetzt werfen Sie uns vor, wir würden quasi nur knapp an
der vom Grundgesetz festgelegten Verschuldungsgrenze
vorbeischrammen. Ihre geplanten Steuergesetze hätten
zig Milliarden DM Steuerausfälle schon für das laufende
Jahr produziert.
Es gilt der alte Spruch: Wer selber im Glashaus sitzt Sie sitzen erst seit drei Monaten in der Opposition -, der
sollte nicht mit Steinen werfen.
({1})
Das Wort zu einer
weiteren Kurzintervention hat der Kollege Austermann.
Herr Präsident!
Ich begrüße zunächst einmal, daß der Bundesfinanzminister zum Ende der Debatte anwesend ist.
({0})
Offenbar hat er seinen internationalen Einsatz überraschend abgebrochen.
({1})
- Mir ist klar, daß es nur ein besonders kurzer Einsatz
war. Er reichte nur aus, um der Debatte für eine Stunde
fernzubleiben. Man könnte die Situation mit dem Satz
zusammenfassen: Warum soll man den Kellner reden
lassen, wenn der Chefkoch anwesend ist? Den Kellner
haben wir uns schon angehört.
({2})
Herr Kollege
Austermann, ich muß Sie darauf hinweisen, daß Sie das
Recht haben, sich im Rahmen einer Kurzintervention zu
den Ausführungen des Kollegen Jacoby, sofern Sie selber angesprochen worden sind, zu äußern. Eine Auseinandersetzung mit dem Kollegen Metzger können Sie
nach der Geschäftsordnung jetzt leider nicht führen.
Herr Präsident,
ich wollte zu diesem Punkt gerade fortfahren. Der KolPeter Jacoby
lege Metzger hat auf die Rede des Kollegen Jacoby Bezug genommen.
({0})
Er hat dabei mit einem Hinweis auf einen Artikel von
gestern in der Zeitung deutlich gemacht, daß es uns an
der Bereitschaft gefehlt habe, Kürzungen im sozialen
Bereich vorzunehmen.
In diesem Zusammenhang stelle ich fest, daß genau
diese von uns im letzten Jahr durchgeführten Maßnahmen für ihn und seine Freunde unter der Überschrift
„Soziale Kälte, soziale Härte, Ellbogengesellschaft“ als
Wahlkampfmunition gedient haben. Das trifft auch auf
seine Ausführungen zur Steuerpolitik zu.
Herr Kollege
Austermann, Sie sollten dem Präsidenten das Geschäft
nicht erschweren. Es geht nicht. Sie können die Auseinandersetzung mit dem Kollegen Metzger jetzt leider
nicht im Rahmen einer Kurzintervention führen. Ich
bitte um Verständnis.
({0})
Deswegen fahren wir jetzt in der Aussprache fort. Ich
gebe dem Kollegen Hans Georg Wagner von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich verstehe die Aufregung der Opposition nicht.
({0})
Herr Austermann, Sie sind ja schon längst im Besitz des
Haushalts für 1999. Herr Koppelin, er liegt dem Haus
längst vor. Sie kennen die Einzelheiten des geplanten
Haushaltes. Angesichts dessen stellen Sie den Antrag,
die Bundesregierung solle den Haushalt 1999 vorlegen.
Er liegt ja längst vor.
({1})
Es war ein ungewöhnliches Verfahren, daß der Finanzminister selber diesen im Rahmen der Unterrichtung des Haushaltsausschusses auf den Tisch der Obleute und dann in die jeweiligen Büros legen ließ. Zum
ersten Male, seit ich dem Parlament angehöre, seit 1990,
hat ein Bundesfinanzminister an dem Tag, als das Bundeskabinett den Haushaltsentwurf beschlossen hat, das
Parlament bzw. den Haushaltsausschuß informiert. Das
hat es bisher nicht gegeben.
({2})
- Sie waren ja gar nicht dabei. Seien Sie einmal ruhig!
({3})
Ich verstehe Ihre Aufregung nicht. Herr Kollege
Austermann, Herr Kollege Koppelin, Sie haben im
Haushaltsausschuß den Ablaufplan der gesamten Haushaltsdebatte gebilligt, und zwar schon vor Wochen. So
war das nun einmal.
({4})
Herr Lafontaine war am gleichen Tag, als der Haushaltsentwurf vom Bundeskabinett beschlossen worden
ist, hier im Parlament in der Regierungsbefragung anwesend und hat 55 Minuten, also 20 Minuten länger als
üblicherweise vorgesehen, Rede und Antwort gestanden.
Er hat in der vergangenen Woche, weil Sie die Vorlage
des Wirtschaftsberichtes zu einer Haushaltsdebatte umfunktioniert haben, und gestern noch einmal vor Ihnen
gestanden und Ihnen Antwort gegeben. Er hat Ihnen im
Haushaltsausschuß ausreichend Gelegenheit dazu gegeben, mit ihm über alles Unklare zu sprechen. Das haben
Sie nicht getan.
Wir von der Koalition haben eine weitere Beratungswoche vorgeschlagen. Die zehnte Woche dieses Jahres
sollte nach den Vorstellungen der Koalition eine weitere
Beratungswoche im Hinblick auf den Haushalt 1999
sein, damit Ihnen als Opposition die Gelegenheit gegeben wird, sich ganz intensiv mit jedem einzelnen Haushaltspunkt zu befassen und Vorschläge in bezug auf
Einsparungen zu machen. Sie haben gesagt, daß sei
nicht notwendig.
({5})
Da haben wir gesagt: Der Haushalt ist gut; es ist wirklich nicht notwendig. Sie wollten also gar keine intensive Beratung.
({6})
Sie haben, als wir in der letzten Woche zusammensaßen, gefragt: Gibt es eigentlich am 10. Februar 1999 Beratungsbedarf? Wir, die Opposition, haben keinen Beratungsbedarf.
({7})
Da haben wir als Koalition gesagt: Wenn Sie keinen Beratungsbedarf haben, haben auch wir keinen. Machen
wir also keine Sitzung! - Eine Sitzung, die vorgesehen
war und die hätte abgehalten werden können, haben Sie
einfach abgesagt. Insofern sollten Sie schon Konsequenz
in Ihre Haltung hineinbringen.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Nein, ich gestatte
keine Frage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben das alles
abgelehnt. Ich frage daher: Wie ist dann die Ernsthaftigkeit Ihres heutigen Antrags zu verstehen? Sie beantragen
etwas, dem wir nicht zustimmen können. Denn die Bundesregierung hat ja den Haushalt 1999 vorgelegt. Sie
fordern, die Bundesregierung solle den Bundeshaushalt
umgehend vorlegen. Die Vorlage des Haushaltes ist ja
schon eine Woche alt. Ich weiß nicht, was sie mit diesem Antrag überhaupt noch wollen. Wahrscheinlich
wollen Sie damit kurz vor der Wahl in Hessen eine
Schau abziehen und Behauptungen aufstellen, die durch
überhaupt nichts belegt sind.
({0})
Herr Kollege Rexrodt - das hat mich schon verwundert -, Sie hätten es als Wirtschaftsminister niemals fertiggebracht, von Herrn Waigel im Haushaltsplan 100
Millionen DM mehr für Ihren Bereich zu bekommen.
Sie waren dazu unfähig. Aber heute reklamieren Sie
Dinge für sich; das ist unfair.
({1})
Wenn davon gesprochen wird, daß der Haushalt zurückgefahren werde, so ist festzustellen: Der Haushaltsansatz wird um 1 Milliarde DM erhöht, und zwar
um 900 Millionen DM für das Forschungsministerium
und um 100 Millionen DM für das Wirtschaftsministerium. Das ist eine Steigerung, die auch Sie zur Kenntnis
nehmen müssen und zu der Sie unfähig waren.
({2})
Im übrigen, Herr Kollege Jacoby, Sie tun mir furchtbar leid. Das sage ich einmal von Saarländer zu Saarländer. Sie haben gegen die Interessen des Saarlandes dem
Haushaltsentwurf von Theo Waigel zugestimmt, der
beinhaltete, die Teilentschuldung hinsichtlich des
Saarlandes und Bremens finanziell nicht aufzunehmen.
({3})
Sie haben nicht widersprochen, als Herr Waigel die Hilfen für die Steinkohle in Höhe von 700 Millionen DM,
deren Gewährung vereinbart worden war, nicht in den
Bundeshaushalt eingestellt hat. Da haben Sie gegen die
Interessen des Saarlandes gestimmt. Ich frage mich, wie
es angehen kann, daß Sie heute hier herkommen und sagen, diese Bundesregierung tauge überhaupt nichts.
Ich bin dankbar, daß Lafontaine die 3 Milliarden DM
an Teilentschuldung für das Saarland und Bremen in den
Bundeshaushalt eingestellt und damit diesen beiden
Ländern Perspektiven eröffnet hat, die notwendig sind.
({4})
Ich danke Oskar Lafontaine auch dafür, daß er 700 Millionen DM für die Steinkohlenhilfe in den Haushalt eingestellt hat. Damit wird ein von der alten Bundesregierung zusammen mit dem Saarland und NordrheinWestfalen gefaßter Beschluß eingehalten. Wir halten uns
an die vorhandenen Gegebenheiten und an die Beschlüsse, die gefaßt worden sind. Sie haben diese Ebene
schmählichst verlassen und wollten einen Haushalt ohne
diese beiden Zahlen vorlegen, um ihn noch in der Verfassungslinie des Art. 115 GG zu halten.
({5})
Wenn Sie dem Grundsatz der Haushaltswahrheit und
-klarheit entsprochen hätten, Herr Kollege Waigel, und
die 3 Milliarden DM für die Teilentschuldung und die
700 Millionen DM aufgenommen hätten - das wären 3,7
Milliarden DM mehr gewesen, als Ihr Haushaltsansatz
vorsah -, dann hätte der Haushalt über der Grenze gelegen, die der Art. 115 GG vorsieht. Sie hätten einen verfassungswidrigen Haushalt vorlegen müssen. Das war
Ihr Haushalt.
({6})
Daß dieser Haushalt von den Zahlen her ausgeglichen
ist, hat auch den großen Vorteil, daß Bundesfinanzminister Lafontaine bzw. die Bundesregierung es geschafft
hat, das strukturelle Defizit von 10 Milliarden DM aufzufangen, das nach wie vor vorhanden ist. Es ist ja nur
durch die Mehreinnahmen bei der Privatisierung getilgt.
Man muß sagen, das strukturelle Defizit bleibt bestehen.
Bei Beibehaltung der Waigelschen Haushaltspolitik
würde es sich im Jahre 2002 auf 20 Milliarden DM steigern. Deshalb wird es - da hat der Kollege Metzger
recht - beim Haushalt für das Haushaltsjahr 2000 Blut
und Tränen geben müssen; denn das Tafelsilber ist
schon verscherbelt. Man kann das nicht drei- oder viermal verkaufen.
Der vorliegende Haushaltsplanentwurf - das sollte
man noch einmal in Erinnerung rufen - sieht vor, kleine
und mittlere Betriebe stärker zu fördern, als es vorher
der Fall gewesen ist. Es ist eine Förderung moderner
Schlüsseltechnologien, die Förderung von Begabten und
von wissenschaftlichem Nachwuchs vorgesehen. Die
Forschungslandschaft in den neuen Ländern wird gestärkt. Wir haben ein Milliardenprogramm zur Solarenergie aufgelegt, um weg von der Kernenergie hin zu
alternativen Energiearten zu kommen. Daß das in diesem Haushalt drinsteht, ist eine Bombensache.
({7})
Wir wissen, daß die 200 Millionen DM mehr, die
die Bundesregierung für die Forschungseinrichtungen
und für den Hochschulbau ausgeben will, nicht ausreichen. Wie Sie wissen, haben Sie, was den Hochschulbau angeht, bei den Ländern ein Defizit von mehr
als 1 Milliarde DM verursacht. Der Bund steht bei den
Ländern mit mehr als 1 Milliarde DM in der Kreide,
weil Sie zu keiner Finanzierung fähig waren. Daran
muß man einmal erinnern. Es wird jetzt versucht, das
abzubauen, wobei der erste Schritt 200 Millionen DM
umfaßt.
({8})
- Die ist bestens, Herr Hirche.
Mit dem Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit und der Jugendarbeitslosigkeit, das wie wir der Presse entnehmen können - bestens anläuft,
setzen wir ein Zeichen für Ostdeutschland. Das alles
sind Dinge, die genannt werden müssen.
Ich nenne jetzt einen kleinen Ansatz aus dem Bundeshaushalt, zu dem Sie sich nie durchringen konnten.
Diese Bundesregierung hat in dem Haushaltsplanentwurf erstmals Mittel für Lärmschutzmaßnahmen an
bestehenden Schienenwegen eingestellt.
({9})
Das ist eine Sache, für die wir jahrelang gekämpft
haben. Sie haben es immer wieder abgelehnt, obwohl
Ihre Leute, etwa Staatssekretär Carstens, der gleichen
Auffassung waren wie wir. Das ist also gelungen. Ich
freue mich darüber, daß die Bundesregierung das gemacht hat.
Auch im Bereich Städtebau, für den Sie die Mittel in
den westlichen Bundesländern von 1 Milliarde DM radikal auf 80 Millionen DM zurückgeführt haben, haben
wir ein Programm aufgelegt, um im sozialen Umfeld der
Städte, in denen ein besonderer Entwicklungsbedarf entsteht, helfen zu können. Auch das ist ein Einstieg in ein
notwendiges Vorhaben. Ich bin sehr dankbar dafür, daß
die Bundesregierung diesen Einstieg gemacht hat.
({10})
Was Sie gern vergessen oder nicht sagen wollen - ich
habe Verständnis dafür, daß Sie das nicht sagen -, ist,
daß Herr Müntefering im Investitionsbereich 1,5 Milliarden DM mehr bekommt, als im Haushaltsplanentwurf
von Herrn Waigel vorgesehen war. Ich meine, das ist
eine ganz tolle Sache; denn die Steigerung von Investitionen bedeutet mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Es ist das Ziel dieser Bundesregierung, dafür in
Deutschland zu sorgen. Dafür ist dieser Haushaltsplanentwurf genau der richtige Schritt.
({11})
Es ist draußen herumerzählt worden, wir würden bei
der Bundeswehr etwas abknapsen. Aber es ist das eingehalten worden, was der Bundesverteidigungsminister
gesagt hat. Es ist keine Einschränkung im Bereich der
Bundeswehr vorgenommen worden. Das einzige, was
der Bundesverteidigungsminister mitgemacht hat, ist der
allgemeine Solidarbeitrag von 0,5 Prozent, den die einzelnen Ressorts leisten. Aber ansonsten ist alles so geblieben, wie es war. Alle Investitionen können getätigt
werden. Ihre Unkenrufe von früher sind ins Gegenteil
verkehrt worden.
({12})
Die Mittel für die Förderung des Mittelstandes ich komme noch einmal auf den Einzelplan des Ministers für Wirtschaft und Technologie zu sprechen - werden gegenüber dem Entwurf der alten Regierung auf
2,2 Milliarden DM erhöht. Das müßte Herrn Rexrodt ja
sehr freuen, daß er im nachhinein die Mittel, die er damals immer vergeblich gefordert hat, im Haushalt des
Wirtschaftsministers finden kann. Das heißt also, es gibt
auch mehr Mittel für die Förderung des Mittelstandes,
die Sie über Jahre hinweg gröblichst vernachlässigt haben.
({13})
Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, verstehen - ich war ja lange genug in der Opposition - , daß Sie es furchtbar ärgert, daß wir das Kindergeld erhöht haben.
({14})
Sie waren dagegen, und Sie sind heute auch noch dagegen. Von daher erklärt sich diese Verärgerung.
Sie sind auch darüber verärgert, daß wir den Eingangssteuersatz um 2 Punkte gesenkt haben, daß wir das
steuerfrei zu stellende Mindesteinkommen erhöht haben,
daß wir Ihre Maßnahmen zur Einschränkung des Kündigungsschutzes zurückgenommen haben, daß wir die alten Regelungen zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
und zum Schlechtwettergeld wiederhergestellt haben.
Alles das, was Sie an Verderbnis über die Bevölkerung
gebracht haben, haben wir in kürzester Zeit wieder zurückgenommen - zum Wohle der Bevölkerung und im
Einvernehmen mit der Bevölkerung.
({15})
Sie müssen sich vorhalten lassen, daß Sie vieles von
dem nicht umgesetzt haben, was Sie immer wieder angekündigt haben. Ich sage Ihnen heute: Wir werden
den Haushaltsentwurf intensiv beraten. Der Haushalt
wird in der Art eingebracht werden, wie das im Ältestenrat und im Haushaltsausschuß - im Haushaltsausschuß sogar einstimmig; das Ergebnis der Abstimmung
im Ältestenrat weiß ich nicht - vereinbart worden ist.
Es wird Ende Februar die erste Lesung geben, und
dann wird planmäßig weiter beraten werden, so daß
wir die zweite und dritte Lesung anschließen können.
Ich bin sicher, daß Sie dabei Ihre konstruktiven Vorschläge einbringen können, die Sie zweifellos haben.
Sie müssen ja welche haben, denn sonst hätten Sie hier
nicht dreimal hintereinander über den Haushalt reden
wollen. Sie wollen offenbar Ihre konstruktiven Vorschläge bei der Bundesregierung und der Regierungskoalition vorbringen. Wir helfen Ihnen dabei, wenn es
sich tatsächlich um vernünftige und konstruktive Vorschläge handeln sollte.
({16})
Wir wären ja mit Blindheit geschlagen, wenn wir Ihre
Verbesserungsvorschläge, nach denen wir 16 Jahre lang
vergeblich gesucht haben, nicht aufgreifen würden,
wenn Sie sie jetzt endlich, im Jahre 17 nach der Regierungsübernahme 1982, vorlegen.
Schönen Dank.
({17})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Koppelin das
Wort.
({0})
- Das ist ein parlamentarisches Recht.
Die Aufgeregtheit des
Kollegen Wagner bei seiner Rede ist durchaus zu verstehen. Denn alles, was er dargestellt hat, auch in bezug
auf den Ablauf der Beratungen des Bundeshaushalts,
stimmt natürlich vorn und hinten nicht.
({0})
Die Haushälter beginnen bereits in der nächsten Woche - es ist eine plenarsitzungsfreie Woche - mit den
Beratungen des Haushalts. Das heißt, wir haben drei
Wochen Zeit, bevor überhaupt die erste Lesung stattfindet. Normalerweise findet zuerst die erste Lesung des
Haushalts statt, und daran schließen sich die Beratungen
der Berichterstatter im Haushaltsausschuß an. Diesmal
beraten die Berichterstatter viel früher, weil Sie sich
weigern, jetzt, in dieser Woche, die erste Lesung des
Haushalts auf die Tagesordnung zu setzen, und das erst
nach der Hessenwahl tun wollen. Das ist das Entscheidende.
({1})
Trotzdem tun wir Haushälter unsere Arbeit.
Ich habe sowohl beim Kollegen Diller als auch bei
Ihnen, Kollege Wagner, eines vermißt. Sie streuen
Wohltaten unters Volk; Sie benennen die Wohltaten. Sie
sagen aber nicht, wo das Geld herkommt. Halten Sie
sich denn neuerdings einen Dukatenesel? Sie haben immer von einem Haushaltsloch von 20 Milliarden DM
gesprochen; Sie klären uns nicht darüber auf, was es
damit auf sich hat. Trotzdem verfügen Sie anscheinend
plötzlich über so viel Geld, daß Sie jetzt Wohltaten verteilen können.
Sie haben eines vergessen - deswegen wollen Sie
keine Beratung vor der Hessenwahl -: Sie wollen den
Mittelstand noch stärker belasten, als er jetzt schon belastet ist; Sie wollen bei ihm abkassieren, damit Sie Ihre
Wohltaten verteilen können.
({2})
Weil es mich allmählich nun doch nervt, möchte ich
jetzt auch Ihr Thema Kindergeld ansprechen. Natürlich
kann man über die Erhöhung des Kindergeldes sprechen, und es ist sicher eine gute Sache für den einen
oder anderen, der das Geld nötig hat. Wir hätten gern eine Diskussion darüber geführt, ob es nicht besser gewesen wäre, das Geld, das jetzt für die Kindergelderhöhung
verwendet wird - ich habe ja nichts gegen eine Kindergelderhöhung -, in die Bildung zu stecken, weil wir so
mehr für die Kinder tun könnten, als wenn wir das Kindergeld erhöhen. Diese Diskussion verweigern Sie. Der
Etat des Bildungsministeriums zeigt, daß Sie in diesem
Bereich keine Erhöhung vorgenommen haben, obwohl
Sie es immer versprochen haben.
Wir, Herr Kollege Wagner, lassen uns nicht den
Vorwurf gefallen, wir seien nicht zur Beratung des
Haushalts bereit. Wir sind bereit; Sie weigern sich. Das
ist das Entscheidende.
({3})
Bitte, Herr
Kollege Wagner.
Der Sinn der Rede von
Herrn Koppelin ist mir nicht ganz aufgegangen, wie es
oftmals der Fall ist, wenn er spricht. Ich kenne ihn ja
schon lange und schätze ihn sehr.
({0})
Daß er diesen Schauantrag noch zu verteidigen versucht,
ist mir unbegreiflich, nachdem er ja schon vor der
CDU/CSU Kooperationsbereitschaft uns gegenüber geäußert hatte. Wenn das jetzt nicht mehr so der Fall sein
sollte, bedauere ich es außerordentlich.
Noch mehr bedauere ich, Herr Kollege, daß Sie den
Haushaltsplan, der Ihnen ja vom Finanzminister am 20.
Januar nachmittags um etwa 15 Uhr übergeben worden
ist, offenbar nicht gelesen haben. Andernfalls hätten Sie
feststellen müssen, daß der Haushaltsplan in sich finanziert ist, wobei ich selbstverständlich konstruktive Vorschläge der Opposition, wie man noch etwas besser machen könnte, erbitte.
({1})
Aber ich rufe noch einmal in Erinnerung: Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ werden zügig fortgesetzt. Für die regionale Wirtschaftsförderung in den
neuen Ländern können 1999 neue Bewilligungen in einer Größenordnung von 6 Milliarden DM ausgesprochen werden. Das ist schon etwas, und das war in Waigels Haushaltsplan nicht enthalten. Wenn Sie ihn gelesen hätten, hätten Sie es auch gemerkt.
Dann gibt es beim Aufbau Ost zur Förderung von
Mittelstand und Handwerk ein Sonderprogramm in
Höhe von 325 Millionen DM. Auch das ist etwas, was
zur Kenntnis genommen werden muß. Herr Schwanitz
hat sich in dieser Frage durchgesetzt.
Des weiteren sind 1 Milliarde DM für die anderen
Treuhand-Nachfolgeeinrichtungen im Haushalt enthalten, Herr Koppelin. Man sollte auch einmal in Erinnerung rufen, daß die Förderung des Mittelstandes im
Einzelplan des Wirtschaftsministers auf 2,2 Milliarden
DM erhöht wird. Herr Rexrodt ist vor lauter Freude
hinausgelaufen, als ich das eben gesagt habe; er hätte
das in seinen Gesprächen mit Herrn Waigel nie erreicht.
Die Forschungsförderung für kleine und mittlere
Unternehmen wird gegenüber 1998 um 100 Millionen
DM erhöht. Auch das ist eine ganz tolle Sache und geht
in die Richtung, in die Sie ja auch gehen wollen. Wenn
Sie Gegenvorschläge haben, lade ich Sie ein, diese einzubringen. Dann geben wir noch mehr dazu; es ist ja gar
kein Problem.
({2})
In dem Haushalt 1999 wird erstmals ein Programm
zur Verbesserung der Innovationsfähigkeit der kleinen
und mittleren Unternehmen aufgelegt. Die alte Bundesregierung war dazu nie willens und in der Lage.
({3})
- Ich will Herrn Kollegen Koppelin aus seiner Unwissenheit befreien, Herr Kollege Schäuble. Deswegen sage
ich das.
({4})
Die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik werden um 6 Milliarden DM erhöht. Das ist auch ein ganz
wichtiger Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Das
haben wir uns auf die Fahnen geschrieben; das setzen
wir um.
Schönen Dank.
({5})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU zur umgehenden Vorlage des
Bundeshaushalts 1999, Drucksache 14/184. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. abgelehnt worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
5. Wahlen zu Gremien
a) Richterwahlausschuß gemäß § 5 des Rich-
terwahlgesetzes
- Drucksachen 14/327, 14/328 -
b) Wahlausschuß gemäß § 6 Abs. 2 des Geset-
zes über das Bundesverfassungsgericht
- Drucksachen 14/329, 14/330 -
c) - Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und F.D.P.
Einsetzung des Vertrauensgremiums ge-
mäß § 10 a Abs. 2 der Bundeshaushalts-
ordnung
- Drucksache 14/325 -
- Wahl der Mitglieder des Vertrauensgre-
miums gemäß § 10 a Abs. 2 der Bundes-
haushaltsordnung
- Drucksachen 14/317, 14/318 -
d) Verwaltungsrat und Vergabekommission
der Filmförderungsanstalt gemäß §§ 6 und 8
des Filmförderungsgesetzes
- Drucksache 14/319 -
ZP 2 Weitere Wahl zu Gremien
Parlamentarischer Beirat der Stiftung für das
sorbische Volk
- Drucksache 14/320 -
Dazu muß ich Ihnen einiges erklären. Wir führen zu-
nächst drei Wahlen mit Stimmkarten und Wahlauswei-
sen in getrennten Wahlgängen durch. Es handelt sich um
die Wahlen zu folgenden Gremien: Richterwahlaus-
schuß gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes, Wahlaus-
schuß gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundes-
verfassungsgericht, Vertrauensgremium gemäß § 10a
Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung.
Diesen drei Wahlgängen werden sich die Wahlen
zum Verwaltungsrat und zur Vergabekommission der
Filmförderungsanstalt sowie die Wahl zum Parlamenta-
rischen Beirat der Stiftung für das sorbische Volk an-
schließen. Diese Wahlen werden mittels Handzeichen
durchgeführt.
Ich gebe Ihnen jetzt noch einige Hinweise zu den
schriftlich durchzuführenden Wahlen. Die drei Stimm-
karten in den Farben Orange, Grün und Weiß für die
Wahlen haben Sie im Eingangsbereich bzw. im Saal er-
halten. Sollten Sie noch keine Stimmkarten haben, kön-
nen Sie diese jetzt noch bei den Plenarsekretären be-
kommen.
Außer den Stimmkarten benötigen Sie drei Wahlaus-
weise, ebenfalls in den Farben Orange, Grün und Weiß.
Diese Wahlausweise können Sie, soweit noch nicht ge-
schehen, Ihrem Stimmkartenfach entnehmen. Bitte über-
prüfen Sie, ob die von Ihnen verwendeten Wahlausweise
Ihren Namen tragen, um Verwechslungen auszuschlie-
ßen. Die Wahlausweise sind bei den einzelnen Wahl-
gängen jeweils den Schriftführern an den Urnen zu
übergeben. Die Wahlausweise dienen als Nachweis der
Teilnahme an der Wahl.
Die Wahlen finden offen statt. Sie können die
Stimmkarten also an Ihrem Platz ankreuzen.
Wir kommen zunächst zur Wahl der Mitglieder des
Richterwahlausschusses. Dazu liegen Ihnen auf den
Drucksachen 14/327 und 14/328 Listen mit Wahlvor-
schlägen vor. Ich mache besonders darauf aufmerksam,
daß Sie auf der orangefarbigen Stimmkarte nur einen
Vorschlag ankreuzen dürfen. Ungültig sind Stimmkar-
ten, die mehr als ein Kreuz oder Zusätze enthalten. Wer
sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung.
Bevor Sie die orangefarbige Stimmkarte in eine der
Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführe-
rinnen und Schriftführern Ihren orangefarbigen Wahl-
ausweis.
Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Ur-
nen besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne jetzt die erste Wahl, die Wahl zum Rich-
terwahlausschuß. Ist noch ein Mitglied des Hauses an-
wesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das
ist nicht der Fall. Dann schließe ich jetzt die Wahl. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen spä-
ter bekanntgegeben.*)
({0})
- Nein, die Wahl ist geschlossen. Ich bitte Sie, Herr
Kollege, es ist nicht möglich, vor den Augen der Präsi-
dentin noch hinter der Urne herzulaufen. Das geht nicht.
Sie können aber bei der nächsten Wahl Ihre Stimme ab-
geben. Es tut mir leid.
Bevor ich den nächsten Wahlgang eröffne, muß ich
kurz warten, bis die Urnen ausgeleert sind und wieder an
ihrem Platz stehen.
Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Wahlaus-
schusses für die Wahl der Richter des Bundesverfas-
sungsgerichtes. Dazu liegen Ihnen auf den Drucksachen
14/329 und 14/330 Listen mit Wahlvorschlägen vor. Ich
mache darauf aufmerksam, daß Sie auf der grünen
Stimmkarte wiederum nur einen Vorschlag ankreuzen
dürfen. Ungültig sind Stimmkarten, die mehr als ein
Kreuz oder Zusätze enthalten. Wer sich der Stimme ent-
halten möchte, macht keine Eintragung.
Bevor Sie die grüne Stimmkarte in eine der Wahlur-
nen werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen
und Schriftführern an den Wahlurnen Ihren grünen
Wahlausweis.
Ich bitte wiederum die Schriftführerinnen und
Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen
besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die zweite Wahl, die Wahl zum Wahlaus-
schuß. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das
seine grüne Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist
nicht der Fall. Ich schließe damit die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Auch dieses Ergebnis wird
Ihnen später mitgeteilt.**)
Jetzt folgen ein paar Abstimmungen mit einfacher
Mehrheit, deswegen muß ich Sie bitten, mir mehr Über-
sicht zu verschaffen.
Wir kommen jetzt zum Vertrauensgremium gemäß
§ 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung.
Bevor wir die Mitglieder wählen, rufe ich den ge-
meinsamen Antrag der Fraktionen der SPD, CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. zur Einsetzung die-
----------
*) Seite 1304 A
**) Seite 1310 A
ses Gremiums und zur Festlegung der Zahl der Mitglie-
der auf. Das ist die Drucksache 14/325. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Ent-
haltungen? - Dieser Antrag ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und F.D.P.
gegen die Stimmen der PDS angenommen; es gab keine
Enthaltungen.
Damit kommen wir jetzt zur Wahl der Mitglieder des
Vertrauensgremiums. Gewählt ist, wer die Stimmen der
Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich ver-
eint, das heißt, wer mindestens 335 Stimmen erhält. Auf
der für diese Wahl vorgesehenen weißen Stimmkarte
dürfen Sie höchstens neun Namensvorschläge ankreu-
zen, da das Vertrauensgremium nach dem soeben ge-
faßten Beschluß neun Mitglieder haben soll. Ungültig
sind Stimmkarten, die mehr als neun Kreuze, andere
Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der Stimme
enthalten will, macht keine Eintragung.
Bevor Sie die weiße Stimmkarte in eine der Wahlur-
nen werfen, übergeben Sie bitte Ihren weißen Wahlaus-
weis den Schriftführerinnen und Schriftführern.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen wie-
der zurück und besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne jetzt die dritte Wahl, die Wahl zum Ver-
trauensgremium. Ist noch ein Mitglied des Hauses an-
wesend, das seine weiße Stimmkarte nicht abgegeben
hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich jetzt auch
diese Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Auch dieses
Ergebnis wird Ihnen später bekanntgegeben.*)
Wir kommen jetzt zu einfachen Wahlen. Ich bitte Sie,
sich jetzt hinzusetzen, damit ich einen Überblick habe.
Es handelt sich jetzt um die Wahl der Mitglieder
des Verwaltungsrates der Filmförderungsanstalt ge-
mäß § 6 des Filmförderungsgesetzes. Dazu liegt ein ge-
meinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und
der CDU/CSU auf Drucksache 14/319 vor. Wer stimmt
für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig an-
genommen worden. Damit sind Björn Engholm, Rezzo
Schlauch und Bernd Neumann als Mitglieder des Ver-
waltungsrates sowie Gisela Schröter und Wolfgang
Börnsen als Stellvertreter gewählt.
Wir wählen jetzt ein Mitglied der Vergabekommis-
sion der Filmförderungsanstalt gemäß § 8 des Film-
förderungsgesetzes. Dazu liegt ebenfalls der Wahlvor-
schlag der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU auf
Drucksache 14/319 vor. Wer stimmt für diesen Wahl-
vorschlag? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Auch dieser Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen
worden. Damit sind Gisela Schröter als Mitglied der
Vergabekommission und Wolfgang Börnsen als Stell-
vertreter gewählt.
Abschließend kommen wir zur Wahl der Mitglieder
des Parlamentarischen Beirats der Stiftung für das
----------
*) Seite 1310 B
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
sorbische Volk; das ist Zusatzpunkt 2. Es liegt ein
Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und der
CDU/CSU auf Drucksache 14/320 vor. Wer stimmt für
diesen Wahlvorschlag? - Stimmt jemand dagegen? -
Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der
Wahlvorschlag ist damit einstimmig angenommen wor-
den. Damit sind die Kollegen Barbara Wittig und Ulrich
Klinkert zu Mitgliedern und die Kollegen Werner
Labsch und Gottfried Haschke zu Stellvertretern im
Parlamentarischen Beirat der Stiftung für das sorbische
Volk gewählt worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12a bis 12c sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
12. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Öffnung der Sozial- und Steuerverwaltung für
den Euro ({1})
- Drucksache 14/229 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika
Reinhardt, Dr. Norbert Blüm, Klaus-Jürgen
Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Gegen den Mißbrauch von Kindern als Soldaten
- Drucksache 14/310 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
für Wirtschaft und Technologie
Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes“ für das
Wirtschaftsjahr 1997
- Drucksache 14/258 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({4})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
ZP3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unterstützung der demokratischen Entwicklung in Nigeria
- Drucksache 14/315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13a bis 13c auf. Es
handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 13a:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses({6})
Übersicht 13
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/304 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gibt es
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 13b:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 13 zu Petitionen
- Drucksache 14/297 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
Sammelübersicht 13 ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen
worden.
Tagesordnungspunkt 13c:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 14 zu Petitionen
- Drucksache 14/298 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Sammelübersicht 14 ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen
die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6a und 6b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({9}), Hildebrecht Braun
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
({10}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wohngeld erhöhen, Zielgenauigkeit verbessern und Bürokratie verringern
- Drucksache 14/169 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({11})
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer ({12}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Das Wohngeld jetzt und familiengerecht reformieren
- Drucksache 14/292 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({13})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind
für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Goldmann.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion legt Ihnen heute
mit der Drucksache 14/169 einen Antrag vor, der drei
Ziele beinhaltet. Wir wollen erstens das Wohngeld erhöhen.
({0})
Wir wollen zweitens die Zielgenauigkeit des erhöhten
Wohngeldes verbessern.
({1})
Wir wollen drittens die Bürokratie, die mit dem Geben
von Wohngeld an die, die es brauchen, verbunden ist,
deutlich verringern.
({2})
Wenn wir uns gemeinsam fragen, wie es im Moment
um das Wohngeld steht, so stimmen wir, glaube ich, dahin gehend überein, daß es zumindest regierungsseitig
sehr schlecht aussieht. Dabei wissen wir alle: Es wird
allerhöchste Zeit, daß endlich das auf den Tisch kommt,
was von den Mieterinnen und Mietern und von der
Fachwirtschaft allgemein erwartet wird.
({3})
- Dazu kommen wir nachher noch; Sie können auch
gerne eine Zwischenfrage zu dem stellen, was versäumt
worden ist.
Der GdW sagt, angekündigte Wohngelderhöhungen
ohne Strukturnovelle seien wirkungslos. Man kann ihm
wohl nur zustimmen.
Weil Sie von Versäumnissen sprechen, muß man hier
allerdings auch feststellen: Wenn es nach CDU/CSU
und F.D.P. gegangen wäre, dann hätten die Mieterinnen
und Mieter seit dem 1. Januar 1999 ein höheres Wohngeld im Portemonnaie.
({4})
Ich kann hier zur Erinnerung nur wieder auf den GdW
verweisen: Er stellt fest:
Bei dem Vorstoß des früheren Bauministers Eduard
Oswald vor knapp zwölf Monaten, den Bundesanteil beim Wohngeld um 250 Millionen DM zu erhöhen, hätte es immerhin eine geringe materielle
Verbesserung bei allen Beziehern von Tabellenwohngeld gegeben, weil auch die Einkommensgrenzen im damaligen Entwurf leicht angehoben
werden sollten.
({5})
Doch, liebe Freunde von der Sozialdemokratischen Partei und von den Grünen, diesen Zeitpunkt haben Sie nun
wirklich in mieterfeindlicher Weise verpaßt.
({6})
Ich denke, wir brauchen uns darüber nicht zu streiten.
Es bleibt unser gesetzgeberischer Auftrag, unverzüglich
eine Wohngeldnovelle - ich meine eine Leistungs- und
Strukturnovelle - auf den Weg zu bringen, die diesen
Namen wirklich verdient.
({7})
Denn wir sind uns doch einig: Das Wohngeld in seiner
derzeitigen Ausgestaltung erfüllt weder seine soziale
noch seine wohnungswirtschaftliche Funktion. Es ist im
Moment kein zielgenaues und einkommenbezogenes
Förderinstrument.
({8})
- Wir wollen doch nicht darüber diskutieren, was irgendeiner gemacht hat.
({9})
- Nein. Wir werden nachher über das diskutieren, was
Sie versprochen haben. Warten Sie in Ruhe ab!
({10})
Ich freue mich, daß Sie auch der Meinung sind, daß
die Lagebeschreibung und die Aufgabenstellung völlig
klar sind. Nun sind wir, das Parlament, gefordert. Der
Gesetzgeber muß der Bundesregierung und auch dem
Minister Beine machen. Ich plädiere für eine Wohngeldallianz hier im Parlament. Wir haben viele Gemeinsamkeiten. SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
der Deutsche Mieterbund, sein Direktor Franz-Georg
Rips, die verehrte Frau Präsidentin Fuchs vom Deutschen Mieterbund, Ihr grüner Parteikollege Bauminister
Michael Vesper aus Nordrhein-Westfalen - Sie wissen,
es ist immer gut, wenn die Länder im wohnungspolitischen Boot mitrudern -, der Bundesverband der Wohnungswirtschaft mit seinem Präsidenten Steinert, sie alle
stimmen darin überein: Beim Wohngeld muß sich Entscheidendes tun.
Ich darf hier Ihre geschätzte Kollegin, die Präsidentin
des Deutschen Mieterbundes, zitieren:
({11})
Wir beharren darauf, daß es eine vernünftige,
finanziell gut ausgestattete Wohngeldreform geben
muß.
Seit 1990, meint sie, sei das Wohngeld im Westen
Deutschlands nicht mehr angepaßt worden. Das stimmt
nicht ganz, wie Sie selbst wissen. Da hat es durchaus
Veränderungen gegeben. Aber ich weiß, daß das nicht
reicht, und deswegen wollen wir es heute besser machen.
({12})
Ihre Kollegin sagt, angesichts knapper Kassen stehen
in diesem Jahr mit rund 4 Milliarden DM im Etatentwurf
nur 500 Millionen DM mehr zur Verfügung als im
Haushaltsansatz 1998. 750 Millionen DM waren eingestellt gewesen.
({13})
Wir stimmen auch mit dem Zitat in den „Wohnungswirtschaftlichen Informationen“ überein:
Der GdW ist sich mit dem Mieterbund einig, daß
die Wohngeldnovelle oberste wohnungspolitische
Priorität genießen muß.
({14})
Auch wir sollten uns darin einig sein. Ich rufe Ihnen
also hier zu: Lassen Sie uns gemeinsam arbeiten. Ich
will Sie auch sehr nachdrücklich ermahnen: Sie müssen
wenigstens noch Restwort halten.
({15})
Nehmen Sie doch Ihre Wahlkampfbotschaften ernst!
Machen Sie, wenn auch nicht alles anders, doch wenigstens einiges besser. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, es geht doch
wirklich nur noch um Restwort halten.
({16})
- Das wissen Sie doch genauso gut wie ich, Frau Kollegin, und deshalb reagieren Sie jetzt so aggressiv und
hektisch. Sie wissen doch, was Sie vor der Wahl versprochen haben. Ihr Parlamentarischer Staatssekretär
Achim Großmann hat doch damals, als es um die Erhöhungsvorstellung von CDU/CSU und F.D.P. ging, gesagt: Lächerlich, viel zuwenig. 14 Tage vor der Wahl hat
er mit dem Mieterbund eine Kampagne gegen das aktiviert, was damals auf den Weg gebracht worden ist.
Damals jubelte der Deutsche Mieterbund, und die Wähler haben Sie gewählt. Heute will es keiner mehr gewesen sein, schon gar kein Wähler.
Aber ich denke, wir können das heute korrigieren. Ich
nehme Herrn Großmann da beim Wort. Ich habe Vertrauen in das, was Herr Großmann sagt. Ich zitiere ihn
aus dem Gastkommentar der „Bauindustrie“ 11-12/98:
Wir brauchen funktionsfähige Wohnungsmärkte,
die ein ausreichendes Angebot an Wohnungen sichern.
Völlig einverstanden. Er sagt dann:
Die wichtigsten wohnungspolitischen Instrumente
hierfür sind das Wohngeld und der soziale Wohnungsbau als Neubau und im Bestand.
Wenn ich mir das anschaue, was im Haushalt bisher
getan worden ist, wundere ich mich schon, wenn Herr
Minister Müntefering sagt: Wunsch und Wolke war das,
was früher einmal eingebracht worden ist. Er selbst
schlägt aber im neuen Haushalt weniger als das vor, was
er damals als „Wunsch und Wolke“ betitelt hat; er will
nur 4,02 Milliarden DM einsetzen. Sie wissen doch ganz
genau: Das reicht gerade für das, was gesetzlich absolut
notwendig ist. Das ist kein Schub im Wohnungsbau, das
ist noch nicht einmal Verharren im bisherigen Zustand,
sondern das ist sogar ein Abbruch, weil sich die Anforderungen an Wohngeld verändert haben. Das bedeutet
keine Wohngelderhöhung, keine Verbesserung und
schon gar keine Novelle. Da helfen auch keine Rechenkünste.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich halte das für unseriös, unaufrichtig und wohnungspolitisch grundverkehrt.
({17})
Wenn Herr Minister Müntefering sagt, das Alte sei
„Wunsch und Wolke“ gewesen, dann kann ich nur sagen: Das, was Sie machen, ist Steinschlag und Hagel
gegen die Mieterinnen und Mieter. Sie lassen sie im Regen stehen, und zwar in sehr kaltem Regen.
({18})
Ich habe, glaube ich, ein ungestörtes Verhältnis zu
einer vernünftigen sozialdemokratischen Politik. Nach
meiner Meinung ist aber Ihre wohnungspolitische Arbeit
einer sozialen und demokratischen Partei unwürdig.
({19})
Und liebe Freunde von den Grünen: Das ist antigrün.
Wir wollen eine Wohngeldnovelle, und zwar sofort.
Wir wollen mit Ihnen kämpfen und mit Ihnen für den
Haushalt stimmen. Wir wollen dafür sorgen, daß ein
ganz normaler Verdiener in Deutschland wieder die
Möglichkeit hat, eine angemessene Wohnung, auch in
einem Ballungsraum, zu bekommen. Ich spreche mit
Polizistinnen und Polizisten, die heute nicht in den BalHans-Michael Goldmann
lungsräumen wohnen können, weil sie die Miete nicht
bezahlen können. Ich spreche auch mit Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern, die riesige Schwierigkeiten haben, das zu bekommen, was ihnen zusteht, obwohl
gerade im Bereich des Wohngeldes durchaus Dinge auf
den Weg gebracht worden sind, die diesen Menschen
helfen.
({20})
- Sie können gerne fragen, liebe Kollegin. Ich schätze
Ihre Fragen im Ausschuß immer sehr.
Wir wollen ein Leistungspaket für das Wohngeld insgesamt. Wir wollen eine Wohngeldnovelle jetzt. Wir
wollen sie hier und heute und nicht erst in Berlin. Deswegen haben wir jetzt unseren Antrag eingebracht.
Sie haben doch sicher die Leistungsbilanz Ihrer Bundesregierung - wenigstens so, wie sie der „Stern“ einschätzt - gelesen. Es gibt in vielen Bereichen einen
Kahlschlag. Es gibt riesige Probleme, wenn es darum
geht, Arbeitsplätze zu schaffen und Investitionen zu tätigen. Sie haben Gesetze auf den Weg gebracht, die der
Wohnungswirtschaft schaden. Ihr Steuerentlastungsgesetz ist ein Steuerbelastungsgesetz für die Wohnungswirtschaft.
({21})
Ihre ökologische Steuerreform ist ein Schlag ins Gesicht
all derjenigen, die durch die zweite Miete belastet sind.
Das ist doch durchaus auch Ihre Klientel. Das sind doch
auch Ihre Wählerinnen und Wähler. Das sind doch nicht
nur diejenigen, die sich - wie Sie uns vorwerfen - besonders bei uns eingenistet haben sollen.
Sie müssen jetzt etwas tun. Wir geben Ihnen einige
Bausteine mit auf den Weg. Lassen Sie uns das gemeinsam diskutieren. Lassen Sie uns architektonisch, fachlich etwas Gutes bringen. Wir wissen doch alle: Die
Höhe des Wohngeldes muß wieder stimmen. Wir brauchen in Ost und West ein einheitliches Wohngeld; wenigstens da sind wir uns hoffentlich einig. Das Verhältnis zwischen Tabellenwohngeld und pauschaliertem
Wohngeld muß wieder ins Lot kommen. Der bürokratische Aufwand für den Vollzug der Wohngeldzahlung
muß reduziert werden. Lebensgemeinschaften, Studenten und Auszubildende müssen wohngeldrechtlich anders und besser behandelt werden.
({22})
Das sind Bausteine, die wir zusammenfügen können, um
ein vernünftiges wohnungsbaupolitisches Gebäude zu
errichten.
({23})
- Wir schubsen Sie an. Wir helfen Ihnen.
Lassen Sie uns eine wohnungspolitische Allianz für
eine Wohngeldnovelle finden. Lassen Sie uns nicht bis
zum Ende dieses Jahres warten, sondern lassen Sie uns
jetzt gemeinsam an die Arbeit gehen. Ich freue mich auf
die Zusammenarbeit mit Ihnen in dieser Frage.
Herzlichen Dank.
({24})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Spanier.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Goldmann, Ihr Eifer
im Zusammenhang mit dem Wohngeld ist mehr als löblich.
({0})
Man kann Ihnen auch schlecht persönlich den Murks
vorwerfen, den wir in den Jahren seit 1994 in dieser
Frage von der damaligen Koalition in diesem Hause erlebt haben.
({1})
Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß das, was im
vorigen Jahr noch vorgelegt worden ist, dieses Minireförmchen, mehr als kläglich gewesen ist.
({2})
Über ein sogenanntes Eckwertepapier - das war eine
halbe DIN-A4-Seite, Herr Oswald, wenn wir uns beide
richtig erinnern ({3})
sind Sie damals nicht hinausgekommen.
Obwohl immerhin drei Bundesbauminister Ihrer
Seite an dieser Stelle immer wieder erklärt haben - sogar unter Nennung genauer Zeitpunkte -, wann sie
einen Gesetzentwurf vorlegen würden: Es ist nichts passiert.
({4})
Da wundert man sich schon, Herr Goldmann, daß Sie
hier jetzt Eile anmahnen. Ich hatte eben fast das Gefühl,
daß Sie uns eine Uhrzeit vorgeben: bis 14.15 Uhr müßten wir alles unter Dach und Fach haben.
({5})
Das paßt nicht zusammen.
Wir stimmen überein in der Beschreibung der Problemlage. Da haben wir im Ausschuß immer übereingestimmt, spätestens seit 1994. Aber passiert ist nichts. Sie
tragen dafür ausschließlich die Verantwortung.
({6})
Seit 1994 haben Sie Zeit gehabt. Es ist nichts passiert.
Deswegen finde ich es ein bißchen billig, wenn Sie hier
jetzt zur Eile mahnen.
({7})
Fest steht - ich sage das hier ganz offen; vielleicht
haben die Mitglieder des Ausschusses für Verkehr-,
Bau- und Wohnungswesen alle gemeinsam die Aufgabe,
in ihren Fraktionen dafür zu werben -: Das Wohngeldgesetz erfüllt nicht mehr seine ursprüngliche Funktion.
({8})
Einkommensschwache Haushalte sollen mit ausreichendem Wohnraum versorgt werden. Die Mietbelastung soll in erträglichen Grenzen gehalten werden.
Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis
nennen. Einer Rentnerin mit 1 250 DM monatlichem
Einkommen, zirka 620 DM Wohnkosten - das ist also
keine übertrieben teure Wohnung - und einem Krankenversicherungsbeitrag in Höhe von 80 DM bleiben zum
Leben noch 550 DM im Monat. Ich habe ihr geraten,
einen Wohngeldantrag zu stellen. Das habe ich hinterher
bedauert. Die Antwort lautete, der Wohngeldanspruch
betrage null Pfennig.
({9})
Wir denken, das ist nicht in Ordnung. Es zeigt, daß die
Regelung völlig unzureichend ist. Wenn es uns mit diesem sozialpolitischen Ziel ernst ist, dann müssen wir
eindeutig feststellen, daß Änderungen bereits seit Jahren
überfällig sind, das heißt, schon vor Jahren hätten Änderungen vorgenommen werden müssen.
({10})
- Dazu kommen wir gleich noch. Ein bißchen Geduld,
es sind nur noch ein paar Minuten.
Es geht nicht darum - wie ich heute morgen in einer
anderen Diskussion im Bundestag gehört habe -, Wohltaten zu verteilen - mancher geht an diese Fragen mit
dem Gemüt nicht eines Fleischers, sondern offensichtlich eines Metzgerhundes heran -, sondern es geht in
erster Linie darum, Schwächen dieses Wohngeldgesetzes, strukturelle Probleme dieses Wohngeldgesetzes
endlich anzupacken.
({11})
Ich will Ihnen einige Beispiele nennen. Die jetzige
Wohngeldregelung Ost/West führt zu massiven sozialen Verwerfungen zwischen Ost und West. Ich sage das
auch ganz bewußt in Richtung PDS. Wieder ein Beispiel: Die Rentnerin mit 1 190 DM Rente bekommt bei
gleichwertiger Wohnung im Osten unseres Landes 80
DM Wohngeld und im Westen 12 DM.
({12})
Sie haben das über Jahre hingenommen und nicht geändert.
({13})
Daß die Miethöchstbeträge und die Einkommensgrenzen nicht mehr angemessen sind, ist selbstverständlich allen bekannt. Daß wir - so der Wohngeldund Mietenbericht Ihrer, der alten Bundesregierung eine Unterversorgung von Haushalten mit vier und mehr
Personen, das heißt von Haushalten mit Kindern haben,
ist ebenfalls seit Jahren als Problem bekannt.
Wir können die Präsidentin des Deutschen Mieterbundes nur voll und ganz unterstützen,
({14})
wenn sie sagt: Wenn wir an dieser Stelle familienpolitisch mehr Gerechtigkeit herstellen müssen, dann müssen wir auch dieses strukturelle Problem lösen. Es geht
also nicht nur einfach um eine Anhebung der Einkommens- und Mietobergrenzen, sondern wir müssen das
Wohngeld gezielter einsetzen.
({15})
So besteht auch nicht nur gemäß dem letzten Wohngeld- und Mietenbericht eine Benachteiligung der kleinen Haushalte. Es ist klar, die Quadratmetermieten für
kleine Wohnungen sind höher; also haben wir hier zum
Teil exorbitante Mietbelastungen. Auch das ist seit vielen Jahren bekannt. Auch dieses Problem haben Sie
nicht im geringsten angepackt.
Ein strukturelles Problem ist auch, daß wir dringend
die Baualtersklassen und die Mietenstufen überprüfen
müssen. Sie geben in Ihren Anträgen ähnliche Anregungen. Ebenso ist richtig, daß wir die besonderen Schwierigkeiten, die besondere Situation der Ballungsgebiete
stärker berücksichtigen müssen. Ein letzter Punkt, der
die strukturellen Schwächen und Probleme betrifft, besteht darin, daß wir auch einen Beitrag im Hinblick auf
eine Vereinfachung leisten sollten. Ich denke, auch das
ist unbestritten.
Das heißt, wir haben ähnliche inhaltliche Ansätze.
Aus diesem Grund werden wir sicherlich froh und
dankbar Ihre Bereitschaft zur Mitarbeit bei der anstehenden Beratung und Beschlußfassung in Anspruch
nehmen.
({16})
Lassen Sie mich aber auf einen Punkt noch eingehen,
der mir persönlich besonders wichtig ist. Im Antrag der
F.D.P. wird gefordert, Mietobergrenzen beim pauschalierten Wohngeld, also beim Wohngeld für Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger einzuführen. Was wäre die Folge einer solchen Begrenzung,
einer Deckelung, einer Kürzung oder auch nur des Wegfalls der Pauschalierung?
({17})
Es ist nämlich nicht so ganz klar geworden, welches Instrument Sie da einsetzen wollen.
Die Folge wäre - das ist meine größte Sorge -, daß
wir glücklicherweise nicht die Ansprüche der Betroffenen schmälern, sondern daß wir schlicht und einfach
Kosten weg vom Bund und den Ländern auf die Kommunen verlagern. Das muß aufgefangen werden. Das ist
ein ganz entscheidendes Problem, denke ich.
({18})
Das haben Sie natürlich in Ihrem Antrag, aber auch in
vielen Diskussionsbeiträgen in den letzten Jahren nie
beantwortet.
Wir haben hier natürlich festzustellen, daß 60 Prozent
der Bezieher von Wohngeld pauschaliertes Wohngeld
beziehen. 80 Prozent des Wohngeldaufkommens fließen
in dieses pauschalierte Wohngeld - so die Zahlen für das
Jahr 1996. Da aber von Ungleichgewicht oder gar von
Ungerechtigkeit zu reden ist meiner Meinung nach völlig fehl am Platze.
Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Die
Gründe werden von der letzten Sozialhilfestatistik untermauert: Wir hatten 1991 2,1 Millionen Sozialhilfeempfänger in Deutschland. Ende 1997 waren es 2,9 Millionen. Nach der Änderung von 1993 müssen Sie noch
etwa 480 000 Asylbewerber und Asylbewerberinnen mit
einrechnen. Aus diesen Zahlen wird klar, welche rasante
Entwicklung in diesem Bereich in den 90er Jahren stattgefunden hat.
Es ist selbstverständlich, daß bei jährlichen Steigerungsraten der Zahl der Sozialhilfebezieherinnen und
-bezieher zwischen 2,5 und 3 Prozent der Aufwand für
das pauschalierte Wohngeld steigt. Ebenso schlägt die
Mietsteigerung voll durch, die wir in den letzten 10 bis
15 Jahren hatten, weil das pauschalierte Wohngeld faktisch ein dynamisiertes Wohngeld ist. Hier liegen die
Gründe für die Entwicklung und nicht in irgendwelchen
Ungerechtigkeiten oder irgendwelchen Ungleichbehandlungen.
({19})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?
Ja.
Bitte.
Herr Spanier, würden Sie uns liebenswürdigerweise erklären,
warum der normale Mieter oder die Mieterin Mietobergrenzen per Gesetz zu beachten hat, während Kommunen bei der Unterbringung von Sozialhilfeempfängern
nach oben offen gefördert werden?
Herr Braun, wenn Sie sich
einmal in Ihrer Heimatstadt erkundigen, dann werden Sie
sehen, daß es die Praxis der Sozialämter ist, Mietobergrenzen anzusetzen und durchzusetzen. Die konkrete Umsetzung ist allerdings schwieriger, als man denkt, wie ein
Blick in die Sozialhilfestatistik zeigt: Weit mehr als ein
Drittel der Sozialhilfeempfänger beziehen nämlich nur für
ein bis neun Monate, also zeitlich sehr begrenzt, Sozialhilfe. Man muß Nutzen und Kosten sorgfältig abwägen,
wenn man schon nach ein bis zwei Monaten Umzüge in
Gang setzen will, deren Kosten natürlich von den Sozialämtern übernommen werden müssen.
München und andere Großstädte wie Köln unterhalten seit Jahren eine Arbeitsgemeinschaft, in der sie gemeinsam Instrumente und Wege entwickelt haben, um
überzogene Mieten nicht fördern zu müssen. Ich denke,
das ist der richtige Weg.
({0})
- Ja, gerne.
Verstehe
ich Sie richtig, Herr Spanier, daß die Sozialdemokratie
im Rahmen der ja auch von Ihnen beabsichtigten Strukturreform nicht erwägt, Mietobergrenzen beim pauschalierten Wohngeld einzuführen?
Ich bin ganz sicher - das
ist meine persönliche Meinung und meine Zuversicht -,
daß die Bundesregierung keine Lösung vorlegen wird,
die auf eine Verlagerung der Kosten auf die Kommunen
in Höhe von mehreren hundert Millionen DM hinausläuft. Das kann nicht die Lösung sein.
({0})
Der Weg, den die alte Bundesregierung über Jahre
konsequent beschritten hat, nämlich immer mehr auf die
Kommunen zu übertragen - das ist der berühmtberüchtigte Verschiebebahnhof -, muß endlich ein Ende
finden. Ich bin daher sicher, daß die Bundesregierung
einen Vorschlag vorlegen wird, der finanziell vernünftig
ausgestaltet ist und bei dem vor allen Dingen die Interessen der Kommunen hinsichtlich ihrer Belastung sorgsam beachtet werden. Es geht also nur darum, wer finanziert.
({1})
- Das wollen Sie ja wohl nicht. - Für die Betroffenen ist
diese Regelung, wie im BSHG geregelt, letztlich ohne
Konsequenzen.
Wir erwarten, daß die Bundesregierung endlich den
schon seit langem erwarteten, sorgfältig vorbereiteten
Gesetzentwurf vorlegt. Ein dürftiges Eckpunktepapier mehr haben Sie nicht zustande gebracht -, das Sie vorgelegt haben, reicht eben nicht aus. Wenn wir schon das
Wohngeldgesetz novellieren,
({2})
dann müssen wir eine gesamtdeutsche Lösung vorlegen,
die all die strukturellen Probleme, die wir nahezu übereinstimmend sehen, endlich berücksichtigt.
Ich freue mich auf die gemeinsamen Beratungen.
Diese Vorfreude teilen wir mit Ihnen. Wir haben die klare Aussage der Bundesregierung - Herr Großmann wird
noch zu diesem Thema sprechen -,
({3})
daß die Gesetzesnovelle in diesem Jahr vorgelegt wird.
Wir werden sie in diesem Jahr beraten und verabschieden, um dieses unendliche Gewürge der letzten Jahre im
Interesse der Mieterinnen und Mieter zu beenden.
Schönen Dank.
({4})
Bevor wir in
der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen das Ergebnis der
Wahl der Mitglieder des Richterwahlausschusses gemäß
§ 5 des Richterwahlgesetzes bekannt.*)
Abgegebene Stimmen 652. Davon gültig 650, Enthaltungen 2, ungültige Stimmen keine. Von den gültigen
Stimmen entfielen auf den Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen 337
Stimmen, auf den Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. 280 Stimmen und auf den
Wahlvorschlag der Fraktion der PDS 33 Stimmen.
Nach dem Höchstzahlverfahren d'Hondt entfallen auf
den Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen neun Mitglieder, auf den
Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und
F.D.P. sieben Mitglieder und auf den Wahlvorschlag der
PDS null Mitglieder.
Nach § 5 Abs. 2 des Richterwahlgesetzes sind die
Mitglieder und ihre Stellvertreter in der Reihenfolge
gewählt, in der ihr Name auf dem Wahlvorschlag erscheint. Die Namen der gewählten Mitglieder und Stellvertreter entnehmen Sie bitte der Drucksache 14/327.
Von den Wahlvorschlägen der Fraktion der PDS ist damit kein Mitglied in den Richterwahlausschuß gewählt
worden.
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat der
Kollege Kansy.
({0})
- Applaus beim Auftritt, das ist aber selten.
Ich habe eben
viele Fans hier, Frau Präsidentin.
----------
*) Liste der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Herr Kollege Spanier, man hat in einem langen Politikerleben Reden zu halten gehabt, wo man am liebsten
sitzen geblieben wäre.
({0})
- Das habe auch ich schon öfter kennengelernt. - Das ist
sicherlich bei Ihnen heute so gewesen.
Wie war es denn nun wirklich? Welchen Stellenwert
haben in dieser Regierung und in den Koalitionsfraktionen, Frau Eichstädt-Bohlig, die Wohnungspolitik, die
Städtebaupolitik und das Wohngeld wirklich? Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat ein Bundeskanzler kein einziges Wort zum
Thema Wohnungs- und Städtebau gesagt. Dies war allerdings nicht immer so, verehrte Kolleginnen und Kollegen. In der „Mieter Zeitung“, herausgegeben vom
Deutschen Mieterbund, dessen Präsidentin Kollegin
Fuchs ist - Kollegin Fuchs ist ja zweifache Präsidentin,
und zwar des Deutschen Bundestages und des Mieterbundes -, erschien wenige Wochen vor der Bundestagswahl eine Aussage des jetzigen Bundeskanzlers zum
Wohngeld. Da stand - ich zitiere -:
Die Wohngeldreform steht auf der Agenda einer
sozialdemokratisch geführten Bundesregierung
ganz oben.
Dann geht es weiter:
Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Minireform mit 250 Millionen DM hätte das Problem
nicht gelöst. Schon Ex-Minister Töpfer hatte einen
Bedarf von 1,8 Milliarden Mark ermittelt.
Wohlgemerkt, das waren Forderungen und Versprechungen zusätzlicher Art zu den damaligen Wohngeldansätzen.
Meine Damen und Herren, wie der Herr, so's Gescherr,
vom damaligen wohnungspolitischen Sprecher und heutigen Staatssekretär Großmann über Frau Eichstädt-Bohlig,
über den Hamburger Senator Wagner, der hier an dieser
Stelle noch im Mai letzten Jahres fürchterlich gepoltert
hatte, bis zum Bauminister Vesper und vielen Mitgliedern
der Regierungsfraktionen. Sie überboten sich geradezu
mit Wohngeldforderungen. An der Spitze war Frau
Kollegin Fuchs. - Ich habe sie gerade noch gesehen. Die forderte in der letzten Ausgabe der „Mieter Zeitung“
- wohlgemerkt, noch vor der Bundestagswahl - eine Erhöhung des Wohngeldes um 4,3 Milliarden DM, allerdings für Bund und Länder zusammen. Dies wären für
den Bund schlappe 2,15 Milliarden DM gewesen.
Sogar die Finanzierung, Herr Großmann, scheiterte
angeblich nur an dem bösen Willen von CDU/CSU und
F.D.P. Sie hatten alles parat. Sie kündigten noch im
Pressedienst Ihrer Fraktion am 10. September 1998, wenige Tage vor der Bundestagswahl, an - ich zitiere -:
Eine Finanzierung ist über die Begrenzung der
steuerlichen Abschreibung für Luxusbauten und
Modernisierung möglich.
({1})
Da waren die von Frau Fuchs geforderten 2,15 Milliarden DM ein paar Tage später finanziert.
Nun haben Sie zwar tatsächlich vor, Milliarden im
freifinanzierten Wohnungsbau zu streichen, und zwar
nicht nur bei Luxusmodernisierungen. Unsere Frage
aber ist, ob das Geld, wie angekündigt, wirklich beim
Wohngeld ankommt.
({2})
Frau Eichstädt-Bohlig von den Grünen gab uns ebenfalls ihre Finanzierungsvorschläge bekannt. Das geschah
auf eine etwas unübliche Art. Aus dem „Neuen
Deutschland“ habe ich mir das Zitat herausgesucht. Das
ist aber nicht schlimm; denn die anderen wohnungspolitischen Sprecher waren da auch gefragt. Ich bin da allerdings nicht hingegangen.
({3})
- Das war kein Verlust, Herr Kollege!
Nach unserer Einschätzung könnte man beim Eigenheimzulagengesetz das Geld für eine gesamtdeutsche Wohngeldreform sparen. Wenn man nicht
massenhaft Menschen in die Sozialhilfe abdrängen
will, muß endlich ein vernünftiges Wohngeld gezahlt werden.
O-Ton Eichstädt-Bohlig vor der Wahl.
({4})
Tatsächlich haben Sie auch bei der Eigentumsförderung vor, jährlich 1,1 Milliarden DM abzukassieren.
({5})
Nur, meine liebe Frau Kollegin, an dieser Stelle bleibt
natürlich auch an Sie die Frage, ob das beim Wohngeld
ankommt. Wenn man die Großmannschen Finanzierungsvorschläge und Ihre zusammennehmen würde,
würden spielend die geforderten 2 Milliarden DM wohlgemerkt: das sind nur die Bundesausgaben - zur
Verfügung stehen, um das Wohngeld finanzieren zu
können.
Der Offenbarungseid der Ex-Wohngeldhelden kam
mit Lafontaines erstem Etat. Da blieb selbst hartgesottenen Wohnungsbaupolitikern und Verbandsvertretern die
Spucke weg.
({6})
Darin sind Ausgaben in Höhe von 4,02 Milliarden DM
für Wohngeld vorgesehen. Nach all den Versprechen,
schnell eine milliardenschwere Wohngeldreform zu
machen, und nach der Ankündigung des Bundeskanzlers, daß die Wohngeldreform auf der Agenda einer sozialdemokratischen Regierung ganz oben stehe, sind dafür weniger Mittel als die 4,115 Milliarden DM ausgebracht, die im Etat von Theo Waigel für 1999 vorgesehen waren. Das ist das Ergebnis Ihrer ganzen Kampagne.
({7})
Was tat nun unser neuer Superminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen? Er ließ seinen Sprecher Michael Donnermeyer
({8})
- Donnermeyer - am 12. Januar dieses Jahres diese
glatte Wohngeldbauchlandung in einen Höhenflug umdeuten. Er argumentierte vor der Presse, vorgesehen sei
eine Aufstockung um 500 Millionen DM.
Nun ist nicht jeder Journalist einer Tageszeitung bei
einer ersten Pressekonferenz im Detail informiert. Aber
das war selbst eingefleischten Freunden von der SPD vom Mieterbund bis zum Gesamtverband der deutschen
Wohnungswirtschaft - zuviel. Zu groß waren die Erwartungen, die Sie geweckt haben, und zwar nicht nur
bei Funktionären, sondern auch bei den Menschen in
diesem Lande.
({9})
Zu sichtbar ist, daß Sie maßlose Versprechungen gemacht haben, die Sie wenige Tage nach der Wahl beim
Thema Wohngeld glatt gebrochen haben.
({10})
Nun mußte man natürlich in irgendeiner Weise auf
dem Papier eine wundersame Wohngeldvermehrung
schaffen. Wie machte man das? Das machte man ganz
einfach: Man sagte, im letzten Etat wäre es ein Ansatz
von 3,5 Milliarden DM gewesen. Das stimmt. Und jetzt
bei Theo Waigel - nicht bei Theo Waigel, sondern bei
Oskar Lafontaine - ({11})
- Bei Theo Waigel waren es 4,115 Milliarden DM, und
bei Oskar Lafontaine blieben noch 4,02 Milliarden DM
übrig. Man sähe also, das Volk würde mit neuem
Wohngeld in Höhe von 500 Millionen DM mehr beglückt.
Meine Damen und Herren, das ist ein Riesenbluff, ein
Bluff, der in diesem Umfang zu diesem Thema in diesem Parlament noch nie passiert ist. 3,5 Milliarden DM
waren vorgesehen. Alle Leute wußten, daß der Wohngeldhaushalt unterfinanziert war. Kollege Großmann hat
- wie es so seine Art ist - klar und hart schon im Juli im
Ausschuß und im Plenum vorgerechnet: Letztes Jahr
fehlten schon 300 Millionen DM, und wenn ihr nichts
macht, dann fehlen nächstes Jahr noch einmal 300 Millionen DM. - Recht so.
Deswegen waren 4,1 Milliarden DM bei Theo Waigel
im Ansatz, die bis auf den letzten Pfennig durchfinanziert waren, ohne daß dabei eine Reform berücksichtigt
war.
({12})
Es war auch keine versprochen; denn Sie haben unsere
angebliche Minireform blockiert, und es war im Bundesrat und in diesem Parlament keine durchsetzbar.
({13})
Der damalige Bauminister Oswald hat das schon angesprochene Schreiben am 2. April - rechtzeitig, um
noch vor der Sommerpause in bezug auf das Wohngeld
etwas zu machen - an alle Landesregierungen und Bundestagsfraktionen gesandt, und er schlug Ihnen vor, noch
vor der Sommerpause eine Novelle zu machen, die am
1. Januar dieses Jahres hätte in Kraft treten sollen und
die vorsehen sollte, daß Bund und Länder 250 Millionen
DM zusätzlich zu den 4,1 Milliarden DM des Bundes
zur Verfügung stellen sollten; das wären dann 4,35 Milliarden insgesamt.
({14})
Danach fand die Debatte im Bundestag statt. Herr
Wagner aus Hamburg kam in den Bundestag, sprach von
dieser Stelle und rief am Schluß mit großem Pathos uns
zu - lesen Sie das bitte in dem stenographischen Protokoll
nach -: Sie stellen sich hier hin mit Ihren 250 Millionen
DM. Das war für ihn quasi eine Peanuts-Diskussion, nach
dem Motto: Kansy, wo bleiben die Milliarden?
Der heutige Staatssekretär Großmann ergriff in dieser
Debatte ebenfalls das Wort. - Ich möchte folgendes vorausschicken: Alle Parlamentarischen Staatssekretäre haben in den letzten Jahren darunter leiden müssen, daß
die Finanzminister sie hinsichtlich des Wohngeldes
nicht besonders gut bedient haben. Keiner ist - wie Herr
Großmann - mit einer Kürzung vom Finanzminister zurückgekommen - und das nach der aufgeblasenen
Wohngeldkampagne der letzten Monate.
Herr Großmann sagte in jener Debatte:
An dieser Stelle möchte ich etwas zur Glaubwürdigkeit sagen. Wer wie die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und F.D.P. auf Fachtagungen
immer das große Wort führt, aber hier im Parlament nicht überkommt, der macht sich auf die
Dauer unglaubwürdig.
Ferner sagte er in derselben Debatte:
Herr Kansy hat noch im März 400 Millionen DM
gefordert.
Das stimmt, Herr Großmann, und ich habe 250 Millionen DM bekommen. Sie haben Milliarden gefordert und
kommen mit 100 Millionen DM weniger zurück.
({15})
Hier ist jetzt die Stelle, um das zu bilanzieren. Nie ist
in einem zentralen Bereich der Wohnungspolitik der
Wähler so getäuscht worden wie beim Thema Wohngeld
von Ihnen, von den beiden Koalitionspartnern, von Rot
und Grün. Denn Sie beide tragen ja gemeinsam die Regierung.
({16})
Was tut nun die Koalition angesichts der Tatsache,
daß jetzt von allen Zeitungen und Verbänden diese
Wohngeldpolitik verrissen wird? Man besinnt sich auf
ein altes Instrument, das mir, ehrlich gesagt, auch ein
klein wenig bekannt vorkommt. Wir nannten das früher
„Erblast“. Damit war die angeblich entsetzliche Situation des Haushaltes gemeint, die überraschend vorgefunden wurde. Dazu sage ich: Auch das ist falsch.
Obwohl der letzte Haushalt für Ihre Regierung ein geringeres Defizit - rund 10 Milliarden DM - zu verzeichnen hat, obwohl Sie in diesem Jahr 30 Milliarden DM
mehr Einnahmen auf Grund von höheren Steuereinnahmen und von geplanten Steuererhöhungen haben, die
auch Mieter belasten - und das, obwohl weniger Mittel
für das Wohngeld zur Verfügung stehen -, versuchen
Sie, sich hier damit herauszuschwindeln, daß Sie sagen,
es gebe plötzlich völlig neue Bedingungen.
Nein, meine Damen und Herren: Der Finanzminister
hat im Bereich des Wohngeldes kurz, aber heftig gestrichen. Höhere Ausgaben der Mieter durch die Ökosteuerreform, Kürzung des bisherigen Wohngeldansatzes der
alten Bundesregierung - das ist das, was von Ihrer
Wohngeldkampagne des letzten Jahres übriggeblieben
ist.
({17})
Ich möchte nicht so weit gehen wie die F.D.P. und
Ihnen eine Zusammenarbeit anbieten.
({18})
- Nein, nein. Es hörte sich plötzlich alles so wunderbar
an. Die Kürzung um 100 Millionen DM vertreten Sie
einmal alleine im Land. Besser wäre es allerdings, wenn
Sie noch heute abend bei Ihrem Finanzminister vorstellig würden und ihm erzählen würden, was ich Ihnen
eben gesagt habe. Am 10. Februar ist die Kabinettssitzung; bis dahin haben Sie ja noch eine letzte Chance,
Ihre Versprechen einzulösen. Sonst, liebe Kolleginnen
und Kollegen, können Sie guten Gewissens vor keine
Mieterversammlung mehr hintreten.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Kansy, nachdem wir nun etwa
dreieinhalb Jahre lang in Sachen Wohngeld einen Ankündigungsminister und eine Ankündigungskoalition
hatten, war das eben wirklich eine brillante Rede. Sie
müssen sich aber daran gewöhnen, daß die Baupolitiker
der neuen Koalition und der Verkehrs- und Bauminister
nach einer etwas anderen Methode herangehen als Sie:
erst arbeiten und die Sache unter Dach und Fach bringen
und dann reden.
({0})
Insoweit sollten Sie nicht Ihre Methode von uns einfordern. Die Zeiten, in denen man so an das Problem herangegangen ist, wie Sie es taten, sind nun wirklich vorbei.
({1})
- Sie verlangen von uns Hektik, um sie gleichzeitig zu
kritisieren. Lassen Sie uns Baupolitiker doch lieber nach
der von mir eben dargestellten Methode vorgehen.
({2})
Zur Sache: Daß wir die Wohngeldreform brauchen,
ist hier im Hause bei allen unstrittig. Das ist auch zwischen der Eigentümer- und der Mieterseite unstrittig.
Von daher brauchen wir auch eine Wohngeldallianz.
({3})
- Wir bringen die Reform auch auf den Weg. Was haben
Sie überhaupt? Die Koalition hat im Oktober mit ihrer
Arbeit begonnen, und Sie wollen, daß praktisch schon
jetzt, Ende Januar, alles erledigt ist, was wir uns für vier
Jahre vorgenommen haben. Also bitte langsam: erst
brauchen wir die Knete, und dann wird Ihnen das Konzept vorgelegt.
({4})
Sie hatten sich schon vor vier Jahren im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, diese Aufgabe anzugehen.
Aber Sie haben es in den gesamten vier Jahren nicht geschafft. Und jetzt meckern Sie, daß wir in vier Monaten
Ihnen die Dukaten noch nicht auf den Tisch gelegt haben.
({5})
Sie sind an der Finanzierung gescheitert. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, Sie wissen es
selbst genau: Die 250 Millionen DM, die Sie, Herr
Oswald, seinerzeit jeweils für Bund und Länder von
Waigel kurz vor der Wahl bekommen haben, hätten bei
weitem nicht für eine Reform ausgereicht. Nur ein Jahr
vorher - Herr Kansy hat es eben bestätigt - hatte das
Bauministerium 1,6 bis 1,8 Milliarden DM Mehrausgaben jeweils von Bund und Ländern für notwendig gehalten, um das Leistungsniveau von 1990 wieder zu erreichen.
Sie haben uns im letzten Jahr keinen Gesetzentwurf
vorlegen können. Sie haben für diese 250 Millionen DM
noch nicht einmal einen Kabinettsbeschluß zuwege gebracht. Wovon reden Sie jetzt? Wieso blasen Sie die
Backen so auf?
({6})
Da ist es nun wirklich ein bißchen dreist, wenn Sie behaupten, wir hätten uns seinerzeit einem soliden Reformvorschlag verweigert. Fakt ist, daß Sie es einfach
nicht hinbekommen haben.
Sie haben uns nicht nur ein Problem beim Wohngeld,
sondern auch sonst einen riesigen Berg von Problemen
hinterlassen; da sollten Sie endlich ehrlich sein. Wir sind
dabei, die Ärmel aufzukrempeln, um diesen Reformstau
zügig abzuarbeiten.
Wir werden gemeinsam mit den Kolleginnen und
Kollegen von der SPD und mit Minister Müntefering
diesem Haus in den nächsten Monaten einen Gesetzentwurf vorlegen. Die Wohngeldreform wird nach Möglichkeit noch in diesem Jahr, spätestens aber zum 1. Januar 2000, in Kraft treten.
({7})
Diese Koalition wird im Unterschied zu Ihnen ihr
Wahlversprechen auch erfüllen. Deswegen ist es wirklich ein bißchen kindisch, daß Sie meinen, jetzt das
Hemd wechseln und sich als völlig unschuldig hinstellen
zu können. Sie können jetzt nicht so tun, als hätten Sie
für die Probleme in den letzten Jahren keine Verantwortung gehabt.
({8})
Ich komme nun zu den konkreten Aufgaben. Bei den
wichtigsten Zielen sind wir uns, wie ich denke, einig;
deswegen will ich sie nur kurz anreißen.
Das Wohngeld für die Tabellenwohngeldempfänger
muß angehoben werden, um zu verhindern, daß einkommensschwache Haushalte durch unzureichende Hilfen entweder an den Rand der Armut gedrängt werden
oder, was zur Zeit das große Problem ist, in die Sozialhilfe hineinkommen. Deswegen haben wir den Widerspruch, daß wir zum Teil mehr Wohngeld brauchen, als
notwendig wäre, wenn wir ein besseres, stabileres Tabellenwohngeld hätten. Daher sind für uns gerade die
Entlastung von Haushalten an der Grenze zur Sozialhilfe
und von Familien mit Kindern sowie die Wohnkostenentlastung für alleinerziehende Eltern zentrale Aufgaben
bei der Wohngeldreform.
Die Miethöchstbeträge müssen nach der regionalen
Mietentwicklung differenziert werden. Auch in Ostdeutschland muß der realen Mietentwicklung Rechnung
getragen werden. Wir wollen ein einheitliches Wohngeld in Ost und West, was das Leistungsniveau, die regionale Differenzierung und die Ermittlung des Wohngeldanspruchs angeht. Allerdings - das sage ich in
Richtung PDS - bitten wir Sie, in Ostdeutschland nicht
falsche Hoffnungen zu wecken und dort besonders zu
trommeln, weil wir alle wissen - darüber bestand bereits
in der letzten Legislaturperiode Einigkeit -, daß die
Wohngeldreform im wesentlichen von dem Ziel ausgeht,
das Wohngeld West in Ostdeutschland durchzusetzen.
Man darf in Ostdeutschland keine Hoffnungen wecken,
die hier im Hause niemand erfüllen könnte, egal, zu
welcher Partei und Fraktion er gehört.
Vereinfachung des Bezugs von Wohngeld, mehr
Durchschaubarkeit, Verwaltungsvereinfachung - auch
das sind wichtige Ziele. Wir stimmen in einer Reihe von
Punkten dem zu, was im Antrag der CDU steht, beispielsweise dem, daß die Einkommensermittlung den
Einkommensgrenzen nach § 25 des Wohnungsbaugesetzes entsprechen muß und daß der Verwaltungsaufwand
reduziert werden muß. Das sind alles Punkte, bei denen
weitgehend Einigkeit besteht.
Ein schwieriges Thema - Herr Spanier hat es angesprochen - ist eindeutig der Umgang mit dem pauschalierten Wohngeld. Sie haben sich in Ihren Anträgen dafür ausgesprochen, das Wohngeld in Höhe des Tabellenwohngeldanspruchs zu kappen. Ich muß sagen, daß
wir über diesen Punkt sicherlich noch sehr genau nachdenken werden und prüfen müssen, wie wir damit umgehen.
Es ist richtig, daß die Ausgabendynamik beim pauschalierten Wohngeld die öffentlichen Haushalte wirklich mehr und mehr überfordert. Die Zahlen dazu: Seit
1991 sind die Wohngeldausgaben von Bund und Ländern zusammen von 4,57 Milliarden DM auf ungefähr
7,7 Milliarden DM angewachsen; sie sind in diesem
Zeitraum also um mehr als 3 Milliarden DM angestiegen. In Westdeutschland fließen mittlerweile 80 Prozent
der Wohngeldausgaben in das pauschalierte Wohngeld;
insofern müssen wir uns dem Problem nähern.
Ich sage das mit aller Vorsicht, weil klar ist: Wir
müssen diese Ausgabendynamik auf der einen Seite
bremsen; wir können aber auf der anderen Seite den finanziell stark überlasteten Kommunen die Kosten der
steigenden Armut nicht einfach überbürden. Wir müssen
das Thema Sozialhilfe insgesamt behandeln. Deswegen
müssen wir gemeinsam mit den Städten und Gemeinden
Wege finden, wie in unserem Bereich preiswerter
Wohnraum verstärkt zur Verfügung gestellt werden
kann. Wir müssen auch in anderen Bereichen der steigenden Armut in den Städten begegnen. Allein über eine
Veränderung des Wohngeldrechts ist das nicht möglich.
So einfach werden wir das Problem nicht lösen.
Ich bitte, daß wir darum gemeinsam ringen und daraus kein Hickhack machen. In diesem Sinne möchte ich
gern das Angebot von Ihrer Seite für eine Wohngeldallianz annehmen.
Wir sagen klar - wir wollen nicht mit falschen Karten
spielen -: Eine Wohngelderhöhung, die das Leistungsniveau von 1990 noch einmal wiederherstellt, können
auch wir nicht so einfach versprechen. Das wissen wir.
Sie sind daran gescheitert. Wir wollen es in dieser Form
gar nicht erst öffentlich versprechen, wir wollen nicht
mit den Hoffnungen der Bürger spielen und falsche Ankündigungen machen.
Der Mieterbund hat - natürlich aus seiner Sicht - als
Zielzahl 1,5 Milliarden DM genannt; davon müßte die
Hälfte von Bund und Ländern getragen werden. Ich
denke, daß das Mehrausgaben in einer Größenordnung
sind, die wir anstreben. Ob uns das ganz gelingen wird,
können wir heute ehrlicherweise noch nicht sagen; aber
wir bemühen uns nach Kräften, diese Finanzierung zu
ermöglichen.
({9})
- Nun machen Sie doch wirklich einmal halblang!
({10})
Ich wiederhole das, womit Herr Kansy mich schon
zitiert hat: Ich habe immer zu denjenigen gehört - auch
in der letzten Legislaturperiode -, die gesagt haben, es
gehe nicht einfach darum, im allgemeinen Haushalt
Geld zu suchen. Wir können die öffentlichen Haushalte
nicht uferlos strapazieren; vielmehr habe ich mich immer dafür eingesetzt, die Prioritäten im Baubereich neu
zu setzen, so daß die sozialpolitisch wirklich entscheidenden Pflichtaufgaben vor der Kür kommen. Dafür haben Sie mich immer ausgelacht.
({11})
- Danke, Herr Kansy. Das nehme ich gerne zur Kenntnis. - Ich wünschte, Sie hätten dem schon in der letzten
Legislaturperiode zugestimmt. Wenn das geschehen wäre, dann wären wir vielleicht ein Stück weiter.
({12})
Ich habe mich immer für die Kappung der Einkommensgrenzen bei der Eigenheimzulage ausgesprochen.
Dieses Thema ist bei Ihnen von der Opposition eine heilige Kuh. Wir als Grüne sagen - wir wünschten uns, wir
würden in dieser Frage die Unterstützung der F.D.P. bekommen -: Das ist für uns ein Stück Subsidaritätsprinzip. Der Staat soll denjenigen helfen, die sich aus eigener Kraft wirklich nicht helfen können.
({13})
- Danke für Ihren Applaus. - Für den Baubereich heißt
das, daß diejenigen, die ihr Haus aus eigenen Mitteln
bauen können, keine Subventionen vom Staat brauchen.
({14})
Von daher haben wir einen Finanzierungsvorschlag, und
wir arbeiten daran, ihn umzusetzen.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Es liegen gewisse
Unterschiede zwischen Ihrer Wohngeldkonzeption und
dem, was wir von der Koalition durchzusetzen versuchen - Ziele, die mir als grüner Baupolitikerin besonders
wichtig sind. Es geht nicht einfach um mehr Geld, Herr
Kansy; so, wie Sie es sagen, ist es zu einfach. Es geht
darum, daß das Wohngeld eine andere Funktion in einer
neu austarierten Wohnungspolitik bekommt.
Ihre Strategie ist bisher das Setzen auf eine Wirtschaftswachstumspolitik gewesen, nach dem Motto:
Gönnen wir doch den Eigentümern ständig mehr Mietsteigerungen; der Staat wird dann sozialpolitisch das abfedern, was nicht mehr sozial verträglich zu bezahlen ist.
Insofern ist es eine Spirale von steigenden Mieten und
von steigenden Ausgaben für das Wohngeld. Wir alle
wissen, daß wir so nicht weiter machen können. Deswegen muß auch in diesem Bereich die Politik von
Wachstumspolitik auf Sparpolitik umsteigen.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kansy?
Ja.
Frau Kollegin
Eichstädt-Bohlig, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß es auch uns nicht allein um mehr Geld geht?
Wir haben aber in Erinnerung behalten, daß Sie die
250 Millionen, die letztes Jahr eingestellt waren, höhnisch zurückgewiesen haben - nicht Sie persönlich, sondern insbesondere die Sozialdemokraten -, weil das viel
zuwenig sei. Denn sonst hätten wir in diesem Jahr nicht
allein 4,35 Milliarden DM auszugeben - die wären
schon längst unter den Leuten -, wir hätten vielmehr den
Ansatz einer Novelle durchgesetzt.
Herr Kansy, Sie haben uns einen Antrag
vorgelegt. Wenn Sie ihn mit ein paar Zahlen belegt hätten, dann wären Sie dahin gekommen, daß Sie dafür die
1,6 Milliarden DM, die seinerzeit Herr Töpfer ausgerechnet hat, dringend brauchen. Zu den 250 Millionen
DM in diesem Antrag kann ich nur sagen: Das ist ein
Witz, das genau ist der Widerspruch in der Sache. Ich
habe tief durchgeatmet, als ich gesehen habe, daß Sie
jetzt auf die PDS-Methode umsteigen, nämlich Forderungen, Forderungen, Forderungen stellen, und die Finanzierung nachher - null! Nicht einmal die 250 Millionen DM haben Sie hineingeschrieben. Herr Kansy, so
sollten Sie nicht Opposition machen. Wir haben früher
immer gesagt, wie wir unsere Forderungen finanzieren.
({0})
Das ist einfach nur ein guter Rat von Kollegin zu Kollege; ich lache Sie dabei gerne an.
({1})
Lassen Sie mich daran folgendes anschließen: Die
F.D.P. treibt es noch toller. Die Partei, die am meisten
Steuersenkungen verspricht, die den Abschied von sozialstaatlichen Wohltaten predigt, legt uns einen Vorschlag
vor, bei dem Kollege Thiele eigentlich blaß werden müßte.
({2})
Die Mietobergrenzen sollen an die Marktmieten angepaßt werden, sie wollen ein pauschaliertes Wohngeld für
Studenten neu einführen und der einzige Finanzierungsvorschlag, den Sie machen, ist die Einsparung von ein
paar Mark an Verwaltungskosten. Demnächst sollen wir
also irgendwelche Roboter hinstellen, die das Wohngeld
auszahlen.
({3})
- Das stimmt. Lesen Sie sich Ihren Antrag durch, und
halten Sie den gegen die 30 Milliarden DM an Steuersenkungen, die Sie gleichzeitig versprechen. Bei der
Kombination, der Steuersenkung und der Wohngeldanhebung, sollten Sie einmal ins Grübeln kommen.
({4})
- Sie hoffen darauf, daß über die Steuersenkungen hier
auf einmal der Goldsegen wieder hereinkommt.
Es tut mir leid, ich habe das Gefühl, daß die schwarzgelbe Opposition zunehmend von der PDS lernt, nämlich maximale Forderungen bei minimalen Finanzierungsvorschlägen. Da erwarte ich eine neue Form von
Opposition.
({5})
- Wir haben vor Weihnachten Ihren Antrag hier zur
Diskussion gehabt. Er entsprach dem, was die F.D.P.
jetzt vorgelegt hat: Enorme Forderungen, beim Wohngeld Ost noch weitere Steigerungen, das Ganze nur als
Inflationsausgleich praktisch im Vorgriff auf eine
Wohngeldreform. Das war sensationell. Als wir dann die
Finanzierung suchten, war wieder Null ouvert. Gucken
Sie sich also Ihren Antrag an. Deswegen haben wir ihn
vor Weihnachten schlichtweg ablehnen müssen. Es ist
doch albern, daß wir als Opposition vier Jahre um das
Geld ringen, und die heutige Opposition einfach sagt:
Macht alles, aber für keinen Groschen Geld. So darf
man keine Oppositionspolitik betreiben, das ist jedenfalls unser Prinzip.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluß kommen - wir bleiben
da unterschiedlicher Meinung. Für uns gilt der Grundsatz: Die Sicherung bezahlbaren und menschenwürdigen
Wohnens zählt zu den Kernelementen des Sozialstaats.
Wir wollen, daß das so bleibt; gerade deswegen brauchen wir Reformen und setzen uns dafür als rotgrüne
Koalition ein.
Wir wollen eine soziale Wohnungspolitik, die über
das Jahr 2000 hinaus Bestand hat und auch bei knappen
Kassen funktioniert, die hilft und nicht darauf wartet,
daß sie ständig weiter wachsende Gelder vom Staat
braucht. Das heißt genau, daß wir uns nicht nur für das
Wohngeld einsetzen, sondern parallel dazu auch für die
Dämpfung der Mietpreisentwicklung. Sie kann nicht
ins Uferlose steigen, wenn die Einkommen nur wenig
steigen. Wir setzen uns dafür ein, preiswerte Wohnungen zu erhalten, insbesondere dafür, daß die Kommunen
ihre Wohnungen nicht verkaufen müssen, sondern
preiswerte Wohnungen, speziell für Sozialhilfeempfänger, zur Verfügung stellen können.
Insofern ist das Wohngeld ein Baustein einer Wohnungspolitik, die insgesamt in Richtung Erhaltung von
bezahlbaren Wohnungen umsteuert. In diesem Sinne
freuen wir uns, wenn Sie in diese Allianz einsteigen. Ich
hoffe daher auf die Unterstützung auch der Opposition.
Wir werden die Finanzen finden, aber in dem Maße, in
dem es verantwortbar ist.
({7})
Bevor ich die
nächste Rednerin aufrufe, möchte ich Ihnen zwei Ergeb-
nisprotokolle der Wahlen mitteilen, zunächst von der
Wahl des Wahlausschusses gemäß § 6 Abs. 2 des Ge-
setzes über das Bundesverfassungsgericht.*)
Abgegebene Stimmen 654. Keine ungültigen Stim-
men; 1 Stimmenthaltung.
Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Wahl-
vorschlag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses
90/Die Grünen 339 Stimmen, auf den der Fraktionen
von CDU/CSU und F.D.P. 282 Stimmen und auf den der
Fraktion der PDS 32 Stimmen.
Nach dem Höchstzahlverfahren d'Hondt entfallen auf
den Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen 7 Mitglieder, der Fraktionen
der CDU/CSU und der F.D.P. 5 Mitglieder und der
Fraktion der PDS kein Mitglied.
Nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfas-
sungsgericht sind die Mitglieder in der Reihenfolge ge-
wählt, in der ihre Namen auf dem Wahlvorschlag er-
scheinen. Die Namen der gewählten Mitglieder entneh-
men Sie bitte der Drucksache 14/329; ich lese sie jetzt
nicht mehr vor.
Wir kommen jetzt zum Protokoll der Wahl der Mit-
glieder des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2
der Bundeshaushaltsordnung. Mitgliederzahl 669.
Abgegebene Stimmen 655, davon gültig 654. Es gab al-
so eine ungültige Stimmkarte, aber keine Enthaltun-
gen.**)
Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Dietmar Schütz ({0}) 571 Stimmen, auf
die Abgeordnete Uta Titze-Stecher 565 Stimmen, den
Abgeordneten Hans Georg Wagner 561 Stimmen, den
Abgeordneten Gunter Weißgerber 564 Stimmen, den
Abgeordneten Dietrich Austermann 558 Stimmen, den
Abgeordneten Kurt J. Rossmanith 561 Stimmen, den
----------
*) Liste der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 3
**) Liste der Teilnahmer an der Wahl siehe Anlage 4
Abgeordneten Adolf Roth ({1}) 572 Stimmen, den
Abgeordneten Oswald Metzger 572 Stimmen, den Abgeordneten Dr. Werner Hoyer 565 Stimmen und den
Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel 54 Stimmen.
Zur Wahl waren mindestens 335 Stimmen erforderlich. Die Abgeordneten Dietmar Schütz ({2}),
Uta Titze-Stecher, Hans Georg Wagner, Gunter Weißgerber, Dietrich Austermann, Kurt J. Rossmanith, Adolf
Roth ({3}), Oswald Metzger und Dr. Werner Hoyer
haben damit die nach § 10 a Abs. 2 BHO in Verbindung
mit § 4 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische
Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
erforderliche Mehrheit von 335 Stimmen erreicht. Sie
sind damit als Mitglieder des Vertrauensgremiums gewählt. Herzlichen Glückwunsch!
Jetzt können wir in der Debatte fortfahren. Frau Kollegin Ostrowski, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie ich festgestellt habe, habe
ich schon mindestens zwei Fans im Bundestag gewonnen, Herr Dr. Kansy. Na also!
Herr Dr. Kansy, meine Damen und Herren, was hier
gespielt wird, macht mich baff. Ich komme mir wie in
einer Komödie oder einem Drama vor; halten Sie es, wie
Sie wollen. Es ist derart verwunderlich, daß die alte Koalition, kaum daß sie abgewählt ist, das fordert, was sie
über Jahre hinweg selbst nicht auf die Reihe bekommen
hat. Das ist doch wohl die Wahrheit.
Bei der nagelneuen Koalition passiert das gleiche: Sie
wehrt sich umgekehrt mit mehr oder weniger intelligenten Sprüchen gegen genau jene Forderungen, die sie
selbst jahrelang erhoben hat.
({0})
Herr Spanier, Ihre Rede war vom Sachstand und von
der Analyse her vollkommen in Ordnung. Aber geben
Sie doch wenigstens zu, daß Sie um konkrete Aussagen
zur Finanzierung und zum Termin ganz schön herumgeeiert sind. Ihr Fazit war, daß Sie darauf hoffen, daß die
Regierung zu einer Wohngeldnovelle kommt. Auch
das, was Frau Franziska Eichstädt-Bohlig in bezug auf
die konkreten Fragen Termin und Finanzierung geboten hat, war zwar ein bißchen mehr, aber es hielt sich
durchaus in Grenzen.
Meine Damen und Herren, rufen wir uns einmal ins
Gedächtnis: Es geht beim Wohngeld um weit über 2
Millionen Menschen in diesem Land. Da verbietet sich
ein politisches Schmierentheater, von welcher Seite auch
immer. Es verbieten sich auch - das sage ich an die
Adresse der neuen Regierung - irreführende Selbstlobe.
Herr Dr. Kansy hatte es angeführt, daß der Wohnhaushalt in Wirklichkeit niedriger liegt, als er von der alten
Koalition veranschlagt wurde. Es verbietet sich auch zu
behaupten, der Wohngeldetat sei um 500 Millionen DM
aufgestockt worden. Darüber wurde schon gesprochen;
jedes Kind weiß, daß durch diese 500 Millionen DM im
Endeffekt keine müde Mark mehr den Wohngeldempfängern zur Verfügung steht, da hierdurch nur die normale Kostensteigerung abgedeckt wird.
Nun gebe ich ja zu, daß es die PDS ein wenig leichter
hat. Sie ist weder in der Situation der ehemaligen noch
in der der neuen Regierung. Vielleicht kommen wir aber
im Jahre 2002 in eine Situation, die uns an einer Koalition teilhaben läßt.
({1})
Die Frage wäre, wie wir uns dann verhalten würden. In
der Vergangenheit hatten wir jedenfalls solche Verrenkungen nicht nötig. Diese würden auch bei uns nicht
auftreten, jedenfalls solange ich Einfluß in einer entsprechenden Funktion in dieser Partei habe.
Um einmal aus unserem Innenleben zu plaudern: Bei
uns gab es durchaus Streit, ob wir fundamentalistisch
auf einer gesamtdeutschen Wohngeldregelung bestehen
sollten, von der wir wußten, daß sie unter der alten Regierung weder durchsetzbar noch finanzierbar war, oder
ob wir nicht lieber, die sogenannten Sachzwänge
- schönen Gruß an die Grünen - berücksichtigend, eine
pragmatische Regelung wenigstens für den Osten favorisieren sollten. Wir haben, wenn Sie sich erinnern, uns
immer für eine gesamtdeutsche Regelung entschieden,
auch wenn Sie uns immer wieder eine einseitige, streng
populistisch ausgerichtete Ostvertretung angekreidet haben. Auch beim Wohngeld entspricht das nicht den Tatsachen.
Wie auch immer, ich komme jetzt zum Antrag und zu
den Forderungen der Union. Auf den ersten Blick erscheinen diese vernünftig. Die Vernunft besteht darin,
daß Sie im Kern genau das fordern, was auch wir über
Jahre immer wieder eingefordert haben - an dieser
Stelle müßte jetzt eigentlich „Langanhaltender stürmischer Beifall“ stehen -,
({2})
nämlich Anpassung von Einkommensgrenzen und
Miethöchstbeträgen an die Einkommens- und Mietentwicklung, familiengerechte Regelungen, Vereinheitlichung der Regelungen im gesamten Bundesgebiet, Vereinfachung und Harmonisierung der Gesetze und
Rechtsvorschriften usw.
Nun komme ich zu dem Scheinbaren; dabei sehe ich
darüber hinweg, daß Ihr Text recht lieblos zusammengebastelt wurde. So fordern Sie in späteren Ausführungen etwas, was Sie bereits zu Anfang abgearbeitet haben, so begründen Sie Ihre Initiative mit Fakten, die
Ergebnis Ihrer eigenen Politik sind, und Ihr Gejammer,
die SPD habe im Bundesrat ein wunderbares Reformprojekt der alten Regierung verhindert, ist lachhaft und
unseriös. Nach den nun schon zum Ritual gewordenen
jährlichen Ankündigungen von Herrn Töpfer hatte Ihr
letzter Bauminister schließlich kurz vor Ultimo ein
Angebot unterbreitet, das in fast allen Punkten Ihren
heutigen Forderungen wirklich Hohn spricht. Da kann
ich, ob es nun den rotgrünen Kollegen paßt oder eher
peinlich ist, sie nur in Schutz nehmen. Denn nun, wo
Sie nicht mehr an der Regierung und damit außerstande
sind, Ihre Forderungen durchzusetzen, sind Sie so tollkühn - das ist der trügerische Schein, der hinter Ihrem
Antrag steht -, ein Paket anzumahnen, das vorzulegen
sich selbst die PDS - jedenfalls nicht in einem Schritt getraut hätte.
({3})
Sie erinnern sich, wir hatten im Vorgriff auf eine gesamtdeutsche Wohngeldregelung gefordert, die Einkommensgrenzen zu senken, und hatten dazu auch einen
Finanzierungsvorschlag gemacht. Sie, Frau EichstädtBohlig, sollten den Antrag wirklich noch einmal lesen,
denn Sie hatten ihn abgelehnt. Heute verstehe ich das:
Vielleicht wollten Sie uns in der Oppositionsarbeit
übertrumpfen.
Abgesehen davon, daß Sie uns immer die Situation
während der 40 Jahre der DDR vorgeworfen haben, haben Sie uns auch immer die Unfinanzierbarkeit unserer
Entwürfe vorgeworfen. Heute kommen Sie mit genau
den gleichen Forderungen, die Sie, wenn sie von uns
kamen, immer abgelehnt haben.
({4})
Wenn man nämlich die Punkte in Ihrem Antrag wirklich
ernst nimmt, stellt man fest, daß das ein Finanzvolumen
von deutlich mehr als 1,5 Milliarden DM erfordern würde. Das wissen Sie ganz genau. Sie wissen auch ganz
genau, daß Sie das nicht auf die Reihe bekommen hätten
und daß es unter den heutigen Bedingungen überhaupt
nicht zu verwirklichen ist.
Das ist der trügerische Schein. Sie können Ihre
Punkte in Wirklichkeit gar nicht ernst nehmen. Es ist
wirklich süß, wie Sie die schwierigen Klippen eines Finanzierungsvorschlags umgehen, indem Sie keinen eigenen Gesetzentwurf anbieten, sondern einen solchen
von der Regierung verlangen.
Wenn man hinter diesen Schein guckt, kommt man
auf den eigentlichen Hinterhalt. Das hat schon Herr
Spanier angeführt. Die F.D.P. schließt sich da an. Sie
wollen offensichtlich das pauschalierte Wohngeld kürzen. Das heißt, Sie wollen bei den Allerschwächsten
kürzen. Ich weiß auch, warum: weil in Ihrem Hinterkopf
immer die Sozialschmarotzerstory von Sozialhilfeempfängern steckt, die sich en masse quasi in den teuersten
Luxuswohnungen aufhalten und sich das vom Staat bezahlen lassen. Völliger Unsinn! Völliger Schwachsinn!
({5})
Das entspricht nicht der realen Situation. Wir wollen
nicht vergessen: Daß es so viele Sozialhilfeempfänger
gibt und daß die Ausgabensteigerungen beim Wohngeld
fast ausschließlich auf das Pauschalwohngeld zurückgehen, hat doch wohl etwas mit Ihrer Politik zu tun.
({6})
Wenn Sie denken, daß man das Problem bewältigen
kann, indem man einfach das pauschalierte Wohngeld
kürzt, damit die Ausgaben erträglich werden, so ist das
der falsche Weg. Sie haben versäumt, so Politik zu maChristine Ostrowski
chen, daß Arbeit geschaffen wird und die Zahl der Sozialhilfeempfänger zurückgeht, damit das Wohnen wieder bezahlbar wird, und zwar nicht indem der Staat subventioniert, sondern weil der einzelne selbst in der Lage
ist, seine Wohnung zu bezahlen.
({7})
Bei der Vorlage der Union lugt aus jedem Knopfloch,
daß Sie die neue Regierung mit Forderungen aus ihrer
Oppositionszeit vorführen wollen, um deren schwierige
Finanzierbarkeit Sie nach 16 Jahren Regierungszeit zuallererst wissen müßten. Sie buhlen populistisch um
Stimmen. Die Hessenwahl steht vor der Tür.
({8})
Das haben Sie selber heute mehrmals angeführt. Dabei
setzen Sie auf die Vergeßlichkeit der Betroffenen. Aber
der Trick, einer neuen Regierung ihre alten Forderungen
vorzuhalten, ist ein alter Hut. Wir haben uns in der PDSFraktion gerade verständigt, daß es nun mit solchen
Späßen genug sein muß.
({9})
Ich kann Ihnen das nur anempfehlen. Wir werden unsere
eigenen Vorstellungen erarbeiten und hier vorlegen, unabhängig davon, was andere Fraktionen bisher angeboten haben oder aktuell anbieten. Sollten sich Gemeinsamkeiten ergeben: Um so besser! Das erhöht die
Chance, sie umzusetzen.
Zur F.D.P.-Vorlage nur eine Bemerkung. Zur Finanzierung hatte Frau Eichstädt-Bohlig schon etwas angedeutet. Da wundere ich mich bei der F.D.P. ganz besonders. Denn Sie nehmen an, daß der Abbau bürokratischer Regelungen, für den wir sehr sind, irgendeine
Auswirkung auf den Wohngeldetat hätte, der fast 8 Milliarden DM beträgt. Das ergibt eine derart marginale
Größe, daß ich mich halb totlachen kann.
({10})
Sie von der F.D.P. waren immer als die besten Rechner,
die besten Wirtschaftler angetreten. Das ist also wirklich
unter Niveau.
Wenn wir beim Wohngeld SPD und Grüne kritisieren, dann mit der Absicht, ihnen den Rücken zu stärken,
({11})
damit sie das anpacken, was erforderlich ist, was auch
von beiden immer wieder gefordert wurde und was von
diesen Parteien nun unter schwierigen Rahmenbedingungen umgesetzt werden muß.
({12})
Bei Ihnen spürt man diesen Willen gerade nicht.
Frau Kollegin
Ostrowski, ich muß Sie auf die Zeit hinweisen. Sie reden
zwar ganz schnell, aber trotzdem ist die Zeit schon abgelaufen.
Ich bin sofort am
Schluß. - Das hindert uns trotzdem nicht daran festzustellen: Die Kernpunkte haben Sie richtig benannt, wenn
auch spät, egal aus welchem Motiv. Sie entsprechen unseren Vorstellungen. Wir können also versuchen, im
Ausschuß - vielleicht gelingt es - in einer großen Wohnungskoalition die Versäumnisse der letzten neun Jahre
möglichst schnell aufzuarbeiten.
Letzte Bemerkung.
Nein, das war
doch schon ein schöner Schlußsatz.
Wohngeld ist nur ein
Punkt. Wir brauchen eine Reform im gesamten Wohnungs- und Bauwesen.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Renate Blank.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Rede der Kollegin von der PDS
zeigt, daß sie aus der Kaderschmiede der SED kommt,
und berücksichtigt keinesfalls, daß wir die Folgelasten
der SED seit 1990 zu beseitigen haben. Ich bezeichne
ihre Rede als nahezu unverschämt.
({0})
Es ist eindeutig festzustellen, Kollegen und Kolleginnen von der SPD, daß der Haushaltsansatz der Bundesregierung niedriger ist als der Haushaltsentwurf der alten
Bundesregierung vom vergangenen Jahr. Entgegen den
großspurigen SPD-Wahlkampfversprechungen kommt
es jetzt doch nicht zu grundlegenden Verbesserungen
beim Wohngeld.
Vier Monate nach der Bundestagswahl wird damit
eine weitere Wählertäuschung ganz klar sichtbar. Zur
Erinnerung: Im Frühjahr 1998 lehnte die SPD das Angebot unseres damaligen Wohnungsbauministers Eduard
Oswald
({1})
für eine Wohngeldanpassung als unzureichend ab. Dieses Angebot von Eduard Oswald war gut und verdient
auch heute noch ein Dankeschön, insbesondere im Interesse unserer Familien.
({2})
Nun aber verweigert sich der Finanzminister Oskar
Lafontaine der sozial geforderten Fortschreibung des
Wohngeldes ganz und gar.
({3})
Hätte die SPD damals die von Eduard Oswald gereichte
Hand ergriffen, wäre eine Verbesserung des Wohngeldes zugunsten von Mietern längst unter Dach und Fach.
So aber sind die einkommensschwächeren Mieter die
Geprellten.
Ich bedaure es sehr, daß wir durch das Verhalten der
SPD und insbesondere der rotgrün regierten Bundesländer bei der Wohngeldreform im letzten Jahr nicht weitergekommen sind, obwohl die Notwendigkeit und die
Ziele dieses Reformvorhabens von niemandem bestritten
wurden, auch von Ihnen nicht.
({4})
Sie alle wissen, daß Eduard Oswald nach seinem
Amtsantritt im Januar 1998 alle notwendigen Maßnahmen ergriffen hat, um die dringend erforderliche Wohngeldnovelle umzusetzen. Allein aus wahltaktischen
Gründen haben Sie dies damals verhindert und haben
damit zu Lasten der Wohngeldbezieher gehandelt. Dies
kann man Ihnen im übrigen nicht oft genug sagen; denn
Sie könnten ja besser handeln und Ihre Wahlversprechungen einlösen.
Minister Müntefering, der leider nicht anwesend ist,
hat vor dem Ausschuß am 18. November erklärt - mit
Erlaubnis zitiere ich jetzt -:
Wohngeld ist das wohnungspolitische Instrument,
wenn es darum geht, einkommensschwächeren Haushalten ein bedarfgerechtes Wohnen zu ermöglichen.
Das wäre natürlich richtig.
({5})
Aber wo bleibt der entsprechende Gesetzentwurf, der
die Miet- und Einkommensentwicklung berücksichtigt,
die Familien treffsicherer unterstützt und ein gerechtes
Wohngeld für Ost und West schafft?
({6})
Dies sind ebenfalls seine Worte.
Substanzlose Ankündigungen oder geringe Wohngelderhöhungen reichen nicht. Zehntausende betroffene
Mieter - allein in Bayern sind dies 240 000 Haushalte wollen endlich Sicherheit über Zeitpunkt und Volumen
der von Rot-grün im Wahlkampf wortreich versprochenen Wohngelderhöhungen. An diesen milliardenschweren Versprechungen müssen Sie sich jetzt messen lassen. Sie haben ja im Wahlkampf versprochen, die Haushaltsansätze in Bund und Ländern um insgesamt 1,5
Milliarden DM aufzustocken und dies mit einer Strukturnovelle des Wohngeldgesetzes zu verbinden.
Nochmals zur Erinnerung: Bei dem Vorstoß des früheren Bauministers Eduard Oswald hätte es immerhin
eine materielle Verbesserung bei allen Beziehern von
Tabellenwohngeld gegeben, weil auch die Einkommensgrenzen damals angehoben werden sollten. - Ich
sehe leider die Kollegin Anke Fuchs nicht, die Präsidentin des Deutschen Mieterbundes ist.
({7})
Ich kann Ihnen
mitteilen: Die Frau Kollegin Fuchs ist im Ältestenrat.
Das ist wohl eine gute Begründung.
Kein Problem, verehrte
Frau Präsidentin. - Der Deutsche Mieterbund müßte
sich eigentlich betrogen fühlen. Ich habe mich gefragt,
wo sein Aufschrei bleibt. Denn die Frau Kollegin Fuchs
hätte als dessen Präsidentin die Gelegenheit gehabt, innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion auf das Tempo zu
drücken und ihre Kollegen nochmals darauf hinzuweisen, daß eine Wohngeldnovelle oberste wohnungspolitische Priorität genießen muß, und zwar ganz besonders
im Interesse unserer Familien und einkommensschwachen Haushalte. Außerdem dient ein höheres Wohngeld
auch dazu, die infolge der geplanten Ökosteuer zu erwartenden höheren Wohnkosten abzufedern. Der Mieterbund spricht von zirka 150 bis 250 DM pro Jahr und
Wohneinheit.
Mit unserem Antrag fordern wir von der Bundesregierung eine Anpassung der Einkommensgrenzen und
der Miethöchstbeträge, bis zu denen Wohngeld gewährt
werden kann. Außerdem - davon bin ich überzeugt - ist
das Wichtigste bei einer Wohngeldreformierung eine
familiengerechte Anpassung, in die auch die angemessene Versorgung von Kindern mit Wohnraum durch eine
zusätzliche Kinderkomponente einzubeziehen ist.
Neben der Stärkung der Familienkomponente und einer Anhebung des Wohngeldes ist dringend auch eine
Vereinfachung des Wohngeldrechts erforderlich. Sie
könnten schnell handeln, denn die neue Bundesregierung braucht in der Wohngeldfrage das Rad nicht neu zu
erfinden. Eine Wohngeldstrukturreform ist nämlich bereits im Frühjahr 1998 vom damaligen Bundesbauminister Oswald und der alten Regierungskoalition im
Entwurf vorgelegt worden.
({0})
Dieser Entwurf war gut. Sie könnten ihn übernehmen
und, analog zu Ihrem Wahlversprechen, die Beträge
noch mehr erhöhen.
({1})
Damals wäre eine spürbare Leistungsverbesserung
um durchschnittlich 40 DM gegenüber dem durchschnittlichen Tabellenwohngeld von gut 140 DM erreicht worden. Dagegen ist Ihre Kindergelderhöhung eigentlich ziemlich wenig. Die 40 DM wären mehr gewesen als der Anstieg der Lebenshaltungskosten seit 1990.
Die SPD hat dies damals, zum Nachteil der Wohngeldempfänger, verhindert, und die Koalition zeigt bisher keinerlei Neigung, ihre Wahlversprechen einzulösen.
Sie müssen sich den Vorwurf der Wählertäuschung gefallen lassen.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Mertens.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Kansy, ich kann verstehen,
daß Sie verbittert sind. Sie haben gefragt, wie der Stellenwert des Baubereichs in der neuen Regierung ist. Ich
frage einmal zurück: Wie ist denn der Stellenwert Ihrer
Position in Ihrer Fraktion?
({0})
Diese Verbitterung scheint Sie auf jeden Fall zum Heißsporn gemacht zu haben. Wer weiß, wo das noch hinführt, wenn Sie Frau Eichstädt-Bohlig jetzt schon anlachen.
({1})
Herr Goldmann, ich würde Ihnen - weil Sie hier noch
neu sind und sehr engagiert gesprochen haben - wirklich
raten: Überprüfen Sie immer das, was Ihre Altvorderen
Ihnen sagen. Es ist nicht immer alles richtig, was sie sagen. Sie haben heute eine Menge Krokodilstränen vergossen. Die F.D.P. hat hier eine ganz schlechte Rolle gespielt, was das Wohngeld angeht.
({2})
Lassen Sie sich insofern von dem, was die Leute Ihnen
sagen, nicht beeindrucken.
Dann habe ich das Gefühl, daß eine Wette läuft, was
Herrn Oswald angeht, denn der Name ist so oft genannt
worden,
({3})
daß das eigentlich nichts mit der Leistung zu tun haben
kann, sondern eher so aussieht, als sollten Sie 20mal im
Protokoll stehen.
Zu Frau Ostrowski: Sie könnten zur Geldquelle werden, wenn man Sie beim Reden blitzen würde. In dieser
Geschwindigkeit habe ich wirklich noch keine Rede erlebt.
({4})
Wir haben heute ein ernstes Thema zu behandeln.
Nachdem die letzte Bundesregierung in den vergangenen Jahren eigentlich alles getan hat, um eine strukturelle Wohngeldnovelle zu verhindern, sind Sie plötzlich
ganz heiß darauf. Man wundert sich schon. Eines unterscheidet allerdings die heutige Situation fundamental
von der Situation in den vergangenen Jahren: Wir haben
uns mit unseren Anträgen zum Wohngeld jahrelang die
Zähne an der damaligen Bundesregierung ausgebissen,
während Sie mit einem Teil Ihrer Forderungen bei der
jetzigen Mehrheit offene Türen einrennen.
Es ist Recht und Pflicht der Opposition, die Regierung und die sie tragenden Fraktionen an ihre Koalitionsvereinbarungen zu erinnern. Was Sie heute machen, ist aber wirklich ein dreistes Stück; das muß man
wirklich sagen. Es ist auch ein bißchen Zeichen für den
Niedergang politischer Kultur, wenn Sie nach 100 Tagen von uns das fordern, was Sie in der gesamten vergangenen Legislaturperiode nicht zuwege gebracht
haben.
({5})
Wir benötigen von Ihnen keine Belehrung und müssen
von Ihnen auch nicht zum Jagen getragen werden; das
möchte ich hier sehr deutlich sagen. Wir werden hier im
Plenum noch in diesem Jahr eine Wohngeldnovelle diskutieren, mit der wir die Verwerfungen beim Wohngeld,
die Sie zu verantworten haben, in angemessener Weise
korrigieren werden.
({6})
Es ist schon sehr erstaunlich, was Sie hier vorgelegt
haben. Der nicht Kundige kann den Eindruck gewinnen,
als seien die früheren Regierungsfraktionen schon immer bemüht gewesen, die Situation der Wohngeldempfänger zu verbessern. Daß das Gegenteil der Fall ist,
beweist ein Blick in die Protokolle der zahlreichen Debatten, die wir hier in der vergangenen Legislaturperiode
geführt haben: Unsere Anträge sind immer abgelehnt
worden. Ich kann also nicht erkennen, daß Sie sich da
Beine ausgerissen haben.
Sie, lieber Dr. Kansy, sagen, die Bundesländer hätten
das Wohngeld gefordert. Ich kann Ihnen nur versichern:
Sie werden es auch jetzt fordern,
({7})
allerdings mit dem Unterschied, daß wir diesmal zum
Erfolg kommen werden.
Bei dem, was Sie in der letzten Legislaturperiode
gemacht haben, muß man Dichtung und Wahrheit auseinanderhalten. Der damalige Bauminister hat außer einem schmalbrüstigen Vorschlag, einem sogenannten
Zwergenvorschlag, der ersichtlich eine Halbwertszeit
von wenigen Tagen hatte, eigentlich nichts vorgelegt. Es
hat sich weder um einen ausformulierten Gesetzentwurf
geschweige denn um eine im Kabinett gebilligte Vorlage
gehandelt.
Wir haben im Ausschuß deshalb immer ein bißchen
scherzhaft von einem „virtuellen Gesetzentwurf“ gesprochen. Aber dieser „virtuelle Gesetzentwurf“ hat die
Druckerschwärze nicht erreicht. Insofern, denke ich,
sollten Sie da ein bißchen in sich gehen. So, wie Sie es
dargestellt haben, war es nicht.
Inhaltlich war der damalige Vorschlag schon deshalb
nicht diskutabel, weil er auf jegliche strukturelle Veränderung, die Sie heute verlangen, verzichtet hat und den
Problemen im Zusammenhang mit dem Wohngeldgesetz
überhaupt nicht gerecht geworden wäre.
Alles, was Sie in den heute vorliegenden Anträgen
fordern, geht meilenweit über den damaligen Vorschlag
hinaus, so beispielsweise eine Anpassung der Mietobergrenzen und der Einkommensgrenzen des Wohngeldgesetzes an die tatsächlichen Verhältnisse, wie die F.D.P.
sie fordert. Diese Anpassung wäre von dem Vorschlag,
den Sie immer zitieren, in keiner Weise gedeckt gewesen.
Die Forderung der CDU/CSU, das Wohngeldrecht in
Ost und West zu vereinheitlichen, ohne das geltende
Leistungsniveau in den neuen Ländern zu mindern, ist
vor dem Hintergrund der damaligen Forderung ebenfalls
eine reine Farce.
({8})
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte, Herr Dr. Meister.
Frau Kollegin
Mertens, der Kollege Spanier hat uns in seiner Rede
eben verkündet, daß wir noch in diesem Jahr über eine
Wohngeldnovelle diskutieren und eine solche auch verabschieden können. Sie haben eben angekündigt, wir
könnten noch in diesem Jahr über eine Wohngeldnovelle
seitens der Bundesregierung diskutieren. Mich interessiert nun: Haben Sie tatsächlich die Absicht, hier verbindlich kundzutun, daß die Bundesregierung vorhat, die
Novelle so zeitig vorzulegen, daß wir sie dieses Jahr
verabschieden können? Könnten Sie den Termin nennen, zu dem diese Novelle in Kraft treten soll? Denn das
Spannende für die Mieter draußen im Lande ist ja weniger, wann und wie lange wir hier diskutieren. Sie interessiert vielmehr, zu welchem Zeitpunkt eine solche Novelle in Kraft gesetzt wird. Können Sie uns und den Betroffenen draußen also einen konkreten Termin nennen,
zu dem ihnen endlich geholfen wird?
({0})
Herr Dr. Meister, den
Unterton in Ihrer Frage, wann den Betroffenen endlich
geholfen werde, können Sie sich wirklich schenken.
({0})
In den vergangenen neun Jahren haben Sie nämlich eine
Menge Möglichkeiten gehabt, das Wohngeld auch im
Tabellenbereich zu dynamisieren.
({1})
- Herr Goldmann, wir sind erst ein paar Monate im
Amt. Haben Sie etwas Geduld; ich werde in meiner Rede noch dazu kommen.
({2})
Herr Dr. Meister, Ihre Oppositionsrolle ist sehr schön.
({3})
Sie haben das auch unheimlich schnell gelernt. Das steht
Ihnen auch zu. Aber es ist wirklich - das muß ich noch
einmal sagen - ein dreistes Stück, was Sie hier machen:
Sie haben es bis jetzt nicht fertiggebracht, eine Wohngeldnovelle auf den Weg zu bringen, erwarten aber von
uns, daß wir das innerhalb kurzer Zeit schaffen. So,
denke ich, geht es nicht.
({4})
({5})
Ich will hier überhaupt nicht polemisieren, was die
Inhalte der Anträge angeht. Mir kommt auch unheimlich
vieles bekannt vor. Das müssen Sie uns schon zugestehen. Sie haben letztlich ja auch gnadenlos bei uns abgeschrieben.
({6})
- Das müssen Sie wirklich einmal kontrollieren. Wenn
Sie Oppositionsarbeit so verstehen, dann - ({7})
Mir kommt jedenfalls vieles sehr bekannt vor.
Ich will in Ihre Richtung, Herr Goldmann, noch einmal ganz deutlich sagen: Wenn Sie von der F.D.P. das
Ziel einer Wohngeldnovelle darin sehen, die Wohngeldausgaben vom pauschalierten Wohngeld zum Tabellenwohngeld zu verschieben,
({8})
dann werden Sie bei uns auf Granit beißen. Ein solcher
Vorschlag kann nur daraus resultieren, daß Sie überhaupt nicht wissen, was in den Städten und Gemeinden
eigentlich los ist.
({9})
Sie haben mit Ihrer Wirtschaftspolitik dafür gesorgt,
daß die Zahl der Sozialhilfeempfänger stetig gestiegen
ist.
({10})
Ihre Forderung spricht übrigens auch Bände hinsichtlich
Ihrer Verantwortung und Verankerung in den Städten
und Gemeinden.
Jetzt möchte ich bitte zu Herrn Meister, wenn er mir
sein Ohr leihen würde, noch etwas zur zeitlichen Perspektive sagen.
({11})
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Goldmann?
Ja.
Herr
Goldmann, bitte.
Liebe Frau
Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß
ich zum Beispiel Mitglied im Kreistag Emsland bin, in
einer Region, die es ganz sicherlich nicht besonders
leicht hat, Arbeitsplätze zu schaffen, daß dort die Ausgaben im Bereich der Sozialhilfe in den letzten beiden
Jahren erheblich zurückgegangen sind, was - nebenbei
gesagt - auch für den Landkreis Osnabrück-Land, wo
Sie die Mehrheit haben, zutreffend ist?
Können Sie mir also bitte einmal erklären, was Sie
mit dem eben vorgebrachten Vorwurf meinten, den Sie
an die F.D.P. richteten, wir plädierten dafür, wieder ein
rechtes Lot zwischen pauschaliertem Wohngeld und Tabellenwohngeld einzuführen?
Das habe ich überhaupt
nicht kritisiert; da haben Sie mich falsch verstanden.
({0})
Sie sollten genau hinhören. Es ist völlig klar, daß auch
wir meinen, das eine sei ausgerissen und das andere sei
nicht angehoben worden, aber wir kommen zu anderen
Beurteilungen. Wir kritisieren, daß auf Grund Ihrer
Politik die Zahl der Sozialhilfeempfänger gestiegen ist
und damit die Ausgaben für das pauschalierte Wohngeld.
Sie vermitteln den Eindruck, Sozialhilfeempfänger
wohnten in irgendwelchen Luxuswohnungen. Das ist
doch einfach nicht richtig.
({1})
Es gibt ganz eindeutig statistische Belege dafür, daß
Wohngeldempfänger - ob sie nun Wohngeld nach Tabelle oder pauschaliertes Wohngeld erhalten - eher in
kleineren Wohnungen wohnen, eher weniger Miete
zahlen. Sie sollten versuchen - ich denke auch, daß Sie
es können -, den Eindruck zu vermeiden, als wohnten
Sozialhilfeempfänger in irgendwelchen Luxuswohnungen.
({2})
Jetzt möchte ich etwas zum zeitlichen Hintergrund
sagen, weil ich meine, wir müssen hier ehrlich miteinander reden. Der Minister hat erklärt, daß er die Novelle
genauso für überfällig hält wie wir. Trotzdem plädiere
ich für etwas Geduld. Die Vorarbeiten für einen Gesetzentwurf werden einige Zeit in Anspruch nehmen. Meine
Erfahrungen aus der letzten Legislaturperiode - ich erinnere nur einmal an das Und-/Oder-Desaster beim
Mietenüberleitungsgesetz - haben mich nicht nur geduldiger, sondern auch wachsamer gemacht.
Zum einen werden wir im Ausschuß also sorgfältig
beraten müssen. Zum anderen befinden wir uns zur Zeit
haushaltstechnisch und steuerpolitisch in einer Übergangssituation, die hier wohl kaum näher erläutert werden muß und die für eine sachgerechte Diskussion über
das Wohngeld jedoch ausgesprochen schwierig ist. Auch
das wissen Sie natürlich. Deshalb reduziert sich die
Ernsthaftigkeit Ihrer Anträge enorm. Es geht Ihnen in
erster Linie eben nicht nur um eine gute Lösung des
Problems, sondern es geht Ihnen wohl eher um einen
Leistungsnachweis für Ihre Oppositionstätigkeit.
Sie sollten einmal in sich gehen und sollten darüber
nachdenken, was Sie in den letzten Jahren alles versäumt haben. Sie haben es in den letzten 9 Jahren jedenfalls nicht geschafft, das Wohngeld anzupassen. Sie erwarten aber nun von uns eine Lösung innerhalb weniger
Wochen. Es ist zwar das Recht der Opposition, dies zu
fordern. Aber Ihre Forderungen sind ziemlich dreist.
Sie träumen davon, daß wir, wie Sie in den letzten
Jahren, es nicht schaffen, ein substantiell und strukturell
tragfähiges Wohngeldgesetz vorzulegen und zu verabschieden. Ich sage Ihnen: Sie werden sich täuschen.
({3})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Hannelore Rönsch
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! So
ist das nun, wenn man zur Sache nichts zu sagen hat.
Man rettet sich in persönliche Angriffe, die bis ins Peinliche gehen. Ich darf Ihnen, Frau Kollegin Mertens, versichern: Unser Kollege Dr. Kansy genießt den Respekt
der Fachleute, und darauf sind wir stolz.
({0})
Sie haben von dem Niedergang der politischen Kultur
gesprochen, weil wir von Ihnen schon nach 100 Tagen
fordern, eine konkrete Wohngeldnovelle vorzulegen.
Ich kann mich noch gut an das erinnern, was heute
schon vielfach zitiert worden ist. Unser Kollege Großmann, der jetzt in einer anderen Funktion während der
Debatte sehr einsam auf der Regierungsbank saß,
({1})
hat im vergangenen Jahr in einem ersten Schritt eine
Wohngelderhöhung von 1 Milliarde DM und mit einem
weiteren Schritt insgesamt eine Wohngelderhöhung von
1,5 Milliarden DM gefordert.
({2})
Wenn Sie heute nicht in der Lage sind, nach der
Übernahme der Regierung die Zahlen zu berücksichtigen, die Sie damals eingefordert haben, dann muß ich
Sie fragen: Wie unvorbereitet sind Sie eigentlich in
diese Regierungsübernahme gestolpert? Haben Sie im
vergangenen Jahr immer Dinge eingefordert, ohne
überhaupt einmal 1 DM gegengerechnet zu haben? Das
kann doch wohl nicht sein! Ich habe angenommen, daß
das, was Sie im vergangenen Jahr wollten und den
Mietern versprochen haben, seriös gegengerechnet
war.
Die von Herrn Oswald angekündigte Erhöhung von
250 Millionen DM war Ihnen zu wenig. Mit dieser Meinung standen Sie nicht alleine da. Auch die sozialdemokratischen Länderminister drückten sich, ihre Kofinanzierung in Höhe von 50 Prozent aufzubringen. Deshalb
war man eigentlich ganz dankbar, als die sozialdemokratische Fraktion im Bundestag sagte: Diese Erhöhung
ist uns zu gering; wir wollen sie nicht.
Ich erwarte schon, daß vor einer Landtagswahl - ich
komme aus Hessen - anders gehandelt wird.
({3})
- Ich rede nicht deshalb, weil ich aus Hessen komme,
Frau Kollegin. Ich habe im Bereich des Wohnungsbaus
seit 16 Jahren ab und zu etwas sagen und tun können.
Ich fordere Sie auf, daß Sie vor der Landtagswahl nicht
so schändlich handeln wie vor der Bundestagswahl,
nämlich überall in den Wahlkreisen Wohngelderhöhungen anzukündigen und dann nicht in der Lage zu sein,
einen Termin für die Verabschiedung dieser Novelle zu
nennen, Frau Kollegin.
({4})
Ich betrachte dieses Verhalten als einen Betrug am
Wähler. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie noch vor der
Hessen-Wahl konkrete Zahlen vorlegen.
Der Wohnungsbauminister traut sich bei einer Debatte über das Wohngeld schon gar nicht mehr ins Plenum. Der Herr Staatssekretär wird mit seinen Äußerungen aus dem letzten Jahr jetzt gänzlich alleine gelassen.
Der Wohnungsbauminister hat in der „Mieter Zeitung“
6/1998 noch sehr großspurig angekündigt: Die Wohngeldreform packen wir jetzt an bei den Gesprächen zum
Haushaltsplan 1999.“ Der Minister ist jetzt total abgetaucht und gibt seinen Wohnungshaushalt preis für die
Abrißbirne des Finanzministers.
({5})
Ich betrachte das als ausgesprochen empörend.
Ich möchte Sie auffordern, daß Sie all das, was Sie den
Mieterinnen und Mietern bzw. den Wählern vor der Bundestagswahl versprochen haben, jetzt endlich umsetzen.
Verstecken Sie sich nicht andauernd hinter der Schonfrist
von 100 Tagen! Ihre gesamten Aussagen im Wahlkampf
hinsichtlich der Wohnungspolitik waren wenig konkret,
und es gab vor der Bundestagswahl überhaupt keine Diskussionsmöglichkeiten. Aber in dem einen oder anderen
Punkt waren Sie schon konkret. Ich kann mich sehr gut an
eine Veranstaltung in Wiesbaden erinnern. Da wurde gefordert, das Wohngeld müsse erhöht werden.
({6})
Wo bleibt denn die Erhöhung?
Deswegen sollten Sie jetzt zumindest ein paar Zahlen
bzw. ein paar Daten nennen.
({7})
Der Wohnungsbauminister hat ja noch eine Chance.
Wir haben heute morgen von Herrn Diller Interessantes
gehört. Dessen Rat hätte man übrigens folgen sollen.
Man hätte den Waigelschen Haushalt übernehmen sollen. Dann wären die Mieterinnen und Mieter in bezug
auf das Wohngeld wesentlich besser gestellt als bei dem,
was Sie jetzt vorlegen.
({8})
Heute morgen sagte uns Herr Diller, der Haushalt sei
noch nicht gedruckt. Also hat der Wohnungsbauminister
die Chance, mit dem Finanzminister, falls der sich nicht
wieder auf der Flucht befindet, doch noch einmal ernsthaft über den Haushalt zu sprechen, weitere Mittel einzufordern und darauf hinzuwirken, daß nicht in allen Bereichen gekürzt wird.
Der soziale Wohnungsbau - die Grünen möchten ihn
am liebsten total abschaffen - wird um 100 Millionen
DM gekürzt. Es fällt Ihnen jetzt nichts anderes mehr ein,
als die Eigenheimzulage einzuschränken, die Ihnen aus
ideologischer Sicht noch nie gepaßt hat, weil Eigentum
ja befreit. Daß sich junge Familien ein Häuschen bauen
und dann vom Staat ein Stück Unterstützung bekommen, damit sie im Bereich des sozialen Wohnungsbaus
eine Wohnung frei machen, hat Ihnen in der Vergangenheit offensichtlich nicht gepaßt.
({9})
Wir werden aufpassen, daß Sie diese Eigenheimzulage
nicht einschränken. Wir versichern Ihnen schon heute,
daß wir die Bauwirtschaft auf unserer Seite haben. Denn
die Eigenheimzulage ist immer noch ein Motor für die
Konjunktur.
Sie muten dem Mieterhaushalt mit Ihrer Energiesteuer, die Sie jetzt vorgelegt haben, weitere Belastungen zu.
Auch da werden wir aufpassen. Wenn man sich einmal
die Haushalte betrachtet, die Wohngeld in Anspruch
nehmen, so stellt man fest, daß dies zu einem Drittel
Rentner, zu einem Drittel Arbeitslose und nur noch zu
einem Drittel Menschen sind, die auf Grund ihrer Arbeit
die Miete bezahlen können.
Hier sind wir aufgefordert, etwas Seriöses vorzulegen.
Wir haben das mit unserem Haushaltsentwurf für 1999
getan. Ich möchte Sie ganz einfach bitten, daß Sie sich so
schnell wie möglich an Ihre Hausaufgaben setzen, damit
Sie uns in der Politik - da schließe ich uns ausdrücklich
mit ein - nicht total unglaubwürdig machen.
({10})
Denn wer den Bürgern im Hinblick auf eine Wohngelderhöhung derartige massive Zusagen gemacht hat, der
muß dann auch konkret werden und darf sich nicht ein
weiteres Jahr vor einer Entscheidung drücken.
Es wurde vorhin gefragt: Wo ist denn Frau Fuchs?
Die Präsidentin hatte vorhin Frau Fuchs dahin gehend
entschuldigt, daß sie durch die Terminverschiebungen
von heute morgen an der Sitzung hier nicht mehr teilnehmen könne.
({11})
Hannelore Rönsch ({12})
- Die Entschuldigung bezüglich des Ältestenrates hatte
sie mir gegenüber nicht genannt. - Aber das entschuldigt
nicht die Tatsache, daß die Präsidentin des Deutschen
Mieterbundes ihre Klientel nicht mehr vertritt.
({13})
Ich empfinde es als einen Skandal, daß man von dieser
Präsidentin überhaupt nichts mehr hört,
({14})
daß sie sich hier aus Gefolgstreue in dieses Parlament
setzt, ein Amt annimmt, das ihr von der Partei übertragen worden ist, und daß sie an keiner Stelle das Wort
ergreift, um die Mieterinnen und Mieter zu schützen und
ihnen endlich eine Wohngeldnovelle zu bescheren.
Ich fordere Frau Fuchs auf, daß sie sich so schnell
wie möglich dieses Amtes bedient. Ich möchte Sie bitten, daß Sie das an Frau Fuchs, wenn sie denn heute
schon nicht hier ist, weitergeben und ihr sagen, daß sie
die Interessen derer vertreten sollte, die sie dorthin bestimmt und gewählt haben.
({15})
- Wenn Frau Fuchs das sehr gut machen würde, dann,
so muß ich sagen, hätte sie heute hier das Wort ergreifen
müssen. Auf alle Fälle müßte sie den Wohnungsbauminister treiben, daß er sich im Kabinett endlich durchsetzt
und sich nicht permanent vom Finanzminister abkassieren läßt.
({16})
Ich wünschte mir, Sie alle würden sich ein Stück weit
an das zurückerinnern, was Sie vor der Wahl gesagt haben. Ich glaube, dann könnten wir gemeinsam für die
Mieterinnen und Mieter noch etwas bewegen. Wenn Sie
bedenken, daß die 2,9 Millionen Haushalte, die jährlich
Wohngeld beziehen, durch Ihre Energiesteuer in der
Zukunft mit weiteren 600 Millionen DM belastet werden, dann sehen Sie, daß das zwingend erforderlich ist.
Ich empfehle Ihnen die Lektüre unseres Antrags zum
Wohngeld.
({17})
- Frau Eichstädt-Bohlig, bei Ihnen hätte ich mir beinahe
vorstellen können, daß Sie ihn gelesen haben. Für mich
war es schon faszinierend, Sie heute das erste Mal in der
Koalition reden zu hören, seit sie die Regierungsverantwortung trägt. Da klingt doch manches ganz anders, als
es früher der Fall war. Es gab so furchtbar viel Werben
um Gemeinsamkeit und um Verständnis. Das habe ich in
den vergangenen vier Jahren bei Ihnen immer ein bißchen vermißt.
({18})
Ich meine, daß der von uns vorgelegte Antrag eine
gute Grundlage für eine solide Regierungspolitik ist.
Schauen Sie sich davon einmal ein bißchen ab! Nehmen
Sie sich den Herrn Staatssekretär aus dem Finanzministerium zum Vorbild! Schauen Sie noch einmal in den
alten Waigelschen Haushalt! Dann könnten wir für
Mieterinnen und Mieter einen großen Schritt tun, und es
würde nicht eine so erbärmliche Veranstaltung, wie wir
sie heute durch Sie erlebt haben.
({19})
Als
letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das
Wort der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch vor der
Sommerpause wird dem Parlament ein Gesetzentwurf
für eine Strukturnovelle zum Wohngeld vorliegen.
({0})
Es wird einer der ersten Gesetzentwürfe sein, die wir
noch in Bonn einbringen und in Berlin verabschieden
werden. Wir werden damit neun Jahre Stillstand beim
Wohngeld beenden. Wir werden die Zeit der Ankündigungen und Finten beenden.
({1})
Die Bauminister der alten Regierung haben viel versprochen und nichts gehalten.
({2})
Ich will die Gelegenheit nutzen, noch ein bißchen
mehr in die Historie zu gehen; denn das, was hier betrieben worden ist, war teilweise nichts anderes als Geschichtsklitterung.
Die alten Bauminister haben zugesehen, wie das
Wohngeld nach und nach seine soziale Wirkung verloren hat. Die drei letzten untauglichen Versuche sind uns
allen in schlechter Erinnerung geblieben. Den Kabinettsauftrag vom 10. Juli 1996 - Strukturnovelle zum
1. Juli 1997 - hat der damalige Finanzminister - er hat
den Kabinettsauftrag bekommen - schlicht nicht erfüllt.
Davon zeugt eine Reihe von schriftlichen Unterlagen,
die man, wenn man in ein Ministerium kommt, natürlich
auch findet und nachliest, zum Beispiel das Erinnerungsschreiben der Staatssekretäre oder des Bauministers an den Finanzminister, warum er die Gespräche
mit den Länderfinanzministern noch nicht aufgenommen
hat.
({3})
Fazit: Nach einem Jahr konnte man feststellen, daß
der Finanzminister diesen Kabinettsauftrag nicht erfüllt
hat. Deshalb hat der Bauminister - das war damals Minister Töpfer - den nächsten Anlauf gemacht. Der war
dann am 11. Juli 1997 im Kabinett. Bauminister TöpHannelore Rönsch ({4})
fer erhielt damals den Auftrag, unverzüglich mit den
Ländern zu prüfen, ob eine Wohngeldnovelle verwirklicht werden könne. Ende November 1997, nach vier
Monaten, hatte er gerade einmal mit vier Bauministern
geredet. Bei dem Tempo hätte er also 16 Monate gebraucht, um mit 16 Länderbauministern zu sprechen.
({5})
Was dann kam, wissen wir: Der Bauminister hat ziemlich entnervt das Handtuch geworfen.
Herr Oswald als dritter Minister hat es dann auch
noch einmal versucht. Er hat erst gar keinen Kabinettsauftrag erhalten. Er wollte auch nicht mit den
Bauministern sprechen, sondern mit den Finanzministern. Wir haben also alle drei Varianten: Der Finanzminister sollte mit den Finanzministern sprechen. Der
Bauminister sollte mit den Bauministern sprechen. Jetzt
sollte der Bauminister mit den Finanzministern sprechen. Alle drei Varianten haben nicht gefruchtet. Dabei
ist nichts herausgekommen.
({6})
In dem Brief vom 2. April 1998, in dem Herr Oswald
die Finanzministerinnen und die Finanzminister eingeladen hat, steht:
Sehr geehrte Frau Kollegin! Sehr geehrter Kollege!
Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und
F.D.P. haben Herrn Bundesminister Bohl und mich
beauftragt, mit den Ländern über eine Wohngeldstrukturnovelle ... zu verhandeln.
Also war das ohne Kabinettsauftrag. Es gab auch keinen Entwurf; das ist ja hier schon deutlich gemacht worden. Es gab Eckwerte. Deshalb glaube ich, daß Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, überhaupt
keinen Grund haben, sich hier mit erhobenem Zeigefinger hinzustellen und von uns in drei Monaten etwas zu
verlangen, was Sie in den letzten Jahren nicht geschafft
haben.
({7})
Ihre Bilanz: drei gescheiterte Anläufe in drei Jahren.
Das ist schon etwas für das Guinness-Buch der Rekorde.
Dann ist es schon ein bißchen dreist - obwohl man das
ja politisch verstehen kann -, jetzt diese Hektik aufkommen zu lassen.
({8})
Lassen Sie uns also lieber über Inhalte sprechen!
Der Antrag der CDU/CSU zeigt, daß Sie sich von
dem Schmalspurkonzept der letzten Jahre verabschieden
wollen. Ich sage: Gut so! Sie haben von uns gelernt. Ihre
letzten Eckwerte sahen zum Beispiel keine Verbesserung der Wohngeldtabellen vor, auch keine Verbesserung bezüglich der Einkommensgrenzen, sondern nur
eine Anhebung der Freibeträge. Sie kennen Ihre eigenen
Eckwerte nicht. Sie sahen auch keine Angleichung der
Wohngeldleistungen in Ost und West vor. Das sieht jetzt
anders aus. Ihr neuer Antrag ist damit aber auch ein
deutliches Eingeständnis dafür, daß Ihre damaligen Vorschläge, die Sie ja heute noch einmal angepriesen haben,
völlig unzureichend waren.
({9})
Sie hätten ja sonst die Möglichkeit gehabt, das Eckwertepapier noch einmal hervorzuziehen und zu sagen: Das
wäre es ja. - Nur, das, was Sie in dem heutigen Antrag
vorlegen, unterscheidet sich ja diametral von dem, was
Herr Oswald wollte. Das war einer der Gründe, warum
wir damals gesagt haben: Wir machen das nicht mit. wir hätten nämlich eine völlig unzureichende Wohngeldanpassung gehabt,
({10})
und wir hätten uns für die nächste Reform erst einmal
sehr viel Zeit nehmen müssen. Deshalb ist es richtig, zuerst einen guten Schritt zu versuchen und nicht eine
Wohngeldnovelle vorzulegen, die noch nicht einmal die
Angleichung des Wohngeldes in Ost und West bringen
würde.
({11})
Eine wirkliche Strukturreform muß den Versuch
machen, einige wesentliche Probleme der heutigen Regelung zu lösen und insgesamt zu einer Vereinfachung
und damit zu weniger Bürokratie zu kommen. Wir sind
daher dabei, zu prüfen - das wird auch in die Novelle
einfließen -, wie man die Angleichung des Wohngeldes
in West und Ost hinbekommt, wie man erstmals Mietenstufen in den neuen Ländern einführen kann; bis jetzt
gibt es ja überall nur die Mietenstufe 1. Wir prüfen verschiedene Varianten der Anhebung von Miethöchstbeträgen - und zwar nicht linear, da wir eine Reduzierung
der Baualtersklassen wollen. Es verhält sich zur Zeit so,
daß für Wohnungen in zwei unterschiedlichen Wohnhäusern, die verschiedenen Baualtersjahrgängen angehören, aber über den gleichen Standard verfügen, die Mieten, Pi mal Daumen gerechnet, fast bis auf den Pfennig
genau gleich sind, und daß trotzdem ein unterschiedlich
hohes Wohngeld gezahlt wird. Das kann so nicht bleiben.
Wir prüfen die Anhebung der Werte in den Wohngeldtabellen mit dem Ziel einer Besserstellung für Familien; das wäre eine familienfreundliche Maßnahme.
Ferner müssen wir natürlich ein Konzept dafür finden,
wie wir das Ungleichgewicht zwischen Pauschal- und
Tabellenwohngeld beseitigen können.
({12})
Darüber hat es heute schon einige Diskussionsbeiträge
gegeben. Wir wissen ja nicht genau, was die F.D.P. will;
es ist auch nicht ganz klargeworden. Es ist vielleicht
doch wieder der Versuch, das pauschalierte Wohngeld
tiefer unten zu kappen und den entsprechenden Betrag
herüberzuschieben, oder es ist eben eine Möglichkeit,
wie man den stetigen Aufwuchs vermeidet und trotzdem
zu einer Lösung kommt, die die Städte und Gemeinden
- zumindest nicht in der ersten Phase der Reform - nicht
belastet. Das wird sicherlich auch im Parlament diskutiert werden müssen.
({13})
Natürlich brauchen wir eine Vereinfachung; auch in
bezug darauf gibt es ja wohl weitgehende Übereinstimmung hier im Hause. Wir brauchen ferner eine Harmonisierung der Einkommensbegriffe; ich glaube nicht, daß
wir es schaffen können, sie völlig zu harmonisieren. Dafür sind die Freibeträge im sozialen Wohnungsbau zu
hoch. Unsere Richtung muß sein: Wir brauchen eine einfachere Wohngeldformel. So, wie sie jetzt ist, kann sie
kein Mensch begreifen. Das kann man sicherlich einmal
anpassen. Was außerdem sehr wichtig ist: Wir brauchen
im Hinblick auf das Jahr 2002 mit seiner Einführung des
Euro Euro-Tabellen, damit wir nicht im anderen Falle
mit Stellen hinter dem Komma arbeiten müssen. Wir
haben also sehr viel Arbeit, die sich auch auf eine Vereinfachung bezieht.
Das Wohngeld ist - das wissen wir - eines der treffsichersten Instrumente. Es kann auch wesentlich zum
Ausgleich von Belastungen, die sich aus anderen politisch gewollten und notwendigen Entscheidungen ergeben haben, beitragen. Das ist schon angesprochen worden. Natürlich bietet das Wohngeld die Möglichkeit, in
einzelnen Bereichen, bei denen die Entlastung im Rahmen der Ökosteuerreform nicht so hoch ausfällt, zu helfen. Natürlich müssen wir damit rechnen, daß auch moderate Mietsteigerungen zu erwarten sind, wenn es in
unserer Steuerreform zu Änderungen bei Abschreibungen kommt.
Eines möchte ich allerdings klarstellen - es ist heute
morgen schon in der Haushaltsdebatte angedeutet worden -: Das Wohngeld ist keine rein konsumtive Ausgabe
- das wird immer verkannt -, sondern es hat auch investive Wirkungen. Oftmals wird flott davon gesprochen,
es sei nur eine Konsumleistung. Deswegen möchte ich
Ihnen zu bedenken geben, was in der Drucksache 13/381
des Deutschen Bundestages in Zusammenhang mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum steht:
Da auf dem Wohnungsmarkt gegenwärtig ein erhebliches Preisgefälle für existenznotwendige
Aufwendungen besteht, ist es dem Gesetzgeber
nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung
in diesem Sonderfall nicht verwehrt, sich bei der
Bemessung des steuerfrei zu stellenden Betrages
hinsichtlich der Wohnkosten an einem unteren
Wert zu orientieren, wenn er zugleich zur ergänzenden Deckung des Bedarfs nach dem Einzelfall
bemessene Sozialleistungen, wie etwa ein Wohngeld, zur Verfügung stellt ...
Wir diskutieren hier also auch in einem bestimmten
Rahmen, und es geht nicht um Wohltaten. Dieses Wort
weise ich ebenso zurück, wie es der Kollege Spanier
getan hat.
Wir müssen natürlich auch über die finanziellen
Rahmenbedingungen sprechen. Da hilft es überhaupt
nichts, daß Frau Rönsch hier wegen eines jungen Ehepaars Tränen vergießt, das dann nicht mehr bauen
könnte. Vielleicht nennen Sie mir einmal ein paar junge
Ehepaare, die ein zu versteuerndes Einkommen von einer Viertelmillion DM haben. Im Moment fördern wir
bei der Eigenheimzulage solche Ehepaare. Angesichts
dessen sollten Sie einmal mit Rentnerinnen und Rentnern sprechen. Mir hat zum Beispiel ein Rentner in einem Brief geschrieben, er bekomme eine Rente von monatlich 1 370 DM, davon würden pauschal 170 DM abgezogen. Übrig blieben 1 200 DM, die Miete betrage
monatlich 480 DM; seine Mietbelastung mache also 40
Prozent seiner Rente aus. Dieser Rentner erhält einen
Mietzuschuß von monatlich 18 DM, obwohl er mit seinem Einkommen um 40 Prozent unter den Einkommensgrenzen des sozialen Wohnungsbaus liegt.
Angesichts dessen wünsche ich Ihnen viel Spaß bei
der Diskussion, warum Sie Vielverdiener in diesem
Lande noch subventionieren wollen, bei der Wohngeldleistung für Rentner aber einen Schlußstrich ziehen
wollen.
({14})
Spätestens bei dieser Frage - das ist die wirklich spannende Frage, die heute offengeblieben ist - müssen Sie
Farbe bekennen. Wir werden Sie nicht aus der Verpflichtung entlassen, aufzuzeigen, wie Sie die Gegenfinanzierung zu dem Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, sicherstellen wollen.
({15})
Wir werden eine Wohngeldnovelle vorlegen. Ich
verhalte mich nicht wie Staatssekretäre oder auch
Bauminister, die vorlaut über etwas reden, bevor alles in
trockenen Tüchern ist.
({16})
Wir arbeiten solide und seriös einen Entwurf aus. Ich
kann nur sagen: Warten Sie einmal geduldig ab! Dann
wird das, was Sie heute aufgeführt haben, lautlos in sich
zusammenfallen.
Vielen Dank.
({17})
Es liegt
noch der Wunsch nach einer Kurzintervention von der
Kollegin Iris Gleicke, SPD-Fraktion, vor.
Sehr geehrte Frau Kollegin
Rönsch, ich beziehe mich auf Ihren Debattenbeitrag, in
dem Sie sehr unsachlich unsere Frau Kollegin Fuchs angegriffen haben. Sie hatte sich wegen der zeitlichen Verschiebungen in der heutigen Sitzung direkt an Sie geParl. Staatssekretär Achim Großmann
wandt und sich bei Ihnen wegen mehrerer Termine am
heutigen Nachmittag entschuldigt. Sie haben ihr vorgeworfen, als Präsidentin des Deutschen Mieterbundes setze sie sich nicht genug für die Interessen der Mieterinnen und Mieter ein. Sie sprachen auch davon, daß man
sie selten in der Öffentlichkeit erlebe und daß sie selten
in Zeitungen auftauche.
Ich habe Ihnen schon in einem Zwischenruf eine Entgegnung zugerufen. Gerade heute gab es wieder Tikkermeldungen über den Deutschen Mieterbund. Auch
gab es in den letzten Wochen immer wieder Veröffentlichungen, in denen es stets darum gegangen ist, daß der
Deutsche Mieterbund ganz klar die Bundesregierung
und den Bundestag auffordert, etwas für die Mieterinnen
und Mieter zu tun.
In Stil und Art ist das, was Sie gemacht haben, Frau
Rönsch, nicht sehr schön. Vielmehr ist es haarscharf am
Rande eine Diffamierung. Daher haben Sie guten Grund,
sich bei Frau Fuchs zu entschuldigen.
({0})
Frau
Kollegin Rönsch, ich erteile Ihnen zur Erwiderung das
Wort.
So
ist es nun einmal, wenn man bei Gesprächen nicht anwesend war: Ich habe mich mit Frau - Kollegin - Fuchs
darüber unterhalten, daß sie heute mittag den Termin im
Plenum wegen der zeitlichen Verschiebungen heute
morgen nicht wahrnehmen kann. Ich habe dies zu akzeptieren. Gleichzeitig habe ich ihr aber auch gesagt,
daß ich sie in ihrer Funktion mit Sicherheit nicht verschonen werde, nämlich in der Funktion der Präsidentin
des Deutschen Mieterbundes.
Es trifft durchaus zu: Der Deutsche Mieterbund - der
Verband, dessen Präsidentin Frau Fuchs ist - hat sich
eindeutig gegen diese Bundesregierung gestellt und
Wohngeldanhebungen von 1,5 bis 2 Milliarden DM gefordert.
({0})
Die Ursache dafür ist, daß die durch Frau - Kollegin Fuchs mitbeschlossenen Energiesteuererhöhungen den
Mieter überproportional belasten. Sie werden mir schon
gestatten müssen, daß ich in der Diskussion mit der
Kollegin Fuchs die Präsidentin des Deutschen Mieterbundes an gar keiner Stelle schonen werde, wenn sie
hier die Interessen der Mieter verrät.
({1})
Wir sind
am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/169 und 14/292 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Sich häufende Unfälle bei der Deutschen Bahn
AG vor dem Hintergrund unterschiedlicher
Zwischenergebnisse der Untersuchungen des
Eschede-ICE-Unglücks
Als erster Redner spricht für die PDS-Fraktion zur
Begründung Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Es gibt zwei Aspekte, die einen aktuellen Anlaß
für diese Debatte darstellen: zum ersten der neue Zeitplan für einen Untersuchungsbericht zu dem Unglück in
Eschede. Direkt nach dem Unglück wurden dieser Bericht und eine Verkehrsausschußdebatte für 1998 versprochen. Im Dezember sagte der neue Minister Müntefering, Berichte würden erst im ersten Halbjahr 1999
fertiggestellt. Seit Mitte Januar wissen wir: Frühestens
Ende 1999 liegen die Berichte vor; Konsequenzen aus
dem Eschede-Unglück können also erst ab dem Jahr
2000 ff. gezogen werden - eineinhalb Jahre nach der
Katastrophe. Das ist meiner Ansicht nach untragbar,
weil die Gefahrenpotentiale damit erhöht werden könnten.
({0})
Der zweite neue Tatbestand: Es gab in der vergangenen Woche zwei neue Zugunfälle, die jeweils einen Bezug zu Eschede aufweisen: In Hannover entgleiste ein
ICE beim Tempo von 40 Kilometer pro Stunde; Ursache
dafür war eine durchgebrochene Weiche. In Minden
entgleiste ein Regionalexpress; Ursache war ein klaffender Riß in einem Rad. Der Mindener Unfall wurde von
der Bahn als derart schwerwiegend eingeschätzt, daß
600 Reisezugwaggons zurückgerufen werden mußten.
Das hat in dieser Woche in den neuen Bundesländern zu
extremen Belastungen im Nahverkehr geführt. Zusätzlich wurde bekannt: Vor dem Unglück in Minden hat die
Bahn regelmäßig die Ultraschallprüfungen der entsprechenden Radsätze ausgesetzt - exakt wie im Vorfeld des
Eschede-Unglücks.Werte Kolleginnen, werte Kollegen,
nach unserer Auffassung liegen heute bereits ausreichende Erkenntnisse für eine beschleunigte Aufarbeitung des bisher schwersten Bahnunglücks vor. Wenn
sich das Eisenbahn-Bundesamt und die Staatsanwaltschaft hier auf einer problematischen Zeitschiene bewegen, dann muß das Parlament aktiv werden, zum Beispiel durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß.
Es liegen neue Erkenntnisse vor. Das EisenbahnBundesamt hat am 14. Dezember 1998 den Teilbericht
zum gebrochenen Radreifen beim Eschede-Unglück
vorgelegt. Andere Berichte wurden auszugsweise beIris Gleicke
kannt, so derjenige des Fraunhofer Instituts Darmstadt
zur Weiche in Eschede.
Bereits auf dieser Grundlage lassen sich drei Erkenntnisse aus Eschede festhalten: Erstens. Das Bahnmanagement hat Anfang der 90er Jahre die Radsätze
beim ICE-1 von sogenannten Monobloc-Rädern auf
Radreifen mit Gummieinlagen auswechseln lassen.
Nach dem Eschede-Unfall wurden von der Bahn alle
ICE-1 wieder auf Monobloc-Räder „zurückgerüstet“.
Implizit wird damit eingestanden: Die weltweit einmalige Verwendung solcher „gummigefederter Räder“ im
Hochgeschwindigkeitsverkehr war zumindest ausgesprochen problematisch. Zu einem der 1994 neu in Einsatz gelangten gummigefederten Radsätze, dem Typ BA
065, heißt es im neuen EBA-Bericht:
Eine nachvollziehbare Zulassung mit entsprechenden
Prüfberichten ({1}) liegt nicht vor.
Im Klartext: Es gab einen problematischen Wechsel der
Radsätze. Und ein zum Einsatz gelangter bestimmter
Radtyp durchlief nicht einmal die erforderlichen Prüfungen.
Zweitens. Es kam im Vorfeld von Eschede und im
Vorfeld des Mindener Unglücks zu einem Abbau von
Sicherheitsstandards. Beim ICE-1 waren regelmäßige
Untersuchungen der Radsätze mit Ultraschall als erforderlich erachtet worden. Dafür wurde die Anlage mit
dem Kürzel „ULM“ konstruiert. - Das „U“ steht für Ultraschall. - Der neue EBA-Bericht hält zu diesem Komplex fest:
… zumindest in der Zeit vor dem Unfall wurden …
die in dieser Anlage vorgesehenen Ultraschallprüfungen überhaupt nicht durchgeführt.
Ein weiteres Zitat:
Dies war dem Eisenbahnbundesamt nicht bekannt.
Darüber hinaus heißt es in diesem Bericht:
Nur einen Tag vor dem Eschede-Unglück wurde
am fraglichen Rad, das dann brach, eine „Rundlaufabweichung von 1,1 mm gemessen“.
Weiter im Text:
Das Betriebsgrenzmaß, welches im Betrieb nicht
überschritten werden darf, ist generell auf 0,6 mm
festgelegt.
Im Klartext heißt das: Die entscheidende Prüfanlage war
nicht nur schlicht abgeschaltet, es wurde am Tag vor
dem Crash auch eine Rundlaufabweichung gemessen,
die fast doppelt so groß war wie maximal zulässig. Und
dennoch wurde der ICE auf die Reise geschickt - auf die
Reise in den 101fachen Tod.
Drittens. In Eschede und letzte Woche in Hannover
entgleiste ein Zug auf einer konventionellen Weiche. Im
Hochgeschwindigkeitsnetz gibt es ausschließlich die
Schnellfahrweichen mit höheren Sicherheitsstandards.
Zumindest bei dem konkreten Unfallablauf, wie ihn das
Eisenbahn-Bundesamt beschreibt, hätte in Eschede mit
einer Schnellfahrweiche dieses Unglück nicht passieren
können.
Bekanntgewordene Teile aus dem neuen Bericht des
Fraunhofer Institutes lenken den Blick noch stärker auf
diese Weichenkonstruktion. Dazu wird Staatsanwalt
Wigger von der ermittelnden Behörde zitiert, wonach
dieses Weichensystem auf allen Bahnstrecken
mit ICE-Verkehr
in Frage gestellt werden muß.
Unbestreitbar bei Punkt 3 ist: Schnellfahrweichen sind
sicherer als konventionelle Weichen. Schnellfahrweichen setzt die Bahn auch im konventionellen Netz ein,
dort bei besonders beanspruchten Stellen.
Ich komme zum Schluß. Es stellen sich damit folgende Fragen: Weshalb werden diese Weichen nicht überall, wo ICE verkehren, eingebaut? Weshalb wurde in
Eschede die zerstörte Weiche erneut durch eine konventionelle Weiche ersetzt? - Diese Aspekte und andere
Fragen wären zu diskutieren. Die Aktuelle Stunde kann
hierfür nur ein Auftakt sein.
({2})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter
Danckert von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren Kollegen! Man kann in solchen Aktuellen Stunden natürlich alle möglichen Sachen thematisieren. In diesem Fall wäre aber, so denke ich, das geeignete Instrumentarium eine Frage an die Regierung
gewesen und nicht eine Aktuelle Stunde, mit der man
nicht zur Aufklärung, sondern zur Verwirrung beiträgt.
({0})
Wenn Sie, Herr Kollege Dr. Wolf, von sich häufenden Unfällen sprechen: Es ist in der Tat richtig, daß sich
am 14. und am 19. Januar zwei Ereignisse ganz unterschiedlicher Art abgespielt haben, die Sie - darauf werde ich noch eingehen - im Zusammenhang mit der Katastrophe in Eschede ansprechen. Das halte ich für das
Problematische an dieser Sache.
Zum Bruch der Weiche - mir liegen keine Erkenntnisse vor, Ihnen offensichtlich auch nicht, jedenfalls keine
genaueren - ist folgendes festzustellen: Das EisenbahnBundesamt hat sofort mit den Prüfungen begonnen. Die
Staatsanwaltschaft hat diese Weiche beschlagnahmen lassen und das Ermittlungsverfahren angeschoben. Ich denke, das ist der richtige Weg, daran gibt es überhaupt
nichts auszusetzen. Das ist die Situation.
({1})
Zum Radbruch eines Doppelstockwaggons muß man
sagen: Das passiert eben mal bei 600 Doppelstockwaggons. Was ist geschehen? Das Eisenbahn-Bundesamt hat
eine Werkstoffprüfung angeordnet und alle Züge sofort
aus dem Verkehr gezogen. Das Ergebnis lautet: Bei keinem weiteren Zug ist etwas festgestellt worden.
Die Ursache für diesen Radbruch werden wir klären.
Die Behörden haben sofort alles getan, was an dieser
Stelle notwendig ist. Daher sehe ich jetzt keine Notwendigkeit, die letzten Vorfälle in den Zusammenhang mit
der Katastrophe von Eschede zu stellen. Ich finde das,
was Sie an dieser Stelle machen, wirklich unseriös.
({2})
Nun zu den unterschiedlichen Zwischenergebnissen:
Ich finde es nicht hilfreich, daß Sie heute sozusagen
auszugsweise aus dem einen oder anderen Papier zitieren. Ich habe gestern Herrn Oberstaatsanwalt Wigger,
den Sie gerade erwähnt haben, angerufen und mich nach
dem Stand der Ermittlungen erkundigt. - Das hätten
auch Sie machen können; dazu hätte er auch Ihnen Auskunft gegeben. - Ich will Ihnen mitteilen, was er gesagt
hat. - Er hat mir gesagt: Es wurden drei Gutachten - Sie
haben sie angesprochen - in Auftrag gegeben. Erstens.
Das Darmstädter Fraunhofer-Institut untersucht die Ursachen für den Radbruch und geht der Frage, die sicherlich wichtig ist, nach, ob ein solches Rad, das die Bahn
im Wege der eigenen Zulassung verwandt hat, hätte gebraucht werden dürfen.
({3})
- Das sind die Fakten, jedenfalls hat mir das der Staatsanwalt gesagt. Wenn Sie besser Bescheid wissen, ist es
ja gut.
Zweitens. Die TH Aachen untersucht den ersten Teil
des verunglückten ICE und wird das Ergebnis in die
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen einspeisen.
Drittens. Ein Sachverständiger der Uni Braunschweig
beschäftigt sich mit den Fragen, was es mit dem
Weichensystem und dem Signalsystem auf sich hat und
welche Merkmale an der Brücke Rückschlüsse auf den
Ablauf des Unfalls zulassen.
Das ist die Situation. Alle drei Gutachten werden von
dem Sachverständigen in Braunschweig koordiniert.
Wir werden die Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Ermittlung abwarten. Die Auskunft, die ich gestern
erhalten habe - Herr Kollege Wolf, wenn Sie zuhören
würden, fände ich das besonders nett, weil Sie uns mit
der Aktuellen Stunde behelligt haben, so hätte ich fast
gesagt -,
({4})
lautet, daß die Untersuchungsergebnisse von der Staatsanwaltschaft in den nächsten drei Monaten erwartet
werden. Ich denke, bei dem, was dort passiert ist, kann
man nicht auf Eile drängen, sondern man muß warten,
bis von den Sachverständigen seriöse und verläßliche
Untersuchungsergebnisse vorgelegt werden.
({5})
Wenn Sie die beiden Unfälle am 14. und 19. Januar in
Hannover in Zusammenhang mit der Katastrophe in
Eschede stellen, dann, denke ich, wollen Sie die Öffentlichkeit nicht informieren, sondern beunruhigen.
({6})
Warten wir doch die korrekten staatsanwaltschaftlichen
Untersuchungen in Verbindung mit den Sachverständigen ab. Lassen Sie uns die Ergebnisse des EisenbahnBundesamtes abwarten. Wenn diese Ergebnisse vorliegen, haben wir die Möglichkeit, den Sachverhalt sorgfältig abzuwägen und dann unsere Empfehlungen auszusprechen bzw. unsere Entscheidungen zu treffen. Mehr
ist an dieser Stelle nicht zu sagen.
Vielen Dank.
({7})
Herr
Kollege Danckert, das war nach meiner Information Ihre
erste Rede in diesem Haus. Ich beglückwünsche Sie
herzlich im Namen aller Kollegen.
({0})
Als nächster Redner spricht der Kollege Eduard
Lintner, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist doch sicher
das Recht und auch die Pflicht von Abgeordneten, sich
einzuschalten, um zum Beispiel in solchen Fällen nach
Ursachen und Verantwortlichkeiten zu suchen. Aber die
Maxime muß sein - der Kollege Dr. Danckert hat das
recht deutlich herausgearbeitet -, daß Ursachen aufgeklärt und eventuelle Verantwortlichkeiten aufgedeckt
werden. Die Voraussetzung dafür ist jedoch in der Tat,
Herr Dr. Wolf, daß die Ursachenerforschung einen
Stand erreicht hat, der zweifelsfreie Schlüsse erlaubt.
Dies ist hier nicht der Fall. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß sich beispielsweise die Beteiligten vor
einer ehrlichen Analyse der Ursachen und Verantwortlichkeiten drücken. Deshalb gibt es auch überhaupt
keinen Grund für diese Aktuelle Stunde.
Meine Damen und Herren, die Bahn - das ist auch
schon gesagt worden - hat unverzüglich alle in Betrieb
befindlichen Systeme mit solchen Rädern gründlich
überprüft; sie hat dabei deutlich sichtbar der Sicherheit
den Vorzug vor allen wirtschaftlichen Überlegungen
gegeben. Auch hier kann ich ein vorbildliches Verhalten
konstatieren.
({0})
Es liegt zur Zeit nur ein eigens und ausdrücklich so
bezeichneter Teilbericht des Eisenbahn-Bundesamtes
zum gebrochenen Radreifen ohne jede Schuldzuweisung
vor. Deshalb haben Sie, Herr Dr. Wolf, irreführend
zitiert, als Sie so getan haben, als sei schon alles aufgedeckt, als seien die Folgerungen gezogen und als hätte
man längst handeln können. Diese Schlußfolgerung ist
vorschnell; sie wird durch den vorliegenden Bericht des
Eisenbahn-Bundesamtes nicht gedeckt. Im übrigen stehen weitere Ergebnisse noch aus. Untersuchungen sollen
auch noch vom Fraunhofer-Institut in Darmstadt und
von anderen Drittgutachtern vorgenommen werden. Erst
danach kann doch wohl seriös über Fragen wie Schuld
und Konsequenzen endgültig geurteilt werden.
Als seriös könnte man Ihre Initiative, diese Aktuelle
Stunde, zu diesem Zeitpunkt nur dann bezeichnen, wenn
irgendein gravierendes, beunruhigendes Ereignis die
Vermutung begründen würde, es sei bislang nicht genug
zur Aufklärung und Vorbeugung getan worden. Aber
weder die Bahn AG noch die beteiligten Staatsanwaltschaften haben den Vorwurf verdient, sie seien bei der
Aufklärung dieses Ereignisses säumig verfahren. Geradezu abenteuerlich finde ich - das haben Sie hier so am
Rande bemerkt -, daß die PDS bei dieser Sachlage daran
denkt, möglicherweise einen Untersuchungsausschuß
dieses Parlaments zu fordern. Damit würde auf dem
Rücken von Opfern parteipolitische Propaganda betrieben.
({1})
Ob sich Gründe zu Vorhaltungen ergeben werden, muß
sich erst noch zeigen. Die PDS aber setzt sich mit ihrer
Aktion dem Verdacht aus, dieses schreckliche Ereignis
von Eschede parteipolitisch mißbrauchen zu wollen.
({2})
Sie schaden damit einem Verkehrsträger, der nach wie
vor ein äußerst sicheres Verkehrssystem bietet. Zum
Beispiel ist die Bahn 26mal sicherer als das Auto. Man
sollte also weiterhin auf die Bahn setzen und die Menschen ermutigen, die Bahn zu benutzen, statt hier mit
solchen vorschnellen Aktivitäten unbegründete Ängste
zu wecken.
({3})
In einem Punkt, meine Damen und Herren, möchte
aber auch ich sicher sein können: Man sollte zum
gegenwärtigen Zeitpunkt schon bei allen in Betrieb
befindlichen Systemen, zum Beispiel auch bei gummigefederten Radsätzen, verläßlich davon ausgehen können, daß alle Betreiber sofort davon erfahren, wenn sich
bei irgendeinem Kunden eine Panne oder gar ein Unfall
ereignet, der den Verdacht auf generelle technische
Mängel nahelegt. Daß eine für den sicheren Betrieb der
Eisenbahn so wichtige Institution wie das EisenbahnBundesamt erst nach dem Unglück davon erfährt, daß es
bei Stadtbahnen schon vorher Fälle von Radbrüchen bei
dieser Art von Radsätzen gegeben hat, darf sich nicht
wiederholen. Hersteller und Kunden müssen sich deshalb - wie übrigens bei Flugzeugen üblich - gegenseitig
reihum, schnell und ehrlich informieren. Vielleicht kann
dadurch ein zusätzlicher Beitrag zu noch mehr Sicherheit geleistet werden.
Vielen Dank.
({4})
Das
Wort hat jetzt der Kollege Albert Schmidt vom Bündnis
90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Dr. Wolf, es gibt viele Gründe, hier im Bundestag über die Deutsche Bahn AG zu
diskutieren.
({0})
Sie hätten mich jederzeit an Ihrer Seite, wenn es gälte,
zum Beispiel eine Debatte über die besorgniserregende
Entwicklung im Fernverkehr oder über den überzogenen
Personalabbau bei der Deutschen Bahn AG sowie über
eine ausreichende Ausstattung mit Haushaltsmitteln für
das Unternehmen Deutsche Bahn AG zu führen. Ich
halte es aber vor dem Hintergrund noch nicht abschließend untersuchter Unfälle für hochspekulativ, wenn Sie
hier den Eindruck erwecken, als wäre ein Fahrgast
gleichsam seines Lebens nicht mehr sicher, wenn er einen Zug besteigt. Das ist nicht nur spekulativ, sondern in
hohem Maße gefährlich, unangemessen und schadet der
gemeinsamen Sache.
({1})
Es ist natürlich so, daß die Bahn immer noch das mit
Abstand sicherste Verkehrsmittel ist, im Fernverkehr
wie im Nahverkehr, um Klassen sicherer als das Automobil, selbst als der Luftverkehr.
Wir im Deutschen Bundestag sollten die Gewaltenteilung insoweit respektieren und einhalten, daß wir
nicht laufend den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen
ins Handwerk pfuschen und nicht die Justiz, die in diesem Lande unabhängig ist, zu irgendeinem Handeln
drängen. Wir sollten ihr nicht unterstellen, daß da nicht
ordentlich ermittelt wird. Dazu finde jedenfalls ich mich
nicht bereit.
({2})
Konkret haben Sie drei Unfälle angesprochen. Diese
verknüpfen Sie mit der Headline „sich häufende Unfälle“.
Nur soviel zum Unfall von Eschede: Daß dieser
Unfall eine Menge offener Fragen aufwirft, ist bekannt.
Es gibt auch eine Reihe widersprüchlicher Berichte dazu. Aber Sie haben selbst zu Recht darauf hingewiesen,
daß die zulässige Abweichung von der Rundläufigkeit
des Rads bei weitem überschritten war und daß dieser
Radreifen trotzdem eingesetzt wurde. Dies zeigt, daß,
hätte man die Ergebnisse der Untersuchungen befolgt,
der Unfall nach jetzigem Kenntnisstand vermeidbar gewesen wäre. Dies ist aber nicht ein Grund für den Deutschen Bundestag, zu diskutieren, sondern ein Grund für
die Strafverfolgungsbehörden, zu ermitteln.
Ganz kurz zu den anderen Unfällen: Im Hauptbahnhof Minden ist am 13. Januar dieses Jahres der Regionalexpreß Minden - Bielefeld entgleist. Auch hier wurde zunächst über einen Fehler an der Weiche spekuliert.
Dann hat sich aber herausgestellt, daß vermutlich ein
Bruch des Vollrades die Ursache ist. Es wurden
600 Waggons zur Untersuchung in die Werkstatt zurückgerufen. Inzwischen wurde, wie ich höre, mehr als
die Hälfte dieser Waggons durchgecheckt. Bei einer beträchtlichen Anzahl von Fahrzeugen wurden die Radsätze vorsorglich ausgetauscht. Die durchgecheckten WagEduard Lintner
gons sind wieder in Betrieb. Es ist aber im Moment völlig ungeklärt, ob es sich um einen Herstellungsfehler,
um Wartungsdefizite oder was auch immer handelt.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist auch nicht zu beantworten, ob der Unfall von Minden vermeidbar gewesen
wäre, wenn die Ultraschalluntersuchung 1996 nicht abgeschafft worden wäre. Es besteht aber die begründete
Vermutung, daß eine solche Ultraschalluntersuchung in
diesem Fall eine richtige Diagnose ermöglicht hätte.
Dies alles sind interessante Fragen, die aber, meine ich,
nicht in die Aktuelle Stunde gehören. Wir werden deshalb unser Recht auf einen zweiten Redebeitrag nicht
nutzen, weil wir die Aktuelle Stunde nicht unnötig verlängern wollen.
Der dritte Unfall, der angesprochen worden ist, ist der
Unfall am 19. Januar, als der ICE 751 von Düsseldorf
nach Berlin Ostbahnhof bei der Ausfahrt in Hannover
Hauptbahnhof in einer Weiche mit je einem Drehgestell
des zweiten und dritten Waggons hinter dem Triebkopf
entgleiste. Auch bei diesem Unfall wurde, wie wir alle
wissen, glücklicherweise niemand verletzt. Die Geschwindigkeit des Zuges betrug 40 Stundenkilometer.
Hier wurde sofort das Eisenbahn-Bundesamt eingeschaltet. Die Staatsanwaltschaft Hannover hat die Ermittlungen aufgenommen. Die entsprechenden Teile
wurden beschlagnahmt. Es wurden in diesem Falle sieben technische Gutachten in Auftrag gegeben. Die Untersuchungen werden mindestens acht Wochen dauern.
Bei dieser Weiche läßt sich aber heute schon sagen, daß
sie 1987 eingebaut wurde, daß sie auf Grund ihres Belastungsgrades einmal im Monat untersucht wurde,
letztmalig am 4. Januar, also wenige Tage vor dem Unfall, daß es zusätzlich halbjährliche Ultraschalluntersuchungen gab, die letzte im August 1998, und daß die
Prüfungen im Unfallbereich ohne Befund geblieben
sind. Das heißt, man kann jetzt nur darüber spekulieren,
was die Unfallursache gewesen sein könnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend sagen: Die Deutsche Bahn AG braucht kritische Aufmerksamkeit. Aber sie braucht auch ein Stück
Unterstützung. Ein Stück Unterstützung brauchen auch
die Beschäftigten. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben in schwierigen Situationen gezeigt, daß sie
bereit sind, Krisen zu managen. Das kurzfristige Auswechseln von 600 Doppelstockwaggons mit über 10 000
Reiseplätzen war eine technische und logistische Meisterleistung. Das sollte man anerkennend zur Kenntnis
nehmen und nicht falsche Schlagzeilen an der unrichtigen Stelle produzieren.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das
Wort hat jetzt der Kollege Horst Friedrich von der
F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sicherlich ist
es ein probates Mittel der Opposition, durch Aktuelle
Stunden Aufmerksamkeit zu erheischen. Das, was durch
die PDS hier gemacht wird, ist nichts anderes als die
parteipolitische Instrumentalisierung eines Vorgangs,
die schlicht zum Gegenteil dessen führt, was erreicht
werden soll, nämlich zu weiterer Unsicherheit, losgelöst
von den eigentlichen Fakten.
({0})
Ich muß mich schon wundern, Herr Kollege Wolf.
Sie waren in der Sitzung des Verkehrsausschusses am
17. Juni letzten Jahres anwesend, als der Verkehrsausschuß nach Entgegennahme des Berichtes ganz klar
festgelegt hat, in welcher Art und Weise wir uns über
den Sachverhalt unterhalten würden. Dies sollte geschehen, wenn der staatsanwaltschaftliche Abschlußbericht
vorliegt. Wäre dies noch in der 13. Wahlperiode geschehen, hätten wir sogar noch vor Ende dieser Legislaturperiode eine Sondersitzung einberufen. Dazu ist es aber offensichtlich nicht mehr gekommen.
Jetzt ist es allerdings zumindest fahrlässig, Halbwahrheiten, Gerüchte und aus Teilinformationen, die von wem auch immer - in die Welt gesetzt werden, zu
zitieren und Schlüsse daraus zu ziehen. An dieser Stelle
will ich mich nicht dazu äußern, was ich von der Informationspolitik der Staatsanwaltschaft halte. Entweder
gehe ich an die Öffentlichkeit; dann muß ich etwas vorweisen können. Oder der Abschlußbericht liegt noch
nicht vor; dann sollte ich als Staatsanwalt auch nicht an
die Öffentlichkeit gehen. Das ist aus meiner Sicht die
richtige Reihenfolge.
({1})
Es ist schon bezeichnend, daß Sie, gewissermaßen
wie Kraut und Rüben, den einen Unfall mit dem anderen vermischen. Der bisher bekannte Ablauf des tragischen Unfalls in Eschede hat deutlich gemacht, daß
nicht die Weiche Unfallursache war, sondern der zerbrochene Radreifen. Dieser hat nämlich die beiden aufeinanderfolgenden Weichen zerstört und nur deswegen
in ihrer Funktion beeinträchtigt, während das in Hannover ganz anders war. Insofern ist es abermals fahrlässig - darauf haben die Kollegen Schmidt und Lintner schon hingewiesen -, jetzt zu suggerieren, die Sicherheit der Bahn werde leiden. Umgekehrt ist es richtig - da gebe ich Ihnen recht -, der Bahn zu signalisieren, daß wir alles tun, damit sich dieser Eindruck nicht
verfestigt.
Ich darf den Lufthansa-Chef Jürgen Weber zitieren,
der die Unternehmung Lufthansa in einer finanziell sehr
schwierigen Situation übernommen, dabei aber sehr
deutlich gemacht hat: An der Sicherheit wird nicht gespart. Dies muß auch von der Deutschen Bahn AG deutlich gemacht werden. Daß bisher alle Sorgfaltspflichten
eingehalten worden sind, ergibt sich aus den Untersuchungen.
Ich wehre mich auch gegen die Behauptung, daß das
Gummirad nicht den Sicherheitsanforderungen entsprochen hätte. Es liegt ein Testat des EisenbahnBundesamtes vor, daß dieses Rad bis zu einer GeAlbert Schmidt ({2})
schwindigkeit von 280 Stundenkilometern freigegeben
ist.
({3})
Im übrigen empfehle ich, den Kollegen Hasenfratz näher
zu befragen, in dessen Firma dieses Rad hergestellt wird
und der diese Situation ebenfalls dargestellt hat.
Wir sollten uns also - das ist auch Beschlußlage des
neuen Ausschusses - sowohl über den Unfall in Neustadt in Hessen als auch über den Unfall in Eschede
dann unterhalten, wenn die jeweiligen staatsanwaltschaftlichen Abschlußberichte vorliegen, und - bitte erst
dann - gegebenenfalls notwendige gesetzgeberische
Konsequenzen ziehen.
({4})
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Mertens von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich bin über diesen Antrag ziemlich
überrascht, weil die PDS - und insbesondere ihr Bahnexperte, Dr. Wolf - in den Informationsfluß über die
Vorgänge bei der Bahn ebenso eingebunden ist wie die
Regierungskoalition, die CDU/CSU und die F.D.P. Die
Initiative erweckt jedenfalls den Eindruck, bei der Bahn
könne nicht alles mit rechten Dingen zugehen.
Die Bahn ist zur Zeit mit vielen Fragen und Problemen
konfrontiert. Sie setzt sich aktiv und konstruktiv damit
auseinander, und zwar auf allen Ebenen. Gerade in dieser
Situation ist die PDS-Initiative alles andere als hilfreich,
weil sie letztlich nur alte Fragen wiederholt, in der Sache
nichts Neues bringt und höchstens denen neue Nahrung
gibt, die sich berufsmäßig oder privat damit beschäftigen,
den Kopf so lange über dem Teller zu schütteln, bis das
Haar in die Suppe fällt. Letztlich schürt dies nur die Verunsicherung und hat mit konstruktiver Kritik und konstruktiver Begleitung nichts zu tun.
Wir sind uns darüber einig, daß Eschede ein schicksalhafter Schlag für die Bahn war, der einer gründlichen
Aufarbeitung bedarf. Die Bundesregierung, die Deutsche Bahn AG sowie das Eisenbahn-Bundesamt haben
uns über dieses Unglück informiert und weitere Berichterstattung zugesichert, sobald neue Fakten vorliegen.
Vergangene Woche haben wir im Verkehrsausschuß
des Deutschen Bundestages darüber hinaus um Informationen über die Entgleisung eines Intercity-Express in
Hannover gebeten. Auch hierzu haben uns die Vertreter
des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen in Aussicht gestellt, das Parlament eingehend zu unterrichten. Dasselbe gilt selbstverständlich für
andere Störungen und Unregelmäßigkeiten.
Für alle Fälle gilt, daß Informationen erst dann Sinn
machen, wenn sie gründlich zusammengetragen sind.
Schnellschüsse sind hier wenig hilfreich.
Jeder von uns nutzt die Eisenbahn; wer es nicht tut,
sollte es vielleicht tun. Wir machen da unsere Erfahrungen, die zugegebenermaßen nicht immer positiv sind.
Groß ist der Ärger über Verspätungen, auch wenn sie im
Verhältnis zu Stauzeiten auf Autobahnen immer noch
geringfügig anmuten. Groß - das ist sicherlich sehr ernst
zu nehmen - ist die Sorge um die Sicherheit angesichts
komplizierter Technik und hoher Geschwindigkeiten.
Ich habe durchaus den Eindruck, daß die Deutsche
Bahn AG gerade jetzt mit allem Nachdruck Unregelmäßigkeiten nachgeht und Unfälle mit allem Sachverstand
ihrer eigenen Experten und auch Dritter prüft. Die Formulierung „sich häufende Unfälle“, die die PDS in ihrem Antrag für die Aktuelle Stunde anführt, erweckt daher den falschen Eindruck. Suchen die PDS-Experten
damit den Anschluß an den populistischen Zeitgeist,
oder machen sie sich einfach einen Spaß daraus, uns hier
zu beschäftigen? Diejenigen, die so agieren, sagen, es
gehe ihnen um Sicherheit und Zuverlässigkeit; sie
meinten es nur gut mit der Bahn. Die PDS weiß, daß die
Bahn sowohl den Unfall von Eschede als auch weitere
Zwischenfälle aufklärt und uns darüber berichten wird.
Ich hielte es für zielführender, wenn die PDS der Bahn
die gebotene Zeit einräumen würde, um zunächst die
nötigen Klärungen durchzuführen, statt das Parlament
heute mit einer Thematik zu befassen, von der sie wissen muß, daß die Zeit dafür nicht reif ist.
Wir werden die Fakten in aller Offenheit diskutieren,
wenn sie, solide aufgearbeitet, auf dem Tisch liegen.
Wir werden uns auch nicht scheuen, Konsequenzen zu
fordern, wenn Defizite erkennbar sind. Daran wird auch
die Opposition zu beteiligen sein. Aktionismus mag
populär sein und gut für eine schnelle Überschrift und
einen Leistungsnachweis für die PDS. Wir aber werden
uns an solchem Aktionismus nicht beteiligen, denn der
Bahn und ihren Nutzern ist damit nicht geholfen.
({0})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Renate
Blank von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die letzten Wochen und Monate
standen für die Deutsche Bahn AG wahrlich unter keinem besonders guten Stern, denn nach dem Unfall von
Eschede kamen in der letzten Zeit Anschläge und Erpressungsversuche hinzu.
Eschede hat uns alle erschüttert. Dies darf allerdings
nicht dazu führen, als Gegenreaktion die seit Jahren und
in vielen Millionen Fahrten bewährten Bahntechniken
nun grundsätzlich in Frage zu stellen. Ohne Zweifel
müssen die Ursachen für diese und andere Unfälle sorgfältig aufgeklärt werden. Aber es gibt wohl keinen Verkehrsträger, bei dem so wenig Unfälle passieren wie
beim Schienenverkehr.
({0})
Horst Friedrich ({1})
Es gilt, keine voreiligen Schlußfolgerungen zu ziehen, sondern den Abschlußbericht abzuwarten. Wenn
sich dann Folgerungen ergeben, müssen die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. Wir müssen uns aber
im klaren sein, daß es bei allem technischen Fortschritt,
den wir brauchen und bejahen, eine hundertprozentige
Sicherheit nicht geben kann.
Da zum Betrieb der Bahn auch die Schiene gehört,
lassen Sie mich einige Anmerkungen zum Thema Sicherheit des Bahnverkehrs und zu den Bahnanschlägen
der letzten Monate machen. Die Deutsche Polizeigewerkschaft bezeichnete diese Anschläge in einer Stellungnahme als brutalen mörderischen Angriff auf die
Öffentlichkeit in Deutschland. Dem kann ich mich nur
voll und ganz anschließen.
Wie das sein Bewußtsein verändert, liebe Kollegen
von Bündnis 90/Die Grünen, macht die Äußerung von
Jürgen Trittin bei einem Einsatz der Polizei gegen Gewalttäter, die mit ihren Anschlägen auf Anlagen der
Deutschen Bahn AG auch Menschenopfer in Kauf nahmen, deutlich. Diese Gewalttäter haben den Einsatz damals als Bürgerkrieg des Staates dargestellt, und auch
Jürgen Trittin hat geäußert: Wer da Bürgerkrieg spielt,
sind nicht die Demonstranten, sondern das ist ausschließlich der Staat.
({2})
Aber ich gehe davon aus, daß der Umweltminister diese
Äußerung längst verdrängt hat.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an die
Strafbefehle - die allerdings nicht rechtskräftig geworden sind - gegen eine PDS-Kollegin, und zwar Frau Eva
Bulling-Schröter, und gegen die Ex-MdB Elisabeth
Altmann von den Grünen wegen Unterzeichnung eines
Aufrufs zur Demontage von Bahngleisen vor dem AKW
Gundremmingen.
Vor diesem Hintergrund erscheint mir der heutige
Antrag der PDS zum Thema „Bahnunfälle und Bahnsicherheit“ ziemlich scheinheilig, ja sogar makaber.
({3})
Die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde ist deshalb
kein ehrlicher Beitrag, um die Probleme im Zusammenhang mit Bahnunfällen und Bahnsicherheit zu lösen. Das
alles wird aufzuarbeiten sein. Wir werden den Abschlußbericht mit der nötigen Sorgfalt zur Kenntnis
nehmen und dann eventuell handeln.
({4})
Als
nächster Redner hat erneut der Kollege Dr. Wolf von der
PDS-Fraktion das Wort.
Werter Herr Präsident!
Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Bei dem Thema ist
natürlich klar, daß man beschuldigt wird, sich parteipolitisches Profil verschaffen zu wollen. Deswegen habe
ich durchaus gezögert, das Thema aufzugreifen. Ich
glaube aber, daß bei der Aufarbeitung des Unglücks von
Eschede inzwischen so viel aufgelaufen ist, daß diese
Debatte notwendig ist. Ich sehe das auch vor dem Hintergrund der sich häufenden Unfälle; das habe ich bereits gesagt.
({0})
Ich finde, Kollege Schmidt, daß der Ruf, Ruhe sei
hier die erste Bürgerpflicht, der falsche Ruf ist, wenn es
um Sicherheit geht.
({1})
Der richtige Ruf lautet: Wahrheit ist die erste Bürgerpflicht in diesem Parlament.
Ich habe gesagt, daß es zwei Gründe gibt, diese Debatte zu führen. Erstens glaube ich, daß der bisherige
Verlauf dieser Debatte und die Art, wie Herr Schmidt
jetzt reagiert, nämlich allergisch, zeigen, daß es richtig
ist, zu debattieren.
Der Fahrplan, den wir diskutiert haben, ist richtig
dargestellt worden. Wir gingen davon aus, daß noch bis
zur Wahl oder spätestens nach der Wahl ein Bericht
vorliegen und dann diskutiert werden würde. Wenn aber
noch im Dezember Herr Müntefering gesagt hat: „Im ersten Halbjahr 1999 liegt der Bericht vor“, es jedoch drei
Wochen später heißt: „Erst Ende 1999 oder im Jahr
2000 kann diskutiert werden“,
({2})
besteht Diskussionsbedarf. Dann sollte auch diskutiert
werden.
Daß wir, Herr Schmidt, in Ihrer Abwesenheit mit den
anderen Obleuten beschlossen haben, auf der übernächsten Verkehrsausschußsitzung das, was bisher vorliegt,
zu diskutieren, bestätigt das: Es muß diskutiert werden,
auch über Zwischenberichte.
({3})
Der zweite Grund für eine Diskussion ist, daß ein Zusammenhang mit anderen Unglücken besteht. Zum einen
gibt es technische Parallelen, zum anderen gibt es einen
allgemeinen Zusammenhang, den Sie, Herr Schmidt,
angesprochen haben, nämlich den des Personalabbaus
und den dadurch bedingten Abbau von Service und Sicherheitsuntersuchungen.
({4})
Herr Schmidt, in Minden sind im Jahr 1996 Ultraschalluntersuchungen abgeschafft worden, obwohl sie
als notwendig erachtet wurden. Nach dem Unglück
mußten solche Untersuchungen wieder eingeführt werden. Das weist auf den technischen Zusammenhang hin:
daß auf Grund der Sparmaßnahmen der Bahn bei Personal und beim Service und bei der Sicherheit natürlich eine Gefahr von sich häufenden Unfällen gegeben ist.
Herr Lintner, Sie sagen, es gebe heute keine neuen
Ergebnisse, die eine Debatte rechtfertigen würden. Ich
möchte Ihnen vier Punkte nennen, die eine Debatte erfordern.
Erster Punkt. Monobloc-Räder, gummigefederte Räder. In der Ausschußdebatte haben Herr Ludewig und
der Vertreter vom EBA, Eisenbahn-Bundesamt, noch
gesagt, es würde auf gummigefederte Räder zurückgerüstet werden. Herr Friedrich meint weiter, daß diese
gummigefederten Räder durchaus Sicherheitsstandards
erfüllen würden. Warum hat die Bahn alle ICE-1-Züge
auf reine Monobloc-Räder zurückgerüstet?
({5})
- Herr Friedrich, ich weiß, Sie können nur dazwischen
rufen und keine Zwischenfrage stellen; das tut mir leid.
Zweiter Punkt. Herr Friedrich, Sie haben recht, daß es
für den einen Typ, nämlich 064, Prüfberichte gab und
gibt. Er wurde von dem Bochumer Werk geprüft, das
hier personell vertreten zu sein scheint. Ich habe den
neuen Bericht vom Dezember letzten Jahres vorliegen.
Dort heißt es: Eine nachvollziehbare Zulassung mit entsprechenden Prüfberichten des zweiten Radtyps durch
die Deutsche Bahn liegt dem EBA nicht vor. Weiter
heißt es: Es gebe zwar konstruktive Ähnlichkeiten mit
dem anderen Typ, aber es sei erstens ein Stahl anderer
Güte und zweitens eine völlig andere Art der Gummieinlage. - Dafür gibt es keinerlei Prüfberichte. Das ist
eine neue Situation, die vom EBA offiziell dargestellt
wurde, über die diskutiert werden kann.
({6})
Wird mir die Zeit angerechnet, oder gibt es eine Möglichkeit, für Ruhe zu sorgen?
({7})
Drittens. Wenn wir feststellen, daß im neuen Bericht
vom 14. Dezember 1998 des Eisenbahn-Bundesamtes
steht, daß bei der Messung Abweichungen von maximal
0,6 Millimetern zulässig sind und daß in der Nacht vor
dem Unglück eine Abweichung von 1,1 Millimetern
gemessen wurde - fast das Doppelte -,
({8})
dann stellt sich natürlich die Frage - wenn Sie sagen,
das sei alles bekannt, so ist das möglich; hier ist dies
nicht debattiert worden -, ob es Möglichkeiten gibt, daß
solche Abweichungen von der maximalen Toleranz, solche Kontrollergebnisse in Zukunft nicht folgenlos bleiben.
({9})
Herr Schmidt, Sie müßten vielleicht noch einmal in
die Klippschule des Parlamentarismus gehen, was die
Gewaltenteilung betrifft.
({10})
- Das wollte ich gern hören. Deswegen sage ich es doch.
- Untersuchungsausschüsse - Herr Ströbele kann Sie
gern belehren; er sitzt genau neben Ihnen - haben genau
die Funktion, im Fall von weitergehenden Untersuchungen Zwischenergebnisse zu diskutieren. Das war so
beim Plutoniumausschuß, und auch beim Rabta-LibyenAusschuß. Obwohl die Prozesse erst ein, zwei oder drei
Jahre später zu Ende waren, wurde trotzdem diskutiert;
und das war mein Vorschlag. Wir können dies ohnehin
nicht erreichen. Wenn die Opposition nicht beherzt genug ist, einen solchen Untersuchungsausschuß zu fordern, dann ist sie selbst daran schuld.
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Wenn es Anhaltspunkte für
politische Verfehlungen gibt, aber die gibt es
in keiner Weise!
- Herr Schmidt kann gar nicht zuhören, weil er immer
dazwischenruft.
({11})
Danke schön.
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Graf von der SPDFraktion.
Herr Dr. Wolf
hat hier kundgetan, daß wir uns in der übernächsten
Ausschußsitzung ohnehin mit diesem Thema beschäftigen werden. Dann frage ich mich, warum wir eigentlich
hier sitzen. Dort hätte er alle Ansprechpartner am Tisch,
die ihm vielleicht auch auf die technischen Fragen, die
er hier stellt, Antwort geben könnten.
({0})
Ich halte es für eine Zumutung, was Sie, Herr Wolf,
hier vorgetragen haben. Niemand von uns kann darüber
entscheiden, ob die Lagerung mit dem einen oder dem
anderen Gummi richtig ist. Niemand von uns kann die
technischen Entscheidungen treffen. Das ist allein Sache
der Techniker und von niemand anderem.
Wir können hier sagen, daß wir uns mit diesen Unglücken beschäftigen, und daß wir, sollten politische
Entscheidungen zu diesem Thema notwendig sein, diese
treffen. Aber das kann man erst machen, wenn wirklich
endgültige Berichte vorliegen, in denen die Wahrheit
darüber steht, was dort passiert ist. Das, was in der Zeitung steht - seien Sie mir nicht böse, Herr Wolf -, kann
man nämlich nicht immer als Wahrheit bezeichnen.
Auch das, was Sie gerade vorgetragen haben - hier
ein Stückchen und dort ein Stückchen -, kann man nicht
als Wahrheit bezeichnen. Das dürfen wir uns hier einfach nicht gefallen lassen.
({1})
Sie haben gesagt, Wahrheit sei die erste Bürgerpflicht. Niemand von uns schweigt zu irgend etwas.
({2})
- Wozu schweigen wir denn? - Wir haben uns all diese
Berichte angehört. Wir hören auch im Ausschuß immer
dann, wenn ein solches Unglück geschehen ist, entsprechende Antworten. Wir haben nie die Ohren vor dem
verschlossen, was uns da gesagt worden ist. Wir haben
immer die Konsequenzen gezogen, wenn denn welche
daraus gezogen werden mußten.
Auch der Minister bzw. das Ministerium hat die allgemeine Bitte, zu dem Unglück von Hannover einen Bericht abzugeben, nicht abgeschlagen. Das war auch beim
letzten Mal, am 20. Januar, so, wenn ich mich richtig
erinnere. Ich bitte Sie, in diesem Punkt bei der Wahrheit,
die Sie so sehr anmahnen, zu bleiben.
({3})
Da Sie hier auch noch angekündigt haben, Sie würden die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu
diesem Thema beantragen, muß ich Ihnen sagen, daß
dies ein unglaubliches Mißtrauen gegenüber diesem
Parlament bedeutet; denn ein Untersuchungsausschuß
wird aus meiner Sicht dann beantragt, wenn man das
Gefühl hat, man müsse Dinge untersuchen, die in diesem Parlament verschwiegen und vertuscht werden.
({4})
Der Vergleich mit dem Komplex Plutonium ist eine
solche Frechheit, daß ich überhaupt nicht in Worte fassen kann, was mich da bewegt.
({5})
Ich möchte noch etwas zum Thema Bahn sagen. Man
muß über alles reden; man muß darüber reden, ob Einsparungen richtig sind und ob Sicherheitskontrollen
durchgeführt werden. Sie betreiben aber das Spiel mit
der Angst, indem sie das Signal aussenden, die Bahn sei
ein angeschlagenes Unternehmen. Meinen Sie denn, es
ist Zufall, daß sich momentan die Attentate, Drohanrufe
und Erpressungsversuche häufen? Diese Taten fordern
Nachahmer heraus, was unter anderem das Ergebnis sozusagen eines verbalen Totschlagens der Bahn ist.
({6})
Das ist aber nicht unser Ziel. Wir wollen die Bahn erhalten und sie mit positiver Kritik wieder aus den negativen Schlagzeilen bringen. So wie Sie handeln, wird es
nicht gehen. Auf Grund Ihres Handelns werden die
Menschen irgendwann nur noch autofahren.
({7})
Das
Wort hat jetzt der Kollege Manfred Heise von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! An dieser Stelle der Debatte
kann man nicht mehr allzuviel Neues sagen. Eines steht
nämlich schon jetzt fest: Die von der PDS beantragte
Aktuelle Stunde ist überhaupt nicht hilfreich für eine seriöse Behandlung der sicherheitsrelevanten, hochsensiblen Fragen, die im Zusammenhang mit der Deutschen
Bahn AG auftreten. Es hat sich schon gezeigt: Diese
Debatte ist völlig kontraproduktiv.
({0})
Ich frage mich allen Ernstes, woher die unterschiedlichen Zwischenergebnisse, so die Überschrift dieser Aktuellen Stunde, kommen sollen. Mir steht bislang nur die
Ausschußdrucksache 25 vom 14. Dezember 1998 zur
Verfügung. Es ist meine feste Überzeugung, daß bei der
Deutschen Bahn AG alles getan wird und wurde, um
ähnliche Vorkommnisse wie das schreckliche Unglück
von Eschede in der Zukunft nahezu auszuschließen.
Wir wissen, daß eine absolute Sicherheit bei einem so
großen Unternehmen wegen der großen technischen
Komplexität bezüglich der vielen Sicherheitsaspekte
nicht erreichbar ist. In diesem Zusammenhang müssen
wir uns einmal die entsprechenden Zahlen vergegenwärtigen. Pro Tag verkehren etwa 38 800 Nah-, Fernund Güterzüge. Jeden Tag erlebt die Bahn Betriebsstörungen durch mehr als einen Suizid. Diese Liste könnte
man noch weiter fortführen.
Noch die alte Bundesregierung hat nach dem Unfall
alle erforderlichen Maßnahmen im Einvernehmen mit
dem EBA, dem Eisenbahn-Bundesamt, eingeleitet. Die
neue Regierung - da bin ich mir sicher -, wird in gleicher Weise handeln. Darin wird sie unsere Unterstützung haben. Allen, die an den bisherigen Untersuchungen beteiligt waren, gilt unser Respekt für die geleistete
Arbeit.
Ein weiterer Punkt. Auf wissenschaftlich-technische
Dinge können wir hier nicht näher eingehen. In diesen
Fragen sind wir als Politiker überfordert. Als Ingenieur
sage ich allerdings, daß mich die Frage schon bewegt,
warum vor dem Unfall die ULM-Anlage, also die Ultraschall-Lichtschnitt-Meßbalken-Anlage, nur teilweise
genutzt wurde und es daher zu Fehlergebnissen kam.
Herr Dr. Wolf, bei Ihrer Bewertung haben Sie aber
nicht erwähnt, daß es eine EBA-Anordnung vom 9. Juli
1998 gibt, in der entsprechende Regelungen getroffen
Angelika Graf ({1})
wurden. Der TÜV Nord und der TÜV Bayern haben
dies bestätigt. Weitere Ergebnisse des FraunhoferInstituts werden noch berücksichtigt. - Ich bin ganz sicher, daß die Deutsche Bahn AG diese Probleme bewältigen wird. Ein entsprechendes Handeln haben wir im
Fall der Regio-Wagen erlebt, als die Deutsche Bahn 600
Wagen zurückgeholt hat.
Ehe wir Versäumnisse oder gar Schuldzuweisungen
gegenüber der DB AG aussprechen, sollten wir uns hier
im Hohen Hause einmal bei Gelegenheit darüber unterhalten, wie wir mit Leuten umgehen, die sich auf Schienen legen, um Ziele durchzusetzen, die Wurfanker auf
Oberleitungen werfen oder die Hindernisse oder Sperren
auf dem Schienenweg aufbauen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bin allerdings an einem Bericht des Bundes als dem hundertprozentigen Eigentümer der Bahn über tödliche Unfälle im
Fahrgastbereich, im technischen Bereich und bei Gefahrguttransporten interessiert. Die Lieferung solcher Informationen war bisher in diesem Maße nicht möglich
und wurde unterdrückt. Aber ich glaube, wir brauchen
sie zur Beurteilung der Geschehnisse.
Den Verantwortlichen der Deutschen Bahn AG, allen
Beteiligten, wünsche ich ehrlich und redlichen Herzens,
daß das Verhältnis von Fahrgastunfällen bei der Bahn
und Personenunfällen beim Auto auch in Zukunft 1 : 100
beträgt und daß wir dies möglicherweise noch verbessern können. Dabei kann sich die Deutsche Bahn AG
unserer Unterstützung sicher sein.
({2})
Das
Wort hat nun erneut der Kollege Albert Schmidt vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hatte nicht vor, von unserer Redezeit vollständigen Gebrauch zu machen. Aber ich möchte noch
ein oder zwei Sätze sagen; denn das, was hier unterstellt
worden ist, möchte ich zurückweisen.
Herr Kollege Dr. Wolf, bei aller Freundschaft: Ich
habe hier an diesem Pult niemals gesagt, daß Ruhe die
erste Bürgerpflicht ist. Das weise ich zurück. Ich habe
auch niemals so getan, als ob das Auffinden der Wahrheit nicht das Wichtigste wäre.
Was ich gesagt habe - ich wiederhole das gerne zum
Mitschreiben und zum Nachlesen - , war etwas völlig
anderes, nämlich daß ich es für hochspekulativ und sogar für gefährlich halte, wenn man angesichts eines Einsatzes von täglich fast 40 000 Zügen auf Grund von drei
Unfällen innerhalb von acht Monaten von einer hohen
Unfallhäufigkeit spricht, daraus eine Schlagzeile konstruiert und dies zum Gegenstand einer Aktuellen Stunde im Plenum des Deutschen Bundestages macht, anstatt
darüber im Rahmen von Ausschußberatungen zu sprechen. Das wäre eine ganz andere politische Ebene.
({0})
Das ist nicht nur spekulativ, sondern auch gefährlich
und für das Unternehmen und letztlich auch für eine
moderne Bahnpolitik schädlich. Wir hätten über alles
diskutieren können, auch über die Auswirkung des Personalabbaus und gestreckter Wartungsintervalle in bezug auf Pannen, Verspätungen usw. Aber jetzt zu behaupten - ohne daß ein Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft vorliegt -, daß die Unfälle ursächlich etwas
mit Vorgängen zu tun haben könnten, die Sie unterstellen, das ist abenteuerlich. Für diesen Politikstil stehe ich
nicht zur Verfügung.
({1})
Als
nächster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär
Lothar Ibrügger das Wort.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Oberstes
Gebot im Verkehr, gleichgültig wo er stattfindet - in der
Luft, auf der Straße, auf der Schiene oder zu Wasser -,
ist die Gewährleistung von Sicherheit. Jeder Unglücksfall zwingt erneut zum Handeln. Jedes technische Versagen zwingt dazu, erneut nachzudenken, wie technisches Versagen in Zukunft vermieden werden kann. Jedes menschliche Versagen im Verkehrsgeschehen
zwingt dazu, zu überlegen, wie man vorbeugend handeln
kann, um menschliches Versagen im Verkehr auszuschließen. - Dies ist das Gebot, dem wir uns - der Gesetzgeber, die Bundesregierung, jeder, der im Verkehrsbereich tätig ist - verpflichtet wissen. Eschede darf sich
nie wiederholen.
({0})
Nach § 4 Abs. 1 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
sind die Eisenbahnen verpflichtet, den Betrieb sicher zu
führen, Fahrzeuge und Zubehör sicher zu bauen und in
betriebssicherem Zustand zu erhalten. Sie spüren: Der
Begriff Sicherheit ist vom Gesetzgeber im Allgemeinen
Eisenbahngesetz eindeutig genannt worden. Die Eisenbahn- Bau- und Betriebsordnung folgt diesen gesetzlichen Erfordernissen. Sicherheit ist - übersetzt - nichts
anderes, als daß man sich im Verkehr ohne Sorge bewegen können muß und daß man vor Gefahren und Schäden geschützt wird. Dies ist der Maßstab für das Handeln der Bundesregierung, sowohl in der Aufarbeitung
des tragischen Unglücksfalles von Eschede als auch in
der Aufarbeitung anderer Unfälle, wo immer sie im
Verkehr stattfinden.
Meine Damen und Herren, Kollege Heise bat gerade
um die Lieferung von Zahlen über die Entwicklung des
Unfallgeschehens im Verkehr durch die Bundesregierung. Ich möchte Ihnen auf Grund einer Anfrage der
SPD-Fraktion vom vergangenen Jahr diesbezügliche
Zahlen für einen Zeitraum von sieben Jahren, und zwar
von 1991 bis 1997, vortragen. Diese zeigen auf, in welcher Art und Weise sich im Bahnbereich Betriebsunfälle
ereignet haben.
In diesen sieben Jahren ist die Zahl der Bahnbetriebsunfälle von 5 000 im Jahr 1991 auf 2 250 im Jahr 1997
zurückgegangen. Bei den fremdverursachten Unfällen das ist ein ganz entscheidender Punkt - ist die Zahl der
Bahnbetriebsunfälle dagegen von 2 000 auf rund 2 500
gestiegen.
Hinsichtlich der täglichen Zugfahrten ergeben die
Zahlen für diese Jahre folgendes Bild: 13 Prozent der
Unfälle sind bahnverursacht, 87 Prozent sind fremdverursacht. Sie kennen das tragische Schicksal vieler
Selbstmörder, die sich auf die Schienen werfen, und
wissen, welche traumatischen Erlebnisse Lokführer haben. Hinter diesen Zahlen verbergen sich solche tragischen Unglücksereignisse. Wir müssen daher sehr sorgfältig zwischen Ursachen trennen, die im Bahnbetrieb
selbst liegen, und solchen, die fremdbestimmt sind.
Das gleiche gilt für die Rangierfahrten. 1991 betrug
die Zahl der bahnverursachten Betriebsunfälle bei Rangierfahrten 4 372, im Jahre 1997 nur noch 1 900. Mit
anderen Worten: Die Zahl der Unfälle bei Rangierfahrten ist um über 2 470 zurückgegangen. Dies zeigt, daß
die Bahn AG und die dafür Verantwortlichen den Aufgaben des Allgemeinen Eisenbahngesetzes und der Eisenbahn-Bau-und Betriebsordnung nachkommen, daß
sie Sicherheit als einen ständigen Prozeß verstehen, aus
jedem Unglücksfall erneut zu lernen und Vorkehrungen
zu treffen.
Wenn wir es mit dem Straßenverkehr vergleichen, so
ist festzustellen, daß dort täglich 1 022 Unfälle passieren. Bei der Bahn sind es nur sieben Unfälle, wovon
sechs fremdverursacht sind. Täglich haben wir im Straßenverkehr 1 351 Verletzte und 24 Tote zu beklagen.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, heißt
Verkehrssicherheit auf der Straße und auf der Schiene:
vorbeugend handeln, Sicherheit da einbauen, wo immer
wir es tun können, und auch entsprechende Verantwortung einfordern. Dazu gehört auch, zu gewährleisten,
daß eine schnellstmögliche Rettung und Hilfestellung
organisiert wird.
Die Aufarbeitung des Unglücks von Eschede ist auch
seitens der Bundesregierung vorgenommen worden.
Nach einem Zwischenbericht, der dem Verkehrsausschuß vor der Sommerpause 1998 vorgelegen hat, müssen wir gegenwärtig davon ausgehen, daß der Staatsanwaltschaft Lüneburg erste vorläufige Entwürfe von Berichten, aber keine Endberichte und keine Zwischenberichte vorliegen. Das gilt auch für die Bundesregierung
und das Eisenbahn-Bundesamt.
Die Bundesregierung kann und darf auf Grund der
Gewaltenteilung nicht in staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren eingreifen. Die Staatsanwaltschaft ist
Herr des Verfahrens. Dennoch ist natürlich Sicherheit
oberstes Gebot. Damit besteht Anlaß für die Bundesregierung, alles zu tun, was in ihren Kräften steht, um das
Eisenbahn-Bundesamt und die Bahn AG in die Lage zu
versetzen, den Aufgaben bezüglich der Sicherheit nachzukommen.
Es sind bereits eine Arbeitsgruppe „Verbesserung der
Sicherheit beim Schienentransport“, eine Arbeitsgruppe
„Betriebssicherheit“ und eine Arbeitsgruppe „Tank- und
Fahrzeugtechnik“ eingerichtet worden. Ziel dieser Arbeitsgruppen, die unabhängig von Zwischen- oder Endberichten arbeiten, ist es, festzustellen, wo im staatlichen
unternehmerischen Regelwerk Änderungen erforderlich
sind. Das gilt für die Zugbeeinflussung. Das gilt für den
Zugfunk. Das gilt für Fahrtenregistrierung, für Ladungssicherheit, Gefahrguttransporte; der Kollege Heise
sprach das an. Außerdem werden gegenwärtig in der
Arbeitsgruppe erörtert: unrunde Räder, Flachstellen,
mögliche bauliche Gefahrenquellen, Weichen, Brückendurchfahrten, Eindringen in Fahrzeuge zur Rettung, Hilfeleistung durch Fenster oder andere Wagenöffnungen,
seitenselektive Türsteuerung, das heißt: Öffnen der Türen nur auf der dem Bahnsteig zugewandten Zugseite,
und vieles andere mehr. Einzelne Maßnahmen sind veranlaßt worden. Dazu zählen Maßnahmen wie die schon
erwähnte Technik der Zugbeeinflussung, Zugfunk und
vieles andere mehr, vor allem auch Qualitätsmanagementsysteme zur Überprüfung der Beladesicherheit von
Güterzügen.
Die Bundesregierung hat die Absicht, dem Verkehrsausschuß Mitte des Jahres 1999 einen Abschlußbericht
vorzulegen. Wir hoffen, daß wir diesen auf Grund der
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auch vorlegen
können. Unabhängig davon hat die Deutsche Bahn AG
bereits Verantwortliche für die Betriebssicherheit in den
einzelnen Geschäftsbereichen bestellt und zum 1. Januar
1999 eine entsprechende zugehörige Aktiengesellschaft
gebildet.
Wir möchten dem Verkehrsausschuß des Deutschen
Bundestages am 24. Februar in einem weiteren Bericht
Hinweise geben, wie sich die Bundesregierung die Aufarbeitung dieses Unglücksfalles, aber auch die Sicherheit im Schienenverkehr vorstellt. Wir werden dann gemeinsam mit Ihnen Schlußfolgerungen ziehen, wie die
Gesetzgebung gegebenenfalls zu verändern wäre. In diesem Sinne laden wir Sie alle zur Mitarbeit ein und hoffen, daß wir damit gemeinschaftlich unseren Beitrag dazu leisten, die Sicherheit im Verkehr zu erhöhen und
menschliches Leid im Verkehrsgeschehen vermeiden zu
helfen.
Herzlichen Dank.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Norbert Otto von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherheit der
Bahn AG hängt nicht allein von einem einzelnen Radreifen ab. Das tragische Bahnunglück von Eschede, dessen
Ursache vermutlich fehlerhaftes Material war, ist
scheinbar der makabre Höhepunkt einer Reihe von Unglücksfällen bei der Bahn. So scheint es zumindest bei
oberflächlicher Betrachtung zu sein. Der Antrag der
PDS soll das ja auch suggerieren.
Schauen wir uns doch einmal die sogenannten Sicherheitsmängel - oder besser: die sich angeblich häuParl. Staatssekretär Lothar Ibrügger
fenden Unfälle - bei der Bahn einmal genauer an. Wie
bei anderen Verkehrsträgern hat auch die Sicherheit der
Bahn eine Vielzahl externer Faktoren zu verzeichnen.
Auf diese Faktoren kann die Bahn selber keinen oder
nur geringen Einfluß nehmen.
Als das wohl bekannteste Beispiel ist hier die Drohung mit Anschlägen zu nennen. Ebenso wie Fluggesellschaften und Unternehmen der Automobilindustrie
kann die Bahn Erpressungsversuche nicht hundertprozentig abwehren. Sie ist nahezu schutzlos ausgeliefert.
40 000 Kilometer Schienenwege Tag und Nacht zu bewachen ist einfach nicht möglich. Es ist doch unsinnig
und unseriös zugleich, dem Unternehmen eine Sicherheitslücke zu unterstellen, wenn zum Beispiel gewissenlose Erpresser oder radikale Atomkraftgegner Schienen ansägen, Wurfanker auf Oberleitungen schleudern
oder Betonklötze auf die Schienen legen. Eine absolute
Sicherheit kann es in diesen Fällen nicht geben. Im übrigen, Herr Kollege Schmidt, bin ich gespannt, was Herr
Trittin seinen ehemaligen Mitstreitern von der Barrikadenbaubrigade beim nächsten Castor-Transport zu sagen
hat, wenn es um das Thema Bahnsicherheit geht.
Ein weiteres Beispiel ist die Sicherheit an unbeschrankten oder teilbeschrankten Bahnübergängen. Die
Bahn ist seit Jahren bemüht, gemeinsam mit den Straßenbauämtern niveaugleiche Bahnübergänge nach und
nach zu beseitigen und Straßenunter- oder -überführungen zu bauen. Wenn nun an einem solchen Bahnübergang Autofahrer die Warnzeichen oder gar die
Halbschranke mißachten und es auf diese Weise zu
einem Unfall kommt, dann wird im Fernsehen und in
den anderen Medien suggeriert: Aha, schon wieder ein
Bahnunfall! Und wer ist verantwortlich? - Die Bahn.
Der Schwarze Peter wird letztlich immer automatisch
der Bahn zugespielt. Daß bei den meisten dieser Unfälle
Autofahrer, Radfahrer oder die anderen Verkehrsteilnehmer schuldig sind, tritt dabei oft in den Hintergrund.
Ich möchte ein drittes Beispiel zu dem Thema sich
häufender Unfälle bei der Bahn anführen. Es ist eine erhebliche Anzahl von Selbsttötungen zu verzeichnen das wurde hier schon gesagt -: 1 357 Selbsttötungen auf
den Gleisanlagen in einem Jahr, nämlich 1997. Bei jedem solchen Unfall und bei jedem solchen Vorfall wird
die Bahnstrecke gesperrt, werden Gegenstände der
Bahntechnik durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und untersucht, und es gibt erhebliche Auswirkungen auf den Verkehrsablauf. Was wird vermittelt? Die Bahn ist unzuverlässig; Unfälle bei der Bahn.
Wir müssen gegenüber den Medien deutlicher machen: Solche Unglücke können nicht der Bahn angelastet werden. Man muß hier also objektiver urteilen. Ich
denke, wir können von den Medien erwarten, daß über
solche Unfälle bei der Bahn nicht unter Sensationsaspekten berichtet wird, sondern daß das Ganze objektiv betrachtet wird.
Meine Damen und Herren, die Bahn ist das sicherste
Verkehrsmittel. Die Unfallhäufigkeit beim Auto ist
26mal höher.
({0})
Wer suggerieren will, daß sich bei der Bahn die Unfälle
häufen, schadet der Bahn. Das dürfen wir nicht zulassen.
({1})
Das müssen wir zurückweisen. Die CDU/CSU-Fraktion
wird gemeinsam mit Ihnen von der Koalition diese Dinge richtig einschätzen.
Gleichermaßen muß ich folgenden Aspekt ansprechen. Der Bundesverkehrsminister und der Bundesfinanzminister seien von dieser Stelle aufgefordert: Verschonen Sie die Bahn mit Haushaltskürzungen! Muten
Sie ihr keine Mehrbelastungen zu! Belasten Sie die
Bahn und die ÖPNV-Betriebe nicht mit der Ökosteuer!
Eine Mehrbelastung an dieser Stelle wird die Bahn nicht
unbedingt dazu veranlassen, für die Erhöhung der Sicherheit mehr als bisher zu tun.
Wir werden die Unfälle aufklären und aufarbeiten
und werden im Parlament darüber sprechen. Aber wir
sollten an dieser Stelle nicht über filigrane technische
Einzelheiten reden, die wir überhaupt nicht beurteilen
können.
Vielen Dank.
({2})
Als
letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde hat die Kollegin
Annette Faße von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Aktuelle Stunde geht zu Ende, die keine Aktuelle Stunde war. Es gibt sicherlich
Aktuelle Stunden, die ihren Sinn haben. Diese war eine
unsinnige Aktuelle Stunde. Ich will jetzt nicht davon
sprechen, daß man die hier aufgeworfenen Fragen besser
an anderer Stelle gestellt hätte. Ich will ganz klar sagen:
Der PDS hat diese Aktuelle Stunde eigentlich nur klargemacht, daß sie hier einsam und verlassen auf weiter
Flur ist, daß sich die Rednerinnen und Redner aller Parteien distanziert haben. Wenn dies das Ziel Ihrer Aktuellen Stunde, Herr Wolf, gewesen war, dann muß ich
sagen: Sie haben das erreicht. Sie stehen einsam und allein auf weiter Flur.
({0})
Für diese Diskussion war es der falsche Zeitpunkt
und der falsche Ort. Aber es handelte sich auch um einen falschen Ansatz und darum, daß gefährliche Spekulationen geäußert wurden. Spekulationen helfen uns
nicht weiter, sondern schaden. Das war die einmütige
Aussage aller, die geredet haben. Ich sage ganz deutlich
noch einmal: Es geht hier überhaupt nicht darum, irgend
etwas zu vertuschen oder irgendwelche Wahrheiten gegebenenfalls irgendwo zu verstecken oder zu bestreiten.
Norbert Otto ({1})
Das wollen wir alle nicht. Denn das hilft nicht, in Zukunft Unfälle zu verhindern.
Auch irgendwelche „unterschiedlichen Zwischenergebnisse“, wie Sie, Herr Wolf, das in Ihrem Antrag für
eine Aktuelle Stunde formuliert haben, liegen nach meiner Kenntnis wirklich nicht vor. Sofern Ihnen weitergehende Ergebnisse vorliegen, wären alle in diesem Hause,
die Ministeriumsvertreter eingeschlossen, sehr daran
interessiert, sie in schriftlicher Form zu bekommen. Es
wäre auch Ihre Pflicht, uns das, was Ihnen vorliegt, nicht
vorzuenthalten. Aber davon habe ich nichts erfahren.
Vielmehr sind wir auf dem Stand der Ausschußdrucksache 25, der Ausschußberichte. Wir müssen jetzt die Untersuchungen und ihre Endergebnisse abwarten. Sollten
Sie etwas anderes haben: her damit; aber dann in
schriftlicher Form und nicht in Form von Spekulationen.
Ich finde, diese Diskussion hier ist schlecht für die
Deutsche Bahn AG, schlecht für die von den Unglücken
Betroffenen und auch schlecht für die Bahnkunden. Im
Hinblick auf die Unfallopfer, deren Hinterbliebenen und
der vielen Helferinnen und Helfer vor Ort sollten wir
uns bewußt sein, in welcher Form wir eigentlich mit diesem schlimmen Unfall, dessen Bilder ständig vor unseren Augen stehen, wenn wir darüber diskutieren, umgehen. Die heutige Diskussion war von Ihrer Seite her,
Herr Wolf, unwürdig.
({2})
Meine Damen und Herren, nicht nur das Unglück von
Eschede, sondern auch die anderen Unglücksfälle müssen aufgeklärt werden. Derartige Katastrophen müssen
in Zukunft vermieden werden. Darüber sind wir uns alle
vollkommen einig.
Mir ist überhaupt nicht klar, welche Verbindung Sie
in dieser Aktuellen Stunde eigentlich zwischen dem Unglück von Eschede und den anderen Unglücksfällen herstellen. In keinem Fall liegen Endergebnisse vor; eine
Verbindung ist überhaupt nicht herzustellen, obwohl ich
natürlich ganz deutlich sagen muß, daß jeder Unfall ein
Unfall zuviel ist.
Wir sollten uns aber auch davor hüten, den umweltfreundlichen und grundsätzlich zuverlässigen Verkehrsträger Bahn durch derartige Debatten in ein falsches
Licht und in die Nähe der Unzuverlässigkeit zu rücken
oder als besondere Gefahrenquelle für Leib und Leben
darzustellen. Vielmehr müssen wir die Bahn im Interesse der Benutzer und der Mitarbeiter dabei unterstützen,
die Aufklärung der Unfallursachen voranzutreiben, für
Abhilfe zu sorgen und Zweifel an dem für eine zukunftsweisende Verkehrspolitik so bedeutsamen Verkehrsträger Bahn zu beseitigen.
Meine Damen und Herren, wir werden uns in Zukunft
aber auch mit der Frage der Zugänglichkeit an den
Schienenwegen auseinanderzusetzen haben. Dieses für
die Zukunft so wichtige Thema muß in Zusammenarbeit
mit den Ländern, den Rettungsdiensten und Feuerwehren angegangen werden.
Herr Wolf, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
PDS, Sie haben der Sache keinen guten Dienst erwiesen.
Ich fordere Sie auf, mit uns im Ausschuß sachlich und
korrekt darüber zu diskutieren, wenn die Zeit reif ist.
Heute war sie nicht reif.
Danke.
({3})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist damit
beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand von
Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und
über das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen in der Bundesrepublik Deutschland 1997
- Unfallverhütungsbericht Arbeit 1997 - Drucksache 14/156 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner der Kollege Konrad Gilges von der SPDFraktion. Bitte, Herr Gilges.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Das Thema, das wir heute
zu beraten haben, sollte nicht unbedingt strittig debattiert werden. Vielmehr sollten alle Fraktionen unbeschadet ihrer politischen Grundsätze sich des Themas annehmen, wie Unfälle am Arbeitsplatz und Berufserkrankungen verhütet werden können.
Grundsätzlich bewerte ich den Unfallverhütungsbericht positiv; denn auf Seite 3 des Berichtes ist zu erkennen, daß durchgängig alle Unfall- und Erkrankungszahlen rückläufig sind. 1997 gab es in der Bundesrepublik
rund 35,8 Millionen Erwerbstätige, 0,5 Prozent weniger
als 1996. Die angezeigten Arbeitsunfälle sind um 3,5
Prozent rückläufig, die tödlichen Unfälle um 7,9 Prozent, die angezeigten Wegeunfälle um 7,8 Prozent, die
Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit um 5,4
Prozent, die anerkannten Berufskrankheiten um 3,5 Prozent und die Todesfälle Berufserkrankter um 8,9 Prozent.
Es gibt nur eine einzige negativ zu bewertende Zahl,
nämlich die der tödlichen Wegeunfälle. Deswegen habe
ich eine Frage an die Bundesregierung, die sie uns, wenn
sie heute hier nicht zu Wort kommt, noch im Ausschuß
beantworten kann.
({0})
- Die Bundesregierung ist hier durch Frau Kollegin Mascher vertreten, die gerade in ein Gespräch verwickelt
ist. Die Zahl der tödlichen Wegeunfälle ist im Berichtszeitraum 1997 um sage und schreibe 5,1 Prozent gestiegen. Das ist der einzige Teil, wo es eine Steigerungsrate
gibt. Hierbei geht es immerhin um 885 Todesfälle.
Man kann diese Angabe nach ihrer Entstehung interpretieren. Genaueres dazu habe ich im Bericht nicht gefunden. Man kann diese Angabe so interpretieren, daß
zum Beispiel die Verkehrsdichte gestiegen ist. Man
kann diese Angabe ebenfalls so interpretieren, daß die
Fahrzeuge, mit denen sich die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer bewegen, unsicherer geworden sind.
Ich meine, daß die Bundesregierung in den nächsten
Jahren auf diesem Gebiet etwas tun muß. Wenn diese
Steigerungsraten beibehalten werden, dann sehe ich darin
das große Problem, daß in Zukunft, wie schon gesagt,
insbesondere die Anzahl der Wegeunfälle so erheblich ist,
daß sie alles das, was in der Entwicklung der Unfallverhütungsarbeit an Positivem stattfindet, konterkariert.
Ich möchte zum zweiten Punkt kommen, zur Frage
der Häufigkeit, einer entscheidenden Frage. Es geht darum, in welchen Bereichen eigentlich die meisten Unfälle
stattfinden. Um das zu erfahren, muß man sich Seite 18
des „Unfallverhütungsberichts Arbeit 1997“ zur Hand
nehmen. Über der Statistik steht „Häufigkeit der angezeigten Arbeitsunfälle je 1 000 Vollarbeiter bei den gesetzlichen Unfallversicherungsträgern im Jahre 1997“.
Wenn man sich diese Statistik anschaut, dann stellt man
fest, daß eine Berufsgenossenschaft am unteren Ende
der Tabelle liegt, nämlich die Bau-Berufsgenossenschaft Hamburg. Sie hat eine Quote von sage und
schreibe 134 angezeigten Arbeitsunfällen je 1 000
Vollarbeiter bei den gesetzlichen Unfallversicherungsträgern im Jahre 1997. Die Bau-Berufsgenossenschaft
Bayern und Sachsen liegt bei einer Quote von 105. Die
Bau-Berufsgenossenschaft Hannover liegt bei einer
Quote von 107. Danach kommt die FleischereiBerufsgenossenschaft.
Ich stelle mir schlicht und einfach die Frage: Weshalb
hat gerade die Bau-Berufsgenossenschaft Hamburg eine
solch hohe Unfallquote? Entweder stimmt etwas bei dieser Bau-Berufsgenossenschaft nicht, oder es stimmt etwas nicht bei der Tätigkeit der Baufirmen in diesem Bereich. Irgend etwas ist nicht stimmig. Die Bundesregierung und insbesondere diese Berufsgenossenschaft
müßten sich einmal bemühen, uns das zu erklären. Ist es
so, daß die Kolleginnen und Kollegen des Baugewerbes
in Hamburg öfter vom Baugerüst fallen und sich schwere Verletzungen holen oder sogar tödliche Unfälle erleiden, als dies zum Beispiel bei der Bau-Berufsgenossenschaft Wuppertal, also hier im Rheinland, der
Fall ist, die in der Statistik weit oben steht? Die Hamburger Zahlen sind schon gravierend.
Beim Lesen hat mich sehr beunruhigt, daß das auch
für Fleischer bzw. Metzger - wie sie in anderen Teilen
unseres Landes genannt werden - gilt. Sie sind nach wie
vor diejenigen, die am meisten gefährdet sind. Die Kolleginnen und Kollegen spotten immer: Ein Metzger, der
noch alle zehn Finger hat, ist noch nicht lange dabei. An
solch einer Aussage kann man sehen, was ich meine.
Ich möchte mich darüber nicht lustig machen; vielmehr möchte ich einfach die Tatsache herausstellen: Die
Kollegen in diesen Berufen sind überdurchschnittlich
gefährdet. Das gilt, nebenbei gesagt, auch für Holzarbeiter. Die Quote der Holz-Berufsgenossenschaft hinsichtlich der Häufigkeit der angezeigten Arbeitsunfälle
liegt, von unten an gesehen, an neunter Stelle.
Das ist nicht sehr befriedigend. Ich bin der Meinung,
daß wir als Parlamentarier und auch die Bundesregierung Gespräche mit diesen Genossenschaften führen
müssen, um zu erreichen, daß auch diese Genossenschaften hinsichtlich der Anzahl an Arbeitsunfällen in
Häufigkeitsbereiche hineinkommen, die für uns „erträglich“ sind.
Ich möchte etwas zur Verteilung der tödlichen Unfälle sagen. Auf Seite 20 des „Unfallverhütungsberichts
Arbeit 1997“ ist eine Statistik, die mich sehr beunruhigt
hat. Bezogen auf das gesamte Jahr 1997 werden in der
Statistik 1 403 tödliche Unfälle aufgeführt. Von diesen
1 403 tödlichen Unfällen haben sich allein 1 004 bei den
Bau-Berufsgenossenschaften ereignet. Ich sage Ihnen:
Da stimmt etwas nicht. Ich kann mich nicht damit abfinden, daß Bauarbeiter - ich sage das nicht, weil ich einer
bin - besonders gefährdet sind. Es ist etwas nicht stimmig, und das muß erklärt werden. Wir müssen im Ausschuß nachfragen, warum - ich sage es noch einmal von 1 403 tödlichen Unfällen alleine 1 004 bei den BauBerufsgenossenschaften zu finden sind.
Weiter möchte ich etwas zur Entwicklung der Berufskrankheiten sagen. Wenn man sich zu diesem Punkt
die Statistiken in dem Bericht ansieht, stellt man fest,
daß es auch hier eine, wie ich finde, schlimme Entwicklung gibt. Das gilt für die Hautkrankheiten. Die
Hautkrankheiten weisen - so wird in diesem Bericht
dargestellt - eine unerhört steigende Tendenz auf. Die
Zahl hat sich teilweise verdreifacht, wenn ich die Statistik richtig interpretiere. Auch das ist nicht logisch und
muß nicht sein. In diesem Bereich muß also etwas geschehen.
Wir hatten Erwartungen an die Verabschiebung des
SGB III, des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes.
Die Erwartungen waren, daß es den Berufsgenossenschaften, die ja nach dem Gesetz in die Vorbeugung mit
einbezogen sind, gelingen könnte, durch ihre Möglichkeiten, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, die Zahlen zu erniedrigen. Das ist nach meinem ersten Eindruck
auch erfolgt. Das heißt, diese Entscheidung hinsichtlich
der Bau-Berufsgenossenschaften, die ja lange umstritten
war, insbesondere bei den staatlichen Gewerbeaufsichtsämtern, hat sich als richtig erwiesen, da sich nach meiner Einschätzung dadurch eine positive Entwicklung ergeben hat.
Aber - das ist eine Forderung, die ich stelle -: Die
Bundesregierung muß unabhängig von dem gesetzlich
vorgeschriebenen Berichtsturnus in der Lage sein, uns
die Auswirkungen dieses Gesetzes insbesondere bei dieser Frage - ich komme nachher noch auf zwei weitere darzustellen. Ich sage es noch einmal: Die vorbeugende
Funktion der Berufsgenossenschaften hat sich bewährt.
Wenn ich Berufsgenossenschaften sage, dann meine ich
natürlich auch die anderen Unfallversicherungsbereiche.
Ich nenne die Berufsgenossenschaften einmal als Synonym für alle Unfallkassen.
Auch die Gutachterberufung war ein strittiger Punkt
bei der Beratung. In der Vergangenheit war es so, daß
die jeweiligen Berufsgenossenschaften entscheiden
konnten, wer als Gutachter benannt werden konnte, unabhängig davon, ob die Interessen des jeweiligen Betroffenen, des Versicherten, dabei Berücksichtigung fanden
oder nicht. Wir haben das nun geöffnet und eine Mitbestimmungsmöglichkeit, eine Wahlmöglichkeit des Versicherten, das heißt der Arbeitnehmerinnen und der Arbeitnehmer, in das Gesetz hineingeschrieben. Das haben
wir gemeinsam getan. Ich betone, daß wir das hier einstimmig beschlossen haben. Allerdings weiß ich nicht,
wie die Grünen damals abgestimmt haben; das habe ich
nicht mehr in Erinnerung.
Nun stellt sich die Frage, wie sich die Situation bezüglich der Gutachter entwickelt hat. Hat sich eine Entwicklung hin zu mehr Demokratie, zu mehr Mitbestimmung in diesem Bereich ergeben? Oder sind die
Berufsgenossenschaften noch immer hartleibig - so war
unser Eindruck in der Debatte - und sind der Meinung,
daß der Versicherte nicht viel mitzureden hat? Letzteres
würde ich sehr bedauern und zu dem Schluß kommen,
daß wir das Gesetz in diesem Punkt korrigieren bzw.
den Interessen des Versicherten entgegenkommen müssen.
Es gab noch einen dritten Punkt, der umstritten war Kollege Hans Büttner hat ihn immer wieder angesprochen -: die Frage des Datenschutzes. Wir müssen etwas
dazu hören, wie sich die Situation im Bereich des Datenschutzes entwickelt hat und ob den Arbeitnehmerinteressen in diesem Bereich Rechnung getragen worden
ist.
Ich will - weil ich nur noch eine Minute Redezeit
habe - zum Schluß kommen und noch zwei Punkte
ansprechen: Zum einen bin ich der Meinung, daß die
Bundesregierung einen Bericht zum Jugendarbeitsschutzgesetz vorlegen muß, das in diesem Bericht
auch angesprochen wird. Es gibt ein neues Jugendarbeitsschutzgesetz. Keiner weiß, wie es umgesetzt
wird. Das gilt insbesondere für die Kinderarbeitsschutzverordnung, die seit anderthalb Jahren in Kraft
ist. Ich meine, wir müssen mehr Informationen im
Zusammenhang mit der weiteren Beratung dieses Tagesordnungspunktes in den Ausschüssen zusammentragen.
Abschließend möchte ich die Kostenfrage, die eine
große Rolle spielt, ansprechen. Es werden rund 23,5
Milliarden DM für die Folgen von Unfällen während der
Arbeit, auf dem Weg zur Arbeitsstätte usw. ausgegeben.
Das ist ein erheblicher Kostenfaktor für jedes Unternehmen. Wenn die Zahl der Unfälle zurückgeht, wenn
Vorbeugung stattfindet, ist das nicht nur für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gut, es ist auch für das
Unternehmen gut, weil die Lohnnebenkosten dadurch
entscheidend gesenkt werden.
Die Beiträge zu den Unfallversicherungen sind ein
Kostenfaktor. Wenn wir dafür sorgen, daß diese Kosten
rückläufig sind, haben wir auch einen Beitrag dazu geleistet, daß die Arbeitsplätze in der Bundesrepublik sicherer werden.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerald Weiß,
CDU/CSU, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Arbeitsschutz ist auf gutem Weg. Das geht aus dem Bericht, den die Bundesregierung dem gesetzlichen Auftrag entsprechend vorgelegt hat, einmal mehr hervor.
Der langfristige positive Trend mit der von Herrn Gilges
bereits erwähnten bedauerlichen Ausnahme der tödlichen Wegeunfälle, bei denen es nur in diesem Berichtsjahr einen Anstieg gegeben hat, hat sich fortgesetzt.
Es gibt weniger Arbeitsunfälle, insbesondere weniger
tödliche Arbeitsunfälle, und eine rückläufige Entwicklung bei den Berufskrankheiten. Die Zahl der Arbeitsunfälle - das ist ein langfristiger Trend - ist von 1960
bis 1997 von 2,7 Millionen auf 1,6 Millionen zurückgegangen, und das trotz stark gestiegener Zahl von Erwerbstätigen. Die Unfallhäufigkeit ist aktuell auf den
niedrigsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland gesunken. Die Anzahl tödlicher Arbeitsunfälle ist in 35 Jahren um 60 Prozent zurückgegangen.
Das sind gute Nachrichten aus einem Kernbereich der
sozialen Ordnung. Aber wir müssen die guten Nachrichten in der Zukunft mit noch besseren überholen;
denn jeder Arbeitsunfall - das ist sinngemäß in der vorhergehenden Debatte gesagt worden - ist einer zuviel,
und jede Berufskrankheit ist eine zuviel. Hände in den
Schoß legen gilt nicht.
({0})
Die guten Nachrichten zum Arbeitsschutz sind nicht
wie Manna vom Himmel gefallen. Sie gehen auf das erfolgreiche Zusammenwirken der Berufsgenossenschaften, der Selbstverwaltungskörperschaften, der gesetzlichen Unfallversicherung, der staatlichen Arbeitsschutzbehörden, der Betriebe, der Arbeitnehmer und des Gesetzgebers zurück,
({1})
wobei neben dem Bund, der hier gerade in den letzten
Jahren sehr viel getan hat, der Gesetzgeber Europäische
Union eine immer gewichtigere Rolle spielt.
({2})
Humanitäres und soziales Ziel und wirtschaftlicher
Vorteil stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern
decken sich. Leben und Gesundheit der Beschäftigten in
der Arbeitswelt zu schützen ist auch betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich klug.
({3})
Kaum eine Investition ist sinnvoller als die in Vorbeugung und Arbeitssicherheit. Das läßt sich übrigens in
nüchternen Zahlen darstellen. 1960 haben die Unternehmen an ihre gewerblichen Unfallversicherungsträger
einen Beitrag von 1,51 Prozent der Lohnsumme zahlen
müssen. Fast 40 Jahre später - 1997 - waren es trotz erheblicher Kostensteigerungen bei Renten und Rehabilitationsmaßnahmen nur 1,40 Prozent der Lohnsumme.
Der stabile und sogar sinkende Beitrag zur Unfallversicherung - wo gibt es das sonst noch in der Sozialversicherung? - bei gestiegener Versorgungsqualität ist ein
Teil der Erfolgsgeschichte der Unfallversicherung.
({4})
Diese Unfallversicherung wurde - wie viele Elemente
des Sozialstaates - durch den konservativen Revolutionär Bismarck begründet und erfuhr in der sozialen
Marktwirtschaft des Ludwig Erhard ihre noch heute
gültige Ausprägung.
Der Arbeitsschutz ist das klassische Feld der Sozialpolitik. Wir haben denen, die sich darum in den Gremien
bemühen, den Sicherheitsbeauftragten der Betriebe, den
Gewerbeaufsichtsbeamten, den engagierten Meistern,
Managern und Unternehmern, den Betriebsräten, den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Berufsgenossenschaften - sie heißen zwar immer noch technische Aufsichtsbeamte, aber sie sind doch moderne Dienstleister
und Berater für Arbeitssicherheit geworden - sowie
schließlich den Vertretern der Arbeitgeber und Gewerkschaften, für ihr Wirken zu danken.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht der
Zufall stand bei der insgesamt positiven Entwicklung im
Arbeitsschutz Pate, sondern Selbstverwaltung und solidarische Verantwortung. Die Verankerung des Unfallrisikoschutzes in der gesetzlichen Sozialversicherung ist
richtig; das gilt auch für die Zukunft. Richtig ist auch die
risikonah gegliederte Struktur der Unfallverhütung.
Was aber müssen wir tun, um auch morgen noch gute
Nachrichten aus dem Bereich des Arbeitsschutzes zu erhalten? Rehabilitation geht vor Rente - dieses Motto
führte zu atemberaubenden Ergebnissen. Es wurde durch
medizinische Hilfe ein Maß an beruflicher Wiedereingliederung erreicht, von dem man früher nicht zu träumen gewagt hätte. Rehabilitation geht vor Rente - das
war der erste Schritt. Darüber hinaus muß jetzt gelten:
Prävention geht vor Rehabilitation. Die Ausgaben der
Unfallversicherungsträger für Prävention - zweifellos
ein unvollkommener Maßstab - betrugen im vergangen
Jahr 1,4 Milliarden DM. Der Kollege Gilges hat darauf
hingewiesen, daß die Gesamtausgaben 23,6 Milliarden
DM betrugen. Der Anteil für die Prävention macht einen
respektablen Betrag aus. Aber das ist ganz sicher noch
zuwenig.
Ich stelle dem ein Beispiel aus einem anderen Bereich, der Unfallversicherung der öffentlichen Hand, gegenüber: Eine Zahl von 1,6 Millionen Schul- und Wegeunfällen von Schülerinnen und Schülern im Jahre
1997 - dabei ist die Tendenz steigend - halte ich für
skandalös, hoch und auf Dauer nicht hinnehmbar. Lebensnotwendig - das kann man im buchstäblichen Sinne
sagen - sind deshalb verbesserte und wirksame Präventionsmaßnahmen.
Herr Kollege Weiß,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schwaetzer?
Ja.
Es ist nett, Herr
Kollege, daß Sie mir in Ihrer ersten Rede eine Zwischenfrage gestatten.
Finden Sie genauso wie ich, daß die Nichtpräsenz der
Bundesregierung unmöglich ist? Das ist eben ja schon
einmal angesprochen worden. Ich kann nämlich keinen
Vertreter der Bundesregierung im ganzen Plenarsaal
entdecken.
({0})
Ich finde
es wie Sie, Frau Kollegin Schwaetzer, nachgerade stillos
und skandalös, daß dann, wenn hier über Arbeitsschutz,
ein Kernfeld der Sozialpolitik, geredet wird, von der
Bundesregierung niemand da ist. Ich halte das für skandalös.
({0})
Frau Kollegin
Schwaetzer, ich darf Ihnen zur Aufklärung sagen, daß
Frau Staatssekretärin Ulrike Mascher mich davon unterrichtet hat, daß sie auf Grund der Verschiebungen der
Debattenzeiten aus dem Saal gehen mußte, um einen
Termin wahrzunehmen. Sie steht aber natürlich zur Verfügung, und ich bitte sie hereinzukommen. Da sie es mir
ausdrücklich gesagt hat, bitte ich Sie darum, zu akzeptieren, daß sie auf Grund der Zeitverschiebungen heute
nicht dauernd anwesend sein kann. Jetzt ist Herr Staatssekretär Dr. Pick da, und Frau Ulrike Mascher kommt
sicherlich gleich wieder.
Herr Kollege, Sie dürfen fortfahren.
Vielen
Dank, Frau Präsidentin. Diese Regierung scheint ja ununterbrochen im Gehen zu sein.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen
auch stärker an die Problembereiche herangehen, wie es
Herr Gilges getan hat. Den immer noch viel zu hohen
Unfallzahlen bei jungen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in der Landwirtschaft und in kleinen Betrieben
- das sind allesamt Problemsektoren - muß mit vorbeugenden Maßnahmen begegnet werden.
Herr Gilges hat den Problembereich Hauterkrankungen angesprochen. Ich stimme ihm zu: Das sollte man
Gerald Weiß ({1})
arbeitsmedizinisch untersuchen. Es gibt schwerste Fälle
von Hauterkrankungen und ganz wenige Anerkennungen. Ich glaube, das müßte man näher beleuchten. Ich
schließe mich aus Zeitgründen einfach Ihren Ausführungen an.
Ich sagte: Mehr Prävention ist notwendig. Woher die
finanziellen Mittel dafür nehmen? Wir haben 36 gewerbliche Berufsgenossenschaften, allein acht Bauberufsgenossenschaften.
({2})
Ich glaube, es wäre unsinnig, diese gegliederte Struktur
einzuebnen und das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Aber ich glaube, daß für synergiestiftende Zusammenführungen von Berufsgenossenschaften sehr wohl Raum
ist.
({3})
Es wäre sinnvoll, in dieser Weise Effizienz zu steigern
und Ausgaben zu senken. Es gibt erfolgreiche Beispiele
für Fusionen, beispielsweise Schornsteinfegerberufsgenossenschaften. Damit deute ich es an: Man sollte die
Vereinigung risikoverwandter Berufsgenossenschaften
getreu dem Prinzip „Selbstverwaltung vor Staatszwang“
nicht per Gesetz oder Verordnung erzwingen;
({4})
aber man sollte der Selbstverwaltung helfen und sie ermuntern, diese Schritte zu gehen. Der Gesetzgeber hat ja
- auch dies ist eine kluge Norm - in § 118 des Sozialgesetzbuches VII Zusammenschlüsse auf freiwilliger
Grundlage intendiert. Selbstverwaltung vor Zwang: Wir
sollten Effizienzgewinne durch Strukturstraffung in der
Selbstverwaltung herbeiführen, um mehr für Prävention
tun zu können.
Heute geben die Unfallversicherungen 75 Prozent
ihrer Leistungen für Entschädigungen aus. Entschädigungsleistungen gar nicht erst notwendig werden zu lassen, Schädigungen vorzubeugen, das ist der umfassende
Präventionsauftrag für die Zukunft, den das Sozialgesetzbuch VII artikuliert. Das ist die Entwicklungsrichtung für die Zukunft: Synergien gewinnen aus Ersparnissen, die man durch Strukturverbesserungen erzielt,
mehr in Prävention investieren.
Im übrigen wissen wir, was die Arbeitnehmerinnen
und die Arbeitnehmer und die Betriebe an diesem erfolgreichen Sozialversicherungszweig haben. Der vorliegende Bericht stellt es in hinreichender Deutlichkeit
dar. Wir nehmen ihn in der Überzeugung entgegen, daß
die guten Nachrichten von morgen im Arbeitsschutz
machbar sind.
Vielen Dank.
({5})
Herr Kollege Weiß,
das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich
gratuliere Ihnen herzlich im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Ich kann Ihnen versichern, daß Frau Parlamentarische
Staatssekretärin Ulrike Mascher mit großer Aufmerksamkeit Ihrer Rede zugehört hat; sie ist wieder da.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine Reihe wichtiger Fragen ist hier schon angesprochen worden. Insbesondere der Kollege Gilges hat
Fragen aufgeworfen, mit denen wir uns im Ausschuß sicherlich in Ruhe auseinandersetzen werden und auseinandersetzen müssen.
Ich möchte heute zwei Gesichtspunkte aus dem Bericht aufgreifen: zum einen Prävention und Arbeitsschutz, zum anderen das Problem der Berufskrankheiten, insbesondere die Gutachterfrage.
Der Bericht weist - das ist vorhin schon von Herrn
Weiß angesprochen worden - einen Rückgang der Zahl
der Verdachtsanzeigen in bezug auf Berufskrankheiten
aus. Erfreulich ist das rein statistisch; in der Sache kann
es aber keineswegs beruhigen. Denn Statistiken bilden
schließlich keineswegs zwangsläufig die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Probleme angemessen ab. Das
haben wir gerade erst im Gesundheitsausschuß und im
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung festgestellt und
- das habe ich ausdrücklich unterstützt - bei Berufskrankheiten eine europäische Angleichung und Transparenz in der statistischen Erfassung, aber auch in den Begutachtungssystemen eingefordert.
Welche immense Verantwortung mit direkten Auswirkungen auf viele Menschen wir als Politik beim
Thema Berufskrankheiten haben, wird bei dem Thema
Asbest greifbar. Fast die Hälfte aller in der Statistik
ausgewiesenen Todesfälle auf Grund einer Berufskrankheit sind auf Asbest zurückzuführen. Viel zu spät ist Asbest als Arbeitsstoff verboten worden, und viel zu lange
hat die Anerkennung als Berufskrankheit gedauert. Wie
haben die Menschen kämpfen müssen, wie ist ihnen
vorgehalten worden, sie seien doch selbst schuld, weil
sie auch noch rauchten, und ähnliche Zynismen mehr,
bis sie ihr Recht endlich erkämpft hatten!
Vielen mit anderen Krankheitsbildern ist dies nicht
gelungen. Allzuoft setzt sich hier das Denken vom Ergebnis her durch: Um Kosten zu vermeiden, wird es den
Betroffenen, die schon durch ihre gesundheitlichen Leiden schwer geschädigt sind, oft unglaublich schwergemacht, zu ihrem Recht zu kommen.
({0})
Die Anerkennungsverfahren sind trotz unserer Versuche, im Rahmen der Reform des SGB VII wenigstens
die gröbsten Mißstände zu beseitigen, nach wie vor ausgesprochen bürokratisch und unwürdig. Der Kollege
Gilges hat das Problem angesprochen. Nach den Berichten, die uns vorliegen, haben die Betroffenen bei der
Benennung der Gutachter nach wie vor praktisch kein
Wahlrecht. Es existieren Listen von Gutachtern, die von
den Berufsgenossenschaften an die Gerichte gegeben
werden. Gutachter, die im Vertragsverhältnis zu BerufsGerald Weiß ({1})
genossenschaften stehen, werden als angeblich neutrale
Gutachter vorgegeben. Diese Praxis werden wir im Zusammenhang mit der schon vereinbarten ersten Bilanz
der Umsetzung des neuen SGB VII im Ausschuß thematisieren, und hier werden wir eingreifen und ändern
müssen.
({2})
- Ja, ich glaube auch, daß das eine sehr wichtige Sache
ist.
Berufskrankheiten sind die Spitze des Eisbergs der
arbeitsbedingten Erkrankungen, die mit Arbeitslosigkeit,
Jobunsicherheit und Alltagsstreß in direkter Linie ansteigen. Wir wollen die Krankenstände in den Betrieben
senken, indem wir nicht die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kürzen und damit die Kranken bestrafen, sondern indem wir krankmachende Arbeitsbedingungen
verändern, und zwar unter Einbeziehung der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben.
({3})
Wieviel diese kankmachenden Arbeitsbedingungen
die Gesellschaft kosten, macht der Bericht dankenswerterweise deutlich. Wer diese Kosten vermeiden will,
muß in Arbeitsschutz und Prävention investieren.
Es ist schön, dabei auch mit dem Kollegen Weiß einer Meinung zu sein. Fast ein Drittel der betrieblichen
Ausfallkosten von zirka 90 Milliarden DM im Jahr und
ein großer Teil der Rehabilitationskosten entstehen
durch Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des
Bindegewebes. Ein großer Teil hiervon sind Rückenkrankheiten. Gerade bei diesen Erkrankungen sind die
Chancen, sie durch Prävention zu vermeiden, hervorragend.
Wir müssen den Arbeitsplatz viel stärker in die öffentliche Diskussion über Gesundheits- und Umweltschutz einbeziehen. Schließlich sind - auch das ist dem
Bericht zu entnehmen - nach Schätzungen aus Mitgliedstaaten der EU bis zu 40 Prozent der gesamten Erkrankungen in der Gesellschaft arbeitsbedingte Erkrankungen.
Wir müssen den betroffenen Menschen selbst mehr
Möglichkeiten geben, die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen in die Hand zu nehmen, und zwar über
Gesundheitszirkel in den Betrieben, über mehr Mitbestimmungsrechte, wie sie zum Teil über die Umsetzung der EU-Richtlinien eröffnet werden, über die
Einbeziehung der Betriebsräte und Vertrauensleute.
Prävention und Arbeitsschutz kann man nicht gegen
die Kolleginnen und Kollegen oder über ihre Köpfe
hinweg erfolgreich umsetzen, sondern nur mit ihnen
gemeinsam.
({4})
Nun erteile ich dem
Kollegen Dr. Kolb von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier
über einen Bericht, der - dies ist schon gesagt worden viele positive Signale sendet. Sämtliche relevanten Daten sind rückläufig: die Zahl der schweren Arbeitsunfälle und der Arbeitsunfälle insgesamt und damit die
Zahl der hieraus resultierenden Rentenansprüche, aber
auch - ich denke, dies ist besonders positiv zu bewerten
- die Zahl der tödlich verunglückten Personen.
Der Bericht zeigt, daß der Arbeitsschutz in Deutschland einen hohen Standard hat sowie hohes Ansehen und
weitverbreitete Akzeptanz in der Bevölkerung genießt.
Hierzu tragen die vielfältigen Bemühungen der Berufsgenossenschaften und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, aber auch der verantwortungsvolle und sensible Umgang der Arbeitgeber und
Arbeitnehmer mit diesem Thema bei. Arbeitsschutz bewahrt aber nicht nur die Arbeitnehmer vor Schmerz und
Leid, sondern er ist auch aus ökonomischer Sicht durchaus sinnvoll. Den betrieblichen Aufwendungen stehen
Einsparungen, zum Beispiel durch entsprechende Reduktion bei krankheitsbedingten Aufwendungen, gegenüber.
Es ist auch erfreulich, daß die Beitragsentwicklung,
zumindest bezogen auf die Lohnsumme, seit 1960 konstant, ja sogar leicht rückläufig ist. Lag der Beitrag 1960
noch bei 1,51 DM pro 100 DM Lohnsumme, so sind es
heute 1,40 DM, mithin 2,4 Prozent des durchschnittlichen Stundenlohns.
Ich will noch einen Aspekt ansprechen, und ich hoffe
auch hier auf Konsens in diesem Hause; denn ich gebe
Ihnen recht, Herr Gilges: Wir sollten diesen Punkt nicht
strittig diskutieren. Wir sollten nicht übersehen, daß dieser qualitativ hochwertige Arbeitsschutz mit einer zunehmenden Bürokratie und vor allen Dingen einem
Berg an Unfallverhütungsvorschriften erkauft wird,
der gerade - das ist mein Thema - die kleinen Unternehmen zu ersticken droht.
({0})
Dort ist das Thema Berufsgenossenschaften mittlerweile
ein absolutes Reizthema geworden.
({1})
Es ist ja wahr: Unzählige Unfallverhütungsvorschriften, viele eher auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten
von Großunternehmen zugeschnitten, sind zu beachten.
In kleinen Unternehmen bleibt oft der Widerspruch zwischen der Unfallverhütungsvorschrift, in der an alle
Eventualitäten gedacht ist, und den tatsächlichen Möglichkeiten. Es ist vielfach gar nicht einmal böser Wille
des Unternehmers, sondern es ist oft einfach ein Informationsverarbeitungsproblem. Wer keinen einschlägigen Stab hat, ist hier häufig überfordert. Solange nichts
passiert, ist alles okay. Aber wehe dem Unternehmer,
der in die Situation kommt, sich möglicherweise vor Gericht rechtfertigen zu müssen. Was daraus resultiert, ist
ein im Mittelstand und gerade bei kleinen Unternehmen
verbreitetes dumpfes Gefühl, immer mit einem Bein im
Gefängnis zu stehen.
Ich denke, das ist eine Facette des Themas, der wir in
Zukunft größere Bedeutung beimessen müssen. Die Berufsgenossenschaften müssen sich als Unfallversicherungsträger im Bereich der gewerblichen Wirtschaft und
der Landwirtschaft wieder stärker an den Erwartungen
und Möglichkeiten ihrer „Kunden“, also ihrer Mitgliedsunternehmen, orientieren und diesen weniger mit
dem Gehabe einer Behörde entgegentreten.
({2})
Insofern können die Berufsgenossenschaften sehr viel
von den Industrie- und Handelskammern lernen, die
unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit in den
letzten Jahren einen Lernprozeß durchgemacht haben.
Es ist zwar bereits in der Vergangenheit versucht
worden, auf die Bedürfnisse von Kleinunternehmen einzugehen. Ich nenne etwa das Unternehmermodell, wonach der Unternehmer die Belange des Arbeitsschutzes
nach einer entsprechenden Schulung selbst in die Hand
nimmt und überwacht. Außerdem gibt es externe
Dienstleister, die die entsprechenden Untersuchungen
im Betrieb anstellen. Ich höre aber auch immer wieder
von Unternehmen - ich kann diese Argumente durchaus
nachvollziehen -, daß diese Regelungen nicht der Weisheit letzter Schluß sein können. Zu bürokratisch, so ist
zu hören, zu teuer sei das Ganze.
Es gibt auch Branchen, zum Beispiel die Gastronomie
oder den Bereich der Friseure, die von einer durchschnittlichen Beitragsstabilität nur träumen können. Dort
sind die Beiträge überdurchschnittlich angestiegen.
Gerade im Fall der Gastronomie fällt es mir schwer,
hierfür einen einleuchtenden Grund zu erkennen. Man
kann das alles in einem Fünf-Minuten-Beitrag leider nur
anreißen.
Ich fasse zusammen: Wir haben ein erfreulich hohes
Niveau im Arbeitsschutz erreicht, das es zu halten gilt.
Aber wir müssen daran arbeiten, die momentan daraus
resultierende Bürokratielast der kleinen und mittleren
Unternehmen zu reduzieren. Für die F.D.P. kann ich hier
heute ankündigen, daß wir uns dieser Thematik im Sinne
einer Regelung, die die Belange der kleinen und mittleren Unternehmen stärker als bisher berücksichtigt, annehmen werden. Arbeitsschutz muß nicht zwangsläufig
synonym mit Bürokratie sein.
Vielen Dank.
({3})
Nun erteile ich das
Wort dem Herrn Kollegen Dr. Seifert, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zahlen, die uns heute vorliegen,
klingen wirklich gut. Auch vieles von dem, was hier in
bezug auf die Prävention gesagt wurde, kann ich unterstützen. Ich möchte das, was zu diesem Punkt gesagt
wurde, nicht wiederholen.
Erlauben Sie mir, auch wenn hier alle gern konsensual reden möchten, die Frage zu stellen: Was passiert
jemandem, den es getroffen hat, der einen Unfall hatte?
Da sieht es leider doch ein bißchen anders aus, als es
hier dargestellt wird. Ich nehme an, auch Ihnen liegt der
offene Brief des Verbandes arbeits- und berufsbedingt
Erkrankter vor, der im vergangenen Dezember an Arbeitsminister Riester geschrieben wurde. Dort steht - auf
über neun Seiten sehr deutlich ausgeführt -, daß die gesetzliche Unfallversicherung alles andere herstellt als
Waffengleichheit zwischen den Unternehmerinnen und
Unternehmern auf der einen Seite und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf der anderen Seite, insbesondere denjenigen, denen etwas passiert ist.
Die Begutachtung, bei der es darum geht, festzustellen, wer welche Leistung bekommt, wird doch von denjenigen gemacht - ich zitiere aus dem offenen Brief -,
die die „Böcke“ sind und nicht die „Gärtner“. Die Unfallversicherungsträger bestimmen ihre Gutachter
selbst. Kaum jemand - noch dazu, wenn er einen Unfall
hatte oder eine Berufskrankheit hat - ist in der Lage, zu
beweisen, daß der Unfall oder die Krankheit tatsächlich
auf die Berufstätigkeit zurückzuführen ist, weil keiner
von ihnen - es handelt sich um Arbeiterinnen und Arbeiter - die entsprechende juristische und sonstige Ausbildung hat, die die Gutachter haben. Hier muß schnellstens eine wirkliche Veränderung eingeleitet werden,
damit wenigstens so etwas ähnliches wie Waffengleichheit hergestellt wird und nicht automatisch unterstellt
wird, daß jeder, der eine Berufskrankheit anmeldet, der
einen Unfall meldet, ein Betrüger ist.
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, daß
ausdrücklich gefordert wird, die Unfallmeldeformulare
nicht durch angebliche Entbürokratisierung so zu verändern, daß am Ende überhaupt nicht mehr festzustellen
ist, was eigentlich passiert ist, weil alle relevanten
Punkte, die zugunsten des Versicherten sprechen könnten, gar nicht mehr erfragt werden.
Insofern bitte ich die Bundesregierung ganz eindringlich, die Vorschläge des Verbandes arbeits- und
berufsbedingt Erkrankter zu berücksichtigen. Das
sollte nicht auf die lange Bank geschoben werden.
Dann kann es sein, daß die Zahlen, die uns demnächst
vorgelegt werden, etwas höher sind als die derzeitigen. Das läge daran, daß sich mehr Leute trauen,
einen Arbeitsunfall zu melden. Dann wird es aber
auch so sein, daß die Betroffenen nicht mehr ganz so
schlecht dastehen. Ich hoffe, daß wir da gemeinsam
vorankommen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/156 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen
Verfahrens und des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit
- Drucksache 14/163 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem das
Wort dem Kollegen Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir legen einen Gesetzentwurf vor, den wir im letzten Sommer, in der
letzten Legislaturperiode im Bundestag verabschiedet
hatten, der im Bundesrat aber gescheitert ist. Er ist im
Bundesrat deshalb gescheitert, weil die Länder mit der
Öffnungsklausel, die wir in dem damaligen Entwurf
vorgesehen hatten, nicht einverstanden waren. Diese
Öffnungsklausel hätte den Ländern die Möglichkeit geboten, Aufgaben des Registergerichtes auf die IHK und
die Handwerkskammern zu übertragen. Damit waren die
Länder nicht einverstanden. Wir bedauern dies. Wir
halten dieses Nein für falsch. Wir sind der Auffassung,
daß es richtig gewesen wäre und nach wie vor richtig ist,
Aufgaben des Staates dort, wo es möglich ist, in die
Verantwortung von mehr privaten Händen zu übertragen. Aber dies war und ist nach wie vor nicht möglich.
Um keine Ablehnung zu provozieren, sehen wir diese
Öffnungsklausel in dem Entwurf, den wir heute vorlegen, nicht vor. Wir halten nämlich den Entwurf, den wir
in vielen Gesprächen in der letzten Legislaturperiode
behandelt haben - dabei sind wir zwischen den Parteien
über die Koalitionsgrenzen hinweg zu einem großen
Konsens gelangt -, für dringend erforderlich.
Die Länder drängen uns, etwas für die Entlastung
der Justiz zu tun. Sie haben deshalb schon am 18. Oktober 1996 im Bundesrat beschlossen, einen entsprechenden Gesetzentwurf im Bundestag einzubringen. Dabei
haben sie den Bundestag gebeten, alles zu tun, um die
Justiz zu entlasten.
({0})
- Herr Hartenbach, wir hatten ja diesen Entwurf, so wie
ihn die Länder wollten, im Bundestag verabschiedet. Er
hat ja hier eine Mehrheit gefunden, und es war überhaupt
nicht vorauszusehen, daß die Länder in ihrer Ablehnung
der Öffnungsklausel so weit gehen würden, diesen Entwurf nicht anzunehmen. Das war so nicht vorauszusehen.
({1})
- Nein. Woher sollten wir wissen, daß die Länder ihren
eigenen Entwurf ablehnen, den wir, als er schon im Bundestag eingebracht war, im Bundesrat noch zusammen
mit Ländervertretern diskutiert haben, wobei es gelungen
ist, die Eckpunkte der Ländervorstellungen durchzusetzen? Wie sollten wir davon ausgehen, daß die Länder wegen dieser Öffnungsklausel, die ich vorhin beschrieben
habe, diesen ganzen Entwurf an die Wand fahren lassen?
({2})
Kein Mensch konnte davon ausgehen.
({3})
Dann ging dieser Entwurf in den Vermittlungsausschuß. Dort ist er leider nicht mehr behandelt worden.
Deswegen legen wir jetzt diesen Entwurf vor.
Wir bitten Sie, diesen Entwurf in der Fassung, die wir
in der letzten Legislaturperiode gemeinsam erarbeitet
haben, jetzt mit uns zu verabschieden. Ich wiederhole:
Wir haben jetzt auf die Öffnungsklausel verzichtet, weil
uns das Anliegen, die Justiz draußen zu entlasten, sehr
wichtig ist, und weil wir meinen, daß die Länder hiermit
ein wirklich wichtiges Anliegen vertreten.
({4})
Das Anliegen der Länder ist erst einmal die Schaffung der Einzelrichter. Dem sind wir nachgekommen.
Wir wollen in diesem Entwurf die Einführung der originären Zuständigkeit des Einzelrichters bis zu einem
Streitwert von 30 000 DM. Das umfaßt etwa 60 bis 70
Prozent der beim Landgericht eingehenden Verfahren.
Diese können jetzt vom Einzelrichter erledigt werden.
Wir sind der Auffassung - der wir schon vor einem halben Jahr gewesen sind -, daß dies notwendig ist, um die
Justiz zu entlasten.
Gleiches gilt für das Berufungsverfahren. Auch hier
wird das Einzelrichterprinzip insofern verstärkt, als die
Berufungskammern dem Einzelrichter mehr zuweisen
können.
Wir haben allerdings den Vorstellungen des Bundesrates widersprochen, die Berufungssumme von 1 500
DM auf 2 000 DM zu erhöhen. Darin sind wir dem
Bundesrat nicht gefolgt. Wir sind der Auffassung, daß es
dadurch im unteren Streitwertbereich nicht zu einer
Rechtsangleichung kommt, die dann erfolgt, wenn ein
solcher Rechtsstreit vor die Berufungskammer geht.
Dann gibt es schon eher eine Rechtsangleichung, eine
Übereinstimmung in der Rechtsprechung, als wenn es
nur von dem einen oder anderen Amtsgericht - möglicherweise unterschiedlich - entschieden wird. Dann
kommt es auch nicht zu einer Fortbildung des Rechts.
Deswegen sind wir bei einer Beschwerdesumme von
1 500 DM verblieben.
Einer der wichtigsten Punkte dieses Entwurfes ist das
obligatorische Schlichtungsverfahren. Auch hier sind
wir uns alle einig, daß wir es einführen müssen. Das
Streitverhalten in Deutschland ist von zunehmender
Rechthaberei bei gleichzeitiger Unfähigkeit, Konflikte
im gütlichen Weg zu regeln, gekennzeichnet.
({5})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Dem setzen wir das Schlichtungsverfahren entgegen.
Wir hoffen, daß dieses Schlichtungsverfahren im Bewußtsein der Bevölkerung verankert wird und daß es auf
diese Weise zu Schlichtungen außerhalb des streitigen
Verfahrens vor Gericht kommt. Wir legen diesem
Schlichtungsverfahren große Bedeutung bei. Wir sind
der Auffassung, daß es dabei auch zu einer ganz erheblichen Entlastung der Justiz kommen wird.
Die Länder drängen uns nicht so sehr deshalb zu
Entlastungsmaßnahmen, weil die Zahl der Verfahren vor
den Amtsgerichten und Landgerichten gestiegen ist diese Zahl hat sich auf einem hohen Niveau eingependelt -, sondern deshalb, weil inzwischen gesetzliche
Maßnahmen in Kraft getreten sind, die die Justiz sehr
stark belasten. Ich nenne nur das Betreuungsrecht und
das Insolvenzrecht.
Als wir das Insolvenzrecht im Jahre 1994 beschlossen haben, haben wir den Ländern signalisiert: Wenn
das Insolvenzrecht am 1. Januar 1999 in Kraft treten
wird, werden wir im Bundestag ebenfalls ein Gesetz
verabschiedet haben, das die Justiz entlastet. Wir haben
unser Ziel aus den von mir genannten Gründen nicht erreicht. Sie, Herr Hartenbach, mögen diesen Punkt anders
sehen. Aber eines können Sie doch nicht übersehen: Wir
wollen zusammen mit Ihnen die Justiz entlasten. Warum
sollen wir uns streiten, wo wir uns doch in der letzten
Legislaturperiode zu einem gemeinsamen Standpunkt
zusammengefunden haben?
Lieber Herr Hartenbach, den Stein des Anstoßes haben wir aus unserem Entwurf herausgenommen. Sie
mögen mir jetzt vorwerfen: Warum habt ihr ihn nicht
schon vor einem halben Jahr herausgenommen?
({6})
Darauf habe ich Ihnen schon die Antwort gegeben.
({7})
- Sie mögen diesen Sachverhalt anders sehen. - Da
wir aber diesen Stein des Anstoßes aus dem Entwurf
herausgenommen haben, dürfte doch für Sie die
Möglichkeit bestehen, mit uns zusammen diese Entlastung zu beschließen, über deren Grundzüge wir uns
einig sind.
Nur weil die Opposition schneller ein Gesetz vorlegt,
darf es doch nicht sein, daß die Regierungsparteien sagen: Nein, der Opposition gönnen wir keinen Stich; wir
wollen die Entlastung im Zusammenhang mit der Reform des Gerichtsaufbaus regeln. In diesem Punkt haben
wir große Bedenken. Diese Reform wird längere Zeit in
Anspruch nehmen, weil wir längere Zeit beraten müssen. Im übrigen sind die Entlastungsmaßnahmen, die wir
jetzt vorsehen, zu einem großen Teil unabhängig von
dem Aufbau der Gerichte.
Deshalb bin ich der Meinung: Sie können im Ausschuß mit uns zusammen diesen Gesetzentwurf beraten
und auch beschließen.
Danke schön.
({8})
Nun hat das Wort
der Kollege Alfred Hartenbach, SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es hätte nur noch gefehlt,
Herr Geis, daß ich eben ob Ihrer wirklich dramatisch
traurigen Rede geweint hätte.
Ich bin bisher immer davon ausgegangen, daß insbesondere Rechtspolitiker eine redliche und anständige
Parlamentsarbeit machen. Seitdem Sie aber auf den Oppositionsbänken sitzen, habe ich in diesem Punkt ganz
erhebliche Zweifel. In der vergangenen Woche haben
Sie nämlich das lieblos hingeflohte DNAFeststellungsgesetz eingebracht. Ihr Gesetz zur Telefonüberwachung war fachlich total unqualifiziert.
({0})
Heute legen Sie nun diesen Gesetzentwurf vor. Zunächst habe ich gedacht, es muß ja etwas Vernünftiges
herausgekommen sein, weil ich daran mitgearbeitet habe. Aber als ich den Entwurf las, habe ich festgestellt,
daß dieser Entwurf nur blinden Aktionismus enthält.
Beim Urheberrecht würde man von Produktpiraterie
sprechen, die Sie betrieben haben. Sie können noch
nicht einmal vernünftig fälschen.
({1})
Schauen wir uns einmal an, was Sie geschrieben haben. Auf Seite 1 heißt es: „Der vom Rechtsausschuß beschlossene Gesetzentwurf…“ Wann hat sich denn der
Rechtsausschuß mit Ihrem Entwurf beschäftigt?
({2})
- Bleiben Sie einmal ganz ruhig; sonst verschlucken Sie
sich noch an Ihrer großen Zunge. - Auf der nächsten
Seite steht geschrieben:
Darüber hinaus sieht der vom Ausschuß beschlossene Gesetzentwurf folgendes vor: ... Übertragung
der Antragstellung bei Erbscheinen auf Notare.
Diesen Punkt haben wir doch nur aufgegriffen, um Ihrem verehrten Kollegen Eylmann ein Geschenk bei seinem Abschied nach der 13. Legislaturperiode zu machen. Heute ist dieser Punkt in Ihrem Gesetzentwurf
doch nicht mehr enthalten. So etwas Hingeflohtes!
Nun schaue ich den größten Übeltäter an. Dieses Gesetz hätte in der vergangenen Legislaturperiode längst
verabschiedet sein können, wenn Funke und Goll, Minister in Baden-Württemberg, nicht ihrem liberalen Aktionismus, „alles privatisieren“, gefolgt wären.
({3})
- Nun hören Sie einmal zu, Herr Geis. Ich habe Angst,
daß Sie einen Herzinfarkt bekommen.
({4})
Außerdem sagen Sie nun heute: Wir konnten doch
nicht ahnen, daß die Länder
({5})
das zurückweisen. Wir haben - teilweise stundenlang zusammengesessen. Ihre Einsicht ging gegen Null. Alle
Sachverständigen im Rahmen der entsprechenden Anhörungen haben Ihnen gesagt, das sei Unfug, außer Herr
Schoser vom DIHT, der bestens eigene Interessen vertreten hat. Das haben die Ländervertreter gesagt, außer
Herr Goll aus Baden-Württemberg und Herr Leeb, der
von seinem Bayern-Ayatollah in die Pflicht genommen
wurde.
({6})
Die haben Ihrem Vorhaben zugestimmt.
Sie haben ein halbes Jahr lang die Modernisierung
des Handelsregisters bei den Amtsgerichten verhindert.
Das müssen Sie verantworten.
({7})
Nun bin ich wieder ganz ruhig und sachlich.
({8})
- Es muß ja hier einmal ein bißchen Leben hereinkommen angesichts dessen, was Sie von der Opposition für
einen Blödsinn erzählen.
({9})
Wir wissen, daß die ordentliche Gerichtsbarkeit stark
belastet ist. Wir wissen, daß das einerseits an der Komplexität der Verfahren und andererseits an steigenden
Eingangszahlen seit der deutschen Vereinigung, die sich
mittlerweile auf hohem Niveau eingependelt haben, sowie nicht zuletzt an den neuen Aufgaben, die die Justiz
bekommen hat, liegt. All dies wissen wir.
Was hat der Gesetzgeber - 16 Jahre lang hauptsächlich durch CDU/CSU und F.D.P. vertreten - getan?
({10})
Alles, was man getan hat, war ein Herumdoktern an den
Symptomen. An die Wurzel ist man nicht herangegangen.
({11})
Im Gegensatz zu den meisten von Ihnen habe ich lange
in der Praxis gearbeitet.
({12})
Ihr 1991 beschlossenes erstes Justizentlastungsgesetz
hat absolut nichts gebracht.
({13})
Es lief darauf hinaus, daß die Gerichte weiterhin auf hohem Niveau belastet blieben, weil es überhaupt keine
einschneidenden Erleichterungen gebracht hat. Aber es
ist auch darauf hinausgelaufen, daß eine Justizverdrossenheit aufgetreten ist.
Was geschah denn? Ständig wurden die Streitwerte
erhöht. Ständig wurden die Berufungssummen erhöht.
Das führte dazu, daß Amtsrichter mittlerweile Prozesse
führen müssen, die von ihrer Schwierigkeit her gar nicht
mehr in den Bereich des Amtsgerichts gehören. Wir
wissen, daß die Erhöhung der Berufungssummen teilweise zu einer gewissen - ich will es einmal so nennen Verwilderung der Sitten geführt hat und dazu, daß immer mehr Menschen den Weg nach Karlsruhe gehen,
weil sie zu wissen glauben, daß ihre Rechte vor den ordentlichen Gerichten nicht in vernünftigem Maße wahrgenommen werden.
Wenn wir etwas tun, dann muß es eine Reform sein,
die aus einem Guß ist. Ich bin froh, daß Herr Pick darüber nachher noch sprechen wird. Da kann ich mir weitere Ausführungen ersparen.
Da wir wissen, daß die jetzige Regierung bzw. die Justizministerin mit ihren befähigten Beamtinnen und Beamten und die Koalitionsparteien, SPD und Bündnis
90/Die Grünen, noch in diesem Jahr einen vernünftigen
Entwurf vorlegen, der den Einstieg in eine große Justizreform bringt und der dann in seinen Grundzügen
wirkliche Erleichterungen auf allen Gerichtsebenen der
ordentlichen Gerichtsbarkeit und hier insbesondere auf
dem Gebiet, um das es in dieser Debatte geht, nämlich
auf dem Gebiet der Zivilgerichtsbarkeit, schafft,
({14})
sehen wir keine Notwendigkeit, die von Ihnen geforderten Kleinigkeiten anzugehen.
Das Einzelrichterprinzip kann bereits überall angewandt werden. Angesichts der wenigen Berufungsverfahren wird das nicht den vorgesehenen Umfang an Erleichterung bringen, haben uns die Länder gesagt. Die Vereinfachung bei der Urteilsabfassung wird nicht die vorgesehene
Erleichterung bringen. Auch die in Ihrem Gesetzentwurf
geforderten Vereinfachungen hinsichtlich des Zulassungsverfahrens werden nicht die Erleichterungen bringen, daß
es gerechtfertigt wäre, hier und heute dieses von Ihnen ich nenne es einmal so - hingeflohte Werk - ({15})
- Herr Kollege, lesen Sie doch einmal, was Sie gemacht
haben. Sie haben abgeschrieben, und zwar falsch; es ist
also nicht einmal richtig wiedergegeben.
({16})
- Noch nicht einmal das können Sie. - Dieses Werk
werden wir nicht beraten.
({17})
- Herr Geis, ich mache mit Ihnen alles mit, wenn es nur
Sinn und Verstand hat, aber nichts, was wirklich nicht in
Ordnung ist.
({18})
- Herr Geis, das ist doch jetzt in Ordnung.
Wir werden in den nächsten Tagen einen Gesetzentwurf in das parlamentarische Verfahren einbringen, der
den Ländern das gibt, was sie dringend brauchen,
({19})
nämlich den Einstieg in die außergerichtliche
Streitschlichtung. Hiervon versprechen wir uns in der
Tat eine deutliche Erleichterung.
({20})
- Sie glauben doch nicht, daß ich den Blödsinn mitbeschließe, den Sie da verzapft haben, oder?
({21})
- Ich nehme gern auch eine Rüge hin; das ist mir
egal. Wir werden uns schon wieder vertragen, keine
Angst.
({22})
- Moment mal, ihr Bayern zapft doch pausenlos, oder?
Nun geht Ihre Redezeit zu Ende, Herr Kollege.
Wir werden das einbringen, weil wir wissen, daß es sich lohnt, auf diesem Gebiet etwas zu tun. Wir werden den Ländern, die guten
Willens sind und in denen das bezüglich der Voraussetzungen zum Teil schon sehr weit gediehen ist, die Chance geben, diese außergerichtliche Streitschlichtung einzuführen. Dies ist ein guter und richtiger Weg.
Wir werden in einem weiteren Schritt die richterliche
Unabhängigkeit dadurch stärken, daß wir eine etwas anders gefaßte Form des § 21 GVG einbringen werden, die
eine Präsidialverfassung vorsieht. Das ist unser Weg,
etwas richtig zu durchdenken,
({0})
etwas neu anzugehen auf dem Weg in eine vernünftige
Justizreform. - Herr von Stetten, ich denke lieber etwas
langsamer, aber richtig - im Gegensatz zu Ihnen.
Vielen Dank.
({1})
Nun hat das Wort
der Kollege Funke, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie nicht gleichzeitig „der Übeltäter“
gesagt haben.
Die Präsidentin hat
sich allem zu enthalten, was nach einer Wertung aussieht, Herr Kollege.
Das ist sehr nett. Aber der
Kollege hat das so gewertet.
Ich bin ganz froh, daß durch diese Regelung mit dem
Handelsregister dieses fiskalisch ausgerichtete Gesetz
in der letzten Legislaturperiode nicht zustande gekommen ist. Ich begrüße es sehr, daß die Bundesjustizministerin jetzt ankündigt, eine Justizreform aus einem
Guß zu liefern, und daß auf diese Weise die alte bekannte Fassung aus der 13. Legislaturperiode obsolet
wird. Wir wollen in der Justizpolitik nämlich keinen
Flickenteppich haben. Wir wollen eine Justizreform,
wenn sie denn notwendig ist, aus einem Guß. Wir wollen nicht, daß die Gerichte, die Anwälte und die Rechtsuchenden dauernd mit neuen Vorschlägen und mit neuen Organisationsformen verunsichert werden. Das hilft
der Justiz überhaupt nicht.
({0})
Die Justiz ist zur Zeit mit der Insolvenzrechtsreform
beschäftigt. Sie muß in vielen Bereichen umorganisiert
werden. Wir sind mit Ihnen, Herr Kollege Hartenbach,
der Meinung, daß wir versuchen müssen, eine Justizreform aus einem Guß zu schaffen. Wir dürfen aber nicht
immer nur auf die Finanzminister hören, sondern wir
müssen auch auf unsere Justizminister und -senatoren
hören, auch auf unsere Bundesjustizministerin und natürlich auf die Justizpolitiker in diesem Hohen Hause.
Ich glaube, wenn wir das tun, kommen wir zu einem
vernünftigen Ergebnis.
An fiskalischen Gesichtspunkten ausgerichtete Gesetze für die Justiz sind immer schlecht. Wir müssen in erster Linie an die Rechtsuchenden denken. Für viele
Rechtsuchende sind die zwei, drei Prozesse, die sie in
ihrem Leben haben, mit das Wichtigste. Dann erwarten
sie - dem sollte schon allein wegen des Rechtsfriedens
Rechnung getragen werden -, daß ordnungsgemäß
Recht gesprochen wird und die Rechtsmittel nicht einfach verkürzt werden, so daß sie keine Möglichkeit haben, sich beispielsweise gegen Fehlurteile zu wenden.
Oberstes Gebot muß die Berücksichtigung der Bedürfnisse des Rechtsuchenden sein. Nach dem Rechtsuchenden müssen wir uns bei der Justizreform richten.
Wir wollen keinen Flickenteppich. Das gilt im übrigen
auch für die Frage von Schiedsmännern und -frauen, von
Schiedsstellen. Ich kann einem Bürger bei mir in Hamburg-Schnelsen, das 300 Meter von der schleswigholsteinischen Landesgrenze entfernt ist, schlecht erkläAlfred Hartenbuch
ren, warum das vorgerichtliche Verfahren in Schnelsen
anders ist als in dem 300 Meter entfernten Bönningstedt.
({1})
Ich glaube, auch dabei müssen wir zumindest Regelungen finden, die kompatibel sind.
Wir werden uns also an folgenden Grundsätzen orientieren:
Erstens. Wir werden grundsätzlich keiner Einschränkung der Möglichkeiten des Rechtsschutzes für den
Bürger zustimmen.
({2})
Zweitens. Wir werden - nachdem wir das bereits in
der 13. Legislaturperiode getan haben - der ideenlosen,
weil schlichtweg von fiskalischen Interessen und fiskalischem Denken beherrschten Erhöhung von Streitund/oder Beschwerdewertgrenzen entgegentreten,
({3})
weil sie ebenso wie die Beschränkung der Rechtsmittel
die Interessen der Rechtsuchenden nicht berücksichtigt.
Drittens. Wir werden uns dafür einsetzen, daß der
Rechtsschutz vor Ort nicht noch weiter abgebaut wird.
({4})
Es darf jedenfalls nicht die Konsequenz der Justizreform
sein, daß die kleineren Amtsgerichte in den großen Flächenländern geschlossen werden.
({5})
Wir brauchen eine bürgernahe Justiz; das gilt insbesondere in den Flächenländern.
Viertens. Wir werden alle Vorschläge unterstützen,
die zum Ziel haben, die vielzitierten alten Zöpfe abzuschneiden und über pragmatische Novellierungen - wie
etwa bei der Änderung der Zustellungsvorschriften - zu
erreichen, daß die Justiz auch im 21. Jahrhundert ihre
Aufgaben erfüllen kann.
Grundsätzlich ist auch die Einführung der obligatorischen außergerichtlichen Streitschlichtung im Zivilverfahren zu begrüßen. Es darf aber, wie ich eben gesagt
habe, nicht wieder einen Flickenteppich von 16 unterschiedlichen Länderregelungen geben. Wir müssen Öffnungsklauseln erarbeiten, die praktikabel sind.
({6})
Wir sind also nicht gegen Neuerungen. Sie sollten
aber möglichst aus einem Guß sein. Das Wort Justizreform soll man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielen
Dank, Herr Funke, für die Unterstützung der Grundgedanken der Koalition zum Thema Justizreform.
({0})
- Sie haben aber unseren Grundüberlegungen beigepflichtet. Vielleicht haben Sie Herrn Funke, Ihrem Redner, nicht zugehört und einfach so geklatscht.
Ich finde es begrüßenswert, daß Sie jetzt sagen:
Schluß mit dieser Rechtspflege-Entlastungsgesetzgeberei ohne Sinn und Verstand, die Sie in den vergangenen Jahren mitgetragen haben. Ich finde es gut, daß
Sie daraus ausgestiegen sind und zu unserem Ansatz ja
sagen. Wir wollen eine Justizreform und wollen nicht
nur unter fiskalischen Gesichtspunkten, sondern auch
unter den Gesichtspunkten Bürgernähe, Bürgerfreundlichkeit und Sicherung der Rechtsstaatlichkeit an dieses
Thema herangehen.
Ich denke, eine solche Reform darf nicht nur zu Einschnitten führen. Vielmehr muß sie sich an bestimmten
Punkten auch in Korrekturen im Sinne von mehr
Rechtssicherheit für die Bürger auswirken. Ich sage nur:
vereinfachtes Verfahren und die Frage der Streitwertgrenze, ab der überhaupt eine Berufung möglich ist. Das
Karlsruher Bundesverfassungsgericht wird in diesen
Fällen inzwischen zur Revisionsinstanz, weil es keinen
anderen Zugang zu einer rechtlichen Überprüfung von
erstinstanzlichen Urteilen gibt. Auch diese Themen
müssen wir in diesem Zusammenhang beraten.
Der Gesetzentwurf der Union zu einem weiteren
Rechtspflege-Entlastungsgesetz im zivilrechtlichen
Bereich entspricht in weiten Teilen dem - das wurde
auch angesprochen -, was der Rechtsausschuß schon
einmal beraten hat. Ich kann gar nicht leugnen, daß er in
manchen Punkten durchaus besser ist als die Ursprungsfassung des Bundesrates und als die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, über die wir damals abgestimmt haben. Hätte die F.D.P. in den Beratungen der
letzten Legislaturperiode nicht nachgerüstet - Sie sind
ihr ja auf den Leim gegangen - und die Übertragung des
Handelsregisters auf die Industrie- und Handelskammern in den Gesetzentwurf genommen, dann wäre er
wahrscheinlich nicht im Bundesrat gescheitert. Aber wir
hatten schon damals Kritik an dieser hektischen Gesetzgebungsmaschinerie geübt, obwohl wir einzelne Regelungen durchaus akzeptabel fanden.
({1})
Wir setzen diese Kritik jetzt um. Wir haben die Mehrheit; wir machen eine andere Rechtspolitik, nämlich eine,
die sehr viel gründlicher an diese Dinge herangeht. Ein besserer Gesetzentwurf ist eben noch lange kein guter Entwurf; das sieht man ganz deutlich an dieser Vorlage.
Der vorliegende Entwurf leidet an dem Mangel, daß
er den Gedanken einer grundlegenden Neuordnung des
zivilgerichtlichen Verfahrens außen vor läßt. Wir werden dieses jetzt anpacken. Deshalb legen wir diesen
Entwurf schnell zu den Materialien zur Gesetzgebung,
zur weiteren rechtspolitischen Diskussion.
Für Bündnis 90/Die Grünen ist die positive Beantwortung der folgenden Frage entscheidend in bezug auf das
Thema Justizreform: Führen die Vorschläge zu einer bürgernahen und bürgerfreundlichen Justiz, die zeitnah entscheidet, in überschaubaren Strukturen organisiert ist und
die die Unabhängigkeit der Gerichte in Organisation und
Verfahren garantiert? Daran werden wir unsere Position
in der Diskussion über dieses Thema orientieren.
Meine Damen und Herren, wir brauchen die Motivation und das Engagement der Richter, wenn wir die Justiz reformieren wollen. Aufbauend auf diesem Gedanken wollen wir auch die Gerichtsverfassung ändern.
Noch bestehende Privilegien bestimmter Gruppen von
Richtern, etwa bei der Geschäftsverteilung oder im Präsidium, wollen wir unter dem Gesichtspunkt der
Gleichwertigkeit der Richterämter überprüfen. Es gibt
auch einige vernünftige Vorschläge zur Demokratisierung der Verfassung der Gerichte, die wir in diesem Zusammenhang aufgreifen und diskutieren sollten.
Bündnis 90/Die Grünen befürworten auch ausdrücklich den Ausbau der außergerichtlichen Streitbeilegung. Deshalb haben wir in der Koalition auch vereinbart, daß wir an diesem Punkt separat initiativ werden
wollen. Ich finde, wir sollten den Ländern die Möglichkeit geben, in bestimmten Verfahren und bis zu einem
bestimmten Streitwert vorzuschreiben, daß einem erstinstanzlichen Verfahren obligatorisch ein Schlichtungsverfahren vorausgeht.
Hiervon darf man bei der Entlastung keine Wunder
erwarten. Das darf auch nicht der entscheidende Ansatz
sein. Vielmehr ist wichtig, daß gerade bei geringen
Streitwerten oftmals rechtsfremde Gründe für die Auseinandersetzung ursächlich sind. Hier kann ein Schlichter, der juristisch ausgebildet ist, aber auch soziale
Kompetenzen im Bereich der Mediation gesammelt hat,
oftmals mehr Rechtsfrieden stiften als ein formales Verfahren, und er kann damit auch verhindern, daß es zu
weiteren Verfahren kommt, die nur den Sinn haben, die
andere Partei zu ärgern.
({2})
Deshalb werden wir diesen Gedanken aufgreifen und
ihn gesetzlich durchsetzen. Wir werden der Stümperei
der Rechtspflege-Entlastungsgesetze, die keinerlei
rechtspolitische Konzeption aufweisen, ein Ende machen.
Vielen Dank.
({3})
Nun erteile ich das
Wort der Frau Kollegin Dr. Kenzler, PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist
unbestritten, daß die Arbeitsbelastung an erst-, aber auch
an zweitinstanzlichen Gerichten enorm zugenommen
hat, und zwar quantitativ durch die Übernahme neuer
Aufgabengebiete und steigende Zahlen der Eingänge,
aber auch qualitativ durch eine komplizierter werdende
Rechtsmaterie und durch die zunehmende Verrechtlichung vieler Lebensbereiche.
Diesen gewachsenen Anforderungen an die Justiz
kann man jedoch nicht dadurch wirksam gerecht werden, daß man die ohnehin knappen Personalressourcen
zeitsparender einsetzt und Rechtsmittel zu Lasten der
Rechtsuchenden einschränkt. Solche Vereinfachungsund Beschleunigungsgesetze können, wie sich in der
Vergangenheit auch gezeigt hat, allenfalls kurzfristige
Erleichterungen bringen. Langfristig bewirken sie jedoch das Gegenteil, da sie den grundsätzlichen Reformbedarf ein um das andere Mal zeitweilig verdecken. Die
Krise der Justiz verfestigt sich so jedoch zu einem Dauerzustand.
Es können nun einmal durch lediglich traditionelle
Entlastungsinstrumente keine einfachen Antworten auf
zunehmend kompliziertere, differenziertere, individualisiertere und technisiertere Fragen auch in der Justiz gegeben werden. Die Antwort hierauf kann nur eine
grundlegende, strukturorientierte Justizreform sein, die
das Strafensystem, die Rechtszüge und Rechtsmittel
ebenso umfaßt wie die außergerichtlichen Schlichtungsstellen, die Stellung ehrenamtlicher Richter und die innere Gerichtshierarchie.
Ich stimme insofern Herrn Professor Dr. Hassemer,
Richter am Bundesverfassungsgericht, zu, der unlängst
nach einer kritischen Analyse des Zustandes der Justiz
einen „neuen Diskurs“ vorgeschlagen hat. Er schrieb in
der Deutschen Richterzeitung unter anderem:
Dieser Diskurs muß weit über die derzeit verhandelten Gegenstände hinausreichen, die immer kärglicher, verzagter und negativer geworden sind. Er
muß zu den Bereichen vordringen, aus denen die
Probleme stammen, unter denen wir leiden …
Einen solchen Diskurs brauchen wir nach meiner Meinung ganz dringend.
Nun zu einigen Einzelfragen: Ich habe erhebliche Bedenken gegen die Ausweitung des Einzelrichterprinzips, orientiert an der Höhe des Streitwertes bis einschließlich 30 000 DM. Zum einen besteht die Gefahr
von Qualitätseinbußen in der Entscheidungsfindung.
Zum anderen ist auch nicht einsehbar, worin der tatsächliche Entlastungseffekt für den einzelnen Richter
bei gleichbleibenden und steigenden Verfahrenseingängen bestehen soll. Bereits jetzt werden die einzelnen
Prozesse üblicherweise jeweils durch einen Richter des
Kollegiums vorbereitet.
({0})
Ich glaube auch, daß die vorgesehenen Änderungen
des Rechtsmittelrechts nicht die beabsichtigten Entlastungseffekte bringen werden, sondern tatsächlich nur
Volker Beck ({1})
Einschränkungen des Rechtsweges darstellen. Besondere Gefahren in Richtung einer unzulässigen Beschneidung sehe ich vor allem in der beabsichtigten Zurückweisung von Berufungen durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung unter bestimmten Bedingungen, und
das insbesondere vor dem Hintergrund der permanenten
Arbeitsüberlastung vieler Richter. Hinzu kommt, daß
durch die vorgesehene Erweiterung des Absehens von
Entscheidungsgründen im Urteil die notwendige Transparenz und Verständlichkeit gerichtlicher Entscheidungen empfindlich leiden würden.
In einem Punkt möchte ich jedoch auch Zustimmung
signalisieren, und zwar bei der Öffnungsklausel, die es
den Ländern gestattet, entsprechend ihren jeweiligen
Bedingungen ein obligatorisches vorgerichtliches
Schlichtungsverfahren einzuführen. Eine freiwillige
außergerichtliche Vereinbarung zwischen Streitparteien,
die auf einem Ausgleich der beiderseitigen Interessen
beruht, ist eher dazu geeignet, eine dauerhafte Befriedung herbeizuführen, als eine gerichtliche Entscheidung
zugunsten einer Partei. Sie trägt auch dazu bei, eigene
Konfliktlösungsmöglichkeiten und -strategien zu entwickeln, was zudem für alle Seiten kostengünstiger ist.
Die außergerichtliche Streitbeilegung ist nach meiner
Meinung ein ausbauwürdiges Zukunftsmodell und sollte
deshalb auch einer der Eckpunkte einer modernen Justizreform sein.
Danke schön.
({2})
Nun erteile ich dem
Kollegen von Stetten, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wie schön, daß wir
eigentlich alle eine Justizreform wollen.
({0})
Wir hätten schon einen Teil „abgevespert“, wie man bei
uns im Süden sagt, und die Bestimmungen des vorliegenden Gesetzentwurfes könnten längst in Kraft sein,
({1})
wenn nicht bei der Sitzung des Vermittlungsausschusses
im August 1998 - lieber Herr Hartenbach, Sie waren
dabei - die Vertreter der SPD mit dem Betonkopf Hartenbach an der Spitze sowie die der SPD angehörenden
Landesjustizminister diesen Gesetzentwurf blockiert und
damit abgeschmettert hätten,
({2})
nur weil wir eine vernünftige Bestimmung aufgenommen hatten, nach der freiwillig, ohne Zwang und jeweils
auf die Länderinteressen zugeschnitten der Versuch gestartet werden sollte, das Handelsregister auf die Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern oder
eine gemeinsame Einrichtung zu übertragen.
({3})
Wegen einer vernünftigen Regelung, die als Aufhänger zum Blockieren diente, ist der Gesetzentwurf nicht
in Kraft getreten. Lieber Herr Hartenbach, ich habe es
schon einmal gesagt: Sie waren der Hauptblockierer,
während der Herr Geis ständig Brücken zu bauen versucht hat. Das ist uns damals aber nicht gelungen.
({4})
Nun wissen wir, daß sich die Betonmeinung nicht geändert hat, so daß wir diese Vorschläge im vorliegenden
Gesetzentwurf nicht mehr aufgenommen haben. Wir
wollen mit dieser Vorlage erreichen, daß die Länder
schnell und wirksam Kapazitäten im Justizwesen, insbesondere bei den Gerichten, freibekommen, um die Aufgaben der am 1. Januar in Kraft getretenen Insolvenzordnung und des neuen Betreuungsrechts ohne Engpässe
und Staus bewältigen zu können.
Die neue Regierung, insbesondere Frau Herta
Däubler-Gmelin, aber natürlich auch Sie, verehrter Herr
Justizstaatssekretär, Kollege Pick, sollten uns dankbar
sein, daß wir Ihnen hier die Arbeit abgenommen haben
und den Gesetzentwurf schnell und ohne Zaudern auf
den Tisch legen, der von Ihnen seinerzeit - Herr Hartenbach, ich betone das noch einmal - weitgehend mit beschlossen worden war. Wir sind dabei richtigerweise
davon ausgegangen - das zeigt sich auch heute wieder -,
daß Sie im Ministerium durch Neuorganisation und
Neuverteilung von Kompetenzen dazu zeitlich einfach
noch nicht in der Lage waren.
Wir treten für die Interessen der Länder ein
({5})
und haben weitgehend auch deren Wünsche berücksichtigt. Einige Details, die in der Praxis wichtig sind,
möchte ich nennen: Wirksame Gerichtsstandsvereinbarungen können getroffen werden. Ein Richter, der beim
Amtsgericht abgelehnt wurde, mußte in der Vergangenheit eine Entscheidung des Landgerichts oder des Oberlandesgerichts herbeiführen; nun macht das ein Kollege
am Gericht selbst. Die Kostenentscheidungen, die oft
langwierige Rechtsmittel nach sich zogen, wurden insofern vereinfacht, als einer Entscheidung gemäß § 91 a
ZPO keine sofortige Beschwerde mehr folgen kann,
wenn insbesondere im Hauptverfahren ein Rechtsmittel
unzweifelhaft nicht eingelegt werden kann. Auch bei
§ 92 ZPO, bei der Kostenteilung, ist eine vereinfachte
Kostenzuteilung möglich, und man muß nicht auf jeden
Pfennig achten.
Diese Überlegungen sind bei anderen Bestimmungen
in den Gesetzen durchgehend ergänzt worden. Die oft
schwierige Ersatzzustellung ist vereinfacht. Die Vergleichsvereinbarung, die nach wie vor bei jeder mündlichen Verhandlung eine Maxime sein soll, ist auch
möglich, wenn die Parteien im Beschlußverfahren einen
Vorschlag des Gerichts annehmen, ohne daß es einer
neuen mündlichen Verhandlung bedarf.
Durch deutlich größere Möglichkeiten, den Einzelrichter einzusetzen - hiergegen geäußerte Bedenken
teile ich nicht -, werden die Amts- und die Landgerichte
entlastet. So sollen Streitigkeiten mit einem Wert von
bis zu 30 000 DM vom Einzelrichter entschieden werden, der seinerseits bei besonderen Schwierigkeiten oder
grundsätzlicher Bedeutung an die Kammer zurückübertragen kann.
Das schriftliche Verfahren soll vereinfacht und erleichtert werden. Bei Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche, deren Wert 60 000 DM nicht
überschreitet, kann das Berufungsgericht bei offensichtlicher Erfolglosigkeit die Berufung zurückweisen.
Diese und viele andere nach außen oft als Kleinigkeiten anzusehende Änderungen können den Zivilprozeß
deutlich beschleunigen, ohne daß das Recht des einzelnen darunter leidet. Dazu gehören unter anderem einige
wenige Bestimmungen im Arbeitsgerichtsgesetz für Angriffs- und Verteidigungsmittel und die Möglichkeit der
Landesregierungen, zentrale Gerichte für Wohnungseigentumsfragen einzurichten. Herr Pick, Sie sind ja
Kommentator dieses Gesetzes, und da ist das sicherlich
in Ihrem Interesse.
Ein besonderer Kernpunkt ist die Einführung der
Möglichkeit, daß die Länder Klagen erst dann zulassen,
wenn vorher anerkannte Gütestellen angerufen werden,
und zwar in vermögensrechtlichen Streitigkeiten vor
den Amtsgerichten bis zu einer Streitwertsumme von
1 500 DM. Dann kann ein Kläger erst eine Klage einreichen, wenn er eine von der Gütestelle ausgestellte Bescheinigung über einen erfolglosen Einigungsversuch
vorlegt.
Dem Kollegen Funke möchte ich sagen: Dabei darf es
ruhig Unterschiede zwischen den Ländern geben. Es
gibt Traditionen von Friedensrichtern, und es gibt Traditionen in anderen Dingen. Trotz dieser Unterschiede
kann man sich einigen. Wir sind sicher, daß ein Großteil
der Streitigkeiten gefiltert wird, im Vergleichswege erledigt werden kann und daß damit die Gerichte deutlich
entlastet werden.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, nehmen Sie mit uns sofort und schnell im Anschluß
an diese Sitzung die Beratungen auf! Wenn das geschieht, dann könnte dieses Gesetz in wenigen Wochen
in Kraft treten, ohne daß wir auf die ach so große Justizreform aus einem Guß oder - wenn ich Herrn Beck
folge - aus mehreren Güssen warten müssen.
({6})
- Ich glaube eher, daß es einen Regenguß und vielleicht
sogar die Traufe von irgendeiner Dachrinne gibt, wenn
Sie das machen wollen.
Ich hoffe, daß wir schnell und kurzfristig die Länder
entlasten können und den Rat- und Rechtsuchenden die
Möglichkeit eröffnen, ihr Recht schneller zu finden. Also sollten wir im Bundestag schneller arbeiten. Herr
Hartenbach, bitte blockieren Sie nicht! Arbeiten Sie an
einem Gesetz mit, das Sie eigentlich schon längst mit
verabschiedet hatten!
In diesem Sinne hoffe ich, daß es uns gelingt, nicht
aufeinander einzuschimpfen, sondern miteinander zu arbeiten, so wie es sich gehört.
Danke schön.
({7})
Nun erteile ich das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Eckhart
Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß auf dieser und auf
jener Seite des Hauses eine große Übereinstimmung
herrscht, wie man Justizreform eigentlich betreibt.
Wenn ich mir vorstelle, daß diese Einigkeit eigentlich
schon in der 13. Legislaturperiode hätte bestehen können, dann frage ich mich in der Tat, warum wir erst
heute über dieses Thema sprechen.
({0})
Auch habe ich Herrn Funke erst jetzt zum erstenmal
richtig verstanden. Denn offensichtlich war es die Taktik
der früheren Bundesregierung, die „Reform“ in der
letzten Legislaturperiode so anzulegen, daß sie nicht
Wirklichkeit wird,
({1})
so daß wir heute, in dieser Legislaturperiode, die Chance
haben, eine echte Justizreform zu machen. Ich muß sagen, ich habe Hochachtung vor dieser damals langfristigen Perspektive.
({2})
Wir befassen uns heute mit dem sogenannten Gesetz
zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens und
des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Wir erinnern uns, daß wir bereits in der letzten Legislaturperiode die Erfahrung gemacht haben, daß die Rechtspolitiker mit diesem Entlastungsgesetz quer durch die Parteien ihre Probleme hatten. Das Gesetz ist dann im Vermittlungsverfahren gescheitert, Herr Kollege von Stetten, weil die Bundesländer dieses Danaergeschenk,
nämlich die Möglichkeit, das Handelsregister an Kammern zu übertragen, offensichtlich nicht angenommen
haben. Aber so ist das mit Geschenken: Man ist nicht
verpflichtet, sie anzunehmen.
({3})
Insofern handelt es sich heute um einen Entwurf, der
lediglich um diese Frage bereinigt ist. Ansonsten ist er
unverändert. Aber ich will es ganz deutlich sagen: Die
neue Bundesregierung will nicht aufs neue die kaum zufriedenstellende Reihe von Entlastungs-, Vereinfachungs- und Beschleunigungsnovellen weiter fortsetzen. Deswegen lehnen wir auch diesen Entwurf ab. Der
Ihnen vorliegende Entwurf enthält nämlich vorwiegend
Regelungen, die punktuell das zivilprozessuale Verfahren ändern und nur einzelne Verfahrensschritte kürzen
oder vereinfachen sollen. Die Vielzahl der hintereinandergeschalteten Gesetze - es würde sich hiermit seit
1990 immerhin um die dritte Reform mit dem Ziel einer
Entlastung handeln - hat aber gezeigt, daß die Justiz auf
diese Weise gerade nicht nachhaltig entlastet werden
kann. Für den vorgelegten Entwurf war dies übrigens
auch das übereinstimmende Ergebnis der Sachverständigen, wenn Sie sich an die Anhörung damals im
Rechtsausschuß erinnern. Insofern bleibt diese Kritik
bestehen.
Ich möchte keine Mißverständnisse aufkommen lassen: Das verfolgte Hauptziel, die Sicherung der Effektivität der Zivilrechtspflege, und zwar im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger, ist Grundlage der Rechtspolitik
der Bundesregierung. Dem erneuten Versuch einer Entlastung ohne wirkliche Reform muß aber eine klare Absage erteilt werden.
({4})
Statt dessen setzen wir auf eine grundlegende Reform
der Justiz, die Schluß macht mit halbherzigen Lösungen,
die keine eigentliche Entlastung bringen und im wesentlichen nur die Haushaltspolitiker beruhigen sollen.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Geis? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, ist
Ihnen bekannt, daß wir diesen Gesetzentwurf, den wir
jetzt vorgelegt haben und den Sie so abqualifizieren, in
einem langen Vorverfahren mit Damen und Herren aus
dem Bundesrat beraten haben - Sie selber waren bei diesen Beratungen dabei - und daß dann dieser Gesetzentwurf, den Sie jetzt so abqualifzieren, am 18. Oktober
1996 im Bundesrat einstimmig von allen Ländern verabschiedet worden ist und dem Bundestag zugeleitet worden ist? Ist Ihnen bekannt, daß wir während der Beratungsphase im Rechtsausschuß immer wieder auch in
Kontakt standen mit den Damen und Herren Justizministerinnen und Justizministern der Länder, um die
wichtigsten Anliegen des Bundesrates durchzusetzen?
({0})
Und ist Ihnen schließlich auch bekannt, daß wir diesen
Teil des Gesetzentwurfes, den wir jetzt ohne die berühmte Öffnungsklausel vorlegen, im Grunde im Konsens über die Parteigrenzen hinweg verabschiedet haben?
({1})
Wissen Sie, Herr Geis, wir haben heute die Chance - auch im Konsens mit den Bundesländern -, tatsächlich in eine echte Reform einzusteigen. Deswegen werden wir allen Schritten, die dieser
Reform nicht zuwiderlaufen, sondern sie befördern und
ihr entsprechen, zustimmen.
Wir haben heute die Chance - die sollten wir nutzen -, diese Reform auf den Weg zu bringen. Deswegen
sage ich Ihnen auch, daß wir überhaupt keine Vorbehalte
gegen die Öffnungsklausel haben, sondern sie nach wie
vor für richtig halten. Wir würden es begrüßen, wenn
das Parlament eine gesetzliche Regelung in diese Richtung vor der eigentlichen Justizreform treffen könnte,
weil sie von dem unabhängig ist, was wir eigentlich
wollen.
Unsere Reform hat zum Gegenstand, daß wir die
Dreizügigkeit - Sie wissen das - voranbringen, die erste
Instanz stärken und vor allen Dingen bei der Rechtsmittelinstanz in Zukunft weniger mit Verschiebung von
Streitwertgrenzen und anderen Dingen zu einer Überprüfung der Urteile der ersten Instanz kommen. Insofern
begrüßen wir alles, was dieser Reform dient.
({0})
Meine Damen und Herren, in der Koalitionsvereinbarung ist festgelegt, daß wir eine umfassende Justizreform mit den Aspekten der Dreistufigkeit, von der ich
bereits sprach, der Aufwertung der einheitlichen Eingangsgerichte, der Reform der Gerichte und Instanzen
und der Vereinfachung und Angleichung der Verfahrensordnungen durchsetzen werden. Zur Umsetzung dieser Pläne wird in einem ersten Schritt in dieser Legislaturperiode eine Rechtsmittelreform in Zivilsachen vorgelegt werden. Diese Rechtsmittelreform soll zugleich
einen realistischen Ansatz für die Einführung der Dreigliedrigkeit in der Zivilgerichtsbarkeit darstellen.
Anders als die bisherigen bis in das Jahr 1971 zurückgehenden Überlegungen werden die Vorschläge für
die Dreigliedrigkeit in Zivilsachen aber gerade nicht bei
den Fragen der Anzahl und der Größe der Amtsgerichte
festgemacht werden. Nicht hier liegen die vorrangigen
und mit der Unübersichtlichkeit des Instanzenzuges verbundenen Probleme für den Bürger.
Meine Damen und Herren, diese Reformpläne haben
unbedingten Vorrang vor weiteren punktuellen Entlastungsgesetzen. Es wäre für die gerichtliche Praxis unzumutbar, die Zivilprozeßordnung in einer Legislaturperiode gleich zweimal - und dies auch noch mit Vorschlägen, die in ganz verschiedene Richtungen zielen umfangreich zu ändern. Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, welche Reibungsverluste ein solches Vorgehen
hätte. Wir sollten deshalb unsere Bemühungen auf eine
echte Rechtsmittelreform konzentrieren und kein weiteres Stückwerk produzieren,
({1})
das im übrigen auch noch mit der Grundsatzreform inkompatibel ist.
({2})
Die Bundesregierung will, daß der Flickschusterei in
der Justizpolitik endlich ein Ende bereitet wird.
({3})
Parl. Staatssekretär Eckhart Pick
Wir wollen eine grundlegende Reform wagen, die diesen Namen auch verdient.
({4})
Unsere Justiz ist es wert, daß die dort bestehenden Probleme ernst genommen und umfassend und zufriedenstellend gelöst werden. Die Bürgerinnen und Bürger
werden es uns danken.
Vielen Dank.
({5})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich freue mich über die temperamentvolle Debatte zu dieser Tageszeit und darüber,
daß der Kollege Gilges ein solches Interesse an der Justizreform zeigt.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache
14/163 an den Rechtsausschuß vorgeschlagen. Andere
Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Ursula Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Sofortige Wiederaufnahme des Programms
„Förderung der Forschungskooperation in der
mittelständischen Wirtschaft“
- Drucksache 14/209 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rolf Kutzmutz, PDS.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute gegen Mittag die meisten, die hier sind, werden sich daran erinnern brannte der Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Herr Diller, ein wahres Feuerwerk ab: Rakete
für Rakete jagte er in den Haushaltshimmel, darunter
nicht wenige mit der Aufschrift „Innovationsförderung“,
„Forschungsförderung“ und „mittelständische Unternehmen“. Das Problem bei solch einem Feuerwerk ist,
daß der eine oder andere Stern zu schnell verglüht oder
gar nicht erst zum Leuchten kommt. So ist es offensichtlich mit der Forschungskooperation.
Die Förderung der Forschungskooperation gehört
nicht zu den finanziell größten, wohl aber zu den wirkungsvollsten Programmen. Das ist keineswegs nur die
Bewertung derer, die daran bisher partizipierten. Prognos Basel und DIW Berlin konstatieren in ihrer Wirkungsanalyse bei der Forschungskooperationsförderung
beispielsweise ganze 10 Prozent echte Mitnahmeeffekte.
Demgegenüber stehen eine starke Anwenderorientierung, die breite Anlage und der sehr niedrige Aufwand
bei der Beantragung der Fördergelder, die dem Programm von unabhängigen Fachleuten attestiert wurden.
Die abrupte Beerdigung dieses Programms zur Bundestagswahl im September letzten Jahres durch den damals zuständigen Minister Rüttgers traf nicht nur die
rund 800 unmittelbar betroffenen kleinen Unternehmensverbünde, die auf ihren genehmigungsreifen Anträgen sitzenblieben. Auch so manches hoffnungsvolle
Vorhaben - und damit qualifizierte Arbeitsplätze - entschlief wegen Kapitalschwäche. Aber gerade im Innovationsbereich ist doch Zeit bares Geld. Deshalb war
diese Entscheidung vor allem auch ein Schlag gegen eine zukunftsorientierte Förderphilosophie im allgemeinen
und eine entsprechende Technologiepolitik im besonderen.
Aus den genannten Gründen waren wir sehr zufrieden, daß sich die neue Bundesregierung dieses Skandals
sogar in ihrem Koalitionsvertrag annahm. Was allerdings seit Oktober bis heute folgte, war, gelinde gesagt,
konfus. Erst geschah gar nichts. Als ich Anfang Dezember Kollegen Mosdorf dann im Wirtschafts- und Technologieausschuß darauf ansprach, bedauerte er wortreich
die Zustände und sagte die Auflage eines neuen Programms nach der Verabschiedung des Haushalts 1999,
also absehbar frühestens neun Monate nach der erfolgten
Programmbeendigung, zu. Das war Anlaß für uns, den
vorliegenden Antrag zu schreiben.
Neue Nachrichten gab es Mitte Dezember: Die Kollegen Matschie und Hilsberg konnten unter Berufung
auf Herrn Kollegen Mosdorf bzw. Minister Müller der
interessierten Öffentlichkeit vermelden, daß alles sofort
weiterginge und dafür vorab 100 Millionen DM bereitstünden. Das war aber immer noch nicht der Weisheit
letzter Schluß; denn Anfang Januar erhielt der Kollege
Dr. Richter auf eine schriftliche Anfrage von Herrn
Mosdorf die Antwort, konkrete Termine und Summen
für KMU-Forschungskooperationen hingen vom Aufstellungsverfahren zum Bundeshaushalt 1999 und dessen Behandlung im Parlament ab. Zugleich wurde darüber geredet, daß es künftig eigentlich ein weitaus großzügiger ausgestattetes neues Programm für die Forschungskooperation mit völlig entbürokratisierten Förderkriterien geben sollte. Diese Hoffnung nährte auch
der Bundeskanzler Mitte des Monats, als er erklärte, für
Bildung, Forschung und Technologie würde 1 Milliarde
DM mehr in den Bundeshaushalt eingestellt.
Letzte jähe Wendung dann vergangenen Mittwoch:
Herr Mosdorf meinte nun im Wirtschaftsausschuß, daß
das alte Forschungskooperationsprogramm wieder aufgenommen würde und zumindest 1999 dafür 50 Millionen DM bereitgestellt würden. Tags darauf erklärte Herr
Bury hier voller Begeisterung und unter dem Beifall seiner Fraktion, man werde das zum großen Schaden für
den Mittelstand wie für das Vertrauen in die Politik eingestellte Programm wieder auflegen.
Parl. Staatssekretär Eckhart Pick
Angesichts dieser Ungereimtheiten und der von mir
gerade geschilderten Abläufe verlangt die PDS-Fraktion
von der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition, in dieser Debatte folgende Fragen aufzuklären:
Erstens. Gibt es 1999 für Forschungskooperationen
nun 50 oder 100 Millionen DM? 50 Millionen DM wären übrigens allzuwenig. Ich verweise nur darauf, daß
selbst in den Anfangszeiten dieses Programms wesentlich mehr Geld eingesetzt wurde. 1995 beispielsweise
waren es 93,5 Millionen DM. Wie sollen mit 50 Millionen DM die wohl mindestens 800 bereits komplett aufbereiteten Anträge seriös anfinanziert werden, ganz zu
schweigen von denen neuer Interessenten?
Zweitens. Gibt es nun demnächst ein neues Programm oder bleibt alles beim alten? Ist nicht bei den
vielen Haushaltslöchern zu befürchten, daß die Trauben
für einen positiven Antragsbescheid künftig höher gehängt werden? Droht nicht vielleicht auch, daß die rotgrüne Bundesregierung das Programm ohne viel Aufsehen endgültig beerdigt? Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf zwei Haushaltslöcher, die solchen
Verdacht nähren. Meine Kollegin Professor Luft sprach
in diesem Hohen Hause letzte Woche die fehlenden 550
Millionen DM zur Refinanzierung der Eigenkapitalhilfe
an. Darüber hinaus jonglieren die Haushälter der neuen
Regierung beim Einzelplan 09 bisher mit sogenannten
globalen Minderausgaben und Effizienzrenditen von
über 355 Millionen DM. Selbst Herr Waigel brachte es
auf dem Höhepunkt seiner Zahlenspielereien im letzten
Jahr in dieser Position nur auf 230 Millionen DM.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, das Programm zur Forschungskooperation ist
zu wichtig, als daß es auf die lange Bank geschoben
werden dürfte. Deshalb erwartet die Fraktion der PDS
von Ihnen, daß Sie alle Zweifel an seiner Fortführung
ausräumen. Es geht dabei um politische Lauterkeit.
Noch mehr jedoch geht es darum, den interessierten
Unternehmen und Forschungseinrichtungen umgehend
die Sicherheit zu geben, daß sie die aufgestockten Forschungsmittel für die Forschungskooperation in der
mittelständischen Wirtschaft im einst beabsichtigten
Sinne erwarten dürfen.
Danke schön.
({0})
Nun erteile ich das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Siegmar
Mosdorf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Programm „Forschungskooperation in der mittelständischen
Wirtschaft“ hat in den letzten Jahren bei der raschen und
erfolgreichen Umsetzung von Ideen in neue Produkte
auf dem Wege einer frühzeitigen Kooperation von Unternehmen untereinander und mit der Wissenschaft vielen mittleren und kleineren Unternehmen erfolgreich
Hilfestellung leisten können.
Die Ausstattung des Programms wurde 1998 noch vor
der Bundestagswahl - Herr Kutzmutz, jetzt müssen Sie
zuhören, damit Sie die Zahlen richtig mitkriegen - von
der alten Bundesregierung um 50 Millionen DM aufgestockt. Gleichzeitig wurde bis zum Tag der Bundestagswahl - das hatte einen tieferen Sinn - kräftig für das Programm gekurbelt. Dann hat Herr Rüttgers - ist er eigentlich da? Nein, er ist im Moment im innerparteilichen
Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen unterwegs - drei Tage nach der Bundestagswahl das Programm geschlossen,
obwohl 800 mittelständische Unternehmen ordnungsgemäße Anträge eingereicht hatten, sich viel Mühe gemacht
hatten und dieses Programm gerne weitergeführt hätten.
({0})
Sie hatten wirklich viel gearbeitet, Consultants eingestellt usw., und dann kam drei Tage nach der Bundestagswahl, obwohl 1 200 Anträge vorlagen, die Erklärung: Das Programm ist geschlossen.
Eine große Anzahl mittelständischer Unternehmen,
über 500, und auch eine Reihe von Kollegen aus dem
Haus haben daraufhin sofort gesagt: Es kann nicht sein,
daß man ein erfolgreiches Programm einfach schließt
und keine Mittel mehr dafür zur Verfügung hat. Wir haben deshalb unmittelbar danach gehandelt. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat Anfang Dezember, 32 Tage nach dem Amtseid, ein neues
Programm für die Übergangszeit aufgelegt; das sind die
100 Millionen DM, die Sie meinen. Wir haben 100 Millionen DM zur Verfügung gestellt, um Altanträge, die
eigentlich nicht mehr bewilligt werden sollten, abzuwikkeln und diese Anträge, 800 an der Zahl, in ein geordnetes Verfahren zu bringen. Die Bewilligung dieser 100
Millionen DM erfolgte im Rahmen von noch verfügbaren Verpflichtungsermächtigungen für das Jahr 2000.
Wir haben also die Mittel vorgezogen und haben damit
die 800 Anträge bearbeiten können. Wir haben noch vor
Weihnachten Hunderte von Briefen an alle möglichen
mittelständischen Unternehmen geschickt, um diesen
Unternehmen zu sagen: Euer Antrag war nicht umsonst;
wir werden euer Begehren ernsthaft aufnehmen. Viele
Prüfungen sind inzwischen erfolgreich abgeschlossen.
Viele Kollegen aus dem Haus haben bereits entsprechende Briefe bekommen, so daß man sagen kann: Der
Antrag der PDS kommt zu spät; die Bundesregierung
hat bereits gehandelt.
({1})
Unser nächstes Ziel allerdings ist - dafür brauchen
wir die Unterstützung des ganzen Hauses -, jetzt rasch
ein neues Anschlußprogramm zustande zu bringen. Damit soll das Engagement der kleinen und mittleren Unternehmen für die Erneuerung ihrer Erzeugnisse, Technologien und Dienstleistungsverfahren und für zukunftssichere Arbeitsplätze unterstützt werden. Gefördert werden soll weiterhin die Zusammenarbeit auf dem Gebiet
der Forschung und Entwicklung zwischen Unternehmen
und Forschungseinrichtungen.
({2})
Wir wollen zum Beispiel Personalaustausch fördern,
was ein ganz wichtiger Punkt ist: Leute aus Forschungsinstituten gehen für ein halbes oder ein ganzes
Jahr in die Praxis, oder Leute aus der Wirtschaft gehen
einmal in die Forschungseinrichtungen der Max-PlanckGesellschaft, der Fraunhofer-Institute oder anderer. Das
soll mit Personalkostenzuschüssen bis zur Hälfte des
Monatseinkommens gefördert werden. Das ist, glaube
ich, ein sehr wichtiges und intelligentes Programm. Wir
wollen das fortsetzen.
Jetzt will ich nur noch etwas zu den aktuellen Zahlen
sagen. Im Haushalt 1998 der alten Bundesregierung waren 162 Millionen DM vorgesehen. Diese sind unmittelbar vor dem Wahltermin durch Sondermittel aus dem
Haushalt um 50 Millionen DM aufgestockt worden, so
daß man insgesamt 212 Millionen DM zur Verfügung
hatte. Im Haushaltsentwurf von Waigel für das Jahr
1999 waren 189 Millionen DM vorgesehen. Ich freue
mich, jetzt dem Hohen Haus mitteilen zu können, daß
wir in harten Verhandlungen mit dem Bundesfinanzminister tatsächlich etwas bewegen konnten und erreicht
haben, daß wir im Jahre 1999 nun 262 Millionen DM für
ein wichtiges Programm zur Verfügung haben, das uns
allen am Herzen liegt.
Wir möchten dieses neue Programm, das wir „Innovationskompetenz“ nennen wollen, so schnell wie möglich starten. Ich bin sicher, daß wir, sobald das Haus den
Haushalt zu Ende beraten hat, also nach dem grünen
Licht des Deutschen Bundestages, eine erfolgreiche
Fortsetzung des Programms für die mittelständische
Wirtschaft organisieren können.
In Zeiten der Veränderung ist es wichtig, daß wir auf
Innovation setzen, daß wir praktisch handeln. Wir haben
das sehr rasch getan. Ich danke den Kolleginnen und
Kollegen, die uns dabei geholfen haben, die mit Nachdruck für die Fortsetzung des Programms eingetreten
sind. Dies ist ein wichtiger Schritt für die Innovation in
Deutschland.
({3})
Ich erteile nun dem
Kollegen Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Jürgen
Rüttgers hatte 1993 ein gutes Programm aufgelegt.
4 500 kleine und mittelständische Unternehmen haben
davon profitiert. 6 300 Vorhaben sind gut gelaufen. Es
ist eines der erfolgreichsten Programme in der Mittelstandsförderung, in der Innovation und in der Forschung
gewesen.
Wir haben es im September gestoppt - die Zahlen,
die Sie, Herr Kollege Mosdorf, gerade vorgetragen haben, zeigen dies -, weil wir die Effizienz des Programms
optimieren wollten. Das Programm sollte fortbestehen.
Es sollten aber neue Anforderungen gestellt werden, es
sollten weitere Zwecke gefördert werden können.
({0})
Das, was Sie gerade verkündet haben, was ich inhaltlich nur begrüßen kann, lag komplett in der Schublade.
Sogar der Name des Programms ist identisch geblieben.
Das ist nachlesbar. Er lautete: „Innovationskonzeptprogramm“, so wie Sie es jetzt auch nennen wollen. Es war
auch etatisiert. Es war also kein Abbruch des Programms geplant, sondern schlicht und ergreifend ein
kurzes Innehalten, eine schnelle Erneuerung einiger
Elemente eines mittlerweile über fünf Jahre laufenden
Programmes, die wir in dieser Zeit im Vollzug als notwendig und verbesserungsfähig erkannt hatten.
({1})
Deswegen kann ich eigentlich nur sagen: Wenn Sie das
umsetzen, was bei uns in der Schublade lag, wird das,
was wir jetzt erwarten können, ein gutes Programm sein
und unsere rückhaltlose Unterstützung finden, weil es
im weitesten Sinne mit dem identisch sein wird, was
vorgedacht war. Die Mitarbeiter im Hause, die AiF und
alle, die in dieser Frage zusammengearbeitet haben, bestätigen, daß das ein ganz normaler Prozeß war.
Das Problem, das wir jetzt miteinander haben, ist vor
allem ein Problem der verspäteten Verabschiedung des
Haushalts. Deswegen kommen wir in diesen Time-lag,
der zu einem Abbruch führen könnte, den wir alle gemeinsam nicht wollen.
Ich glaube, daß wir die ganze Diskussion wirklich auf
dieses Problem reduzieren können. Für die CDU/CSUFraktion sage ich uneingeschränkt: Was immer uns gemeinsam möglich ist - auch hinsichtlich eines Vorziehens von Gestaltungsmöglichkeiten im Haushaltsrecht -,
bieten wir ausdrücklich an, um es nicht zum Abbruch
dieses Programmes kommen zu lassen. Denn es ist
wirklich effektive Mittelstandsförderung. Hier sind wir
absolut auf einer Linie.
Deswegen kann ich diesen Teil schon abschließen.
Ich finde es in Ordnung, wenn es Ihnen gelungen ist,
dieses Programm im Rahmen der Haushaltsberatungen
noch etwas aufzustocken. Sehr wahrscheinlich werden
wir, insbesondere weil sich die Palette verbreitert, neue
Verwendungsmöglichkeiten finden. Das ist ausgesprochen sinnvoll angelegtes Geld. Hierüber stimmen wir
völlig überein.
Weil wir über Forschungsförderung für den Mittelstand reden, will ich aber noch einen anderen Punkt aufgreifen. Dies formuliere ich durchaus auch selbstkritisch
und an uns gerichtet. Sie alle, die sich mit den Dingen
beschäftigt haben, wissen, daß es 756 unterschiedliche
Förderprogramme für den Mittelstand gibt, davon 150
beim Bund, 106 bei der EU und 500 bei den Ländern.
Ich meine, daß wir an der Stelle unserer Verantwortung
bisher nicht gerecht geworden sind und daß wir alle gut
beraten sind, uns einmal zusammenzusetzen und zu fragen: Wie können wir diese Dinge auf eine vernünftige
Linie zurückführen? Das ist ein Dschungel und ein
Wildwuchs, der unanständig ist, der nicht weiterhilft und
den wir reduzieren müssen.
({2})
Ich schlage deswegen für die CDU/CSU-Fraktion
ausdrücklich vor - ich bitte, das aufzunehmen und einmal zu prüfen -, auch im Rahmen der Möglichkeiten,
die wir durch die Präsidentschaft in der EU haben, alle
Beteiligten - EU, Länder und Bund - schleunigst zu
einer Konferenz in diesem Bereich zusammenzurufen,
um zu überlegen, was wir wohin delegieren können und
wer definitiv was und mit welcher verringerten Zahl von
Programmen machen soll. Das wäre ein positiver Ausfluß dieser Debatte, die die PDS beantragt hat, wobei,
weil sie den Ablauf nicht ganz mitbekommen hat, der
Antrag in der Tat etwas spät kam. Es geht jetzt eigentlich nur noch darum, die Zeit zu füllen, in der wir auf
den Haushalt warten.
Noch einmal meine Bitte an Herrn Mosdorf und die
Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der F.D.P.:
Lassen Sie uns überlegen - vielleicht in der nächsten
Sitzung des Wirtschaftsausschusses -, ob wir eine solche Konferenz anregen sollten, ob wir sie beschließen
sollten, ob das noch Sinn macht, wenn es in der Kürze
der Zeit nicht geht. Auf jeden Fall müßte eine solche
Zusammenkunft im Laufe dieses Jahres versucht werden. Sonst werden wir immer mehr neue Programme mit
immer unübersichtlicheren Methoden haben. Für die Beratungsberufe ist das ein Arbeitsbeschaffungsprogramm,
aber der Sache selbst wird damit nicht geholfen. Wir haben das miteinander in der Vergangenheit beklagt, und
vielleicht können wir es in der Zukunft ein Stück ändern.
Ich begrüße ausdrücklich die Ausweitung auf den
einen oder anderen Zweck. Wir wollen auch überlegen,
ob es nicht sinnvoll wäre, nicht nur die Innovation und
das Produkt zu fördern, sondern bis hin zur Marktreife
zu begleiten. Ich glaube, daß eine Menge Geld am Ende
deswegen versickert, weil wir vor der Begleitung bis
zur Marktreife zurückschrecken und der kleine Mittelständler dann nicht mehr weiterkann. Wir sollten also
die Begleitungszeit ein Stück verlängern. Wir alle wissen - wenn wir Marktwirtschaft kapiert haben -, daß
sich das Produkt am Ende am Markt durchsetzen muß.
Es nützt die beste Förderung nichts, wenn ich nicht die
Möglichkeiten schaffe, daß der eine oder andere sein
Produkt auf den Markt bringen und damit sein Geld verdienen kann. Das fände ich eine ganz wichtige Verbreiterung, über die wir noch einmal nachdenken sollten.
Das war bei uns so angedacht, und ich hoffe, daß Sie
diesen Gedanken mit aufnehmen.
Ich bitte darum, daß wir von der Bundesregierung in
der nächsten Sitzung des Wirtschaftsausschusses einen
Bericht bekommen, in dem sie darlegt, wie sie dieses
bedauerliche Auseinanderklaffen der Zeitläufe, das heißt
die späte Verabschiedung des Haushaltes überwinden
will. Ich sage noch einmal: Wir sind zu jeder Schandtat
bereit, bis hin zur Einbeziehung unserer Haushaltspolitiker: ob wir voranmachen können, ob wir eine bewilligte
Förderung wegen Schädlichkeit zurückstellen - Sie kennen das: die Förderschädlichkeit, wenn ich mit einem
Forschungsvorhaben bereits begonnen habe -, ob wir in
den Fristen großzügig sein können oder ob wir entsprechende Hilfen geben können, damit die begonnenen Anstrengungen wirklich konsequent fortgesetzt werden. Sie
wissen: Nirgendwo ist Geschwindigkeit und Zeit so
wichtig wie beim Mittelstand. Das ist sein Vorteil. Deswegen darf die Forschungsförderung, die wir betreiben,
ihn nicht langsam werden lassen.
Darum noch einmal meine Bitte: Wenn Sie da irgend
etwas finden, tragen Sie uns das vor. Wenn Sie das Parlament insgesamt dafür brauchen, sagen wir für die
CDU/CSU ja. Ich denke, daß diese Konzeption richtig
und sinnvoll ist. Es ist unser gemeinsames Anliegen. Da
lohnt es nicht, parteipolitisch zu streiten. Ich hoffe nur,
daß Sie den Mut haben, den Druck auf Ihre Haushaltsabteilungen so zu erhöhen, daß wir möglichst schnell
über die Mittel verfügen und freizeichnen können.
Herzlichen Dank.
({3})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schauerte, den Stopp angeblich aus Gründen der Verbesserung dieses Programmes haben die antragstellenden Unternehmen nicht begriffen. Viele entsetzte Briefe
von Unternehmen sind bei uns eingegangen und haben
uns zum Handeln bewegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, herzlichen Dank für diese Steilvorlage. Sie geben mir mit
Ihrem Antrag die Gelegenheit, aufzuzeigen, für wie
wichtig Bündnis 90/Die Grünen die Forschungs- und
Mittelstandspolitik halten. Sie ist für uns keine leere
Worthülse wie für manche in der alten Bundesregierung.
Wir unterstützen tatkräftig die vielen Unternehmen, die
beinahe ein Opfer der Politik der verbrannten Erde der
alten Regierung in diesem Punkt geworden wären.
({0})
Die alte Bundesregierung hat rücksichtslos das erfolgreiche Programm zur Forschungskooperation
unter dem Vorwand finanzieller Engpässe und - wie wir
heute hören - unter dem Vorwand möglicher Verbesserungen abgebrochen, so daß 800 förderfähige Anträge
nicht bearbeitet werden konnten. Da wollte ein Unternehmen ein chemiefreies Verfahren zur Aufbereitung
von hartem Wasser entwickeln, ein anderes ein universelles Bremssystem für künstliche Gelenke realisieren,
ein weiteres seine Innovationsfähigkeit in der Entwicklung von Solarmodulen steigern. Durch den Stopp sollte
auch ein Solarpionier aus Freiburg leer ausgehen. Statt
dessen sah Herr Rüttgers es als besonders wichtig an,
finanzstarken Unternehmen wie Shell und ASE - sprich:
RWE und Bayernwerk - zur Seite zu springen und ihre
Fabriken mit Millionen zu subventionieren. Nicht, daß
wir gegen diese Förderung waren - aber wo war die
Förderung des Mittelstandes?
({1})
Sehr viele Unternehmen waren aktiv und kamen nicht in
den Genuß dieses Programms.
({2})
Wir haben verstanden, Herr Schauerte, daß auch die
CDU/CSU die Förderung des Mittelstandes in Zukunft unterstützen will. Sie sprachen davon, alle
Schandtaten in dieser Richtung mitzutragen. Wir werden
Sie beim Wort nehmen.
Wir machen aber auch Ernst mit der Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen. Wir haben das Programm zur Forschungskooperation neu aufgelegt. Wir
haben in einem ersten Schritt nicht gestrichen, sondern
sogar 100 Millionen DM draufgelegt. Sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der
F.D.P., das sind 73 Millionen DM mehr, als Sie in diesem Jahr ausgeben wollten. Wir haben dafür gesorgt,
daß die Opfer der alten Regierung die Mittel für förderfähige Anträge doch noch zugesprochen bekamen. Wir
haben das Programm evaluiert und verbessert. Mitnahmeeffekte wurden eingeschränkt; die Innovationskompetenz wurde deutlich gesteigert. Wir lösen unsere
alten Forderungen nach einem neuen Mittelstandsprogramm ein. Die Nachhilfe der PDS brauchen wir dazu
nicht.
Bündnisgrüne Wirtschafts- und Forschungspolitik
vertraut auf das Innovationsvermögen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von Unternehmerinnen und
Unternehmern. Neue arbeitsmarktrelevante Ideen kommen gerade von kleinen und mittleren Unternehmen. Sie
reagieren flexibler auf die Herausforderungen der
Märkte als multinationale Konzerne. Das beweisen auch
internationale Erfahrungen.
Kleine und mittlere Unternehmen haben oft ganz andere Forschungsansätze und Forschungsergebnisse als
Großunternehmen. Das gilt vor allem bei der Entwicklung von Produkten, die eine Entlastung im Umweltbereich bringen.
Kleine und mittlere Unternehmen entwickeln keine
großtechnischen Sackgassentechnologien wie die Kernkraft, die Kernfusion oder den Transrapid, die den Interessen weniger Konzerne dienen und für die Gesellschaft
neue Probleme schaffen.
Kleine und mittlere Unternehmen finden dezentrale
Lösungen, die an den Bedürfnissen der Gesellschaft
ausgerichtet sind. Auch diese Unternehmen benötigen
qualifiziertes Personal für Forschung und Entwicklung.
Dieses Personal hat eine Schnittstellenfunktion. Es muß
den Know-how-Transfer produkt- und verfahrensorientiert leisten. Genau an dieser Stelle greift unser aktualisiertes Programm zur Forschungskooperation, wie wir
vom Herrn Staatssekretär bereits hörten.
({3})
Wir Bündnisgrüne stehen ohne Wenn und Aber hinter
diesem verbesserten Programm der neuen Bundesregierung.
Als Denkanstoß möchte ich uns allen aber noch folgende Fragen mitgeben: Ist es nicht sinnvoller für Gesellschaft und Umwelt, einen Schwerpunkt - auch in
diesem Programm - auf die Nachhaltigkeitsforschung
zu legen? Sollten wir mit unseren knappen Mitteln nicht
stärker in die Erforschung von umweltfreundlichen und
damit von zukunftsfähigen Energietechnologien investieren? Ich denke, es ist allemal besser, unser Geld in
diese Entwicklungen zu stecken, als eine weitere Generation von Tamagotchis herzustellen.
Vielen Dank.
({4})
Herr Kollege Fell,
das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich
gratuliere Ihnen im Namen des Hauses.
({0})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Gudrun Kopp
von der F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Eigentlich hatte ich mich für
heute abend auf eine Konsensrunde eingestellt, weil ich
dachte, daß eine selten gefundene Einigkeit besteht, was
die Forschungs- und Entwicklungsförderung des
Mittelstandes betrifft, aber Ihre Worte, sehr geehrter
Herr Kollege Fell, haben mich doch einigermaßen erstaunt.
Ich finde es wirklich positiv, daß sich alle Seiten dieses Hauses einschließlich der PDS zu Anwälten des
Mittelstandes machen, aber ich muß Ihnen sagen, ich
finde es nicht sehr überzeugend, wenn Sie plötzlich bei
diesem Tagesordnungspunkt Ihre Mittelstandsfreundlichkeit herauskehren, das gesamte Wirtschaftskonzept,
das auch diese neue Bundesregierung vorlegen muß, jedoch - das darf ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen Riesenlücken und Riesennachteile für den Mittelstand
insgesamt aufweist.
({0})
Ich nenne nur ein kleines Beispiel. Wenn Ihnen der
Mittelstand, die kleinen und mittleren Betriebe, wirklich
so am Herzen läge, dann wüßten Sie, wie wichtig es ist,
Lockerungen im Kündigungsschutz
({1})
für mehr Beschäftigung gerade in den kleinen und mittleren Betrieben zu haben, denn anderenfalls steigern Sie
die Anzahl der Überstunden.
({2})
Ich bitte Sie sehr herzlich: Lassen Sie die Kirche im
Dorf und unterstützen Sie den Mittelstand nicht nur
heute, sondern durch ein Gesamtkonzept!
({3})
Wir haben in den Ausführungen von Herrn Mosdorf
gehört, daß der Inititator dieses Programms die frühere
Bundesregierung, getragen von CDU/CSU und F.D.P.,
war. Das möchte ich einmal ganz klar herausstellen. Das
gilt nicht nur bei diesem Punkt, bei der Forschungsförderung, die ausgezeichnet ist.
Ich muß Ihnen sagen, wir machen kein Politikum
daraus, sondern nennen das, was gut ist, auch so - nicht
nur, wenn es von der rechten Seite dieses Hauses
kommt, sondern auch dann, wenn es von der neuen
Bundesregierung ausgeht. Das unterstützen wir ausdrücklich.
({4})
Aber ich möchte hier insbesondere ein zweites sehr
erfolgreiches Forschungsprogramm erwähnen. Ich glaube, Herr Schauerte, Sie haben es eben auch angesprochen. Das ist das AEF-Programm, für das im Haushalt
knapp eine halbe Milliarde DM vorgesehen waren und
das für den Mittelstand wirklich ein ganz erfolgreiches
Programm war. Das sind zwei sehr wichtige Säulen, und
ich denke, daran sollten wir gemeinsam arbeiten.
Ich kann für die F.D.P.-Fraktion nur sagen: Wir werden alles tun, um auf diesem Gebiet weiterzukommen,
und zwar zum Wohle der forschenden mittelständischen
Wirtschaft.
({5})
Ich bitte, für die nächste Sitzung des Wirtschaftsausschusses noch eines zu bedenken, Herr Mosdorf: Man
sollte den mittelständischen Betrieben - es sind 40 Prozent, die nach dem alten Programm gefördert wurden bei der Bewältigung der Bürokratie helfen.
({6})
Ich habe mir sagen lassen, daß es gerade in den neuen
Bundesländern häufig große Probleme gegeben hat. Es
mußten und müssen Bonitätsnachweise und Gesamtpläne vorgelegt werden. Ich weiß zwar, daß Kammern IHKs und Handwerkskammern - und auch Banken
kräftig mitgewirkt haben, aber ich möchte einmal ausdrücklich die Deutsche Ausgleichsbank lobend erwähnen, die gerade den kleinen Betrieben in den neuen
Bundesländern sehr geholfen hat. Wir müssen das intensivieren. Wir müssen dafür sorgen, daß die Bürokratie
nicht erdrückt, sondern daß wirklich Beratung geleistet
wird, wenn es darum geht, Bonität nachzuweisen und
Konzepte für die Zukunftsentwicklungen der Firmen zu
erarbeiten.
Schade ist selbstverständlich - das möchte ich hier
auch noch sagen -, daß der Bundeshaushalt 1999 erst
mit Verzögerung verabschiedet werden wird. Wir von
der F.D.P.-Fraktion hätten uns gewünscht, daß dies
schon im alten Jahr geschehen wäre. Das ist nun nicht
so, aber seien Sie versichert: Wir werden alles tun, um
diesem Programm zu weiteren Erfolgen zu verhelfen.
Danke sehr.
({7})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Thomas Sauer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Schon mehrfach hat sich der Ausschuß für Wirtschaft und Technologie mit dem Programm „Förderung der Forschungskooperation in der
mittelständischen Wirtschaft“ auseinandergesetzt. Bereits in diesen Beratungen ist klargeworden, daß die
neue Regierung einen anderen Kurs fährt und damit
deutliche Verbesserungen erreicht, was die Förderung
der innovativen Kompetenz gerade der kleinen und
mittleren Unternehmen in unserem Lande betrifft. Rund
100 Millionen DM - wir haben es eben gehört - sind
mobilisiert worden. Die Finanzierungslücke der alten
Regierung ist geschlossen. Damit muß der Antrag der
PDS eigentlich zu den Akten.
({0})
Angesichts des immer rascheren technologischen
Prozesses und des bestehenden Strukturwandels ist es
Aufgabe des hier zur Debatte stehenden Programms zur
Förderung der Forschungskooperation, kleine und
mittelgroße Unternehmen in die Lage zu versetzen,
durch Kooperationen diesen Anforderungen gerecht zu
werden und sich marktorientiert weiterzuentwickeln.
Insbesondere den kleinen und mittelgroßen Unternehmen ist damit ein Instrument an die Hand gegeben, Innovationsvorhaben, insbesondere auch risikobehaftetere
Vorhaben, zu realisieren.
Uns Sozialdemokraten ist klar, daß gerade die kleinen
und mittleren Unternehmungen eine große Rolle bei der
zentralen Aufgabe spielen, die großen Potentiale des
Technologiestandorts Bundesrepublik Deutschland zu
nutzen, Wachstumschancen zu realisieren und damit die
Arbeitslosigkeit entscheidend zu bekämpfen. Deshalb
begrüßen wir ausdrücklich die Politik des Wirtschaftsministeriums, die Anstrengungen in diesem Bereich zu
verstärken.
({1})
Daß sich in der verbesserten Förderung der kleinen
und mittleren Unternehmungen in unserem Land ein
Politikwechsel vollzogen hat, sehen wir aus meiner
Sicht gerade auch an der realen Behandlung dieses Förderprogramms durch das Wirtschaftsministerium. Während Herr Rüttgers dieses Programm geschlossen hat,
hat das Wirtschaftsministerium unter der neuen Regierung den Antragsstau aufgelöst. Ein geeignetes Nachfolgeprogramm wird schnell auf den Weg gebracht. Das
macht nicht nur angesichts der Fülle von Aufgaben und
Antragstellern Sinn, sondern auch aus inhaltlichen
Gründen, wie die bereits erwähnte Studie von Prognos
und DIW unterstrichen hat.
Bei der Neuauflage des Programms sollten allerdings
die Erfahrungen aus den alten Maßnahmen mit einbezogen werden. Man sollte Effizienzverluste vermeiden.
Auch dazu hat das Gutachten von Prognos und DIW einige interessante Hinweise gegeben, die wir in der Debatte berücksichtigen sollten.
Leider muß ich eine weitere kritische Bemerkung zur
Bewilligungspraxis und zur Förderpolitik durch den
ehemaligen Minister Rüttgers machen. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf hat auf meine Anfrage im Wirtschaftsausschuß über die Bearbeitungspraxis durch den damaligen Minister Rüttgers informiert.
Ich finde, es ist schon ein starkes Stück, was in seinem
Haus seinerzeit passiert ist.
({2})
Im Ergebnis muß man sagen, daß Herr Minister Rüttgers im Zusammenhang mit dem hier zur Debatte stehenden Programm Politik, ja vielleicht Wahlkampf auf
Kosten vieler kleiner und mittlerer Unternehmen in unserem Land betrieben hat. Wie soll man ansonsten den
Tatbestand bewerten, daß 1 200 Anträge, zum Teil seit
längerem vorliegend, nicht bearbeitet wurden, weil der
Finanzrahmen bereits weit vor der Bekanntmachung der
Schließung des Programms am 30. September ausgeschöpft war?
Anstatt das Programm um die notwendigen Mittel
aufzustocken, wie es die neue Regierung jetzt dankenswerterweise getan hat, oder anstatt die Ablehnungsbescheide möglichst schnell an die mittelständischen und
kleinen Unternehmen weiterzureichen, hat man die
Schließung auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben und damit viele Antragsteller im falschen Glauben gelassen, es gäbe noch eine Möglichkeit, in das Programm aufgenommen zu werden. Dies ist schon ein ungeheuerlicher Vorgang, denn sehr viele kleine und mittlere Unternehmen haben Mühen und Kosten aufgebracht
und Anträge eingereicht, obwohl dem Minister lange
klar war, daß es gar keine Mittel für dieses Programm
mehr gab. Kurz nach dem Wahltag verschickte er lapidar Ablehnungsbescheide an diese Unternehmungen.
Das ist ein starkes Stück, was im Bundestag einmal gesagt werden muß.
({3})
Wir Sozialdemokraten sind dem Wirtschaftsministerium dankbar, daß es schnell die Verunsicherung der
mittelständischen Unternehmungen aus dem Weg geräumt, in kürzester Frist das Programm aufgestockt und
insgesamt weitere 800 Anträge positiv bearbeitet hat.
Dies ist für mich ein deutliches Zeichen, daß die neue
Regierung in diesem wichtigen wirtschaftspolitischen
Zukunftsfeld eine freundlichere Politik gegenüber den
kleinen und mittleren Unternehmungen betreibt. Ich
glaube, daß wir mit dieser Politik ein Stück weit auf dem
Weg sind, sowohl die Arbeitslosigkeit in diesem Land
zu begrenzen als auch die ökonomischen und technologischen Potentiale in unserem Land zu fördern. Ich
glaube, die Verwirklichung dieser Ziele ist bei dieser
Regierung in den allerbesten Händen.
Vielen Dank.
({4})
Kollege Sauer, das
war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/209 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Heidi Knake-Werner, Ursula Lötzer, Eva Bulling-Schröter, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch ({1})
- Drucksache 14/139 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuß
Ich kann Ihnen mitteilen, daß folgende Kollegen ihre
Reden zu Protokoll gegeben haben: von der SPD Adi
Ostertag, von der CDU/CSU Heinz Schemken, vom
Bündnis 90/Die Grünen Annelie Buntenbach, von der
F.D.P. Dr. Heinrich Kolb und von der PDS Heidi Knake-Werner. Damit ist auch dieser Tagesordnungspunkt
erledigt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/139 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen
Ich danke für Ihr Einverständnis hinsichtlich dieses
Vorgehens. Wir haben damit ein bißchen Zeit gespart.
Vielen herzlichen Dank.
Nun rufe ich Zusatzpunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Heidi Knake-Werner, Dr. Klaus Grehn, Monika
Balt, Dr. Ruth Fuchs und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederherstellung des Interessenausgleichs zwischen
Arbeitslosen und Beitragszahlern - Interessenausgleichsgesetz ({3})
- Drucksache 14/208 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike Mascher hat zur Zeit in diesem Hause eine Besprechung. Sind Sie damit einverstanden, daß wir sie zu diesem Tagesordnungspunkt
nicht ausdrücklich hierherbitten, sondern daß wir die
Beratung in der folgenden halben Stunde trotz der Tatsache, daß die Regierungsbank nicht besetzt ist, durchführen können? - Das ist der Fall. Dann bitte ich, daß
wir so vorgehen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Klaus
Grehn von der PDS das Wort.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die ausgediente Bundesregierung
hatte mit ihrer Mehrheit im Deutschen Bundestag kontinuierlich Verschlechterungen im Arbeitsförderungsrecht
beschlossen. Zu den Hinterlassenschaften in diesem Bereich gehört das Sozialgesetzbuch III. Stück für Stück
hatte sie sich aus ihrer Verantwortung für die wachsende
Anzahl der Arbeitslosen und deren Lage verabschiedet,
einer Verantwortung, die in der früheren Gesetzgebung
wenigstens noch verbal eingestanden worden war.
Arbeitslose sind überwiegend unschuldig Betroffene
eines wirtschaftlichen Strukturwandels, von Innovationsdefiziten und von Mißmanagement bei Unternehmen. Sie sind zum Ballast der Gesellschaft verkommen
und als Schmarotzer diffamiert worden, so als hätten sie
ihren Arbeitsplatzverlust selbst herbeigeführt.
Der gesetzlich erworbene Anspruch auf finanzielle
Hilfe wurde und wird immer noch an Bevormundung,
Disziplinierung und Androhungen gebunden. Die Pflicht
zur unaufgeforderten Meldung alle drei Monate macht
Arbeitslose zu Kriminellen und spiegelt das soziale Gewissen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. wider. Ich hoffe, daß die SPD und die Bündnisgrünen ein
anderes Gewissen entwickelt haben.
({0})
Der Begriff „soziale Ausgrenzung“ als Kennzeichnung von Arbeitslosen wurde in diesem Lande so salonfähig gemacht, daß ihn karitative Organisationen als
selbstverständliche Begleiterscheinung der modernen
Gesellschaft in das Spektrum ihrer Fürsorge- und Wohlfahrtsarbeit aufnehmen mußten. Den Zustand Arbeitslosigkeit an völlig willkürliche und fiskalische Nebenbedingungen zu knüpfen, schafft beträchtliche Rechtsunsicherheit und Spielräume für Willkür.
Die akribisch und diskriminatorisch geregelte sogenannte Beschäftigungssuche wird zur Zeit immer noch
von den Arbeitsämtern beliebig als Nachweis und Voraussetzung für den Leistungsbezug eingefordert. Bürgerferne wird hier überdeutlich. Statt Hilfen anzubieten,
wird die Schwelle zum Mißbrauch eingeebnet. Die Beweislast auf die Seite der Arbeitslosen zu legen, spricht
allen Regeln des Rechtsstaates Hohn. Das wollen wir
rückgängig machen.
Für die Verfügbarkeit von Arbeitslosen sind Arbeitsfähigkeit, Arbeitsbereitschaft und Erreichbarkeit die entscheidenden Kriterien, die der Bürger versteht und als
gerecht empfindet.
({1})
Die Erreichbarkeit an Sonntagen war eine der vielen Schikanen. Kein Arbeitsamt hat sonntags geöffnet.
({2})
In den meisten Fällen wird sonntags keine Post zugestellt.
({3})
Die Erreichbarkeit an Werktagen, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der F.D.P., ist vernünftig und selbstverständlich und entspricht auch den christlichen Geboten. Im übrigen: Wie will man an Sonntagen Arbeitsplätze verteilen, die es schon an Werktagen nicht gibt?
({4})
Als eine besondere Demütigung und soziale Degradierung Arbeitsloser muß die progressiv steigende Aberkennung ihrer beruflichen Qualifikation und damit der
Raub ihres in der Lebensarbeitszeit erarbeiteten sozialen
Standards zurückgenommen werden.
({5})
Die Zumutbarkeit muß das beinhalten, was an Einschränkungen der persönlichen Wahl und Entscheidungsfreiheit dem vergleichbaren Arbeitnehmer im
normalen Arbeitsleben abverlangt wird. Das betrifft
Qualifikation, Einkommen, Pendelzeiten, Wohnungswechsel und ähnliches.
Nicht länger zuzulassen ist die Absenkung all der
Normen, die üblicherweise zu Beschäftigung führen.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß an die Arbeitsbereitschaft, Mobilität, Flexibilität und berufliche Neuorientierung eines Arbeitslosen die gleichen Anforderungen gestellt werden wie an einen beschäftigten Arbeitnehmer.
({6})
Verhindert werden muß, daß Arbeitslose per Gesetz
in versicherungsfreie oder ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse gedrängt werden.
Wenn die Fraktion der PDS jetzt Korrekturen der negativsten Auswirkungen, der wildesten Auswüchse des
Blümschen Irrweges vorschlägt, so geht sie dabei von
der tatsächlichen Lage von Millionen Arbeitslosen aus.
Sie verlangt, daß mehr als 4 Millionen Mitbürger frei
von Diskriminierung und staatlicher Zucht leben können. Statt die Arbeitsämter mit kasernenhofähnlichen
Zuständen, mit Meldepflicht, Zwangsverpflichtung und
Bestrafung zu belasten, müssen diese Arbeitsämter wieder zu Brücken und Helfern für möglichst dauerhafte
und ausreichend bezahlte Arbeit werden.
Die Arbeitslosigkeit von Millionen wird uns trotz aller guten Vorsätze der Schröder-Regierung noch lange
begleiten. Mit unserem Gesetzentwurf berücksichtigen
wir Forderungen des DGB ebenso wie die Analysen der
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Kirchen, der Wohlfahrtsverbände, des Arbeitslosenverbandes sowie die in der letzten Legislaturperiode von
der SPD und den Bündnisgrünen vorgesehenen Veränderungen.
Kommen Sie zum
Schluß, Herr Kollege.
Sofort. Ich möchte nur
noch zwei Sätze sagen.
Wir gehen also davon aus, daß unsere Vorschläge
konsensfähig sind, und appellieren an Sie, Kolleginnen
und Kollegen, besonders der Regierungskoalition, eine
zügige parlamentarische Behandlung des Gesetzentwurfs nicht zu behindern.
Kolleginnen und Kollegen, wir hoffen, daß die Interessen von mehr als 4 Millionen unglücklichen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Ihnen genauso am Herzen liegen
wie uns.
Danke schön.
({0})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Andrea Nahles, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Dr.
Grehn, Sie können sich sicherlich denken, daß ich mich
besonders gefreut habe, Sie hier heute zu sehen, weil es
mir nun doch die Möglichkeit gibt, meine erste Rede im
Parlament zu halten.
({0})
Wir reden hier heute über Arbeitslose. Das ist den
Sozialdemokraten bewußt; denn wir Sozialdemokraten
sind angetreten und auch gewählt worden, weil wir versprochen haben, Arbeitslosen zu helfen, indem wir mehr
Beschäftigung schaffen.
Gegen unseren Widerstand haben Sie, meine Damen
und Herren von der ehemaligen Regierungskoalition, mit
der Einführung des SGB III eine völlig neue Philosophie
der Arbeitsmarktpolitik durchgepaukt. Die Grundannahme Ihrer Philosophie ist nämlich die Vermutung, daß Arbeitslosigkeit vor allem eine Frage der inneren Einstellung
und des Verhaltens der Betroffenen ist.
({1})
Angesichts von 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen
haben Sie nicht Ihre gescheiterte Wirtschafts- und Sozialpolitik verantwortlich gemacht, sondern zynisch die
Arbeitslosen selbst. Nicht anders lassen sich die Leistungskürzungen, die dreimonatige Meldepflicht und
unter anderem auch die Zumutbarkeitsregelung, über die
wir heute reden, erklären.
({2})
Erlauben Sie mir, zu Beginn meiner ersten Rede in
diesem Parlament festzustellen: Die beste Politik für Arbeitslose ist immer noch eine Politik für Vollbeschäftigung.
({3})
Wenn ich von Vollbeschäftigung spreche, meine ich
nicht den Typus des voll verdienenden Familienernährers mit 39-Stunden-Woche plus Überstunden,
({4})
sondern eine moderne Form der Erwerbsarbeit, die
Phasen der Berufsausübung, Phasen der Qualifikation,
Phasen der Kindererziehung einschließt und dies durch
flexiblere und kürzere Arbeitszeiten und fließende
Übergänge in den Ruhestand möglich macht.
({5})
Diese neue Form von Erwerbsarbeitsbiographien und
eine unterhaltssichernde Erwerbsarbeit für alle - Männer
und Frauen - sind natürlich nicht allein mit den Mitteln
der Arbeitsmarktpolitik zu erreichen. Aber sie kann
einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Viel wäre nämlich
bereits gewonnen, wenn Arbeitsmarktpolitik nicht mehr
überwiegend Verwaltung von Arbeitslosigkeit wäre,
sondern wenn mehr passive Leistungen in die Aktivierung von Menschen, in ihre Qualifikation, in ihre Fähigkeiten und in ihre schnelle Vermittlung in Beschäftigung
investiert werden könnten.
({6})
Viel wäre gewonnen, wenn wir die Arbeitsämter von
manchem bürokratischen Ballast befreien würden, den
unter anderem Sie den Arbeitsämtern in Ihrer Regierungszeit zusätzlich aufgebürdet haben - rein in die
Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln usw.
({7})
Viel wäre gewonnen, wenn wir den Betroffenen, den
arbeitslosen Frauen und Männern, den Jugendlichen in
Ost- und Westdeutschland, das Gefühl gäben, daß wir
die Massenarbeitslosigkeit bekämpfen - nicht die Arbeitslosen.
({8})
Die Koalition ist für die Schaffung eines Bündnisses
für Arbeit angetreten. Es ist zustande gekommen. Ich
möchte drei Grundgedanken dieses Bündnisses für Arbeit in Erinnerung rufen.
({9})
- Ja, genau. - Erstens. Zunächst geht es um Zusammenarbeit. Statt im Gegeneinander von Regierungspolitik
und Tarifauseinandersetzungen Kräfte zu verschleißen,
wollen wir neue Kräfte und Kreativität freisetzen.
Zweitens. Es geht darum, sich die Realitäten des Arbeitsmarktes zu vergegenwärtigen. Wir brauchen also
mehr Praxisorientierung der Arbeitsmarktpolitik.
({10})
Liebe Kollegen und
Kolleginnen, eine Kollegin hält ihre erste Rede. Ich finde, ein bißchen Anstand könnten Sie schon wahren.
({0})
Danke, aber ich werde damit
schon fertig.
({0})
Drittens. Es geht um rasche Erfolge, ebenso wie um
längerfristige Reformen.
Diese Grundgedanken des Bündnisses für Arbeit beschreiben meiner Ansicht nach sehr gut die Zukunftsaufgaben der Arbeitsmarktpolitik. Wir brauchen das
Bündnis für Arbeit in der Arbeitsmarktpolitik und - umgekehrt - einen Beitrag der Arbeitsmarktpolitik zum
Bündnis für Arbeit.
Der Bundeskanzler hat gesagt, daß jede Maßnahme,
die wir treffen, an einem zentralen Kriterium geprüft
werden soll: Wird neue Beschäftigung geschaffen? Ich
kann dem - wie die meisten von Ihnen, so hoffe ich nur zustimmen. Das Problem beim vorliegenden Antrag
der PDS liegt darin, daß er diesem Kriterium in keiner
Weise gerecht wird.
({1})
Er wird nur einem einzigen Kriterium gerecht: Er erscheint populär. Sie von der PDS konzentrieren sich
darauf, einzelne Verbesserungsvorschläge zu machen,
die auch Positionen der SPD und der Gewerkschaften
abdecken. Sie picken sich also - wenn ich das einmal so
sagen darf; die Grünen mögen mir das verzeihen - die
sozialdemokratischen Rosinen heraus. Gleichzeitig
glauben Sie aber selber nicht, daß Ihre Anträge angenommen werden. Sie stellen sie, damit sie abgelehnt
werden, damit Sie dann herumturnen und erzählen können, die SPD-Bundesregierung habe ihre eigenen früheren Vorschläge abgelehnt. Soll ich Ihnen einmal etwas
sagen? Das ist nicht populär, das ist populistisch, meine
Damen und Herren von der PDS-Fraktion!
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grehn?
Ja, sicher.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, würden Sie
mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, daß der Arbeitslosenverband Deutschland etwas mit den Sachfragen, die Sie angesprochen haben, und weniger mit politischen Fragen, die Sie als Begründung für unseren Vorschlag anführen, zu tun hat?
Damit kann ich insoweit
nicht übereinstimmen, als diese inhaltlichen Punkte hier
gar nicht im Vordergrund stehen. Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Gysi, hat auf Ihrem jüngsten Parteitag selber gesagt, daß es sich hierbei um geplante Gemeinheiten handelt. Weiter hat er gesagt - ich zitiere wörtlich -:
„Hier muß uns etwas einfallen“. Dazu sage ich: Wohl
wahr; und das unter anderem deswegen, weil diese Taktik mittlerweile allen auffällt. Sie sollten unsere Vorschläge einer umfassenden Reform, die wir vortragen
werden, ernsthaft debattieren. Das haben wir geplant.
Das heißt nicht, daß die Inhalte, die auch dem Arbeitslosenverband wichtig sind, nicht zum Tragen kämen. Nur,
wir lassen uns hier nicht mit den üblichen Taschenspielertricks der parlamentarischen Arbeit vorführen.
({0})
Darf der Kollege
noch eine Zusatzfrage stellen?
Nein, ich möchte jetzt mit
meiner Rede fortfahren.
Bitte sehr.
Denn eines ist doch klar: Sie
geben hier vor, Leuten zu helfen. In Wirklichkeit - das
muß ich Ihnen einmal sagen - helfen Sie doch bestenfalls uns, weil Sie uns immer gute Gelegenheiten liefern,
unsere Politik vorzustellen. Und das will ich hier auch
tun.
Die Bundesregierung wird sich der umfassenden Reform der Arbeitsförderung widmen.
({0})
Dies ist eine mittelfristige Aufgabe. Und bevor die PDS
vielleicht wieder etwas ungeduldig wird: Wir Sozialdemokraten haben den großen Entwurf eines Arbeits- und
Strukturförderungsgesetzes, den wir bereits im Mai 1995
im Parlament eingebracht haben, nicht vergessen. - Sie
brauchen uns auch nicht daran zu erinnern, und Sie
sollten auch nicht ständig daraus abschreiben. ({1})
Er wird die Grundlage für unseren künftigen Gesetzentwurf sein.
({2})
Wir werden außerdem als Sofortinitiative ein Vorschaltgesetz zur Änderung des SGB III einbringen. Dieses Gesetz soll vier Aufgaben erfüllen: die Steigerung
der Effizienz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen; die
Beseitigung sozialpolitischer Härten der Regierung
Kohl; die Entlastung der Arbeitsverwaltung und eine
Zunahme der Regionalisierung arbeitsmarktpolitischen
Handelns.
Ich möchte als Beispiel die Verpflichtung nennen,
daß sich ein Arbeitsloser alle drei Monate melden muß.
- Darauf sind Sie auch schon eingegangen. - Ein Wegfall dieser Verpflichtung würde nicht nur eine Schikane
beseitigen. Die Verpflichtung von Arbeitslosen, ihre
persönliche Meldung im Abstand von drei Monaten zu
erneuern, hat außerdem in der Praxis zu erheblichem
Verwaltungsaufwand in den Arbeitsämtern geführt. Wir
können also, wenn wir dies entsprechend ändern, zweierlei tun: den Arbeitslosen helfen und die Verwaltungen
entlasten. Deswegen werden wir das anpacken.
({3})
Als zweites Beispiel möchte ich die Regelung zur
Zumutbarkeit anführen. Die Kohl-Regierung hat die
Zumutbarkeit der Annahme von Arbeit so weit umdefiniert, daß nunmehr nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit so gut wie jede Arbeit angenommen werden
muß. Um den temporären Qualifikationsschutz ist es
damit geschehen; es geht nur noch um eine reine Einkommensstufenregelung. Gleichzeitig redet alle Welt
vom lebenslangen Lernen. Das ist ein Widerspruch.
Deswegen werden wir uns dieses Unsinns annehmen
und ihn abschaffen. Es ist auch deswegen Unsinn, meine
Damen und Herren von der CDU/CSU, weil die Arbeitgeber bekanntermaßen Menschen mit Überqualifikation
gar nicht gern einstellen. Sie haben nämlich festgestellt,
daß sich solche Menschen von den schlechten Stellen,
die sie nur unter Druck angenommen haben, so schnell
wie möglich verabschieden. Unter dem Strich ist dabei
arbeitsmarktpolitisch nichts herausgekommen. Geben
Sie das doch einmal zu! Gute Arbeitsmarktpolitik sieht
anders aus, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, und die werden wir angehen.
({4})
Zur Regionalisierung: Wir haben die Mittel für
Strukturanpassungsmaßnahmen, die in Ostdeutschland
schon sehr gute Erfolge gezeitigt haben, im Haushalt
1999 erhöht - und zwar um 2 Milliarden DM.
({5})
Daran können Sie sehen, daß es uns darum geht, eine
Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik zu
leisten.
Ich halte das auch im Hinblick auf die Möglichkeit,
über Strukturanpassungsmaßnahmen - anders als bei
ABM - neue Beschäftigungsfelder aufzutun, für einen
zentralen Punkt. Das gilt auch für die Möglichkeit, neue
öffentliche Beschäftigungsfelder zu initiieren und eine
neue Strukturpolitik auf den Weg zu bringen. Auch kann
ich mir das gut hinsichtlich des Programms zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das wir eingeführt haben, vorstellen.
({6})
Das beste Beispiel für eine gute Arbeitsmarktpolitik
hat die Bundesregierung noch im vergangenen Jahr auf
den Weg gebracht: das 100 000-Jobs-Programm für
junge Leute. Während Sie, meine Damen und Herren
von der CSU- und der CDU-Opposition, in der Gegend
herumlaufen und verantwortungslose Unterschriftenund Hetzkampagnen zu Wahlkampfzwecken abziehen,
({7})
handelt die Bundesregierung. Wir erhöhen die Mittel für
aktive Arbeitsmarktpolitik um 4,7 Milliarden DM.
({8})
Während Sie Jugendlichen jahrelang keine Perspektive
geben konnten, schaffen wir auf einen Schlag eine Perspektive für 100 000 Jugendliche. Mit anderen Worten:
Während Sie in den letzten 16 Jahren gespalten haben
und das weiterhin tun, integrieren wir.
({9})
Ich komme zum Schluß. Die neue Bundesregierung
gibt den Menschen Zuversicht, daß Politik ihre Probleme wieder anpackt und Lösungen anbietet.
({10})
Deswegen ist die Politik dieser Bundesregierung die beste Politik für Arbeitslose.
Vielen Dank.
({11})
Frau Kollegin Nahles, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Ich erlaube mir den Hinweis, daß das Wort „Hetzkampagne“ nicht so ganz den parlamentarischen Gepflogenheiten in diesem Hause entspricht.
({1})
Das Wort hat nunmehr der Kollege Dr. Friedrich,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Frau Kollegin Nahles, man hat es Ihnen schon angemerkt, daß es Ihnen weh tut, daß wir hier im Parlament drei PDS-Anträge hintereinander diskutieren müssen, weil die Kommunisten offensichtlich gemerkt haben, daß Sie in den letzten Jahren mit Ihrer Propaganda
und Ihren Versprechungen überzogen haben. Sie werden
sich noch auf einiges gefaßt machen müssen, was die
von Ihnen in der Bevölkerung erzeugten Erwartungen
und Illusionen und all jene Dinge angeht, die nicht realisierbar sind.
({0})
Sie haben das hier ganz geschickt gemacht, liebe
Frau Nahles, indem Sie gesagt haben, alles komme
später in einer großen AFG-Reform. Das paßt auch zu
dem, was Herr Bannas heute in der „FAZ“ geschrieben
hat, als er den Führungsstil von Herrn Schröder und
seiner Regierung charakterisierte. Er stellte es nämlich
unter die Überschrift: „Adenauers ,Geschwätz von gestern’ heißt bei Schröder ,Alles hat seine Zeit’“. Verschieben Sie also alles schön auf später, und wir warten, wie lange sich die Menschen im Lande das alles
gefallen lassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Tatsache
ist, daß bei der AFG-Reform in der letzten Wahlperiode
die Vorschriften eingeführt worden sind, die die PDS
jetzt zurückgenommen haben möchte. Tatsache ist auch,
daß 1996/97 die SPD als Oppositionspartei diese Reform des AFG bis aufs Messer bekämpft hat, auch über
den Bundesrat. In der Sitzung vom 27. September 1996
hat der SPD-dominierte Bundesrat die AFG-Reform abgelehnt. In der Stellungnahme dazu heißt es:
Der Bundesrat lehnt daher sowohl die falschen arbeitsmarktpolitischen Ansätze und Weichenstellungen als auch die gewählten Einzellösungen ab.
Tatsache bleibt aber, daß nicht zuletzt durch diese
Reformen wesentliche Erfolge bei der Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit erzielt wurden und im Jahr 1998 ein
massiver Rückgang der Arbeitslosigkeit in unserem
Lande zu verzeichnen war.
({1})
Worum ging es bei der AFG-Reform? Es ging einmal
darum, den Mißbrauch aufzudecken und zu bekämpfen.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Grehn?
Ja,
Herr Grehn.
({0})
Herr Kollege Friedrich, es
wird Ihnen relativ leicht fallen, zu sagen, wie groß der
massive Abbau der Arbeitslosigkeit im Jahre 1998 gewesen ist.
Sie
können die Zahl nachlesen. Wir haben von Januar bis
November - bis dahin kenne ich die Zahlen - 390 000
neue Arbeitsplätze geschaffen. Man kann durchaus von
einem massiven Rückgang der Arbeitslosigkeit sprechen. Tatsache ist aber auch, daß im letzten Arbeitsmarktbericht die Zahlen wieder nach oben gegangen
sind, weil inzwischen in der Wirtschaft eine massive
Verunsicherung stattfindet und die Menschen nicht mehr
investieren.
({0})
Herr Kollege Grehn
möchte noch eine Frage stellen.
Das
muß aber nicht sein. Ich verzichte darauf.
Sie verzichten. Dann reden Sie bitte weiter.
Zwei
wesentliche Dinge wurden eingeführt. Erstens: Die Mitwirkungspflichten für die Arbeitsuchenden. Der Arbeitslose muß nachweisen, daß er sich aktiv um Beschäftigung bemüht. Zweitens. Auch der Begriff der zumutbaren Beschäftigung wurde erweitert.
Der SPD-geführte Bundesrat hat damals kritisiert, die
Größenordnung des Mißbrauches mache keine Verschärfung der Zumutbarkeit notwendig. Das ist - das
sage ich Ihnen auch für den Fall, daß Sie tatsächlich eine
AFG-Reform vorhaben - ein gewaltiger Irrtum. Bei der
Frage von Mißbrauch, insbesondere im Bereich der Sozialsysteme, geht es nämlich nicht um die Frage, ob wir
uns im Einzelfall ein paar hundert oder ein paar tausend
Fälle von Mißbrauch leisten können. Es geht vielmehr
um die Frage: Wie wirkt sich das auf die Arbeitsmoral
in diesem Lande aus?
({0})
Lieber Herr Kollege Grehn, Sie sind auch Präsident
der Arbeitslosen. Sie sollten auch einmal an die vielen
Millionen Menschen denken, die für ihre Arbeitslosenversicherung Beiträge bezahlen müssen. Erklären Sie
einmal einem Arbeitnehmer, der schwere Arbeit verrichten muß, warum es einzelne gibt, die gar nicht daran
denken, sich eine neue Arbeitsstelle zu suchen, sondern
von den Beitragsleistungen der arbeitenden Bevölkerung
ganz gut leben.
({1})
Erklären Sie doch einmal einem Arbeitnehmer, warum
er sieben oder acht Stunden täglich arbeiten soll und sich
ein anderer für diesen Job für überqualifiziert hält. Wo
immer wir zulassen, daß Leistungserschleichung und
-mißbrauch die Sozialkassen belasten, dort werden ArDr. Hans-Peter Friedrich ({2})
beitsmoral und Arbeitswille der anderen Menschen geschwächt.
({3})
Neben der Mißbrauchsbekämpfung hat die Reform
des AFG aber einen zweiten Aspekt, der die Veränderung des Arbeitsmarktes und des Selbstverständnisses
des modernen Arbeitnehmers betrifft. Liebe Frau Nahles, Sie haben dies angedeutet, als Sie von einer „geänderten Philosophie“ gesprochen haben. Es ist sicherlich eine Frage der Betrachtung des modernen Arbeitslebens.
1997 hat die Kommission für Zukunftsfragen der
Freistaaten Bayern und Sachsen ihren Bericht zu Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland vorgelegt. Dabei wurden Entwicklungen und Ursachen
analysiert, und Maßnahmen wurden vorgeschlagen. Allen Empfehlungen der Kommission lag eine wichtige
grundlegende Forderung zugrunde. Diese Forderung
lautet - Sie sollten sie bei der von Ihnen geplanten Reform des AFG beherzigen -: Die kollektiven Leitbilder
im Bereich der Erwerbsarbeit und der Daseinsvorsorge müssen verändert werden.
An die Stelle der industriegeprägten Erwerbsarbeitsgesellschaft tritt heute mehr und mehr die globalisierte
Wissensgesellschaft. Mit diesem Wandel muß auch ein
neues Verhältnis des Menschen zu Solidargemeinschaft,
Staat und Wirtschaft verbunden sein. An die Stelle des
Versorgungsstaates muß der Teilhabe- oder Bürgerbeteiligungsstaat treten. Nur mit einem so veränderten
Leitbild - mit einer so veränderten Philosophie, würde
Frau Nahles sagen ({4})
werden wir auch unserer jungen Generation neue Perspektiven und Motivation geben.
So bitter das klingen mag - auch Sie werden das in
den nächsten Jahren noch massiv erleben -: Die jungen
Menschen in diesem Lande glauben schon lange nicht
mehr an die Zukunft des Versorgungsstaates. Mit einer
Aufblähung der Sozialsysteme werden nicht nur die
Bürger entmündigt, sondern wir verhindern damit vor
allem auch die Entstehung eines differenzierten Arbeitsplatzangebotes.
({5})
Wenn heute jemand in diesem Land als Handwerker, als
Mittelständler oder als Privatmann in seinem Haushalt
Arbeit anbietet, dann sieht er sich einer massiven Belastung durch Sozialabgaben ausgesetzt. Das wird massenhaft umgangen durch Schwarzarbeit oder über den
Bereich der 630-DM-Jobs, was Sie mit dem, was Sie
vorlegen, wieder nicht in den Griff bekommen.
Das Leitbild der Zukunft, so die Zukunftskommission
Bayerns und Sachsens, muß darin bestehen, daß sich der
Mensch als „Unternehmer“ seiner eigenen Arbeitskraft
und Daseinsvorsorge versteht. Das heißt, daß er selbst
eigenverantwortlich entscheiden muß, sich zu qualifizieren, sich weiterzuentwickeln und für Risiken vorzusorgen.
({6})
Auf diese Weise erfolgt die Aktivierung aller kreativen
und innovativen Kräfte in einer Gesellschaft und in einer
Volkswirtschaft.
({7})
- Natürlich, Herr Gilges, muß man die Menschen dazu
auch in die Lage versetzen und darf ihnen nicht über Sozialbeiträge und Steuern das Einkommen wegnehmen.
Deswegen wollten wir in der letzten Wahlperiode eine
massive Steuerentlastung. Was Sie jetzt machen, ist genau das Gegenteil davon: Steuererhöhungen.
({8})
Wir wollen den mündigen Bürger und Arbeitnehmer. Aus dieser Philosophie, aus diesem Verständnis
heraus muß von einem Arbeitslosen verlangt werden,
daß er sich selbst darum bemüht, einen Arbeitsplatz zu
finden.
({9})
Es muß von ihm verlangt werden können, daß er Qualifizierungsangebote annimmt und daß er selbst als aktives Subjekt am Arbeitsmarkt auftritt.
({10})
- Ich weiß natürlich, daß Ihnen der Begriff „Masse der
Arbeitslosen“ viel lieber ist.
Entscheidend ist, daß in den letzten Jahren die Aktivität und die Aktionsmöglichkeit der Arbeitsämter gesteigert wurden. Durch elektronische Datenverarbeitungssysteme wie SIS oder AIS werden Arbeitgeber und
Arbeitnehmer in die Lage versetzt, wirklich am Arbeitsmarkt tätig zu sein.
Die Botschaft an die jungen Menschen in unserem
Land kann nicht sein: Wir sorgen dafür, daß du irgendwie versorgt bist. Unsere Botschaft an die jungen Menschen in unserem Land muß lauten: Egal, ob du stark
bist oder weniger stark, ob du ein Überflieger bist oder
durchschnittlich intelligent, wenn du dich anstrengst,
wenn du bereit bist, dein Bestes zu geben, dann sorgen
Staat und Gesellschaft dafür, daß du eine Entwicklungsperspektive hast und ein materiell gesichertes Leben
führen kannst. - Das ist die Idee der sozialen Marktwirtschaft, für die wir stehen.
({11})
Das muß auch für diejenigen gelten, die nicht so
„produktiv“ sind, für diejenigen, die nur einfache Tätigkeiten ausführen können, die niedriger bezahlt sind. Das
Kombilohnmodell, das wir entwickelt haben, das eine
Ergänzung niedriger Einkommen durch staatliche LeiDr. Hans-Peter Friedrich ({12})
stungen vorsieht, ist dafür zumindest ein diskussionswürdiger Ansatzpunkt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grehn?
Bitte
jetzt nicht mehr. - Der Mensch als Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft und Qualifikation - das muß
das Leitbild einer modernen Gesellschaft sein.
Lieber Herr Grehn, eine kommunistische Partei PDS,
die sich gedanklich und ideologisch in den Anfängen der
Industriegesellschaft des letzten Jahrhunderts befindet,
kann diese Sichtweise nicht nachvollziehen. Ich nehme
Ihnen das nicht übel. Sie können es selbstverständlich
nicht. Eine Partei von vorgestern kann die Probleme von
heute und morgen nicht lösen. Das ist keine Frage.
({0})
Aber für eine Regierungspartei SPD reicht es nicht,
wenn sie nur ihr Vokabular modernisiert, sich aber bei
den politischen Inhalten keinen Millimeter bewegt. Was
der neue „Wirtschafts- und Finanzminister“ Lafontaine,
der neue Superminister, in der letzten und in dieser Woche hier zur Wirtschaftspolitik gesagt hat, zeigt einen
Tiefpunkt in der Wirtschaftspolitik dieses Landes.
Die Zukunftskommission Bayerns und Sachsens rät,
„einfache, personenbezogene Dienste auszubauen“.
Rotgrün denkt nicht einmal daran, das von der Union
vorgeschlagene Kombilohnmodell zu diskutieren. Die
Zukunftskommission schlägt vor, „die Wirkung arbeitsrechtlicher Deregulierung abzuwarten“. Rotgrün nimmt
blind möglichst schnell möglichst viele Reformen zurück. Die Zukunftskommission fordert „räumliche Mobilität erhöhen“. Rotgrün stranguliert mit einer Ökosteuer die Pendler und all diejenigen, die mit ihrem Auto ihren Arbeitsplatz erreichen müssen.
({1})
Den Interessenausgleich zwischen Arbeitslosen und
Beitragszahlern führt man nicht durch Veränderung des
SGB III herbei, wie die PDS glaubt und wie offensichtlich auch Sie glauben, sondern dadurch, daß man aus
möglichst vielen Arbeitslosen möglichst viele Beitragszahler macht.
Kommen Sie allmählich zum Schluß, Herr Kollege.
Die
Regierung Kohl hat die Arbeitslosigkeit im letzten Jahr
massiv gesenkt. Arbeitslosigkeit kann man nur dadurch
erfolgreich bekämpfen, daß man den ökonomischen
Veränderungen ins Auge sieht. Noch hat die neue Bundesregierung dazu nicht den Mut. Ich sage Ihnen nur
eins: Die Ratschläge der Kommunisten führen in die falsche Richtung.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Nun erteile ich der
Kollegin Dr. Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir
fällt es schon sehr schwer, angesichts der Rede des
Kollegen Friedrich ruhig zu bleiben. Ich will es aber
trotzdem tun.
({0})
Ich halte es schon für ein starkes Stück, angesichts
von Millionen von Arbeitslosen hier den Mißbrauchsbegriff rauf und runter zu deklinieren. Nichts anderes tun
Sie.
({1})
Sie sprechen von der Arbeitsmoral der Arbeitslosen. Wir sollten hier einmal über die Moral von Politik
sprechen, nämlich über den moralischen Auftrag von
Beschäftigungspolitik, der darin besteht, für die Arbeitslosen eine aktive und flexible Beschäftigungspolitik
zu machen, damit sie wieder in Arbeit kommen. Ich sage
Ihnen: Genau diesen Auftrag haben Sie gerade zum
wiederholten Male konterkariert. Sie haben dargestellt,
daß Ihre Politik wie sie beispielsweise im SGB III zum
Ausdruck gekommen ist - eine Politik ist, die sich gegen
Arbeitslose richtet und keine Beschäftigung bringt.
({2})
Ich bin angesichts Ihres Beitrags wieder einmal froh,
deutlich machen zu können, daß mit dieser Art von Arbeitsmarktpolitik in diesem Land endlich Schluß ist.
({3})
Ich wollte mich über Ihren Beitrag nicht aufregen;
({4})
deswegen komme ich jetzt ganz sachlich zu dem vorliegenden Antrag. Der ist ganz einfach und klar. Darin heißt
es: Die alte Bundesregierung hat viele Punkte, zum Beispiel im SGB III, dahin geändert, daß sie sich gegen
Arbeitslose richten und keine beschäftigungsfördernde
Wirkung haben. - Die PDS schlägt in ihrem Antrag vor,
einzelne dieser Punkte zurückzunehmen, und greift dabei
zum Beispiel die Zumutbarkeit auf. Das geht in die richtige Richtung, das hat auch Frau Nahles gesagt.
Wir haben bei der Zumutbarkeit gesehen, wohin das
führt. Es führt dazu, daß der Berufsschutz erheblich untergraben, eigentlich ad absurdum geführt wird. Das gilt
auch für die anderen Punkte, die im Antrag der PDS
enthalten sind.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({5})
Die PDS greift aber nur einzelne Punkte auf. Es geht
im Grunde jedoch darum, hier kein Stückwerk durch
viele Einzelanträge zu betreiben. Es geht darum, ein Gesamtkonzept zu machen. Wir brauchen in der Tat - das
hat die CDU uns vorgeführt - eine vollständig neu ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik, eine Politik, die flexible
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zuläßt. Diese
müssen wir aus einem Guß machen, und das werden wir
auch tun. Darin werden auch Ihre Punkte vorkommen.
Natürlich wird die unsinnige dreimonatige Meldepflicht
vorkommen, die sich nur dadurch „ausgezeichnet“ hat,
daß die Arbeitsämter, die ohnehin überlastet sind, mit
noch mehr Arbeit zugeschüttet werden. Den Beschäftigungslosen hat sie jedoch nicht geholfen.
({6})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich wollte eigentlich an dieser Stelle gern zum Schluß
kommen, aber, Herr Kollege, bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Dückert. Frau Kollegin, stimmen Sie mir zu, daß es hilfreich sein
kann, wenn sich ein Arbeitsvermittler, der im Durchschnitt 400, 500 Kunden zu betreuen hat, dadurch, daß
er diese Kunden ab und zu zu Gesicht bekommt, tatsächlich - im wahrsten Sinne des Wortes - ein Bild von
diesen Menschen machen und im persönlichen Gespräch
klären kann, wie sich die Situation der betroffenen Arbeitssuchenden darstellt? Stimmen Sie mir zu, daß das
die Allokation am Arbeitsplatz fördert, weil man die Anforderungen des Arbeitsplatzes mit der Qualifikation der
zur Verfügung stehenden Bewerber besser in Deckung
bringen kann?
Herr Kollege, Sie wissen sicherlich genauso gut wie ich,
wie die Praxis in unseren Arbeitsämtern aussieht.
({0})
Deswegen stimme ich Ihnen an der Stelle zu: Natürlich
ist es hilfreich, wenn die Arbeitsvermittler einen sehr
intensiven Kontakt zu den zu Vermittelnden haben.
Aber sie haben ihn auch.
Gehen Sie einmal in die Arbeitsämter und schauen
Sie sich an, wie die Arbeitsvermittler versuchen, sich
umfassend mit ihrer Kundschaft, um es einmal so zu sagen, auseinanderzusetzen. Aber die unsinnige Meldepflicht, die Sie eingeführt haben,
({1})
hat in den Arbeitsämtern, die wirklich wahnsinnig viel zu
tun haben - Sie haben die Fallzahlen gerade genannt -,
letzten Endes zu der Situation geführt, daß eine gute
Betreuung der Arbeitslosen nur noch mit Überstunden
geleistet werden kann. Ich denke, so etwas ist kein produktiver Beitrag zur Beschäftigungspolitik.
({2})
Trotzdem hat der
Kollege Niebel noch eine Frage.
Nein, ich möchte jetzt gerne zum Schluß kommen, Herr
Kollege.
({0})
- Wir werden im Ausschuß noch weiter darüber diskutieren können. Dann bin ich auch für weitere Diskussionen offen, aber nicht mehr zu dieser Zeit.
Meine Damen und Herren, ich wollte Ihnen abschließend eigentlich nur sagen: Die Stoßrichtung ist richtig,
wir wollen aber kein Stückwerk, sondern eine umfassende Reform des Arbeitsförderungsgesetzes. In dem
Zusammenhang werden wir allerdings auch ein Vorschaltgesetz erlassen, um die schlimmsten bürokratischen Hürden, die unsere Vorgängerregierung aufgebaut
hat, abzubauen.
Ansonsten freuen wir uns auf eine produktive Auseinandersetzung mit Ihnen im Ausschuß. Dann können
wir uns über die Praxis der Arbeitsämter noch genauer
unterhalten.
({1})
Nun hat der Kollege
Dr. Kolb, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
({0})
Das ist wahr, Herr
Gilges. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
meinen Beitrag mit einer Geschichte beginnen, die zwar
nicht mehr ganz in die Jahreszeit paßt, aber vorher war
keine Gelegenheit, dies hier loszuwerden.
Ich habe mich auf einem handwerklichen Weihnachtsmarkt mit einem Korbflechter unterhalten, der auf
dem Markt das Handwerk des Korbflechtens demonstrierte und seine Produkte verkaufte. Er sagte mir, für
ihn blieben pro Stunde, die er arbeitet, 16 DM brutto
übrig, von denen er sich und seine Familie ernähren,
Steuern zahlen und auch Sozialversicherungsbeiträge
abführen müsse. Gleichzeitig müsse er erleben, wie Arbeitslose das Pflücken von Äpfeln oder das Spargelstechen - wir alle erinnern uns ja noch an die Diskussion ablehnen, da diese Tätigkeit für sie nicht zumutbar sei.
({0})
Diese Menschen finanziert auch dieser Korbflechter
über seine körperlich sicher nicht minder anstrengende
Arbeit. Wer einmal einen Korbflechter bei der Arbeit
beobachtet hat, weiß, wovon ich spreche.
Ich finde es, meine Damen und Herren gerade auch
von der SPD, verständlich, daß dieser Mann, der übrigens ein Vertreter der Neuen Mitte ist - deshalb sage ich
das an Ihre Adresse gerichtet -, ein reges Interesse daran
hat, daß sich Arbeitslose aktiv um Arbeit bemühen. Er
möchte, wie viele andere Berufstätige auch, daß diejenigen, deren Interesse mehr dem Kassieren von Sozialleistungen, auch von Arbeitslosengeld, und weniger der
Arbeit gilt, von diesen Leistungen ausgeschlossen werden.
({1})
Wir von der F.D.P. möchten das auch. Unterstützung für
Schwache - ja; Unterstützung für Drückeberger - nein!
({2})
Dies bedingt natürlich eine gewisse Kontrolle, die
zusammen mit anderen Maßnahmen, mit dem Arbeitsförderungs-Reformgesetz vom März 1997, im Rahmen
des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung
umgesetzt wurde. Dabei waren die einzelnen Maßnahmen nicht populär. Ich erinnere mich noch genau an die
Diskussionen, die wir innerhalb und außerhalb dieses
Hauses geführt haben. In der Konsequenz aber haben
sich diese Reformen als richtige und wirkungsvolle
Mittel erwiesen: Die Effizienz der Bundesanstalt für Arbeit wurde erhöht, Leistungsmißbrauch und illegale Beschäftigung wurden feststellbar gemacht, und schließlich
wurden auch die Beitragszahler finanziell entlastet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nahles?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß am 4. März des letzten Jahres im Ausschuß
für Arbeit und Sozialordnung keine einzige der beteiligten Parteien der Meinung war, daß beispielsweise die
dreimonatige Meldepflicht in der Konsequenz, wie sie
im SGB III steht, durchgehalten werden muß, weil sie
sich in der Praxis als Arbeitsbehinderungsinstrument für
Jobvermittler herausgestellt hatte? Auch Ihre Fraktion
hatte in dieser Ausschußsitzung gesagt, daß sie darauf
nicht bestehen will. Ist Ihnen das bekannt?
Frau Kollegin Nahles, das ist mir nicht bekannt, aber das liegt daran, daß
ich in der letzten Legislaturperiode noch nicht Mitglied
des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung gewesen
bin.
({0})
Aber Ihre Darstellung als gegeben hinnehmend, sage
ich folgendes: Ich kann mir vorstellen, daß es bei dieser
Dreimonatsregel eine gewisse Flexibilisierung gibt, in
dem Sinne, daß es im Ermessen des Arbeitsvermittlers
liegt, ob er davon Gebrauch macht oder nicht. Aber
gänzlich auf dieses Instrument zu verzichten, halte ich
für falsch. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Kollegin Babel, die damals die F.D.P. im Ausschuß vertreten
hat, sich in diesem Zusammenhang anders geäußert hat.
({1})
Letztendlich kann man - wir haben es unlängst in den
Zeitungen gelesen - die Dreimonatsmeldepflicht notfalls
sogar mit dem Flugzeug von Südafrika aus erfüllen. Genau das ist der Punkt: Nicht die Mehrheit der Arbeitslosen betreibt Mißbrauch, schon gar nicht alle. Aber es
gibt diese Fälle, und ich denke, wir müssen darauf reagieren. Deswegen müssen Arbeitsvermittler das notwendige Instrumentarium in die Hand bekommen.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Gilges?
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr
Kollege Gilges.
Herr Kolb, die Kollegin hat
eigentlich schon gesagt, was es Wichtiges dazu zu sagen
gibt. Ich will Ihnen nur sagen: Im Ausschuß gab es - ({0})
Fragen Sie!
Ja, genau. Was fragen Sie denn?
Meine Frage an Sie ist: Sind
Sie nicht der Meinung, daß es notwendig wäre, daß Sie
als aufgeklärter Liberaler sich der Position, die die Kollegin vertreten hat und einhellige Meinung des Ausschusses war, anschließen, daß der Erlaß in bezug auf
die Dreimonatsregel großer Unsinn war? Die Bundesregierung hat ihn ja geändert, so daß jetzt nur noch im
Einzelfall diese Dreimonatspflicht auferlegt wird. Lassen Sie uns doch jetzt nicht über ein Phantom diskutieren! Wir sind doch alle einer Meinung, daß das sinnvoll
ist. Machen Sie einen Schlußstrich unter diesen Punkt
und sagen Sie: Das ist in Ordnung; wir ändern das!
Herr Kollege Gilges,
wir sind da einer Meinung: Als Pflichtveranstaltung
führt diese dreimonatige Meldepflicht in vielen Fällen
zu einer unnötigen Belastung des Arbeitsvermittlers.
Aber als ein Instrument für den Arbeitsvermittler halte
ich sie auch nach Ihrer wiederholten Intervention für
sinnvoll.
({0})
Herr Kollege Gilges,
wollen Sie eine weitere Frage stellen?
Herr Kollege Gilges,
ich weiß, daß hier Kollegen sitzen, die zum Zug wollen;
ich übrigens auch. Deswegen werde ich an dieser Stelle
keine weiteren Zwischenfragen mehr zulassen.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin
überzeugt: Wer sich selbst aktiv um Arbeit bemüht darum geht es hier letztendlich -, zeigt, daß er oder sie
gewillt ist, den Zustand der Arbeitslosigkeit aus eigenem
Antrieb zu beenden und der Beitragszahlergemeinschaft
so kurz wie möglich auf der Tasche zu liegen. Wenn
eine Arbeitsaufnahme trotz aller Bemühungen nicht gelingt, hat jeder Beitragszahler Verständnis für die gesetzlich vorgesehene Leistung, nicht jedoch, wenn die
Leistungsempfänger eine ausgeprägte Anspruchshaltung
an den Tag legen. Es geht genau um diese Fälle und
darum, Arbeitsvermittler in die Lage zu versetzen, darauf zu reagieren.
({1})
Insgesamt kann ich feststellen: Die PDS drängt sich
mit diesem Antrag in die Rolle des Heizers auf dem rotgrünen Zug in die wirtschafts- und sozialpolitische Vergangenheit - Motto: Vorwärts, Genossen, es geht zurück! Die F.D.P. als eine Partei der Leistungsbereiten
und der Eigeninitiative kann diesen Antrag nur ablehnen.
Vielen Dank.
({2})
Damit schließe ich
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/208 an den Ausschuß für
Arbeit und Sozialordnung vorgeschlagen. - Damit sind
Sie einverstanden.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 23. Februar 1999, 11 Uhr ein.
Allen eine fröhliche Karnevalszeit!
Die Sitzung ist geschlossen.