Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Spätestens seitdem gestern von hier der russische
Präsident Putin gesprochen hat, muss jedem von uns bewusst sein, dass sich die Welt dramatisch verändert hat.
Das hat sich allerdings nicht bis zum Oberbuchhalter der
Bundesregierung Herrn Eichel herumgesprochen;
({0})
denn er legt einen Haushalt vor, der nicht nur von gestern,
sondern von vorgestern ist.
({1})
- Es ist eine Zumutung - Herr Wagner, Sie als Obmann
der SPD im Haushaltsausschuss sollten es sich überhaupt
nicht gefallen lassen -, dass Ihnen die Regierung eine Beratungsvorlage gibt, die zu dem Zeitpunkt, zu dem sie beraten wird, längst überholt ist. Sie ist nicht erst seit dem
11. September überholt. Der Haushaltsentwurf war bereits durch die wirtschaftliche Entwicklung, die wir im
Sommer deutlich gespürt haben, überholt.
({2})
Bei den Einnahmeansätzen geht man noch von einem
Wirtschaftswachstum von 2 Prozent in diesem Jahr und
von 2,25 Prozent im nächsten Jahr aus. Wir werden in diesem Jahr bestenfalls 1 Prozent Wachstum bekommen. Wir
müssen Angst haben, im nächsten Jahr in eine Rezession
abzugleiten. Die Arbeitslosenzahl war schon im August
um 9 000 höher als im August des Vorjahres. Der Arbeitsmarkt muss nach den Attentaten auf die freie Welt nun
auch mit weltwirtschaftlichen Verwerfungen fertig werden. Sie werden also bedeutend weniger Steuern einnehmen - das ist die Konsequenz - und Sie werden bedeutend
mehr Geld für die Arbeitslosigkeit brauchen, als veranschlagt worden ist.
Rudi Dornbusch, der renommierte amerikanische
Wirtschaftswissenschaftler, steht nicht im Ruf eines
Schwarzsehers. Gerade deshalb nehme ich seine Warnung
von vorgestern ernst:
Es deutet alles darauf hin, dass sich Amerika und der
Rest der Welt gegenseitig in eine Rezession ziehen.
Ich gehöre zu denen, die ungeheuer viel Vertrauen in
die USA haben, sowohl politisch als auch wirtschaftlich.
Das stimmt mich eigentlich zuversichtlich: Die starke
US-Wirtschaft wird nicht dauerhaft unter diesem schrecklichen Terroranschlag zu leiden haben und außer Tritt gebracht werden. Die US-Wirtschaft hat einen ungeheuer
großen Binnenmarkt. Das ist in Krisensituationen immer
ein Stück Überlebensversicherung.
Bei uns in Deutschland sieht es allerdings anders aus.
Die deutsche Industrie erwirtschaftet 34 Prozent ihrer
Umsätze im Auslandsgeschäft. Der Anteil der Exporte am
deutschen Bruttosozialprodukt beträgt 25 Prozent. Keine
andere große Industrienation verzeichnet höhere Werte.
Das heißt auch: Nirgendwo in der Welt sind die Arbeitsplätze so sehr vom Export und vom freien Welthandel abhängig wie bei uns in Deutschland.
Deswegen muss ich die Frage stellen: Herr Bundeskanzler, wo bleibt der deutsche Anstoß für eine gemeinsame europäische Politik gegen diese drohende Rezession?
({3})
Wo ist der deutsche Anstoß, um die Instrumente der G 7
rasch gegen die Krise in Einsatz zu bringen?
Die Europäische Zentralbank hat in enger Abstimmung mit der Federal Reserve, wie ich meine, richtig gehandelt. Die europäische Währung hat sich in dieser Krise
bewährt. Der Euro war nie die kränkelnde Frühgeburt, als
die Sie ihn bezeichnet haben. Aber seitdem Kohl und
Waigel nicht mehr in der Verantwortung stehen, hat es
keine entscheidenden Impulse in Europa mehr gegeben.
({4})
Der Terrorangriff in den USA galt der gesamten zivilisierten Welt. Die Terroristen wollten zugleich die weltweiten Wirtschaftsbeziehungen nachhaltig schädigen.
Bisher ist dieses teuflische Kalkül nicht aufgegangen. Wir
Deutschen als die stärkste Wirtschaftskraft in Europa
müssen dafür sorgen, dass es nicht gelingt. Die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus können die freien Gesellschaften nur dann mit Erfolg bestehen, wenn sie wirtPräsident Wolfgang Thierse
schaftlich stark bleiben. Dessen müssen wir uns in
Deutschland immer bewusst bleiben.
Wie wollen Sie für mehr Vertrauen in die wichtigste
Volkswirtschaft Europas sorgen? Glauben Sie, dass Sie
politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten mit einem
unrichtigen Haushalt, mit einem offensichtlich geschönten Zahlenwerk, begegnen können?
Ihr Amtseid, Herr Bundeskanzler, hat gelautet, dass Sie
Schaden vom deutschen Volk wenden und seinen Nutzen
mehren. Das heißt in dieser Zeit: handeln, auch wirtschaftlich, damit die Schreckensszenarien, die manche
malen, nicht eintreffen.
Herr Bundeskanzler, jetzt rächt sich eine Politik, die in
allererster Linie ein Gefälligkeitserweis an die großen
Kartelle war. Die Gewerkschaften,
({5})
die großen Banken, die großen Versicherungsgesellschaften, die großen Industriebetriebe haben am Anfang Ihrer
Politik Beifall gezollt.
({6})
Aber wer die breiten Mittelschichten unseres Volkes vernachlässigt, wer den Mittelstand benachteiligt, der kann
nicht dauerhaft Erfolg haben.
({7})
Weder das nachlassende weltweite Wachstum noch die
Attentate vom 11. September können erklären, warum
Deutschland unter Ihrer Verantwortung, Herr Bundeskanzler, bei Konjunktur und Arbeitsmarkt Schlusslicht
in Europa ist. Die neue Lage erklärt nicht, warum bei uns
der Abbau der Arbeitslosigkeit in guten Zeiten nicht vorankommt und in schlechten Zeiten die Arbeitslosigkeit
schneller steigt als anderswo. Es wird Ihnen in den kommenden Monaten nicht gelingen - ich bitte Sie jetzt
schon, entsprechende Versuche zu unterlassen -, die Fehlleistungen Ihrer Regierung unter den Teppich des Terrorismus zu kehren.
({8})
Wenn die Regierung damit anfinge, gäbe es auch auf diesem Gebiet Nachahmer - ich sage nicht Nachahmungstäter -: Viele große Firmen, die ebenfalls nicht richtig gewirtschaftet haben, nähmen dann genau dieselbe
Begründung zum Anlass, Entlassungen vorzunehmen.
Dieser elende Anschlag gibt doch keinerlei Begründung
für wirtschaftliche Fehlhandlungen in der Vergangenheit
her.
({9})
- Herr Kollege, verstehen kann man Ihre Zwischenrufe
nicht; aber im Protokoll stehen immer die unverschämtesten Zurufe.
({10})
- Sie haben wieder dazu angesetzt, nicht? Ich leite Ihnen
entsprechende Protokolle zu.
({11})
In unserem Land sind viele Probleme hausgemacht.
Die ungerechte Steuerpolitik hat die Steuerbelastung der
Bürger nicht gesenkt, der Mittelstand ist benachteiligt, die
Ökosteuer greift den Bürgern tief in die Tasche - das Geld
fehlt jetzt natürlich beim Konsum -, die Preisstabilität
wurde vernachlässigt, die überfällige Reform der gesetzlichen Krankenversicherung verschoben, richtige Ansätze
wurden rückgängig gemacht. Das alles führt dazu, dass
bei uns die Lohnzusatzkosten auf Rekordniveau steigen
werden und dass das lohnintensive deutsche Handwerk
- so hat uns Präsident Philipp gestern gesagt - allein in
diesem Jahr um 200 000 Arbeitsplätze fürchten muss.
Herr Bundeskanzler, in jeder Krise liegt auch eine
Chance. Aber die Chance wird nur dann offenkundig,
wenn man sofort und beherzt handelt. Eine ruhige Hand
ist sicherlich gut, aber wirtschaftspolitisch haben Sie eine
gelähmte Hand gehabt; das ist schlecht.
({12})
Es ist geradezu lächerlich, dass es bei einem Haushaltsvolumen von fast 500 Milliarden DM nicht möglich
ist, die dringenden Maßnahmen für mehr Sicherheit anders als durch eine Art neue Kriegssteuer zu finanzieren.
Das ist keine Erinnerung an Bismarck, sondern eine Erinnerung an Kaiser Wilhelm, der seinerzeit seine Flotte mit
einer Banderolensteuer finanzierte. Seinerzeit betrafen
die Banderolen den Sekt, heute betreffen sie die Zigaretten.
Man muss im Haushalt nachhaltig umschichten und
neue Prioritäten setzen. Wir sind auch bereit - ich habe
das schon einmal gesagt -, den unangenehmen Teil der
notwendigen Maßnahmen mitzutragen. Man weiß natürlich, dass Sparen nicht immer angenehm ist. Aber das ist
eine große Chance, vieles Liebgewordene über Bord zu
werfen und sich auf die neue Zeit einzustellen.
Herr Bundeskanzler, mit flotten Sprüchen lösen Sie
keine Probleme. Sie haben gesagt, es gebe kein Recht auf
Faulheit. An den deutschen Stammtischen haben Sie dafür
viel Beifall bekommen und es ist ja auch richtig, an die
Stammtische zu denken; das ist nichts Schlechtes.
({13})
Allerdings muss anschließend auch gehandelt werden.
Solange man durch Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
zum Teil mehr oder fast genauso viel Geld wie durch Arbeitsaufnahme haben kann, ist die Anreizwirkung nicht
allzu groß. Ich frage Sie: Was haben Sie nach diesem
Spruch, der gut ankam, gesetzgeberisch getan, um solchen Dingen den Boden zu entziehen?
({14})
Herr Bundeskanzler, wir sehen mit Sorge, dass die
neue Dimension des Terrors neue Prioritäten verlangt.
Der Schock der dramatischen Ereignisse in New York und
Washington lässt uns dringende Fragen stellen, die Sie
heute beantworten müssen; später haben Sie ja Gelegenheit dazu. Lautstarke, markige Sprüche allein, wie sie vor
allen Dingen Herr Schily gemacht hat, reichen nicht aus.
Dazu steht übrigens heute etwas Falsches in einer Zeitung. Dort heißt es, ich sei über den Inhalt seiner Äußerungen erschrocken. Ich bin überhaupt nicht über den Inhalt erschrocken - er bringt lediglich zu wenig -, ich war
nur über den Tonfall Ihrer Äußerungen der letzten Woche
erschrocken, Herr Minister Schily. Wir wissen, Beschwörungen lösen überhaupt keine Probleme. Wenn ich
Probleme lösen will, dann muss ich die Gesetze ändern,
damit das alles rechtsstaatlich korrigiert werden kann. Sie
haben auf diesem Gebiet noch viel zu wenig getan.
({15})
Ich stelle Ihnen die Fragen - Sie können sie beantworten -: Wo bleiben die Mittel für modernste Polizeiausrüstung? Wo bleiben die notwendigen Befugnisse, um
Terror und Gewalt effektiv entgegenzutreten? Haben Ihre
grünen Partner immer noch Angst vor dem Staat, den sie
inzwischen selbst regieren? Das wäre meiner Ansicht
nach der einzige Grund, vor dem Staat Angst zu haben.
({16})
Alle Polizeibehörden müssen auf die Daten des
Ausländerzentralregisters zurückgreifen können. Im
Visumverfahren muss die Sicherheit Deutschlands in den
Vordergrund gestellt werden. Daten über Personen, deren
Einreise nicht erwünscht ist, müssen in einer Warndatei
konsequent erfasst und von den Sicherheitsbehörden und
Botschaften genutzt werden können. Warum hat RotGrün unseren Gesetzentwurf zum Ausländerzentralregister - das frage ich Sie direkt - unter Ihrer Verantwortung 1999 abgelehnt?
({17})
Das ist eine Tatsache; damals waren Sie Innenminister.
Der Terrorismus kann nur unschädlich gemacht werden, wenn seine Strukturen aufgespürt werden. Aussagewilligen Aussteigern muss angeboten werden können, als
Kronzeugen straffrei zu bleiben, wenn eine solche Terrorgruppe zugeschlagen hat.
({18})
Diese so genannte Kronzeugenregelung haben Sie 1999
gegen unseren Widerstand abgeschafft. Das ist ein Faktum.
Der Einsatz verdeckter Ermittler braucht eine verlässliche Rechtsgrundlage, damit sie das Milieu erfolgreich auskundschaften können. Dazu haben wir vor der
Sommerpause einen Gesetzentwurf eingebracht. Wo
bleibt Ihre Zustimmung, Herr Bundeskanzler, die Zustimmung auch der Parlamentsmehrheit?
Diese Regierung hat bisher für das Sicherheitsbedürfnis der Menschen nur Ankündigungen und Sprüche übrig
gehabt. Ein tragisches Schicksal ließ den Kanzler tönen
- das ist ein weiteres Beispiel -, Kinderschänder müssten
für immer weggeschlossen werden. Genau zur gleichen
Zeit lag ein Antrag Bayerns zur Ausweitung der Sicherungsverwahrung im Bundesrat vor. Er wurde anschließend von Ihnen abgeschmettert. Das ist die Diskrepanz
zwischen Worten und Handeln. Damit werden Sie auf die
Dauer nicht mehr durchkommen.
({19})
Täuschen Sie sich nicht: Sie haben bereits in hohem
Maße Glaubwürdigkeit verspielt. Das Wahlergebnis in
Hamburg ist ein Menetekel.
({20})
- Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so amüsieren. Ich
bin schon der Meinung, dass wir auch in diesem Haus darüber reden müssen. 20 Prozent der Hamburger sind nicht
plötzlich rechtsradikal, wie das manche darstellen. Sie
wissen selbst, dass das absurd ist. Die Wähler in Hamburg
wollten einen Wechsel, vor allem einen Wechsel zu mehr
Sicherheit. Das war die Ursache des Wahlergebnisses in
Hamburg.
({21})
Herr Innenminister, selbst wenn Sie handeln wollten,
was ich bei Ihnen nicht anzweifle, müssen Sie sich doch
fragen, ob Sie dafür eine parlamentarische Mehrheit
haben.
({22})
Ist mit Rot-Grün alles das möglich, was für unser Land
erforderlich ist?
Wir haben Ihnen hinsichtlich der wichtigen Entscheidungen, die unsere außenpolitische Handlungsfähigkeit
anbelangen, unsere Zustimmung gegeben und angeboten.
Das hat Ihnen einen umfänglichen Klärungsprozess in
den eigenen Reihen erspart. Aber auf die Dauer kann
natürlich eine Regierung in unserem System nur regieren
und glaubwürdig sein, wenn sie selbst die Mehrheit immer wieder aufbringen kann.
Endlich will die Regierung den Vorschlag aufgreifen,
die Unterstützung internationaler Terrorgruppen in
Deutschland unter Strafe zu stellen. Was ist die Reaktion?
Sofort nennt der grüne Parteirat von NRW, des größten
grünen Landesverbandes, wenn ich es richtig sehe, dies
eine Ausweitung von Verdachtsstrafrecht, die verhindert
werden müsse. Jeder Änderung des Strafrechts wird pauschal eine Absage erteilt. Unbelehrbar lehnt die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, die so genannte Regelanfrage nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes bei
der Einbürgerung von Ausländern weiter ab. Was kann
dagegen sprechen, wenn andere Behörden die wichtigen
Informationen des Verfassungsschutzes auch regelmäßig
für sich selbst und damit für unsere innere Sicherheit
nutzen?
Herr Schlauch, Sie werden anschließend sprechen. Sagen Sie doch auch einmal etwas zu Ihrem Zitat in der
Leipziger Volkszeitung vom 24. September:
In der Frage der inneren Sicherheit lassen wir nichts
abräumen von dem Konzept der liberalen Gesellschaft.
({23})
Sie werden anschließend wieder versuchen, das Knistern
im eigenen Gebälk mit Lautstärke zu überdecken.
({24})
Aber das wird nicht reichen.
Ich meine, Herr Bundeskanzler, angesichts der ernsten
Lage ist ein solches Misstrauen, das gegen unseren demokratischen Rechtsstaat spricht, eine ernste Gefahr für
die Sicherheit der Bürger.
({25})
Herr Bundeskanzler, Sie haben vor einer Woche erklärt, mit dem Gesetzentwurf des Bundesinnenministers
hätten wir ein zeitgemäßes Zuwanderungsrecht auf den
Weg gebracht. Ich meine, dass diese Einschätzung falsch
ist. Deutschland muss Zuwanderung begrenzen und
steuern; Ihre Politik aber würde - so ist dieser Gesetzentwurf angelegt - die ungesteuerte Zuwanderung ausweiten.
({26})
- Herr Bundeskanzler, das sind die Partner, die auch bei
wichtigen Sicherheitsinformationen mit am Tisch sitzen.
({27})
Ich finde das unerträglich. Die PDS-Kommunisten sollten
doch endlich einmal die gleiche Wende mitmachen, wie
wir sie gestern hier an diesem Pult erlebt haben.
({28})
Ich lasse mich jedenfalls auch nicht durch unflätige Zwischenrufe aus dem Konzept bringen.
({29})
Richtig ist, dass in dem Schily-Entwurf Fragen der Sicherheit zu wenig berücksichtigt werden. Für uns gehört
aber zur Frage der Zuwanderungsbegrenzung und -steuerung vor allen Dingen auch dazu, Extremisten aus unserem Land fernzuhalten.
({30})
Bei allem Verständnis für die Lage von Betrieben, die
in Mangelberufen händeringend qualifizierte Mitarbeiter
suchen - für die im Schily-Entwurf vorgesehene Aufhebung des Anwerbestopps gibt es keine Rechtfertigung.
Bei bald 4 Millionen Arbeitslosen und 2 Millionen Sozialhilfeempfängern muss Zuwanderung in unsere Sozialsysteme unterbunden werden können.
({31})
Das heißt, auch die Betriebe und Unternehmen in
Deutschland müssen den inländischen Arbeitsmarkt wieder stärker ausschöpfen. Dafür müssen die gesetzlichen
Voraussetzungen geschaffen werden. Ich nenne nur das
Stichwort Kombilohn.
Schnellschüsse taugen überhaupt nichts; das zeigt die
Greencard, Herr Bundeskanzler. Die Erwartungen sind
nicht erfüllt worden. Erstens sind die Leute nicht gekommen - es waren keine 20 000 - und zweitens werden von
den 9 000, die gekommen sind, die Ersten schon wieder
flott nach Hause geschickt.
Für die Wirtschaft in Deutschland ist eine flexibler Arbeitsmarkt nach meiner Meinung wichtiger als die Ausweitung der Zuwanderung. Wir müssen ein langfristiges deutsches Interesse in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen.
({32})
Vor einer Woche haben wir in diesem Haus einvernehmlich erklärt: Deutschland steht im Kampf gegen den
Terror fest an der Seite Amerikas. Für uns gilt dies auch
heute noch.
({33})
Deswegen meine ich, Herr Bundeskanzler, dass wir mehr
für die Sicherheit ausgeben müssen. 1,5 Milliarden DM
für die Bundeswehr sind viel zu wenig. Hier muss dauerhaft mehr getan werden. Wir müssen vor allen Dingen
einen Beitrag leisten, der der Bedeutung unseres Landes
adäquat ist.
Wir insgesamt und insbesondere Ihre Koalition müssen
auch zweifelsfrei zu dem stehen, was Sie erklärt haben.
Deswegen ist es erschreckend, dass die Grünen in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen die Beteiligung
der Bundeswehr an Anti-Terror-Einsätzen, die natürlich
militärisch sind, ablehnen.
Aus dem vielstimmigen Chor grüner Ratschläge zu
Amerika will ich nur Frau Kollegin Vollmer herausgreifen, die in der Zeit sagt:
...die Amerikaner müssen sich Zeit nehmen, darüber
nachzudenken, was ihnen zugestoßen ist und warum.
({34})
Das ist schon eine - wie ich meine - sehr bedenkliche
Aussage. Vielleicht sind Sie deswegen nicht in die USA
gefahren, Herr Bundeskanzler; ich habe das bedauert.
({35})
Die Bilder, auf denen Sie dort zu sehen gewesen wären,
können durch die von dem Besuch Ihres Außenministers
nicht ersetzt werden.
({36})
Das ist so.
({37})
Vielleicht sind Sie deswegen nicht dorthin gefahren, weil
Sie damit zu tun haben, hier Ihre Reihen zusammenzuhalten.
({38})
Sie können sich ja auch gar nicht so rasch entschuldigen, wie Amerika aus Ihren eigenen Reihen beleidigt
wird.
({39})
Die Berliner Kultursenatorin Goehler äußert im Berliner
Haus der Kulturen der Welt sogar, ihr hätten die Türme
des Turbo-Kapitalismus nie so recht behagt; sie seien für
sie Phallus-Symbole gewesen. Da klingt doch klammheimliche Freude an. Ich weiß, Sie finden das lustig, Frau
Müller; deswegen lachen Sie.
({40})
Wo bleiben hier die Konsequenzen? Das sind doch Ihre
Partner. Frau Goehler ist doch in Herrn Wowereits Senat.
Warum wird diese Dame nicht sofort entlassen? Ich finde
das beschämend und entsetzlich.
({41})
Wir sind in dieser schwierigen Lage sehr froh, dass wir
wissen, dass wir in Amerika einen besonnenen Präsidenten haben, der sich als ein Führer der freien Welt darstellt
und der ein ungeheuer staatsmännisches Format beweist.
Herr Bundeskanzler, Sie können sich trotz Ihrer innenpolitischen Mängelliste darauf verlassen, dass wir das Wort
von der uneingeschränkten Solidarität ernst nehmen und
Ihre Politik in dieser Hinsicht stützen werden. Ich meine,
dass wir auch als Opposition Verantwortung tragen, die
wir auch in schwieriger Zeit wahrnehmen wollen. Es wäre
für Deutschland entwürdigend, wenn Sie jetzt wieder mit
dem Hut in der Hand Stimmen sammeln müssten, so wie
es beim ersten Mandat für Mazedonien war. Wir werden
- ich will der Beratung der Fraktion nicht vorgreifen auch in dieser NATO-Frage an Ihrer Seite stehen. Herr
Bundeskanzler, tun Sie alles, um Schaden von unserem
Land abzuwenden!
Herzlichen Dank.
({42})
Herr Kollege Tauss,
Zwischenrufe der Art widerliche Hetze gehören nicht
ins Parlament. Ich ermahne Sie, solche Zwischenrufe zu
unterlassen.
({0})
Ich erteile nun das Wort dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder.
Gerhard Schröder, Bundeskanzler ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Glos, in einem Punkt bin ich Ihnen dankbar: Ich bin Ihnen dafür dankbar, dass Sie auch
in dieser Haushaltsdebatte noch einmal deutlich gemacht
haben, dass Sie mit uns - das haben wir in diesem Hohen
Hause miteinander hinbekommen - in der Außenpolitik
an der Seite Amerikas - und dies uneingeschränkt - stehen. Das will ich hier ausdrücklich sagen; denn mir liegt
sehr daran, dass diese Gemeinsamkeit fortgesetzt werden
kann. Das gilt auch dann, wenn ich mit dem übrigen Teil
Ihrer Ausführungen nicht einverstanden bin, wie Sie sich
vorstellen können.
({2})
Ich bin damit nicht einverstanden, weil das eine Mischung
aus falschen Informationen und aus Übertreibungen gewesen ist.
Aber eines ist klar: Nach den Terroranschlägen in
den USA sind Menschen bei uns in großer Sorge. Sie sind
übrigens nicht nur in großer Sorge über das, was wir innere oder äußere Sicherheit nennen, sondern eben auch in
Sorge um die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes. Ich denke, das Wichtigste, was wir in diesem Hohen
Hause tun müssen, ist, diese Sorgen ernst zu nehmen. Ich
rede übrigens ganz bewusst von Sorge, nicht von Angst;
denn aus Sorge kann Zuversicht, kann neue Kraft entwickelt werden. Angst würde nur lähmen. Zu Angst gibt
es wirklich keinen Grund, meine Damen und Herren.
({3})
Es gibt in Deutschland deshalb keinen Grund zur
Angst, weil sowohl die politischen als auch die kulturellen und ökonomischen Eliten unseres Landes in Gemeinsamkeit deutlich gemacht haben, dass der Terrorismus
weder unsere inneren Ordnungen in der freien Welt besiegen kann noch die freie Weltwirtschaft dauerhaft wird
infrage stellen können. Wenn wir klarmachen, dass sich
die Verantwortlichen in den unterschiedlichsten Ebenen
- in der Gesellschaft, in der Wirtschaft, bei den Gewerkschaften, aber eben auch in der Politik - bei all ihrer Vielfalt jedenfalls in diesem Ziel einig sind, ist das die sinnvollste Basis für die weitere wirtschaftliche Entwicklung,
die wir schaffen können.
({4})
Wir wissen ja: Der Terrorismus hat nicht nur die Zerschlagung der politischen Ordnungen in der Welt zum
Ziel, sondern natürlich auch die der Weltwirtschaft. Der
Anschlag auf das World Trade Center in New York zeigt
das sehr deutlich: Es war genauso ein Anschlag auf die internationalen Wirtschafts- und Finanzkooperationen wie
ein Anschlag auf die Zivilisation schlechthin.
Noch etwas ist wichtig: Die Terroristen wollten damit
ein allgemeines Klima von Angst und Unsicherheit verbreiten, ein Klima, das natürlich negative Auswirkungen
auf die Weltwirtschaft haben sollte und, wenn wir es verstärken, weil wir nicht aufpassen und nicht gegenhalten,
auch haben wird. Deswegen finde ich es so wichtig, dass
zum Beispiel von allen, die auf der Internationalen Automobil-Ausstellung, auf der auch ich war, vertreten waren,
gesagt wurde: Wir brauchen jetzt ein Klima der Gemeinsamkeit, aus dem Optimismus auch und gerade für unseren so wichtigen Wirtschaftszweig entstehen kann.
Ich glaube, wir sollten von daher klar sagen, dass wir
alle zusammen verhindern werden, dass der internationale
Terrorismus in irgendeiner Form Macht über die wirtschaftliche Entwicklung in der Welt und damit auch in
Deutschland gewinnt.
({5})
Genauso wenig wie die Terroristen uns in einen Kampf der
Kulturen treiben dürfen - das wäre nämlich unsinnig -,
dürfen sie uns in ein Klima der wirtschaftlichen Verunsicherung und Angst hineintreiben; auch das ist nämlich eines ihrer Ziele.
Was wir brauchen, meine Damen und Herren - wir haben es gestern erlebt -, ist eine internationale Koalition
gegen den Terrorismus. Wir sind dabei ein ganz gutes
Stück weitergekommen; nicht zuletzt deshalb, weil - das
sage ich mit wirklich großem Respekt, auch darin stimmen wir überein - die Vereinigten Staaten auf den fürchterlichen Anschlag in einem Maße besonnen reagiert haben, das viele kritische Diskutanten, die anderes erwartet
hatten, vielleicht gelegentlich zum Nachdenken bringen
sollte.
({6})
Diese internationale Koalition gegen den Terrorismus,
die jetzt gebildet werden muss, darf sich nicht nur auf die
politischen und militärischen Aspekte beziehen. Klar ist,
dass dieser Kampf auch mit ökonomischen Mitteln geführt werden muss. Das heißt, diejenigen Staaten, die Terrorismus stützen und unterstützen, dürfen nicht auf materielle Hilfe rechnen können. Das heißt, diejenigen
Staaten, die Terrorismus stützen und unterstützen, müssen, solange sie das tun, negative Erfahrungen mit den
Möglichkeiten unserer zivilisierten Welt machen. Umgekehrt gilt dann auch: Diejenigen, die sich in eine Koalition gegen den internationalen Terrorismus einreihen,
müssen auch Anreize für sich und ihre eigene wirtschaftliche Entwicklung sehen. Hier liegt übrigens auch einer
der Gründe, warum wir bei der Verteilung jener 3 Milliarden DM, die wir für die Bekämpfung des Terrorismus im
Inneren und im Äußeren aufwenden, auch an die Bildung
von Fonds gedacht haben, durch die erreicht werden soll,
dass Abwendung vom Terrorismus belohnt und Zuwendung bestraft werden können. Das ist Teil des Konzeptes,
wie wir es uns vorstellen.
Dazu gehört natürlich - ich nehme an, der Finanzminister wird dazu noch etwas sagen - eine wirklich entschiedene Bekämpfung der Finanzierung des internationalen
Terrorismus.
({7})
Ich verstehe ja, dass sehr viele Menschen das Bankgeheimnis gleichsam für die Magna Charta der inneren Sicherheit halten, aber das ist nicht so.
({8})
Ich rede hier nicht einer undifferenzierten Lösung das
Wort. Wer aber die Geldwäsche bekämpfen und damit die
Finanzierungsquellen des internationalen Terrorismus austrocknen will - das wollen wir ausdrücklich -, der
muss einmal mit den Betroffenen darüber reden, wie man
denn an diese Finanzierungsquellen herankommt, wie
man underground banking und Ähnliches verhindert.
Die Erfüllung dieser Aufgabe wird von uns erwartet.
Wir werden sie auch sehr entschieden anpacken. Darauf
können Sie sich verlassen.
({9})
Die Terroristen werden wirtschaftlich auch deshalb
nicht gewinnen, weil die Grundlagen für Wachstum und
Wohlstand in unserem Land, in Europa und in der Welt
intakt sind. Die Produktionsanlagen und die Infrastruktur
sind intakt. Natürlich kann man das alles verbessern; wir
arbeiten auch daran. Aber wir haben überhaupt keinen
Anlass, jetzt in Pessimismus zu verfallen, weil die Basis
unserer wirtschaftlichen Stärke intakt ist und weil das
größte Kapital, über das wir verfügen, die Qualifikation,
die Leistungsbereitschaft und die Motivation der Menschen in unserem Land sind. Auch sie müssen wir optimistisch stimmen und dürfen das nicht herunterreden.
({10})
Auch die internationale Zusammenarbeit der Finanzorganisationen - Herr Glos hat in einem Punkt darauf
hingewiesen - hat funktioniert. Ich habe mich genau wie
Sie gefreut, dass die Fed und die EZB zusammengearbeitet haben und dass damit einer der wichtigsten makroökonomischen Akteure, nämlich die Europäische Zentralbank, seine Verantwortung für das Wachstum in dieser
Situation erkannt und daraus positive Schlüsse gezogen
hat. Ich kann nur raten, diesen Kurs fortzusetzen, eine
enge Abstimmung zu suchen und entsprechende Entscheidungen zu treffen.
({11})
Ich bin ganz sicher, dass auch die Art und Weise, wie
wir gemeinsam in diesem Hohen Hause auf die Anschläge
Bundeskanzler Gerhard Schröder
in den USA reagiert haben, nämlich Entschlossenheit bei
der Erfüllung unserer Beistandsverpflichtungen zu zeigen, auf Dauer positiv auf die Stimmung im Land wirken
und positive Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung
haben wird. Ich glaube, all das zeigt, dass Sorgen verständlich sind - die machen wir uns auch -, dass es aber
völlig unberechtigt ist, so zu tun, als gäbe es nicht auch
und gerade jetzt Anlass zu Optimismus und Zuversicht,
und zwar sowohl im Hinblick auf die Bereitschaft zur internationalen Zusammenarbeit als auch im Hinblick auf
die Entwicklung neuer Kräfte im Inneren.
Ich sage es noch einmal: Die wichtigsten makroökonomischen Akteure sind jetzt gefordert. Neben der Notenbank - damit haben Sie Recht - ist das der Staat, gar
keine Frage. Aber wie sieht die Aufgabe in der jetzigen Situation aus? - Die Aufgabe in der jetzigen Situation kann
doch nicht darin bestehen, den Konsolidierungskurs der
Bundesregierung aufzugeben. Ernsthaft kann man so etwas nicht fordern.
({12})
Unabhängig von der Tatsache, dass er international vereinbart ist, wäre es auch ökonomisch falsch, den Konsolidierungskurs aufzugeben. Wir hören ja die Ratschläge
der Verbände und der Länder. Den Konsolidierungskurs
aufzugeben ist falsch, auch wenn jetzt die Forderung gestellt wird: Dann zieht doch die Steuererhöhungen
({13})
- Entschuldigung -, die nächste Stufe der Steuerreform
vor. Ich komme gleich auf die Steuererhöhungen zu sprechen. Damit habe ich gar kein Problem.
({14})
- Nein, weil wir das erklären können. Wir haben gute
Gründe für die Steuererhöhungen. Die werde ich Ihnen
auch gleich darlegen.
({15})
Wenn wir der Forderung der Verbände und der Länder,
die nächste Stufe der Steuerreform vorzuziehen, nachkommen würden, dann müssten wir 14 Milliarden DM gegenfinanzieren. Mir hat noch niemand, auch Sie nicht, erklärt, wie das durch Umschichtungen möglich sein soll,
obwohl dieser Begriff immer wieder verwendet wird. Ich
sage: Das geht auch gar nicht. Das ist doch klar.
({16})
Das Vorziehen der nächsten Stufe der Einkommensteuerreform - das würde auch die Körperschaftsteuer betreffen - hieße, das dann entstehende Defizit von 14 Milliarden DM entweder durch höhere Steuern oder durch
Schuldenmachen zu finanzieren.
Eines will ich Ihnen sagen: Was meinen Sie wohl, was
uns die Länderregierungen - da kenne ich mich aus -, die
jetzt fordern: Zieht das doch vor, wir bekommen das
schon hin, entgegnen würden, wenn wir es täten?
({17})
Die Länderregierungen würden uns ganz kühl sagen: Ja,
wir haben natürlich immer gefordert, dass ihr das vorzieht; aber bezahlen soll es der Bund allein,
({18})
auch wenn das nicht der verfassungsrechtlich garantierten
Aufteilung der Steuern entspricht. Da können Sie ganz sicher sein. Der erste Ruf kommt übrigens ganz sicher aus
Bayern.
({19})
Was Sie fordern, geht aus vielerlei Gründen nicht. Wir
wollen und müssen den Konsolidierungskurs fortsetzen.
Er ist die Basis für eine vernünftige Zinspolitik der Europäischen Zentralbank. Das muss man genauso klar sehen.
Der von Ihnen vorgeschlagene Weg fällt also aus.
({20})
Der Konsolidierungskurs wird also fortgesetzt. Das bedeutet zugleich, dass die Planbarkeit der Steuerreform, so
wie sie Hans Eichel ins Gesetzblatt gebracht hat, gesichert
bleibt.
Das Zweite, was von uns gefordert wird - manchmal,
zunehmend leiser -, sind bestimmte Konjunkturprogramme.
({21})
Auch die muss man bezahlen: entweder durch eine Erhöhung der Nettoneuverschuldung - das wollen wir gemeinsam nicht ({22})
- sage ich ja: wollen wir gemeinsam nicht - oder durch
andere Maßnahmen. Solche Strohfeuerprogramme machen keinen Sinn.
({23})
- Lauthals! Ein stellvertretender Fraktionsvorsitzender
aus Ihren Reihen - ich glaube, er heißt Rauen - forderte
alle naselang:
({24})
Nehmt das doch nicht so genau mit der Verschuldung!
Macht doch lieber ein Programm X oder ein Programm Y. Das hören wir doch ständig; wir tun das aber nicht.
({25})
- Sie können richtig stellen, dass Sie das nicht wollen.
Dann sind wir einig. Darüber wäre ich froh.
Alle Forderungen nach einer Aufgabe des Konsolidierungskurses werden also von der Opposition nicht
weiter erhoben. Das soll mir gerade recht sein. Das wäre
ein Stück Gemeinsamkeit in der Wirtschaftspolitik, das
Bundeskanzler Gerhard Schröder
dann aber - wenn ich bitten darf - beibehalten werden
muss.
({26})
Wenn Sie sich unsere Vorstellungen von der Steuerreform genau anschauen, dann erkennen Sie ein sehr ausgewogenes Verhältnis zwischen Angebots- und Nachfrageseite,
({27})
also zwischen der Unternehmensseite - die Unternehmensteuern sind reduziert worden - und der Nachfrageseite, die dadurch profitiert, dass die Masseneinkommen
steigen, wodurch die Binnenkonjunktur angekurbelt werden soll.
({28})
Dies im Zusammenhang mit der Tatsache, dass wir,
nach allem, was wir wissen, im September eine Inflationsrate von noch 2,1 Prozent haben werden, zeigt, dass
wir die ernsthafte Chance haben, auch auf dem Binnenmarkt eine Verbesserung zu erzielen. Ich weiß sehr wohl,
dass unser Vorgehen kurzfristig Schwierigkeiten bereitet;
aber es geht mir um die mittel- und langfristigen Wirkungen, die in unserer Steuerreformpolitik angelegt sind.
({29})
Jetzt komme ich zu einem Punkt, über den es zu Recht
Streit gibt. Wir haben gesagt: Wir legen ein Programm
nach innen wie nach außen zur besseren Bekämpfung des
internationalen Terrorismus in einer Größenordnung von
3 Milliarden DM auf. Dieses Programm muss natürlich
finanziert werden. Ich nehme an, dass der Oppositionsführer gleich die konkrete Finanzierung kritisieren wird.
Das ist gar keine Frage.
({30})
Wir finanzieren dieses Programm durch die Erhöhung der
Tabaksteuer und durch die Erhöhung der Versicherungsteuer - beides außerordentlich maßvoll. Beide Schritte
sind Erhöhungen von, wenn man so will, Verbrauchsteuern, was keine direkten Auswirkungen auf Produktion und
- vermutlich - Verbrauch haben wird. Aber darüber wird
noch zu streiten sein.
({31})
- Ich kann Ihnen das nicht sagen. Nach Hans Eichels
Rechnungen sind es 3 Milliarden DM. Herr Repnik, wenn
Sie Recht haben, dann werden wir - das ist doch klar eine Debatte über die sinnvolle Verwendung der zusätzlichen Einnahmen führen.
({32})
Es wird sich dann die Frage stellen, ob man die zusätzlichen Einnahmen für bestimmte Aufgaben verwendet oder
ob man sie zum Abbau der Verschuldung einsetzt. Bisher
gehe ich aber davon aus, dass Hans Eichel richtig gerechnet hat. Herr Glos hat ihn eben Oberbuchhalter der Nation genannt. Sie müssen zugeben: Die Oberbuchhalter
rechnen wenigstens richtig.
({33})
Wir werden das also auf diese Weise finanzieren. Das
ist kritisiert worden. Ich glaube aber, dass hier keiner sagt,
man hätte es besser über die Erhöhung der Neuverschuldung finanzieren sollen. Das kann man nicht machen. Es gehört sich nicht, eine aktuelle Aufgabe, die wir
jetzt leisten müssen, durch Verschiebung der Lasten auf
unsere Kinder und deren Kinder zu finanzieren.
({34})
Bezüglich der Umschichtung erwarte ich Vorschläge.
Wir haben so gehandelt, wie sich das gehört, wenn man
redlich miteinander - auch mit der Öffentlichkeit - umgehen will. Wir haben klargemacht: Für diese zusätzlichen Aufgaben gibt es in einem Haushalt, der sparsamst
angelegt ist - auch das wird von Ihnen gelegentlich kritisiert -, keine andere Finanzierungsmöglichkeit als die, die
wir jetzt ergreifen. Wir haben das den Menschen in
Deutschland gesagt und wir stehen dazu. Weil es eine
überragende aktuelle Aufgabe ist, erfolgt die Finanzierung auf diese Weise. Das kann jeder vor dem Hintergrund seiner eigenen Überzeugungen bewerten. Wir glauben, dass es eine notwendige Aufgabe ist, die damit
angepackt werden kann und die nicht über eine Verschuldung, sondern auf redliche Art finanziert werden sollte.
Ich kann daran nichts Negatives erkennen.
({35})
Ich will noch einen Aspekt, der auch diskutiert werden
wird, besonders hervorheben: Wie geht es im nächsten
Jahr weiter? Das beziehe ich jetzt auf diejenigen, die
ebenfalls makroökonomische Daten setzen. Über kurz
oder lang wird es eine Diskussion über die Frage geben,
wie sich Löhne und Gehälter in den nächsten Tarifrunden entwickeln.
Die Gewerkschaften auf der einen Seite und die Arbeitgeber auf der anderen Seite sind Institutionen, die wichtige
makroökonomische Daten setzen. Um allen Diskussionen
zuvorzukommen, will ich sagen: Wer sich einmal anschaut,
wie es im Jahre 2000 ablief, als wir im Vorfeld wilde Spekulationen darüber hatten, wie sich die beiden Seiten verhalten würden, und als wir im Nachgang alle miteinander
anerkennen mussten, dass sie sich gesamtwirtschaftlich
außerordentlich vernünftig verhalten haben, der kann doch
aus all dem Positiven, das wir mit der Tarifautonomie in der
Vergangenheit erlebt haben, nur den Schluss ziehen, dass
jene gesamtwirtschaftliche Vernunft, die natürlich gerade
in der Krise nötig ist - Sie haben die außenwirtschaftlichen
Risiken zu Recht genannt -, auch die Optionen und die
Handlungen der Tarifparteien im nächsten Jahr beeinflussen wird. Ich jedenfalls vertraue den Tarifparteien.
({36})
Ich hatte bisher keinen Grund zur Enttäuschung.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Zusammengefasst: Wir haben eine gefährliche Situation - das kann niemand ernsthaft bestreiten -, die uns
Sorge macht, die uns aber nicht in Angst versetzen sollte uns hier sowieso nicht, aber auch nicht die anderen Akteure in der Volkswirtschaft: die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer sowie die Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir können die Sorgen verstehen; Angst ist aber
überflüssig. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Datenkranz unserer Volkswirtschaft so positiv ist, dass wir nach
kurzfristiger Eintrübung sicher damit rechnen können, im
nächsten Jahr ordentliche Wachstumsraten zu erzielen.
Alle Zeichen - ungeachtet der Eintrübung, die wir gegenwärtig feststellen - deuten darauf hin.
Unsere Aufgabe, der wir uns stellen sollten, ist schlicht
und einfach, die positiven Aspekte dieser Entwicklung zu
unterstützen. Wir sollten klar machen - ganz im Sinne
dessen, was Sie gesagt haben -, dass in jeder Krise auch
eine Chance liegt. Diese Chance sollten wir ergreifen, indem wir - wir wollen nicht die Entwicklung schönreden;
das wäre genauso verkehrt - nicht ein Gefühl von Sorge
und Angst verstärken, das subjektiv verständlich ist, für
das es aber in diesem Ausmaß objektiv keinen Grund gibt.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir durch internationale Zusammenarbeit auf politischem und auf ökonomischem Gebiet dieser Krise Herr werden. Ich bin auch davon
überzeugt, dass die internationale Staatengemeinschaft und
die zivilisierte Welt nach dieser Krise enger zusammengewachsen sind und enger zusammenarbeiten als in der Zeit
davor. Dazu einen Beitrag zu leisten sehe ich als Deutschlands Aufgabe und als Aufgabe des gesamten Hauses an.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({37})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben hier in der letzten Woche eine Regierungserklärung abgegeben und auch heute in dieser Debatte das Wort ergriffen. Ich habe Ihnen in der letzten
Woche geantwortet, dass es aus unserer Sicht eine würdige Regierungserklärung gewesen ist. Dass Sie allerdings morgens im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung abgegeben haben und die Abgeordneten
später auf dem Nachhauseweg aus den Nachrichten erfahren haben, dass Sie anschließend, also am Nachmittag,
im Kabinett beschlossen haben, die Steuern zu erhöhen,
das war absolut unwürdig, Herr Bundeskanzler.
({0})
Ich muss den Abgeordneten der Sozialdemokraten sagen:
Das hat nichts mehr mit Parteien zu tun. Das ist eine Frage
des Respekts gegenüber dem Deutschen Bundestag. Hat
Herr Müntefering Sie so eingeschüchtert, dass Sie so etwas durchgehen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen?
({1})
Sie können sich in der Außen- und Sicherheitspolitik
auf die Opposition verlassen. Das wissen auch Sie; denn
wir haben es Ihnen in der letzten Woche verschiedentlich
gesagt. Die Opposition weiß, dass sie hier Verantwortung
wahrzunehmen hat. Wir werden zuverlässig und staatspolitisch verantwortungsvoll handeln.
Herr Bundeskanzler, Ihr Problem in der Außen- und Sicherheitspolitik ist doch nicht die Opposition. Ihr Problem
ist in Wahrheit Ihr grüner Koalitionspartner, Ihre eigene
Regierung.
({2})
Sie haben im Sommer dieses Jahres in der Mazedonienfrage keine eigene Mehrheit gehabt. Deswegen haben Sie
in Brüssel über dieses Mandat ungewöhnlich schlecht
verhandeln können. In der Abstimmung im Deutschen
Bundestag hatten Sie keine eigene Mehrheit. Die Koalition brachte in der Frage der Mandatierung der deutschen
Soldaten in Mazedonien nicht einmal eine eigene Mehrheit zustande. Sie waren auf die Unterstützung aus den
Reihen der Oppositionsfraktion angewiesen. Das ist weniger innenpolitisch ein Problem. Das ist vielmehr außenpolitisch ein Problem, weil Sie als unser Vertreter im Ausland dann auch nicht so frei und so souverän verhandeln
können, wie Sie verhandeln müssten, wenn es um entsprechende außenpolitische Aufträge geht.
({3})
Jetzt erleben wir wieder genau dasselbe. Herr Bundeskanzler, Sie sprechen von der uneingeschränkten Solidarität zum Bündnis. Der Bundesverteidigungsminister erklärte heute völlig zu Recht, dass er damit rechne, dass
dieser Bündnisfall jetzt auch tatsächlich festgestellt wird.
Das ist alles richtig. Nur, Sie richten Ihre diesbezüglichen
Ausführungen in Richtung Opposition. Eigentlich müssten Sie jedes Mal, wenn Sie solche Ausführungen
machen, Ihren Blick von der Opposition weg hin zu Ihren
eigenen Leute richten. Die sind nämlich das große Problem!
({4})
- Sie rufen dazwischen: Uns kennt er ja. - Das ist ja das
Problem: Weil er euch kennt, hat er diese Schwierigkeiten.
({5})
Das große Problem, das wir in der Außenpolitik haben,
ist, dass ein Landesverband der Grünen nach dem anderen im wahrsten Sinne des Wortes von der Fahne geht.
({6})
Eines geht nicht: dass Sie vor lauter Überzeugungsarbeit in der eigenen Koalition Ihre Hausaufgaben nicht
mehr machen. Ich sage Ihnen: Deutschland hat eine Regierung verdient, die eine vernünftige Außenpolitik und
Bundeskanzler Gerhard Schröder
eine vernünftige Innenpolitik macht. Davon kann in keiner Weise die Rede sein.
({7})
Die Ausstattung der Bundeswehr ist immer noch kärglich. Dann haben wir jetzt erlebt, wie Sie einen neuen Finanzierungsvorschlag gemacht haben; auf den Umgang
mit und auf das Verfahren gegenüber dem Parlament habe
ich bereits Bezug genommen. Dabei geht es um 3 Milliarden DM bei einem Haushalt von fast 500 Milliarden DM. Der Finanzminister und der deutsche Bundeskanzler sagen, nicht einmal 3 Milliarden DM könnten sie
in einem Haushalt von fast 500 Milliarden DM durch Umschichtungen erwirtschaften. Das ist eine Bankrotterklärung der Finanzpolitik dieser Bundesregierung.
({8})
Es ist in Wahrheit ökonomisch nicht überzeugend, was
Sie gemacht haben. Finanzpolitisch ist es doch auch nicht
überzeugend. Sie erzählen, Sie müssten jetzt die Tabaksteuer und die Versicherungsteuer erhöhen, damit ein Paket für innere Sicherheit beschlossen werden könne. Das
ist übrigens ein Popanz und ein Vorwand. Gesetzesänderungen kosten kein Geld. Wenn Sie das Vereinsprivileg
für extremistische religiöse Organisationen aufheben,
kostet das den Steuerzahler keinen Pfennig. In Wahrheit
haben Sie einen Vorwand für Steuererhöhungen gesucht.
Ich sage Ihnen: Das war der Beginn einer Steuererhöhungsspirale, aber das Gegenteil wäre in Deutschland
nötig.
({9})
Das ist doch eine völlig konzeptionslose Finanzpolitik.
Die Rente bezahlen wir angeblich an der Tankstelle, über
die Ökosteuer. Die innere Sicherheit sollen wir jetzt durch
das Rauchen bezahlen. Rauchen für die Sicherheit,
({10})
Rasen für die Rente - das ist keine Finanzpolitik, das ist
gaga. Das hat keine Konzeption, das ist doch nicht überzeugend!
({11})
Als ob irgendeine dieser Steuereinnahmen an irgendeiner
Stelle zweckgebunden wäre! Auch wenn Sie in der
Außenpolitik die Rückendeckung der Opposition haben:
In der Innenpolitik werden wir Ihnen diese Auseinandersetzung nicht ersparen, weil das Nachdenken darüber in
diesem Hause nicht aufgehört hat.
({12})
Was ist denn von all Ihren Äußerungen übrig geblieben, Herr Innenminister? Am Vormittag haben Sie, geradezu zur Begeisterung der Opposition und zum Erschaudern Ihres grünen Koalitionspartners, eine Rede gehalten,
die bemerkenswert war. Übrigens, Herr Glos, auch die Intonierung war in meinen Augen völlig unproblematisch.
Wenn man in einer solchen Situation wie eine Maschine
redet, hat man eher Probleme. Sie haben hier gesagt, was
Sie alles machen wollen, alles machen werden, was passieren müsste, und haben von Fingerabdrücken gesprochen. Nichts von dem haben Sie am Nachmittag beschlossen. Warum haben Sie es nicht beschlossen? - Weil
Sie für das ganze Paket der inneren Sicherheit in Wahrheit
keine Einigkeit mit Ihrem grünen Koalitionspartner hinbekommen. Das hat Deutschland nicht verdient!
({13})
Es ist doch jedes Mal dasselbe: Bei der Zuwanderung
möchten Sie und wir wollen auch. Dann machen Sie doch
endlich! Sie machen nicht, weil die Grünen nicht wollen.
({14})
Bei der inneren Sicherheit möchten Sie und wir wollen
auch. Sie machen nicht, weil die Grünen nicht wollen. Bei
der Außenpolitik möchten Sie und wir wollen endlich
auch. Machen Sie! Sie machen nicht, weil die Grünen Ihnen jedes Mal Knüppel zwischen die Beine werfen.
({15})
Genau das ist die Lage.
({16})
- Dass Ihnen das nicht gefällt, ist mir völlig klar.
({17})
Aber das werden Sie noch häufiger hören.
Weil Sie den Zwischenruf Hamburg, innere Sicherheit gemacht haben:
({18})
Sie werden den Freien Demokraten kaum vorwerfen können, dass sie bei der inneren Sicherheit in Koalitionsverhandlungen das vorsehen, was Herr Schily hier vorgelegt
hat.
({19})
Das mag Ihnen vielleicht unangenehm sein.
Und noch etwas: Wer in Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt mit der PDS regiert, der
erzählt mir in Koalitionsfragen ganz gewiss nicht, was die
moralischen Maßstäbe in Deutschland sind. Das vergessen Sie einmal ganz schnell!
({20})
Dann lese ich eine Agenturmeldung über Herrn
Müntefering. Herr Müntefering sagt, die CDU höre, wenn
sie jetzt in Hamburg verhandle, auf, eine große liberale
Volkspartei zu sein, und die FDP höre damit auf, eine
liberale Partei zu sein.
({21})
Der Mann, der Abgeordnete seiner eigenen Partei so unter Druck setzt, dass er eine Strafanzeige aus diesen Reihen bekommt, erzählt mir doch nicht, was liberal in
Deutschland ist! Das haken Sie einmal ab!
({22})
Es fehlt Ihnen in dieser Regierung in der Innen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik an Gestaltungskraft. Das ist das
große Problem. Da Sie die ganze Zeit das Wort Makroökonomie so bemüht haben - ich war tief beeindruckt,
Herr Bundeskanzler -, möchte ich das noch einmal auf
den Punkt bringen.
({23})
Herr Bundeskanzler, wenn Sie über die Makroökonomie
sprechen, dann müssten Sie feststellen, dass sich die
japanische Wirtschaft in Wahrheit schon längst in einer
Rezession befindet. Sie müssten ferner feststellen, dass
sich die amerikanische Wirtschaft in der Gefahr befindet,
in eine Rezession zu kommen. Schließlich müssten Sie
feststellen, dass Deutschland die Wirtschaftslokomotive
in Europa und Europa die Wirtschaftslokomotive in der
Welt werden müsste. Das erreichen Sie nicht, indem Sie
die Konjunktur durch Steuererhöhungen abwürgen.
Durch Steuersenkungen könnten Sie dies erreichen.
Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen uns
als Opposition und Ihnen als Regierung.
({24})
Die Regierung sagt: Deutschland kann sich Steuersenkungen nicht leisten. Die Opposition sagt: Wir können es
uns nicht leisten, auf Steuersenkungen zu verzichten. Nur
durch Steuersenkungen springt die Konjunktur an und es
könnten endlich neue Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen werden. Es kann nämlich nur derjenige Steuern
zahlen, der Arbeit hat.
({25})
Zur Erreichung dieses Ziels müssten wir die Steuersenkungsakzente durchsetzen; zumindest müsste die
nächste Stufe der Ökosteuer ausgesetzt werden. Sie hätten
auf die Steuererhöhungen verzichten müssen.
({26})
Sie reden - das ist der pawlowsche Reflex des Finanzministers - von einem Finanzbedarf in Höhe von 3 Milliarden DM und erhöhen die Steuern. Die Auseinandersetzungen im Golf haben etwa 17 Milliarden DM gekostet.
Um wie viele Punkte wollen Sie die Mehrwertsteuer eigentlich erhöhen, wenn wir in die Situation kommen? Sie
werden die Steuern immer weiter erhöhen. Das ist Gift für
die Wirtschaft. Sie vergessen immer, dass die Versicherungsteuer Gift für den Mittelstand ist. Herr Bundeskanzler, Sie orientieren sich immer noch an Holzmann und
nicht am Mittelstand. Das ist ein Problem.
({27})
Hier muss Klartext geredet werden.
({28})
Sie müssen in der Lage sein, neben einer Steuersenkungspolitik ein Sofortprogramm für mehr Wirtschaftswachstum und Beschäftigung aufzulegen. Das
fordern wir von Ihnen. Das hat mit Konjunkturprogrammen überhaupt nichts zu tun. Diesen Unterschied wollen
Sie ja bewusst verwischen, Herr Wirtschaftsminister.
({29})
Es geht darum, dass in Deutschland die Strukturen verändert werden müssen.
({30})
Dazu zählen die Steuerstruktur, die Frage der Steuervereinfachung und die Entbürokratisierung. Allein der Mittelstand leidet unter Bürokratiekosten in Höhe von
60 Milliarden DM jährlich. Dazu zählt auch, dass Sie das
Arbeits- und Tarifrecht endlich flexibilisieren. Auch das
muss ausgesprochen werden.
({31})
Es mag sein, dass Ihnen das nicht gefällt,
({32})
weil 85 Prozent der SPD-Abgeordneten Mitglied in einer
Gewerkschaft sind. Das ist akzeptabel und nachvollziehbar.
({33})
Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte in
der Zeit auf die Frage, ob der Flächentarifvertrag am
Ende sei: Leider nein. Es wäre zum Abbau der hohen Arbeitslosigkeit aber wünschenswert, dass der flächendeckende Lohntarif an sein Ende gebracht würde. Das
sagt nicht die Opposition, das sagt Helmut Schmidt. Vor
dem werden Sie hoffentlich Respekt haben, meine sehr
geehrten Damen und Herren.
({34})
Herr Bundeskanzler, gerade Volkswagen hat ja gezeigt,
dass wir in den Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmern
und Unternehmensführungen zu mehr Betriebsnähe kommen müssen. Das ist notwendig. Wir wissen, dass es
natürlich auch dazu kommen wird. Es ist nur eine Frage
der Zeit.
Die Bundesregierung antwortet auf die Frage nach der
Lage der Konjunktur in Europa - das müssen wir Ihnen
vorhalten - mit seltsam gewundenen Erklärungen. Tatsache ist, dass es auch früher Zeiten schlechten WirtschaftsDr. Guido Westerwelle
wachstums gab. Da waren wir aber wenigstens, relativ gesehen, an der Spitze in Europa. Der Unterschied jetzt ist,
dass wir beim Wirtschaftswachstum seit zwei, drei Jahren
im Vergleich aller Euroländer das Schlusslicht bilden. Das
hat nichts mit globaler Weltwirtschaft zu tun.
({35})
Das hat etwas damit zu tun, dass wir offensichtlich durch
nationale Wirtschaftspolitik mit den Veränderungen der
Weltwirtschaft schlechter zurechtkommen als alle anderen Euroländer.
({36})
Das muss von Ihnen aufgegriffen werden. Sie können
nicht mit ruhiger Hand regieren. Hier ist eine handelnde,
eine zupackende Hand gefragt. Die Strukturen müssen
verändert werden. Das ist dann auch die Stunde, in der die
Opposition das bei Ihnen einklagen darf. Darauf kommt
es jetzt an.
Sie sprechen in einem Interview - ich habe es dabei davon, dass es kein Wunder sei, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland schlechter sei als in den anderen europäischen Ländern, wir seien ja schließlich auch
- anders als andere europäische Länder - eine gesättigte
Volkswirtschaft.
({37})
Das ist wirklich bemerkenswert. Sie sind den ganzen
Sommer über durch Ostdeutschland gereist. Sie sind in
Regionen mit einer Arbeitslosenquote von 20, 30 und
mehr Prozent gewesen und sprechen von einer gesättigten
Volkswirtschaft zur Entschuldigung Ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik. Herr Bundeskanzler, das geht daneben und
es wird Ihnen nicht gelingen, uns von Ihrer Politik zu
überzeugen.
({38})
Nein, Herr Bundeskanzler, Sie können sich in der
Außen- und Sicherheitspolitik, Sie können sich in der
Friedenspolitik darauf verlassen, dass die Opposition
weiß, was Staatsräson ist. Das müssen Sie eher Ihrem grünen Koalitionspartner erklären.
({39})
Aber Sie müssen davon ausgehen, dass wir, wenn Sie bezüglich der inneren Sicherheit nur Maßnahmen ankündigen, aber nicht handeln, dies auch erwähnen,
({40})
dass wir auch erwähnen, dass Sie in der Wirtschaftspolitik den falschen Weg gehen. Dass Sie in der Bildungspolitik nicht zu Potte kommen und in Wahrheit die Zukunftschancen der jungen Generation immer schlechter werden
lassen, werden wir auch erwähnen. Das Nachdenken ist
jetzt nicht beendet. Ganz im Gegenteil: Wir wissen, dass
wir in der Außen- und Sicherheitspolitik Verantwortung
wahrnehmen. In der Innenpolitik werden Sie die scharfen
Worte der Opposition nicht vermissen. Das versprechen
wir Ihnen.
({41})
Ich erteile dem Kollegen Rezzo Schlauch vom Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, letzte Woche haben Sie hier den Staatsmann
dargestellt. Heute hat es offensichtlich zu nicht mehr gereicht als zu dem kleinkarierten Redner, der die nationalen Dimensionen aus dem Papierkorb recycelt.
({0})
Zwischen diesen beiden Rollen liegt eine erhebliche Diskrepanz.
({1})
Ich glaube, dass wir nicht so weiterdiskutieren können
wie vor dem 11. September.
({2})
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle ein Zitat des Schriftstellers Durs Grünbein vortragen. Er hat geschrieben, dass
die Druckwelle nach den Terroranschlägen so stark
war,
dass sie jeden einzelnen Körper in Europa getroffen
hat. Zum ersten Mal hat ein Drehbuch die wichtigen
Schauplätze der Welt kurzgeschlossen. Es ist der
Moment der Sichtbarwerdung einer globalen Regie.
Diese globale Regie der Terroristen hat zur Überraschung vieler und sicher zur größten Überraschung der
Terroristen selbst durch die Bildung einer bisher nie da
gewesenen weltweiten Antiterrorkoalition zu einer globalen Antwort geführt. Das ist ein Riesenschritt nach vorne,
hin zu einer zivileren Welt. In diese Richtung sollten wir
in der Staatengemeinschaft weitergehen.
Herr Westerwelle, da haben Ihre Ideen vom Rückzug
des Staates aus der Gesellschaft und auch aus der Ökonomie, da haben Ihre Ideen vom minimal state heutzutage
überhaupt keine Konjunktur. Das sollten Sie mit auf den
Weg nehmen.
({3})
Wir versuchen uns heute beim Haushalt 2002 darüber
zu verständigen, welche Veränderungen dies sind, und vor
allem, in welche Richtung und von welchen Grundsätzen
her wir diese Veränderungen politisch begleiten wollen.
Damit können wir heute nur beginnen, wir müssen aber
beginnen.
Veränderung bedeutet auch, sich selbst und sein Handeln im Lichte dieser Veränderung kritisch zu überprüfen
und neu zu überdenken. Ein zentraler Fokus unserer Politik muss dabei das berechtigte Interesse der Bevölkerung
sein, in einem Land zu leben, das die Sicherheit der Menschen gewährleisten kann.
({4})
Um die Sicherheitsvorkehrungen der neuen Lage anzupassen, haben wir erste Schritte unternommen, Herr
Westerwelle. Vielleicht ist Ihnen dies entgangen. Die Verbreitung von Hass und Gewalt unter dem Deckmantel des
Religionsprivilegs ist kein schutzwürdiges Gut.
({5})
Deshalb wird dieses Privileg fallen. Es ist ebenso richtig,
dafür zu sorgen, dass die Polizei und auch die Nachrichtendienste ihren Aufgaben besser, effizienter nachkommen können und dass die Sicherheit auf den Flughäfen erhöht wird. Aber statt des von Ihnen, meine Damen und
Herren Kollegen von der Opposition, lange hochgehaltenen Bank- und Steuergeheimnisses müssen wir effiziente
Kontroll-, Überwachungs- und Beschlagnahmungsinstrumente für internationale und nationale Finanztransfers
ermöglichen, um die finanziellen Lebensadern des Terrorismus auszutrocknen.
({6})
Dass damit auch sonstige illegale Finanztransfers auf den
Schirm der Fahnder geholt werden können, ist von uns
ausdrücklich gewünscht.
Es gibt aber auch falsche Freunde der Freiheit: Wer wie
der Herr Scholz von der CDU generell den Einsatz der
Bundeswehr im Innern des Landes fordert, dem geht es
nicht um Sicherheit, sondern derjenige will, dass diese
Republik ein anderes Gesicht bekommt. Er will aus einer
offenen eine autoritäre Gesellschaft machen. Wir, Herr
Glos, wollen diese offene Gesellschaft und ihre Werte verteidigen.
({7})
Bei allen Maßnahmen zur Verbesserung der inneren
Sicherheit werden wir Grünen - Herr Glos, das ist die
Antwort auf Ihre Frage - die Messlatte des liberalen
Rechtsstaats anlegen. Angesichts der wenigen Differenzen, Herr Innenminister, bin ich mir sicher, dass uns dieses Rechtsstaatsprinzip eint, und zwar nicht nur in seiner
formalen, sondern auch in seiner materiellen Substanz. So
jedenfalls kenne ich Sie aus alten Zeiten.
({8})
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger
Volmer, hat angesichts der Anschläge in New York und
Washington und ihrer Folgen zu Recht davon gesprochen,
dass wir an einer sicherheitspolitischen Stunde Null angekommen sind. Wir sind in diesem Lichte aufgefordert,
die Strukturreform der Bundeswehr noch einmal genau
unter die Lupe zu nehmen. Es lohnt sich, die Ergebnisse
der Weizsäcker-Kommission noch einmal zu studieren.
Die Bundeswehr steht - das wissen wir spätestens seit der
gestrigen Rede von Putin im Bundestag - nicht mehr vor
der Aufgabe, das Land gegen anstürmende Panzerdivisionen aus dem Osten zu verteidigen, die durch das FuldaGap brechen. Vielleicht muss die Strukturreform radikaler ausfallen und schneller umgesetzt werden. Eines aber
darf und wird mit unserer Stimme nicht geschehen: Wir
werden kein neues Geld in alte Strukturen stecken.
({9})
Ich vermute, dass es auch bei unseren Partnern, beispielsweise den USA bezüglich der Raketenabwehrkonzepte, ein Überdenken der überkommenen Sicherheitskonzepte geben wird, nachdem die schreckliche Verwundbarkeit unserer Gesellschaften so offen zutage getreten ist. Eine Lehre hieraus muss sein: Sicherheitspolitik kann nur multilaterale Politik sein.
({10})
Der Finanzminister hat - Herr Westerwelle, Sie haben
es selbst gesagt - durch geringfügige Steuererhöhungen
auf Zigaretten und Versicherungen 3 Milliarden DM mobilisiert.
({11})
Damit werden die Maßnahmen zur Verbesserung der inneren und äußeren Sicherheit finanziert. Gleichzeitig
führen wir den Konsolidierungskurs fort. Für unsere
Volkswirtschaft ist dies der richtige Kurs. Er ist für die Erweiterung der zukünftigen Gestaltungsräume und die
Handlungsfähigkeit der Politik, gerade auch auf internationaler Ebene, von grundsätzlicher Bedeutung. Was
nötig ist, wird finanziert, aber das wirtschaftliche und finanzpolitische Rückgrat unserer Reformpolitik wird dieser notwendigen Reaktion nicht geopfert. Das ist verantwortliche Politik unter außergewöhnlichen Umständen.
({12})
Herr Westerwelle, das ist der wohltuende Unterschied
zu Ihnen: Sie polemisieren gegen eine vergleichsweise
geringfügige Steuererhöhung, wohl wissend, dass Sie
1991 den Scheck für den Golfkrieg in Höhe von 17 Milliarden DM genau mit den gleichen Steuererhöhungen
plus einer schlagartigen Erhöhung der Mineralölsteuer
um 22 Pfennig finanziert haben.
({13})
Darüber hinaus hört man aus der Opposition, dass die
nächsten Stufen der Steuerreform mit 45 Milliarden DM
Belastung auf der Sollseite vorgezogen werden sollen.
Das ist der Weg zurück in den Schuldenturm. Der ist mit
uns nicht zu machen.
({14})
Ein sehr ernstes Problem bleibt aus unserer Sicht; das
wissen wir. Das Problem wird durch eine große Unsicherheit darüber, wie sich die weltkonjunkturelle Lage
unter dem Eindruck der Ereignisse in diesen Wochen entwickelt, noch ernster. Die Arbeitslosigkeit ist zu hoch.
Für uns Grüne heißt das: Wir müssen etwas für die Reform des Arbeitsmarktes tun und wir werden etwas tun.
Die grüne Fraktion hat schon vor der Sommerpause Eckpunkte verabschiedet - Herr Kollege Struck, ich glaube,
jetzt geht es an unsere gemeinsame Adresse -, in denen
aufgezeigt wird, dass wir mehr Brücken in den ersten Arbeitsmarkt bauen müssen. Es geht darum, Menschen weg
von Transferleistungen in richtige Beschäftigungsverhältnisse zu bringen. Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ist eine
Frage der Gerechtigkeit. Es geht nicht nur um die Höhe
und Ausstattung von Transferleistungen.
({15})
Deshalb begrüßen wir das Job-Aqtiv-Gesetz. Darüber
hinaus wollen wir aber über ein Einstiegsgeld diskutieren,
das heißt, dass Transferleistungsempfänger bis zu 50 Prozent des eigenen Verdienstes ohne Anrechnung behalten
dürfen. Das wollen wir auch umsetzen.
({16})
Die Überwindung der Teilzeitmauer durch staatlichen
Zuschuss zu den Lohnnebenkosten bei Geringverdienern
ist eine weitere Idee, die wir ernsthaft prüfen wollen. Die
Instrumente müssen breit angelegt sein, beworben und erklärt werden. Ich bin sicher, wenn wir das tun, können wir
noch mehr Menschen - was wir alle wollen - in Arbeit
bringen.
({17})
Wir haben bisher, Herr Westerwelle, noch viel zu oft
- auch in Haushaltsberatungen und auch wenn dies ein nationaler Haushalt ist - mit der nationalen Brille auf der
Nase, und zwar mit einem zu engen Blick aus den Zeiten
relativ geschlossener Nationalwirtschaften und -gesellschaften, über Politik diskutiert. Diese Zeiten sind - darüber
sind wir uns doch hoffentlich einig - vorbei. Sowenig uns
heute die Sehnsucht nach ruhigeren und überschaubareren
Zeiten hilft, die notwendigen sicherheitspolitischen Entscheidungen zu treffen, sowenig können wir uns in anderen Politikfeldern von dieser Sehnsucht leiten lassen. Der
Blick nach innen, Abschottung, der Gang zurück oder der
Gang alleine sind heute keine möglichen politischen Strategien mehr; schon gar nicht ein - wie auch immer aussehender - deutscher Sonderweg.
Das gilt auch - Herr Kollege Westerwelle in diesem
Punkt sind Sie irgendwie auf dem völlig falschen Dampfer - für die Einwanderungsdebatte.
({18})
Es ist richtig: Wir halten an unserem Vorhaben fest, auch
wenn es jetzt Stimmen gibt - die kommen woanders her -,
die aus der Unsicherheit der Bevölkerung wieder einmal
politische Münze schlagen wollen. Wir werden es nicht
zulassen, dass angesichts der Katastrophe aus parteipolitischen Gründen zu einer gesellschaftlichen VogelStrauß-Politik zurückgekehrt wird, nach dem Motto,
Deutschland sei kein Einwanderungsland und solle auch
keines werden. Eine solche Vorstellung gleicht einer Realitätsverweigerung, die in der Vergangenheit nicht zuletzt
aufgrund des langjährigen Engagements der Grünen auf
diesem Politikfeld überwunden werden konnte.
({19})
Wir werden uns in der Koalition über den vorliegenden
Gesetzentwurf verständigen; da bin ich sicher. Wir müssen uns nur über eines im Klaren sein: Wir brauchen die
Einwanderung. Wenn das aber so ist - das ist unser Ansatz -, dann darf es nicht sein, dass der politische Preis
für diejenigen, die wir brauchen, von denjenigen bezahlt
wird, die uns brauchen. Diese Aussage stammt vom
Kollegen Hirsch und ihr ist nichts hinzuzufügen.
({20})
Nach den Ereignissen in New York und Washington ist
es endgültig zu einem Imperativ der Politik geworden:
Wir müssen unsere Vorstellungen von sozialer Sicherheit
und gesellschaftlicher Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung neu buchstabieren. Der Entwicklungshilfeetat und alle jene Bereiche, die heute zu einer
auswärtigen Politik gehören, sind in vieler Hinsicht noch
nicht so ausgestattet, wie wir es uns wünschen. Deshalb
werden sich beide Fraktionen in den Beratungen bemühen, schon im Haushalt 2002 die Etats aufzustocken
und mehr zu tun.
({21})
Der Kampf gegen den globalen Terrorismus ist jenseits der notwendigen Repression zuallererst ein Ringen
um politische Lösungen und damit um eine kooperative
Weltordnung in allen relevanten politischen Bereichen.
Das ist die bitter notwendige Voraussetzung für Frieden
und Wohlstand auch bei uns zu Hause, hier in Europa. Wir
alle wollen, dass sich solche Angriffe auf das Leben Tausender unschuldiger Menschen nicht wiederholen; nicht
in den USA, nicht in Europa. Aber wer das erreichen will,
der muss auch politisch dazu beitragen, dass Terror nirgendwo stattfindet: nicht in New York, nicht hier, aber
auch nicht in Ruanda, in Sierra Leone, in Afghanistan
oder in Israel.
({22})
Wir haben erlebt, wie das Primat der Politik auf ganz
fürchterliche Weise wieder in das Bewusstsein der Menschen, auch in unser eigenes Bewusstsein, zurückgekehrt
ist. Das muss eine Handlungsanleitung sein. Wir leben
heute in der einen Welt, ob es uns gefällt oder nicht. In dieser einen Welt müssen wir zu einer Neubewertung der internationalen Interessenspolitik kommen. Hier haben
früher die Dritte-Welt-, heute die Eine-Welt-Aktivisten
wertvollste Pionierarbeit geleistet. Es wird hohe Zeit, dass
wir die Erfahrungen nehmen und sie zur Lösung der strategischen Überlebensfragen für die ganze Welt einsetzen.
({23})
Hilfe für die ärmeren Länder beim Zugang zum und bei
der Integration in den Weltmarkt, fairer Handel, klassische Projekthilfe, weitere Entschuldungsinitiativen, Hilfe
zum technologischen Anschluss an die führenden
Industrienationen oder beim Aufbau von Zivilgesellschaften in Krisengebieten: Das sind die dringenden Aufgaben von heute.
({24})
In diesem Kontext ist der Stabilitätspakt, aber auch das
Handeln der NATO in Mazedonien, ein gelungenes Beispiel dafür, wie sich unsere Politik entwickelt. Der Stabilitätspakt ist maßgeblich von der Bundesregierung mit auf
den Weg gebracht worden. Von hier aus müssen wir weitergehen; auf dem Balkan, aber nicht nur dort.
({25})
Durch Spekulation laufen die Finanzmärkte immer
wieder Gefahr, das Funktionieren ganzer Volkswirtschaften zu untergraben, wie die Finanzkrisen in Mexiko, in
Südostasien oder in Russland gezeigt haben. Das hat ganz
unmittelbare Folgen auch für uns in Europa. Die Finanzmärkte müssen durch ein internationales Insolvenzrecht
kontrollierbar werden. Die Frage der Entschuldung der
ärmsten Länder muss weiter auf der Agenda bleiben.
({26})
Dabei sollten wir uns auch nicht scheuen, Lösungsansätze zu diskutieren, die im Moment dem realpolitischen Auge noch nicht reif genug erscheinen mögen.
Dazu gehört auch die Tobin-Steuer, die ernsthaft erörtert
werden muss.
({27})
- Meine Damen und Herren Kollegen von der PDS, ich
empfehle Ihnen, unser Wahlprogramm durchzulesen. Da
werden Sie das finden. Das ist überhaupt keine Überraschung.
({28})
Wenn wir die internationalen Finanzströme des Terrorismus trockenlegen wollen und müssen, können wir dann
nicht auch Steuerschlupflöcher stopfen, durch die sich
Teilnehmer und insbesondere Spekulanten der Weltwirtschaft ihrer Verantwortung entziehen? Ich glaube, diese
Frage muss wirklich ernsthaft gestellt werden.
Dies alles sind Schritte zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung und zur Hilfe für Länder, die historisch einen hohen Preis gerade für unseren Wohlstand bezahlt haben und immer noch bezahlen.
({29})
Meine Damen und Herren, wir werden diese Woche
den Haushalt weiter beraten, die einzelnen Politikfelder
durchgehen und über die richtigen Konzepte streiten.
Aber wir wissen auch: Mit der Entscheidung zu Mazedonien, aber viel mehr noch mit den weiteren Auseinandersetzungen um die Folgen des Anschlages vom 11. September kommen große Aufgaben auf Regierung und
Parlament zu. Wir sollten diese Aufgaben im Geiste einer
Politik angehen, wie ich sie zu skizzieren versucht habe.
({30})
An dieser Stelle möchte ich dem Außenminister für
seine Bemühungen um einen Waffenstillstand in Nahost
ausdrücklich danken.
({31})
Heute treffen sich Peres und Arafat, denen wir von hier
aus ein erfolgreiches Gespräch wünschen.
({32})
Dies ist ein Beispiel dafür, wie aus grüner Sicht Grundlinien einer Politik aussehen müssen, die Deutschland im
Zeitalter der Globalisierung und neuer Bedrohungen entwickeln kann und muss und nach außen vertreten sollte.
Ich danke Ihnen.
({33})
Ich erteile dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schlauch, Sie haben uns empfohlen, einmal Ihr Wahlprogramm zu lesen. Ich empfehle der
grünen Fraktion, gelegentlich einmal wieder ihr eigenes
Wahlprogramm zu lesen. Dann werden Sie feststellen,
wie wenig davon in der Regierungspolitik umgesetzt ist.
({0})
- Unseres können Sie auch lesen; das trägt immer zur
Läuterung und Bildung bei.
({1})
Man kann in diesem Jahr die Haushaltsdebatte nicht so
führen wie früher; das liegt einfach an den Ereignissen
vom 11. September. Mehr oder weniger wirkte sich das
auf alle Reden des heutigen Tages aus, vielleicht bei Herrn
Westerwelle etwas weniger als bei den anderen. Die Erschütterung bei unserer Bevölkerung und weltweit hat
zum Ausdruck gebracht, dass Terror auf unserem Erdball
in keiner Form akzeptiert werden kann.
({2})
Es war auch ganz wichtig, dass dieses Haus einmütig gegen den Terror Stellung genommen und auch einmütig
Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika und
dem amerikanischen Volk bekundet hat.
({3})
Die Ergreifung der Täter ist ein ganz wichtiger Umstand bei der Bekämpfung des Terrorismus. Niemand, der
so etwas veranlasst oder unterstützt oder sich in sonstiger
Form an einer solchen Tat beteiligt, darf damit durchkommen. Die Hintermänner sind - das muss man sich
einmal klar machen - selbst reich und bringen junge Männer dazu, ihr eigenes Leben wegzuwerfen. Sie radikalisieren diese jungen Männer und machen sie extremistisch,
wodurch Tausende Unschuldige zu Schaden kommen.
Dazu kann ich nur sagen: Das darf ihnen nicht durchgehen; sie müssen wissen, dass die gerechte Strafe sie trifft.
({4})
Das setzt natürlich einen Nachweis, Ortung und Auslieferungsanträge und im Falle der Ablehnung auch Aktionen voraus, um die Täter zu ergreifen. Diesbezüglich
sind wir auch bereit, über alle Varianten zu diskutieren.
Nur sind Militärschläge oder Krieg mit Sicherheit die
falsche Antwort. Nun gibt es doch viele Truppenvorbereitungen, die zumindest die Befürchtung groß werden lassen, dass es dazu kommen könnte. Militärschläge und
Krieg aber bedeuten weitere unschuldige Opfer, eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Aus dieser Spirale
müssen wir uns herausbewegen, wenn wir zivile Lösungen auch und gerade im Kampf gegen Terrorismus finden
wollen.
({5})
Uneingeschränkte Solidarität klingt gut. Aber wenn
sich das Wort uneingeschränkt eben auch auf Militärfragen bezieht, Herr Bundeskanzler, dann macht es uns
Sorgen; das will ich hier zumindest deutlich formulieren.
Ich wiederhole: Krieg und Militärschläge können nicht
die Antwort sein.
Übrigens wäre es gut, wenn die USA ihre eigene Haltung zum Internationalen Gerichtshof einmal überdächten, denn ein solcher Gerichtshof wäre auch für die Verurteilung solcher Täter geeignet und zuständig.
({6})
Dasselbe gilt für die Weigerung der USA, die Antiterrorkonvention der UNO zu unterschreiben, wozu es meines
Erachtens höchste Zeit ist.
Richtig ist allerdings - hier entwickelt sich einiges -,
dass man eine internationale Koalition gegen den Terrorismus braucht. Aber das heißt auch, dass wir die bedeutende Rede, die Präsident Putin gestern hier gehalten
hat, ernst nehmen müssen.
({7})
Es war eben ein falscher Weg, eine unilaterale Welt zu
installieren, in der nur noch eine Weltmacht das Sagen hat.
Putin hat es gestern ganz deutlich gesagt: Wir sind bei
allen wichtigen Entscheidungen nicht gefragt worden und
hinterher sollten wir zustimmen.
Eine Antwort muss mehr Demokratie in den internationalen Beziehungen sein, muss auch die Stärkung der
UNO und der OSZE und nicht deren Schwächung sein.
Deshalb war es eben falsch, die UNO zum Beispiel beim
Jugoslawienkrieg und auch bei den Entscheidungen hinsichtlich Mazedoniens auszuschalten. Wir müssen diese
internationalen Organisationen wieder stärken, die Arroganz muss aus der Außenpolitik heraus. Wir müssen mit
den Staaten zusammenarbeiten. Das gilt für alle westlichen Länder.
({8})
Wir brauchen - das ist hier mehrfach erwähnt worden wirklich eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Die
Welt rückt zusammen, aber es gibt zwischen den Gesellschaften Entwicklungsunterschiede von 300 bis 500 Jahren. Das verträgt diese Erde nicht, das verträgt diese
Menschheit nicht. Deshalb müssen wir völlig neu über
Entwicklungshilfe nachdenken und sie im Vergleich zu
früheren Jahren auch strukturell verändern.
({9})
Frieden muss attraktiv sein. Wir stehen vor der traurigen Tatsache, dass es Menschen gibt, für die Frieden nicht
attraktiv ist. Das entzieht sich fast unserer Fantasie. Deshalb sage ich, weltweite soziale Wohlfahrt ist ganz wichtig. Menschen müssen auch etwas zu verlieren haben.
Wenn sie nicht einmal an ihrem eigenen Leben hängen,
funktioniert keine unserer Sicherheitslogiken. Darauf
müssen wir uns einstellen, damit müssen wir uns auseinander setzen und hier zu anderen Lösungen kommen.
({10})
Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr Bundeskanzler, wenn
Sie sagen, gegen die internationalen Finanzströme des
Terrorismus müsse vorgegangen werden. Es ist heute so
absurd, dass jemand, der eine so schreckliche Tat plant,
auch noch vorher weiß, wie sich die Aktienkurse entwickeln werden, und damit ein Riesenkapital machen
kann. Das muss man sich einmal ernsthaft überlegen. Nur
erinnere ich auch daran, dass meine Fraktion und ich hier
seit zehn Jahren gefordert haben, dass wir diese internationale Finanzspekulation regulieren müssen. Alle Neoliberalen behaupteten immer, es sei ganz wichtig, dass man
sie nicht reguliert. Ich glaube, das hat sich jetzt als in jeder Hinsicht falsch erwiesen.
({11})
Im Übrigen erklärte auch die deutsche Bundesregierung,
als die UN untersagte, dass Finanzströme an die UCK gehen, dass sie nicht in der Lage sei, sie zu kontrollieren. Es
ist vielleicht doch wichtig, solche Dinge zu kontrollieren.
Innere Sicherheit ist ein wichtiges Thema. Es gibt
Ängste, Befürchtungen und Sorgen der Menschen. Man
muss jeden Vorschlag sehr genau prüfen. Das werden
auch wir machen und dabei gar nicht irgendwelche
ideologischen Schemata zugrunde legen. Aber eines sage
ich auch: Wenn jetzt, wie ich höre, vornehmlich auf Militär und Geheimdienste gesetzt wird, heißt das, nicht zu
begreifen, was eigentlich geschehen ist. Die Vereinigten
Staaten von Amerika haben die bestgerüstete Armee. Sie
haben die finanziell, personell und materiell bestausgestatteten Geheimdienste der Welt. Das hat den Terroranschlag nicht verhindert; vielleicht haben sie ihn dadurch
sogar eher auf sich gezogen. Müssen wir nicht aus einer
bestimmten Art des Sicherheitsdenkens von heute herausfinden und neu darüber nachdenken, wie man auch zu einer persönlichen Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger kommt? Wer allein auf solche Maßnahmen setzt - das
beweisen doch die USA, das beweist dieser entsetzliche
Terrorakt -, kann sich dagegen nicht wirksam schützen.
Wir brauchen andere Lösungsansätze und nicht alte Hüte,
die übrigens zum Teil schon ausdiskutiert waren.
Deshalb ist mir die Herangehensweise des Herrn Schill
äußerst suspekt:
({12})
weil er ausschließlich auf Repression setzt und sich überhaupt keine Gedanken darüber macht, wie man die zugrunde liegende Motivation - übrigens auch die zu Kriminalität im Inneren - deutlich abbauen kann. Dabei geht
es dann auch um ökonomische und soziale Fragen.
Wenn Sie sagen, Herr Westerwelle, die SPD hätte wegen der Koalition mit der PDS kein Recht, Ihnen die geplante Koalition mit Schill vorzuwerfen, dann erwarte ich
als Minimum von Ihnen als Liberalen, dass Sie sagen:
Wenn wir das machen, dann haben wir auch nie wieder ein
Recht, der SPD eine Koalition mit der PDS vorzuwerfen.
Das wäre das Mindeste, was Sie dann hinzufügen müssten.
({13})
Die Vergleiche stimmen aber aus keiner Sicht, denn Sie
können der PDS viel vorwerfen, aber ganz bestimmt
nicht, dass wir uns in den letzten zehn oder elf Jahren in
diesem Deutschen Bundestag nicht auch für Rechtsstaatlichkeit und diesbezüglich für Liberalität eingesetzt
hätten.
Noch ein Wort zur Logik: Die CDU hat die Wahlen in
Hamburg verloren. Sie verhelfen dem Wahlverlierer - das
bezeichnen Sie auch noch als Übersetzung von Wahlergebnissen - zur Regierungsmacht. Das heißt, für Regierungsmacht tun Sie wirklich fast alles. Das ist tatsächlich keine besonders liberale Vorstellung.
({14})
Eigentlich, Herr Bundeskanzler, wollte ich gern über
ein paar andere Dinge reden. Sie haben heute in Ihrer Regierungserklärung die Arbeitslosigkeit überhaupt nicht
erwähnt. Ich glaube schon, dass die Arbeitslosigkeit nach
wie vor ein großes inneres Problem ist. Welches sind die
Wege, dagegen anzugehen? Ich habe von Ihnen dazu
nichts gehört, auch in den letzten Jahren nicht. Im Wahlkampf haben Sie 1998 gesagt, Sie wollten auf unter 3 Millionen Arbeitslose kommen, dann haben Sie gesagt, Sie
wollten auf unter 3,5 Millionen kommen, und Sie haben
erklärt, Sie wollten sich daran messen lassen. Das Einzige, was sich seitdem geändert hat, ist: Sie wollen sich
daran nicht mehr messen lassen,
({15})
denn wir haben nach wie vor fast 4 Millionen Arbeitslose,
und es sieht auch nicht nach Besserung aus. Vielleicht
müsste man doch einmal über die Arbeitszeit nachdenken.
Herr Struck hat es im Sommer getan und wurde gleich
wieder zurückgepfiffen.
Fakt ist, dass wir im letzten Jahr 1,85 Milliarden Überstunden hatten; rein rechnerisch entspricht das 1,13 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen. Wir werden um die Diskussion von Arbeitszeit nicht herumkommen, auch nicht um
die Diskussion einer Strukturreform bei den Lohnnebenkosten und auch nicht um die Diskussion von Kaufkraft,
denn der Binnenmarkt ist zu schwach.
Ich hätte gerne auch etwas zu Ihrer Steuerreform gesagt, die in Wirklichkeit Aktiengesellschaften befördert
und kleine und mittelständische Unternehmen eher belastet hat.
({16})
Herr Bundesfinanzminister Eichel, Sie haben die Verkäufe von Unternehmen und Anteilen erleichtert, indem
Sie sie steuerfrei gestellt haben. Sie sehen doch schon
jetzt, was passiert: Überall dort, wo verkauft wird, geschieht das mit dem Ziel, das Unternehmen danach möglichst zu schließen, möglichst keine Sozialpläne aufzustellen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
entlassen - und dies alles auch noch kostenlos, weil Sie
die Steuer dafür abgeschafft haben. Ich glaube, dass dies
der falsche Weg war.
({17})
Gerne hätte ich mit Ihnen auch über die ökologische
Steuerreform diskutiert, an der ja der Gedanke richtig ist,
den Energieverbrauch sozusagen anders in Anspruch zu
nehmen als in der Vergangenheit.
({18})
Nur, sozial hat sie nicht funktioniert, weil sie eben die
wirklichen Verbraucher der Energie eher schützt; sie hat
auch ökologisch keine Auswirkungen, ist ungerecht usw.
({19})
Sie haben völlig Recht, wenn Sie jetzt zur Erhöhung der
Tabaksteuer und der Versicherungsteuer sagen, nichts anderes haben die damaligen Herrschaften beim Golfkrieg
gemacht. Das ist wahr. Dieser Schritt wird aber nicht dadurch zu einer richtigen Antwort, dass Sie ihn jetzt tun.
Das möchte ich ebenfalls deutlich sagen.
({20})
Herr Kollege Gysi,
Ihre Redezeit ist überschritten.
Herr Bundestagspräsident! ({0})
Sie könnten sehr gut auch andere Wege gehen wie zum
Beispiel den des Verzichts auf die Absenkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer. Man kann
auch an die Vermögensteuer denken, an die Spekulationssteuer und vieles andere. Nein, es müssen die Tabaksteuer
und die Versicherungsteuer sein. Die Versicherungsteuer
trifft viele Verbraucherinnen und Verbraucher;
({1})
sie trifft außerdem viele kleine und mittelständische Unternehmen.
({2})
Bei der Tabaksteuer habe ich nur eine Bitte: Hören Sie
dann bitte mit Ihrer Doppelmoral auf! Einerseits diskutiert
die Gesundheitsministerin immer darüber, dass Raucher
die Kosten ihrer Erkrankungen selber bezahlen sollen, und
andererseits kassiert der Staat bei jeder Zigarette, die geraucht wird, gnadenlos mit. Diese Art von Doppelmoral
können wir Ihnen dann auch nicht durchgehen lassen.
({3})
Ein letzter Satz.
({4})
Herr Bundeskanzler, Sie haben heute auch nicht über die
innere Einheit gesprochen.
({5})
Wir sind weder wirtschaftlich noch sozial noch von der
Chancengleichheit her an dem Punkt, an dem man sagen
könnte: Wir kommen zur inneren Einheit. Legen Sie endlich einen Fahrplan vor, wie wir die innere Einheit in
Deutschland gestalten wollen, einschließlich der Chancengleichheit, der Angleichung von Löhnen und Gehältern und damit einer ökonomischen und sozialen Einheit
in Deutschland!
({6})
Ich erteile dem Kollegen Peter Struck von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich möchte zu den Oppositionsrednern Stellung nehmen.
Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Westerwelle. Nach
Ihrer Rede habe ich wirklich Herrn Gerhardt vermisst; er
hätte wenigstens sachlich und vernünftig auf die Fragen
geantwortet und nicht eine solche polemische Rede gehalten.
({0})
Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Kollege Westerwelle:
Wer sich hier wie Sie hinstellt - der Kollege Merz wird das
wahrscheinlich ebenfalls noch tun - und sagt, 3 Milliarden DM für die innere Sicherheit seien zu wenig - das
ist das Erste, was Sie sagen; dann sollten Sie bitte aber
auch sagen, wie viel es denn gefälligst mehr sein sollten -,
und zweitens erklärt, die Finanzierung dieser 3 Milliarden DM sei falsch, und von Umschichtung spricht, der
sollte dann aber bitte auch konkret werden, lieber Herr
Kollege.
({1})
Wo wollen Sie denn umschichten, wenn Sie 3 Milliarden DM aufbringen wollen? Dann sagen Sie uns doch
bitte, ob Sie die Ausgaben für Bildung und Forschung kürzen wollen oder ob Sie den Verkehrshaushalt kürzen wollen oder in anderen Bereichen. Machen Sie nicht solche
Sprüche; das bringt nämlich gar nichts.
({2})
Diese Sprüche erinnern mich an eines.
({3})
Ich habe im Vorfeld der Hamburger Bürgerschaftswahl
vom FDP-Vorsitzenden den Satz gehört: Mithilfe der FDP
wird Herr Schill nie Senator. Halten Sie sich an diesen
Satz, Herr Westerwelle!
({4})
Erinnern Sie sich an die guten liberalen Traditionen. Ein
Karl-Hermann Flach würde sich im Grabe umdrehen,
wenn er das mitmachen müsste, was Sie in Hamburg vorhaben.
({5})
Sie sollten sich schämen, wenn Sie mit einem solchen
Mann, einem Rechtspopulisten, in einen Senat, in eine
Regierung gehen. Das hat das Land Hamburg nicht verdient!
({6})
Herr Kollege Glos, der aus dringenden terminlichen
Gründen leider nicht mehr anwesend sein kann - ({7})
- Entschuldigung, ich nehme alles zurück. - Herr Kollege
Glos, Sie haben die Greencard kritisiert. Ich darf Ihnen
vortragen, dass - nach den Mitteilungen, die man mir gerade eben noch gegeben hat - laut Sachverständigen etwa
ein Drittel der 9 500 Greencards in Deutschland von der
bayerischen Wirtschaft beantragt worden ist. Vielleicht
unterhalten Sie sich einmal mit Ihren bayerischen Kollegen, bevor Sie einen solchen Unsinn erzählen.
({8})
Ich verstehe, dass die Opposition in einer schwierigen
Lage ist. Sie ist in einer äußerst schwierigen Lage.
({9})
Das Ansehen des Bundeskanzlers der Bundesrepublik
Deutschland ist so hoch wie nie. Es ist zu Recht so hoch
wie nie.
({10})
Ich will dem Herrn Bundeskanzler - aber auch der gesamten Bundesregierung - noch einmal versichern, dass
er sich bei den Maßnahmen, über die wir in der letzten
Woche diskutiert haben - dabei hatten wir erfreulicherweise keine Differenzen in diesem Hause -, der Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion, aber auch der Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, wie Herr
Kollege Schlauch eben ausgeführt hat, sicher sein kann.
({11})
Es gefällt keinem Fraktionsvorsitzenden, wenn seine
Fraktion nicht geschlossen abstimmt - Art. 38 des Grundgesetzes natürlich ausgenommen. Das gefällt niemandem.
Es hat allerdings auch niemand hier Grund dazu - Sie von
der CDU/CSU nicht und Sie von der FDP auch nicht -,
uns vorzuwerfen, dass wir bei der Mazedonien-Abstimmung nicht alle an Deck gehabt haben.
({12})
Bei Ihnen haben 61 Abgeordnete nicht mitgemacht, Herr
Merz, und bei Ihnen von der FDP ein Drittel.
({13})
Da greife ich gern ein Zitat des Kollegen Friedhelm Ost
auf, der mir aus dem Herzen sprach, als er, was die CDUFührung bei der Mazedonien-Abstimmung angeht, Folgendes gesagt hat. Ich muss aus dem Kopf zitieren. Vielleicht kann sich Herr Friedhelm Ost ja melden.
({14})
Herr Kollege Ost, ich zitiere aus dem Kopf, Sie können es
danach ja noch klarstellen:
({15})
Gegen die Verrenkungen der CDU-Führung in der
Mazedonien-Frage wirken Zirkusartisten geradezu ungelenk. - So lautete das Zitat, und so war es auch richtig.
({16})
Die Opposition hat die Aufgabe, die Regierung zu kritisieren. Das tut sie. Sie hat aber auch die Aufgabe, Alternativen zu der Regierungspolitik aufzuzeigen.
({17})
Nun frage ich Sie nach den Alternativen. Wenn Sie sagen,
die Steuererhöhungen seien falsch, dann sagen Sie uns
hier bitte, wie Sie das Paket zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus anders finanzieren wollen. Machen
Sie das bitte, Herr Merz, wenn Sie nach mir hier reden.
({18})
Sie kritisieren unsere Steuerpolitik und Sie schließen sich
den Forderungen nach einem Vorziehen der Steuerreform
auf das Jahr 2002, die von Verbänden - nicht von Unternehmen - kommen, an.
({19})
Diese Steuerreform vorzuziehen würde 40 bis 50 Milliarden DM kosten. Wenn Sie also sagen: Zieht das vor,
dann sagen Sie den Menschen in unserem Land bitte,
wie diese 40 bis 50 Milliarden DM aufgebracht werden
sollen.
({20})
Wenn Sie den Vorschlag machen, diese Mittel über eine
Neuverschuldung aufzubringen, dann kann ich Ihnen sagen: Das entspricht Ihrer Tradition. Diese Tradition ist
aber falsch. Wir machen nicht mehr Schulden in unserem
Land - nicht mit uns.
({21})
Seit 1998 ist die Arbeitslosenzahl um 466 000 gesunken und die Zahl der Beschäftigten von 37,6 Millionen
auf 38,7 Millionen gestiegen. Das ist ein Erfolg unserer
Beschäftigungspolitik und der Politik von Walter Riester.
Das wollen wir hier einmal feststellen.
({22})
Wir haben 1999 ein Programm zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen aufgelegt, das JUMPProgramm. Dieses Programm ist von Ihnen heftig kritisiert worden.
({23})
Herr Kollege Schäuble hatte sich zu einer Bemerkung
hingerissen, die Gott sei Dank aus der Welt ist. Ich möchte
Ihnen dazu sagen: Durch dieses JUMP-Programm haben
seit 1999 mehr als 300 000 Jugendliche einen Arbeitsoder Ausbildungsplatz erhalten. Auf eine solche Bilanz
sind wir stolz.
({24})
Wir haben das Erziehungsgeld erhöht. Wir haben das
Wohngeld erhöht. Wir haben die Rechte der Mieter verstärkt. Wir haben das Kindergeld für das erste und zweite
Kind um 80 DM erhöht, von 220 DM auf 300 DM ab
1. Januar 2002. Sie haben stattdessen ein Familiengeld
vorgeschlagen, 1 200 DM pro Familie. Das würde 60 Milliarden DM kosten. Auf die Frage nach der Finanzierung
haben sie ähnlich wie der Finanzexperte Westerwelle
argumentiert. Ihnen nehme ich das übel, weil Sie etwas
von Finanzen verstehen.
({25})
- Vielleicht jetzt auch nicht mehr. - Man kann doch nicht
sagen - so war Ihre Argumentation -, bei einem Haushalt
von 400 oder 500 Milliarden DM sei es kein Problem,
60 Milliarden DM aufzutreiben. Wie soll das denn gehen?
Sagen Sie hier, wie Sie ein Familiengeld von 1 200 DM
pro Familie finanzieren wollen. Sie können es nicht finanzieren.
({26})
Wir haben in diesem Hause heftig über die Rente gestritten. Auch bei diesem Gesetz haben Sie wie bei der
Steuerreform am Anfang gesagt, das werde niemals durch
den Bundesrat gehen. Das war Ihre zweite schmähliche
Niederlage, dass es durch den Bundesrat gegangen ist. Ich
will ja gar nicht auf die Vergangenheit verweisen
({27})
und in Ihren Wunden wühlen. Das liegt mir ja völlig fern.
({28})
Die Rente, die wir beschlossen haben, beinhaltet eine Förderung der privaten Altersvorsorge; so haben es die Beamten genannt, die die Gesetze formuliert haben. Andere
haben bessere Begriffe dafür erfunden, die ich übernehme: Die Riester-Rente ist eine Förderrente und eine
gute Rente, wie die Nachfrage nach dieser Rente zeigt.
({29})
Wir machen uns auch Sorgen um die Zahl der Arbeitslosen. Jeder weiß das.
({30})
Ich verweise aber auch darauf - das will ich Ihnen auch
noch einmal sagen -: Die Lage in Deutschland ist besser
als die Stimmung. Den Gesprächspartnern, die, wie ich
Agenturmeldungen entnommen habe, gestern mit der
CDU/CSU-Fraktion über die wirtschaftliche Situation geredet haben und die auch meine Gesprächspartner sind,
nehme ich übel, dass sie im privaten Gespräch im Büro
bestätigen, dass die Lage besser ist als die Stimmung,
dann aber draußen in Pressekonferenzen mit Ihnen die
Stimmung so darstellen, dass sie gar nicht schlechter sein
könnte. Das gehört sich nicht. Das werde ich den
Gesprächspartnern auch noch einmal persönlich sagen.
({31})
Wir werden in dieser Woche auch das so genannte JobAqtiv-Gesetz auf den Weg bringen. Ich bin auf Ihre Alternativvorschläge gespannt. Dieses Gesetz wird dazu
führen, dass wir mehr Beschäftigung bekommen.
({32})
Es wird dazu führen, dass es klarere und konkretere Pläne
für die Arbeitslosen gibt. Der Bundesarbeitsminister hat
unsere volle Unterstützung dabei. Auch das wird dazu beitragen, dass die Entwicklung in den nächsten Monaten
positiver verlaufen wird.
Ich sage Ihnen, weil das Ihr Thema ist: Diese Koalition
hat schwierige Aufgaben, jetzt eher im außenpolitischen
Bereich, zu bewältigen: Aber Ihre Hoffnung
({33})
- dann ist es ja gut -, dass an dieser Frage die Koalition
zerbrechen würde, will ich Ihnen gleich nehmen. Diese
Koalition wird den Wählerauftrag bis zur nächsten Bundestagswahl im Jahre 2002 gut erfüllen.
({34})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
Friedrich Merz ({0}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben gestern von dem Rednerpult aus, an
dem ich jetzt stehe, eine beeindruckende und große Rede
des russischen Staatspräsidenten gehört.
({1})
Er hat sich mit großem Nachdruck zu Demokratie und
Marktwirtschaft in seinem eigenen Land bekannt. Er hat,
wie es in der jüngeren Geschichte noch kein anderer
Staatsführer dieses großen Landes vor ihm getan hat,
deutlich gemacht, dass sein Land an der politischen Gestaltung und der politischen Ordnung unseres Kontinents
teilnehmen will. Er hat uns auch gesagt, dass er einen Beitrag von Deutschland dazu erwartet.
Betrachtet man all das, was uns in den vergangenen
Tagen und Wochen beschäftigt hat und worüber wir diskutiert haben - die Entwicklung in Russland, die Konflikte auf dem Balkan und die unvorstellbar grausamen
Terrorakte in New York und Washington, die wir an den
Bildschirmen miterlebt haben -, dann wird in diesen Tagen, glaube ich, für uns alle eines deutlich: Selten ist in
den letzten Jahren die große Verantwortung, die unserem
Land europäisch und international zukommt, so deutlich
geworden wie gerade in diesem Herbst 2001. Ich möchte
deshalb zu Beginn der Aussprache über den Etat des
Kanzlers klar und unmissverständlich sagen: Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion stellt sich auch in der Opposition dieser Verantwortung.
({2})
Auch wir wollen und müssen den Menschen in
Deutschland verdeutlichen, dass unser Land nicht abseits
stehen darf, wenn es darum geht, eine Politik des Ausgleichs, des friedlichen Miteinanders der Völker, aber
auch der Menschen in Deutschland zu ermöglichen. Es
geht um den Bauplan für das 21. Jahrhundert. Wenn
Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Haltung, die Sie in zwei
Regierungserklärungen und in vielen anderen öffentlichen Erklärungen zum Ausdruck gebracht haben, fest
bleiben, zu dem stehen, was Sie zur Außen- und Sicherheitspolitik gesagt haben, und bereit sind, eine
Neuformulierung der Politik umfassender Sicherheit jetzt
auf den Weg zu bringen, dann werden Sie auch dafür unsere Unterstützung bekommen.
({3})
Ich will Ihnen allerdings in der gleichen Klarheit und
Deutlichkeit sagen: Es geht nicht, dass die globalen
Ereignisse, die uns beschäftigen, uns beschweren und
weiterhin beschweren werden, als Alibi für Nichtstun in
der Innenpolitik genutzt werden, sozusagen als Begründung für das Versagen Ihrer Regierung in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik herhalten müssen. Das geht
nicht, Herr Bundeskanzler!
({4})
Sie haben hier eine sehr pathetische Rede gehalten, die
wohl mehr an die Zuschauer als an die Innenpolitiker in
Deutschland gerichtet war. Entscheidend ist, dass wir jetzt
gerade in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik in
Deutschland das Notwendige und das Richtige tun. Da
werden wir Sie nicht aus Ihrer Verantwortung entlassen!
Nicht die Opposition, sondern Sie selber, Herr Bundeskanzler, waren es, der für die Schlagzeilen in den Zeitungen gesorgt hat, die Ihre Reise durch die neuen Bundesländer im Sommer begleitet haben: Kanzler a. D.,
Kanzler in der Klemme, Rückstand-Kanzler, Politik
der ruhigen Kugel, Kraftlos in den Herbst, Sommer
der Stagnation, Kanzler kassiert seine Versprechen
ein, Slow-hand Schröder, Schröder und der rot-grüne
Mehltau, Kanzler Zitterhand, Politik der schlaffen
Hand, Rot-grüne Trümmerlandschaft.
({5})
All das sind Überschriften in deutschen Tageszeitungen,
lange bevor die Terroranschläge vom 11. September die
Weltpolitik neu bestimmt haben.
({6})
Herr Bundeskanzler, jetzt ist auch in der Wirtschaftspolitik und in der Arbeitsmarktpolitik eine
Grundentscheidung erforderlich. Wollen Sie ständig
die Steuern erhöhen? Wollen Sie die Sozialversicherungsbeiträge weiter steigen lassen? Wollen Sie es zulassen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland weiter
steigt? Oder nehmen Sie jetzt Ihre letzte Chance zum
Wechsel des Kurses in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik in Deutschland wahr? Wenn Sie Ihren
selbst gesetzten Ansprüchen gerecht werden wollen,
dann müssen Sie das jetzt tun.
({7})
Damit jetzt keine Legenden über die Steuererhöhung entstehen: Sie werden ganz schön bescheiden.
Wenn Sie sich schon nicht mehr zutrauen, 0,6 Prozent
des Bundeshaushaltes für eine jetzt notwendige Politik
neu auszurichten, dann wirft auch das ein bezeichnendes
Licht.
({8})
Ich werde Ihnen gleich genau mitteilen, wo die strukturellen Probleme des von Ihnen seit drei Jahren verantworteten Haushalts liegen.
Zunächst möchte ich etwas - ganz langsam, zum Mitrechnen - zu den Steuererhöhungen sagen. Sie haben uns
hier eben wissen lassen, Sie rechneten damit - das ist Ihre
Grundannahme -, dass sich der Konsum in Deutschland
nicht verändert. Wir gehen also unverändert davon aus,
dass in Deutschland 140 Milliarden Zigaretten pro Jahr
geraucht werden. 140 Milliarden Zigaretten mal 2 Cent
- diesen Wert hat der Finanzminister als Steuererhöhung
angekündigt - ergibt 2,8 Milliarden Euro. 2,8 Milliarden
Euro mal knapp zwei sind etwa 5,6 Milliarden DM. Dazu
kommen 16 Prozent Mehrwertsteuer, was weitere
0,9 Milliarden DM bedeutet. Summa summarum macht
das - bei dem von Ihnen unterstellten unveränderten Verbraucherverhalten - für die Verbraucher in der Bundesrepublik Deutschland eine Steuererhöhung von insgesamt
nur 6,5 Milliarden DM aus.
({9})
So sieht das aus, was Ihr Finanzminister vorschlägt.
Dazu kommt die Versicherungsteuer. Ich muss Ihnen
sagen: Ich finde es schon fast zynisch, dass Sie jetzt vor
dem Hintergrund drastisch steigender Versicherungsprämien wegen der Anschläge in den USA die Chance nutzen - ich sage das sozusagen in Anführungsstrichen -, die
Versicherungsteuer zu erhöhen. Ich wiederhole: Was Sie
da machen, das ist schon fast zynisch.
({10})
Herr Bundeskanzler, es ist hin und wieder gut, sich
nicht nur auf die aktuelle Haushaltsdebatte vorzubereiten,
sondern auch das Protokoll der vergangenen nachzulesen.
Ich habe Ihnen am 29. November des letzten Jahres in der
zweiten und dritten Lesung des Bundeshaushaltes 2001
hier gesagt, dass Ihre Wachstumserwartungen für das
Jahr 2001 völlig illusorisch sind. Daraufhin haben Sie
gesagt - all das können Sie im Protokoll nachlesen -: Die
Opposition beschimpft die Menschen in Deutschland und
respektiert deren Leistungen nicht; wir werden im
Jahre 2001 ein Wachstum von 2,75 Prozent haben. Dann
haben Sie wörtlich gesagt:
Nach allen uns bekannten Prognosen werden wir
Ende des nächsten Jahres
- also Ende 2001 eine Arbeitslosigkeit von 3,5 Millionen - vielleicht
wird sie sogar etwas darunter liegen - erreichen können.
Das haben Sie Ende November 2000 von dieser Stelle aus
gesagt. Ich stelle knapp ein Jahr später fest: Sie haben
keine Chance mehr, im Jahresdurchschnitt 3,5 Millionen
zu erreichen. Zum Jahresende 2001 wird die Arbeitslosigkeit in Deutschland wieder bei über 4 Millionen liegen.
Friedrich Merz
Das ist die Wahrheit im Hinblick auf Ihre Wirtschafts- und
Arbeitsmarktpolitik.
({11})
Das hat natürlich auch etwas mit dem Wachstum in
Deutschland zu tun. Kollege Struck, Sie haben Hamburg
angesprochen.
({12})
Lassen Sie uns meinetwegen nicht über die Vergangenheit, sondern nur über die Gegenwart und über die Zukunft der handelnden politischen Akteure in den unterschiedlichen Regierungen reden. Wir erwarten für dieses
Jahr - mühsam genug - ein Wirtschaftswachstum in
Deutschland von real etwa 1 Prozent. Dieses Wirtschaftswachstum wird wesentlich von den süddeutschen Ländern, die von der Union regiert werden, getragen:
Baden-Württemberg 2 Prozent, Bayern immerhin 1,2 Prozent,
({13})
Hessen 2,1 Prozent und selbst das Saarland, das sich in einer schwierigen strukturellen Phase befindet, erreicht ein
wirtschaftliches Wachstum von 1,4 Prozent. Wenn Sie,
Herr Bundeskanzler, die süddeutschen Länder nicht hätten, dann wären Sie, was das Wachstum in Deutschland
angeht, ein noch armseligerer Tropf, als Sie es schon
heute sind.
({14})
Zum Glück sieht es in ganz Deutschland nicht so aus
wie in den Ländern, in denen Ihre Partei, die SPD, gemeinsam mit den Postkommunisten, also mit der PDS, regiert - wir reden nicht über die Vergangenheit, sondern
nur über die Gegenwart und über die Zukunft -, nämlich
in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt: erstes Halbjahr 2001 Mecklenburg-Vorpommern minus
2,1 Prozent und Sachsen-Anhalt minus 1,8 Prozent. Diese
beiden Länder stecken knietief in der Rezession. Das hat
etwas mit sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik in diesen Ländern zu tun.
({15})
Nun mögen Sie ja einwenden, das alles sei nur das Gerede der Opposition und ein Ritual, das dazugehört.
({16})
Nehmen wir doch die als Zeugen, die Sie, Herr Bundeskanzler, berufen haben, um das große Projekt Ihrer Regierung, nämlich das Bündnis für Arbeit, zu begleiten.
Sie haben in dieses Bündnis für Arbeit eine so genannte
Benchmarking-Gruppe berufen. Diese Gruppe besteht
aus drei namhaften Professoren. Wenn ich es richtig sehe,
steht keiner von ihnen im Verdacht, ein Sprachrohr der
Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag zu sein.
Diese drei Professoren haben in Ihrem Auftrag ein Gutachten erstellt, das im Bündnis für Arbeit als Diskussionsgrundlage für die nächsten Wochen und Monate
dienen soll.
({17})
Sie haben von diesen Gutachtern verlangt: Erstens.
Eine ungeschminkte Analyse der Lage in Deutschland.
Zweitens. Sie sollten vor unbequemen Wahrheiten nicht
zurückschrecken. Drittens. Sie sollten zum Arbeitsmarkt
und zur Beschäftigung in Deutschland - vor allem im internationalen Vergleich - Stellung nehmen. Diese Gutachter, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrem Auftrag das
getan, was Sie - nicht wir - von ihnen verlangt haben.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben sich auf Druck der Gewerkschaften geweigert, dieses vorgelegte Gutachten
zum Gesprächsgegenstand im Bündnis für Arbeit zu machen.
({18})
Deswegen mussten die Gutachter es auf dem freien Markt
publizieren. Sie kommen zu dem folgenden Ergebnis:
Erstens. Unternehmen und Arbeitnehmer in Deutschland
sind mit besonders hohen Steuern und Abgaben belastet.
Das geht an Ihre Adresse, Herr Eichel, Thema Senkung
der Steuern und der Sozialversicherungsbeiträge.
({19})
Zweitens. Vor allem kleine Firmen und der Mittelstand
stellen aus Angst vor Arbeitsgerichtsverfahren kaum noch
neue Mitarbeiter ein. Drittens. Die öffentlichen Investitionen in Deutschland gehen stärker zurück als in anderen
Ländern. Viertens. Die Auflagen in Deutschland für Zeitarbeit und Arbeitnehmerüberlassung sind höher als in anderen Ländern.
Die Gutachter ziehen das folgende Fazit: In kaum einem anderen Land der Welt stehen Aufwand und Ertrag
für den Arbeitsmarkt in einem so schlechten Verhältnis
zueinander wie in Deutschland. Recht haben diese Gutachter, Herr Bundeskanzler.
({20})
Man kann es auch anders ausdrücken: Bund, Länder,
Gemeinden und Sozialversicherungsträger in Deutschland
geben rund 200 Milliarden DM nicht zur Beseitigung der
Arbeitslosigkeit, sondern für deren Bewirtschaftung aus.
Andere Länder in Europa und außerhalb unseres Kontinents haben mit viel geringerem Aufwand einen viel
höheren Ertrag auf dem Arbeitsmarkt erzielt.
Das Grundproblem dieses Bundeshaushaltes ist - damit bin ich an dem Punkt, den ich bereits am Anfang nennen wollte -, dass Sie immer weniger für Investitionen
ausgeben, dass Sie immer mehr für den konsumtiven
Ausgabenteil zur Verfügung stellen und dass Sie statt einer wirklich kraftvollen angebotsorientierten Wirtschaftspolitik eine ständig steigende Subventionierung der Arbeitslosigkeit in Deutschland betreiben.
Das so genannte Job-Aqtiv-Gesetz - Herr Bundeskanzler, ich weiß nicht, ob Sie dieses Gesetz gelesen haben; wenn nicht, sollten Sie es tun - setzt dem, was Sie in
Friedrich Merz
der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland versuchen, die
Krone auf. Es hat mit Jobs und mit aktiv - ich habe nicht
verstanden, warum Sie aktiv mit q schreiben - nichts
zu tun.
({21})
- Dann ist es so. - Ich weiß nicht, was dieses Gesetz mit
Jobs und Aktivitäten zu tun hat.
Dieses Gesetz sieht vor, dass jetzt aus den Beiträgen an
die Bundesanstalt für Arbeit und aus den Sozialversicherungsbeiträgen, die die Beschäftigten in Deutschland zahlen, in Zukunft Infrastrukturprogramme in den Kommunen finanziert werden. Ich frage Sie allen Ernstes, Herr
Bundeskanzler: Warum sorgen Sie mit diesem Gesetz
noch mehr dafür, dass der zweite und der dritte Arbeitsmarkt zulasten des ersten Arbeitsmarktes weiter subventioniert wird, obwohl Sie und Herr Schlauch sagen,
dass wir etwas für den ersten Arbeitsmarkt tun müssen?
Sie werden es mit dieser Politik nicht schaffen.
({22})
Deswegen stelle ich fest: Die gesamte Struktur dieses
Bundeshaushaltes stimmt nicht mehr.
({23})
- Ich sage es Ihnen konkret: Sie wollen im nächsten Jahr
bei 400 Milliarden DM Steuereinnahmen des Bundes
mehr als 140 Milliarden DM allein für die Subventionierung der Rentenversicherung ausgeben.
({24})
Wenn Sie die Probleme in der Rentenversicherung nicht
lösen und ihr stattdessen einen immer höheren Steueranteil des Bundes zur Verfügung stellen, dann dürfen Sie
sich nicht darüber wundern, dass Ihnen im Haushalt überhaupt kein Spielraum mehr zur Verfügung steht; anscheinend noch nicht einmal für 3 Milliarden DM, die aktuell
für die Sicherheit vorgesehen sind.
({25})
Ich möchte Ihnen nun etwas zu unseren Vorschlägen,
die Steuerreform vorzuziehen, sagen: Natürlich löst dieser Vorschlag Diskussionen in den Ländern aus; übrigens
auch in den Kommunen, die Sie überhaupt nicht mehr
wahrnehmen. Die Kommunen sind in einer desaströsen finanzpolitischen Lage.
({26})
Das, was Sie, Herr Bundesfinanzminister, auf dem Gebiet
der Gewerbesteuer unternommen haben, führt dazu, dass
in den Kommunen die Einnahmen so dramatisch wegbrechen, dass die Mehrzahl der Kommunen in Deutschland
noch nicht einmal ihre Pflichtaufgaben erfüllen kann.
Aber das liegt außerhalb jeder Betrachtung dieser Bundesregierung.
({27})
Über die Steuerreform führen wir natürlich auch in
den eigenen Reihen Diskussionen. Sie aber stehen vor
der Situation, durch ein Wegbrechen des Wirtschaftswachstums und eine drastisch zunehmende Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr noch mehr Geld in die Hand nehmen zu müssen. Deswegen wird Ihr Ziel, die
Konsolidierung des Bundeshaushaltes aufrechtzuerhalten, nicht zu erreichen sein. Sie werden es sowieso nicht
einhalten. Ich sage Ihnen, vor welcher Alternative Sie bei
diesem Bundeshaushalt stehen: Entweder Sie machen die
richtige Wirtschaftspolitik oder Sie setzen die falsche
fort. Die richtige jetzt zu machen wäre die bessere Alternative.
({28})
- Ich habe Ihnen gesagt, dass wir bei unserem Vorschlag
bleiben, die für die Jahre 2003 und 2005 beschlossene
Steuerreform vorzuziehen,
({29})
sodass in den nächsten Jahren ein wirtschaftliches Wachstum erzielt wird, das diese Steuerreform - wenn auch mit
einem gewissen Zeitverzug - finanziert.
({30})
Sie trauen den Menschen in Deutschland nichts mehr zu.
Das ist das eigentliche Problem Ihrer Regierung.
({31})
Was wäre jetzt notwendig? Die Bundesregierung hätte
jetzt Entscheidungen treffen müssen. Sie hätte gegen die
Traditionsbataillone in den eigenen Reihen eine gute und
richtige Wirtschaftspolitik durchsetzen müssen. Herr
Bundeskanzler, Sie hätten angesichts der drohenden Rezession jetzt sagen müssen: Die Anschläge von New York
und Washington waren nicht nur ein Angriff auf unsere
Freiheit und auf unsere Sicherheit. Sie gefährden vielmehr auch die wirtschaftliche Entwicklung in Europa und
in Deutschland. Deshalb - so hätten Sie fordern und auch
durchsetzen müssen - werden jetzt alle Anstrengungen
auf das wirtschaftliche Wachstum und auf den ersten Arbeitsmarkt konzentriert. Deshalb - so hätten Sie sagen
müssen - hat jetzt jeder in Deutschland die Pflicht, das zu
leisten, was er selber leisten kann.
Herr Bundeskanzler, wir hätten uns ein klein wenig
von der großartigen Dynamik und dem Selbstvertrauen,
über das die amerikanische Nation bzw. dieses Volk in eiFriedrich Merz
ner solch fürchterlich schwierigen Lage verfügt, auch für
unser Land zunutze machen können. Die Menschen in
Deutschland sind leistungsbereit. Sie sind in der Lage, in
der wir uns befinden, bereit, etwas zu tun.
({32})
Herr Bundeskanzler, nicht die Opposition und auch nicht
die Arbeitnehmer oder die Arbeitgeber in Deutschland
sind das Problem. Diese Regierung, die den Menschen
nichts zutraut, ist das Problem. Das ist die Wahrheit.
({33})
Wir haben eine Regierung, die den Menschen misstraut, die sie bürokratisch gängelt, die sie immer mehr reguliert und die ihnen ständig neue Betreuung und Bevormundung zumutet.
({34})
Wir bräuchten jetzt einen Blick nach vorn. Die rot-grüne
Regierung und ihre schwankende Wirtschaftspolitik - das
ist keine Mischung aus einer angebots- und nachfrageorientierten Politik - ist sich ihrer selbst nicht sicher.
({35})
Sie haben in Ihren eigenen Reihen die grundlegenden
wirtschaftspolitischen Fragen bis zum heutigen Tage
nicht geklärt. Sie sind mit Floskeln überdeckt worden.
({36})
Jetzt gibt es keine rechte oder linke Wirtschaftspolitik
mehr, sondern nur noch gute oder schlechte. Meine Damen und Herren, Sie machen eine schlechte und eine linke
Wirtschaftspolitik in diesem Land. Das ist die Wahrheit.
({37})
Das eigentliche Problem - darauf will ich zum Schluss
noch einmal hinweisen - ist nicht die Bevölkerung, sind
nicht die Menschen, die Sie hier sehr geschickt mit einzubeziehen und gegen die Opposition in Stellung zu bringen versuchen. Das Problem hat einen Namen. Der Name
ist Gerhard Schröder.
({38})
Dieses Land hat eine bessere Regierung verdient, meine
Damen und Herren!
({39})
Ich erteile nun dem
Bundesfinanzminister Hans Eichel das Wort.
Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Merz, wie
können Sie von Strukturproblemen des Bundeshaushalts reden -, und das nach 16 Jahren Ihrer Regierungstätigkeit -,
({1})
die nur dazu geführt haben, dass der Block der Zinsen von
ehedem 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts in den 80erJahren auf 2 Prozent in diesem Jahrzehnt angewachsen
ist? 40 Milliarden DM allein an Zinsen obendrauf, das ist
die Bilanz Ihrer Regierungstätigkeit, und zwar Jahr für
Jahr.
({2})
Wie können Sie von Strukturproblemen im Bundeshaushalt reden, da Sie es zu verantworten haben, dass in Ihrer
Regierungszeit die Zukunftsaufgaben dieses Landes massiv vernachlässigt worden sind? Verfassungswidrig hohe
Besteuerung der Familien, das hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht für 16 Jahre Ihrer Politik ins Stammbuch
geschrieben,
({3})
Unterfinanzierung des Bundeshaushalts in Bezug auf die
Familien. Wie können Sie von Strukturproblemen des
Bundeshaushalts reden, obwohl während Ihrer Regierungszeit in den 90er-Jahren die Ausgaben für Bildung und
Forschung jedes Jahr zurückgefahren worden sind, die
Zahl der BAföG-geförderten Studentinnen und Studenten
- ja, Herr Merz, das wollen Sie jetzt nicht hören; das merke
ich schon - von 650 000 auf 350 000 heruntergegangen
ist? Das war unterlassene Zukunftsvorsorge in den Jahren
Ihrer Regierungstätigkeit, meine Damen und Herren.
({4})
Das sind die strukturellen Probleme des Bundeshaushaltes, die wir vorgefunden haben. Und dann: kritisieren Sie
doch nicht die Rentenfinanzierung im Bundeshaushalt.
Sie doch nicht! Sie haben doch die Kosten der deutschen
Einheit in die Sozialversicherungssysteme verlagert und
damit die Lohnnebenkosten auf das historisch höchste Niveau getrieben.
({5})
Sie haben in den 90er-Jahren die Lohnnebenkosten von
34 auf über 42 Prozent hochgedrückt. Das hat es doch nie
vorher gegeben. Wir sind die erste Regierung, bei der die
Lohnnebenkosten nachhaltig sinken, das erste Mal überhaupt.
({6})
Wir haben ein Problem in der Gesundheitspolitik. Frau
Kollegin Schmidt hat es weiß Gott nicht leicht. Sie haben
bereits im ersten Jahr dieser neuen Regierung die Gesundheitsreform von Frau Kollegin Fischer im Bundesrat
blockiert. Jetzt sehen Sie die Konsequenz daraus. Das ist
die Lage, meine Damen und Herren.
({7})
Friedrich Merz
Wir können an Ihren Taten messen, was Sie heute in Ihren
Reden sagen; so lange ist Ihre Regierungszeit noch nicht
her.
({8})
Wir reden jetzt über den Bundeshaushalt 2002, über
den dritten Konsolidierungshaushalt in Folge.
({9})
Ich sage Ihnen eines: Hätten Sie, statt seit 1996 Jahr für
Jahr verfassungswidrige Haushalte aufzustellen, damals
mit der Konsolidierung begonnen, wären wir heute in Europa schon ein ganzes Stück weiter.
({10})
Das ist der einzige Ärger, den ich als deutscher Finanzminister habe, wenn ich meine europäischen Kolleginnen
und Kollegen treffe.
Das ist der dritte Konsolidierungshaushalt in Folge,
ohne das im Einzelnen noch einmal durchbuchstabieren
zu wollen. Es ist klar, dass Konsolidieren im jetzigen
weltwirtschaftlichen Umfeld viel schwieriger wird, als es
im vorigen Jahr gewesen ist. Ich warne Sie allerdings vor
Schwarzmalerei. Wenn ich mir den Haushaltsvollzug dieses Jahres ansehe, dann stelle ich fest, dass die Steuereinnahmen bis einschließlich August - ich habe die Septemberzahlen noch nicht - sogar etwas günstiger sind, als
nach der Steuerschätzung im Mai zu erwarten war. Das
heißt, ich rate dazu, wie übrigens auch der Bundesverband
der Deutschen Industrie, von Schwarzmalerei und Panikmache Abstand zu nehmen. Schwarzmalerei macht keinen Sinn.
Richtig ist, dass wir den Haushalt nur auf dem jeweils
neuesten Stand der Erkenntnis aufstellen dürfen. Rechtzeitig zur dritten Lesung im November wird die Steuerschätzung auf der Basis der dann aktualisierten Daten der
Konjunkturprognose vorliegen. Gegebenenfalls werden
wir daraus dann noch Konsequenzen zu ziehen haben; das
ist keine Frage. Es ist klar, dass es ein hartes Geschäft ist,
den Konsolidierungskurs jetzt durchzuhalten. Beim Einbringen des Haushaltes habe ich deutlich gemacht, wie
hart das in diesem Herbst werden wird; auch das ist keine
Frage. Ich bin davon überzeugt, dass wir es bei der jetzigen Haushaltssituation nicht schaffen, zusätzliches Geld
für die innere Sicherheit durch Umschichtungen bereitzustellen.
Die Vorstellungen der Opposition zeigen noch etwas
ganz anderes. Von Ihnen gibt es nicht einen einzigen Vorschlag, wo im Haushalt noch etwas eingespart werden
könnte.
({11})
Es gibt nur die Vorschläge, mehr auszugeben und die
Steuern zu senken.
({12})
Dabei sind Sie nicht konsequent. Allein das, was Sie zur
ersten Lesung auf den Tisch gelegt haben, würde zu einer
zusätzlichen schuldenfinanzierten Aufblähung des Haushaltes im Umfang von 36,5 Milliarden DM führen.
({13})
Meine Damen und Herren, dann wären wir genau
wieder da, wo Sie 1996, 1997 gewesen sind. Das Defizit
im Bundeshaushalt würde sich auf annähernd 80 Milliarden DM belaufen. Das wäre ein verfassungswidriger
Haushalt. Die Länderhaushalte würden im selben Augenblick verfassungswidrig werden.
({14})
Stellen Sie sich hier hin und erklären Sie, dass Ihr Antrag zum Haushalt bedeutet, dass Sie den Bundestag
zunächst bitten müssten, gemäß Art. 115 GG festzustellen, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört
sei. Das wäre der Eröffnungszug für Ihren Antrag zum
Haushalt 2002. Dahin würde es uns führen.
({15})
Es geht noch lustig weiter. Sie begnügen sich ja nicht
mit den 36,5 Milliarden DM; darin sind leider nur 2 Milliarden DM für die Bundeswehr enthalten. Herr Repnik hat
gerade wieder 18,6 Milliarden DM auf der nach oben
offenen Richterskala der Möglichkeiten zur Ausgabensteigerung im Laufe von vier Jahren gefordert. Das ist
doch Ihre Position.
Wenn ich mir das Steuerprogramm von Frau Merkel
ansehe, stelle ich fest, dass dadurch ein Steuerausfall in
Höhe von 175 Milliarden DM eintreten würde. Dazu kann
ich - wie Herr Faltlhauser - allenfalls nur sagen: Ein Gag!
Das ist keines weiteren Kommentars wert.
({16})
Hören Sie sich einmal an, was der jetzige sowie der
vorige Bundesbankpräsident zum Vorziehen der Steuerreform sagen. Sie sagen, dass es Unsinn sei und es ökonomisch nichts bringe. Das weiß auch jeder. Schauen Sie
sich einmal an, was Japan gemacht hat und wo es heute
steht. So geht es doch nicht. Sowohl bei der Bundeswehr
als auch bei den inneren Diensten und in vielen anderen
Bereichen muss noch etwas getan werden. Das hat seinen
Preis. Die Ehrlichkeit gebietet es, das zu sagen.
Es ist wirklich unglaublich, was Sie an Geschichtsverdrängung betreiben. Während des Golfkrieges haben Sie
vier Steuern erhöht. Herr Westerwelle, Sie waren dabei.
({17})
Sie haben den Solidaritätszuschlag eingeführt und die Mineralölsteuer um 25 Pfennig erhöht, was mehr als vier
Stufen der Ökosteuer ausmacht. Wir geben das Geld wenigstens über Lohnnebenkosten zurück.
({18})
- Nein, für den Golfkrieg haben Sie das gemacht.
({19})
Sie haben auch die Versicherung- und die Tabaksteuer erhöht. All das haben Sie 1991 gemacht.
({20})
Sie regen sich auf, weil wir die 3 Milliarden DM über die
Tabak- und die Versicherungsteuer solide finanzieren.
Wissen Sie was? Wir sind froh, dass wir uns im internationalen Bereich einig sind. Durch Ihre großen Reden machen Sie dies aber in kleinkariertester Weise kaputt, wenn
es um Realisierungen hier im Lande geht. Das ist die
Wirklichkeit.
({21})
Eine Solidarität, die durch die notwendigen unpopulären
Beschlüsse nicht im Lande unterfüttert wird, kann nicht
sehr viel über Nennwert gehandelt werden. Das ist die
Wirklichkeit, mit der wir uns bei Ihrer Politik beschäftigen müssen.
({22})
Wir werden das tun, was an dieser Stelle getan werden
muss. Ich sage dies ausdrücklich noch einmal für die Bundeswehr, die ihren Teil bei der Terroristenbekämpfung
leisten muss und dafür zusätzliche Mittel bekommen wird.
Dies gilt auch für die Nachrichtendienste und den Katastrophenschutz sowie den Kampf gegen Geldwäsche.
Ihr Verhalten im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Geldwäsche finde ich spannend. Ich glaube, Sie haben kürzlich - das werde ich nachprüfen - in dieser Sache
an einer anderen Stelle nicht zugestimmt. Das wird eine
spannende Veranstaltung, wie Sie den Leuten klar machen
wollen, dass immer dann, wenn es wirklich darauf ankommt, die Instrumente zu schärfen, plötzlich das Bürgerrecht auf das Bankgeheimnis allem anderen vorgeht.
Das werden Sie den Leuten klar machen müssen.
({23})
Ich sage Ihnen eines: Hier geht es darum, den steuerehrlichen Bürger vor dem Betrüger zu schützen. Das ist
es, was wir lernen müssen, meine Damen und Herren.
({24})
Hier lässt sich eine Menge machen. Da werden Sie ziemlich umdenken müssen, übrigens auch der Föderalismus
in Deutschland; denn wir machen keine gute Figur, wenn
wir die Financial Intelligence Unit nicht haben, weil die
Bundesländer wegen ihrer Gesetzgebungskompetenz
nicht bereit sind, uns diese einrichten zu lassen. Ich hoffe,
dass das jetzt anders wird.
Sie werden die Gelegenheit haben, uns zuzustimmen,
wenn wir EDV-gestützte Recherchesysteme in den Banken vorschreiben, wie das im Vierten Finanzmarktförderungsgesetz vorgesehen ist, damit man sehr schnell untypische Vorgänge auf einzelnen Konten erkennen kann.
Die Banken können so etwas heute nicht erkennen - das
werfe ich ihnen nicht vor -, aber jene Banken, die solche
Systeme schon haben, können aus den Vorgängen Schlüsse ziehen und tun dies auch.
Wir werden in der Tat auch etwas dafür tun, dem Terrorismus weltweit den Nährboden zu entziehen. Wir brauchen Krisenvorbeugung überall dort, wo zurzeit solche
Krisen entflammen könnten. Man bekommt eine Prämie,
wenn man sich friedlich verhält. Dazu wollen wir unseren
Beitrag leisten; auch dies ist in dem Paket enthalten. Das
ist sicherlich eine ganz richtige Entwicklung.
({25})
Meine Damen und Herren, Sie müssen sich schon
selbst fragen, ob all Ihre großen Reden über die notwendige internationale Solidarität und über die notwendige
Schwerpunktsetzung bei der äußeren und inneren Sicherheit völlig ohne jeden eigenen Beitrag zu der Frage bleiben können, wie man das bezahlt. Sie müssen sich fragen,
wie glaubwürdig eine solche Politik ist.
Ich möchte mit aller Klarheit sagen: Ein erneutes Ausweichen in eine Schuldenpolitik - das schlagen Sie zuverlässig jedes Mal als Rezept vor - kommt für uns nicht
infrage.
({26})
Unsere Politik ist erfolgreich - anders, als Sie es in
manchen Punkten dargestellt haben. Wir hatten im Jahr
2000 das höchste Wirtschaftswachstum, das es seit 1992
je gegeben hat. Das war doch nicht mehr in Ihrer Regierungszeit, sondern in unserer. Wir haben in zwei Jahren
mehr Arbeitsplätze hinzugewonnen, als in acht Jahren Ihrer Regierungstätigkeit seit der Wiedervereinigung verloren gegangen sind, meine Damen und Herren. Dass
diese Entwicklung im Moment so nicht weitergeht, ist
leider wahr; das will ich überhaupt nicht bestreiten.
- Aber warum das so ist, weiß außer Ihnen auch jeder. Sie
wissen es in Wahrheit auch, Sie benötigen für den innenpolitischen Hausgebrauch nur eine andere Sprachregelung. ({27})
Sie müssen einmal den IWF, die Europäische Zentralbank
oder die Bundesbank fragen. Es gibt zwei Gründe für die
momentane Situation: Einer ist natürlich der Ölpreis.
({28})
Außerdem ist der lang anhaltende Boom in den Vereinigten Staaten zu Ende.
({29})
Das sind die beiden Probleme, mit denen wir es zu tun haben und die wir angesichts der Terroranschläge nicht auch
noch verschärfen dürfen, indem wir in Panikmache und
Schwarzmalerei verfallen.
({30})
Meine Damen und Herren, jetzt ist in der Tat gefragt,
konsequent die Politik der Konsolidierung des Haushalts, der langfristig, nachhaltig angelegten Finanzpolitik
mit nachhaltig angelegten Steuersenkungen, mit den
nächsten Schritten in 2003 und in 2005, umzusetzen. Attentismus erzeugt derjenige, der ständig Verunsicherung
über die Rahmenbedingungen schafft. Wer langfristig sichere Rahmenbedingungen erzeugt, leistet das Beste, was
er als Staat für die Bürger und für die Unternehmen tun
kann. Deswegen, meine Damen und Herren, werden wir
an unserer Kosolidierungspolitik nicht rütteln lassen.
Natürlich geht das Ganze weiter. So etwas wie unsere
Rentenreform mit der zusätzlichen privaten Eigenvorsorge, kapitalgedeckt und vom Staat unterstützt, haben
Sie in Ihrer Zeit doch gar nicht zuwege gebracht. Wir haben die Rentenreform richtig zuwege gebracht; Walter
Riester war es.
({31})
Meine Damen und Herren, anders, als Sie es dargestellt
haben, geht es bei Job Aqtiv nur darum, dass das Geld so
eingesetzt werden kann, dass es Mehrwert schafft. Das ist
der ganze Sinn der Regelung, den Sie überhaupt nicht begriffen haben, als Sie sie zitiert haben, Herr Kollege Merz.
({32})
Hierbei geht es um das Zusammenführen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, wie Walter Riester das für den Anfang der nächsten Wahlperiode angekündigt hat.
Wenn Sie sich anschauen, was wir allein in diesem
Herbst bei der Strukturreform des deutschen Finanzmarktes zu tun haben - die Vorlagen bekommen Sie
bald -, dann werden Sie erkennen, wie wir als Deutsche
damit unseren Standort stärken und in den gemeinsamen
europäischen Finanzmarkt offensiv hineingehen.
Auch haben wir den Solidarpakt II abgeschlossen,
den wir in diesem Sommer mit einer Perspektive bis 2020
vereinbart haben. Sie hätten sich das groß auf Ihre Fahnen
geschrieben, wenn Sie dies zustande gebracht hätten.
Ein anderes Beispiel ist die Reform der Finanzverwaltung.
Die Reform der Bundeswehr ist eine Riesenaufgabe,
die der Kollege Scharping zu schultern hat. Sie haben mit
diesem Etat gewirtschaftet, als ob Sie nie mit der Bundeswehr darüber geredet hätten, wie man mit Geld effizient umgeht. So kann man das nicht machen.
({33})
Der Kampf um mehr Reformen in diesem Lande geht
weiter. Aber er geht verlässlich auch im internationalen Rahmen weiter; denn nur derjenige, der seine Politik in den europäischen Zusammenhang und in den Weltzusammenhang
einordnet, wird eine Chance haben. Genau das tun wir.
Wenn Ihre Reden im Rat der Finanzminister der Europäischen Union gehört würden, dann würden Sie - das
sage ich Ihnen - nur Kopfschütteln ernten. Selbst bei
Ihren konservativen Kollegen - ich greife als willkürliches Beispiel den Kollegen Rato aus Spanien heraus wäre die Reaktion auf Ihre Vorschläge nur Kopfschütteln.
Wer so wie Sie alles in Grund und Boden redet, was im
Zusammenhang mit dem europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt steht, der wird auf europäischer Ebene so
lange nicht ernst genommen, wie er diese Politik auch nur
vorschlägt. Das ist die Wirklichkeit.
({34})
Am vergangenen Wochenende haben die Staats- und
Regierungschefs sowie die Finanzminister zusammengesessen. Genau das, was Sie wollen, tun wir: Wir koordinieren unsere Politik in Europa. Weil wir den Konsolidierungspfad konsequent einhalten, gibt es für die
Europäische Zentralbank ihrerseits die Möglichkeit, die
Zinsen zu senken. Ein Abweichen vom Konsolidierungspfad hätte unweigerlich zur Folge, dass die Geldpolitik
nicht mehr ihren Beitrag für das Wirtschaftswachstum leisten könnte, weil die Stabilität nicht gewährleistet wäre.
({35})
Zu den G-7-Staaten: Gerade gestern haben wir alle in
einer Telefonschaltkonferenz über diese Fragen geredet.
Genau das, was ich hier vortrage, ist die Position aller Finanzminister der G-7-Staaten. Sie wollen keine hektischen Reaktionen, sondern sie wollen Ruhe und Vertrauen
einkehren lassen. Im Moment sind die Probleme, die wir
haben, nicht ökonomischer Natur; die politische Verunsicherung ist vielmehr das Problem.
Ich sage ausdrücklich: Die besonnene Reaktion der
Vereinigten Staaten ist ein wesentliches Element, um
mehr Sicherheit und Vertrauen bei den Menschen zu gewährleisten und auf diese Weise eine Basis für eine bessere wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen; denn niemand wird investieren, wenn er Angst hat. Der
Bundeskanzler hat vorhin das Notwendige dazu gesagt.
Deswegen ist die erste Voraussetzung für Stabilität, richtig auf den Terrorismus zu reagieren und ihn innen wie
außen konsequent zu bekämpfen. Aber das muss man so
machen, dass es zu einer großen Koalition der Staaten und
der Menschen kommt, die sich gemeinsam gegen den Terrorismus wehren. Das ist die richtige Antwort im Inneren
wie nach außen.
({36})
Auf dieser Basis müssen wir unseren Kurs halten. Die
Haushaltskonsolidierung, die ein Thema aller Staaten,
nicht nur der Europas, sondern der Industriestaaten ist,
muss weiter vorangetrieben werden. Langfristig müssen
wir eine nachhaltige Finanzpolitik betreiben und dafür
sorgen, dass in unseren Haushalten die Zukunftsaufgaben
wieder ein größeres Feld bekommen, als sie das zu Ihrer
Zeit hatten. Das ist es, was in diesem Haushalt steckt. Das
ist unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht einfach,
aber auch kein Grund, in Pessimismus zu verfallen. Vor
allem ist es kein Grund, wieder in Schuldenmacherei zu
verfallen, sondern ein Grund, diesen Kurs konsequent
fortzusetzen, weil wir nur dann in Zukunft einen handlungsfähigeren Staat und eine junge Generation haben
werden, die von mancherlei Druck, von Steuern und Abgaben, die Sie hinterlassen haben, befreit sind.
({37})
Zu einer Zwischenbemerkung nach Abschluss der Debatte erteile ich dem
Kollegen Austermann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist bemerkenswert,
dass der Finanzminister zum zweiten Mal in dieser Debatte das Wort ergreift. Offensichtlich ist Gefahr im Verzug. In den Schlagzeilen sind Begriffe wie steuerpolitischer Blindflug, Eichel irrt, falsches Signal,
Offenbarungseid, Bankrotterklärung usw. zu lesen.
Man muss feststellen: Es ist gut, dass er heute hier ist. Daher ist anzunehmen, dass er nicht wieder heimlich die
Steuern erhöht, während das Parlament debattiert.
({0})
Herr Bundesfinanzminister, ich möchte Ihnen eine konkrete Frage stellen: Trifft es zu, dass Sie im vertrauten Kreise
darüber nachdenken, die Mehrwertsteuer zu erhöhen?
({1})
Sie haben vorhin angedeutet, man werde im Herbst Entscheidungen treffen, nachdem man festgestellt habe, ob
die Erwartungen hinsichtlich der Steuereinnahmen erfüllt
werden oder nicht. Gehört eine solche Maßnahmen zu den
Optionen, die Sie haben? Nachdem Sie gerade erst die
Steuern erhöht haben, und zwar wesentlich deutlicher als
Sie versprochen haben, und nicht durch Umschichten
Mittel erwirtschaftet haben, liegt der Verdacht nahe, dass
eine solche Erhöhung tatsächlich vorgenommen werden
soll.
Herr Finanzminister, Sie haben gesagt, Sie hätten den
Pfad der Konsolidierung nicht verlassen. Ich möchte Ihnen vorhalten, dass 2002 bei deutlich niedrigeren Zinsen
als 1998 die Zinsausgaben bis 2005 um 10 Milliarden DM
steigen werden. Ich möchte Ihnen vorhalten, dass die Gesamtverschuldung nicht abnimmt, sondern gegenüber
dem Jahre 2002 von 715 Milliarden Euro auf 748 Milliarden Euro, plus Sonderrechnungen, steigt. Das ergibt sich
aus Ihrem Finanzplan.
({2})
Sie sind also weit von einem Konsolidierungskurs entfernt, Sie befinden sich eher auf einer schiefen Ebene, und
diese Situation war schon eingetreten, bevor die brutalen
Terroranschläge verübt wurden.
({3})
Ich glaube, Herr Finanzminister, Sie sind der Letzte,
der die Situation der Bundeswehr beklagen kann. Betrachtet man, dass Sie im nächsten Jahr trotz der zusätzlichen Leistungen weniger Geld für die Bundeswehr zur
Verfügung stellen als 1998 und dass außerdem im Jahre
1998 das Wachstum mit fast drei Prozent - im Gegensatz
zu heute - ein wirkliches Wachstum war, dann ist ziemlich klar, dass Ihre Politik verfehlt ist.
Das Problem ist, dass Sie der Letzte sind, der merkt,
was Not tut. Sie sagen, Ihre Politik sei Kurshalten. Ich
nenne sie Borniertheit, denn sie ist nicht geeignet, wirtschaftliches Wachstum und mehr Beschäftigung zu erreichen. Im Jahre 1998 hatten wir eine Zunahme der Beschäftigung und auch in anderen Bereichen waren die
Daten positiv.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Nach Ihrer Lesart
würde es heißen: Es geht in Deutschland aufwärts. Ja, die
Inflationsrate steigt, die Steuerbelastung steigt, die Arbeitslosenzahl steigt, die Verschuldung steigt, die Kassenbeiträge steigen. Es geht so aufwärts, wie Herr Eichel das
möchte. Wir brauchen aber eine andere Politik mit einem
anderen Programm, das mehr Wachstum und Beschäftigung bringt. Das ist mit Ihnen nicht zu machen. Deswegen sage ich: Überlegen Sie, ob es nicht jetzt Not tut, umzusteuern.
({4})
Ich erteile Herrn
Finanzminister Eichel das Wort zu einer Antwort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war offensichtlich die Rede, für die Herr Austermann von seiner Fraktion keine Redezeit bekommen hat.
({0})
Ich weise nur auf eines hin - es lohnt wirklich nicht,
mehr dazu zu sagen, Herr Austermann -: Sie haben völlig
Recht, dass die Verschuldung noch ansteigt. Das ist richtig; das habe ich auch immer gesagt. Wir haben erst im
Jahre 2006 einen ausgeglichenen Haushalt. Der Unterschied zu der früheren Regierung von CDU/CSU und
FDP ist der, dass die Kurve der Neuverschuldung nicht
mehr aufwärts, sondern abwärts geht. Das ist der zentrale
Unterschied.
({1})
Diese Situation wollen Sie ändern; denn würde dem
Antrag, den Sie gestellt haben, gefolgt, bedeutete das,
dass wir einen ausgeglichenen Haushalt für das Jahr 2006
glatt vergessen könnten. Darüber hinaus würden Sie bis
zu diesem Zeitpunkt zusätzliche Schulden von mindestens 100 Milliarden DM machen. Mit anderen Worten:
Mit Ihrer Politik kommen Sie nie zu einem ausgeglichenen Haushalt.
({2})
Das unterscheidet uns von Ihnen.
({3})
Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu den Geschäftsbereichen des Auswärtigen Amtes, Einzelplan 05, des Bundesministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14, und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Einzelplan 23.
Ich rufe außerdem den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Bundeswehr ({0})
- Drucksache 14/6881 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Ich erteile Herrn Außenminister Joseph Fischer das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die furchtbaren Verbrechen, der terroristische Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika, auf die Bürgerinnen und
Bürger der USA und auf die Regierung der USA, stellen
eine Zäsur für die internationale Politik, aber auch - so haben wir alle und Millionen unserer Mitbürgerinnen und
Mitbürger, fern vom Ort des furchtbaren Geschehens an
den Fernsehschirmen, es empfunden - einen tiefen Einschnitt in unseren Alltag dar.
Ich möchte heute hier vor allen Dingen über die internationalen Konsequenzen und auch über die Konsequenzen für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland
sprechen. Denn wenn wir heute über den außenpolitischen Etat reden, dann können wir diese völlig neue Orientierung, die uns durch einen verbrecherischen Terrorismus aufgezwungen wurde, nicht ignorieren.
Ich hatte die Gelegenheit, in den USA selbst Gespräche
zu führen. Ich möchte dem Hohen Haus den Eindruck vermitteln, wie tief die Menschen in den USA, auch die Entscheidungsträger, durch diesen furchtbaren Terroranschlag getroffen sind und wie wichtig und notwendig die
internationale - nicht nur politische, sondern auch emotionale - Solidarität mit den Opfern wie auch mit dem
gesamten Land, das von diesem furchtbaren Schlag getroffen wurde, ist.
({0})
Meine Damen und Herren, Bündnisse sind nicht nur
für Schönwetterzeiten gedacht. Wenn wir ehrlich sind,
müssen wir zugeben: Keiner von uns, wirklich keiner
hätte gedacht, dass die USA es sein würden, die als Erste
Art. 5 des NATO-Vertrages in Anspruch nehmen. Wir alle
sind in den vergangenen Jahrzehnten davon ausgegangen,
dass es ein europäischer Staat, ja dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar die Bundesrepublik Deutschland sein
würde.
Nun wurden die USA auf furchtbare Art und Weise angegriffen. Das ist zugleich ein Angriff auf die offene Gesellschaft. Wenn zivile Flugzeuge, die alle von uns benutzen, durch einen todesverachtenden und mörderischen
Terrorismus in Lenkwaffen umgewandelt werden, wenn
diese in Kamikazeangriffen in Hochhäuser gejagt werden,
um diese zum Einsturz zu bringen, dann ist dies ein Angriff auf die offene Gesellschaft, dann ist dies auch ein
Angriff auf uns alle. Wir werden uns dieser Herausforderung stellen müssen.
({1})
Insofern geht es hier nicht nur um eine abstrakte Bündnissolidarität. Ich bin der festen Überzeugung: Über kurz
oder lang werden auch wir direkt damit konfrontiert werden. Dieses Verbrechen wurde von den Tätern ganz offensichtlich zum Teil in Deutschland und anderen europäischen Staaten geplant. Dieser Terrorismus ist international. Auch für uns wird sich nicht nur die Frage stellen, wie wir uns gegen ihn sichern, sondern vor allen Dingen auch, was wir tun müssen, um uns dieser Herausforderung nicht nur zu stellen, sondern sie auch wirklich zu
bestehen, indem wir diesem Terrorismus keine Chance
zur Weiterentwicklung einräumen.
({2})
Das Recht auf Selbstverteidigung ist für mich eine
Selbstverständlichkeit, wie es auch in dem Beschluss des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen heißt. Wir werden hier in Zukunft vor schwierigen Entscheidungen stehen. Die Resolution des Bundestages war - das habe ich
auf meiner Reise in den USA persönlich erlebt - sehr hilfreich. Denn in der US-Öffentlichkeit wird jetzt natürlich
sehr genau hingeschaut, wie die Bündnispartner sich
tatsächlich verhalten.
Wir werden schwierige Entscheidungen zu treffen haben. Dazu müssen Information und Konsultation bei den
Planungen gegeben sein. Dann werden wir unsere eigene
Entscheidungskompetenz über das, was wir für verantwortbar und notwendig halten, wahrzunehmen haben.
Auch das hat die Entschließung des Bundestages klar gemacht.
({3})
Meine Damen und Herren, es wäre falsch, zu verschweigen, dass diese Entwicklung bei vielen Menschen
große Sorgen und Ängste auslöst, und zwar quer zu den
politischen Lagern. Das ist nicht eine Frage eines grünalternativen, pazifistischen oder linken Lagers. Bis weit
hinein in die Wählerschaft der Union, ja in konservativste
Kreise herrscht Angst vor dieser neuen Herausforderung
- sagen wir es doch direkt: auch Kriegsangst -, Angst vor
einer nicht kontrollierbaren Konfrontation.
Auf diese Ängste müssen wir eingehen. Eine Demokratie lebt von der Zustimmung der Menschen. So wichtig die Solidarität der Verantwortlichen hier ist - die Bundesregierung und auch der Bundestag haben ihre Position
zweifelsfrei klar gemacht -, genauso wichtig wird es sein,
dass wir die Menschen mitnehmen und sie überzeugen.
Wir haben die neue Herausforderung in der Tat entsprechend darzustellen und zu erklären. Wir müssen auf die
Ängste dort reagieren, wo sie begründet sind, und sie aufzulösen versuchen, wo sie nicht begründet sind.
({4})
Ich möchte nochmals deutlich machen, worum es diesem Terrorismus geht. Haben wir denn eine Alternative,
indem wir nicht, auch nicht mit militärischen Mitteln, auf
ihn reagieren? Würde der Verzicht auf eine Reaktion diese
Terroristen von ihrem nächsten Anschlag abhalten, wäre
dies ja eine rationale Position. Ich behaupte aber: Wenn
Sie sich mit den Erkenntnissen der Dienste und Sicherheitsbehörden sowie mit dem beschäftigen, was öffentlich
vorliegt, dann kommen Sie nicht um die Feststellung
herum, dass das Ziel dieser Terroristen schlicht und einfach darin besteht, durch diese Terroranschläge einen
Krieg der Kulturen zu entfesseln, den islamisch-arabischen Raum umzustürzen und in Brand zu setzen sowie
Israel zu zerstören. Duckten wir uns weg, führte dies nicht
zu einem Ende des Terrors; vielmehr beflügelte eine solche Botschaft eher den Terror.
({5})
Die erforderlichen Reaktionen wünscht sich die Bundesregierung nicht; aber das ist die bittere Wahrheit, die
wir den Menschen bei uns sagen müssen. Deswegen werden wir nicht umhinkommen, diese Herausforderung anzunehmen. Die offene Gesellschaft, die Demokratie,
muss sich gegenüber dem menschenverachtenden Terrorismus durchsetzen; anderenfalls brauchen wir über eine
Weltordnung, wie wir sie uns für das 21. Jahrhundert vorstellen, allen Ernstes nicht zu sprechen.
Es ist offensichtlich, dass auf diesem Gebiet jetzt auch
politische Gestaltungsaufgaben auf uns zukommen. Wenn
man über Selbstkritik redet, dann vielleicht in folgender
Weise - das meine ich gar nicht parteipolitisch -: Wir hätten eigentlich durch die Entwicklung auf dem Balkan und
das Wiederentstehen des Nationalismus gewarnt sein
müssen. Wir hätten nach dem Ende des Kalten Krieges im
Laufe der 90er-Jahre begreifen müssen, dass eine ökonomische Globalisierung allein nicht zureichend ist, wenn
die politischen Konflikte in der Welt zunehmen, wenn
Ungerechtigkeiten nicht angegangen werden und wenn es
keine multilaterale Anstrengung der Weltgemeinschaft
- nicht einer oder zweier Mächte - gibt,
({6})
eine Ordnung zu schaffen, die auf Menschenrechte, Demokratie, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit gründet und
die in den heißen Konflikten dieser Welt einen Interessenausgleich herbeizuführen versucht. Wenn wir das nicht
aufnehmen, wird der Kampf gegen die terroristische Herausforderung nicht zu gewinnen sein.
({7})
Meine Damen und Herren, darauf kommt es ganz entscheidend an. Das bezeichne ich als die richtige Kritik an
der Globalisierung. Es gibt aber auch eine falsche Kritik.
Wenn die Ereignisse zu einer weiteren Abschottung
führen, wenn die offene Weltwirtschaft und auch die offene Kommunikation im Endeffekt dazu führen, dass wir
uns - vielleicht aus den Notwendigkeiten der inneren Sicherheit heraus - wieder abschotten, wenn sich Angstdenken breit macht, wenn wir uns zwar dagegen wehren,
Menschen, die anders aussehen und aus einem anderen
Kulturkreis kommen, als Feinde zu sehen, aber unter dem
Druck des Terrorismus mehr und mehr so fühlen - das
wird sein Ziel sein -, dann, so fürchte ich, werden wir in
eine Entwicklung geraten, in der nicht mehr die Offenheit,
der Dialog, auch nicht mehr die wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten einer offenen Gesellschaft und auch
einer offenen Weltwirtschaft überwiegen werden, und
dann wird die Abschottung zu Ängsten, diese wiederum
zu Ideologien und diese zu Konfrontationen führen. Das
wäre der erste große Sieg der Terroristen.
({8})
Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir
jetzt - die Kürze der Zeit lässt eine längere Ausführung
nicht zu - die politischen Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. Das bedeutet aber auch, dass wir im Rahmen der Antiterrorkoalition die Menschenrechte nicht vergessen
dürfen.
({9})
Hier wird nun von mancher Regierung, deren demokratische Legitimation - ich formuliere das jetzt sehr zurückhaltend - nach unseren Maßstäben nicht gegeben ist, versucht, mit der politischen Opposition reinen Tisch zu
machen. Aber auch hier besteht die Aufgabe und Notwendigkeit der Differenzierung. In diesem Zusammenhang betone ich erneut: Die Kritik an den Ereignissen in
Tschetschenien, die wir formuliert haben, beinhaltet
keine Kritik an der Legitimation - ich behaupte sogar: an
der Pflicht - der Russischen Föderation, ihre territoriale
Integrität zu erhalten. Russland hat nicht nur das Recht
auf, sondern auch die Pflicht zur Selbstverteidigung gegenüber Terrorismus. Das habe ich nie infrage gestellt.
Man muss aber sehr wohl die Frage stellen, ob dies Menschenrechtsverletzungen in dem Ausmaß legitimiert, wie
sie etwa unabhängige Menschenrechtsorganisationen dargestellt haben.
({10})
Diese Kraft der Differenzierung dürfen wir nicht aufgeben.
({11})
Gäben wir sie auf, bedeutete das ebenfalls, dass der Terrorismus mit seiner Ideologie einen Sieg davongetragen
hätte.
({12})
Die offene Gesellschaft muss sich jetzt erweisen. Das
gilt auch für unser humanitäres Engagement. Wir haben
die Afghanistan-Unterstützungsgruppe, der wir vorsitzen,
für morgen erneut einberufen, denn wir sehen in diesem
Land eine humanitäre Katastrophe. Allerdings existiert
diese humanitäre Katastrophe, die sich jetzt verschärft,
seit Jahren. Ich frage jetzt hier, ob wir bisher wirklich angemessen auf die Tatsache reagiert haben, dass seit 1992
in Algerien 100 000 Menschen ihr Leben verloren, oder
ob unsere Reaktion nur dadurch bedingt war, dass die
Massaker dort und nicht in Europa stattfanden. Ich hoffe,
dass wir alle gemeinsam für die Zukunft daraus lernen,
dass wir mit dieser terroristischen Herausforderung nur
fertig werden, wenn wir eine neue Ära des Engagements
für diese eine Welt einleiten. Anderenfalls werden wir
meines Erachtens in unseren Bemühungen scheitern.
({13})
Lassen Sie mich deswegen noch ganz kurz, fast im
Telegrammstil sagen, wie wichtig es sein wird, dass sich
der Nahostkonflikt nicht weiter entwickeln kann und dass
wir auf dem Balkan keine Eskalation zulassen. Hätten wir
auf dem Balkan nicht eingegriffen, wäre die Lage der vertriebenen albanischen Muslime in Albanien, in Mazedonien und anderswo weit schlechter. Schauen Sie sich die
Erfahrungen in Bosnien an und die Kontakte, die es damals zum islamistischen Radikalismus gab. Daran erkennen Sie, wie wichtig es war, dass Europa keinen Krieg der
Religionen zugelassen hat, sondern dass sich das christliche Europa für europäische Muslime, ihre Menschenrechte und elementaren Interessen eingesetzt hat. Angesichts dessen kann ich nur sagen: Der Balkan macht
ebenfalls klar, dass wir uns verstärkt einmischen müssen,
und zwar nicht, um eine Kriegspolitik zu betreiben. Lassen wir doch endlich diesen Quatsch von gestern! Wenn
wir uns hier nicht mit allem, was wir haben, von der militärischen Seite bis zur humanitären, über Wirtschaft, Politik und Kultur, einmischen, dann kann das unabsehbare
Folgen zeitigen.
({14})
- Nein, nein, das sage ich auch zu Ihnen.
({15})
- Es tut mir wirklich Leid. Wenn ich mich an manche Mazedoniendebatte erinnere
({16})
- wir werden in dieser Woche vermutlich noch einmal
eine solche zu führen haben -, dann richtet sich mein Appell nicht nur an eine Seite des Hauses, verehrter Herr
Kollege.
({17})
Ein letzter Satz: Ich bedaure es sehr, dass Europa hinsichtlich der politischen Integration noch nicht weiter
vorangekommen ist. Gerade in dieser Krise mussten wir
es wieder erleben. Wir dürfen aber nicht beim Bedauern
stehen bleiben. Ich war immer der Meinung, dass wir in
diesem Jahrzehnt die politische Union, das international
handlungsfähige Europa brauchen, bedingt durch die Erweiterung der Europäischen Union, bedingt durch die
ökonomischen Konsequenzen des Euro und bedingt
durch internationale Krisen, die von außen auf uns einwirken. Ich ging allerdings nicht davon aus, dass es zu einer solchen Zäsur kommen würde. Umso wichtiger wird
es sein, dass wir Europäer jetzt noch sehr viel schneller
politisch erwachsen werden.
Ich bedanke mich.
({18})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Volker Rühe für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Serie barbarischer Terrorangriffe in den USA stellt uns vor eine grundlegend
neue Lage. Darin stimmen wir alle überein. Was bislang
unter dem Stichwort asymmetrische Bedrohung abstrakte Theorie war, ist in diesen Tagen grauenvolle Realität geworden. Bislang waren vor allem Kriege zwischen
Staaten und bewaffnete Konflikte innerhalb eines Landes
denkbar. Jetzt kommen nicht staatliche internationale Akteure mit unübersehbaren Zerstörungspotenzialen hinzu,
und die Verwundbarkeit unserer hoch technisierten,
äußerst mobilen, auch digital vernetzten Gesellschaften
stellt uns vor völlig neue Herausforderungen.
Was sich am 11. September in den Vereinigten Staaten
von Amerika ereignet hat, kann sich morgen in einem anderen Land, in anderer Form - auch bei uns - wiederholen, und es sind - so schrecklich diese Vorstellung ist; ich
will das nicht ausbuchstabieren, aber wir müssen es wissen - noch Steigerungen des Terrors denkbar. Deshalb
liegt die Bekämpfung des internationalen Terrorismus
in unser aller Interesse.
Der Angriff vom 11. September war ein Angriff auf uns
alle. Deshalb müssen wir uns auch gemeinsam wehren.
Das hat der Verteidigungsminister am Wochenende zu
Recht gesagt. Ich hoffe, dies ist die Einstellung der ganzen
Regierung: ein Angriff auf uns alle - wir müssen uns auch
gemeinsam wehren! Es geht eben nicht nur um die Solidarität unter Bündnispartnern, sondern die Beteiligung
Deutschlands am Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist ein überragendes Eigeninteresse unseres Landes. Das muss eine politische Führung im Gespräch mit
der Bevölkerung deutlich machen, damit wir die Stärke
aufbringen, die wir in dieser Situation brauchen.
({0})
Was letztlich zählt, Herr Bundesaußenminister - gerade auch langfristig im kollektiven Gedächtnis der Völker - ist das, was real geschieht. Wir können das ja an uns
selbst feststellen. Manche erinnern sich noch daran, was
Ende der 50er-Jahre die Unterstützung der Vereinigten
Staaten von Amerika für das neue Deutschland an Chancen für uns alle bedeutete, und wir sehen, wie sehr das
heute noch lebendig ist. Es gibt solche Situationen - und
wir erleben jetzt eine solche Situation -, von denen man
sich noch in Jahrzehnten daran erinnern wird, wie wir uns
verhalten haben. Was letztlich zählt - gerade eben auch
langfristig im kollektiven Gedächtnis der Völker -, ist
das, was real geschieht.
Deswegen ist es die Aufgabe der nächsten Tage und
Wochen, die eindrucksvollen deutschen Solidaritätsbekundungen auch in konkretes Handeln umzusetzen. Jetzt
ist es an den europäischen Demokratien und gerade auch
an Deutschland, zu zeigen, ob sie so wehrhaft sind, wie sie
zu sein glauben und wie sie immer sagen.
Klar ist jedenfalls, dass sich das, was uns im Golfkrieg
unter den damaligen Umständen, als wir als Bundesrepublik Deutschland in dieser Auseinandersetzung einen
finanziellen Beitrag geleistet haben - dazu gab es keine
Alternative -, den Vorwurf der Scheckbuchdiplomatie
eingebracht hat, nicht wiederholen darf. Das wäre auch
nicht vereinbar mit der erklärten Politik der Bundesregierung einer uneingeschränkten Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Das müssen wir alle wissen, und das ist angesichts mancher Diskussionen eine
Warnung an die Regierung.
Die Entwicklung der letzten beiden Wochen - das ist
ebenfalls deutlich geworden, nicht zuletzt gestern in der
Rede des Präsidenten Putin - gibt aber auch Anlass zur
Zuversicht. Wir sehen, wie die Vereinigten Staaten auf die
neue globale Bedrohung mit einer globalen Politik reagieren. Weltweit entsteht eine Koalition, die entschlossen
ist, den Kampf gegen den Terrorismus aufzunehmen. Sie
geht weit über die NATO hinaus und schließt Russland,
China, Indien sowie die gemäßigten islamischen Länder
ein.
Die Denkmuster des Kalten Krieges haben ausgedient;
das ist richtig. Der Kampf gegen den Terrorismus ist eine
gemeinsame Aufgabe der gesamten zivilisierten Welt geworden. Der Bundeskanzler hat von der uneingeschränkten Solidarität mit den Amerikanern gesprochen. Allerdings darf sich unsere Solidarität nicht auf eine punktuelle
Krisensolidarität beschränken.
({1})
Die großen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, machen uns Europäern mehr denn je deutlich, dass
die Gemeinsamkeiten, die wir mit den Amerikanern haben, bei weitem wichtiger sind als die Differenzen. Auch
dies ist ein Punkt, in dem die Koalition in der Vergangenheit gelegentlich gesündigt hat.
({2})
Was wir im Übrigen brauchen, ist eine transatlantische
strategische Solidarität nicht nur in der Krise, sondern
eine strategische Solidarität bei der Gestaltung und Sicherung unserer gemeinsamen Zukunft. Das ist die Politik, die wir von der Bundesregierung verlangen.
({3})
Was heißt das? Amerika wird als Antwort auf die globalen Gefahren des Terrorismus noch mehr als bisher Aufgaben außerhalb Europas wahrnehmen; es wird neue Prioritäten setzen, nicht zuletzt den Schutz des eigenen
Territoriums, und die Amerikaner werden von uns Europäern zu Recht erwarten, dass wir sie in Europa entlasten
und gemeinsam internationale Verantwortung übernehmen. Wer jetzt nicht bereit ist, dafür die notwendigen
Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen oder sie schnellstens
zu schaffen, der verhält sich nicht nur unsolidarisch, sondern - was noch wichtiger ist - er schadet auch seinen eigenen Interessen. Viel zu lange haben wir Europäer uns in
unseren eigenen Angelegenheiten auf die USA verlassen zu stark. Jetzt reicht es nicht mehr, nur von der Übernahme größerer Verantwortung zu reden, jetzt müssen wir
dies auch durch unser Handeln beweisen.
Das betrifft - Herr Bundesaußenminister, da bin ich
ganz anderer Meinung als Sie - auch Mazedonien. Wir
Europäer werden unserer Verantwortung für die Friedenssicherung in dieser Region nur dann gerecht, wenn wir
sicherstellen, dass die durch die EU- und NATO-Vermittlung erreichten politischen Vereinbarungen dauerhaft verwirklicht werden. Die eher symbolische Waffenentgegennahmeaktion hat keine echte Verbesserung der
Sicherheitslage in Mazedonien gebracht.
({4})
Das haben wir so auch vorausgesagt.
({5})
Die NATO wird heute ihren Auftrag als erfüllt erklären,
ohne dass erkennbar ist, dass die politischen Vereinbarungen tatsächlich im mazedonischen Parlament angenommen sind. Sie selbst haben die Gefahr eines sicherheitspolitischen Vakuums und einer ethnischen Teilung
eingeräumt und fordern eine militärische Absicherung der
Implementierungsanstrengungen.
({6})
Um zu vermeiden, dass der Bürgerkrieg wieder
aufflammt, müssen Sie jetzt kurzfristig nachbessern und
eine neue Mission vorsehen, obwohl von Anfang an
klar war, dass Essential Harvest nicht zur notwenigen
Stabilisierung und zur Vertrauensbildung in der Bevölkerung Mazedoniens beitragen wird.
({7})
Es ist genau das eingetreten, wovor wir gewarnt haben
- ich zitiere aus meiner Rede von Ende August; lesen Sie
die Protokolle nach -:
Ein neuer Einsatz wird notwendig werden. Er wird
härter und länger. Unsere Soldaten werden in größerer Zahl und längerfristig in Mazedonien gebunden
sein.
Wir haben Ihnen damals in der Debatte gesagt: Das wird
eintreten. - Das war eine richtige Beschreibung der Situation.
({8})
Die neue Mazedonien-Mission muss deshalb wirksamer
zur Friedenssicherung beitragen. Es zeigt sich im Übrigen
auch - wenn das neue Engagement auf die Bundeswehr
zukommt -, wie richtig es war, dass wir eine stärkere
finanzielle Absicherung der Bundeswehr gefordert haben.
Größere Verantwortung wahrzunehmen heißt, den europäischen Einigungsprozess konsequent voranzutreiben. Ich
glaube, es ist vielleicht der wichtigste Beitrag Europas zur
Stabilisierung der Weltpolitik, dass wir in diesem Bereich
- europäische Einigungspolitik und Öffnung nach Osten energisch vorangehen. Zur Übernahme größerer Verantwortung und zur Aufgabenteilung mit Amerika muss auch
gehören, dass wir zügig die europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik verwirklichen und die dafür notwendigen militärischen Fähigkeiten schaffen. Bei strategischem Transport, Aufklärung und Kommunikation sind wir
sehr stark auf amerikanische Fähigkeiten angewiesen. Seit
dem 11. September ist dies ein noch knapperes Gut. Wenn
sich Europa diese Fähigkeiten nicht bald in ausreichendem
Maße beschafft, wird es schon bald die unangenehme Erfahrung machen, dass diese Ausrüstung gerade anderswo
im Einsatz ist, wenn es sie vielleicht selber braucht.
Die drastische Unterfinanzierung der Bundeswehr verhindert schon heute, dass Deutschland alle seine Bündnisverpflichtungen erfüllen kann,
({9})
und macht alle Pläne über eine stärkere europäische Rolle
zu bloßem Gerede. Es besteht die Gefahr - und das ist für
Deutschland beschämend -, dass die mit dem EU-Gipfel
in Köln eingeleitete europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wegen unzureichender Beiträge ausgerechnet an Deutschland scheitern könnte. Der Generalinspekteur der Bundeswehr hat in den letzten Tagen erneut
vor mangelnder Einsatzfähigkeit gewarnt. Ich glaube, in
dieser Situation ist es international und national ein Skandal, dass hier nur einmal für ein Jahr eine beschränkte
Summe zur Verfügung gestellt wird. Wir bleiben dabei:
Die dramatische Unterfinanzierung der Bundeswehr muss
beseitigt werden. Wir brauchen eine längerfristige Perspektive zur Überwindung der dringendsten Engpässe,
damit Deutschland seiner außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung gerecht werden kann.
({10})
Es kommt darauf an, nach diesen schrecklichen Attentaten neue Prioritäten für die innere und die äußere
Sicherheit zu setzen und die finanziellen Ressourcen neu
zu ordnen. Zur uneingeschränkten Solidarität gehört aus
unserer Sicht eben auch, dass es jetzt endlich zu der notwendigen finanziellen Kehrtwende kommt.
({11})
Meine Damen und Herren, der amerikanische Präsident hat einen langen Feldzug aller, die an Fortschritt, Pluralismus, Toleranz und Freiheit glauben, angekündigt.
Wir Deutschen wollen diesen schwierigen, aber unausweichlichen Weg mit unseren amerikanischen Freunden mitgehen: im Rahmen der NATO, aber auch im Rahmen der transatlantischen Partnerschaft der EU mit den
USA. Wir wollen diesen Weg unter Inanspruchnahme
aller zur Verfügung stehenden Mittel politisch, wirtschaftlich und militärisch mitgehen. Außenpolitisch müssen wir uns an der Bildung der weltweiten Koalition gegen den Terrorismus beteiligen und für ihren dauerhaften
Zusammenhalt sorgen. Wenn wir die weltweite Gefahr
von Terrorismus und Extremismus aber dauerhaft bändigen wollen - ich denke, darin sind wir uns einig -, müssen wir unsere sicherheitspolitischen Überlegungen durch
ein umfassendes und langfristiges außen- und entwicklungspolitisches Konzept ergänzen.
Manche haben sich in der Diskussion, die stattgefunden hat, vergaloppiert, als sie versuchten, direkte Gründe
oder gar Entschuldigungen für den internationalen Terrorismus zu finden. Es ist gar keine Frage, dass es einen
Nährboden für Terrorismus überall dort auf der Welt
gibt, wo Armut, Perspektivlosigkeit und Frustration herrschen und es an Bildung mangelt. Das ist aber etwas anderes; denn es geht nicht darum, Entschuldigungen und
direkte Motive zu finden, sondern es geht darum, zu überlegen, wo es einen Nährboden gibt, der den Terroristen die
Chance bietet, junge Menschen zu finden, die im internationalen Terrorismus eine Lebensperspektive sehen und
sich auf diese Weise für ihn einsetzen. Wir müssen deswegen versuchen, auch dieses in unsere Strategie einzubeziehen.
Wir unterstützen das, was die Bundesregierung im Nahen und Mittleren Osten unternimmt. Aber wenn man die
Bilder von dort sieht, fragt man sich, wie ein Friede zustande kommen soll, wenn wenige Kilometer von Israel
entfernt junge Menschen zu Hass und zur Unversöhnlichkeit erzogen werden und ihnen als Vorbilder Selbstmordattentäter vorgehalten werden. Wir müssen mit aller
Klarheit den Terrorismus mit all den politischen, ökonomischen und militärischen Möglichkeiten, die wir haben,
bekämpfen, aber wir müssen auch alles tun, um den Nährboden auszutrocknen. Dazu gehört ein außen- und
entwicklungspolitisches Konzept. Dazu gehört auch, dass
wir mit aller Deutlichkeit klar machen: Wir tolerieren
nicht, dass irgendwo eine junge Generation zu Hass und
Intoleranz erzogen wird.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile für die
SPD-Fraktion das Wort der Kollegin Uta Zapf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Rühe, ich bedauere, dass Sie
erst im allerletzten Teil Ihrer Rede zu den wirklichen Problemen vorgedrungen sind, die wir zu lösen haben. Ich
denke, wir sollten uns noch viel mehr über genau diese
Aspekte unterhalten.
Ist denn nach dem 11. September nichts mehr, wie es
vorher war? Müssen wir in der Außen- und Sicherheitspolitik total umdenken? Nach dem ersten Schock, der sich
jetzt langsam gelegt hat, gilt es, mit sehr großer Genauigkeit zu analysieren, wo neue Konzepte und Strategien entwickelt werden müssen. Viele Strukturen sind
schon vorhanden, vieles ist angedacht worden. Es geht
jetzt darum, wirklich konsequent die Strategie, die wir
endlich als richtige erkannt haben, in Handeln umzusetzen. Dazu sind Entschlossenheit und Besonnenheit notwendig.
Terrorangriffe kamen ja bisher in unseren sicherheitspolitischen Konzepten nur am Rande vor, obwohl der Terror in der Welt allgegenwärtig ist. Wir haben schmerzlich
begreifen müssen, dass dies kein regionales Phänomen,
sondern ein globales Problem ist. Lassen Sie mich aber
ausdrücklich sagen, dass die Krise ausgelöst durch die
Mörderangriffe auf New York und Washington, die mit
Recht als Angriff gegen unsere Zivilisation, gegen unsere
Demokratie, gegen Menschenrechte und Freiheit empfunden werden - von den USA und der internationalen
Staatenwelt bisher hervorragend und mit Besonnenheit
gemeistert worden ist.
({0})
Die Solidarität und das Mitgefühl, die den USA entgegengebracht wurden, haben bewusst gemacht, dass
solche Krisen nur durch internationales Engagement und
durch langfristig angelegtes multilaterales Handeln
gelöst werden können. Die Bundesregierung, die EU, die
NATO und die Vereinten Nationen haben sehr schnell die
notwendigen Entscheidungen getroffen, um ihre Entschlossenheit bei der Bekämpfung des Terrorismus unmissverständlich klar zu machen. Dies war notwendig
und unumgänglich. Aber es hat keinerlei übereilte und
möglicherweise zu einer Eskalation beitragenden Reaktionen gegeben, wie mancher am Anfang befürchtet haben mag.
Herausforderungen wie die Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind nur durch internationale Kooperation zu bestehen.
({1})
Kofi Annan plädiert dafür, die UNO zu einem Forum für
den Aufbau einer universellen Koalition gegen den Terrorismus zu machen, sodass den langfristig angelegten Reaktionen auf den Terrorismus globale Legitimität verliehen wird. Er fordert des Weiteren - ich denke, das müssen
wir uns auch auf die Fahnen schreiben -, endlich die Konventionen zur Auslieferung und Verfolgung von Straftätern sowie zur Bekämpfung der Geldwäsche zu ratifizieren.
({2})
Er fordert, die Ursachen und den Nährboden des Terrors
zu bekämpfen: Konflikte, Armut, Unwissenheit und
Krankheit.
Javier Solana plädiert für eine Verstärkung der Zusammenarbeit in allen Bereichen der Politik, der Wirtschaft
und der Sicherheit. Das muss auch geschehen. Aber dies
alles ist nicht neu. Darüber ist schon nachgedacht worden.
Es gibt bereits erste Ansätze. Nur, es gibt Versäumnisse
bei der Umsetzung. Daraus müssen wir die Lehren ziehen.
({3})
Die eigentliche Aufgabe, vor der auch wir stehen, beginnt jetzt. Die internationale, weltweite Koalition, die
sich gegen den Terror gebildet hat, muss gemeinsame
Strategien entwickeln, um dem Terror den Boden zu entziehen. Diese Koalition darf nicht auseinander brechen;
denn sonst werden die unterschiedlichen Interessenlagen,
die zweifelsohne vorhanden sind, eine stringente Konzeption verhindern. Es gilt die Chance zu nutzen, China
und Russland in die Strategien zur Bekämpfung des Terrorismus einzubinden. Die Rede von Staatspräsident Putin
hat dafür Ansätze geliefert. Das ist auch eine Chance für
weltweite Stabilität.
Es gilt, Indien und Pakistan, die Schlüsselpartner in der
Region sind, in der man die Kernzelle des Terrorismus geortet hat, einzubeziehen. Bin Laden wird nur in der Kooperation mit Pakistan unschädlich zu machen sein, was
für Pakistan ein hohes Risiko und für uns eine besondere
Verantwortung bedeutet. Wir kämpfen nicht gegen Afghanistan, sondern gegen die Strukturen des Terrors.
({4})
Wir brauchen auch eine Strategie für Afghanistan, wenn
die Konflikte dieser Region gelöst werden sollen.
Darüber hinaus müssen wir den Dialog mit den islamischen Staaten suchen und intensivieren, auch mit jenen,
die bisher als Schurkenstaaten galten: Iran, Libyen und
Syrien. Ich erinnere daran, dass der so genannte kritische
Dialog, den die Bundesregierung mit dem Iran zu führen
begonnen hat, sehr häufig unter Beschuss genommen
worden ist. Das gilt auch für die Unterstützung des Dialoges mit Nordkorea.
Der Nahostkonflikt ist bereits erwähnt worden. Er ist
nicht der einzige Konflikt, der im Mittelmeerraum gelöst
werden muss. Deshalb wird der Barcelona-Prozess in Zukunft von größerer Bedeutung sein. Ich möchte die FDP darauf hinweisen, dass ihre Idee einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten gar nicht neu ist.
({5})
Erstens ist der Barcelona-Prozess ein ausreichender Rahmen, um so etwas zu organisieren. Zweitens - Herr van
Essen, vielleicht erinnern Sie sich daran; denn Sie waren
schon damals Mitglied des Bundestages - hat die SPD bereits in den 90er-Jahren - das war damals meine Kollegin
Katrin Fuchs - genau diese Idee vertreten.
({6})
- Ich stimme mit Ihnen überein, dass wir diese Idee verfolgen sollten. Ich habe lediglich angemerkt, dass sie
nicht neu ist. Es ist alles schon einmal da gewesen.
Dialog statt Konfrontation wird künftig weltweit die
außenpolitische Handlungsmaxime lauten müssen. Nur
so wird es gelingen, regionale Stabilitätsstrukturen aufzubauen. Das internationale Netzwerk des Terrors und sein
Nachschub werden nur so zerstört werden können; denn
es wird nicht ausreichend sein, die Finanzströme zu stoppen. Ich möchte in diesem Zusammenhang an den Satz
von Johannes Rau anlässlich der Demonstration am Brandenburger Tor erinnern: Der beste Schutz gegen Terror,
Gewalt und Krieg ist eine gerechte internationale Ordnung.
({7})
Das bedeutet eine zusätzliche Herausforderung für die
Entwicklungspolitik und für die Weltwirtschaftspolitik im
sozialen und im ökologischen Bereich. Wir wissen, dass
militärische Mittel allein nicht tauglich sind, diese Krisen
zu bewältigen.
({8})
Eine ganze Menge Strukturen existieren, die eine solche Politik unterstützen können. Die Bundesrepublik hat
für das Zustandekommen entsprechender Konzepte ausschlaggebende Impulse gegeben. In den 90er-Jahren haben SPD und Grüne diese Konzepte entwickelt. Sie wurden damals verlacht. Heute hat die Bundesregierung
bewiesen, dass Krisenprävention und Konfliktregelung in einem abgestimmten Konzept, umgesetzt in der
Europäischen Union, ein ganz wichtiger Bestandteil zur
Lösung bestehender und zukünftiger Konflikte sein können.
Wir haben nicht nur einen Mister GASP mit einer Telefonnummer sowie einen Militärausschuss und einen
Militärstab, sondern auch ein umfangreiches Konzept für
den Bereich des zivilen Krisenmanagements. Kosovo und
Mazedonien sind ein Beweis dafür, dass diese Konzepte,
auch wenn es mühsam ist, durchaus wirksam sein können.
Wir werden uns gerade in Mazedonien in stärkerem Maße
auf diese Konzepte stützen müssen. Wir haben einen Ausschuss für zivile Aspekte des Krisenmanagements eingerichtet. Außerdem wurden weitere Vorkehrungen getroffen. Nicht nur innerhalb der EU, sondern auch innerhalb
der OSZE und der UNO sind entsprechende Strukturen
aufgebaut worden bzw. sind im Aufbau.
Mir tut wirklich in der Seele Leid, dass in diesem Zusammenhang das Programm der Europäischen Union zur
Verhütung gewaltsamer Konflikte, das auf dem Göteborger Gipfel beschlossen wurde und das auch ein Modellprojekt für internationale Politik darstellen könnte, überhaupt nicht wahrgenommen worden ist. Es ist wirklich ein
Modellprojekt zur Bekämpfung von Konfliktursachen
und es bietet Instrumente zur Konfliktüberwindung. Dieses Projekt ist ein wesentlicher Fortschritt und ein Verdienst der Europäischen Union, das in der internationalen
Politik umgesetzt werden muss.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich bin sofort fertig. Ich möchte nur
noch einen Satz sagen.
Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Instrumente, die
sich in der Vergangenheit ausdrücklich bewährt haben,
zum Beispiel der ganze Komplex von Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Das wird mehr als ein
Satz.
Wir sollten bewährte Instrumente, die
Stabilität schaffen, Proliferation verhindern und Vertrauen bilden können, nicht auf den Misthaufen werfen,
sondern dahin gehend überprüfen, wie sie gestärkt werden
können, damit sie in dem neuen Kontext tatsächlich noch
wirksamer als bisher werden.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Ulrich Irmer, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Es ist richtig: Die schrecklichen Ereignisse
vom 11. September haben auch die Koordinaten der
Außenpolitik gründlich verschoben. Auch in diesem Fall
gilt: In der Krise liegt eine Chance, nämlich die Chance
für neue internationale Allianzen, für neue Koalitionen,
für neue Kooperationen. Die eindrucksvolle Rede, die der
Präsident der Russischen Föderation, Putin, gestern hier
gehalten hat, war ein deutlicher Ausdruck dieser neuen
Möglichkeiten.
Leider - ich muss das hier loswerden - findet man gerade hierzulande auch neue Allianzen verantwortungsloser Schwätzer, Besserwisser und Moralapostel.
({0})
Wer den Artikel von Reinhard Mohr im Tagesspiegel
vor wenigen Tagen gelesen hat, der konnte entsprechende
Kostproben zur Kenntnis nehmen. Ich will auf die unsäglichen Auswüchse, die es gegeben hat, nicht ausführlich
eingehen. Die Berliner Kultursenatorin hat gesagt, die
New Yorker Türme seien als phallische Symbole ohnehin
immer schon verdächtig gewesen. Ich will auch nicht weiter auf den unsäglichen Karlheinz Stockhausen eingehen,
der das, was da passiert ist, das größte Kunstwerk aller
Zeiten genannt hat. Diese Äußerungen lassen nur auf den
Geisteszustand dieser Leute schließen.
Ich will an eine Aussage von Durs Grünbein erinnern,
den Herr Schlauch heute Vormittag hier zustimmend erwähnt hat. Durs Grünbein hat nämlich davon gesprochen,
dass nach der numerischen Logik von Großmächten aus
den 5 000 Opfern von New York demnächst 50 000 Kriegstote auf der anderen Seite werden würden. Das muss man
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Was geschieht
denn hier? Hier werden Ursache und Wirkung völlig verwechselt.
({1})
Es ist ja richtig, dass man nach Erklärungen sucht. Aber
man darf doch diese Erklärungen nicht heranziehen, um
das, was da geschehen ist, zu entschuldigen.
({2})
Genau dies ist doch hier geschehen.
Das Elend in der Welt ist sicher ein Nährboden für Terrorismus. Aber die Anschläge von New York und Washington waren nicht Notwehr gegen Elend, sondern
grandiose Mammutkriminalität schlimmster Sorte.
({3})
An dieser Stelle kann man nicht sagen: Ich bekämpfe diesen Terrorismus, indem ich heilsbringend durch die Welt
laufe und ein bisschen mehr Entwicklungshilfe betreibe.
Hier ist zunächst einmal entschlossene Notwehr der
zivilisierten Gesellschaften ringsum auf der Welt gefragt.
({4})
Wenn ich sage entschlossen, dann meine ich entschlossen auch mit gewaltsamen Mitteln.
Wir haben dankenswerterweise in einer wohl nicht voraussehbaren Koalition in diesem Hause beschlossen, dass
wir solidarisch mit den Vereinigten Staaten sind und dass
wir gegen den Terrorismus vorgehen wollen und müssen notfalls auch mit militärischen Mitteln. Aber was wird geschehen? Wir haben es am letzten Wochenende schon erlebt: Auf den Kongressen der Grünen wurden Beschlüsse
gefasst, die besagen: Das, was im Deutschen Bundestag
gesagt wurde, trägt die grüne Basis nicht mit.
Es wird Folgendes passieren: Das erste zivile Opfer bei
der Notwehr der Staatengemeinschaft - zum Beispiel in
Kabul - wird in dieser Optik die zigtausend Toten von
New York leider aufwiegen. Ich sehe schon die weißen
Leintücher aus den Fenstern hängen und den tief verwurzelten Antiamerikanismus aufkommen, wenn die erste
Hilfeleistung von uns gefordert wird.
({5})
Wir befinden uns keineswegs im Krieg. Bisher ist noch
nicht ein einziges deutsches Flugzeug von den Amerikanern als Hilfe erbeten worden. Wenn das der Fall sein
wird, müssen wir so entschlossen sein, wie wir es letzte
Woche gewesen sind. Dann müssen wir der Freundschaft,
der Dankbarkeit und der Solidarität mit den Vereinigten
Staaten, die wir alle vor dem Brandenburger Tor so eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht haben, auch Taten folgen lassen. Da darf es kein Wackeln geben.
Zu der Frage aus den Reihen der CDU/CSU bei der
Rede von Herrn Fischer Reden Sie auch mit uns? muss
ich sagen: Das war doch ein grüner Parteitag.
({6})
Herr Fischer, Sie haben beschwörend auf Ihre grüne Klientel eingeredet. Ich bin ja froh, dass Sie das tun. Sie spielen ja hier eine durchaus gute Rolle. Ich bin aber gespannt,
wie Ihre Basis reagieren wird, wenn es wirklich dazu
kommt, dass Ihre Ankündigungen umgesetzt werden, und
wenn Sie an Ihren Worten gemessen werden.
({7})
Der Haushalt gibt einen Vorgeschmack darauf. Hier
werden die Mittel zur Unterstützung von internationalen
Maßnahmen auf den Gebieten Krisenprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung im nächsten Jahr
um fast ein Drittel auf 23 Millionen DM gekürzt. Wie geht
denn das zusammen mit dem, was Sie uns gerade hier verkündet haben?
({8})
Zugleich bewilligen Sie 20 Millionen DM für die Schaffung eines nationalen zivilen Friedensdienstes. Das ist die
berühmte Geschichte, die Frau Zapf gerade noch einmal
angesprochen hat,
({9})
diese berüchtigte grüne deutsche Heilsarmee, die Frieden
spendend durch den Busch ziehen soll. Am grünen Wesen
soll die Welt genesen.
({10})
Das ist Ihre Logik, meine Damen und Herren.
Frau Zapf, Sie haben doch unseren Vorschlag für eine
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im
Nahen Osten abgelehnt. Wir haben einen entsprechenden
Antrag vor wenigen Monaten auf den Tisch gelegt. Wir
haben gesagt, dass die Krise im Nahen Osten einer Bewältigung nur dann näher gebracht werden kann, wenn
man einen umfassenderen Ansatz wählt. Was haben Sie
aber gemacht? Sie haben diesen Antrag niedergestimmt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zapf?
Selbstverständlich.
Bitte sehr.
({0})
Das ist der Sinn von Zwischenfragen, liebe Frau Kollegin.
Das ist auch ganz gut so, weil man
dann erkennt, welche merkwürdigen Gedankengänge in
dem Kopf eines von mir ansonsten sehr geschätzten Kollegen vor sich gehen.
Vielen Dank, Frau Kollegin. Es
schadet mir nicht, dass Sie das sagen.
Ich habe es befürchtet.
({0})
Herr Kollege, ich hoffe, Sie haben bei dem zugehört,
was ich soeben vom Rednerpult aus gesagt habe. Sie haben hoffentlich bemerkt, dass ich Ihre Idee, also die der
FDP, einer solchen Konferenz für Zusammenarbeit und
Sicherheit durchaus unterstützt habe. Ich habe nur gesagt,
dass diese Idee nicht neu ist. Herr Kollege, ich hoffe, Sie
haben das zur Kenntnis genommen.
Als Zweites möchte ich Sie fragen, ob Sie sich wirklich einmal genau angeschaut haben, welchen Anteil an
der Krisenprävention solche Friedensdienste haben und
welche wichtigen Leistungen sie vollbringen. Wenn Sie
das getan hätten, würden Sie vielleicht nicht mehr so höhnisch über diese Strukturen sprechen.
({1})
Verehrte Frau Kollegin Zapf, zu
Ihrer zweiten Frage: Ich will gar nicht bestreiten, dass die
Friedenskämpfer, die Sie losschicken, vielleicht auch Segensreiches bewirken können. Aber ich frage Sie: Warum
kürzen Sie dann im Haushalt die Mittel für die deutschen
Beiträge für die internationalen Bemühungen in diesem
Zusammenhang und warum kürzen Sie die Mittel für die
Beiträge für den UNHCR und andere internationale
Organisationen, die seit vielen Jahren eine bewährte Arbeit leisten?
({0})
Verehrte Frau Kollegin Zapf, zu Ihrer ersten Frage: Es
ist ja wunderschön, wenn Sie hier sagen, das sei nichts
Neues, und Sie diese Idee deshalb ein wenig in Zweifel
ziehen. Wir haben dieses Thema doch bereits vor ein paar
Monaten auf den Tisch des Hauses gelegt. Ich erinnere
mich genau: Es war im Dezember letzten Jahres, als wir
hier im Plenum darüber eine Debatte geführt haben. Im
Auswärtigen Ausschuss hat uns der Minister entgegengehalten, es gebe ja schon den Prozess von Barcelona. Dieser ist, wie wir alle wissen, gescheitert. Er hat gesagt, das
alles sei viel zu visionär und nicht vergleichbar mit der
KSZE von damals.
({1})
- Frau Kollegin Zapf, Sie müssen wieder aufstehen; denn
ich antworte noch auf Ihre Frage. Ich sage das jetzt nicht,
weil ich unbedingt möchte, dass Sie Freiübungen machen,
sondern deswegen, damit die Beantwortung Ihrer Frage
nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Genau, ich wollte
nämlich die Uhr wieder in Gang setzen, damit wir vorankommen. Aber Sie haben das Wort, Herr Kollege, - bitte
sehr.
Danke schön. Frau Zapf hat mir
zwei Fragen gestellt und deshalb bemühe ich mich, diese
beiden Fragen zu beantworten.
Frau Kollegin Zapf, im Ausschuss ist uns entgegengehalten worden, die Situation im Nahen Osten sei ganz anders. Das alles ist richtig. Aber deshalb kann man doch
trotzdem einen Versuch unternehmen.
Was haben aber Sie getan? Damals haben Sie nicht gesagt, die Idee sei nicht neu, sie existiere schon längst. Sie
haben sie vielmehr abgelehnt; Sie haben im Auswärtigen
Ausschuss und im Plenum dagegen gestimmt.
({0})
Wir erlauben uns jetzt, diesen Vorschlag erneut auf den
Tisch zu legen. Dann werden wir sehen, was passiert, ob
also diese Idee von Ihren Kollegen und von den Grünen
auch so gut gefunden wird, wie wir sie finden. Sie liegt
auf dem Tisch. Sie haben noch einmal Gelegenheit, darüber abzustimmen.
Wir machen einen weiteren Vorschlag: Das, was jetzt
gefordert wird, eine internationale Terrorismusbekämpfung, muss auf internationaler Ebene solide, belastbar und
völkerrechtlich abgesichert unterfüttert werden. Wir
appellieren deshalb an die Staatengemeinschaft, auf der
nächsten Vollversammlung der Vereinten Nationen - sie
hat ja bereits begonnen - eine Antiterrorismuskonvention auf den Weg zu bringen. Es gibt bereits sektorale
und regionale Einzelansätze. Das ist wunderbar. Wir haben sie hier zum Teil noch nicht ratifiziert. In den letzten
Tagen ist angekündigt worden, dass dies geschehen soll.
Frau Justizministerin, vielleicht kümmern Sie sich einmal
darum!
Wir meinen, dass es auf der Ebene der Vereinten Nationen einen umfassenderen und globaleren Ansatz für die
Terrorismusbekämpfung geben sollte. Wir haben einen
Vorschlag, der viele Details enthält, formuliert und Ihnen
auf den Tisch gelegt. Springen Sie über Ihren Schatten!
Stimmen Sie dem zu! Wir sind bereit, im Ausschuss über
die Einzelheiten zu sprechen. Wir appellieren an Sie:
Wenn Sie es mit dem, was Sie hier gesagt haben, ernst
meinen, dann sollten Sie einmal über Ihren Schatten
springen und einem konstruktiven Vorschlag der FDPOpposition zustimmen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die PDS erteile
ich dem Kollegen Wolfgang Gehrcke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich war, nachdem ich mir hier
einiges habe anhören müssen, fast versucht, mit dem Satz
zu beginnen: Jetzt einmal wieder ernsthaft.
Ich glaube, wir müssen uns sehr gründlich und völlig
offen den Fragen stellen, die heute von der Bevölkerung
tausendfach an uns alle gerichtet werden. Es sind aus meiner Sicht im Wesentlichen drei Fragen, die wir beantworten müssen. Die erste Frage lautet: Sind solche Terroranschläge auch in unserem Lande denkbar? Davor
haben Menschen einfach Angst. Die zweite Frage lautet:
Wird es einen Krieg geben, wird sich Deutschland an diesem Krieg beteiligen und werden in diesem Krieg wieder
Unschuldige leiden müssen? Die dritte Frage lautet: Befindet sich die Weltwirtschaft in einer Krise, die auch uns
bedrohen kann?
Mit allen drei Fragen verbinden sich bei vielen Menschen existenzielle Ängste. Ängste kann man nicht dadurch beseitigen, dass man sagt, wir reden nicht über
Ängste, oder behauptet, man könne Menschen Ängste
auch einreden. Man kann Menschen Ängste weder einnoch ausreden. Man kann nur eine Politik machen, mit der
die Ursachen von Ängsten überwunden werden. Das ist
die Aufgabe, die wir haben.
({0})
Dazu gehört auch, dass in dieser komplizierten Situation nicht wieder als Erstes die Wahrheit stirbt, dass korrekt informiert wird, dass die Rechte der Öffentlichkeit
und die Rechte des Parlamentes nicht eingeschränkt werden. Das war das Entwürdigende bei der MazedonienDebatte und sofort sind auch die Vorbehaltsrechte des
Deutschen Bundestages zur Disposition gestellt worden.
Es ist nicht die Zeit dafür. Der Bundestag muss seine
außenpolitischen Rechte auch gegen diese Regierung
durchsetzen. Deswegen sind wir ja nach Karlsruhe gegangen.
({1})
Aus meiner Sicht sind diese drei Fragen mit Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zu beantworten. Wir müssen deutlich sagen: Ja, es gibt keinen Schutz vor dieser Form des
Terrorismus - wie wir sie grausig erlebt haben -, wenn
nicht die Politik mittelfristig und langfristig geändert
wird. Auch kurzfristig muss gehandelt werden.
Die Ehrlichkeit gebietet es auch, Herr Außenminister,
zu sagen: Wenn er nicht abgewendet wird, kann es zu einem Krieg kommen, in dem Unschuldige sterben und an
dem unser Land beteiligt ist. Das ist nicht Anschüren, das
ist die Wahrheit.
({2})
Die dritte Frage hat sich von selbst beantwortet. Wir
befinden uns in einer Wirtschaftskrise.
Aus meiner Sicht ist es nicht die Aufgabe der Politik,
dies alles hinzunehmen. Aufgabe der Politik ist es, das abzuwenden, was abgewendet werden kann, und das mit der
Bevölkerung unseres Landes zusammen. Erinnern Sie
sich doch noch einmal an Willy Brandt, an seinen großen,
programmatischen Ausspruch: Frieden ist nicht alles,
aber alles ist nichts ohne Frieden. Gilt das heute nicht
mehr oder muss das nicht gerade heute durchgesetzt werden?
({3})
Alle Fraktionen des Bundestages sprachen von der
Tiefe der Veränderungen nach den Verbrechen in New
York und Washington, sprachen von der Zäsur. Ich
glaube, es ist richtig, noch einmal daran zu erinnern - der
Außenminister hat das auch getan -, wie fassungslos wir
alle waren angesichts eines Verbrechens, das unschuldige
Menschen zu lebenden Bomben gemacht hat mit dem
Ziel, bewusst den Tod von Tausenden herbeizuführen. Es
kann keinen Zweifel daran geben: Dieser globale Terror
ist menschenverachtend, fanatisch, grenzen- wie staatenlos.
Selbstverständlich muss er bekämpft, verfolgt und
überwunden werden. Aber weil wir anders sind als die
Terroristen, weil wir nicht wollen, dass das eintritt, was
sie eigentlich bezwecken, dass kriegerische Auseinandersetzungen geführt werden, mit denen sie rechnen, muss
unsere Antwort auf den Terror im Einklang mit dem Völkerrecht stehen. Sie muss verhältnismäßig sein, sie muss
die Folgen bedenken und darf nicht den Tod von wiederum Unschuldigen herbeiführen.
({4})
Das ist ein kategorischer Imperativ. Krieg ist aus meiner
Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion von allen Antworten die falscheste.
Das Mitgefühl der PDS mit den Menschen in den USA,
unsere Solidarität war und ist tief und aufrichtig. Ich verlange und erwarte, dass diese Haltung nicht in Frage gestellt, sondern akzeptiert wird. Wir lassen kein Aber in
dieser Frage zu, auch wenn uns häufig in der Öffentlichkeit von verschiedenen Menschen gesagt wird: Solidarität
ja, aber denkt an Vietnam! Unrecht kann nicht gegen Unrecht aufgerechnet werden. Unrecht bleibt Unrecht.
({5})
Es gibt keinen anderen Weg, als dies so zu formulieren,
wenn man aus der Spirale der Gewalt herauswill. Deswegen ist es für mich auch eine Lehre aus dem Kalten Krieg,
die wir heute zu bedenken haben: dass die Auffassung,
dass der Feind meines Feindes mein Freund, mein Verbündeter sein muss, für keine Seite mehr gültig sein kann.
Wir wissen doch, aus welchen Quellen Waffen und Ausrüstung bezogen wurden und woher die Planungen der
Terrorgruppen stammten. Das kann heute nicht mehr gültig sein.
({6})
Ich glaube auch, dass wir etwas Grundlegendes erkennen müssen: Leid, Kummer und Sorgen hatten wir gemeinsam. Bei der Frage, was wir tun sollen, werden die
Wege leider auseinander gehen.
Ich will der Regierung entgegenhalten: Auf neue Fragen hat sie bislang nur alte Antworten gegeben. Das, was
der Außenminister hier ausgeführt hat, muss man mit der
Realität der Regierungspolitik konfrontieren. Es gibt nur
zwei Möglichkeiten: Entweder ändert sich die Politik der
Regierung - das würde ich außerordentlich begrüßen oder gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit
wird die Sprache angeschlagen, die gerade angesagt ist
- diese führt auch zu vielen Problemen in den eigenen
Reihen -, und es ändert sich nichts. Das wäre eine Katastrophe. Die Antwort der PDS besteht nicht im Nichtstun
oder gar im Wegducken. Unsere Antwort besteht darin,
Vorschläge zu entwickeln, zu überlegen und darüber zu
debattieren, wie der Terror an seinen Wurzeln bekämpft
werden kann, wie ihm der Boden entzogen und eine neue
Art von Sicherheit geschaffen werden kann.
({7})
Herr Außenminister, ich finde es schon symbolträchtig
- dazu hätte ich gerne ein Argument von Ihnen gehört -,
dass in Ihrem Etat wesentlich mehr Geld - Milliarden für Militär und Repression veranschlagt wird. 1,5 Milliarden DM der 3 Milliarden DM sollen in den Militärhaushalt fließen. Gleichzeitig senken Sie die Ausgaben für
Entwicklung. Ihr Gerede ist hohl.
({8})
Es ist doch symbolträchtig, das Sie nicht als Erstes den
Entwicklungsetat so heraufgesetzt haben, dass die Menschen, die darunter leiden, dass sie sich nicht entwickeln
können, erkennen, dass wir nach dem Anschlag eine
Wende unserer Politik praktizieren und nicht nur darüber
reden.
({9})
Ihre Regierung hat bislang eine Politik betrieben, die
darin bestand, weniger für Entwicklung und Diplomatie
und mehr für das Militär auszugeben. Ich hoffe, dass sich
das ändert. Wir möchten es nämlich genau umgekehrt:
mehr für Entwicklung, mehr für Diplomatie und weniger
für das Militär.
({10})
Wir alle haben durch den Anschlag erkannt - das muss
doch einmal begriffen werden -, wie verwundbar wir
sind. Furchtbare weitere Möglichkeiten sind denkbar:
Chemiewerke, Atomkraftwerke, Eisenbahnknotenpunkte,
B- und C-Waffen. Dagegen gibt es keinen vollständigen
Schutz. Als Erstes wurde aber mehr Geld für die Rüstung
und für das Militär bewilligt. Zu glauben, dass man selbst
unverwundbar ist, ist das Falscheste, was man in dieser
Situation tun kann. Es muss heißen: mehr Geld für zivile
Projekte, Wissenschaft, Kultur und Medien sowie für Forschungsprojekte. Das wäre ein Fortschritt. Ich glaube,
auch die NATO hat sich mit ihrem neuen strategischen
Konzept blamiert. Dieses und der darauf basierende Umbau der Bundeswehr haben sich als grundlegend falsch erwiesen.
Ich möchte noch etwas zum Kollegen Rühe sagen
- manchmal muss man dem Kollegen Rühe auch etwas
Gerechtigkeit widerfahren lassen -:
({11})
Sie haben Recht, dass die Bundeswehr unterfinanziert ist,
wenn die Bundesregierung die Bundeswehr so einsetzt,
wie sie es tut. Da ich den Einsatz der Bundeswehr so aber
nicht will, sondern für eine andere Richtung eintrete, sage
ich: Aus meiner Sicht ist sie überfinanziert. Die Bundesregierung laviert sich durch beide Positionen durch. Ich
will in der Tat nicht mehr Geld für die Bundeswehr, sondern weniger. Ich will Abrüstung und eine andere
Sicherheitskonzeption. Die Regierung tut so, als ob beides möglich ist. Beides ist aber eben nicht möglich, wie
wir in der Praxis erleben.
Unter Rot-Grün hat das Militärische an Bedeutung gewonnen. Rot-Grün hat bei ihrem Regierungsantritt ein
Auslandsmandat übernommen. Vier weitere Auslandsmandate sind in den letzten drei Jahren hinzugekommen.
Morgen soll ein fünftes erteilt werden und in der nächsten
Woche kommt ein sechstes hinzu. Das ist alles beweisund aufzählbar. In welche Richtung geht Ihre Außenpolitik?
({12})
- Es ist garantiert keine militärische; das wissen Sie.
Kollege Fischer, wenn Sie es mit Ihrer Rede hier ernst
meinen, dann ziehen Sie die Konsequenz und leiten einen
Richtungswechsel in der Regierung ein: Tun Sie mehr für
die Entwicklung, mehr für die Kultivierung der Beziehungen zueinander, zeigen Sie mehr Verständnis für die
Probleme der Menschen in anderen Teilen der Welt!
Schließen Sie kategorisch die Teilnahme an kriegerischen
Auseinandersetzungen aus und verweigern Sie kategorisch Rache und Vergeltung als Antwort auf den Terror!
Das ist das, was der Terror will.
Wenn die Regierung sich korrigiert und einen anderen
Weg geht, sind wir für Unterstützung offen. Wenn sie bei
diesem Weg bleibt, sind die Geister in der Frage, was zu
tun ist, auseinander gegangen und sie müssen dann auch
auseinander gehen.
({13})
Wir kommen zur
zweiten Runde. Ich gebe die Reihenfolge der Redner
bekannt, weil es ein bisschen hin und her gegangen ist:
Jetzt kommt Herr Kollege Austermann, dann Kollege
Moosbauer und dann Herr Kollege Koppelin.
Ich wage den zarten Hinweis, dass Zeitunglesen im
Plenum nicht ganz angebracht ist. Eigentlich sollten wir
uns gegenseitig zuhören.
In diesem Sinne erteile ich dem Kollegen Dietrich
Austermann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ich eben zugehört
habe, möchte ich das, was mein Vorredner gesagt hat,
zurückweisen. Er hat den Eindruck vermittelt, dass es einem höheren ethischen Anspruch entspräche, wenn man
weniger Geld für Rüstung, für Verteidigung und Ähnliches ausgibt. Meine Grundüberzeugung ist, dass jeder
Staat die oberste Verpflichtung hat, seine Bürger nach innen und nach außen zu schützen, dass dies eine ethische
Dimension ist und dass dies auch für Verteidigung gilt, die
im Bündnis geleistet wird. Dies möchte ich ganz klar zu
der abgegriffenen Position sagen, die Ewiggestrige hier
vertreten.
({0})
Ich möchte das Thema aufnehmen, das mit den internationalen Einsätzen begonnen hat, und darauf hinweisen, dass wir in diesem Jahr wahrscheinlich viermal,
wenn nicht sogar fünfmal, über unsere Teilnahme an internationalen Einsätzen entscheiden werden. Es ist ein
Novum in dieser Dimension.
Ich halte es für richtig und wichtig, in diesem Zusammenhang deutlich darauf hinzuweisen, wer diejenigen
sind, die diesen Einsatz tatsächlich tragen müssen: die
Soldaten und zivilen Mitarbeiter, denen wir gar nicht oft
genug für die Einsatzbereitschaft und für das, was sie auf
dem Balkan und anderswo leisten, danken können. Dies
will ich hiermit tun.
({1})
Ich sage das mit besonderer Freude gegenüber den Vertretern der Bundeswehr, die auf der Tribüne sitzen.
Deswegen ist es umso problematischer und bedeutsamer für die betroffenen Soldaten und zivilen Mitarbeiter,
für unser ganzes Land, dass unsere Bundeswehr nach Ansicht vieler Sachverständigen innerhalb und außerhalb der
Bundeswehr nach drei Jahren rot-grüner Verteidigungspolitik vor allem ausstattungsmäßig immer weniger in der
Lage ist, diese Einsätze optimal durchzuführen. In keinem
Etat wird mehr gespart als bei der Bundeswehr. Die Bundeswehr wurde mit einer Reform überzogen, die nicht
mehr passt. Und was das Schlimmste ist: An vielen Stellschrauben wird gleichzeitig gedreht. All das passt nicht
zueinander.
({2})
Es fehlt bei den Finanzen an allen Ecken und Enden
und es muss die Frage erlaubt sein, ob angesichts dieser
Situation Entscheidungen über internationale Einsätze
mit so heißer Nadel gestrickt werden können, wie es der
Fall ist. Ich glaube wohl, dass es der Respekt vor dem Parlament erfordert, dass nicht vormittags die NATO-Entscheidung kommt, mittags die Kabinettsentscheidung,
abends die Fraktionsentscheidung und am nächsten Tag
die des Bundestages. Ich glaube kaum, dass man in dieser
Eile - es geschieht ja nicht zum ersten Mal - wirklich gewissenhafte Entscheidungen treffen kann - mit Verantwortung für viele Menschen, die persönlich und direkt
davon betroffen sind.
({3})
- Ich weiß nicht, ob man bei dieser Frage wirklich sagen
kann, dass uns der Termindruck daran hindert, das zu tun,
ob man angesichts der Dimension des robusteren Einsatzes für Mazedonien, der jetzt bevorsteht - hier haben
sich unsere gemeinsamen Befürchtungen bestätigt -,
nicht einen anderen Weg beschreiten müsste, statt den
Eindruck zu vermitteln, dass das Parlament von der Regierung bzw. von der NATO ein bisschen unter Druck gesetzt wird.
Ich möchte zur Finanzierung der zusätzlichen Maßnahmen der Bundeswehr gar nichts sagen; ich habe dies
vorhin in meiner Kurzintervention getan. Ich möchte aber
etwas zu der Art und Weise sagen, wie die Bundeswehr
zurzeit behandelt wird, wie sie eingesetzt werden kann.
Die Weizsäcker-Kommission hat bereits vor einiger
Zeit in ihren Analysen und Vorschlägen auf die Änderung
der Bedrohungslage hingewiesen und eine sofortige Umstrukturierung und eine bessere Befähigung der Bundeswehr gefordert. Wenn man sich dies vor Augen führt, dann
muss man die Frage stellen, ob das, was als Reform der
Bundeswehr auf dem Markt ist und als eine Maßnahme
Standortschließungen vorsieht, nicht dringend einer Überprüfung bedarf. Deswegen fordern wir den Minister auf,
diese Maßnahmen zurückzustellen und sich vorrangig auf
das zu konzentrieren, was unmittelbar notwendig ist.
Der Verteidigungsetat ist seit langer Zeit unterfinanziert.
({4})
- Herr Bartels, ich darf Ihnen mitteilen, dass wir 1998
etwa 3 Milliarden DM mehr im Verteidigungsetat zur Verfügung hatten als in diesem Jahr. Auch die 1,5 Milliarden DM, die jetzt zur Verfügung gestellt werden sollen,
werden diese Problematik nicht ändern. In diesem Jahr
fehlen im Etat 2 bis 3 Milliarden DM. Jeder stellt fest, dass
die Mittel bei der Materialerhaltung, den Überkippern aus
dem Vorjahr und den Mitteln, die für die Beschaffung
vorgesehen sind, hinten und vorne nicht reichen. Mit
44,9 Milliarden DM, ohne die Mittel für internationale
Einsätze, hat der Haushalt seit vielen Jahren ein historisches Tief. Im nächsten Jahr soll er noch einmal um
660 Millionen DM gesenkt werden. Der Investitionsanteil wird mit 22,2 Prozent ebenfalls ein historisches
Tief erreichen.
Man könnte nun die Frage stellen, ob diese zusätzlichen 1,5 Milliarden DM nicht das Problem lösen. Dazu
habe ich eine Frage, die vielleicht der Verteidigungsminister nachher beantworten kann. Ist denn vom Verteidigungsministerium bisher eine Anmeldung für das, was
mit den 1,5 Milliarden DM geschehen soll, erfolgt?
({5})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
- Ich höre, nein. Ist denn durch den Finanzminister sichergestellt, dass diese 1,5 Milliarden DM nicht nur einmalig im nächsten Jahr, sondern tatsächlich für eine dauerhafte strukturelle Verbesserung des Verteidigungsetats
eingesetzt werden? Aufgrund der Reaktion von Herrn
Eichel nehme ich an, dass auch hier die Antwort Nein ist.
Jetzt muss man die ironische Frage stellen: Wenn dieses
zusätzliche Geld nur für das nächste Jahr zur Verfügung
gestellt wird, senkt er dann am 1. Januar 2003 die Tabaksteuer wieder, weil er dieses Geld nicht mehr braucht, da
es nur für diesen einmaligen Fall war?
({6})
Ich möchte etwas zu den Personalien sagen. Die Süddeutsche Zeitung hat gestern angesichts der Tatsache,
dass der Generalinspekteur gehen muss, weil er seit vielen Monaten die Wahrheit sagt, den Verteidigungsminister einen Minister für Verschleiß genannt.
Verteidigungsminister Scharping kann sich nun
schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage
glücklich preisen, dass angesichts der Weltlage manches zur Nebensache verkommt. Nach der heftigen
Debatte um seine Fluglust und andere Leidenschaften betrifft dies nun den Fortgang seines Generalinspekteurs zur NATO nach Brüssel.
Dem kann man nichts mehr hinzufügen, außer der Feststellung, dass es offensichtlich so ist: Wer die Wahrheit
sagt, muss gehen.
Das deutet darauf hin, dass an der Spitze der Hardthöhe
nach wie vor gewisse Wahrnehmungsprobleme bestehen;
sonst würde der Minister nicht kurz nach der geplanten
Erweiterung der internationalen Einsätze für Mazedonien
erklären, er hoffe, dass dieses Mal nicht so viele Probleme
mit der Opposition wie beim letzten Mal entstehen würden. Offensichtlich hat er die Opposition in den eigenen
Reihen gemeint. Erst auf unseren Druck hin wurden die
Mittel für den Mazedonieneinsatz erhöht. Jetzt ist deutlich
geworden, dass unsere Warnungen berechtigt waren.
Ich möchte etwas zu der Frage sagen, welche Notwendigkeiten wir sehen. Wir sagen: Die 1,5 Milliarden DM
sind besser als nichts, aber nur die Hälfte dessen, was gebraucht wird, um der Bedrohung durch den Terrorismus
entgegentreten zu können. Wir brauchen mehr Mittel für
den strategischen Transport, für Führungsfähigkeit und
für Aufklärung. Alle drei Dinge müssen ebenso wie der
Schutz der Soldaten und die Absicherung der Anlagen der
Streitkräfte verbessert werden.
Zum Sofortbedarf gehört aber auch, dass endlich die
Mittel zur Verfügung gestellt werden, die gebraucht werden, um die Truppe in die Lage zu versetzen, Einsätze zu
fliegen. Wenn heute ein Luftwaffenpilot nur noch
150 Flugstunden absolviert, aber 180 Flugstunden vorgesehen sind, dann zeigt dies, in welcher Situation sich die
Bundeswehr nach drei Jahren befindet.
Lassen Sie mich eine letzte Anmerkung zum Thema
GEBB und zur Einnahmesituation machen. In den Vorlagen, die ich gestern bekommen habe - sie beinhalten eine
Korrektur des Verteidigungsetats für das nächste Jahr und
veränderte Beratungen -, gibt es eine so genannte PlusMinus-Liste. In dieser steht, dass der Verteidigungsminister offensichtlich vorhat, die Kasernen an eine bundeswehreigene Gesellschaft zu verkaufen, um sie dann
wieder zurückzumieten. Aus den Verkaufserlösen möchte
er Beschaffungen tätigen. Ich sage ganz deutlich, was das
ist: Das ist eine verfassungswidrige Kreditaufnahme, die
am Haushalt vorbeigeht. Das ist unzulässig. Dies wird unseren erheblichen Widerstand finden, wenn wir darüber
beraten werden.
Schließen Sie sofort diese unsägliche GEBB! Sparen
Sie damit Mittel ein! Der Finanzminister hat um Vorschläge gebeten, wo man sparen kann. Hier lassen sich jedes Jahr 30 Millionen DM für die Untätigkeit sparen, die
dort demonstriert wird.
So kann man den Verteidigungsetat meines Erachtens
nicht umsetzen.
({7})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Frau Präsidentin,
ich möchte schließen: Ein Umbau der Bundeswehr zur Erfüllung der zukünftigen, immer umfangreicheren internationalen Aufgaben wird mit den Entscheidungsabläufen
der letzten drei Jahre und der zu geringen Finanzausstattung nicht möglich sein. Mehr Mittel, aber auch die Haushaltsberatungen sind notwendiger denn je; denn ohne
mehr Geld und wichtige Korrekturen können wir dem
Verteidigungsetat auch diesmal nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Auch wenn es eine
spannende Debatte ist, möchte ich darauf hinweisen, dass
die Redezeiten, die Sie vor sich sehen, einzuhalten sind.
Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Moosbauer,
SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Anschluss an die Rede von Herrn
Austermann möchte ich zunächst sagen, dass ich zum
Einzelplan 05 spreche und nicht zum Verteidigungshaushalt.
({0})
Ich habe den Eindruck, dass Außenpolitik von der Opposition immer nur als Teilbereich der Verteidigungspolitik
gesehen wird.
Herr Irmer, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede gesagt, Sie
seien sehr besorgt über einzelne Stimmen, die nun laut werden, und haben dies als Konzert, das teilweise surreale Züge
annimmt, kritisiert. Ich darf Sie daran erinnern, dass einer
dieser - in diesem Zusammenhang zitiere ich Sie - Scharlatane, die ein unverantwortliches Geschrei anstimmen, mit
Ihrer Hilfe auf den Posten des Innensenators von Hamburg
gehievt wird. Auch das dürfen Sie nicht vergessen.
({1})
Sie wissen, dass im Zusammenhang mit den Vorkommnissen vom 11. September auch eine unverantwortliche
innenpolitische Debatte geführt wird.
({2})
- Ich erlaube mir das Gleiche, was auch Sie sich erlauben.
Wahrscheinlich haben Sie in dem Bewusstsein, dass
die außenpolitische Bilanz dieser Bundesregierung kaum
zu kritisieren ist, auf Nebenschauplätze abgelenkt. Ich
meine mit der Bilanz nicht nur das beeindruckende und
von allen Seiten des Hauses in den letzten Tagen zu Recht
mit Respekt bedachte Vorgehen in der aktuellen Krise. Ich
denke vor allem auch an die beharrlichen Bemühungen
unseres Kanzlers und unseres Außenministers, um dem
politischen Prozess in Südosteuropa und dem Nahen
Osten immer wieder neue Impulse zu geben.
({3})
Wenn wir in diesen Tagen über Außenpolitik sprechen,
sprechen wir natürlich immer auch über die momentane
Krise, die an die auswärtige Politik sowie an internationale
Strukturen insgesamt eine neue Herausforderung stellt. Die
Spuren der furchtbaren Anschläge von New York und Washington reichen - nach allem, was wir bislang wissen auch und vor allem in den Nahen und Mittleren Osten, und
zwar personell, finanziell, logistisch und politisch.
Viele Menschen sagen, dass der Kernkonflikt im Nahen Osten, also der Konflikt zwischen Israel und den
Palästinensern, eine der Ursachen für den mörderischen
Anschlag auf die Vereinigten Staaten war. Im Umkehrschluss denken viele Menschen, dass das Problem des internationalen Terrorismus und des politisch missbrauchten religiösen Fundamentalismus durch eine gerechte
Lösung des israelisch-arabischen Konflikts gelöst werden
kann. Ich halte das für eine etwas kurzsichtige Analyse der
Ursachen der neuen Form des Terrorismus, mit der wir
uns konfrontiert sehen.
In der Behauptung steckt aber auch ein wahrer Kern:
Eine Friedenslösung für den mittlerweile über ein halbes
Jahrhundert andauernden Konflikt ist nicht nur ein Wert
an sich, sondern trägt auch zur Entflechtung von internationalen Konfliktstrukturen bei.
({4})
Die Suche nach einer Friedensregelung muss Teil einer
Strategie gegen weltumspannenden Terrorismus und seine
Ursachen sein.
Aus diesem Grunde danke ich Ihnen, Herr Bundesaußenminister, dass gerade Sie für ein starkes deutsches
Engagement im Nahen Osten stehen.
({5})
Wer sich mit dieser Region beschäftigt, weiß, dass die
deutsche Politik - zusammen mit unseren europäischen
Partnern - zu einer konstruktiven Kraft im Nahen Osten
geworden ist, und das nicht, wie früher vielfach befürchtet, in Konkurrenz zu unseren amerikanischen Freunden,
sondern gerade ergänzend dazu.
({6})
An dieser Stelle darf ich Ihnen, Herr Außenminister,
nicht nur für Ihren konstruktiven Beitrag danken, sondern
Sie auch dazu auffordern, hier nicht nachzulassen.
({7})
Jeder Beitrag, der Israelis und Palästinensern jetzt hilft,
miteinander ins Gespräch zu kommen, ist ein vermittelnder
Beitrag, ob wir das nun so nennen oder nicht. Wichtig ist
weniger, wie wir unsere Rolle definieren, sondern vielmehr, wie sie von unseren Partnern gesehen wird. Eine solche vermittelnde Rolle birgt viel Verantwortung in sich und
diese Regierung hat diese Verantwortung angenommen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, ich spreche für
uns alle, wenn ich sage, dass ich froh bin, dass heute das
seit langem notwendige Treffen zwischen Schimon Peres
und Yassir Arafat endlich stattgefunden hat.
({8})
Vielleicht bewahrheitet sich hier die in den letzten Tagen
viel bemühte Formel, dass in jeder Krise auch eine
Chance steckt.
Ich bin dankbar, dass im vorliegenden Haushalt zum
Beispiel die Beiträge an das Hilfswerk der Vereinten Nationen für die Palästinenser in hohem Umfang berücksichtigt werden. Auch dadurch - das wissen wir; das ist
vielfach gesagt worden - wird der Nährboden für Radikalismus ausgetrocknet. Von daher ist dieser präventive
Ansatz wichtig. Ich hoffe, dass es uns im Laufe dieses parlamentarischen Verfahrens gelingt, diese Hilfe sogar noch
aufzustocken. Wenn wir jetzt darüber reden, Terrorismus
zu bekämpfen, dürfen wir nicht vergessen, den Ursachen
für zukünftigen Terrorismus präventiv zu begegnen.
({9})
Lassen Sie mich noch kurz einen für mich wichtigen
Punkt ansprechen: die Vereinten Nationen. Der Anschlag vom 11. September wird auch für die Arbeit der
Vereinten Nationen eine Zäsur sein. Eine vom überwiegenden Teil der Staatengemeinschaft getragene Strategie
gegen den Terrorismus muss auch in der Arbeit der Vereinten Nationen ihren Niederschlag finden. Der Sicherheitsrat hat einen Tag nach den Anschlägen in den USA zu
Recht festgestellt, dass derartige Terrorakte eine Gefährdung des Weltfriedens darstellen. Wir sollten alles unternehmen, um im Kampf gegen diese Gefährdung das System der Vereinten Nationen zu stärken.
({10})
In diesem Zusammenhang danke ich den amerikanischen Kongressabgeordneten dafür, dass sie jetzt den
Weg für ausstehende Zahlungen der USA an die Vereinten Nationen frei gemacht haben. Das ist gerade jetzt ein
wichtiges Zeichen.
({11})
Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren konnte
man zumindest auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik mitunter eine Bewegung weg vom System der Vereinten
Nationen beobachten. Von daher begrüße ich auch im
Hinblick auf die neuen Aufgaben, die auf die Weltgemeinschaft zukommen, jeden Versuch, die Vereinten Nationen zu stärken. Das erfolgreiche Bemühen der Bundesregierung um die Nachfolgemission von Essential
Harvest in Mazedonien ist eine solche Unterstützung
und damit auch eine Stärkung des UN-Systems.
({12})
Wie schon während des Kosovo-Krieges ist es die deutsche Regierung, die auf eine breite Legitimation durch die
internationale Staatengemeinschaft gesetzt hat.
Meine Damen und Herren, an diesen beiden Punkten
- Nahost und Vereinte Nationen - sehen wir exemplarisch
die Grundelemente der Außenpolitik dieser Bundesregierung: Realitätssinn und Engagement, Verantwortungsbewusstsein und Augenmaß. Wir sind gut beraten, diese Politik zu unterstützen.
({13})
Ich erteile das Wort
dem Verteidigungsminister, Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Lichte
der Tragödie von Washington und New York wird zu
Recht die Frage gestellt, was die internationale
Staatengemeinschaft zu tun in der Lage ist, um ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten, und welchen Beitrag
die Europäer und mit ihnen die Bundesrepublik Deutschland dazu leisten können. Ein Teil - ich sage ausdrücklich:
ein Teil - dieser Antwort wird militärisch sein. Das wirft
die Frage nach den Fähigkeiten der Bundeswehr auf: denen, die sie hat, und denen, die mit der Erneuerung der
Bundeswehr entwickelt, ausgebaut, zum Teil neu erworben werden sollen.
Die Antwort der internationalen Staatengemeinschaft,
der zivilisierten Welt soll eine gemeinsame und umfassende sein. In dem für manche möglicherweise überraschenden Verhalten der Amerikaner, sich in der NATO, in
den Vereinten Nationen und weltweit um eine gemeinsame Antwort zu bemühen, steckt eine enorme Chance.
Die Gemeinsamkeit der Antwort hat mit ihrem umfassenden Charakter ebenso zu tun wie der umfassende Charakter mit der gemeinsamen Antwort. Das ist unauflöslich
miteinander verbunden. Weil das so ist, sollten wir uns in
Deutschland - der Bundestag erliegt dieser Versuchung ja
etwas weniger als manche Berichterstatter - von der Gefahr
frei halten, diese Antwort auf ihren militärischen Anteil zu
verkürzen oder diesem Anteil eine Dominanz zuzuweisen,
die er mit Blick auf Politik weder hat noch beansprucht. Ich
halte es für außerordentlich wichtig, dass wir dies immer in
Rechnung stellen; denn es wäre eine völlige Überforderung
auch des Militärischen, zu glauben, dass die Maßnahmen
am Ende einer langfristigen Entwicklung, die in diesem
Falle noch durch eine sich auf fürchterliche Weise terroristisch austobende Gewalt beschleunigt wird, greifen könnten und dass diese dann militärischer Natur seien. Das muss
viel früher beginnen. Krisenprävention ist kein Widerspruch zur Krisenreaktion, wie auch umgekehrt Krisenreaktion nie zum Ersatz oder zum Gegenteil notwendiger
Prävention gemacht werden darf.
({0})
In der Debatte besteht eine doppelte Gefahr: Eine Haltung besagt, es werde ausreichen, wenn wir in fast sozialarbeiterischer Weise präventiv vorgingen. Das reicht aber
nicht; denn diese Haltung übersieht, dass Menschen, Organisationen, Finanzstrukturen und vieles andere leider so
ausgerichtet sind, dass sie sich gewalttätig und terroristisch zur Geltung bringen. Dem ist mit einem so präventiv gedachten Ansatz nicht mehr beizukommen.
Umgekehrt müssen aber die Maßnahmen der Reaktion
auch so angelegt sein, dass andere Maßnahmen, die im
umfassenden, eher präventiven Sinne erforderlich sind
und bleiben - der Dialog zwischen Kulturen und Religionen, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,
Bewahrung von Lebensgrundlagen, Förderung von
Rechtsstaatlichkeit -, durch die Art der Reaktion nicht
diskreditiert und in Zweifel gezogen werden können.
Ausgehend von diesen grundsätzlichen Erwägungen
mache ich zunächst deutlich, dass die Erneuerung der
Bundeswehr von Grund auf, das Gesetz über die Neuausrichtung der Bundeswehr und der Haushalt in diesem
Konzept einen untrennbaren Zusammenhang bilden. Es
darf nicht übersehen werden, dass die Erneuerung der
Bundeswehr von Grund auf der veränderten sicherheitspolitischen Lage unseres Landes und den sich daraus ergebenden Anforderungen an gemeinsame - dieses Wort
unterstreiche ich ausdrücklich - Sicherheit Rechnung
trägt.
Dies ist deswegen so wichtig, weil eine gewisse Gefahr
besteht - ich bemerke dies auch an der einen oder anderen Bemerkung in diesem Hause -, dass einiges aus dem
Blick gerät, was nicht aus dem Blick geraten sollte. Unverändert sind die geistigen Grundlagen der Bundeswehr: innere Führung, das Leitbild des Staatsbürgers in
Uniform. Unverändert ist und bleibt auch der Verfassungsauftrag der Streitkräfte: Landesverteidigung und
Gewährleistung gemeinsamer Sicherheit im Bündnis.
Allerdings bedeutet Landesverteidigung unter den veränderten sicherheitspolitischen Umständen den Erwerb oder
die Entwicklung von Fähigkeiten, die auch in der Krisenprävention wie in der Krisenreaktion eingesetzt werden
können; dies rufe ich ausdrücklich ins Gedächtnis zurück.
Dies war der Grund dafür, dass innerhalb der NATO im
April 1999 einige Festlegungen getroffen worden sind,
aus denen sich ableiten lässt, was mit der Neuausrichtung
der Bundeswehr verbunden ist. Das schließt die Antwort
oder die Fähigkeit zur Antwort auf neue Herausforderungen, Gefahren und Bedrohungen ein; der Terrorismus ist
ausdrücklich erwähnt.
Diejenigen, die jetzt sagen, wir bräuchten gewissermaßen eine Reform der Reform, laufen ein enormes Risiko: das Risiko des Sonderwegs und der Verabschiedung
aus den gemeinsam getroffenen Festlegungen, die bis in
die Fähigkeitenkataloge der NATO und übrigens auch der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik reichen. Das
ist ein Risiko, das Deutschland nicht eingehen darf und
auch nicht eingehen wird.
Vor diesem Hintergrund sagen dann einige: Mag sein,
dass die Reform insgesamt richtig angelegt ist, aber manches muss schneller getan werden. - Dem stimmt die
Bundesregierung - nicht zuletzt der Verteidigungsminister - ausdrücklich zu: Es muss einiges schneller getan
werden, als ursprünglich beabsichtigt.
Ohne jetzt auf alle Einzelheiten einzugehen, will ich
doch sagen, dass mit jenen 1,5 Milliarden DM, über die
hier auch gesprochen worden ist, die Fähigkeit zum
Schutz des eigenen Landes, der Bündnispartner und der
eigenen Soldaten schneller als ursprünglich gedacht verbessert werden muss, dass die Fähigkeit zur Aufklärung
und Führung - Letzteres insbesondere über längere Distanzen und Zeiträume - schneller verbessert werden muss
als gedacht, dass bestimmte Kapazitäten in der Ausbildung erhöht werden müssen - das betrifft besonders die
Flugstunden - und dass im Übrigen auch Verbesserungen
im personellen Bereich schneller erfolgen müssen als gedacht, ob sie nun Wehrübungsplätze oder einen schnelleren Aufwuchs in bestimmten Bereichen betreffen, in denen es in der Bundeswehr Engpässe gibt, etwa bei
Spezialisten im IT-Bereich, im Fernmeldebereich und anderenorts.
Daraus ergibt sich auch - das sage ich mit Blick auf
manche Bemerkung hier in diesem Hause -, dass das
keine Sache für ein Jahr ist. Dazu sind langfristig angelegte Bemühungen erforderlich, die nicht in eine einmalige, auf ein Jahr konzentrierte finanzielle Anstrengung
münden können und münden werden. Das ist völlig klar.
({1})
Es geht also nicht darum, die konzeptionellen Grundlagen der Erneuerung der Bundeswehr neu zu diskutieren. Wer dies tut, verabschiedet sich nicht nur aus gemeinsamen Festlegungen im Bündnis und in der
Europäischen Union und geht das beschriebene Risiko
ein; er ruiniert auch einen sehr dynamisch fortschreitenden Prozess und damit das Vertrauen innerhalb der Streitkräfte selbst. Ich sage das in aller Deutlichkeit: Man kann
sich im politischen Raum und im parteipolitischen Streit
vieles denken, aber eines darf nicht geschehen:
({2})
Das Vertrauen in die Fähigkeiten, in die Klarheit der Auftragserfüllung und in deren Gewährleistung darf in den
eigenen Streitkräften im Interesse der Sicherheit unseres
Landes und des Beitrages zu weltweiter Stabilität nicht
ruiniert werden.
({3})
Ich hatte bereits gesagt, dass der militärische Teil einer
Antwort auf die Herausforderungen des Terrorismus notwendig ist, aber nicht mit der ganzen Antwort verwechselt werden darf. Ich kann das hier schon allein aus
Zeitgründen, die nicht mit meiner Redezeit, sondern mit
der Sitzung der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel
zu tun haben, nicht im Einzelnen ausführen, aber ich will
doch noch zwei Hinweise geben, die das deutlicher machen.
Erstens. In der gegenwärtigen Debatte spielen Regionen auf der Erde eine Rolle, die wir nicht ausschließlich
als Heimat oder Schutzräume von Terroristen wahrnehmen sollten. In dieser wenige hundert Kilometer breiten
Ellipse rund um das Kaspische Meer, in den mittelasiatischen Staaten, befinden sich für die weltwirtschaftliche
Stabilität entscheidende natürliche Ressourcen. Leider
verbindet sich das in diesen Staaten mit einer hochkomplizierten und auch explosiven Mischung, die bestimmt
wird von dem Besitz von oder dem Streben nach Massenvernichtungswaffen, von religiösem Fanatismus, ethnischem Hass und manch anderem.
Vor diesem Hintergrund wird ganz offenkundig, dass
mit Blick auf die Staaten dieser Region eine militärische
Antwort an die Adresse Afghanistans - das ist meine Prognose - wohl notwendig sein wird. Aber wir dürfen dabei
nicht stehen bleiben. Wir dürfen zu keinem einzigen Zeitpunkt aus den Augen verlieren, dass die langfristige
Eingliederung dieser Staaten in die zivilisierte Welt in unserem eigenen sicherheitspolitischen wie wirtschaftspolitischen Interesse liegt.
({4})
Zweitens. Der Herr Bundesaußenminister hat in seinen
Bemerkungen auf Nordafrika aufmerksam gemacht. Dabei geht es nicht nur um das Schrecknis der 100 000 in den
letzten Jahren in Algerien Umgebrachten; es geht auch um
die Tatsache, dass sich die Bevölkerung in Nordafrika in
überschaubar kurzer Zeit verdreifachen wird und heute
schon absehbar ist, dass jede unterlassene Investition in
die Bewahrung von Lebensgrundlagen, in die Stärkung
von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und in die Förderung des Verständnisses von Kulturen und Religionen
in Zukunft als moralische Verantwortung und übrigens
auch als Migrationsdruck auf uns lasten wird.
({5})
Wenn das soeben beendete Treffen zwischen Arafat und
Peres - wie man hört - in der nächsten Woche fortgesetzt
wird, dann ist das mit Blick auf den Zusammenhang, den
wir hier diskutieren, ein ausgesprochen wichtiges Signal
und es bestätigt die Bemühungen der Bundesregierung
- namentlich des Kanzlers und des Außenministers -, eine
Eskalation des Nahostkonflikts zu vermeiden - wegen
der Menschen, die dort leben, wegen unserer eigenen Verantwortung, aber auch, weil wir wissen, dass eine Eskalation des Nahostkonflikts zum Ferment in den arabischen
Gesellschaften werden könnte, zum Katalysator, der die
zurzeit relativ isolierten terroristischen Bestrebungen in
den arabischen Gesellschaften in einen falschen Zusammenhang stellen, eine falsche Solidarität bewirken
könnte. Eskaliert der Nahostkonflikt, dann besteht die Gefahr, dass der Terror mit dem verwechselt wird, was manche zu signalisieren versuchen, nämlich einem Kampf
zwischen Kulturen oder Religionen. Das hätte gefährliche
Folgen nicht nur in der arabischen Welt.
({6})
Was nun Mazedonien angeht, Herr Kollege Rühe, so
ist es doch für eine Einbringungsrede ungewöhnlich, dass
man versucht, auf eine Debatte einzugehen. Wir müssen
doch die in Mazedonien erreichten Erfolge nicht kleinreden, um uns gegenseitig zu bestätigen, dass wir noch nicht
am Ende des Weges sind.
({7})
Ich entsinne mich der Diskussion sehr gut und will jetzt
gar nicht auf die einzelnen Punkte eingehen, die in anderen Debatten eine Rolle spielen mögen. Heute scheint mir
das eine etwas zu kleine Münze zu sein.
Was haben wir erreicht, und zwar entgegen mancher
skeptischen, vorsichtigen - was ja berechtigt ist - und, wie
ich finde, hier und da die vorsichtige Skepsis auch übertreibenden Vermutung, sodass man fragen müsste, ob das
wirklich Vorsicht und Skepsis waren oder nicht etwas anderes? Wir haben erreicht, dass der Prozess des Waffeneinsammelns erfolgreich abgeschlossen worden ist. Es geht
aber nicht nur um den Prozess des Waffeneinsammelns allein; er ist zugleich eine unabdingbare Voraussetzung für
den Wiederaufbau von Vertrauen zwischen Bevölkerungsgruppen und für die Vermeidung des Bürgerkriegs.
({8})
Im Übrigen argumentieren Sie nicht ganz korrekt - ich
drücke mich höflich aus -, wenn Sie sagen: Aber der Verfassungsreformprozess ist ja noch gar nicht abgeschlossen. Erstens stimmt das und zweitens haben wir von Anfang an
die Absicht verfolgt - so verliefen alle Planungen -: erst das
Waffeneinsammeln, dann der Prozess der abschließenden
dritten Lesung der Verfassungsreform im mazedonischen
Parlament. Das wird hoffentlich auch gelingen. Dann ist einiges im Interesse umfassender Sicherheit zu tun. Ich hoffe,
dass wir heute - die Voraussetzungen sind leider noch nicht
ganz erfüllt - in der Bundesregierung und dann auch im
Deutschen Bundestag die entsprechenden Entscheidungen
treffen können.
({9})
Vor diesem Hintergrund wird vielleicht auch die Notwendigkeit der Ableitung der Fähigkeiten der Bundeswehr
der Zukunft und ihrer haushaltsmäßigen Absicherung
deutlich. Ich sage auch mit Blick auf manche skeptische
Bemerkung aus den Reihen der Opposition, dass die finanzielle Absicherung dieser Reform - da bin ich mit
Hans Eichel und anderen völlig einig - auch eine Reform
der wirtschaftlichen Prozesse erfordert, nicht in der Form,
wie es der Kollege Austermann unterstellt - so blöd wird
keiner sein -, sondern so, dass man aus den wirtschaftlichen Prozessen jene Mittel gewinnt, die notwendig sind,
um die Finanzierung zusätzlich erforderlicher - völlig unbestreitbar notwendiger - Investitionen bei der Bundeswehr gewährleisten zu können.
({10})
Das werden wir schaffen. Vor diesem Hintergrund bitte
ich Sie - ich kann nicht sagen, um Ihre Zustimmung -, die
Beratungen so zu führen, dass im Hinblick auf die Zielorientierung - nämlich Sicherheit des eigenen Landes,
seiner Partner und Freunde, weltweite Stabilität - der
auch den Fähigkeiten der Bundeswehr angemessene Beitrag geleistet werden kann, statt der Versuchung zu erliegen, in einer so herausfordernden Situation das parteipolitische Kleinklein zu pflegen. Das ist unangemessen. Wir
können uns intelligent und sachlich streiten. Nicht jede
Bemerkung, die ich von der Opposition gehört habe, ist
nach meinem Urteil diesem Anspruch gerecht geworden.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Paul Breuer von der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle fest, Herr
Minister Scharping, dass weite Teile der Rede, die Sie gerade hier gehalten haben, nicht an das ganze Haus adressiert waren, sondern im Wesentlichen
({0})
Beschwörungsformeln für eine Unterstützung durch die
rot-grüne Koalition gewesen sind.
({1})
Sie haben auch allen Grund, das zu tun. Sie warnen vor einer Reform Ihrer Reform. Das sind Forderungen, die nicht
aus der Opposition kommen;
({2})
das sind Forderungen, die von der rot-grünen Koalition an
Sie gerichtet werden und die zeigen, dass Vertrauen für
Sie und Ihre politischen Bemühungen in dieser rot-grünen
Koalition derzeit nicht besteht.
({3})
Der Deutsche Bundestag muss feststellen, dass zum
ersten Mal in der Geschichte der NATO der Bündnisfall
bevorsteht. 50 Jahre nach Gründung der NATO ist das
eine historisch einmalige Situation. Der Deutsche Bundestag muss auch feststellen, dass die Bundeswehr - und
zwar nach den Worten des Verteidigungsministers - zum
Zeitpunkt der Feststellung des Bündnisfalles nicht voll
bündnisfähig ist. Die erste Aufgabe des Deutschen
Bundestages und dieser Bundesregierung muss sein, die
Bündnisfähigkeit der Bundeswehr so schnell und so wirksam wie irgend möglich herzustellen.
({4})
Wenn wir uns damit auseinander setzen, wie die Bündnisfähigkeit herzustellen ist, dann kommen wir nicht umhin festzustellen, dass in den letzten drei Jahren durch die
Aktivitäten dieser Bundesregierung erhebliche Defizite in
Bezug auf die Bündnisfähigkeit entstanden sind
({5})
und entschlossenes Handeln insbesondere in Bezug auf
die Modernisierung und die Ausrüstung der Bundeswehr
ausgeblieben ist.
({6})
Wenn in diesen Stunden darüber diskutiert wird, ob Herr
Scharping mehr Geld für die Bundeswehr bekommen soll,
dann muss Ihnen klar werden, dass es an sich skandalös
ist, dass es der Terroranschläge von New York und Washington bedurfte, Sie darauf hinzuweisen, dass man die
Bundeswehr nicht bündnisunfähig lassen kann.
({7})
Ich zitiere aus der Süddeutschen Zeitung vom heutigen Tage - Sie können nicht behaupten, dass Christoph
Schwennicke, der diesen Kommentar geschrieben hat,
({8})
besonders freundlich mit der Union umgehen würde -:
Die Bundeswehr ist nachweislich unterfinanziert, sie
war es vor dem 11. September, sie ist es nach dem
11. September.
({9})
Doch erst das Inferno von New York hat die Denkblockaden gelöst: ein Armutszeugnis für den sicherheitspolitischen Sachverstand in dieser Bundesregierung.
({10})
Wenn die Flugzeugbomben in den USA offenkundig
Nachhilfeunterricht der schrecklichsten Art geliefert
haben, sollte die neue Einsicht gleich einen Schritt
weiter reichen. Ein klarer Wehretat tut dringend Not.
({11})
Dem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
dem Bündnis 90/Die Grünen, ist nichts hinzuzufügen.
({12})
Was die Klarheit des Wehretats angeht, muss ich allerdings feststellen, dass diese nach wie vor nicht gegeben
ist. Ich kann den bisherigen Äußerungen in der Öffentlichkeit, Herr Kollege Scharping, nur entnehmen, dass
eine Aufstockung des Verteidigungsetats wohl nicht erfolgen wird. Das stelle ich einmal völlig unabhängig von
der Frage fest, wie dieser Finanzierungsbedarf gedeckt
werden soll. Dazu ist heute Morgen in der Debatte genügend gesagt worden. Diese 1,5 Milliarden DM sollen
nicht dem Verteidigungsetat zugeführt werden, sondern
sollen im Einzelplan 60 verbleiben.
({13})
Das lässt zweierlei Schlüsse zu:
Erstens lässt das den Schluss zu, dass eine kontinuierliche Finanzausstattung des Verteidigungsetats für Sie
nach wie vor nicht zur politischen Debatte steht.
({14})
Das lässt zweitens den Schluss zu, dass sich offenbar
der Finanzminister vorbehält, den Verteidigungsminister
im Hinblick auf seine Bemühungen zu kontrollieren. Das
ist skandalös in dieser Situation.
({15})
Im Übrigen lässt das darauf schließen, dass die Autorität und der Einfluss des Verteidigungsministers, der in
der Bundeswehr als völlig verschlissen gilt,
({16})
auch innerhalb der rot-grünen Koalition und innerhalb
der Bundesregierung nicht mehr weiter gesenkt werden
können.
({17})
Wenn es nämlich in einer solchen Situation, wie wir sie
heute haben, nicht möglich ist, unzweideutig über den
Verteidigungsetat zu reden und ihn zu beschließen,
beschreibt das letztlich nichts anderes als die Handlungsunfähigkeit einer Regierung.
({18})
Die 1,5 Milliarden DM, um die es hier geht, lösen nicht
die Probleme des Verteidigungsetats.
({19})
Der Verteidigungsetat benötigt, damit wir aus der Unterfinanzierung herauskommen
({20})
sowie eine Rationalisierung und Modernisierung der
Bundeswehr überhaupt vornehmen können - das sind
Verlautbarungen aus dem Hause des Verteidigungsministers, zum Beispiel vom Generalinspekteur -,
({21})
für das kommende Jahr einen Betrag in der Größenordnung von 2,5 bis 3 Milliarden DM, im Übrigen mit steigender Tendenz.
({22})
Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Wähler in
unserem Lande sehr genau anschauen werden,
({23})
in welcher Art und Weise der Deutsche Bundestag mit diesem Haushaltsentwurf, der noch dazu völlig unklar ist, in
den kommenden Wochen umgehen wird. Ich appelliere an
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den
Grünen: Sorgen Sie tatkräftig mit dafür, dass die Bundeswehr tatsächlich einen Beitrag im Rahmen der internationalen Bemühungen und insbesondere der Bündnisbemühungen leisten kann, wenn gegen den Terror in der
Welt vorgegangen wird.
({24})
Davon sind wir leider derzeit weit entfernt.
({25})
Bei der Korrektur der Reform, Herr Minister
Scharping, geht es nicht um eine Reform der Reform. Es
geht darum, festzustellen, dass in einigen Bereichen die
zeitlichen Prioritäten verschoben werden müssen. Wir
müssen alles dafür tun, dass die Bundeswehr schneller
ihre Reaktionsfähigkeit und Einsatzfähigkeit gewinnt,
als dies in Ihrer Reform geplant war. Wir müssen einiges
dafür tun,
({26})
dass die Bundeswehr zusätzliche Fähigkeiten zum Antiterroreinsatz bekommt. Wenn Sie, Herr Kollege Kahrs, in
Ihren dümmlichen Zwischenrufen
({27})
fragen: Wieso wir?, dann sage ich Ihnen darauf: Ich
finde, dass die Opposition dafür genauso viel Verantwortung trägt wie Sie. Nehmen Sie bitte die Signale auf, die
von dieser Opposition kommen. Ich habe den Eindruck,
dass die Opposition dieser Verantwortung zum Teil in
größerer Art und Weise Rechnung trägt als Ihre Koalition.
({28})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gedacht, dass
wir angesichts der dramatischen Folgen des Anschlages
am 11. September dieses Jahres vielleicht endlich einmal
alte Schützengräben verlassen und versuchen würden,
den vor uns liegenden Aufgaben gerecht zu werden.
({0})
Ich sage das, Herr Kollege Breuer, weil ich davon ausgehe, dass sich die außen- und sicherheitspolitischen Parameter mit den grausamen Terrorangriffen, mit dem
Massenmord an der Zivilbevölkerung in New York und
dem Anschlag in Washington, grundlegend verändert haben. Ich glaube, dass es Zeit ist, Politik- und Sicherheitskriterien in allen Bereichen auf den Prüfstand zu
stellen. Ich bin mir in einem ganz sicher: Allein mit Ihrer
jahrelang erhobenen Forderung nach mehr Geld werden
Sie den aktuellen Problemen in keiner Weise gerecht.
Unsere Regierung hat gehandelt. Wir haben das Geld
für die jetzt notwendigen Maßnahmen zur Verfügung gestellt. Wir werden über das weiter diskutieren, was in allen Bereichen noch notwendig ist. Der Vorschlag - das ist
ein Griff in die Mottenkiste -, man könne jetzt einfach unsere Verfassung infrage stellen, um den Einsatz der Bundeswehr im Inland zu ermöglichen - das wäre eine Vermischung der Gewaltmonopole -, stößt bei uns auf strikte
Ablehnung. Das ist keine Antwort auf die Frage nach den
notwendigen Reformen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit.
Herr Kollege Breuer, ich möchte Ihnen angesichts der
beeindruckenden gestrigen Rede von Putin in diesem
Hause noch eines sagen: Herr Putin hat gesagt, der
11. September 2001 habe dazu geführt, dass auch in
Russland die Letzten verstanden hätten, dass der Kalte
Krieg beendet sei. Das scheint auf Sie leider nicht zuzutreffen.
Wir müssen jetzt die Diskussion über die sicherheitspolitischen, außenpolitischen, aber auch über die präventiven Maßnahmen führen. Ich gebe zu, dass in meiner
Partei eine heftige Grundsatzdebatte ({1})
sie ist notwendig und wird auch in unserer Gesellschaft
geführt - darüber entbrannt ist, welche Mittel und Instrumente als Antwort auf die unglaublichen Terroranschläge
in den USA adäquat sind. Es geht dabei nicht nur um die
Forderung nach mehr Geld. Vielmehr geht es auch um die
Fragen: Können wir mit begrenzten militärischen Schlägen gegen Terroristenzentralen weitere Anschläge verhindern? Können wir aus der Angst und Sprachlosigkeit heraus - das zuzugeben ist wohl legitim - die Instrumente
der inneren und äußeren Sicherheit überprüfen und
verbessern, ohne unseren Rechtsstaat und unsere Grundwerte infrage zu stellen? Dieser Aufgabe wollen und werden wir uns stellen.
Wir müssen aber einsehen, dass herkömmliche militärische Mittel nicht reichen. Wir alle wissen doch - das
macht uns auch sprachlos -, dass der Terrorismus nicht
mit einem Militäreinsatz besiegt werden kann. Die Diskussion über einen erweiterten Sicherheitsbegriff werden
wir führen. Es geht mir dabei überhaupt nicht um eine Reform der Reform. Vielmehr geht es mir bei der Debatte
über den erweiterten Sicherheitsbegriff um die Stärkung
der Entwicklungspolitik, die Bekämpfung der Armut und
die Perfektionierung unserer Instrumente zur Verhinderung der Proliferation von biologischen und chemischen
Waffen. Ich denke, dass nicht nur die Wissenschaftler,
sondern auch wir gut daran tun, das Rad nicht neu zu erfinden. Wir sollten vielmehr die Sicherheitsanalyse von
Richard von Weizsäcker und anderen noch einmal zurate
ziehen, um Antworten für die Zukunft zu finden.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass wir
auch an die Interessen unserer Soldatinnen und Soldaten
denken müssen. Es ist für die Soldaten sicherlich schwer
auszuhalten, sich in einem laufenden Reformprozess, den
wir beschlossen und eingeleitet haben, immer wieder vor
neue Anforderungen gestellt zu sehen, wenn das Parlament den entsprechenden Auftrag erteilt, und diese wie in
der Vergangenheit immer wieder hervorragend zu meistern. Ich glaube, es ist gerechtfertigt, dass die Soldatinnen
und Soldaten fragen, welchen Risiken sie und ihre Familien in Zukunft ausgesetzt sein werden, wenn sie ihren Beruf weiter ausüben. Aufgabe des Parlaments und der Regierung ist es, die Risiken für die Soldaten mit allen
Mitteln zu reduzieren und ihnen Sicherheit zu geben, wo
sie erforderlich ist, egal, ob es sich um Amber Fox, das
Folgemandat für Mazedonien, oder um eine militärische
Beteiligung im Rahmen der Terrorismusbekämpfung handelt.
Liebe Soldatinnen und Soldaten, liebe Kolleginnen
und Kollegen, dies ist der Zeitpunkt, in dem der Bundestag eine verantwortliche Debatte über die zukünftigen
Aufträge der Bundeswehr führen und entsprechend entscheiden wird. Genauso verantwortlich werden wir jenseits jeder Demagogie oder alter Schützengräben dafür
Sorge tragen, dass wir sagen können: Wir hoffen, dass die
Soldaten auch nach diesen Einsätzen gesund zurückkommen. Das ist die Grundlage des gemeinsamen politischen
Handelns.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Koppelin.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zwei Vorbemerkungen machen.
Die erste Vorbemerkung geht an den Verteidigungsminister, der leider nicht mehr anwesend sein kann. Ich hätte
von ihm eigentlich keine Rede des Außenministers, sondern die des Verteidigungsministers erwartet. Ich hätte erwartet, dass er mitteilt, ob die Bundeswehr in dieser Situation einsatzfähig ist oder nicht. Davon habe ich
überhaupt nichts gehört. Der Verteidigungsminister hat
vielmehr eine zweite außenpolitische Rede gehalten. Da
bereits der Außenminister eine solche Rede gehalten hat,
brauchte ich das nicht.
({0})
Die zweite Vorbemerkung richtet sich an die Kollegin
Beer. Mich erstaunt ein bisschen, dass Sie - das haben Sie
auch in den letzten Tagen wieder getan - dem Verteidigungsminister Vorwürfe machen. Warum wiederholen Sie
nicht in diesem Parlament, was Sie in den Medien gesagt
haben? Sie haben zum Beispiel gesagt, der Verteidigungsminister sei wieder einmal neben der Spur. Führen
Sie die entsprechende Diskussion doch hier! Kollegin
Beer, nach Ihrer Rede sage ich Ihnen Folgendes: Sie sind
in den vergangenen Jahren schon oft genug umgefallen.
Allerdings kann man Ihnen den Vorwurf des Umfallens
nicht mehr machen; denn wenn man umfällt, dann muss
man vorher einmal gestanden haben. Sie dagegen stehen
für gar nichts mehr.
({1})
Lassen Sie mich noch eine weitere Bemerkung zu
Ihren Ausführungen machen. Sie haben hier viele Fragen
gestellt, die - das bestreite ich nicht - sicherlich berechtigt sind. Aber in der Bevölkerung erwartet man von Politikern, dass sie nicht nur Fragen stellen, sondern auch
Antworten geben. Ihr heutiger Beitrag hat überhaupt
keine Antwort auf die Situation der Bundeswehr gegeben.
({2})
Wir sind uns alle einig - wer möchte das bestreiten? -:
Deutschland trägt eine große außenpolitische Verantwortung. Wir merken das in diesen Tagen. Hinzu kommt, dass
auch wir Freien Demokraten vor allem das Gewicht der
Europäer innerhalb der NATO stärken wollen. Spiegelt
der Haushalt das wider? Der Haushalt des Verteidigungsministers spiegelt das überhaupt nicht wider. Tatsache ist,
dass sich die deutschen Aufwendungen für Sicherheit
und Verteidigung im Vergleich zu denen der anderen
NATO-Staaten fast auf dem letzten Platz befinden.
({3})
Man kann doch nicht den Anspruch erheben, außenpolitisch in der ersten Reihe zu sitzen, wenn man den Abgeordneten einen Etat des Verteidigungsministeriums präsentiert, der im internationalen Vergleich unter ferner
liefen rangiert.
({4})
Um es noch einmal deutlich zu sagen - wir haben es oft
genug gesagt -: Mit einer Verteidigungspolitik nach Kassenlage muss Schluss sein. Das merken wir doch in diesen Tagen. Die Kollegin Beer hat noch einmal gesagt, wir
schrien immer nur nach mehr Geld. Entschuldigung, auf
einmal müssen Sie die Steuern erhöhen, um mehr Geld zu
bekommen. Irgendwie muss unsere Forderung doch berechtigt gewesen sein. Auch darauf sind Sie nicht eingegangen.
({5})
Heute erleben wir, dass in Zeiten, in denen die äußere
Sicherheit vielleicht doch nicht so sicher ist, wie es die
Grünen erzählt haben, im Kabinett Steuererhöhungen beschlossen worden sind.
({6})
Kollegin Beer, Sie müssten uns einmal sagen, ob es richtig ist, die Steuern zu erhöhen, um der Bundeswehr mehr
Geld zukommen zu lassen. Sie haben doch gesagt, wir
schrien immer nach mehr Geld. Jetzt sind Sie es selber, die
für mehr Geld für die Bundeswehr sorgen. Herr Trittin hat
in einem Zeitungsinterview, das ich heute gelesen habe,
gesagt, dass sich die Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen in der offiziellen Rhetorik der Bundesregierung nicht
wiederfinden. Genau das ist Ihr Problem und demgemäß
haben Sie hier rumgeeiert, Frau Kollegin.
Denken Sie einmal über Folgendes nach: Sie erhöhen
die Versicherungsteuer. Rot-grüne Logik besteht darin,
dass man die persönliche Sicherheit der Bürger höher besteuert, um ein Mehr an äußerer Sicherheit zu finanzieren.
Wie wollen Sie das der Bevölkerung erklären?
Durch Ihre Politik lerne ich, dass Rauchen nicht nur
Krebs, sondern zukünftig auch noch die äußere und die innere Sicherheit fördert. Die Abgeordneten der Koalition
müssen sich einmal überlegen, was sie wirklich beschließen. Der Finanzminister hat sich - das muss ich anerkennend sagen; leider ist kein Vertreter des Finanzministeriums anwesend - in einem Punkt durchgesetzt, der
auch unserer Linie entspricht: Sämtliche Mehreinnahmen - es werden weit mehr als 3 Milliarden DM sein; da
ist uns etwas vorgegaukelt worden; es werden etwa
6,5 Milliarden DM sein; diese Zahl ist von der CDU genannt worden - gehören in den Einzelplan 60.
Ich möchte einmal genau wissen, wofür dieses Geld eingesetzt wird. Wir wollen, dass dieses Geld für die Bundeswehr, für innere und äußere Sicherheit verwandt wird. Es
geht nicht an, dass der Verteidigungsminister Rechnungen,
die er bisher nicht begleichen konnte, mit diesen Einnahmen bezahlt und dass weitere Löcher im Haushalt des Verteidigungsministeriums gestopft werden. Insofern halte ich
die Entscheidung des Finanzministers für völlig richtig.
Diesen Verteidigungsetat zeichnet eines aus: Schieben,
strecken, streichen, täuschen.
({7})
- Diese alte Leier kann man wirklich nicht mehr hören.
Sie müssen einmal eine neue Platte auflegen.
Nun hat sich der Verteidigungsminister eine Geldmaschine angeschafft,
({8})
GEBB genannt. Da sollte das Geld förmlich gedruckt
werden. Aber Sie werden die nächste Pleite erleben. Bereits jetzt entpuppt sich die Geldmaschine GEBB als
ein Windei. Vor genau einem Jahr erklärte uns der
Verteidigungsminister, dass er mit der Gesellschaft für
Entwicklung, Beschaffung und Betrieb - also kurz GEBB
genannt - einen wichtigen Beitrag liefern würde, um die
Finanzierung der Bundeswehr zu sichern. Er hat dann
noch darauf hingewiesen, dass wir mit dieser Gesellschaft
völliges Neuland betreten. Ich stelle fest: Das ist kein
Neuland; diese GEBB ist ein einziger Sumpf. Außer
großen Gehältern für die Angehörigen der GEBB, vor allem für die Geschäftsführerin, hat diese Gesellschaft bisher nichts zustande gebracht. Die GEBB sollte in diesem
Jahr über 1 Milliarde DM einbringen. Was hat sie bisher
eingebracht?
({9})
Keinen einzigen Pfennig! Ich weiß, warum der Bundesrechnungshof die GEBB nicht überprüfen darf: Weil man
unglaubliche Angst hat, dass der Rechnungshof in die
Bücher schaut. Er würde nämlich feststellen: dicke Gehälter, aber nichts dahinter. Nicht ein Pfennig ist eingenommen worden.
({10})
Sie arbeiten nur nach dem Prinzip Hoffnung.
Ich bin dem Generalinspekteur ausgesprochen dankbar. Er hat in letzter Zeit mehrfach die Situation der Bundeswehr dargestellt. Wie ich jetzt zur Kenntnis nehmen
muss, will er nach Brüssel gehen. Bei der NATO kann er
über den Zustand der Bundeswehr berichten. Ich befürchte nur, unsere Partner wissen bereits seit langem, wie
ihr Zustand ist.
Ich stelle fest: Der Verteidigungsminister hat nicht auf
den Generalinspekteur gehört. Ich frage mich, wer Recht
hat. Hat der Generalinspekteur oder hat der Verteidigungsminister Recht? Es gibt zwei Darstellungen. Der
Verteidigungsminister hat im Sommer eine Rundreise gemacht und gesagt, es sei bei der Bundeswehr alles bestens
und die Motivation sei hoch. Ich höre etwas anderes. Entweder rede ich mit den falschen Soldaten oder es läuft in
der Kommunikation zwischen Generalinspekteur und
Bundesverteidigungsminister etwas falsch.
Aufgrund meiner kurzen Redezeit möchte ich nur noch
eine kurze persönliche Bemerkung in Richtung des Verteidigungsministers machen. Wir haben vor dem furchtJürgen Koppelin
baren Ereignis in Amerika eine Diskussion geführt, die
ich nicht aufwärmen will. Aber ich empfehle dem Bundesverteidigungsminister dringend - auch wenn er nicht
da ist -, in das Soldatengesetz zu schauen.
({11})
In § 17 des Soldatengesetzes - Verhalten im und außer
Dienst - heißt es:
Der Soldat hat Disziplin zu wahren und die dienstliche Stellung des Vorgesetzten in seiner Person auch
außerhalb des Dienstes zu achten. Sein Verhalten
muss dem Ansehen der Bundeswehr sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein
Dienst als Soldat erfordert. Außer Dienst hat sich der
Soldat außerhalb der dienstlichen Unterkünfte so zu
verhalten, dass er das Ansehen der Bundeswehr oder
die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche
Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt.
So weit das Soldatengesetz. Das schreiben wir dem
Bundesverteidigungsminister ins Stammbuch. Er sollte
hin und wieder in das Soldatengesetz schauen, auch wenn
er Zivilist und kein Soldat ist. Aber er ist Vorgesetzter der
Soldaten und danach hat er sich zu richten.
({12})
Sie können davon ausgehen, dass wir Freien Demokraten unsere Verantwortung gegenüber der Bundeswehr
kennen.
({13})
- Sie kommen doch aus Hamburg; Sie gehören zu den
Krakeelern. Wenn Sie in Hamburg nicht so eine chaotische Politik gemacht hätten, dann müssten wir uns heute
nicht mit Herrn Schill herumplagen. Das ist die Situation.
({14})
Sie haben den Boden für Herrn Schill bereitet.
({15})
- Außer schreien können Sie nichts.
Ich komme zum Schluss. Wir werden unserer Verantwortung gerecht. Ich freue mich auf die Diskussion über
den Einzelplan 14. Ich weiß, dass alle Kollegen, die sich
mit dem Etat befassen, das Beste für die Bundeswehr
wollen.
({16})
Ich möchte an dieser Stelle für die Kolleginnen und
Kollegen der Freien Demokraten sagen: Wir danken unseren Soldaten, die im Ausland tätig sind. Wir wissen, welche Verantwortung sie für uns alle übernommen haben.
Wir begleiten sie in ihrem Dienst. Sie sollen wissen: Wir
werden alles tun, dass ihre Sicherheit gewährleistet ist.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
({17})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Zumkley.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erstens hat die terroristische Bedrohung
mit den Ereignissen vom 11. September in Washington
und New York eine neue Dimension erreicht. Zweitens ist
Deutschland zurzeit an internationalen Einsätzen in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Mazedonien beteiligt. Die aktuelle Sicherheitslage zeigt, dass die beschlossene Reform der Bundeswehr noch wichtiger und
dringlicher geworden ist.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Verteidigungsetat 2002 und die von der Bundesregierung ergriffenen Sofortmaßnahmen tragen diesen neuen Erfordernissen der Bundeswehr Rechnung. Der Etat wird für die
Jahre 2002 bis 2006 auf jährlich 46,2 Milliarden DM verstetigt. Zusätzlich wurden im Gesetzentwurf gebilligte
Verstärkungsmöglichkeiten in Höhe von 1,2 Milliarden DM festgeschrieben. Die notwendigen Mehrausgaben
für den Mazedonieneinsatz in Höhe von 148 Millionen DM werden in diesem Jahr - mit Auswirkung auf das
Jahr 2002 - zusätzlich bereitgestellt. Strukturelle und materielle Maßnahmen zur Terrorbekämpfung, die bereits in
dem Entwurf eines Bundeswehrneuausrichtungsgesetzes
vorgesehen sind, werden zeitlich vorgezogen. Hierfür stehen jährlich zusätzlich beträchtliche Mittel zur Verfügung.
Damit ist es möglich, die Bundeswehr den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen anzupassen und sie zu
reformieren.
({0})
Die zweifellos noch vorhandenen und bekannten Fähigkeitslücken, die in der Vergangenheit entstanden sind, werden wir schrittweise - aber so zügig wie möglich schließen. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen kann weiterhin in Einklang mit der Modernisierung der Streitkräfte
erfolgen. Wir lassen uns auf diesem Weg nicht beirren.
({1})
Wir sind uns bewusst, dass zur Modernisierung der
Bundeswehr der Plafond allein nicht ausreicht; wir wissen
das. Die beschlossene Umstrukturierung kann nur gelingen, wenn zusätzlich Veräußerungserlöse, Effizienzgewinne und Einsparungen im zugebilligten Rahmen in
Höhe von 1,2 Milliarden DM erwirtschaftet und ausgeschöpft werden.
({2})
Dies ist unser fester Wille. Davon lassen wir uns nicht abbringen. Es ist ein schwieriger Weg; aber wir werden ihn
meistern.
({3})
Die dafür notwendigen Maßnahmen - die erforderlichen
Mittel sind bereits im Haushaltsentwurf aufgeführt müssen und werden tatkräftig umgesetzt werden.
Die Personalausgaben sind im Regierungsentwurf erstmals auf 24,5 Milliarden DM plafondiert. Dadurch stehen
die Haushaltsmittel zur Verfügung, die zur Umsetzung der
Gesetzesvorhaben, also zur Steigerung der Attraktivität
der Bundeswehr, benötigt werden. Die Ungleichgewichte
in der Personal- und Besoldungsstruktur, die unter anderem während Ihrer Regierungszeit entstanden sind, werden endlich beseitigt.
({4})
Die Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive wird fortgesetzt, die Attraktivität des Dienstes gesteigert und die
Gewinnung von qualifiziertem Nachwuchs verbessert.
({5})
Hierzu soll auch das Gesetz zur Neuausrichtung der Bundeswehr beitragen, dessen Entwurf wir heute in erster
Lesung beraten und an die Fachausschüsse überweisen
werden.
({6})
Die Änderung des Besoldungsgesetzes zum Abbau des
Beförderungsstaus und zur Verbesserung der Besoldungsstruktur wird noch in diesem Jahr folgen. Ich habe heute
von Ihnen nichts über solche Vorhaben gehört.
({7})
Sie haben sich zwar in der großen Weltgeschichte bewegt,
aber für die Soldaten haben Sie in Wahrheit überhaupt
nichts vorgesehen.
({8})
Mit dem unvermeidlichen Personalabbau bei den Zivilbeschäftigten kann sozialverträglich und ohne betriebsbedingte Kündigungen auf der Basis des mit Verdi
und dem Deutschen Beamtenbund vereinbarten Tarifvertrages begonnen werden.
Der investive Anteil wird mit circa 9 Milliarden DM
auf dem annähernd gleichem Niveau wie 2001 gehalten.
Er kann aber im Haushaltsvollzug durch zusätzliche Einnahmen und Effizienzgewinne verstärkt werden. Die
Modernisierung des Materials muss auch im kommenden Jahr konsequent nach einer festgelegten Prioritätenliste angegangen werden. Nur so können wir die Defizite
der Vergangenheit auf der Zeitachse systematisch beseitigen.
An der politisch und militärfachlich richtigen Entscheidung zur beschlossenen Bundeswehrreform werden
wir festhalten. Die in der Umsetzung begriffene Reform
wird, wie mir scheint, von der Opposition prinzipiell nicht
mehr kritisiert. Wir streiten uns nur noch um die Finanzierung; das ist übrig geblieben. Wir werden miteinander
in den Wettstreit darüber treten, wer Recht hat. Das ist ein
ernstes Thema, das in das Parlament und in den zuständigen Ausschuss gehört.
({9})
Wir sind der Auffassung, dass wir trotz der Gesamtfinanzlage des Staates diese wichtigen Aufgaben leisten
werden. Sie glauben es nicht. Darüber werden wir uns
ernsthaft unterhalten, aber nicht mit der Haltung, wie ich
sie manchmal vernehme, und mit dem, was hier auch
schon zu Recht kritisiert worden ist.
({10})
Die Entlastung der Teilstreitkräfte durch die Ausgliederung der hauptsächlichen logistischen Aufgaben und
die Zentralisierung des Sanitätsdienstes, die Straffung der
Führungsorganisation, die Erhöhung der Zahl der
Einsatzkräfte, die neue Weichenstellung im Hinblick auf
veränderte Aufgaben der Streitkräfte und die Straffung
der Wehrverwaltung - dies alles wird zu höherer Effizienz
führen. Die Reform wird von unseren Partnern in der
Europäischen Union und in der NATO voll anerkannt. Wir
sind auf dem richtigen Weg.
({11})
Über die Finanzierung streiten wir uns und das machen wir gern. Sie wollen erheblich mehr Geld. Von keinem der Redner habe ich aber gehört, woher Sie es denn
nehmen wollen. Sagen Sie doch, woher Sie es nehmen
wollen! Wollen Sie umschichten oder wollen Sie mehr
Schulden machen? Sagen Sie es doch, dann können wir
darüber ernsthaft reden.
({12})
Wir glauben, dass die Bundeswehr angesichts der sicherheitspolitischen Lage und der notwendigen Haushaltskonsolidierung ausreichend Mittel zur Verfügung
hat, um die Reform der Sicherheitslage entsprechend umzusetzen. Wir brauchen auch in Zukunft einsatzfähige,
auch auf neue Aufgaben gut vorbereitete und ausgebildete
Streitkräfte. Der Übergang von alter zu neuer Bundeswehr
bringt viele Probleme und auch Unzulänglichkeiten im
täglichen Dienstbetrieb mit sich. Das wissen wir doch
alle. Diese schwierige Umbruchphase wird mit dem Engagement und hoher Dienstbelastung durch das Personal
der Bundeswehr gemeistert. Zur Umsetzung der Reform
brauchen wir unsere Soldaten und Zivilbeschäftigten. Der
Erfolg wird wesentlich von ihrer Motivation abhängen.
Für diese nicht leichte Aufgabe, meine Damen und Herren, danke ich den Soldaten, Beamten, Angestellten und
Arbeitern der Bundeswehr bereits jetzt.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir
befinden uns in der außen- und sicherheitspolitischen Debatte zum Bundeshaushalt 2002.
({0})
- Das muss man deswegen sagen, weil das Bundesfinanzministerium nicht vertreten ist. Ich würde doch empfehlen, dass die Bundesregierung - ({1})
- Gut, es ist nur die Haushaltsdebatte. Das wirft ein Licht
darauf, wie ernst man den Bundestag in dieser Frage offensichtlich nimmt. Da stellt sich auch die Frage, wie
ernst sich die Koalitionsparteien nehmen.
({2})
Das Hin und Her bei der Frage, woher die 3 Milliarden DM, die jetzt die Lösung bringen sollen und die aus
dem Haushalt angeblich nicht mehr zu holen waren, genommen werden, ob aus Einzelplan 60 oder nicht, ob darüber das Finanzministerium - Herr Overhaus oder wer
auch immer - entscheidet, deutet nicht gerade auf eine
klare Orientierung hin, sondern so etwas nennt man Eierei.
({3})
Zum Thema Bundeswehr und deren Finanzierung
- ich möchte heute vor allem zur Außenpolitik sprechen doch noch eine Anmerkung. Ich höre immer: 16 Jahre
lang war dieses und jenes.
({4})
Vergleichen Sie diesen Haushalt einmal mit Haushalten
aus unserer Zeit! Und erinnern Sie sich bitte daran, dass
Sie jetzt den vierten Haushalt unter Ihrer Regie machen.
Sie müssen sich entscheiden, ob Sie regieren oder ob Sie
stänkern wollen.
({5})
Ich muss dies so sagen, weil mich die Gesundrederei der
Bundeswehr schon manchmal erschüttert.
Es gibt Kollegen, die sehr genau wissen, wovon sie reden und wie sie reden. Vorhin fiel der Halbsatz - vielleicht
nicht so gemeint, aber doch so gesagt -, der Generalinspekteur könne auch nicht rechnen. Wenn Sie all die,
die nicht rechnen können, aus dem Verteidigungsministerium herausziehen, werden Sie bald auf dem politischen
Zahnfleisch gehen.
({6})
- Ich kann den Namen der Kollegin aus Ihrer Fraktion
nennen, die den Zwischenruf - ({7})
- Frau Präsidentin, ich wollte eigentlich reden, ich habe
aber ständig jemanden im Ohr, der so laut schreit, dass ich
nicht mehr in der Lage bin, mich selber zu verstehen. Wir
sind hier nicht im Gewerkschaftsrhetorikkurs, sondern im
Deutschen Bundestag.
({8})
Wenn Sie mit dem Generalinspekteur so umgehen, wie
Sie es getan haben, dann muss Ihnen das vorgehalten werden.
({9})
Der Generalinspekteur hat sehr wohl korrekt auf die Fragen nach den Zahlen geantwortet. Die Antworten haben
Ihnen nur nicht gepasst.
({10})
- Ich muss lauter reden, damit Ihr Kollege übertönt wird,
Frau Kastner.
({11})
- Jawohl, den haben wir sehr richtig verstanden. Ihre Aufgeregtheiten zeigen nur, dass Sie sehr getroffen sind.
({12})
Ich empfehle Ihnen, dass Sie die Diskussion über den
Wehrhaushalt - Einzelplan 14 - ernster nehmen, als das
offensichtlich der Fall ist.
Ich komme zu einem ganz anderen Punkt: Es geht um die
Außen- und Sicherheitspolitik und die Konzeption der
Bundesregierung. Meine Sorge gilt der Tatsache, dass innerhalb der Bundesregierung eine gewisse Positionslosigkeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen
besteht. Ich stelle fest, dass die Opposition in der gegenwärtigen Situation, in der die Bundesregierung in der Person des Außenministers und des Bundeskanzlers eine klare
Position bezogen hat, bereit ist, zu einer gemeinsamen Verantwortung zu stehen. Das ist selbstverständlich. Das kann
aber nicht heißen, dass wir mit der Debatte darüber aufhören. Wir müssen die Strukturfragen der Außen- und Sicherheitspolitik schon noch behandeln. Ich meine, dass wir
es mit einer Bundesregierung zu tun haben, die diesen strukturellen Fragen einen sehr niedrigen Stellenwert beimisst.
Ich will Ihnen als ein Beispiel die Antirassismuskonferenz der Vereinten Nationen in Durban nennen, die in
den letzten Wochen untergegangen ist. Alle, die diese
Konferenz verfolgt haben, wissen, was sich dort abgespielt hat. Der Versuch von palästinensischer Seite, diese
zu einer antisemitischen Konferenz umzugestalten, konnte nur mit Mühe verhindert werden. Ein Platzen dieser
Konferenz hätte dem Frieden im Nahen Osten sicherlich
nicht gedient. Man muss allerdings fragen, ob es wirklich
gut war, dass der Vertreter der Bundesregierung - nahezu
unbeeindruckt von diesen Problemen -, der Bundesaußenminister - wenn ich mich nicht irre, war er der
höchstrangige Vertreter der EU -, eine Rede mit Blick auf
die deutsche koloniale Vergangenheit gehalten hat, in der
auch auf den Herero-Aufstand vor 100 Jahren eingegangen wurde. Dies kam einem Schuldeingeständnis sehr
nahe. Damit wurde - was ich nicht hoffe - im Prinzip eine
Einladung an diejenigen ausgesprochen, die die Weltpolitik mit dem Amtsgericht, dem Gerichtsvollzieher und
der Vorstellung, man könne die Entwicklungen der
Geschichte mit Anwaltsbriefen und Vollstreckungstiteln
bewältigen, verwechseln.
Christian Schmidt ({13})
Ich unterstütze ausdrücklich die Position der Bundesregierung bezüglich Griechenland. Diese Position ist
richtig, sie muss durchgehalten werden. Wir können solche Missachtungen der Prinzipien internationalen Rechts
- die Beschlagnahme des Goethe-Instituts - nicht akzeptieren. Deshalb appelliere ich, sich nicht vom Gutmenschentum hinreißen zu lassen, sondern die Ziele der
Außenpolitik auch mit Blick auf die Auswirkungen auf
deutsche Interessen nüchtern zu formulieren.
({14})
Ein weiterer Punkt, der mir am Herzen liegt und den
ich ganz kurz ansprechen möchte, ist, dass wir Schwierigkeiten haben, in den deutsch-tschechischen Beziehungen - ich nenne den deutsch-tschechischen Koordinierungsrat, der nach der beiderseitigen Erklärung der
Regierungen eingerichtet worden ist - weiterzukommen. Es ist zu wenig, nur historische Stereotypen auszutauschen. Es gibt immer noch Fragen des gegenseitigen
Verstehens, die nicht geklärt sind. Die Frage der Dekrete
von Benes im Hinblick auf die Sudetendeutschen ist
nicht nur ein Problem der Sudetendeutschen. Ich erinnere daran, dass beispielsweise die UN-Menschenrechtskommission 1998 eine Erklärung zum Recht auf
Heimat und zur Ächtung der Vertreibung verabschiedet
hat, die in der Generalversammlung leider noch nicht
verabschiedet worden ist. Ich gehe davon aus, dass der
Bundesaußenminister in diesem Punkt bei der Generalversammlung die Initiative ergreifen wird. Das sind tief
gehende Fragen, die auch das Selbstverständnis der Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft berühren.
Deswegen muss dieser Dialog auf eine intensivere und wie ich hoffe - auch konstruktivere Basis als bisher gestellt werden.
Ein Wort zu der Rede, die gestern Präsident Putin gehalten hat - Kollegin Beer hat sie auch noch einmal angesprochen -: Ja, es war eine sehr große Rede. Es war eine
proeuropäische Rede. Wir sollten dies aufgreifen und bereit sein, Russland so weit wie möglich in den Integrationsverbund aufzunehmen. Ich glaube nicht, dass der
NATO-Russland-Rat in seinen Möglichkeiten schon voll
ausgelotet ist. Wir sollten durch Vertrauensbildung auch
den Weg dafür ebnen, dass es bei der Erweiterung der
NATO, die im nächsten Jahr ansteht - wenn es nach mir
geht, unter Einschluss der baltischen Staaten -, zu einer
kooperativen Lösung kommt und dass daraus kein Konflikt entsteht. Seit gestern sehe ich die Chancen hierfür
wachsen.
({15})
Das Wort hat
jetzt Frau Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch in
der heutigen Debatte hat man bei jedem Redner und bei
jeder Rednerin gespürt, dass der Schock nach den
schrecklichen terroristischen Anschlägen des 11. September noch immer auf uns lastet.
Ich plädiere dafür, dass unser Verhalten aus zwei
Grundzügen bestehen muss: entschlossenes Entgegentreten gegenüber den terroristischen Gewalttätern, ihre Bestrafung und Zerschlagung ihrer Strukturen einerseits und
andererseits der Versuch der Prävention. Wir müssen den
Nährboden trockenlegen, in dem Hass und Gewalt wuchern.
({0})
Ich möchte an die Adresse der Friedensgruppen, die
sich jetzt landauf, landab äußern und denen ich mich
selbstverständlich verbunden fühle, Folgendes sagen:
Auch im Inneren unserer freien Gesellschaften antworten wir auf die Gewalt des Rechtsextremismus mit einer
Doppelstrategie. Wir gehen mit unnachgiebiger Härte
gegen rassistische Totschläger und ausländerfeindliche
Brandstifter vor und bemühen uns gleichzeitig, den gesellschaftlichen Ursachen entgegenzuarbeiten, also
Prävention zu betreiben. Das heißt, beides ist notwendig.
({1})
Bei allem, was die internationale Gemeinschaft und
auch die deutsche Politik tut, muss darauf geachtet werden, dass keine neuen Konflikte und Spaltungen geschaffen werden. Die terroristischen Anschläge waren ein Angriff auf die Werte von Milliarden Menschen in aller Welt,
seien es Moslems, Buddhisten, Hinduisten, Juden oder
Christen. Das ist deutlich und das sollten wir in dieser
Diskussion auch immer wieder deutlich machen.
({2})
Im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit
findet alltäglich ein Austausch mit unseren Partnern statt.
Vor Ort gibt es einen Dialog der Kulturen, der uns zeigt,
dass uns vieles verbindet: gemeinsame Grundwerte, gemeinsame Träume und Visionen. Dieses Verbundensein
wollen wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit
zukünftig noch stärker verdeutlichen, übrigens auch
zukünftig noch stärker finanzieren, denn sie hilft, Krisen
zu überwinden und gemeinsam Wege zu finden.
({3})
Ich möchte allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Entwicklungszusammenarbeit, den Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen und Kirchen für ihr tägliches
Engagement unter schwierigen Bedingungen danken. Es
ist gut, dass Thomas Künzel hat freikommen können. In
diesem Zusammenhang appelliere ich eindringlich an die
Entführer unseres GTZ-Mitarbeiters Ulrich Künzel und
seines Freundes Reiner Bruchmann in Kolumbien: Lassen
Sie diese Menschen endlich frei!
({4})
Mein dringlicher Appell richtet sich auch an die Zuständigen der Taliban: Lassen Sie die inhaftierten deutChristian Schmidt ({5})
schen, amerikanischen und australischen Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen von Shelter Now frei!
({6})
An dieser Stelle möchte ich auch sagen - Herr Irmer ist
nicht mehr da -: Ich kenne diejenigen, die den zivilen
Friedensdienst leisten. Die 19 Millionen DM für die
Friedensfachkräfte, die Vermittlungsarbeit bei Konflikten
vor Ort leisten, sind gut investiert. Sie ersparen uns nämlich anschließend Beträge in Milliardenhöhe.
({7})
Die Leute schlecht zu machen halte ich gegenüber den
betroffenen Kolleginnen und Kollegen für unverantwortlich.
({8})
Humanitäre Verantwortung gilt aber auch für uns. In
diesem Zusammenhang möchte ich ankündigen, dass unser Ministerium für Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge aus
Afghanistan 15 Millionen DM zur Verfügung stellt.
({9})
Am 11. September dieses Jahres haben wir auf
schrecklichste Weise erfahren, was es bedeutet, in einer
Welt zu leben. Kein Teil ist ohne den anderen sicher. Wenn
ein Gefühl von Ohnmacht und Zukunftslosigkeit gegenüber den wirtschaftlich und militärisch starken Nationen
zur Mobilisierbarkeit für Terrorakte beiträgt, dann müssen
wir diesem Gefühl der Unterlegenheit und Ohnmacht
entgegenarbeiten.
Die realen Machtverhältnisse sind folgendermaßen:
Die G-7-Staaten verfügen über 70 Prozent des Bruttosozialproduktes, sie machen aber nur 10 Prozent der Weltbevölkerung aus. Wir müssen dazu beitragen - wir tun das
mit unserer Entwicklungszusammenarbeit, müssen dies
aber verstärkt tun -, dass die Menschen ihre eigene Entwicklung selber gestalten können und dass sie vor allen
Dingen auch global stärker mitentscheiden und die Welt
mitgestalten können.
({10})
Der beste Schutz gegen Terror, Gewalt und Krieg ist
eine gerechte internationale Ordnung.
Dafür arbeiten wir alle in diesem Haus, dafür arbeitet
auch die Bundesregierung.
Die Globalisierung - das wissen wir nicht erst seit
Genua - darf nicht dem Laisser-faire-Prinzip überlassen
werden. Das würde die schreienden Ungerechtigkeiten,
die wir alle kennen, verschärfen. Es geht um zwei Wege:
Entweder überlassen wir alles der Entwicklung, dann
setzt sich Gewalt fort. Oder wir schlagen den Weg ein, für
den sich die Bundesregierung mit anderen Partnern entschieden hat, nämlich den Weg der sozialen und ökologischen Gestaltung der Globalisierung. Das tun wir bei unserer internationalen Zusammenarbeit mit der Weltbank
und dem IWF, mit der Entschuldung und bei der Öffnung
von Märkten.
({0})
Wir brauchen jetzt ein breites Reformbündnis der fortschrittlichen Regierungen aus Industrie- und Entwicklungsländern sowie der Zivilgesellschaften, auch derjenigen, die der Globalisierung kritisch gegenüberstehen, sich
aber für die Gewaltfreiheit entsprechend engagieren.
Wichtig ist, dass wir alle zusammenarbeiten, dass wir erleben, dass es nicht nur eine Globalisierung von Märkten,
sondern auch eine Globalisierung von Solidarität und
Werten gibt. Diese Botschaft ist notwendig.
({1})
Darüber hinaus brauchen wir eine Diskussion über die
Finanzierung globaler öffentlicher Güter. Wir haben es
bei der Aidsbekämpfung ja geschafft, einen entsprechenden Fonds einzurichten, an dem wir uns mit 300 Millionen DM beteiligen. Wir müssen aber auch einen Beitrag
dazu leisten - so viel Entwicklungszusammenarbeit können wir nicht aufbringen, wie notwendig wäre, um das zu
kompensieren, was notwendig ist -, dass internationale
Finanzmärkte einen starken ordnungspolitischen Rahmen bekommen.
({2})
Unkontrollierte Kapitalbewegungen ruinieren ganze
Volkswirtschaften von Entwicklungsländern. Dies könnten wir anschließend nicht mehr ausgleichen. Es hat sich
auch in erschreckender Weise gezeigt, dass internationale
Terrorgruppen von den Schwächen dieses unkontrollierten Finanzsystems in schamloser Weise profitieren, um
ihre Verbrechen zu finanzieren. Denen muss das Handwerk gelegt werden. Deshalb müssen alle Elemente zur
Bekämpfung der Geldwäsche und zur Stabilisierung der
Finanzsektoren, einschließlich der stärkeren Regelung
von Finanzströmen, in den Entwicklungsländern vorangebracht werden.
Ich will an dieser Stelle sagen: In diese Überlegungen
ist auch eine Devisentransaktionssteuer einzubeziehen,
Stichwort Tobin-Tax. Unser Ministerium hat eine Machbarkeitsstudie zur Tobin-Tax in Auftrag gegeben; denn in
dieser Situation dürfen wir kein Instrument ungeprüft lassen. Wer sagt, dass wir solche Instrumente nicht brauchen,
der täuscht sich.
({3})
Die Entwicklungszusammenarbeit ist das einzige Instrument, mit dem wir in den Gesellschaften unserer Partnerländer mitgestalten und den Dialog führen können. Dabei ist good governance, eine gute, entwicklungsorientierte Regierungsführung, bereits jetzt ein Schwerpunkt
unserer Entwicklungszusammenarbeit. Doch angesichts
der jetzigen Erfahrungen wollen wir eine stärkere Fokussierung verwirklichen. Wir wollen besonders die Länder
finanziell unterstützen, die das friedliche Zusammenleben
verschiedener Ethnien und Religionen innerhalb ihrer Gesellschaft und ihrer Region ausdrücklich fördern und sich
besonders in der Terrorismusbekämpfung engagieren.
Die Bundesregierung hat die Ansätze der Veränderung
und Präzisierung ihrer Entwicklungszusammenarbeit als
Teil der Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus aufgenommen und stellt dafür mindestens
200 Millionen DM zur Verfügung. Zusammen mit der
Verlängerung des Stabilitätspaktes für Südosteuropa über
das Jahr 2003 hinaus sind dies wichtige Perspektiven für
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit.
({4})
Im letzten Herbst haben die katholischen Bischöfe ein
Friedenswort herausgegeben, das sich Gerechter Friede
nennt. Ich möchte zum Schluss aus diesem Friedenswort
zitieren:
Eine Welt, in der den meisten Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, kann auf Dauer keinen Bestand haben. Sie
steckt auch dann voller Gewalt, wenn es keinen
Krieg gibt.
Tragen wir alle mit dazu bei, der Gewalt entschlossen entgegenzuarbeiten!
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ruck.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! - In einem Punkt bin ich mit
meiner Vorrednerin einig - auch andere Redner, wie
Volker Rühe, haben es gesagt -: Eine starke Entwicklungspolitik ist für den langfristigen Erfolg des weltweiten Kampfes gegen den Terror unverzichtbar. Die
Entwicklungspolitik bekämpft viele Ursachen: die ökonomische Perspektivlosigkeit, die krassen sozialen Gegensätze oder die oft unhaltbaren politischen Zustände in vielen Entwicklungsländern. All das sind Nährböden für
Frustration, Hass und Gewaltbereitschaft. Bin Laden
und andere Terroristen sind nicht arm, aber die sozialen
Sprengsätze der Welt sind der Scheiterhaufen für die
Lunte, die die Terroristen anzünden wollen.
({0})
Wir sehen auch, dass die Probleme der Entwicklungsländer wachsen und auf uns zuwachsen. Deshalb ist die
Terrorbekämpfung eine Aufgabe auch für eine moderne
Entwicklungspolitik als Teil einer vorausschauenden Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Hinsichtlich dieser
Aufgabe steht die rot-grüne Entwicklungspolitik kurz
vor der Kapitulation. Alle vollmundigen Ankündigungen, die vielen pressewirksamen Auftritte und Initiativen, wie die Armutsinitiative, die Klimainitiative, die
Kaukasusinitiative oder auch die Aidsbekämpfung, sind
angesichts der Realitäten des Haushalts Schall und
Rauch.
({1})
Der entwicklungspolitische Haushalt ist in der Tat ein
rot-grüner Steinbruch. Unverdrossen wird er weiter abgemeiert und steuert jetzt auf ein Zehnjahrestief zu. Die neuerliche Kürzung um 5,3 Prozent lässt ihn sogar noch unter die Ansätze der mittelfristigen Finanzplanung - diese
war ohnehin schon traurig genug - abrutschen. Wir sind
jetzt bei einer ODA-Quote von 0,2 Prozent angelangt;
diese betrug früher immerhin einmal 0,42 Prozent. Das ist
für Sie, Frau Ministerin, die Bundesregierung und
Deutschland ein Armutszeugnis.
({2})
Sie haben vorhin einen Betrag von 200 Millionen DM
erwähnt, der jetzt angeblich noch draufgesattelt werden
soll. Ich kann mich gut daran erinnern, dass Sie uns diesen Betrag schon einige Wochen vor dem Anschlag angekündigt haben. Entweder haben Sie damals leere Versprechungen gemacht oder Sie haben bei der Runde zur
Verteilung der zusätzlichen 3 Milliarden gestern nichts,
aber auch gar nichts herausgeholt.
Ich möchte Ihnen die Folgen dieser Steinbruchpolitik
am Beispiel Pakistans aufzeigen. Pakistan - das wissen
wir - steht seit Jahren auf der Kippe zum Extremismus.
Sie haben die Leistungen der Entwicklungspolitik von
früher 100 Millionen DM auf 36 Millionen DM heruntergefahren. Das Goethe-Institut in Lahore wurde geschlossen und die Stiftungen in Pakistan mussten ihre Ausgaben
drastisch kürzen, weil Sie die Mittelzuweisungen zurückgefahren haben. Genauso dramatisch ist die Situation in
Zentralasien. Den gleichen Fehler machen Sie auch beim
Stabilitätspakt für den Balkan.
Ein anderer qualitativer Fehler ist Ihre verfehlte
Schwerpunktsetzung - wir haben das schon öfter diskutiert -, die zum Beispiel Länder wie Indonesien dazu verführt, sich das herauszupicken, was den einzelnen Regierungen gefällt, statt das zu nehmen, was der Bevölkerung
und der Wirtschaft gut tut und für eine wirkliche Aufwärtsentwicklung des Landes wirklich dringend notwendig ist. Angesichts dieser gewaltigen Aufgaben ist Ihr
Haushalt bereits jetzt Makulatur. Sie werden mit dieser
Haushaltsvorlage in der Zukunft im Grunde genommen
vollkommen handlungsunfähig sein.
Deswegen fordern wir einen grundlegenden qualitativen und quantitativen Wandel. Wir wollen eine stärkere,
schnellere und flexiblere Unterstützung rechtschaffener,
reformbereiter Staaten, Politiken und Parteien in den
Entwicklungsländern. Wir wollen eine Stärkung der Kirchen und der Stiftungen, zum einen für die Basisarbeit,
zum anderen auch für eine bessere Politikberatung. Wir
fordern die Rücknahme der Kürzungen im Bildungs- und
Ausbildungsbereich. Wir fordern eine stärkere Unterstützung vieler Entwicklungsländer beim Prozess der GlobaBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
lisierung. Das ist ein ganz wichtiger Punkt gerade für die
internationale Wirtschaftspolitik.
({3})
Zusammengefasst: Wir fordern nicht nur die Rücknahme der Kürzungen des Entwicklungshaushaltes um
5,3 Prozent, sondern ein Anwachsen des Haushalts analog
zum Bundeshaushalt um 1,6 Prozent und die Absicherung
der deutschen Entwicklungspolitik in der mittelfristigen
Finanzplanung.
Gerade nach dem Terroranschlag in den USA kämpfen
wir um die deutsche Entwicklungspolitik. Wir kämpfen
auch um Ihren Haushalt. Wir werden uns auch mit detaillierten Vorschlägen und Vorstellungen an der zukünftigen
Beratung des Entwicklungshaushaltes beteiligen.
Ich darf aber auf eines hinweisen: Die jetzige miserable Finanzausstattung des Entwicklungshaushaltes ist
kein gottgewolltes Schicksal. Ich brauche auch keine
Tobin-Steuer, um tief greifende Veränderungen zum Besseren vorzunehmen. Sie haben zum Beispiel die DEG für
ein Linsengericht verscherbelt. Das war Ihr Fehler. Das
war ein großes Versäumnis. Allein mit einem ordentlicheren Erlös hätten wir den Entwicklungshaushalt auf dem
Niveau des Vorjahres halten können.
({4})
Diese Stunde ist auch die Stunde einer durchdachteren
und stärkeren Entwicklungspolitik, aber nicht mit diesem
Haushalt und nicht mit diesen Strukturen. Wir sind bereit,
konstruktiv an einer Wende zum Besseren mitzuarbeiten.
Aber diese Wende muss von Ihnen eingeleitet werden. Sie
sind in der Verantwortung - zumindest bis zu den nächsten Wahlen.
({5})
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Abgeordnete Wieczorek-Zeul
das Wort.
Frau Präsidentin! Ich möchte einige falsche Aussagen richtig stellen.
Erstens. Die offizielle Entwicklungszusammenarbeit
der Bundesrepublik Deutschland umfasste im Jahre 1982,
bei Ende der sozialliberalen Koalition und zu Beginn der
Regierung Kohl, 0,48 Prozent des Bruttosozialprodukts.
Als wir 1998 die Regierung übernahmen, lag der Anteil
bei 0,26 Prozent des Bruttosozialprodukts. Er betrug
- das ist die letzte offizielle Zahl - im Jahr 2000 0,27 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die Steigerungen könnten
größer sein; das ist sicher richtig. Aber die Wahrheit ist,
dass Sie den Entwicklungsetat abgewirtschaftet haben,
was sich aus diesen Zahlen ganz eindeutig ergibt. Das
sollten Sie nachträglich wirklich nicht verdrängen.
({0})
Zweitens. Ich finde es schade, dass in einer solchen
Diskussion, bei der wir doch auch mit ganz anderen Problemen zu ringen haben, falsche Behauptungen aufgestellt werden. Die Wahrheit ist doch, dass die finanzielle
Zusammenarbeit in der Entwicklungspolitik mit Pakistan
und Indien von meinem Vorgänger eingestellt worden ist,
und zwar nachdem die Atomwaffentests durchgeführt
worden waren. Nach einer Übergangsphase, in der wir in
diesen Fragen Klarheit geschaffen hatten, hat unsere Regierung die Entwicklungszusammenarbeit wiederaufgenommen. Das möchte ich an dieser Stelle um der historischen Gerechtigkeit willen deutlich machen.
({1})
Ich bitte einfach darum, solche Dinge nicht in die Diskussion zu bringen, weil dies unserer Debatte nicht angemessen ist.
({2})
Aus gegebenem
Anlass weise ich darauf hin, dass in diesem Saal Handys
nicht erlaubt sind.
Zur Erwiderung erhält Herr Kollege Ruck das Wort.
Frau Ministerin,
dass es um ganz andere Probleme gehe, ist schlichtweg
nicht meine Meinung. Die Entwicklungspolitik ist, wie
gesagt, ein ganz wichtiger Eckpfeiler im Kampf gegen
den Terrorismus. Daher ist es auch sehr wichtig darüber
zu diskutieren, wie Ihr Haushalt in Zukunft ausgestattet
sein wird. Er ist miserabel ausgestattet. Am Ende unserer
Regierungszeit standen für Entwicklungshilfe immerhin
1 Milliarde DM mehr zur Verfügung als heute.
({0})
- Das ist nicht falsch. Damals waren es 8 Milliarden DM,
heute sind es 7 Milliarden DM. Sie haben 1 Milliarde DM
auf dem Gewissen. Die Quote von 0,42 Prozent - hier
steht Aussage gegen Aussage - stammt von 1990, also aus
unserer Regierungszeit.
({1})
Jetzt sind wir - ich bleibe dabei - bei einer ODA-Quote
von 0,2 Prozent, wenn Sie Ihren rechnerischen Trick mit
den Ostmitteln herausnehmen.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Köster-Loßack.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Der 11. September hat auch für die Entwicklungspolitik einen neuen Rahmen gesetzt. Es wäre allerdings falsch, eine direkte Verbindung zwischen den
schrecklichen Angriffen auf New York und Washington
und der Ungerechtigkeit in der Welt herzustellen. Aber
diese Terroranschläge haben uns nachdrücklich vor Augen geführt, dass wir uns viel intensiver als bisher mit den
Ursachen, insbesondere dem fanatischen Hass auf die
Moderne und die offene Gesellschaft, beschäftigen müssen, und zwar nicht nur in Afghanistan.
Die zivilen Mittel, mit denen gehandelt werden kann,
sind bekannt. Erfolgreiche Krisenprävention muss natürlich auf den Abbau von Armut und Ungerechtigkeit zielen. Dies kann aber nur im Dialog mit den Menschen und
den Regierungen des Südens geschehen. Sie müssen am
Global-Governance-Prozess teilhaben können, damit Gefühle von Ausgeschlossenheit und struktureller Unterlegenheit, die den Nährboden für Gewalt bereiten können,
erst gar nicht aufkommen.
({0})
Mitte letzten Jahres hat die Bundesregierung ein Gesamtkonzept Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung
und Friedenskonsolidierung verabschiedet. Diesem Konzept liegt ein erweiterter Sicherheitsbegriff zugrunde. Die
Achtung der Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit,
Rechtsstaatlichkeit, partizipatorische Entscheidungsfindung und die Bewahrung der natürlichen Ressourcen nehmen in diesem Konzept einen wichtigen Platz ein. Mit einer stärkeren Orientierung auf dieses Konzept können wir
viel dazu beitragen, die Ursachen jenes internationalen
Terrorismus auszutrocknen, der jetzt nicht nur in und um
Afghanistan und nicht nur gegenüber den USA agiert.
({1})
Rot-grüne Entwicklungspolitik ist als globale Strukturpolitik bereits auf dieses Konzept ausgerichtet. Aber wir
brauchen neue Anstrengungen vorrangig in den akuten
Krisenregionen, etwa in Afghanistan und seinen Nachbarstaaten - dort sind heute bereits 7 Millionen Flüchtlinge zurückzuführen -; das gilt nicht minder für Südosteuropa und den Nahen Osten. Gleichzeitig aber müssen
wir die Anstrengungen auch in den übrigen Entwicklungsländern - den anderen Krisengebieten von heute und
morgen - verstärken. Das bedeutet, dass wir die Analysen
derjenigen ernst nehmen müssen, die sich in diesen Ländern besonders gut auskennen und dort vor Ort für uns in
der Entwicklungszusammenarbeit, bei den Stiftungen und
in den Kirchen arbeiten.
Nun zu den dafür erforderlichen Mitteln: Es gab im
Jahr 2001 für die Entwicklungszusammenarbeit mehr
Geld. Wir werden dieses Niveau auch 2002 halten. Wir
brauchen einen Etat,
({2})
der mehr Möglichkeiten für die Armutsbekämpfung, für
den Ressourcenschutz, für erneuerbare Energien und
- dies betone ich - für zivile Friedenssicherung bietet. Ich
begrüße es ausdrücklich, dass die Bundesregierung aus den
zusätzlichen Steuereinnahmen einen wesentlichen Beitrag
für die Entwicklungszusammenarbeit bereitstellen wird.
({3})
Die Verhandlungen in diesem Hause werden noch Veränderungen in diesem Bereich und auch hinsichtlich der Prioritäten mit sich bringen.
({4})
Ich bin auch froh, dass das Thema Globalisierung
durch die Intervention des Bundeskanzlers bereits vor den
Attacken auf die Vereinigten Staaten ganz oben auf die politische Agenda gesetzt wurde. Globalisierungskritiker
- das ist in Genua klar geworden - sehen natürlich die internationalen Finanzmärkte und ihre Wirkung auf die Entwicklungsländer als ein Hauptproblem. Die Kontrolle von
Offshore-Zentren und die Verfolgung von Geldwäsche haben angesichts der Terroranschläge eine Priorität gewonnen, die wir ihnen vorher nicht einräumten. Im Hinblick
auf eine Reform des Finanzsektors in den Entwicklungsund Schwellenländern wird die Entwicklungszusammenarbeit eine zentrale Rolle spielen.
({5})
Auch sollten wir gemeinsam an eine erweiterte Entschuldungsinitiative mit positiven Anreizen für die Länder denken, die sich aktiv an der Terrorismusbekämpfung beteiligen.
Im Rahmen der Globalisierung ist auch über neue Instrumente nachgedacht worden, zum Beispiel die TobinSteuer. Ich unterstütze diesen Vorschlag, weil eine Devisenumsatzsteuer zur Finanzmarktstabilisierung beitragen
kann und gleichzeitig neue Finanzierungsmöglichkeiten
für internationale Aufgaben erschließt. In diesem Zusammenhang begrüße ich es sehr, dass die Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit gerade ankündigte, dass es in
Bezug auf dieses Instrument, über das sehr viele merkwürdige Vorurteile bestehen, eine Studie geben wird.
({6})
Im Rahmen der Vorbereitungen auf die Weltkonferenz
für Entwicklungsfinanzierung, die Anfang nächsten
Jahres stattfinden wird, wird auch über eine Kohlenstoffsteuer auf den Verbrauch fossiler Brennstoffe diskutiert.
Die Besteuerung von Flugbenzin wäre eine weitere Option, durch die Umwelt- und Entwicklungsprobleme, aber
auch Sicherheitsprobleme angegangen werden könnten.
Alle diese Optionen haben mit zentralen Herausforderungen der Globalisierung zu tun. Sie zeigen kreative
Wege auf, wie negative Wirkungen auf Finanzsysteme
und Umwelt bekämpft und gleichzeitig Mittel für die Bewältigung internationaler Krisen aufgebracht werden
können.
Frau Kollegin,
denken Sie bitte an die Zeit.
Ich bin mir bewusst, dass diese Steuerinstrumente nicht kurzfristig greifen werden. Deshalb möchte
ich noch einmal auf das in vielen Dokumenten bekräftigte
0,7-Prozent-Ziel zurückkommen, das auch von Herrn
Köhler vom IWF und von Herrn Wolfensohn von der
Weltbank immer wieder ins Gespräch gebracht wird. Insbesondere im Hinblick auf die notwendige Verstärkung
der multilateralen Zusammenarbeit und für all die vor uns
stehenden Aufgaben sollte das noch einmal ins Auge gefasst werden.
Am nötigsten brauchen wir heute -
Nein, Frau Kollegin, Sie können jetzt keine weiteren Ausführungen machen. Sie müssen einfach einen Punkt setzen.
Ich setze jetzt mit dem letzten Satz einen
Punkt: Die Entwicklungspolitik hat gute Möglichkeiten,
dem Kampf der Kulturen den Dialog der Kulturen
gegenüberzustellen. Dafür muss sie auch finanziell handlungsfähig sein.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Detlef Dzembritzki.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die strikte Trennung
zwischen innerer und äußerer Sicherheit gibt es nicht
mehr. Der jetzt auf so erschütternde Art und Weise sichtbar gewordene Terrorismus entzieht sich dieser eindeutigen Zuordnung. Wir sind entsetzt über die kriminelle
Energie eines international agierenden Terrorismus; wir
schöpfen aber auch Hoffnung aus der weltweiten Reaktion und daraus, dass sich fast alle Staaten der Welt in
ihrem Streben, den Terrorismus zu bekämpfen, zu einer
Gemeinschaft zusammengeschlossen haben. Auch dies ist
eine neue Qualität in der internationalen Zusammenarbeit.
({0})
Die neue, in Konturen sichtbar gewordene Weltgemeinschaft braucht eine Zukunft. Dafür braucht sie eine Vorstellung von der zukünftigen Ausgestaltung ihrer Beziehungen. Die aktuelle Lage zwingt uns als erste Priorität ein
umfassendes Konzept zur Prävention und Bewältigung
von Krisen auf, das in politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und in Sicherheitsfragen zusammengeführt werden
muss. Der Grundstein dafür ist ein internationaler und vor
allem langfristiger Dialog. Dieser Dialog muss so gestaltet
sein, dass nicht nur der Westen auf die anderen Staaten zugeht und versucht, seine Vorstellungen zu übertragen; hier
ist im Gegenteil ein Dialog gefordert, der - wie Otto Schily
es formuliert hat - von einer geistigen Offenheit geprägt
sein muss, der Bereitschaft, die eigenen Maßstäbe zu formulieren, aber genauso die Vorstellungen anderer anzuhören und sich mit diesen auseinander zu setzen.
({1})
Aus diesem Dialog wird sich Zusammenarbeit entwickeln. Auch hier plädiere ich für eine Zusammenarbeit
auf gleicher Augenhöhe. Wenn wir unsere Maßstäbe von
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Ausgestaltung der
Wirtschaft gern in die Empfängerländer weitergeben
möchten, müssen wir sensibel bleiben für Traditionen und
Identitäten, die in diesen Ländern existieren.
Meine Damen und Herren, die Aufgaben, die uns bevorstehen, werden ganz wesentlich mit im Kernarbeitsbereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Entwicklungspolitik angesiedelt sein. Mittel- und langfristig
werden wir - schon aus sicherheitspolitischen Gründen unsere Anstrengungen, auch unsere finanziellen Anstrengungen in der Entwicklungszusammenarbeit erheblich verstärken müssen. Auch dies, meine Damen und Herren und
lieber Christian Ruck, ist ein Argument für die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Ich träume davon, was wir
mit den über 80 Milliarden DM machen könnten, die wir
Jahr für Jahr als Zinsen für über 1 500 Milliarden DM
Schulden ausgeben, die ihr uns hinterlassen habt. Das ist
doch mit das Kernproblem, das wir hier zu sehen haben.
({2})
Armut, Umweltzerstörung, Hunger und Gewalt sind globale Probleme. Zwar sind nicht alle gleichermaßen direkt
davon betroffen, doch die Folgen spüren wir alle, seien es
Flüchtlingsbewegung und Migration, sei es internationaler Terror.
Ein gutes Beispiel für erfolgreiche deutsche, europäische und internationale Politik in unserem Bereich ist der
Stabilitätspakt Südosteuropa. Er bietet einen Rahmen,
um die Region politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich zu stabilisieren.
({3})
Ganz konkret bedeutet das für mich: Jeder Euro, der dort
in ein Projekt gesteckt wird - sei es für die Instandsetzung
von Schulen, von Krankenhäusern, von Straßen, von Wasser- und Energieversorgung -, ist ein Euro, der dem Frieden dient.
({4})
Bei der Sondersitzung zur Entsendung deutscher Soldaten
nach Mazedonien haben wir auch der Verlängerung des Stabilitätspaktes zugestimmt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Diese wichtige und richtige Entscheidung, Herr Kollege,
muss nun natürlich Konsequenzen haben. Deswegen gehe
ich davon aus, dass in den Haushaltsberatungen auch die
notwendigen Maßnahmen in Form von Verpflichtungsermächtigungen und bei der mittelfristigen Finanzplanung
geschehen werden.
Aber es gibt auch andere Gründe, meine Damen und
Herren, die für eine Stärkung der Entwicklungspolitik
sprechen. Bislang haben viele übersehen, dass Entwicklungspolitik mit ihrer engen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen, mit UNO, WTO und anderen
Institutionen und mit ihrer Rolle bei den Weltkonferenzen
einen Baustein im Fundament von globaler Strukturpolitik und global governance darstellt. Hier besteht bereits
ein Dialog, der in anderen Politikbereichen erst noch aufgebaut werden muss, und hier liegen auch die Erfolge
dieser Bundesregierung, die sich nämlich gerade der globalen Strukturpolitik mit einer Schwerpunktpolitik gewidmet hat.
({6})
Lieber Kollege Ruck, ich bin froh, dass es trotz massiver Engpässe gelungen ist, im Haushalt zum Beispiel den
Nichtregierungsorganisationen, den Kirchen und den Stiftungen mehr Geld zur Verfügung zu stellen, als sie im
Jahre 2001 hatten. Auch dies ist eine Realität, die man sehen muss.
({7})
Wir werden das mit dem Stabilitätspakt diskutieren. Zur
Haushaltsklarheit und -wahrheit gehört erst einmal, dass
ein begrenztes Programm wie der Stabilitätspakt auch
auslaufen muss. Es ist jetzt unsere Aufgabe, ihn wieder
einzusetzen; dann werden wir auch diejenigen Bereiche,
die Sie bei den Stiftungen und anderen Institutionen immer herausrechnen, wieder einzurechnen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin dankbar, dass
die Ministerin die Situation der Entwicklungshelfer in
Kolumbien und Afghanistan angesprochen hat. Wir haben
bei der Debatte über den Militäreinsatz ausführlich und zu
Recht über die Risiken für Leib und Leben unserer Soldaten gesprochen.
Herr Kollege,
Ihnen bleibt leider keine Zeit mehr.
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss.
Ich denke, dass wir gerade bei der Diskussion, die wir
heute führen, darauf einzugehen haben, dass die acht in
Afghanistan, in Kolumbien und in Uganda ermordeten
Entwicklungshelfer tagtäglich ein Risiko eingingen, das
im Interesse unserer Politik ist, die dem Frieden, der
Prävention und der internationalen Zusammenarbeit geschuldet ist.
Vielen Dank.
({0})
Danke schön.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Punkt liegen nicht
vor. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/6881 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu den Geschäftsbereichen des Bundes-
ministeriums des Innern, Einzelpläne 06 und 33, sowie
des Bundesministeriums der Justiz, Einzelpläne 07
und 19. Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 4 a
und 4 b auf:
4 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur
Änderung der Pfändungsfreigrenzen
- Drucksache 14/6812 -
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Bereinigung offener Fragen des Rechts an Grundstücken in den neuen Ländern ({0})
- Drucksachen 14/6204, 14/6466 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 14/6964 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Hans-Christian Ströbele
Dr. Evelyn Kenzler
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Ich eröffne jetzt die Debatte und erteile das Wort
zunächst dem Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Im fahlen
Licht der schrecklichen Terroranschläge in den Vereinigten Staaten von Amerika, die nicht so schnell aus unserem
Gedächtnis verschwinden werden, gewinnt die heutige
Debatte über die innere Sicherheit ein besonderes Gewicht. Dieser Sachverhalt mahnt uns zugleich, bei der
Verteidigung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten bei allem notwendigen Streit über das Detail zusammenzustehen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten
von uns, dass wir alles Menschenmögliche tun, um die Sicherheit in unserem Lande zu gewährleisten. Sie erwarten
von uns Klarheit und Entschlossenheit; sie erwarten von
uns keinen Wettbewerb in Polemik. Deshalb hoffe ich,
dass wir zu einer sachlichen Debatte kommen. Damit
hier - das sage ich an die Adresse der CDU/CSU - kein
Missklang wegen meiner zeitweiligen Abwesenheit von
der Regierungsbank während des Vortrags Ihres
Fraktionsvorsitzenden entsteht: Ich bitte dafür um Entschuldigung. Ich muss - wie Sie, Herr Marschewski, wissen - einige Gespräche mit den Spitzen der Infrastrukturbereiche führen. Eines dieser Gespräche war heute
angesetzt. Ich bitte, das hier entgegenzunehmen.
Es kommt der Sicherheit in unserem Lande zugute,
dass wir als Bundesregierung eine konsequente Politik
zur Festigung und Stärkung der inneren Sicherheit betrieben haben.
({0})
- Das lässt sich auch an den Haushaltszahlen, Herr Geis,
nachweisen. - Wir haben ungeachtet der Tatsache, dass
wir selbstverständlich solidarisch an den Konsolidierungsbemühungen im Gesamthaushalt teilnehmen mussten und wollten, weil wir den Marsch in den Schuldenstaat nicht weiter gehen können - auch im Interesse der
Menschen -, gleichwohl die Ansätze in den Ressortteilen
der inneren Sicherheit nicht gesenkt, sondern stetig erhöht. Sehen Sie sich die Ansätze an: Seit Regierungseintritt 1998 bis zum Jahre 2001 - das sind die Haushaltszeiträume, die hinter uns liegen - haben wir eine
Steigerung von rund 10 Prozent. Das sind immerhin
376 Millionen DM mehr, als wir ursprünglich in diesem
Etat hatten.
({1})
Ich glaube, das ist wirklich ein deutlicher Nachweis für
das, was wir getan haben.
Wir haben beispielsweise wesentliche Beschaffungsprogramme in Gang gesetzt bzw. fortgeführt. So haben
wir heute hochmoderne Hubschrauber zur Verfügung;
hierfür haben wir 220 Millionen DM eingesetzt. Die Beschaffung von Seefahrzeugen für den Bundesgrenzschutz
hatte ein Volumen von 90 Millionen DM. Weitere Beschaffungsprogramme sind vorgesehen. Dabei vernachlässigen wir übrigens auch nicht die Sicherheit unserer
BGS-Piloten. Durch Einführung eines neuen Antikollisionssystems haben wir dafür gesorgt, dass die Sicherheit
unserer BGS-Piloten und der Hubschrauberbesatzungen
verbessert wurde.
({2})
Wir haben in den Haushaltsgesprächen mit dem Bundesfinanzminister auch dafür gesorgt - ich verschweige
Ihnen nicht, dass das nicht immer ganz einfach war -, dass
sich die Besoldungsstruktur im Bundesgrenzschutz
deutlich verbessert hat. Wir haben in den letzten drei Jahren 3 772 Hebungen und 11 870 Beförderungen realisieren können. Ich werde Ihnen gleich sagen, dass wir in dem
Haushaltsjahr, über das wir heute sprechen, weitere Maßnahmen dieser Art vorsehen.
Für die Luftsicherheit - aktuell ist das, wie Sie wissen, ein besonderes Thema - haben wir in dem Zeitraum,
den ich Ihnen genannt habe, 1,2 Milliarden DM ausgegeben. Deshalb können wir uns auch rühmen, dass Deutschland im internationalen Maßstab die schärfsten Sicherheitsstandards hat; damit erhöhen wir auch die Sicherheit
unserer Bürgerinnen und Bürger.
({3})
Wir haben die Ansätze für das Technische Hilfswerk in
den zurückliegenden drei Jahren verstärkt; wir haben die
Ansätze für die internationale polizeiliche Zusammenarbeit, beispielsweise bei Europol, verstärkt bzw. Mittel für
die Gründung einer europäischen Polizeiakademie - eine
Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft - eingesetzt.
Maßnahmen in beiden Bereichen sind natürlich gerade
auch in der gegenwärtigen Situation von herausragender
Bedeutung, weil wir alle wissen, dass Terrorismus und allgemeine Kriminalität nicht mehr isoliert national, sondern
nur noch im internationalen Rahmen bekämpft werden
können. Auch angesichts der aktuellen Debatte verweise
ich darauf, dass wir für die Kontrolle der SchengenAußengrenzen der Europäischen Union die Mittel verstärkt haben und auch den Kandidatenländern, die später
die Außengrenzen zu schützen haben werden, Mittel zur
Verfügung gestellt haben, damit sie sich darauf vorbereiten können.
Ich will im Rahmen einer allgemeinen Haushaltsdebatte, die ja durch die Ereignisse eine neue Dimension gewonnen und sicherlich dadurch auch einen neuen Schwerpunkt erhalten hat, hier nicht alles aufführen, was wir als
Bilanz in der Innenpolitik unter dem Stichwort innere Sicherheit zu nennen hätten; wir dürfen aber, auch wenn
uns das Thema Terrorismus jetzt in besonderem Maße beschäftigt, nicht andere Kriminalitätsbereiche vernachlässigen. Das wäre nicht angemessen. Wir müssen uns
selbstverständlich auch mit diesen Kriminalitätsbereichen
auseinander setzen. Deshalb darf ich noch einmal daran
erinnern, dass wir auch politisch zur Bekämpfung der
Kriminalität einiges in Gang gesetzt haben, sowohl bezüglich des Einsatzes der Mittel und durch Stärkung der
Sicherheitsgremien als auch durch gesetzliche Neuregelungen. Wir haben das Waffenrecht - mit dem haben Sie
sich ja über Jahrzehnte ohne Ergebnis geplagt - jetzt in
das Gesetzgebungsverfahren eingebracht.
Wir haben eine besondere Einrichtung geschaffen, von
der ich glaube, dass sie auch für die Präventionsarbeit von
Bedeutung ist: nämlich die Stiftung Deutsches Forum
für Kriminalprävention. Das gilt vor allen Dingen im
Hinblick darauf, dass wir Erkenntnisse der Wirtschaft und
staatlicher Instanzen zugunsten einer besseren Präventionsarbeit zusammenführen. Mit dem periodischen Sicherheitsbericht haben wir etwas geschaffen, was uns einen besseren Einblick in das Kriminalitätsgeschehen
vermittelt. Dafür haben beide Häuser, nämlich das Ministerium meiner Kollegin Däubler-Gmelin und das
Bundesministerium des Innern, viel Lob erfahren. Er verschafft uns einen sehr viel besseren Einblick in das Kriminalitätsgeschehen als die bloße Kriminalstatistik.
({4})
Ich glaube, wir können mit großem Selbstbewusstsein
darauf verweisen, dass wir die Sicherheitsarchitektur im Inund Ausland ausgebaut und verstärkt haben. Es gibt inzwischen - abgesehen von zwei Bundesländern, mit denen entsprechende Vereinbarungen noch ausstehen - Sicherheitskooperationen zwischen dem Bundesgrenzschutz und den
Landespolizeien. Diese Sicherheitskooperationen haben
sich bewährt, besonders in Berlin. Wir haben selbstverständlich auch auf der internationalen Ebene Sicherheitskooperationen zustande gebracht, und zwar im europäischen Rahmen sowohl auf bilateraler als auch auf
multilateraler Ebene. Deutschland spielt eine besonders
aktive Rolle in der Europäischen Union im Bereich der Innen- und der Justizpolitik.
Diese erfolgreiche Politik werden wir mit dem jetzt
vorgelegten Etatentwurf fortsetzen. Er enthält - das können Sie nachlesen - Steigerungsraten. Ich möchte sie alle
gar nicht im Einzelnen aufführen. Ich möchte nur darauf
hinweisen, dass wir ein besonderes Augenmerk auf die
Sicherheitsinteressen im Informations- und Kommunikationsbereich richten. Wir müssen uns die Tatsache bewusst machen, dass gerade die erheblichen technisch-zivilisatorischen Fortschritte, die unsere Gesellschaft
erzielt hat, zu sicherheitsempfindlichen Bereichen geführt
haben. Wir müssen uns besonders um diese Bereiche
kümmern. Deshalb ist es ein Vorteil, dass Deutschland
jetzt ein Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik hat, in dessen Zuständigkeitsbereich alle
rechtswidrigen Angriffe im Bereich der Informationstechnik fallen, also nicht nur terroristische. Welchen
Schaden solche Angriffe anrichten können, kann sich jeder ausmalen. Deshalb haben wir das Bundesamt für die
Sicherheit in der Informationstechnik eingerichtet, das
ein Sicherheitsdienstleister ganz besonderer Art ist.
Die von uns geschaffenen Einrichtungen haben ihre
Feuerprobe schon hinter sich: Sie haben sich beim Jahrtausendwechsel, als man aufgrund des dadurch verursachten Datumswechsels bei den Computern ein Chaos
erwartete, und beim Absturz der Mir - einige hatten
schon apokalyptische Szenarien an die Wand gemalt - bewährt. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Einrichtungen möchte ich ein besonderes Lob und meine Anerkennung aussprechen.
({5})
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Uhl?
Bitte schön,
Herr Uhl.
Herr Minister, Sie
haben in Ihrer Rede, die Sie vergangene Woche zum
Thema Terrorismusbekämpfung gehalten haben, einen
Satz gesagt, dem Sie heute keine Ergänzung haben folgen
lassen. Der Satz lautet: Identitätssicherung - damit der
Staat seine Kontrollpflichten und Kontrollrechte ausüben
kann - ist in einem Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit. - Es stellt sich aus aktuellem Anlass die
Frage, ob die Auslandsvertretungen Fingerabdrücke
von denjenigen, die ein Visum für Deutschland beantragen, nehmen und sie anschließend in das automatisierte
Informationssystem AFIS einspeisen sollen. Das Auswärtige Amt hat sich bisher geweigert, so etwas zu machen.
Meine Frage: Wie lange werden Sie voraussichtlich
brauchen, bis Sie bei den Kollegen im Auswärtigen Amt
durchgesetzt haben, dass in allen Auslandsvertretungen
die entsprechenden der Identifizierung von Fingerabdrücken dienenden Geräte, die bereits erprobt sind, installiert sind? Diese Geräte müssen schließlich noch beschafft werden. Nach meinen Erkenntnissen könnte das
über ein Jahr dauern, wenn man den üblichen Weg des
Ausschreibungsverfahrens wählt.
Herr Uhl, für
Ihre Zwischenfrage bin ich Ihnen sehr dankbar, weil ich
jetzt bei der Beantwortung Ihrer Frage das darlegen kann,
was ich aufgrund meiner knappen Redezeit nicht mehr
hätte sagen können.
Selbstverständlich werden wir das auf den Weg bringen, Herr Uhl. Ich halte das für dringend erforderlich. Ich
möchte Sie daran erinnern, dass wir im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999
entsprechende Vorschläge auf europäischer Ebene eingebracht haben. Leider sind sie auf der europäischen Ebene
noch nicht so angekommen, wie ich es mir gewünscht
habe. Angesichts der jüngsten Sonderkonferenz ist diese
Überlegung in der Kommission aber angenommen worden. Wir werden das auch auf der europäischen Ebene vorantreiben.
Ich will nicht versäumen, Sie darauf hinzuweisen - ich
sage das an die Adresse der FDP; ich komme darauf
zurück -, dass solche Vorschläge auch in der alten Regierung durchaus kontrovers debattiert worden sind, aber
dann nicht verwirklicht worden sind, weil man sich zwischen CDU, CSU und FDP nicht einigen konnte.
({0})
Das erinnert mich an manches, was vielleicht auch bei uns
mitunter vorkommt.
Herr Uhl, wir müssen an diesem Thema weiterarbeiten.
Ich bin dafür, dass wir das rasch umsetzen. Sie können sicher sein, dass wir das unter Beachtung aller rechtsstaatlichen Prinzipien verwirklichen werden. Ich befinde mich
in dieser Angelegenheit in einem sehr konstruktiven Gespräch mit dem Kollegen Fischer. Er hat mir zugesagt,
dass wir zu guten Ergebnissen kommen werden.
({1})
- Das wäre nicht schlecht. Vielleicht kann sich jemand ermuntert fühlen, eine weitere Zwischenfrage zu stellen.
Dann komme ich mit meiner Redezeit besser klar.
Ich möchte nun auf die aktuelle Lage eingehen.
({2})
- Wunderbar, Herr Marschewski.
({3})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Marschewski?
Bitte schön.
Herr Minister, ich habe Ihrer Aufforderung Folge geleistet. Wir wollen noch ein bisschen über Innenpolitik diskutieren. Die Union hat vor geraumer Zeit einen Gesetzentwurf - Stichwort Ausländerzentralregister bzw.
Warndatei - eingebracht. In diesem Gesetzentwurf
wurden diese Dinge, das heißt Kontrollen in Visaverfahren im Ausland, angesprochen. Können Sie mir sagen,
warum die sozialdemokratische Mehrheit in diesem
Hause und natürlich auch die Grünen diesen Gesetzentwurf abgelehnt haben?
({0})
Ich muss Ihnen erst einmal sagen: Auch in der von Ihrer Fraktion getragenen Regierung war AZR ein Thema. Es stimmt, dass
Sie entsprechende Vorschläge gemacht haben, die diskutiert worden sind. Mir liegt eine Notiz vor, die sich auf solche Fragen bezieht:
Allerdings ist bei der Ressortabstimmung mit Widerstand des BMJ und des Bundesbeauftragten für den
Datenschutz zu rechnen. Auf die Weigerung der FDP,
die unter Punkt 2.2 beschriebene Ausweitung des
AZR in dieser Legislaturperiode mitzutragen, wird
hingewiesen.
({0})
Auch Sie hatten mit einigen Problemen zu kämpfen. Nun
bringen wir die Dinge voran.
({1})
- Ja, gut. Die Koalitionsmöglichkeiten sind in manchen
Fragen gar nicht so groß.
Damit mich niemand missversteht, Herr Marschewski:
Ich tadele die FDP dafür nicht. Genauso wenig tadele ich
die Grünen dafür, dass sie sich für rechtsstaatliche Belange einsetzen. Das ist zu loben.
({2})
Das heißt nicht, dass wir uns immer im Detail einig sind.
Die Grünen müssen damit umgehen können - das tun sie
auch -, dass ich die Auffassung vertrete, dass man die
rechtsstaatlichen Bedenken entkräften kann. Die Koalitionspartner führen in dieser Sache ein sehr konstruktives Gespräch. Sie werden sehen, dass wir zu guten Ergebnissen kommen.
Herr Marschewski, denken Sie nicht, wir hätten irgendetwas beiseite gelegt: Leider liest keiner meinen Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz.
({3})
- Doch, die SPD. Ich bedanke mich bei meiner eigenen
Fraktion.
({4})
Die CSU liest den Entwurf nicht. Sie will ihn auch gar
nicht lesen. Seehofer sagt, ich könne in diesen Gesetzentwurf hineinschreiben, was ich will, er lehne ihn immer ab.
Diese Haltung eines Oppositionspolitikers sollte man
nicht als Opposition, sondern als Obstruktion - diese Bezeichnung ist treffender - bezeichnen.
({5})
Herr Marschewski, wenn Sie meinen Entwurf für ein
Zuwanderungsgesetz lesen würden, dann würden Sie das
alles entdecken.
({6})
Schauen Sie doch einmal hinein! Ich lade Sie zu einem
Privatgespräch in mein Ministerium ein. Ich werde Ihnen
sämtliche Fundstellen zeigen. Wir haben alle diese Dinge
aufgenommen. Ich mache Sie nur auf Folgendes aufmerksam: Die Identitätssicherung bei der Visumantragstellung ist in § 49 Abs. 3 Nr. 5 des Entwurfes des Aufenthaltsgesetzes enthalten. Ich schlage Ihnen vor, das
einmal nachzulesen.
Wir haben diesen Punkt jetzt ausreichend erörtert. Ich
bedanke mich ausdrücklich dafür, Herr Marschewski,
dass Sie mir diese Frage gestellt haben.
({7})
- Noch eine weitere Zwischenfrage? - Bitte schön.
Herr Minister,
ich muss im Interesse des ganzen Hauses auch an die folgenden Redebeiträge denken.
Frau Präsidentin, ich glaube, es lag im Interesse des ganzen Hauses,
einmal zu erfahren, was in dem Gesetz enthalten ist.
({0})
Ich finde, das ist Demokratie. Es ist gut, dass wir diesen
demokratischen Dialog im Parlament führen. Herr
Marschewski ist darin einer der Geübtesten. Deshalb: Bitte
schön, Herr Marschewski.
Dann einigen
wir uns darauf, dass ich noch eine Zwischenfrage zulasse. - Bitte.
Herr Minister, ich habe Sie danach gefragt, warum die
SPD damals Nein gesagt hat. Sie kennen die SPD; Sie
kennen die Grünen. Sie kennen noch nicht die FDP und
Sie kennen auch noch nicht die CDU/CSU. Man weiß
aber nicht, was noch wird.
({0})
Ich habe Sie danach gefragt, was die Kollegen der SPD
damals gesagt haben.
Ein weiterer Punkt. Ich weiß, Herr Minister, dass das,
was Sie damals abgelehnt haben, jetzt bezüglich der
Warndatei Inhalt Ihres Entwurfes zum Zuwanderungsgesetz ist. Meine Frage lautet: Wann werden Sie diesen
Referentenentwurf im Kabinett mit den Grünen zusammen verabschieden und endlich das realisieren, was Sie
andauernd hier ankündigen? Wir stehen dabei an Ihrer
Seite das wissen Sie.
({1})
Frau Präsidentin, ich muss erst einmal darauf hinweisen, dass meine
Redezeit gerade um eine Minute gekürzt wurde. Vorhin
hatte ich noch 8:42 Minuten und jetzt aber nur noch 7:42
Minuten Redezeit. So geht das nicht. Ich bitte, die Regularien einzuhalten.
Herr Marschewski, wenn Sie Ihren Gesetzentwurf mit
unserem Gesetzentwurf vergleichen, dann werden Sie
natürlich bestimmte Unterschiede entdecken. Unterschiede müssen schon sein. Wir können nicht immer
100 Prozent CDU/CSU machen. Das geht nicht. Wir
müssen schon unsere eigenen Vorschläge machen können.
({0})
- Sie erwarten das auch nicht.
Vielen Dank, Herr Marschewski, bis demnächst.
({1})
Nach diesen humorvollen Bemerkungen möchte ich
auf die Bedrohungslage zu sprechen kommen, die nicht zu
Scherzen Anlass gibt. Ich möchte darauf hinweisen, dass
wir, gerade was die terroristische Bedrohung angeht,
nicht erst am 11. September angefangen haben, uns mit
diesem Problem zu befassen. Seit meiner Amtsübernahme
habe ich das als wichtiges Problem angesehen.
Ich will übrigens daran erinnern - diese Tatsache
verdient der Erwähnung -, dass der frühere Präsident des
Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln, Herr
Dr. Frisch, dieses Thema besonders sorgfältig und mit besonderem Ernst angesprochen hat. Mir ist gut in Erinnerung, dass er das auch in Gesprächen mit mir getan hat.
Sie müssen nicht etwa denken, dass mir dieses Thema neu
ist. Das erkennt man an meinen öffentlichen Äußerungen,
an den Interviews, die ich gegeben habe, und an den Verfassungsschutzberichten, die ich vorgelegt habe. Ich muss
zugeben: Die öffentlichen Äußerungen, die ich dazu gemacht habe, haben nicht den Widerhall gefunden, den
man heute vielleicht finden kann. Dafür kann ich niemanden tadeln; denn niemand hat sich vorstellen können, dass
es eine solche verbrecherische Energie geben kann, wie
wir sie in New York und Washington erlebt haben.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Hinweis. Ich
teile die Ansicht, die meine Kollegin Frau WieczorekZeul geäußert hat, was den Nährboden, die Armut und die
Aufgaben angeht, die uns in diesem Zusammenhang
erwarten. Aber wir sollten nicht den Fehler machen, diesen Terrorkrieg mit dem sozialen Ungleichgewicht in der
Welt zu erklären. Das wäre eine völlig verkürzte Sichtweise.
({2})
Ich sage noch einmal: Es geht um den sehr entschlossenen Einsatz repressiver Mittel. Das machen wir schon
jetzt durch eine Reihe von Sofortmaßnahmen, die ich wegen der Kürze der Zeit jetzt nicht im Einzelnen darstellen
kann. Bei einigen Maßnahmen ist es vielleicht gar nicht
notwendig, das zu tun. Darüber habe ich auch im Innenausschuss berichtet; ich brauche das hier nicht zu wiederholen.
Wir werden in diesem Bereich einiges neu organisieren
müssen. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Ich glaube,
es ist notwendig, Luft-Marshals einzusetzen. Früher gab
es ja seitens der Lufthansa bzw. vieler Piloten zahlreiche
Vorbehalte. Diese Vorbehalte musste man ernst nehmen.
Heute sind auch sie der Meinung, dass wir Luft-Marshals
brauchen. Aber dafür benötigt man natürlich gut ausgebildete Personen. Man kann nicht irgendjemanden einsetzen. Deswegen bin ich dafür, eine eigene Einheit zu schaffen. Das werde ich in Gang bringen.
({3})
Wir müssen all diese Maßnahmen auf internationaler
Ebene koordinieren. Das, so finde ich, ist notwendig.
Ich bin dem Bundesfinanzminister besonders dankbar
dafür, dass er für die notwendigen Erhöhungen des Personal- und Sachmitteleinsatzes bei den Sicherheitsinstitutionen ein entsprechendes Haushaltsvolumen zur Verfügung stellt. Ich möchte mich bei ihm für die gute
Zusammenarbeit bedanken. Das sage ich, um das zu widerlegen, was aus einigen Zeitungsberichten, in denen
stand, es sei ein Streit entstanden, gefolgert werden kann.
Natürlich geht es zunächst einmal darum, einige Dinge zu
klären. Leider ist es ja so, dass irgendwelche Zuträger aus
Fraktionssitzungen - Fraktionssitzungen sind eigentlich
nicht öffentlich - berichten.
({4})
- Bei Ihnen kommt das ja nie vor, wie ich weiß. Sie haben
da eine geschlossene Gesellschaft. Darum kann man Sie
beneiden. Aber bei uns passiert das nun einmal. - Dadurch
wird natürlich wie bei dem Spiel Stille Post einiges
verzerrt.
Also, ich stelle fest: Ich habe das allerbeste Einvernehmen mit dem Bundesfinanzminister und bedanke mich
ausdrücklich dafür, dass er an dieser Stelle ein entsprechendes Finanzvolumen zur Verfügung gestellt hat.
({5})
Wir werden diese zusätzlichen Mittel sehr zielbewusst
einsetzen. Ich habe es übrigens meinem Hause ausdrückErwin Marschewski
lich untersagt, zu sagen, man habe im Zuge der Haushaltskonsolidierung den einen oder anderen Titel etwas
einschränken bzw. Umschichtungen vornehmen müssen,
nun könne man das Geld gut gebrauchen. Ich habe gesagt:
Wir bleiben fair, so wie wir das bisher waren. Dort, wo
Verstärkungen notwendig sind, werden wir diese Mittel
einsetzen. Das gilt für das Bundeskriminalamt, für den
Bundesgrenzschutz und für das Bundesamt für Verfassungsschutz.
Gerade Aufklärung ist das A und O bei der Bekämpfung des Terrorismus. Dabei muss man wissen: Es reicht
nicht aus, einfach zu sagen, man müsse 500 Personen
mehr einstellen. Diese müssen wir nämlich erst einmal zur
Verfügung haben und sie sollten die entsprechende Qualifizierung aufweisen.
({6})
Auch auf dem Gebiet der Vorfeldarbeit ist der Verfassungsschutz, der bisher gute Arbeit geleistet hat, gefordert. Er muss sich in den interreligiösen und interkulturellen Dialog einarbeiten. Auch der Verfassungsschutz
muss sich ein bisschen von seinem alten Image befreien,
das tut er auch zunehmend. Zudem sollten manche ihr
Vorurteil abbauen, dass er ein Schlapphutverein ist, der an
vielen Orten mit dem Horchrohr oder Ähnlichem herumläuft. Nach meinem Verständnis wird der Verfassungsschutz eine moderne Aufklärungstruppe, die einem fortschrittlichen Verfassungsverständnis entspricht. Dafür
werde ich sorgen.
({7})
Meine Damen und Herren, selbstverständlich werden
sich diese Maßnahmen auch auf den Zivilschutz erstrecken. In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass wir mit der Neuorganisation des Zivilschutzes nicht erst am 11. September 2001 begonnen
haben. Wir haben zum Beispiel die Maßnahme getroffen,
an einer Zentralstelle, an einer Koordinationsstelle, alle
gesammelten Informationen zusammenzuführen. Allerdings werden wir einige von uns getroffene Entscheidungen revidieren müssen. Wir werden also im Mitteleinsatz
sehr viel weiter gehen müssen, als wir das früher konnten.
Dafür haben wir jetzt die entsprechenden Voraussetzungen.
Das gilt auch im Hinblick auf die Länder. Wir werden
die Mittel für die Ausrüstung der Bereitschaftspolizeien
der Länder erhöhen.
({8})
Es wird auch notwendig sein, zu einigen gesetzlichen
Veränderungen zu kommen. Herr Marschewski, Herr
Bosbach, es ist nicht so, dass es bei dem ersten Kabinettsbeschluss - er sah die Einfügung des § 129 b in das
Strafgesetzbuch und die Streichung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht vor - bleiben wird. Das ist nur eine
erste Stufe. Es wird eine zweite Stufe mit einem umfangreichen Ansatz in verschiedenen Bereichen folgen
müssen.
Wir haben in diesem Zusammenhang auch in dem geplanten Zuwanderungsgesetz einiges vorgesehen. Vielleicht müssen wir diese Aspekte gesondert behandeln. Sie
wissen, wir haben vorgesehen, dass das Zuwanderungsgesetz am 1. Januar 2003 in Kraft tritt. Die Länder müssen das dann im Vollzug umsetzen. Vielleicht müssen wir
etwas herauslösen, weil die Sicherheitssituation dies notwendig macht.
Ich werde mich auch beim Zuwanderungsgesetz, soweit es wirtschaftlichen Interessen dient, von der Einhaltung humanitärer Prinzipien nicht abbringen lassen.
Auch dieses Zuwanderungsgesetz werden wir konsequent in das Gesetzgebungsverfahren hineinbringen. Ich
muss noch einmal fragen, Herr Bosbach und Herr
Marschewski: Ich höre von Ihnen jeden Tag etwas anderes.
({9})
- Von Ihnen nicht, da bilden Sie vielleicht eine rühmliche
Ausnahme. - Herr Goppel sagt: Wir wollen es in dieser
Legislaturperiode machen. Am nächsten Tag sagt Herr
Glos etwas anderes. Herr Beckstein lobt einmal den Entwurf, dann wird er von Herrn Stoiber ermahnt, ihn doch
nicht so gut zu finden. Dann sagt Herr Ministerpräsident
Müller wieder, es sei alles hervorragend.
({10})
Dann kommt Ihr Fraktionsvorsitzender Merz und sagt:
Wir müssen das machen.
Ich bin ja gesprächsbereit, wenn Sie meinen, es gebe
noch Diskussionsbedarf. Ich muss mit vielen reden. Ich
muss mit den Grünen, mit der SPD und mit anderen
Organisationen reden. Ich rede natürlich auch gerne mit
Ihnen. Aber ich muss den Willen erkennen, etwas bewerkstelligen zu wollen. Das, finde ich, brauchen wir. Gerade als Antwort auf Terrorismus brauchen wir ein Zeichen, dass wir ein weltoffenes Land sind, das die Zeichen
der Zeit erkannt hat,
({11})
nicht etwa das Zeichen, jetzt eine Abschottungspolitik zu
betreiben.
Sie haben doch früher den Anspruch erhoben, eine Partei zu sein, die eine gewisse Wirtschaftskompetenz hat.
Also rufen Sie doch einmal Herrn Hundt an oder Herrn
Rogowski und wie sie alle in den Verbänden heißen. Dort
werden Sie erfahren, dass Sie das machen sollen.
Ich glaube, hier sind wir auf einem guten Weg. Setzen
wir uns also zusammen für ein wichtiges Vorhaben, das
für die Zukunft unseres Landes von großer Bedeutung ist.
Herr Glos hat die Greencard getadelt. Ich muss Ihnen
dazu nur sagen, dass damit bereits 9 000 IT-Techniker zu
uns gekommen sind. Sie haben 27 000 neue Arbeitsplätze
für die hier lebenden Arbeitsuchenden zustande gebracht.
({12})
Von diesen IT-Technikern sind die meisten nach Bayern
gegangen, an zweiter und dritter Stelle liegen BadenWürttemberg und Hessen. Wollen Sie nun diesen Ländern
schaden? Im Moment werden sie ja noch von Ihnen regiert.
({13})
Meine Damen und Herren, wir müssen rasch, entschlossen, zielbewusst, aber auch überlegt handeln. Dazu
fordere ich Sie auf und dazu bin ich bereit.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Innenminister Schily, ich möchte gerne mit Ihrem letzten Gedanken
anfangen. Das ist wohl wahr: Ein Drittel der so genannten
Greencard-Inhaber sind nach Bayern gegangen, ganz
vernünftige Leute. Aber Bayern wendet nicht die Rechtsvorschriften an, die dieses Kabinett beschlossen und durch
den Bundesrat hat bestätigen lassen. Bayern erlaubt den
Zuzug und die Arbeitsaufnahme in Bayern auf einer ganz
anderen Rechtsgrundlage.
({0})
Der zweite Punkt: Es ist richtig, dass in Ihrem Gesetzentwurf auch einige Maßnahmen enthalten sind, die der
Gefahrenabwehr dienen. Wenn Sie sagen, das könne
man herauslösen oder vorziehen, sollten wir darüber
nachdenken, ob das unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr notwendig und vielleicht sogar dringend ist.
Aber eines geht nicht an: ein Problem lösen und mit Ihrem
Gesetzentwurf fünf neue schaffen. Genau das werden wir
nicht machen.
({1})
Wir alle stehen - darauf ist vorhin zu Recht hingewiesen worden - unter dem Eindruck der fürchterlichen Anschläge.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily? - Bitte.
Die Uhr für die Redezeit läuft jetzt auch bei mir weiter, aber ich beklage
mich nicht darüber.
Herr Bosbach, ich habe mir einmal erzählen lassen - aber da war Herr Stoiber noch nicht
Ministerpräsident -, dass die Bayerische Staatsregierung
eine Untersuchung zu der Frage in Auftrag gegeben hat,
ob man aus der Bundesrepublik auch austreten könne. Ich
bin jetzt aber doch etwas verwundert darüber, dass Sie die
Auffassung vertreten, dass in Bayern ein anderes Recht
gilt als im übrigen Bundesgebiet. Das müssen Sie mir einmal erklären.
Das kann ich Ihnen
genau erklären!
({0})
Inwiefern wird das Bundesrecht
nicht angewandt? Worin liegt der Unterschied?
({0})
Wie Sie wissen, kenne ich Herrn Beckstein ganz gut.
Er hat die Bluecard erfunden, weil ihn aufgrund der
Greencard der Hafer ein wenig gestochen hat. Wenn in
Deutschland die Greencard eingeführt wird, muss Bayern
die Bluecard haben. Blau-weiß ist ja auch eine schöne
Farbe.
({1})
Worin liegt denn der entscheidende Unterschied zwischen
der Blue- und der Greencard? Ich glaube, dass möglicherweise die Familienzusammenführung etwas erleichtert wurde. Sonst haben Sie in diesem Punkt immer eine
gewisse Skepsis. Vielleicht können Sie uns das einmal erklären.
Seien Sie mir nicht
böse, aber ich hatte geglaubt, Ihnen das nicht erklären zu
müssen.
({0})
Ich tue das aber gern.
({1})
Die beiden verabschiedeten Rechtsverordnungen basieren auf der Überlegung, dass der Betroffene entweder
einen Hochschulabschluss oder ein Jahreseinkommen in
Höhe von 100 000 DM nachweisen muss.
({2})
Bayern wendet § 8 der Arbeitsaufnahmeausnahmeverordnung an, einer Verordnung also, die es bereits gab, und hat
dann durch die Landesarbeitsverwaltung definieren lassen, dass per se ein öffentliches Interesse - das war
geltendes Recht, es musste nicht erst neu geschaffen werden - an diesem Personenkreis, über den wir gerade gesprochen haben, besteht. Dabei wurden zwei wesentliche
Ausnahmen geregelt: Es gibt keine Befristung auf fünf
Jahre und kein Aufenthaltsrecht mehr, wenn der Betreffende auf Dauer auf staatliche Leistungen angewiesen ist.
Das ist der Unterschied der bayerischen Lösung zu der
Lösung, die das Bundeskabinett beschlossen hat.
({3})
Dass diese Lösung für die Betroffenen attraktiver ist,
mögen Sie daran erkennen, dass ein Drittel - und damit
überproportional mehr als in die übrigen Bundesländer nach Bayern gegangen ist. Offensichtlich ist der AufentBundesminister Otto Schily
halt in Bayern und sind die dortigen Beschäftigungsmöglichkeiten für diesen Personenkreis attraktiver als im übrigen Bundesgebiet. Das spricht für und nicht gegen Bayern.
({4})
- So ist das.
({5})
Natürlich haben wir heute eine völlig andere sicherheitspolitische Lage als noch vor dem Fall der Mauer und
des Eisernen Vorhangs. Die Bedrohungen für Frieden
und Sicherheit sind andere, aber nicht minder gefährliche als noch vor 15 oder 20 Jahren. Deswegen dürfen wir
zu keinem Zeitpunkt unsere Anstrengungen vernachlässigen, den Frieden und die innere Sicherheit in unserem
Lande mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu verteidigen.
CDU und CSU haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hingewiesen, dass wir im Innern und nach außen wachsam
bleiben müssen, dass es weder die innere noch die äußere
Sicherheit zum Nulltarif gibt und dass Versäumnisse auf
diesen Gebieten unverantwortlich sind.
Jetzt auf einmal, erst nach den Anschlägen in den USA,
entdeckt auch die Bundesregierung die Bedeutung des
Themas Sicherheit.
({6})
Plötzlich werden sogar von Mitgliedern der Bundesregierung Reden gehalten, die zwar in vielen Punkten richtig
sind, aber besser vor dem 11. September gehalten worden
wären. Noch wichtiger wäre es, wenn den starken Worten
jetzt auch starke Taten folgen würden.
({7})
Kaum sind die ersten konkreten Maßnahmen für mehr
Sicherheit beschlossen worden, melden sich sofort die
ersten Bedenkenträger, die schon wieder den Rechtsstaat
in Gefahr sehen. Die gleichen Bedenkenträger haben in
der Vergangenheit den Rechtsstaat schon x-mal in Gefahr
gesehen, ohne dass sich ihre düsteren Prophezeiungen
auch nur ein einziges Mal bewahrheitet hätten. Nicht die
Durchsetzung des Rechts bringt den Rechtsstaat in Gefahr, sondern Unaufmerksamkeit und mangelnde Entschlossenheit beim Kampf gegen Kriminalität und Terror
jeder Art.
({8})
Manche wollen es nicht begreifen: Freiheit und Sicherheit sind keine Gegensätze, es sind zwei Seiten ein
und derselben Medaille.
({9})
Es ist die wichtigste Aufgabe des Staates, die Sicherheit
der Bürger zu gewährleisten. Wir wollen keinen allmächtigen Staat, der seine Bürger rund um die Uhr überbewacht. Wir wollen aber einen starken Staat, einen Staat,
der seine Bürger, sich selbst und seine Institutionen zu
schützen weiß. Deswegen müssen wir nicht nur mehr in
Sicherheit investieren - Bundeswehr, Grenzschutz, Nachrichtendienste, Polizeien, Zivilschutz -, sondern wir müssen auch das Recht fortentwickeln, um die Bürger wirksamer vor Verbrechen schützen zu können.
Insbesondere dürfen wir keine Erosion des Rechtsbewusstseins zulassen, die dazu führt, dass die Bürger den
Glauben an eine wirksame Verbrechensbekämpfung
durch den Staat verlieren. Das Markenzeichen für die Innenpolitik der letzten Jahre war die zu große Diskrepanz
zwischen dem, was der Innenminister öffentlich gesagt
hat, und dem, was er getan bzw. nicht getan hat.
({10})
Das erste Beispiel betrifft das Demonstrationsrecht:
14. September 2000, Rathaus Hamburg, 50-jähriges Jubiläum der Gewerkschaft der Polizei. Es spricht der Bundeskanzler. Er könne es im In- und Ausland niemandem
mehr vermitteln, dass wir es zulassen, dass Neonazis zur
Erinnerung an Hitlers Machtergreifung mit schwarz-weißroten Fahnen durch das Brandenburger Tor marschieren.
Diese Bilder gingen um die Welt, sie würden das Ansehen
Deutschlands beschädigen. So ginge es nicht weiter, hier
müsse dringend etwas geschehen. - Donnernder Applaus.
({11})
Das sind starke Worte. Was hat aber die Bundesregierung in den letzten 12 Monaten getan,
({12})
um das geltende Demonstrationsrecht so zu ändern, dass
derartige Aufmärsche zukünftig unter erleichterten Bedingungen verboten werden können? Erkennbar nichts.
Wir haben vor geraumer Zeit hierzu einen Gesetzentwurf
eingebracht. Rot-Grün lehnt ihn ab. Sie müssen dann aber
auch die Verantwortung für die Folgen tragen, und zwar
ganz alleine. Wenn diese widerlichen Demonstrationen
weiterhin geduldet werden, sollten Sie wenigstens auf öffentliche Empörung verzichten, wenn sie stattfinden.
({13})
Das nächste Beispiel ist die Kronzeugenregelung.
Rot-Grün hat die alte Regelung auslaufen lassen, ohne
eine neue zu beschließen.
({14})
Das war ein schwerer Fehler. Nach einer seriösen Umfrage haben sich 90 Prozent aller Praktiker für die Wiedereinführung einer Kronzeugenregelung ausgesprochen
und gesagt, sie sei beim Kampf gegen die organisierte
Kriminalität ein unverzichtbares Mittel, nicht nur, um
schon begangene Straftaten aufzuklären und Straftäter zu
überführen, sondern auch und vor allen Dingen, um neue
Taten zu verhindern.
Vor wenigen Tagen hat auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter die Wiedereinführung der Kronzeugenregelung und ein Aussteigerprogramm für islamistische Extremisten vorgeschlagen. Aber was macht die Regierung?
Nichts. Zwar verkündete sie Anfang des Jahres, dass an
einer neuen Regelung gearbeitet werde - immerhin -,
dann aber lässt der Kronjurist der Koalition, der Kollege
Beck, verlauten, dass die Kronzeugenregelung ein
schmutziger Deal mit Mördern und anderen Schwerverbrechern und daher eines Rechtsstaates unwürdig sei.
({15})
Das war es dann, jedenfalls bis heute, obwohl Sie eigentlich wissen müssten, dass es im Betäubungsmittelgesetz
immer noch eine Kronzeugenregelung gibt, die Sie aus
gutem Grund auch nicht abschaffen wollen.
({16})
Es mag vernünftig sein, Herr Minister, ein Lagebild
organisierte Kriminalität erstellen zu lassen, um ausführlich über die organisierte Kriminalität in unserem
Lande zu informieren. Viel wichtiger wären jedoch konkrete Maßnahmen für einen entschlossenen Kampf gegen
die organisierte Kriminalität. Sie lässt sich nicht mit Statistiken bekämpfen, sondern nur durch hoch motivierte
Ermittler, die sowohl das technische als auch das rechtliche Instrumentarium besitzen, um handeln zu können.
Wir haben schon vor dem 11. September einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt und werden bald wissen, ob die Regierung die organisierte Kriminalität nur
mit Worten oder auch mit Taten bekämpfen will.
Beim Kampf gegen den Rechtsextremismus haben
wir auch von dieser Stelle aus die Kultur des Wegsehens
beklagt und Hinsehen, Zivilcourage gefordert. Dann muss
aber erst recht der Staat hinsehen und eingreifen, wenn
Gefahr im Verzug ist. Wenn der Staat von seinen Bürgern
Zivilcourage verlangt, dann muss er selber erst einmal
Staatscourage zeigen.
({17})
Niemand von uns will einen Schnüffelstaat, niemand
will Unbescholtene verfolgen. Aber der Staat darf sich
auch nicht künstlich dumm stellen. Er muss zur Verhinderung und Aufklärung von Straftaten alle Erkenntnisquellen nutzen und die zuständigen Stellen informieren,
damit sie Gefahren erkennen und abwehren können.
Was spricht eigentlich dagegen, vor der Entscheidung
über einen Einbürgerungsantrag eines Ausländers beim
Verfassungsschutz anzufragen, ob Erkenntnisse vorliegen, dass sich der Bewerber extremistisch oder gewaltbereit verhalten hat?
({18})
Das hat nichts mit einem Generalverdacht zu tun, sondern
es hat etwas damit zu tun, dass wir unserem Land, den
Bürgern, die hier leben, schaden, wenn wir Ausländer einbürgern, von denen wir wissen oder wissen könnten, dass
sie sich extremistisch verhalten und gewalttätig zu Werke
gehen. Das ist der Grund. Das hat nichts mit einem Generalverdacht zu tun.
({19})
Die unbescholtenen Bürger haben von einer solchen Anfrage nichts zu befürchten. Wieso sollten wir einem Ausländer die deutsche Staatsbürgerschaft verleihen, wenn
wir wissen, dass er für unser Land ein Sicherheitsrisiko
darstellt?
({20})
Ich zitiere aus der Urteilsbegründung des zuständigen
Senats des OLG Düsseldorf zu dem Urteil gegen den islamistischen Extremisten Kaplan:
({21})
Nahezu mit Verblüffung musste der Senat zur Kenntnis nehmen, dass eine Vielzahl von Zeugen aus den
Reihen des Kaplan-Verbandes, und davon nicht wenige mit inzwischen deutscher Staatsangehörigkeit,
mit einer kaum zu glaubenden Unverblümtheit oder
besser Unverfrorenheit erklärten, dass für sie auch
hier in Deutschland nicht die deutschen Gesetze, ja
nicht einmal die deutsche Verfassung, sondern das islamische Recht, die Scharia, maßgeblich sei. Die
Mitglieder und Anhänger des Kaplan-Verbandes
ließen erst gar keinen Zweifel daran, dass ihnen unsere demokratische Gesellschaftsordnung, ja die
Werteordnung des Grundgesetzes insgesamt völlig
gleichgültig ist, ja, dass sie diese sogar ablehnen.
Umso mehr muss diese Haltung verwundern oder gar
Befremden hervorrufen, wenn viele der Zeugen auf
Befragung ausdrücklich einräumten, dass sie gerade
wegen der Möglichkeit, ihre Religion frei und ohne
Behinderung ausüben zu können, also wegen der ihnen aufgrund unserer Verfassung gewährten Rechte
und Freiheiten, nach Deutschland gekommen sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege Bosbach, ist Ihnen
bekannt, dass wir in das neue Staatsangehörigkeitsrecht
eine Bestimmung aufgenommen haben, die den Zugang
zur deutschen Staatsbürgerschaft dann ausschließt, wenn
solche Sachverhalte vorliegen, wie Sie sie gerade aus der
Urteilsbegründung zitiert haben? Sie können dies selbstWolfgang Bosbach
verständlich auch mit einer Regelanfrage klären. Die
Länder können das tun, praktizieren es aber unterschiedlich.
({0})
- Doch.
({1})
Herr Kollege Bosbach, ich darf eine zweite Frage
gleich anfügen: Wissen Sie, dass die Sachverhalte, die
hier zur Debatte stehen, unter der Geltung des alten
Rechts zustande gekommen sind, das Sie zu verantworten
haben?
({2})
Herr Kollege
Schily, Sie haben sich richtig ausgedrückt: Die Länder
können es tun, aber viele Länder tun es aus ideologischen
Gründen nicht. Warum tun sie es nicht? Weil sie keine
Ausländer unter Generalverdacht stellen wollen. Diese
Argumentation ist deswegen albern, weil nur über diejenigen Erkenntnisse vorliegen können, die sich extremistisch oder gewaltbereit gezeigt haben. Diese sollten
wir nicht einbürgern. Das ist der ganze Vorgang.
({0})
Wir sollten jetzt in der
Debatte fortfahren, Herr Schily. Es tut mir Leid, aber jetzt
hat Herr Bosbach das Wort und soll seine Rede zu Ende
bringen.
Es hat keinen
Zweck, wenn allein Bayern nicht nur nach einer Länderliste verfährt, sondern Regelanfragen macht. Wenn die
Betroffenen einen verfestigten Aufenthaltsstatus haben
und ihren Wohnsitz frei wählen können, dann gehen sie
einfach in ein anderes Bundesland, in dem keine Regelanfragen gemacht werden, und lassen sich dort einbürgern. Das ist der Punkt, um den es geht.
({0})
Wir können es nicht länger dulden, dass unter dem
Deckmantel der Humanität und der Religionsfreiheit Extremisten ihr Unwesen treiben. Ich bin sehr dafür, dass wir
differenziert argumentieren. Der allergrößte Teil der Ausländer lebt rechtstreu und friedlich in unserem Land. Aber
es darf nicht so sein, dass jede kritische Auseinandersetzung mit kriminellen und extremistischen Ausländern,
ganz gleich, ob sie aus religiösen oder aus politischen Motiven handeln, sofort als ausländerfeindlich gegeißelt
wird. Wir müssen die Dinge beim Namen nennen. Tun wir
das nicht, dann wird sich die Bevölkerung jenen zuwenden, die mit scheinbar einfachen Rezepten rasche Lösungen versprechen.
({1})
Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Der Landtag von Nordrhein-Westfalen wollte auf Initiative der CDU einen fraktionsübergreifenden Antrag mit dem Titel Integrationsoffensive Nordrhein-Westfalen verabschieden.
({2})
Dabei waren die Grünen nicht einmal bereit, folgende
Passage zu akzeptieren:
In dem Bewusstsein, dass Kriminalität keine Frage
der Staatsangehörigkeit ist, betrachten wir mit großer
Sorge die vergleichsweise hohe Straffälligkeit junger
Zuwanderer.
Sie wollen noch nicht einmal die Lebenswirklichkeit zur
Kenntnis nehmen, weil nicht sein kann, was nicht sein
darf.
({3})
Diese Wirklichkeitsverweigerung ist auch eine Belastung
für die notwendige Debatte über eine Neuregelung des
Zuwanderungs- und Integrationsrechtes.
Herr Minister, Sie haben gesagt, die Grenze der Belastbarkeit der Bundesrepublik Deutschland durch Zuwanderung ist überschritten, also: Deutschland trägt eine
Belastung durch Zuwanderung, die es nicht tragen kann.
In diesem Punkt haben Sie Recht. Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, sondern einen erkennbaren Mangel
an Integration und ein nicht ausgewogenes Verhältnis von
Zuwanderung aus humanitären Gründen einerseits und
aus eigenem, wohlverstandenem nationalen Interesse andererseits. Ihr Gesetzentwurf löst keine Probleme, sondern schafft neue. Das ist der Grund, warum wir ihm unter keinem Gesichtspunkt zustimmen können.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Volker Beck für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde,
man hat dem Debattenbeitrag von Herrn Bosbach angemerkt, dass ihm die entschlossene und besonnene Vorgehensweise der Bundesregierung in der gegenwärtigen Sicherheitslage wenig Platz für Alternativen und Kritik lässt.
({0})
Es ist bedauerlich, dass die gegenwärtige Diskussion
die umfangreiche Leistungsbilanz der Bundesregierung
und dieser Koalition in der Innen- und Rechtspolitik in
den Hintergrund treten läßt. Ich will einige wichtige
Punkte nennen: Schadenersatzreform, Modernisierung
des Schuldrechts, Mietrechtsreform, Justizreform, Insolvenzordnung und eingetragene Partnerschaft.
({1})
Wir haben eine Menge auf den Weg gebracht, eine Menge
erreicht und werden als Koalition auch die vor uns liegenden Aufgaben - die Bewahrung der inneren Sicherheit unter Wahrung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit - meistern.
Seit dem 11. September haben wir eine neue Lage. Wir
müssen alle Instrumente prüfen, auf Schwachstellen abklopfen und gegebenenfalls der Sicherheitslage anpassen.
Wir vom Bündnis 90/Die Grünen machen als Rechtsstaatspartei die Frage der Verhältnismäßigkeit der Mittel zum Zentrum unserer Entscheidungen. Maßnahmen,
die jetzt geprüft und ergriffen werden sollen, müssen geeignet, erforderlich und praktikabel sein.
Wir müssen auch bei jeder einzelnen Maßnahme danach fragen, welchen Preis an Rechtsstaatlichkeit und
Freiheit sie fordert und welchen Gewinn an Sicherheit sie
bringt. Danach müssen wir nach einer politischen Abwägung der genannten Kriterien eine Entscheidung fällen.
Wir werden hierbei weiterhin Entschlossenheit und Besonnenheit an den Tag legen. Herr Bosbach, ich finde es
richtig, dass Sie gesagt haben, Rechtsstaatlichkeit, Bürgerrechte und Freiheit sind kein Gegensatz zur Sicherheit.
Sie sollten dann aber auch nicht den Eindruck erwecken,
nur der mache eine vernünftige Sicherheitspolitik, der
Rechtsstaatlichkeit und Freiheit infrage stellt.
Hamburg hat gezeigt, dass es keinen Sinn hat, vor
offensichtlichen Problemen im Bereich der inneren Sicherheit die Augen zu verschließen. Ich glaube, alle demokratischen Parteien müssen sich da ein bisschen selbstkritisch an die Nase fassen. Wir dürfen aber nicht den Fehler
machen - ich spreche besonders die Partei an, die einmal, so
wie wir, für den Rechtsstaatsliberalismus gekämpft hat -,
uns zum Steigbügelhalter für diejenigen zu machen, die bestehende Defizite populistisch ausnutzen.
({2})
Ich möchte Sie ausdrücklich warnen - Herr Kollege
Stadler, sagen Sie es Ihrem Parteivorsitzenden -: Herr
Westerwelle sollte nicht der von Papen des 21. Jahrhunderts werden.
({3})
Hüten Sie sich davor, Rechtspopulisten, die gegen
Rechtsstaatlichkeit, gegen Ausländer und gegen Flüchtlinge hetzen und damit Stimmung in der Bevölkerung machen, zur Macht zu verhelfen. Ich meine, alle demokratischen Parteien haben die Aufgabe, in Hamburg eine
Ohne-Schill-Koalition zu schmieden.
({4})
Zum Thema innere Sicherheit zurück: Wer meint, Terroristen aus der Gruppe Bin Laden könnte man mit sozialen Integrationsprogrammen oder mit Armutsbekämpfung aus der Welt schaffen, der irrt, er ist naiv. Wir
brauchen innen- und außenpolitisch gezielte Aufklärung
und geeignete Maßnahmen der Repression.
({5})
Wer aber meint, den Zulauf zu solchen Organisationen
allein mit repressiven Mitteln bekämpfen zu können, ist
genauso naiv. Deshalb finde ich es sehr gut, dass die Bundesregierung im Rahmen ihres Sicherheitspaketes - in
diesen Bereich gehört es auch - die Erhöhung des Etats
der Entwicklungshilfe und der zivilen Konfliktlösung mit
vorgesehen hat.
({6})
Auch innenpolitisch müssen wir entsprechend vorgehen. Wir müssen den interreligiösen und den interkulturellen Dialog pflegen. Auch müssen wir darüber nachdenken, wie wir - und zwar nicht nur repressiv - damit
umgehen, dass wir eine große Zahl von radikalen Islamisten in unserem Land haben. Hier ist keine Hau-drauf-Strategie gefragt. Vielmehr sollten wir uns die Doppelstrategie der Niederländer genauer anschauen, die versuchen,
diesem Problem mit Repression gegen die Scharfmacher
und Hardliner sowie mit Integration und Dialogangeboten an ihre Anhänger näher zu treten. Hier sind große
Besonnenheit und Differenzierung gefragt.
Wer jetzt in der Debatte um die innere Sicherheit nur
seine Schubladen leert und schaut, welche alten Vorschläge es gibt, die noch nicht realisiert wurden, der hat
den Ernst der Lage nicht begriffen. Vorschläge wie die
Gründung einer Nationalgarde, der Einsatz der Bundeswehr im Inneren oder andere Maßnahmen, die der Bevölkerung einen nationalen Notstand suggerieren, sollten wir
in den Schubladen lassen und uns auf die neue Situation
und die neue Debattenlage einstellen.
Auch dürfen wir nicht unbesehen einfach die Etats erhöhen. Deshalb finde ich den Ansatz der Bundesregierung, die entsprechenden Mittel im Einzelplan 60 zu belassen und einzeln zu prüfen, welche Maßnahmen
erforderlich und effizient sind, sehr richtig. Das zeigt,
dass wir an dieses Thema sehr seriös herangehen. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen im Bereich der Schaffung der
Flugsicherheit - beim Personal und bei der Überprüfung der Gepäckstücke - ergriffen hat. Auch hinsichtlich
der Frage der Sky-Marshals müssen wir eine intensive
Fachdebatte darüber führen, wer einen solchen Vorschlag umsetzen könnte. Ich meine, hier ist eine hohe
Anforderung an das Personal zu stellen, weil mit einer
bewaffneten Person immer auch eine Waffe an Bord des
Flugzeugs geht. Deshalb wäre die Umsetzung dieses
Vorhabens wahrscheinlich am besten beim Bundesgrenzschutz und nicht bei privaten Sicherheitsfirmen
aufgehoben.
({7})
Volker Beck ({8})
Meine Damen und Herren, die Maßnahmen beim Vereinsrecht, das Religionsprivileg zu streichen und zu verhindern, dass Geld aus Deutschland heraus an terroristische Vereinigungen fließt, sind richtig und notwendig.
Hier müssen wir auch das Thema Geldwäsche ansprechen. Ich glaube, dass wir es hierzulande beim Bankgeheimnis mit dem Datenschutz zuweilen tatsächlich übertreiben. Wir müssen dafür sorgen, dass problematische
Geldbewegungen transparent werden. Von Bankangestellten höre ich zum Beispiel, dass auf so manche merkwürdigen Konten in Köln regelmäßig viel Geld überwiesen wird. Diese Vorgänge müssen transparent sein. Da
müssen wir entsprechend eingreifen.
Die Bundesregierung hat auch eine Maßnahme ergriffen, um terroristische Vereinigungen im Ausland zukünftig strafrechtlich verfolgen zu können. Ich sage ausdrücklich: Wenn wir der Strukturen von Bin Laden habhaft
werden können, dann wäre es auch richtig, sie strafrechtlich zu verfolgen. Aber auch hier müssen wir besonnen
sein und genau abwägen, welche Formulierung tatsächlich zum Ziel führt. Ich finde es sehr gut, dass der Innenminister diese Woche im Spiegel gesagt hat, es dürfe
nicht sein, dass sich ein Graf Schenk von Stauffenberg
wegen des versuchten Tyrannenmordes an Hitler auch unter die Strafbarkeit einer solchen Bestimmung begeben
hätte. Darüber werden wir in den Fachausschüssen im Detail diskutieren müssen.
Herr Kollege Bosbach, Sie haben die Kronzeugenregelung angesprochen. Man muss der Bevölkerung einmal erklären, was die alte Kronzeugenregelung eigentlich
beinhaltete. In der Tat handelte es sich um einen schmutzigen Deal des Rechtsstaates mit Schwerverbrechern.
({9})
Wenn jemand ausgesagt hat und ihm geglaubt wurde,
konnte zum Beispiel ein Mörder - unabhängig davon, ob
seine Aussage richtig oder falsch war - nach einer Gefängnisstrafe von drei Jahren wieder in die Freiheit entlassen werden.
({10})
Ich muss sagen: Da regt sich mein rechtsstaatliches Gewissen. Dies kann man den Opfern meines Erachtens
nicht zumuten.
({11})
Hier brauchen wir eine seriöse Regelung für das Nachtatverhalten, und zwar ohne die rechtsstaatlichen Mängel der
alten Regelung. Auch dürfen wir im Rechtsstaat
Falschaussagen nicht belohnen.
Wir als Bündnis 90/Die Grünen werden die Bundesregierung bei der Schaffung von Sicherheit immer unterstützen. Wir werden uns aber auch herausnehmen - das ist
manchmal anstrengend, macht das Geschäft aber auch lebendig -, immer nachzufragen, was die jeweils zu treffenden Entscheidungen für Rechtsstaatlichkeit, Freiheit
und Bürgerrechte bedeuten. Das, was erforderlich ist,
werden wir mittragen, und, meine Damen und Herren von
der Union, Ihre Maßnahmen, die regelmäßig über das Ziel
hinausschießen, werden wir ablehnen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Max Stadler für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Dieser Tage ist viel von einer Neuorientierung der deutschen Innenpolitik nach der
Maxime Sicherheit vor Freiheit die Rede. Aber Herr
Minister Schily hat - wie ich finde: zu Recht - gesagt, die
Terrorismusbekämpfung - ich könnte ergänzen: die Kriminalitätsbekämpfung - habe nicht erst nach dem
11. September dieses Jahres begonnen. Tatsächlich ist die
innere Sicherheit schon immer eine elementare Staatsaufgabe, eine zentrale Aufgabe des freiheitlichen Rechtsstaates gewesen.
({0})
Als Liberaler sage ich sehr bewusst: Während es in anderen Bereichen, zum Beispiel in der Wirtschaftspolitik,
richtig ist, den staatlichen Einfluss zurückzudrängen,
bleibt die innere Sicherheit eine nicht privatisierbare
Kernaufgabe des Staates.
({1})
Meine Damen und Herren, der Staat muss daher den
Sicherheitsbehörden das notwendige gesetzliche Instrumentarium an die Hand geben. Aber dies allein nützt
nichts, wenn die Personal- und Sachausstattung für die
Umsetzung der gesetzlichen Vorschriften fehlt. In diesem
Punkt sowie bei den Problemen der internationalen Zusammenarbeit müssen wir ansetzen; auf diese Punkte
müsste sich die Debatte nach Ansicht der FDP konzentrieren. Die FDP sagt zu denjenigen Maßnahmen im Bereich der Gesetzgebung und des Gesetzesvollzugs Ja, die
notwendig und geeignet sind, die innere Sicherheit zu verbessern. Das ist der Maßstab.
Eine nüchterne Analyse ergibt freilich, dass die Hauptdefizite im Gesetzesvollzug liegen. Wenn Tausende von
DNA-Analysen nicht bearbeitet werden können, wenn
richterliche Beschlüsse über Telefonüberwachungen
nicht ausgeführt werden können, wenn Polizeipersonal zu
sachfremden Aufgaben anstelle der eigentlichen polizeilichen Tätigkeit herangezogen wird, ist dies nicht zu akzeptieren.
({2})
In den öffentlichen Haushalten müssen Prioritäten zugunsten der personellen und sächlichen Ausstattung der
Sicherheitsbehörden gesetzt werden. Dies betrifft natürlich vor allem die Bundesländer, aber in gewissem Ausmaße auch den Bund.
Zum Stichwort internationale Zusammenarbeit: Es
war sehr aufschlussreich, dass auf dem ersten Europäischen
Volker Beck ({3})
Juristentag, der vor kurzem in Nürnberg stattgefunden hat,
heftig beklagt wurde, dass Rechtshilfeersuchen auch im
europäischen Ausland bis zu ihrer Erledigung heute immer noch durchschnittlich ein Jahr dauern. Daran sieht
man, wo der Hebel angesetzt werden muss.
Meine Damen und Herren, soweit der Bundestag gefordert ist, stellt sich allerdings schon die Frage nach der
Handlungsfähigkeit der rot-grünen Koalition. Man
tritt niemandem zu nahe, wenn man feststellt, dass gerade
in der Innenpolitik zwischen den Vorstellungen von Rot
und Grün tiefe Gräben liegen. Ein Blick in das Bundestagswahlprogramm der Grünen, das 1998 in Magdeburg
verabschiedet wurde, zeigt
({4})
- ich lese es alljährlich mindestens zur Haushaltsdebatte,
Frau Kollegin Beck -, dass die Grünen von ihren Wahlversprechungen zur Innenpolitik in dieser Koalition fast
nichts umgesetzt haben.
({5})
- Manchmal muss man allerdings sagen, zum Glück.
Wahrscheinlich sind sie selber froh, dass nur wenige dieses Programm noch nachlesen, wie ich es getan habe.
({6})
Damals haben die Grünen zum Beispiel die Abschaffung
der Geheimdienste gefordert, während Volker Beck eben
die Verbesserung der Mittelausstattung für die Geheimdienste propagierte.
({7})
Meine Damen und Herren, die Distanz zwischen den
Koalitionspartnern wird aktuell im Streit um die Zuwanderungsregelungen sichtbar. Eigentlich sollte das
Kabinett gerade heute das Zuwanderungsgesetz beschließen. Aus Sicht der FDP ist es bedauerlich, dass
sich die Koalition nicht auf einen Entwurf einigen kann.
Ich sage aber auch den Kolleginnen und Kollegen von
der CDU und der CSU, dass sie hier in ihrer Argumentation redlich bleiben müssen. Wenn Herr Bosbach
vorhin ausgeführt hat, bei uns gebe es keinen Bedarf an
Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt, dann frage ich
mich, warum der Freistaat Bayern Krankenschwestern
in Kroatien und Pflegekräfte in der Slowakei anwirbt.
Das passt nicht zusammen.
({8})
Meine Damen und Herren, noch ein Punkt, der die Notwendigkeit von Gesetzgebung deutlich macht: Festzustellen
ist, dass die wesentliche Gesetzgebung - Kollege
Marschewski, Sie waren daran maßgeblich beteiligt - in den
letzten beiden Legislaturperioden während der CDU/CSUFDP-Koalition stattgefunden hat. Es gab etwa 50 Gesetze,
({9})
zum Beispiel das Gesetz gegen die organisierte Kriminalität, das Verbrechensbekämpfungsgesetz, das BKAGesetz und das Bundesgrenzschutzgesetz.
({10})
Daher ist ein Übermaß an neuer Gesetzgebung keinesfalls
erforderlich.
({11})
Es wundert mich deswegen nicht, dass die Beschlüsse
des Kabinetts vom letzten Mittwoch relativ wenig an
neuer Gesetzgebung vorsehen
({12})
und dass Herr Minister Schily in seiner Argumentation zu
Recht auf die Praxisdefizite abgestellt hat. Das, was vorgeschlagen wurde, wird die FDP im Gesetzgebungsverfahren mit zustimmender Grundtendenz begleiten.
Manches ist von vornherein nicht akzeptabel, etwa der
Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Das ist aber vom Kabinett auch nicht beschlossen worden.
({13})
Anderen Maßnahmen wie der verstärkten Überprüfung
des Flughafenpersonals kann man sofort zustimmen.
Manche der diskutierten Maßnahmen sind in Wahrheit
geltendes Recht; das ist vorhin erwähnt worden. So ist
jetzt vor einer Einbürgerung die Regelanfrage beim Verfassungsschutz möglich. Ich halte sie auch für durchaus
notwendig und akzeptabel.
Meine Damen und Herren, der Bundestag wird rasche
Entscheidungen treffen müssen. Das erwartet die Bevölkerung. Gleichwohl muss das Gesetzgebungsverfahren,
das uns auf dem Gebiet der inneren Sicherheit bevorsteht,
sorgfältig durchgeführt werden. Eine rationale Sicherheitspolitik erfordert konkrete Defizitanalysen. Ich kann
etwa mit einer Bemerkung, der Datenschutz müsse allgemein zurückgefahren werden - so hört man manchmal in
der öffentlichen Diskussion -, nichts anfangen.
({14})
Vielmehr muss konkret dargestellt werden, wo es Defizite
gibt.
({15})
Dann können wir als Gesetzgeber darauf reagieren.
Ich empfehle dringend die Auswertung des neuen Sicherheitsberichts der Bundesregierung. Es war eine alte
Forderung der FDP, einen solchen Sicherheitsbericht zu
erstellen. Er wird uns als Gesetzgeber helfen, auch in Zeiten wie diesen rationale Maßnahmen zu treffen.
({16})
Über eines sind wir uns hoffentlich alle einig: Der
Rechtsstaat kann nur mit rechtsstaatlichen Mitteln verteidigt werden. Dem wird die FDP ihre Zustimmung nicht
versagen.
({17})
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche für die linke Opposition,
für die PDS. Ich möchte eingangs mit einem Irrtum aufräumen, der immer wieder gern verbreitet wird, nämlich
mit der Behauptung, Linke seien für das Soziale und die
Rechte für mehr Sicherheit zuständig. Das Soziale ist
natürlich immer ein Thema der Linken, aber selbstverständlich gilt dies, grundsätzlich und auch praktisch,
ebenso für die öffentliche Sicherheit. Die Differenzen liegen ohnehin nicht in den Überschriften zur öffentlichen
Sicherheit, sondern in der Beantwortung folgender Frage:
Was schafft wirklich mehr Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger und was täuscht Sicherheit nur vor?
Ich zeige Ihnen diesen Unterschied gern an einer Forderung, die aktuell gestellt wird und die wir zu Beginn der
heutigen Debatte auch schon gehört haben. Allgemein
gilt: Wer nicht einer Straftat verdächtigt werden kann,
sollte als unbescholten gelten. Das ist rechtsstaatliches
Prinzip. Eine Abkehr davon würde heißen, jede und jeder
ist verdächtig und wahrscheinlich bescholten. Das wollen
wir doch wohl alle nicht.
Deshalb möchte ich im programmatischen Politdeutsch zitieren:
Die Einführung von verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrollen sowie die ständige polizeiliche Videoüberwachung des öffentlichen
Raums sind unverhältnismäßige Notmaßnahmen.
Sie schränken die Bürgerrechte ein, sie sind nahezu
nutzlos und kosten viel Geld.
({0})
Das, Herr Kollege Stadler, war ein Zitat aus dem aktuellen Wahlprogramm der Berliner FDP und - was noch besser ist - es ist ein völlig stimmiger Gedanke. Ich frage
mich nur, wie Herr Westerwelle und insbesondere Herr
Rexrodt dies ihren Koalitionspartnern in Hamburg beibringen wollen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen
noch ein zweites Beispiel nennen, um die Differenz klar
zu machen. Es ist ziemlich genau ein Jahr her, da haben
wir in berechtigter Sorge und mit Empörung darüber diskutiert, wie wir gemeinsam eine wachsende Gefahr für
Demokratie und Menschenrechte zurückdrängen können.
Ich spreche vom Rechtsextremismus und vom Rassismus und ich erinnere an die Formel vom Aufstand der Anständigen bzw. der Zuständigen.
Nun suche ich im Haushalt und lese in der Frankfurter Rundschau vom 24. September, Rot-Grün wolle im
kommenden Jahr 40 Millionen DM weniger für Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus aufbringen als in diesem Jahr. Das ist auch aus der Sicht der öffentlichen Sicherheit fatal und für mich einfach unbegreiflich.
({2})
Aus ganz aktuellem Anlass: Wir alle hier, von CSU bis
PDS, haben dem amerikanischen Volk unsere Solidarität
bekundet. Zugleich feiern rechtsextreme Parteien wie die
NPD den barbarischen Terroranschlag in New York und
Washington als Sieg über den weltlichen Judenkult und
seinen Mammonismus. Deshalb appelliere ich an Sie,
Herr Minister - aber auch an Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen -: Korrigieren wir schleunigst gemeinsam diese
Fehlplanung im Haushaltsentwurf!
({3})
Fragen der öffentlichen Sicherheit haben derzeit zu
Recht einerseits Konjunktur; andererseits waren sie in
Hamburg wahlentscheidend. In Berlin rangieren sie in
dieser Woche laut Umfragen auf Platz zwei der Sorgen der
Bürgerinnen und Bürger. Wer dies nicht ernst nimmt, der
politisiert am Lebensgefühl der Bürgerinnen und Bürger
vorbei. Wir nehmen diese Sorgen sehr ernst und setzen
uns nicht erst seit heute dafür ein, dass Polizistinnen und
Polizisten vor Ort - im Wohngebiet, auf Plätzen, in Parks so arbeiten können, wie sie sollen und wie sie es im Übrigen auch tun wollen. Dazu gehört aber auch eine entsprechende Ausstattung und dazu gehört natürlich auch eine
Anerkennung der Arbeitsleistung in Ost und West auf
gleichem Niveau.
({4})
Kein vernünftiger Mensch wird auch etwas dagegen
haben, wenn über mehr Flugsicherheit nachgedacht wird
- wir jedenfalls nicht -; aber in diesem Zusammenhang
lohnt es sich schon, über die Kontrolle von Passagieren
und natürlich auch von Flugpersonal sowie über die Suche nach technischen Möglichkeiten, um die Flugsicherheit zu verbessern, hinaus auch noch über etwas anderes
nachzudenken. Ich denke, prekäre Arbeitsverhältnisse
und Leiharbeit schaffen eben keine Stammbelegschaften
in einem so hoch sensiblen Bereich, in die man Vertrauen
haben kann. Auch darüber sollte man reden und nicht nur
darüber, wie die Menschen überprüft werden, die diese
verantwortungsvolle Arbeit ausführen.
Auch die Streichung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht ist ein Vorschlag, den wir ernsthaft prüfen. Wenn
es hilft, Religion und die Ausübung eines Verfassungsrechtes von Gewalt predigenden Extremisten zu trennen,
dann kann das gut sein.
Die anderen Maßnahmen, die in der Debatte sind, wie
die gegen kriminelle Geldwäsche, sind ohnehin überfällig
und gehören längst auf die Tagesordnung - und dies in
allen Parteien; ich schaue hier auch zu den Kollegen der
CDU/CSU. Aber ich sage Ihnen auch: Wer auf die Ängste
parteipolitisch draufsattelt, wer zusätzlich Ängste schürt,
um untaugliche Ladenhüter vermeintlicher Innenpolitik
zu preisen, der spielt mit dem Lebensgefühl der Bürgerinnen und Bürger. Das ist verantwortungslos.
Damit komme ich zu einem Eindruck der letzten Tage
- oder besser Abende -, den man gewinnt, wenn man in
Wahlkampfzeiten in dieser Stadt unterwegs ist. Ich erlebe,
wie Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht deutscher
Herkunft noch mehr verunsichert sind als wir alle ohnehin schon. Wer dieser Tage abends durch Berlin-Kreuzberg oder auch durch Köln geht, der sieht, dass er eben
fast nichts sieht, jedenfalls nicht das pulsierende Leben,
das wir an den Abenden vor dem 11. September auf der
Straße ebenso wie im Café hatten. Ich kann das durchaus
nachvollziehen, denn wenn man abends den Fernsehapparat einschaltet, wird man penetrant mit Bildern belehrt,
woher denn das Böse kommen soll.
Wer, wie ich gestern gemeinsam mit dem Kollegen
Rexrodt, in eine Talkshow gerät, bekommt spätestens
nach der zweiten Frage den kriminellen Ausländer oder
Asylsuchenden präsentiert. Mit einer offenen Gesellschaft, mit innerer Sicherheit und mit vielfältigem Leben
hat das nichts zu tun.
Deshalb mein letzter Satz - ich wiederhole mich -: Für
mehr öffentliche Sicherheit bekommen Sie von uns ein
klares Ja. Zu Populismus auf Kosten von Bürgerrechten
werden wir ganz klar auch weiterhin Nein sagen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Änderungen nach dem 11. September sind hier oft besprochen worden. Ich finde, die Innenpolitik und ihre Erfolge haben es nicht verdient, dass sie
hier ausgeblendet werden. Ich verstehe die Union: Sie
sind voller Neid, dass Sie keinen solchen Innenminister
wie wir aufweisen können. Sie haben dazu auch mein
herzliches Beileid.
({0})
Wer jahrelang einem Experten der organisierten Kriminalität nachgelaufen ist, wie Sie das getan haben, der hat
jetzt natürlich Schmerzen.
({1})
Dass Sie die Kronzeugenregelung verlangen, hängt
vielleicht damit zusammen, dass Sie sie für den KantherProzess haben wollen; das kann ja möglich sein.
({2})
- Es tut mir furchtbar Leid: Es ist doch zu erkennen, dass
Sie objektiv an unserer Politik nichts auszusetzen haben.
Daher müssen Sie sich jetzt künstlich an diesem Innenminister reiben. In Wahrheit hätten Sie einen stolzen Tanz
aufgeführt, wenn Sie jemals so einen Innenminister gehabt hätten. So schaut doch die Realität aus.
({3})
Hören Sie also auf, hier und da kleinlich herumzumäkeln. Vielmehr sollten Sie akzeptieren, dass auf
Bundesebene - Hamburg hin oder her - die Fragen der inneren Sicherheit von der rot-grünen Koalition mit diesem
Innenminister und mit dieser Justizministerin ordentlich
behandelt werden.
({4})
Ich lege Wert darauf, dass Sie einmal den Sicherheitsbericht lesen und zur Kenntnis nehmen, wie sich das allgemeine Sicherheitsgefühl verbessert hat. Da kann man
nicht herummäkeln. Da muss man nur lesen, zur Kenntnis
nehmen und seine alten Vorurteile überwinden.
({5})
Ich lege auch Wert darauf, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass der Kampf gegen den Rechtsextremismus erfolgreich war, seitdem wir ihn aufgenommen haben,
({6})
und - dazu hat nicht nur der Antrag auf Verbot der NPD
beigetragen - dass die Zahl der rechtsextremistischen
Straftaten zurückgegangen ist. Man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass der Innenminister - auch mithilfe des
BGS - in der Bahn, aber auch in der Region dazu beigetragen hat, das Sicherheitsgefühl der Menschen wieder zu
verstärken. Auch das sollten wir bitte zur Kenntnis nehmen.
({7})
Ich hoffe, dass das Bundesverfassungsgericht auch zur
Kenntnis nimmt, dass die NPD Flugblätter verteilt, in denen sie die Anschläge in New York und Washington begrüßt und bejubelt. Ich hoffe, dass hier dann auch deutlich
wird, wes Geistes Kind sie sind; die Rechtsextremisten
bei uns sind nämlich den islamischen Fundamentalisten
im Geiste verwandt.
({8})
Das ist ja fast eine Ideologie wie früher bei den Nazis. Die
eine ist auf die Rasse aufgebaut, die andere auf die Religion. Menschenverachtend sind sie alle. Auch das müssen
wir im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit
dem Rechtsextremismus wieder zur Kenntnis nehmen.
({9})
Wir streiten auch um Integration. Darüber streiten wir
auch mit Herrn Koch,
({10})
der plötzlich wieder beginnt, mit der Ideologie der nationalen Identität eine Ideologie der Ausgrenzung zu verbreiten. Wie will der, der wieder auf Geburtsrechte aus ist,
all die Menschen anderen Glaubens und anderer Herkunft, die hier dauerhaft heimisch geworden sind und heimisch werden wollen, integrieren? Es ist eben nicht möglich, dass man in nationaler Identität schwelgt; das
bedeutete in Deutschland nämlich immer die Ausgrenzung anderer. Wir brauchen die Inklusion, den Einschluss,
und eine offene Gesellschaft, die sich zu säkularisierten
Werten bekennt, die alle gemeinsam tragen können. Das
ist der eigentliche Auftrag.
({11})
Deshalb ist es Gift, was Herr Koch hier verbreitet.
Die große kulturelle Aufgabe der Integration kann
nicht durch einen romantischen Rückgriff auf die Nationalität bewältigt werden, gerade auch nicht vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Vielmehr müssen wir
sie miteinander mit einem anderen Ansatz angehen.
({12})
Ich möchte gerade auch unserem Kollegen Jochen Welt
sehr herzlich danken, der im Bereich der Integration wirklich Großartiges leistet und auf eine gute Entwicklung
verweisen kann. Wir werden ihn dabei unterstützen, indem wir insgesamt mehr Geld für die Sprachförderung
zur Verfügung stellen.
({13})
Meine Damen und Herren, schauen wir auf die europäische Entwicklung. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger,
der in Brüssel kaum gesehen ward, ist Otto Schily ein europäischer Innenminister mit sehr guten Beziehungen und
großem Einfluss in ganz Europa.
({14})
Man muss auch das sehen und nicht nur den Tampere-Prozess mit der Herstellung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Um diesen zu erreichen, muss
noch viel durchgesetzt werden. So denke ich an Genua.
Die Situation dort ist mir so vorgekommen, als ob sich das
Bewusstsein der Italiener vom Demonstrationsrecht auf
dem Stand befindet, wie der von Edmund Stoiber bei den
Wackersdorf-Demonstrationen war. Das zeigt ungefähr
den Stand der Entwicklungen bezüglich des Demonstrationsrechts. Es wird wohl auch auf der internationalen
Ebene deutlich gemacht werden müssen, dass dort nicht
alles korrekt gelaufen ist, sosehr auch die Täter verurteilt
werden müssen und wir nicht wollen, dass irgendwelche
Hooligans verhindern, dass man sich auf internationaler
Ebene trifft. Ein kultivierter Umgang mit dem Demonstrationsrecht derer, die mit Recht Sorgen anmelden, ist
aber eine Errungenschaft, die in den letzten 20 Jahren in
Deutschland von uns - meistens gegen Sie - durchgesetzt
werden musste. Diese könnte durchaus auch zu einem Bestandteil des europäischen Rechts und des europäischen
Bewusstseins werden.
({15})
Man muss sehen, dass die Verhaftungen dort nach echter Schill-Mentalität durchgeführt worden sind. Auch dort
hat man ja lange gebraucht, bis man die Demonstranten
wieder freigelassen hat. Wenn Sie mit einem Herrn Schill,
der wegen Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung noch
immer angeklagt ist, koalieren wollen, dann wünsche ich
Ihnen alles Gute.
({16})
Die innenpolitischen Erfolge des vergangenen Jahres,
vom Datenschutz bis zum G-10-Gesetz, lassen sich sehen.
Ich denke auch an die Fortschritte beim E-Government,
die Fortschritte bei der inneren Sicherheit und die Fortschritte beim BGS. Da kommen ausgerechnet Leute von
Ihnen und beklagen den Abbau beim BGS, obwohl wir
dem BGS in Wahrheit eine solide Basis gegeben, die
kanthersche Reform bezüglich des Stellenabbaus nicht im
geplanten Tempo fortgesetzt und Stellenanhebungen verwirklicht haben, von denen Sie früher nur geträumt haben.
Auch das sollte man bitte schön zur Kenntnis nehmen.
({17})
Ich möchte jetzt auch den Sport nicht vergessen.
({18})
- Auch in der jetzigen Zeit. Wenn der New Yorker Bürgermeister sagen kann: Leute, geht zurück in die Stadien
und in die Stadt und lebt euer Leben!, dann gilt das auch
für uns.
Diese Koalition hat im Bereich der Sportförderung
Erhebliches geleistet.
({19})
Ich denke nur an die Drogen- und Dopingbekämpfung im
Sport. Ich erinnere an den Stadionausbau und an den Zuschlag für die Weltmeisterschaft.
({20})
Damit kommen wir zu der Notwendigkeit, auch die
entsprechende Sicherheit zu gewährleisten. Stellen wir
uns vor, meine Damen und Herren, wir führen sportliche
Großveranstaltungen durch und können keine friedliche
Umgebung gewährleisten. Deshalb ist es jetzt unsere Aufgabe, die akute Gefahr zu bekämpfen, aber auch daran
mitzuwirken, dass in Europa und in der Welt wieder ein
Klima entsteht, das Fröhlichkeit und das Gefühl sicherer
Freiheit auch bei Großveranstaltungen aufkommen lässt.
({21})
Das werden wir erreichen: Eine Gesellschaft, in der man
nicht Angst vor zu viel Sicherheit hat, sondern in der man
seine sichere Freiheit genießt, ist unsere Zielsetzung.
({22})
Wir wollen keine alten Ladenhüter herausholen wie der
Herr Bosbach, der vom AZR-Gesetz redet. Da schreien
Sie: Hurra, Mama, ich habe es schon immer gewusst und
euch immer gesagt.
({23})
- Doch, Sie haben Ihr AZR gerühmt! - Dann schaue ich mir
das noch einmal zur Repetition an und stelle fest: Das bezieht sich auf ganz andere Themen. Das hatte mit unserem
heutigen Thema überhaupt nichts zu tun. Die alten Hunde
werden nur deshalb wieder hervorgeholt, um zu zeigen,
dass man schon immer alles besser gewusst hat. Gar nichts
haben Sie besser gewusst; denn Sie alle haben noch im
Sommer dieses Jahres die Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage zum Islam und zum Islamismus begrüßt. Herr Polenz hat hier eine zustimmende Rede gehalten, in der er deutlich gemacht hat, dass die Bundesregierung die Daten richtig erhoben und dargestellt habe und
dass die Gefahren richtig eingeschätzt worden seien. Dann
können Sie doch heute nicht so tun, als ob Sie schon immer
alles besser gewusst hätten. In Wahrheit sind Sie wie wir
und die ganze Welt von der Brutalität des Angriffs am
11. September überrascht worden. Wir müssen jetzt die anstehenden Probleme lösen, ohne Vorwürfe zu erheben.
Rot-Grün wird entsprechende Regelungen auf den
Weg bringen. Innerhalb der Koalition wird auf ordentliche Art und Weise miteinander geredet.
({24})
Wir werden ein Zuwanderungsgesetz vorlegen, mit dem
wir Sie daran hindern werden, feige auszubüxen, und Sie
zwingen werden, deutlich zu machen, wie Sie zu den
Dingen wirklich stehen. Bei allen Sicherheitsfragen sind
wir uns der Scylla einer zu starken Sicherheit und der
Charybdis einer zu geringen Sicherheit, die zur Bedrohung der Freiheit wird, immer bewusst.
Sie alle reden immer von der offenen Gesellschaft. Sie
übernehmen also einen Begriff von Karl Popper, den dieser in seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre
Feinde, dessen Texte er 1944 abgeschlossen hat, erstmals
verwendet hat. Ich habe noch einmal nachgelesen, was er
geschrieben hat:
Wir müssen das Kreuz auf uns nehmen und die Aufgabe schultern, dass wir die Vernunft, die wir haben,
nicht nur für die Organisation unserer Sicherheit, sondern auch für die Organisation der Freiheit verwenden.
({25})
Ich glaube, wer von der offenen Gesellschaft spricht, der
sollte den ganzen Popper nehmen und nicht nur einen Teil.
Vielen Dank.
({26})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Zeitlmann.
Wolfgang Zeitlmann ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Kollege Stiegler, Sie haben
heute offensichtlich den Deutschen Bundestag mit einem
Bierzelt in der Oberpfalz verwechselt.
({1})
Auf das Niveau, auf dem Sie gesprochen haben, mag ich
mich nicht begeben.
({2})
Sie sollten irgendwann einmal Frieden mit einem Staat
schließen, den Sie über viele Jahre hinweg vielleicht wegen irgendwelcher internationaler Ideen, die Sie immer
wieder verfolgt haben, nicht schließen konnten. Es hilft
alles nichts: Der 11. September hat für einen Zeitenwechsel gesorgt, den wir noch bewältigen müssen. Deswegen
glaube ich, dass das, was Sie, Herr Stiegler, hier abgeliefert haben, nicht würdig war.
({3})
Die Süddeutsche Zeitung hat geschrieben, dass Ihre
Presseerklärungen zu Ihrem eigenen Schutz nicht mehr
veröffentlicht werden. Vielleicht gibt Ihnen das zu denken.
({4})
Ein paar Punkte machen mich ein bisschen ängstlich,
unter anderem der Umgang vieler Kollegen aus der Fraktion der Grünen mit dem, was wir innere Sicherheit nennen. Ich habe ein paar Zeitungsartikel der letzten Wochen
herausgesucht. Der Kollege Schlauch, immerhin Fraktionsvorsitzender bzw. Mitfraktionsvorsitzender - ich kenne eure Hierarchien nicht so genau -, hat in der Stuttgarter Zeitung vom 17. September erklärt, die
Vorstellung von einer Demokratie ohne Geheimdienste
sei mit dem 11. September überholt. Herzlich willkommen zu dieser neuen Einsicht! Dann müsst ihr konsequenterweise euren Herrn Ströbele aus dem parlamentarischen Kontrollgremium zurückziehen und einen etwas
staatstragenderen Mann, der nicht für die Beendigung
der Geheimdiensttätigkeit eintritt, in dieses Gremium
berufen.
({5})
Herr Schlauch sagt weiter:
Der Bundesnachrichtendienst sollte aber effizienter
arbeiten. 90 Prozent der Aktivitäten begrenzen sich
auf das Auswerten von Publikationen und auf das
Ausschneiden von Zeitungsartikeln. Das müssen wir
ändern.
Wer so redet, der ist, was innere Sicherheit angeht, nicht
ernst zu nehmen.
({6})
Der Kollege Beck behauptet im Bonner Express vom
22. September, dass auch der Fingerabdruck auf dem Personalausweis problematisch sei. Dadurch behandele man
ein ganzes Volk wie Verdächtige.
({7})
Einen Nutzen gebe es nicht.
Ein letztes Bonmot: Vor dem 11. September habe ich
folgende Überschrift gelesen, die einen gleich hellhörig
macht. Der Kollege Wiefelspütz hat vor dem Hintergrund
der Krawalle von Autonomen in Genua und in Stockholm
der Zeit ein Interview zu der von Herrn Schily auf den
Weg gebrachten Einführung einer Gewalttäterdatei
beim BKA gegeben. In diesem Interview sagt er:
Es ist völlig klar: Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und das Grundrecht, Deutschland zu
verlassen, gilt auch für Extremisten. Als wir das
Passgesetz änderten, um die Ausreise von Gewalttätern kurzzeitig zu verhindern, haben wir natürlich
niemanden in seinem Recht, auszureisen, beschränken wollen.
Sie könnten die Auffassung vertreten: Er hat das vor
dem 11. September gesagt, das sollte man nicht so genau
nehmen; denn es ist jetzt überholt. Wenn dem so ist, dann
erklären Sie, dass diese Datei eingerichtet wird. Anderenfalls werden Sie keine Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen können, wenn Sie behaupten, dass Sie im Bereich des Extremismus nicht nur gegen eine Seite
vorgehen.
Im vorigen Jahr haben wir fast ausschließlich über
Rechtsradikalismus gesprochen. Wir haben schon damals
gewarnt, indem wir darauf hingewiesen haben, dass,
wenn man die Anzahl der extremistischen Straftäter zugrunde legt, mehr extremistische Ausländer als extremistische Inländer Straftaten begehen. Ich behaupte nicht,
dass man die schrecklichen Geschehnisse vorausahnen
konnte. Zumindest jetzt wird es für Sie Zeit, nicht auf einem Auge blind zu sein, sondern Ihre Aktivitäten in sämtliche Richtungen auszuweiten und auch, was die Linksextremen in Genua und in Stockholm anbelangt, das
Nötige zu tun.
Ich will den Rest meiner Redezeit darauf verwenden,
über das Thema Zuwanderung zu diskutieren.
({8})
Sie sind jetzt drei Jahre an der Regierung. In diesen drei
Jahren haben Sie sich auf ein großes Thema, mit dem Sie
viele Schwierigkeiten hatten, konzentriert: Staatsbürgerrecht. Ich erinnere mich noch genau daran, dass der Kollege Wiefelspütz in einer Haushaltsdiskussion im Innenausschuss gesagt hat, es seien keine Gesetzesvorhaben
mehr geplant; denn man habe sich mit der Gesetzesmaterie Staatsbürgerrecht schon schwer genug getan.
({9})
So sah damals Ihre Vorstellung aus. Dann waren Sie
dem öffentlichen Druck ausgesetzt, etwas zu tun, und Sie
sind in Zeitdruck geraten. Darauf haben Sie mit der Berufung einer Kommission reagiert, um Zeit zu gewinnen.
Neun Monate sind vertan worden.
({10})
- Das kann ich Ihnen gleich sagen: Bei der Besetzung der
Kommission ist man taktisch-politisch vorgegangen und
hat,
({11})
zumindest was die Innenpolitik angeht, Outsider berufen.
Man hat einen Oldtimer der CDU und eine Dame berufen.
({12})
Es ist Sache der Regierung, wen sie beruft. Aber sie darf
hinterher nicht so tun, als wäre ihre Entscheidung überparteilich getroffen worden; denn man ist mit Kalkül vorgegangen.
Ich habe bei der Berufung der Kommission gesagt:
Hätte man die Fachleute der Innenministerien damit beauftragt, nach neun Wochen Antworten auf die entscheidenden Fragen der Innenpolitik vorzulegen, dann hätte
man nach neun Wochen ein glattes Ergebnis gehabt. Jetzt
haben Sie einen Kommissionsbericht, an den Sie sich
- wie ich finde, aus guten Gründen - im Wesentlichen
nicht halten. Es ist nicht richtig, dass Sie jetzt Druck machen und pausenlos erklären, das müsse aus dem Wahlkampf herausgehalten werden. Der Kanzler hat außerdem
erklärt, das dürfe nicht auf dem Rücken von Menschen
ausgetragen werden, die sich nicht wehren könnten.
({13})
- Da hat er eben nicht Recht. Das ist purer Unsinn.
Von Ihrer Seite kommt immer wieder das Argument,
das Volk müsse in größerem Umfang direkt mitentscheiden. Alle diejenigen, die das Plebiszit für eine Zukunftsvision halten, reden aber gleichzeitig davon, dass man
dieses und jenes Thema nicht im Wahlkampf behandeln
könne, weil es für den Bürger viel zu komplex und viel zu
schwierig zu verstehen sei.
({14})
Man muss sich schon entscheiden: entweder - oder. Ich
kann sehr wohl der Bevölkerung auch im Wahlkampf ein
Thema erläutern. Damit habe ich kein Problem. Ich habe
nur ein Problem damit zu sagen: Wir müssen dieses oder
jenes Thema außen vor lassen, weil wir die wichtigen
Themen nicht im Wahlkampf behandeln.
In der Frage der Zuwanderung brauchen Sie nach dem
11. September eine lange Phase des Denkens, weil die
Grundstimmung in der Bevölkerung so ist - ich sage es
einmal ganz vorsichtig -, dass derzeit wichtigere Themen
behandelt werden sollten. Erst werfen Sie für die innere
Wolfgang Zeitlmann
Sicherheit ganz schnell nach nur einer Sitzung 3 Milliarden DM aus
({15})
- vormittags tagte der Innenausschuss; da war mit keiner
Silbe von 3 Milliarden DM die Rede; das ist ein Umgang
mit dem Parlament, den die Koalition einmal erfahren
müsste - und dann verkündet der Innenminister, es würden weitere Vorschläge folgen. Dies ist ja in Ordnung; ich
habe nichts dagegen. Wenn er von Zuwanderung spricht,
dann muss er aber gleichzeitig sagen, dass er dafür viel
Geld in die Hand nehmen muss. Ich wünsche Ihnen, dass
Sie in der Öffentlichkeit neben der Debatte um die innere
Sicherheit auch die Debatte um einige Milliarden DM
führen müssen, die für die Förderung der Integration notwendig sind.
Die Welt hat sich seit dem 11. September verändert.
Die Prüfung dessen, was Sie an Ihrem Entwurf im Interesse der Sicherheit verändern müssen - der Minister
spricht selber davon, dass er den Entwurf durchchecken
muss -, sollte in Ruhe erfolgen.
({16})
Es hat keinen Sinn, jetzt in Hektik zu verfallen und dieses
Thema auf Teufel komm raus zu behandeln, nur um es aus
dem Wahlkampf herauszuhalten. Es wäre aber ausgesprochen gut, wenn dieses Thema im Wahlkampf verantwortungsvoll diskutiert würde.
Ich komme zum letzten Punkt. Sie haben die Neuregelung des Staatsbürgerschaftsrechts nicht gemeinsam mit
der Opposition durchgeführt, sondern haben sie durchgepaukt.
({17})
- Aber natürlich. - Weil es eine Gegenbewegung aus der
Bevölkerung gab und weil Sie das Thema für eine heiße
Kiste halten, sprechen Sie jetzt pikanterweise davon, Sie
wollten das Zuwanderungsgesetz gemeinsam mit der
Opposition erarbeiten. Ich habe gar nichts dagegen, dass
wir es gemeinsam tun.
({18})
Aber dies sollte nicht unter Zeitdruck und auch nicht dann
geschehen, wenn ein so wichtiges Thema wie die innere
Sicherheit die anderen Themen überlagert.
Wir sollten zur Sachlichkeit zurückkehren.
({19})
- Ich war nicht unsachlich. Sagen Sie einmal, an welcher
Stelle ich unsachlich war.
({20})
- Die Zuwanderung ist mit Sicherheit ein zu ernstes
Thema, als dass es unter Zeitdruck und unter Vermeidung
einer öffentlichen Debatte während der Wahlkampfzeit
durchgezogen werden sollte. Lasst uns vernünftig darüber
debattieren!
({21})
- Entschuldigung, ich kann doch zur Besetzung der Kommission eine Meinung haben. Es ist überhaupt keine
Frage, dass die neun Monate vertane Zeit waren.
({22})
Die Besetzung war auch falsch, weil sie zu einem Streit
führte. Sie würden auch nicht morgen eine Familienkommission berufen und Herrn Beck und Herrn Wowereit als
Vorsitzende bestellen.
({23})
Es hilft Ihnen alles nichts: Wer es mit der Thematik Zuwanderung ernst meint, der darf nicht unter Zeitdruck
handeln, sondern muss zur Sache kommen. Das heißt,
dass wir uns damit ernsthaft auseinander setzen müssen.
Angesichts der 4 Millionen Arbeitslosen werden Sie sich
schwer tun, nur zu sagen, was die Wirtschaft will. Die
Wirtschaft auch in meinem Wahlkreis will Zuwanderung,
weil Arbeitsplätze frei sind. Sie müssen uns einmal erklären, wie Sie die Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen mit den
Forderungen der Wirtschaft in Einklang bringen wollen.
Sie wissen das; auch Ihr Gewerkschaftsflügel weiß das.
Nur wenn wir über dieses Thema sachlich reden, dient es
der Sache.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({24})
Das Wort hat nun die
Bundesministerin der Justiz, Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Zeitlmann, es war sehr interessant, bei dem zuzuhören, was Sie zur Frage der Zuwanderung gesagt haben, und zwar deshalb, weil heute aus Ihrer politischen
Gegend ja auch schon andere Töne angeklungen sind. In
einem möchte ich Ihnen aber zustimmen: Die furchtbaren
Ereignisse des 11. September 2001 waren für jeden von
uns schrecklich und sind keineswegs spurlos an uns vorübergegangen.
Dies sage ich nicht nur deswegen, weil wir um die
Menschen, die an diesem Tag ermordet wurden, trauern
und mit deren Angehörigen mitleiden, oder deswegen,
weil wir zur Solidarität mit Amerika eindeutig Ja sagen,
oder deswegen, weil wir die für die terroristischen Anschläge Verantwortlichen selbstverständlich bekämpfen
werden und weil wir für die Sicherheit unserer Bevölkerung all das tun, was, wie schon ausgeführt wurde, rechtsWolfgang Zeitlmann
staatlich notwendig und geeignet ist, und weil wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen.
({0})
Ich sage das vielmehr auch deshalb, weil wir genau wissen, was wir dabei verteidigen. Wir verteidigen ja nicht nur
das Abstraktum einer offenen Gesellschaft, sondern eine
Gesellschaft, die ganz konkret und ohne jeden Zweifel zukunftsfähig sein muss. Das ist sie nur dann, wenn sie jedem Einzelnen Chancen gibt, wenn sie dann, wenn gehandelt werden muss, rechtsstaatlich klar und begründet
vorgeht und wenn sie klar erkennen lässt, dass Sicherheit
und Rechtsstaatlichkeit keine Gegensätze sind, sondern
dass der Rechtsstaat eine kulturhistorische Leistung ersten
Ranges ist, den wir natürlich an keiner Stelle preisgeben
werden. Ganz im Gegenteil! Wir sollten ihn als kulturhistorische Leistung - jetzt knüpfe ich an das an, was Sie, lieber Herr Kollege Stadler, gesagt haben - in der Kooperation auf der europäischen Ebene - sei es nun die EU oder
sei es der Europarat - und darüber hinaus nicht nur exportieren, sondern auch stärken. Das werden wir tun.
Gerade weil das so ist, geht es darum, nicht allein die
Auswirkungen dieser furchtbaren Ereignisse des 11. September 2001 auf die jeweiligen Bereiche - auch auf den
Bereich der Rechtspolitik - zu bedenken. Natürlich werden wir unsere Gesetze auf nationaler Ebene ruhig auf
Lücken überprüfen, auch wenn - da stimme ich Ihnen,
Herr Stadler, wiederum zu - im Bereich der Gesetzgebung
kaum mehr Lücken zu schließen sind. Es ist vielmehr so,
dass wir in der internationalen Kooperation eine Menge
mehr tun können. Das tun wir auch.
Aber es ist auch so, dass die Rechtspolitik wie nur wenige andere Bereiche den Auftrag hat, die Grundsätze unserer Verfassung unter den heutigen Umständen durchzusetzen, und dass dort, wo neue Entwicklungen eingetreten
sind, wo die Gerechtigkeit eingeschränkt worden ist oder
wo zum Beispiel die Stellung des Schwächeren nicht
mehr den klaren Vorgaben entspricht, neue Regelungen
getroffen werden müssen.
Auch deswegen ist die Diskussion über die Rechtspolitik und damit auch die über den Justizhaushalt - lassen
Sie mich das sehr deutlich sagen - gerade auch heute ausgesprochen wichtig. Gerade die Rechtspolitik unserer rotgrünen Regierung und der sie tragenden Mehrheit betont
ja diese Schwerpunkte. Sie bilden einen Dreiklang aus
drei Ansichten, die ich Ihnen kurz deutlich machen
möchte:
Zum einen muss die Stellung der Schwächeren gestärkt und ihr Schutz gewährleistet werden. Das gilt in
vielen Bereichen, die wir angepackt haben, zum Beispiel
bei dem Programm Erziehung ja - Gewalt nein. Die in
diesem Zusammenhang notwendigen gesetzlichen Regelungen hat die größere Oppositionspartei, die CDU/CSU,
ja leider nicht mitgetragen.
({1})
Das gilt für Gesetze wie das Gewaltschutzgesetz. Das
gilt auch ganz praktisch beim Opferschutz, im Bereich des
Sanktionensystems oder für den Bereich, zu dem wir
heute eine Expertenanhörung veranstaltet haben, ob das
Adhäsionsverfahren zugunsten der Opfer verbessert werden kann. Das gilt für das Urhebervertragsrecht, das
Schadensersatzänderungsgesetz, aber natürlich auch für
die Angleichung der Pfändungsfreigrenzen, die seit 1992
nicht geändert worden sind.
All das - und das sind nur ausgewählte Beispiele - ist
in diesem Zusammenhang wichtig. Ich würde mich
freuen, wenn wir die Diskussion über diese rechtspolitischen Themen stärker inhaltlich führen würden.
Der zweite Punkt betrifft die Modernisierung von Justiz und Recht. Auch und gerade hier musste eine Menge
nachgeholt werden. Auch im Bereich der Rechtspolitik
haben wir bereits - jetzt knüpfe ich an das an, was der Kollege Stiegler zum Bereich der Innenpolitik gesagt hat eine Menge erreicht: ZPO - Sie waren dagegen -; Mietrecht - Sie waren dagegen -; Schuldrechtsmodernisierung Sie waren dagegen.
({2})
- Lieber Herr Geis, eben nicht mit Recht und Sie wissen
das auch ganz genau.
({3})
Selbst Leute, die sich inhaltlich damit auseinander gesetzt
haben, bescheinigen Ihnen doch, dass Sie nicht inhaltlich
argumentieren, sondern nur Interesse daran haben, der
Regierung irgendetwas ans Bein zu binden. Ich finde das
sehr schade,
({4})
einfach deswegen, weil wir damit eine Qualität der Auseinandersetzung erreichen, die Sie zufrieden stellen mag,
mich nicht.
({5})
Ich hätte ganz gerne eine inhaltliche Auseinandersetzung
und Argumente; aber so ist es nun einmal mit Ihnen.
Zu unseren Erfolgen gerade in diesem zweiten Bereich, im Bereich der Modernisierung, gehört auch die
Schaffung von Rechtsgrundlagen für die Möglichkeit des
elektronischen Rechts- und Geschäftsverkehrs, die wir
verabschiedet haben und ausbauen.
Dazu - lassen Sie mich das hier noch als zweites Stichwort erwähnen - kommt noch die Modernisierung des
Deutschen Patent- und Markenamtes.
({6})
Auch das ist ein solches Beispiel. In den 90er-Jahren stieg
die Zahl der Patent- und Markenanmeldungen. Der Personalbestand aber wurde von Ihnen um circa 16 Prozent
zurückgefahren. Die Modernisierung in Form einer Ausstattung mit elektronischen Arbeitsmitteln oder auch
durch die Schaffung einer vernünftigen Organisation fand
nicht statt. Obwohl auch wir mit dem Einzelplan 07 die
Haushaltskonsolidierung des Bundesfinanzministers unterstützen, weil wir sehr klar sagen: Es ist unzumutbar,
dass wir die Menschen in unserem Lande alle fünf Minuten als Erbe Ihrer Regierungszeit mit dem Gegenwert eines anständigen schwäbischen Einfamilienhauses als Zinsen belasten, haben wir beginnend mit dem Haushalt
1999, dann 2000 und 2001 und jetzt 2002
({7})
auf dem Weg zur Modernisierung, dem Ausbau und vor
allem die Verbesserung der Organisation dieses wichtigen
Amtes mit dem Ziel der Dienstleistungen für Erfinderinnen und Erfinder und für die Wirtschaft einen großen
Schritt nach vorn getan.
Mich stört es sehr, dass Sie von der Opposition - ich
meine jetzt nicht die FDP, sondern die CDU/CSU - auch
hier nichts weiter tun, als falsche polemische Zwischenrufe zu machen. Ich finde das schade, weil ich glaube,
dass man in diesen Fragen jedenfalls mit denen, die ein
Engagement in der Sache haben, im Bundestag und in den
Ausschüssen erheblich konstruktiver zusammenarbeiten
können sollte, als dies bei Ihnen der Fall ist.
({8})
Den dritten Bereich in unserem Dreiklang aus Schutz
sowie Stärkung der Rechte der Schwächeren und Modernisierung bildet die Harmonisierung und die Kooperation in der EU und darüber hinaus. Auch hier tun wir
eine Menge - lassen Sie mich einige Erfolge noch einmal
in Erinnerung rufen: die Schaffung eines Menschenrechtsinstituts zur besseren Vernetzung der Menschenrechtspolitik über die Grenzen - das wurde hier im
Deutschen Bundestag von allen Fraktionen getragen; da
ist die Unterstützung und Begleitung der Europäischen
Grundrechte-Charta, die Unterstützung bei der Schaffung
des Internationalen Strafgerichtshofs, der hoffentlich bald
mit seiner Arbeit beginnen kann, und die Umsetzung der
UN-Konventionen zur Bekämpfung des Terrorismus.
({9})
Übrigens können wir, nachdem jetzt die Übersetzungen
vorhanden sind, die Ratifizierung sofort mit vornehmen.
Wir alle wissen, dass dies ein wichtiges Zeichen nach
außen ist. Wir helfen dadurch bei der globalen Bekämpfung des Terrorismus mit. Bei uns hier im Innern brauchen
wir keine Gesetze zu verändern, weil diese hier schon in
der Form bestehen, wie wir sie zu Abwehr des Terrorismus brauchen.
({10})
Dies alles, meine Damen und Herren, haben wir erreicht und weiter. Wir kümmern uns verstärkt darum,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsfragen im internationalen Kontext zum Thema zu machen - gerade auch
mit Ländern, bei denen das wegen der internen Voraussetzungen gar nicht so leicht ist. Das gilt für den außerordentlich interessanten und wichtigen Rechtsstaatsdialog
mit China und für die hervorragende Arbeit der IRZStiftung. Deren finanzielle Sicherung haben wir jetzt insgesamt in den Haushalt übernommen. Ich bin mir ganz
sicher, dass wir sie auch heute noch, so wie früher,
gemeinsam über die Fraktionsgrenzen hinweg unterstützen. Das ist gut.
Ich erinnere auch an die ganz praktische Hilfe des Bundesministeriums der Justiz, die wichtig ist, bei der Bewältigung von Sorgerechtsproblemen, weil sich immer
mehr Menschen über die heute faktisch nicht mehr existierenden Grenzen kennen lernen, Familien gründen,
dann Probleme haben, wenn es zu Scheidungen gekommen ist. Wenn dann der eine Partner in Spanien oder in
Frankreich und der andere in Schweden oder in der Bundesrepublik wohnt, tauchen gelegentlich Probleme auf, zu
deren Lösung auch wir beitragen müssen. Das tun wir in
einem modellhaften Verfahren auch mit dem französischen Justizministerium.
Ich möchte noch einmal auf das zurückkommen, was
ich am Anfang gesagt habe. Bei der Bekämpfung des
Terrorismus machen wir, was nötig ist. Wir machen das,
was wir tun müssen, mit Entschlossenheit, Klarheit und
Besonnenheit und mit Sinn für Rechtsstaatlichkeit. Das ist
klar: Innere Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit
sind keine Gegensätze. Ganz im Gegenteil: Unsere
Gesellschaft braucht alle. Wir sind dazu berufen, dafür zu
sorgen, so gut wir das können.
({11})
Lassen Sie mich noch eines hinzufügen: Wenn wir unser Augenmerk auf unsere Gemeinschaft und die Chancen, die jeder in dieser Gemeinschaft haben muss, richten,
dann ist mir um unsere zukunftsfähige Gesellschaft nicht
bange. Ich lade Sie alle ein, auch im Bereich der Rechtspolitik mit uns auch über solche Fragen zu diskutieren.
Ich freue mich dann ebenso auf eine durchaus streitige
Auseinandersetzung.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, auch
wir freuen uns auf eine streitige Auseinandersetzung. Sie
müssen diesen Streit dann aber auch aushalten können.
Manchmal haben wir den Eindruck, dass Ihnen das nicht
so leicht möglich ist.
({0})
- Da mögen wir manches gemeinsam haben.
({1})
- Na also, da bist du ja froh.
Die Rechtspolitik ist natürlich nicht nur beim Kampf
um die innere Sicherheit und beim Kampf gegen den
Terrorismus, sondern auch für die Regelungen des ganz
normalen Alltags wichtig. In der Vergangenheit gab es
hier viele Diskussionspunkte.
Wir halten in der Tat die ZPO-Regelungen für verunglückt und stehen mit dieser Meinung nicht ganz allein.
Viele Fachverbände sind in dieser Beurteilung mit uns einig.
Wir wollen aber natürlich auch helfen, das Gute daran
durchzusetzen. Dies betrifft zum Beispiel die Möglichkeit, dass ein Anwalt von seinem Schreibtisch in München
aus per Videoschaltung in Hamburg einen Prozess führen
kann, wenn die Technik stimmt. Daran mangelt es. Das ist
kein Versagen der Bundesregierung. Viele Länder haben
aber immer noch nicht begriffen, dass die Justizbehörden
auch Dienstleistungsunternehmen sind und dass sie entsprechend ausgestattet sein müssen.
Es geht um vernünftige Organisationsstrukturen und
Serviceeinheiten in den Land- und Amtsgerichten. Arbeitsplätze müssen mit Computertechnik ausgestattet sein, damit solche Videoschaltungen und die Möglichkeiten der
Technik überhaupt ausgenutzt werden können. Das gilt
auch für die Automatisierung des Grundbuchs und der Handelsregister.
All diese Möglichkeiten haben wir nach dem Gesetz.
Diese müssen aber auch von Länderseite her umgesetzt
werden. Wir bitten die Bundesregierung, mit dafür Sorge
zu tragen, dass der Standard in den einzelnen Bundesländern gleich ist und nicht immer nur Bayern allein voranschreitet.
({2})
- Das muss ich sagen, weil es so ist.
(Beifall des Abg. Eckart von Klaeden
({3})
Wir haben im Rahmen der ZPO ebenfalls eine wichtige
Neuregelung geschaffen. Es handelt sich um die Möglichkeit der Schlichtung. In der Tat: Nach wie vor sind die
Zugänge der Streitsachen zu den Amts- und Landgerichten hoch. Das Schlichtungsverfahren bietet die Möglichkeit der Entlastung, wenigstens im amtsgerichtlichen Bereich. Es gibt Länder, die das Schlichtungsgesetz längst
verabschiedet haben, und Länder, die dies noch nicht getan haben. Wir sollten dafür Sorge tragen, dass es auch in
diesen Ländern erfolgt, weil dies ein richtiger Gedanke
ist; denn wir ändern damit auch ein wenig die Rechtskultur oder die Streitkultur. Es ist nunmehr möglich, Rechtsstreitigkeiten von geringerem Umfang gewissermaßen
eigenverantwortlich zu erledigen. Wenn wir damit in
der Bundesrepublik Deutschland Erfolg haben, sollten
wir darüber nachdenken, das Schlichtungsverfahren
vielleicht noch auszuweiten.
Wir haben gegen die Mietrechtsreform gestimmt; das
ist wahr.
({4})
Aber ich glaube, dass uns darin viele zugestimmt haben.
({5})
Es ist ja nicht so, dass Sie die Mietrechtsreform im gesellschaftlichen Konsens durchgezogen hätten, sondern
nach wie vor ist es Ihnen, Frau Ministerin, nicht gelungen,
durch Ihre Vermittlung ein Formular für einen einheitlichen Mietvertrag zustande zu bringen. Das liegt daran,
dass hier zu viele verschiedene Meinungen aufeinander
prallen. Haus und Grund kritisiert nach wie vor das von
Ihnen erlassene Mietrecht sehr heftig
({6})
und ist der Meinung, dass es in Karlsruhe auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden muss.
({7})
Auch die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes ist in Karlsruhe anhängig. Hier
handelt es sich um zwei wichtige Gesetzgebungsvorhaben und man sollte seitens der Mehrheit etwas mehr auf
gesellschaftlichen Konsens achten, damit Überprüfungen
durch das Verfassungsgericht erst gar nicht beantragt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die schönsten Urteile nützen nichts, auch wenn sie schnell erfolgen,
wenn die Zwangsvollstreckung nicht möglich ist.
({8})
Nun wollen Sie die Pfändungsfreigrenzen auf 1 800 DM
erhöhen. Wir halten sie für zu hoch. Es wird vor allen Dingen den Mittelstand treffen. Viele mittelständische Unternehmen werden dann ihre Forderungen nicht mehr durchsetzen können. Auch das sollten wir dabei bedenken.
Natürlich muss man darüber nachdenken, ob man die
Pfändungsfreigrenzen erhöht, aber nicht gleich auf
1 800 DM. Da werden wir nicht mitmachen.
({9})
Natürlich spielt auch die innere Sicherheit in der
Rechtspolitik eine ganz entscheidende Rolle. Da haben
Sie in den letzten drei Jahren versagt. Es liegt kein ernst
zu nehmender Gesetzentwurf von Ihnen hierzu vor. Das
muss einmal festgestellt werden.
({10})
Wir diskutieren schon sehr lange über das Sanktionensystem; aber es liegt bis heute nichts auf dem Tisch. Allerdings dürfen wir dafür dankbar sein; denn das, was an
Vorschlägen durchgesickert und bekannt geworden ist,
lässt Böses ahnen.
Wir sind gegen den Halbstrafenerlass, weil er ein
falsches Signal setzen würde. Wir sind auch gegen die generelle Einführung der gemeinnützigen Arbeit. Natürlich
soll es möglich sein, dass ein Straftäter über gemeinnützige Arbeit einen Teil seiner Schuld abtragen kann.
({11})
Aber das darf nicht dazu führen, dass die Geldstrafe generell abgeschafft wird
({12})
oder dass Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr, wie es der Referentenentwurf vorsieht, abgeschafft und durch gemeinnützige Arbeit ersetzt werden.
({13})
Auch das halten wir für falsch. Der Täter wird sich darüber freuen. Die Rechtsordnung wird dabei Schaden nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich
geht es bei der inneren Sicherheit vor allen Dingen um die
Bekämpfung der schweren Kriminalität und des Terrorismus. Es ist ein Fehler gewesen, dass die Nachrichtendienste vernachlässigt worden sind. Das ist eine Kritik,
die zum Teil auch unsere Regierungszeit betrifft; das ist
wahr.
({14})
Aber es sei durchaus vermerkt, dass es Länder gab - es
sind Bayern und Baden-Württemberg -, die nicht mitgezogen haben, die die Dienste und den Verfassungsschutz
beibehalten haben. Wie wichtig dieser Verfassungsschutz
ist, erfahren wir in diesen Tagen. Er muss aufgebessert
werden.
({15})
Wenn ich die Bekämpfung der Kriminalität und des
Terrorismus anspreche, denke ich nicht nur an speziell innenpolitische Themen, sondern insbesondere an die
Rechtspolitik. Wir haben noch vor dem Ende der Sommerpause einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem wir die
Kronzeugenregelung in abgeänderter Form erneut vorsehen, sodass jemand, der sich durch einen Prozess lügt,
danach zur Rechenschaft gezogen werden kann und nicht
das in seiner Sache gefällte Urteil gilt, das aufgrund seiner Kronzeugenstellung milde ausgefallen ist.
In unserem Gesetzentwurf haben wir auch eine bessere
rechtliche Stellung des verdeckten Ermittlers vorgesehen.
Wir halten den verdeckten Ermittler gerade im Bereich
des Terrorismus für äußerst wichtig. Das sagen uns auch
die Fachleute.
Wir meinen, dass zur Gewinnabschöpfung endlich
Vorschläge vorgelegt werden müssen. Wir legen einen
Vorschlag vor. Wir diskutieren gern mit Ihnen über Verbesserungen dieses Vorschlages. Aber dies ist ein Thema,
das beim Kampf gegen den Terrorismus eine ganz entscheidende Rolle spielt.
({16})
Zudem muss die Telefonüberwachung eine wichtige
Rolle spielen. Wir arbeiten schon sehr lange daran, bei der
Telefonüberwachung auch die Korruption einzubeziehen,
was immer noch nicht passiert ist. Es ist mir schleierhaft,
weshalb Sie dagegen sind. Als wir die Videoüberwachung
eingeführt und die Verfassungsänderung durchgeführt haben, haben Sie erklärt, dass eine solche Ergänzung der
Telefonüberwachung erfolgen muss. Bis heute haben Sie
nichts getan. Wir machen entsprechende Vorschläge.
Wir meinen aber auch, dass wir die Computerkriminalität viel ernster nehmen müssen. Auch hier sind Ansätze für Terroristen vorhanden, die wir uns überhaupt
noch nicht vorstellen können.
({17})
Der Computerwurm Nimda, wie er genannt wird, hat innerhalb weniger Stunden 134 000 Computer angegriffen.
Durch ihn ist ein Milliardenschaden entstanden. Dies sind
Ansatzpunkte für geschickte Terroristen, um unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben unter Umständen
zumindest für eine bestimmte Zeit lahm zu legen. Ich
weiß, dass dies ein rechtlich schwieriges Gebiet ist, über
das wir diskutieren müssen. Vielleicht sollten Sie hier mit
uns wenigstens einen Schritt machen. In dem von mir genannten Gesetzentwurf gegen die schwere Kriminalität
und den Terrorismus, den wir vorgelegt haben und wohl
in zwei Wochen im Parlament diskutieren werden, haben
wir entsprechende Vorschläge gemacht.
Im Rahmen der Kommunikationsüberwachung sollte
den Firmen, die diese Kommunikationsmöglichkeiten zur
Verfügung stellen, auferlegt werden, die Verbindungsdaten, also wer wann wo mit wem telefoniert hat, für 90 Tage
zu speichern. Auf diese Weise kommen wir schneller an
Netzwerke der Terroristen heran. Notwendig dabei ist allerdings, dass Sie Ihr Gesetzgebungsvorhaben zum
§ 12 FAG fallen lassen. Der Zugriff zu solchen Daten muss
für die Ermittler schnell möglich sein.
({18})
Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und den
Terrorismus ist für die Rechtspolitik eine ständige Aufgabe. Hier kann man sich nicht ausklinken. Wir haben in
der Vergangenheit viel auf diesem Gebiet getan; aber es
ist nach wie vor eine Aufgabe der Zukunft.
Es bleiben die großen Fragen im Kampf gegen die
Sexualdelikte.
Frau Ministerin, ich möchte Sie zum Schluss bitten, an
Ihrer Auffassung zum Komplex Humangenetik festzuhalten. Das ist eine Frage, die jetzt zurückgedrängt worden ist, die aber vor dem 11. September 2001 in den Medien sehr intensiv behandelt wurde. Bei der Bioethik und
der Humangenetik geht es um die Frage des Schutzes des
menschlichen Lebens von Anfang an. Das ist eine rechtspolitische Frage ersten Ranges, die uns in den nächsten
Jahren begleiten wird. Hier hoffe ich auf eine gute Diskussion. Die Botschaft unserer Kultur ist - das sollten wir
denen sagen, die uns angreifen - die Würde des Menschen, die Wahrung seiner Freiheit und der unbedingte
Schutz seines Lebens von Anfang an.
Danke schön.
({19})
Ich erteile dem Kollegen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der öffentliche
Raum ist ein Raum für alle Menschen. Jeder und jede hat
ein Anrecht darauf, sich dort wohl und sicher zu fühlen.
Wenn es um die Sicherheit des öffentlichen Raumes geht,
ist es nicht entscheidend, mehr Kameras zu installieren,
sondern es geht vor allem darum, dass die Menschen das
Gefühl haben, dass sie sich in diesem öffentlichen Raum
sicher bewegen können. Dafür brauchen wir Polizei, die
sichtbar in Erscheinung tritt und, wenn notwendig, für
Ordnung sorgt.
Ich möchte - mein Kollege Volker Beck hat dies in der
ersten Runde bereits getan - auch für meine Person sagen,
dass wir mit Blick auf Hamburg ein paar selbstkritische
Töne anschlagen müssen. Das gilt wohl für beide Parteien, die dort regiert haben. Sie haben den Bereich der inneren Sicherheit in Hamburg offensichtlich falsch eingeschätzt.
({0})
Vielleicht kann man das Gefühl für Sicherheit wie
folgt wiedergeben: Eine alte Dame hat genauso das
Recht, sich im öffentlichen Raum sicher zu bewegen und
sich sicher zu fühlen, wie der Nichtdeutsche das Recht
hat, sich in so genannten national befreiten Zonen aufzuhalten. Beides zusammen macht innere Sicherheit aus
und dafür sollten wir uns in diesem Hause gemeinsam
einsetzen.
({1})
Alle haben ein Recht darauf, sich jederzeit an jedem Ort
frei zu bewegen, egal, wie alt sie sind, wie gut sie sich bewegen können und wie sie aussehen. Bei dem Thema innere Sicherheit ist ein ideologiefreier Ansatz gefragt und
diese Ideologiefreiheit würde ich mir auch bei Ihnen wünschen.
({2})
- Geschätzter Kollege, Sie haben mit den alten Ladenhütern wie der Kronzeugenregelung angefangen. Ihre Kollegen sagen im direkten Gespräch mit uns, dass sich die
alte Regelung nicht bewährt hat. Was sollen also die alten
Ladenhüter? Machen Sie doch kein Recycling von alten
Vorschlägen.
({3})
- Wir können uns ja gerne einmal zusammensetzen; im
Bundesrat sind wir ja auf Sie angewiesen. Ich glaube aber,
ein Ideenrecycling wird den Anforderungen nicht gerecht,
die seit dem 11. September an uns gestellt werden.
({4})
Ich will die Debatte über die Zuwanderung nicht wieder eröffnen, weil diese bereits an anderer Stelle geführt
wurde. Sehr gewundert hat mich aber Ihre klare Absage
an einen Konsens; ich glaube, dies wird den Notwendigkeiten in keiner Weise gerecht. Ich empfehle Ihnen, die
Ideologen in Ihren Reihen an die Kette zu nehmen
({5})
und den Pragmatikern - ich denke an Herrn Müller aus
dem Saarland; auch Herr Bosbach zählt sicherlich dazu die Chance zu geben, mit uns gemeinsam über einen vernünftigen Antrag zu verhandeln, der sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Mehrheit findet.
Ich will - es ist schon einige Wochen her - noch etwas
zu Genua sagen: Ich glaube, dass Herr Wiefelspütz mit
seinen Äußerungen in der Zeit - Herr Zeitlmann hat es
angesprochen - nicht Unrecht hatte. Wir alle verurteilen
die Bilder der Gewalt, die wir in Genua gesehen haben.
Die Gewalt, die dort vom so genannten schwarzen Block
ausging, ist durch nichts zu rechtfertigen.
({6})
Auch Polizisten haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Aber gerade in einer solchen Situation gilt für
die Polizisten, die einen sehr schweren Job haben: Ein
Recht auf Rache besteht nicht.
({7})
Die Bilder, die wir aus der Turnhalle gesehen haben, wünschen wir nicht in Rechtsstaaten zu sehen. Darum muss
gewährleistet sein, dass die Vorkommnisse von Genua
schonungslos aufgeklärt werden. Wir wollen nicht, dass
beispielsweise in italienischen Gerichtsverfahren Akten
aus der Bundesrepublik Deutschland Eingang finden, die
dokumentieren, dass jemand in Deutschland eine Ratssitzung gestört hat. Man kann das für falsch halten, muss es
vielleicht auch. Aber solche Auskünfte haben in einem
Gerichtsverfahren nichts verloren. So etwas wäre in
Deutschland nicht möglich und sollte auch woanders
nicht möglich sein.
({8})
Wenn Sie mit uns gemeinsam mehr europäische Kompetenzen, wenn Sie eine verstärkte Zusammenarbeit der
Polizei wollen - wir wollen das auch -, dann gehört dazu
auch eine justizielle Kontrolle. Dazu gehört auch die
Überführung von der dritten in die erste Säule. Auch hier
empfehle ich Ihnen: Machen Sie bitte mit.
Auch die Informationsfreiheit gehört für mich in diesen Themenbereich. Manche werden fragen: Warum wird
dieses Thema gerade jetzt aufgegriffen? Angesichts der
Anschläge vom 11. September wäre es doch eher angezeigt, dass wir uns darüber unterhalten, wie wir mehr innere Sicherheit erreichen. Ich finde aber, gerade weil dieser Angriff der offenen Gesellschaft galt, ist es wichtig,
dass wir als Signal setzen: Dieser Staat bleibt offen, dieser Staat wird kein Obrigkeitsstaat. Wir beschwören nicht
den preußischen Obrigkeitsstaat herauf, sondern wir wollen, dass sich unsere Bürgerinnen und Bürger über das,
was dieser Staat macht, aus allgemein zugänglichen Quellen - Internet, direkte Anfragen - informieren können.
Deshalb bin ich froh, dass auch bei der Unionsfraktion auf
diesem Feld ein Umdenken begonnen hat.
({9})
- Ich werde auf diesen Zwischenruf nicht eingehen, weil
ich glaube, dass er unter Niveau ist, Herr Kollege. Mir
sind die Unterschiede zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Türkei bekannt. Ich hoffe, Ihnen
auch. Wenn nicht, kläre ich Sie gerne auf.
({10})
Ich höre von einem Gesetzentwurf aus NordrheinWestfalen; ich finde das gut. Wir sollten so schnell wie
möglich - noch in dieser Legislaturperiode - das Informationsfreiheitsgesetz auf den Weg bringen. Nur eines
will ich dazu sagen: Ich wünsche mir, dass auch im Kabinett die Energie bei der Umsetzung des Informationsfreiheitsgesetzes zunimmt. Ich bin froh, dass das BMI einen Entwurf vorgelegt hat. Ich bin auch froh, dass
beispielsweise das Umweltministerium Vorschläge
macht, wie man noch darüber hinausgehen kann. Nicht
nachzuvollziehen ist jedoch, dass jedes Ressort aus für
sich selbst vielleicht verständlichen Gründen erklärt,
warum gerade in dem jeweiligen Ressort keine Informationsfreiheit möglich ist. Hier empfehle ich etwas mehr
Engagement.
({11})
Genauso viel Engagement wünsche ich mir bei dem
Thema direkte Demokratie. Herr Zeitlmann, Ihre
Ausführungen haben mich schon sehr gewundert. Wo sitzt
er denn eigentlich gerade? - Ich glaube, er ist schon gegangen. Er fand die Debatte wahrscheinlich nach seiner
Rede nicht mehr so spannend. Vielleicht können Sie dem
Kollegen Zeitlmann Folgendes ausrichten: Er sprach davon, dass wir ständig Punkte aus dem Bereich der direkten Demokratie herausnehmen würden. Meine Damen
und Herren von der Opposition, Sie haben es doch in der
Hand. Nehmen Sie das Angebot der SPD-Fraktion und
von Bündnis 90/Die Grünen an! Setzen Sie sich mit uns
zusammen an einen Tisch, verhandeln Sie über das Thema
direkte Demokratie mit uns und bringen Sie Ihre Bedenken ein! Wir werden uns zusammensetzen und einen
Kompromiss finden.
({12})
Sie wissen, wir sind im Bundestag wie im Bundesrat
auf Sie angewiesen, weil wir eine Zweidrittelmehrheit
brauchen. Nur, eines geht nicht: sich hier hinzustellen und
zu sagen, die anderen wollten bestimmte Themen ausnehmen, und dann zu verhindern, dass direkte Demokratie
durchgesetzt wird. 75 Prozent der deutschen Bevölkerung
wollen mehr Demokratie. Die Menschen wollen nicht nur
alle vier Jahre ihr Kreuz machen und dann nach Hause gehen, sondern sie wollen auch zwischen den Wahlen mitwirken. Helfen Sie uns, dass dies realisiert wird. Wir wollen die direkte Demokratie. Erinnern Sie sich an das
biblische Motto: Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein.
Was darüber ist, das ist vom Übel.
({13})
In diesem Sinne war das, was Herr Zeitlmann gesagt
hat, vom Übel.
Ich komme zum Schluss meiner Rede. Zum Thema
Sicherheit gehört auch das Waffenrecht. Wir haben gerade gesehen, wie wichtig es ist, dass man die Kontrollen an den Flughäfen verschärft. Obwohl wir in
Deutschland schon hohe Standards haben, wollen wir
sie weiter erhöhen. Dazu gehört sicherlich auch das
Thema Waffen in der Gesellschaft. Ich weiß, dass
viele rechtschaffene Bürger, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, unter Umständen auch betroffen sein könnten. Vielleicht gibt es ja auch hier Kolleginnen und Kollegen, die in ihrer Freizeit in
Schützenvereinen oder als Jäger aktiv sind und Waffen
tragen. Aber ich glaube, wenn wir uns die Zahl von
6 000 Waffen, die jedes Jahr in der Bundesrepublik
Deutschland verschwinden,
({14})
vor Augen führen, dann ist es wichtig, festzustellen, dass
wir das Waffenrecht verschärfen müssen, Herr Kollege.
Wenn Waffen verschwinden, reduziert das nicht die innere Sicherheit, sondern erhöht sie.
({15})
Im folgenden Punkt unterscheidet sich unsere Auffassung von der in den Vereinigten Staaten von Amerika: Wir
glauben nicht, dass mehr Waffen bei den Bürgerinnen und
Bürgern zu mehr innerer Sicherheit beitragen. Vielmehr
wird umgekehrt ein Schuh daraus.
({16})
Lassen Sie uns darum gemeinsam überlegen - auch hier
ist Ihre Mitwirkung gefragt -, wie wir dies umsetzen können. Ich bin froh - ich muss zum Schluss kommen -, dass
wir beispielsweise auch bei Wurfsternen und bei sonstiCem Özdemir
gen so genannten Kleinwaffen entsprechende Verschärfungen vorgenommen haben.
({17})
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Justizhaushalt kann als klein, aber
fein bezeichnet werden: klein, weil es sich um relativ geringe Summen handelt; fein, weil ein ordnungsgemäß
funktionierendes Justizministerium für unsere Rechtsund Gesellschaftsordnung unerlässlich ist.
({0})
Wir danken in diesem Zusammenhang den Mitarbeitern des Justizministeriums für ihre engagierte Arbeit im
Interesse unseres Rechtsstaats.
({1})
Herr Stiegler, jetzt kommt die Einschränkung. Wir verkennen aber nicht und kritisieren, dass aufgrund der politischen Vorgaben die parlamentarischen Gremien mit Gesetzen befasst werden, die manchmal nicht gründlich
genug vorbereitet worden sind
({2})
und vor allem durch die parlamentarischen Gremien gepeitscht wurden.
({3})
Ich glaube, wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier sollten uns das auf Dauer nicht gefallen lassen.
({4})
Ich sehe durchaus ein, dass das eine oder andere Gesetz
einmal schneller beraten werden muss. Aber dies sollte
nicht, wie es in letzter Zeit der Fall ist, die Regel sein.
Nach langem Zögern hat die Bundesregierung ein Urhebervertragsrecht vorgelegt, das ja bereits seit langem
angekündigt war. Wir sind ganz froh darüber, dass der so
genannte Professorenentwurf, der vor gut einem Jahr vorgelegt worden ist, nicht Wirklichkeit geworden ist. Aber
auch der jetzige Entwurf kann nicht recht befriedigen. Ich
glaube, dass wir hier noch nacharbeiten müssen. Ich bin
ausgesprochen glücklich darüber, dass in den Diskussionen angekündigt worden ist, dass das Justizministerium
bereit ist, den Dialog mit Urhebern und Verwendern
wieder aufzunehmen. Ich hoffe, dass wir hierüber weiter
im Gespräch bleiben.
({5})
Die Internationalisierung unseres Kapitalmarktrechtes muss weiterhin voranschreiten, denn es gibt im
Grunde genommen weltweit nur noch einen Kapitalmarkt
und die Vergleichbarkeit beispielsweise der Bilanzen wird
immer notwendiger. Deswegen ist es auch erforderlich,
das Kapitalmarktrecht, das Aktienrecht und auch die Vorschriften des HGB immer stärker zu internationalisieren.
Wir unterstützen Sie, Frau Ministerin, bei diesem Vorhaben, sind allerdings der Meinung, dass dieses Vorhaben
dann auch im Bundesjustizministerium und nicht im Bundesfinanzministerium angesiedelt sein sollte. Es gehört zu
Ihnen, weil es das Aktienrecht betrifft.
({6})
Sie haben zu Recht die Bedeutung des Deutschen Patent- und Markenamtes für die Innovationsfähigkeit der
deutschen Wirtschaft angesprochen und dabei ein bisschen Vergangenheitsbewältigung betrieben. Ich gebe Ihnen zu, dass dieses Thema in den 90er-Jahren nicht sehr
glücklich behandelt worden ist. Das lag an den damaligen
finanziellen Verhältnissen; vom Bundesfinanzminister
gab es keine weitere Unterstützung. Wir freuen uns daher,
dass Sie sich für die personelle Verstärkung des Patentund Markenamtes eingesetzt haben. Trotzdem ist die Zahl
der unbearbeiteten Fälle gestiegen; hier muss dringend
Abhilfe geschaffen werden. Die FDP sichert Ihnen bei
Ihren Bemühungen um weitere personelle Verstärkung für
dieses Amt Unterstützung zu.
({7})
Wir haben im letzten Jahr das Stiftungssteuerrecht
fraglos verbessert, wenn auch vielleicht nicht in dem Umfange, wie wir es gerne gehabt hätten. Damals haben Sie
zugesagt, auch das materielle Stiftungsrecht zu verbessern.
({8})
- Es kommt eben nicht, weil es in einer Bund-LänderKommission liegt, ohne dass dort irgendetwas passierte.
Ich sage Ihnen voraus, dass Sie es in dieser Legislaturperiode nicht mehr schaffen, eine Vorlage einzubringen.
({9})
- Ich wette grundsätzlich nicht, vor allem nicht mit Sozialdemokraten.
({10})
Auch hier bitten wir darum, dass wir eine so wichtige Materie wie das Stiftungsrecht gründlich beraten können.
({11})
Ich möchte nicht, dass ein Gesetzentwurf dazu in den letzten Minuten dieser Legislaturperiode beraten wird.
Ein wichtiges Thema ist heute noch nicht angeschnitten worden: die Frage der Juristenausbildung. Heute
habe ich aber einer Presseerklärung der SPD entnommen,
({12})
dass Sie, nachdem der Gesetzentwurf der FDP nunmehr
seit einem Dreivierteljahr oder einem Jahr vorliegt, in die
Schuhe kommen wollen. Darüber bin ich sehr glücklich.
Die Vereinten Nationen haben früh erkannt, wie
wichtig es ist, den Terrorismus im Bereich der Finanzierung zu bekämpfen. So liegt seit dem 10. Januar
2000, also seit etwa eineinhalb Jahren, eine Konvention
zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus
zur Zeichnung aus. Frau Ministerin, Sie haben diese
Konvention bereits angesprochen und erklärt, Sie hätten eineinhalb Jahre benötigt, um eine Übersetzung anfertigen zu lassen. Ich verstehe durchaus, dass eine
sorgfältige Übersetzung vonnöten ist. Aber eineinhalb
Jahre sind ein relativ langer Zeitraum. Wir wären glücklich, wenn wir diese Konvention alsbald ratifizieren
könnten.
Wir haben heute auch die Pfändungsfreigrenzen zu
besprechen. Hier muss ein ausgewogener Interessenausgleich zwischen Gläubigern, Schuldnern, Anwälten und
dem Mittelstand vorgenommen werden. Ich habe den Eindruck, dass dieser Interessenausgleich noch nicht hinreichend berücksichtigt worden ist, aber darüber werden wir
in den Ausschüssen gründlich miteinander beraten und,
wie ich glaube, auch zu einem vernünftigen Ergebnis
kommen.
({13})
Die Bundesregierung unterstützt nunmehr den Vorschlag des Bundesrates, dass im früheren Ostberlin der
Gebührenabschlag für Rechtsanwälte aufgehoben
wird. In den anderen neuen Bundesländern wird er aber
nicht aufgehoben, obwohl Sie, Frau Ministerin, vor eineinhalb Jahren dem Deutschen Anwaltverein zugesagt
hatten, Sie wollten bis zum Frühjahr dieses Jahres eine
Prüfung durchgeführt haben. Das Frühjahr ist vorbeigegangen.
({14})
Wir wären froh und dankbar, wenn Sie nunmehr Ihre
Möglichkeit, Verordnungen zu erlassen, nutzten.
({15})
- Nein, nein, 2001. Ich weiß das ganz genau; es geht nicht
um das Jahr 2002.
Wir müssten die Gebührenordnung für die Rechtsanwälte unter strukturellem Aspekt wirklich überdenken.
({16})
- Nein, nein, das ist nicht mein ceterum censeo.
Herr Kollege Stiegler,
ermuntern Sie ihn nicht, noch länger zu reden. Seine Redezeit ist abgelaufen.
({0})
Herr Kollege Stiegler, Sie wissen es selbst und haben es auch vor diesem Plenum gesagt, dass eine strukturelle Neuordnung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte vorgelegt werden
muss.
({0})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Wir sind gespannt,
was die Kollegen Rechtsanwälte da für sich herausholen
wollen.
Jetzt hat die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich beschränke mich wegen
meiner sehr begrenzten Redezeit auf einige wenige Bemerkungen zu den Vorlagen, deren Behandlung mit der
des Einzelplans Justiz verbunden worden ist. Die uns bewegenden Fragen zum Haushalt werde ich dann in die Beratungen im Rechtsausschuss einbringen.
Zunächst zum Grundstücksrechtsbereinigungsgesetz: Auch meine Fraktion sieht natürlich die Notwendigkeit einer abschließenden Regelung im Bereich der aus
DDR-Zeiten herrührenden öffentlichen Nutzung von
Privatgrundstücken.
({0})
Wir unterschätzen auch nicht die damit verbundenen
Schwierigkeiten. Wir können der Regierungsvorlage trotz
der erreichten Verbesserungen nicht zustimmen.
Die Ankaufslösung im Verkehrsflächenbereinigungsgesetz bzw. die Möglichkeit der Bestellung einer beschränkten persönlichen Dienstbarkeit ist zwar im Prinzip
richtig; in der Anhörung wurde jedoch sehr deutlich, dass
die Regierung nicht über einigermaßen genaue Angaben
verfügt, wie viele Grundstücke davon betroffen sind und
wie hoch die Kosten des Ankaufs sind. Auch die Länder
und die Kommunen können zum großen Teil noch keine
verlässlichen Zahlen vorlegen, welche finanziellen Belastungen angesichts der meist sehr angespannten Haushaltslage bis zum Jahr 2007 tatsächlich auf sie zukommen
werden, zumal neben den Ankaufspreisen weitere nicht
geringe Verwaltungs-, Vermessungs- und Notarkosten
entstehen.
Bekanntlich gehen uns auch die vorgesehenen Präzisierungen des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes in BeRainer Funke
zug auf die so genannten Überlassungsverträge nicht weit
genug, auch wenn die Änderung des § 12 Abs. 2 durchaus
einen Fortschritt darstellt. Wir gehen jedoch weiter und
schlagen vor, die Überlassungsverträge über Wohngrundstücke generell in die Sachenrechtsbereinigung einzubeziehen. Dazu liegt Ihnen ein Antrag meiner Fraktion vor.
Die Überlassungsvertragsnehmer mussten die Pflichten
eines Eigentümers übernehmen und sind diesen in aller
Regel auch unter Einsatz umfangreicher eigener Aufwendungen nachgekommen. Deshalb sollten sie auch durch
vollständige Einbeziehung in die Sachenrechtsbereinigung wie Eigentümer behandelt werden.
Verfassungsrechtlich halten wir die vorgeschlagene
Änderung auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt durchaus
noch für möglich, da sich die bisherige Regelung als nicht
praktikabel erwiesen hat.
Ich begrüße es, dass nun endlich der Regierungsentwurf für ein Siebtes Gesetz zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen vorliegt. Meine Fraktion hatte bereits
im September 1999, also vor zwei Jahren, einen diesbezüglichen Antrag in den Bundestag eingebracht.
({1})
Seit 1992 blieben die Pfändungsfreigrenzen unverändert,
obwohl sich die Lebenshaltungskosten, darunter vor allem die Mieten, drastisch erhöht haben. Viele erwerbstätige Schuldner und ihre Familien leben deshalb zum Teil
bereits unter dem Existenzminimum. Die Heraufsetzung
der Pfändungsfreigrenzen ist also mehr als gerechtfertigt.
Selbstverständlich begrüße ich es, dass die Regierung
den in unserem Antrag enthaltenen Vorschlag aufgegriffen hat, die Pfändungsfreigrenzen aus ihrer Erstarrung,
die über Jahre hinweg bestand, zu befreien und das Prinzip der Dynamisierung einzuführen.
Über weitere Punkte können wir gern im Ausschuss reden.
({2})
Jetzt hat der Kollege
Alfred Hartenbach, SPD-Fraktion, das Wort.
Was war das? Hört ich
recht? War das der alte Geis?
({0})
Mich deucht, sein Mut hat ihn verlassen.
Verehrte Frau Präsidentin, das musste nach dieser sehr
maßvollen Rede des Kollegen Geis sein.
({1})
Kommen wir nun zum Justizhaushalt. Der Justizhaushalt
ist vom Umfang her der kleinste Haushalt, aber das Justizministerium hat, wie es der Kollege Funke bereits gesagt
hat, eine Fülle von Aufgaben. Dieser Fülle von Aufgaben
kommt nunmehr - neben den unbestreitbar seit langem
schon guten Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Ministeriums - auch die politische Leitung
nach. Wir haben die Zeiten des Stillstands, des Ausruhens
hinter uns; wir haben auch die Zeiten hinter uns, als Justizpolitik vom Innenminister, dem Schwarzgeld-Onkel
Kanther, gemacht wurde. Jetzt wird Justizpolitik wieder
dort gemacht, wo sie hingehört.
Wir haben in der Vergangenheit unbestreitbar gute Erfolge erzielt. Dies war das Mietrecht,
({2})
das nämlich doch ganz überwiegend Zustimmung gefunden hat.
({3})
Dies war die ZPO-Reform, die leider
({4})
- das sage ich deutlich - wegen der Unbeweglichkeit einiger nicht zum Ende geführt werden konnte. Aber da wir
noch acht Jahre lang diese Regierung bilden werden, werden wir auch das noch schaffen.
({5})
Weiter haben wir mit der Änderung des Insolvenzverfahrens - ich zähle hier nur einige Punkte auf - endlich
das Verbraucherschuldenrecht, das Verbraucherinsolvenzverfahren handhabbar gemacht und dafür bekommen
wir allenthalben großen Beifall. Das ist auch gut so.
({6})
Wir haben uns in der letzten Zeit - gestern haben wir dies
abgeschlossen - auch der Modernisierung unseres Bürgerlichen Gesetzbuchs angenommen. Die alte Bundesregierung hat so getan, als sei das Bürgerliche Gesetzbuch
ein Trockenblumenstrauß, den man irgendwo hinhängen
könne und dort bleibe er unverändert. In der Tat ist es aber
eine Grünpflanze, die immer wieder gepflegt werden will.
({7})
Sie haben sich da sehr lange auf welkem Lorbeer ausgeruht
und gemeint, dieser Trockenblumenstrauß halte noch ewig.
({8})
Wir hätten eigentlich erwartet, dass Sie sich hier im
parlamentarischen Verfahren mit uns um die beste Lösung
streiten; statt dessen haben Sie als politischer Milizionär
entpuppt, indem Sie sich im Verborgenen hinter die Länder geduckt haben, so wie sich Herr Steffel hier beim Eierwerfen hinter Stoiber geduckt hat. Dann behaupten Sie,
wir hätten das durchgepeitscht. Ich habe auch bei der Frau
Ministerin noch keine Peitsche gesehen.
({9})
Was sie meisterlich beherrscht, ist ihre Homepage. Vielleicht verwechseln Sie das, weil Sie sprachlich nicht so
ganz drauf sind.
({10})
Wir bringen heute ein Gesetz über die Pfändungsfreigrenzen ein.
({11})
Es wurde Zeit, dass hier etwas geschah.
({12})
Denn 1992 war die letzte Erhöhung und mittlerweile haben sich die Lebenshaltungskosten kräftig entwickelt.
Dann bleiben wir doch bitte auch bei der Wahrheit,
Kollege Geis, und sagen wir, wie es tatsächlich ist: dass
es sich nämlich wirklich um maßvolle Erhöhungen handelt.
({13})
- Sehen Sie, Sie können nicht nur nicht rechnen, Sie reden hier auch noch falsch Zeugnis.
({14})
2 900 DM sind die Pfändungsfreigrenze für einen Familienvater mit zwei Kindern. Das sind genau 153 DM
mehr, als er vorher als Pfändungsfreigrenze hatte. Wenn
das 50 Prozent sind, dann haben Sie natürlich Recht.
({15})
Mit Ihrer wirklich unfairen Pressekampagne zeigen Sie,
dass Ihnen eines gänzlich abgeht, nämlich soziales Verständnis. Dann werfen Sie auch noch die Restschuldbefreiung mit der Pfändung durcheinander. Das sind zwei
völlig verschiedene Dinge!
({16})
Es ist nämlich nicht so, dass derjenige, der eine erhöhte
Pfändungsfreigrenze hat, ein Interesse daran hat, nichts
mehr zu tun, ganz im Gegenteil: Diejenigen, die wissen,
dass es sich lohnt, zu arbeiten, bleiben bei der Arbeit und
werfen die Arbeit nicht hin, wie das in der Vergangenheit
oft der Fall war.
Wir werden dieses Gesetz natürlich mit Ihnen beraten.
Wir werden auf alle hören. Ich denke, es ist richtig, dass
wir endlich zeigen, dass in diesem Land auch diejenigen,
die nicht auf Rosen gebettet sind, am wirtschaftlichen Leben teilhaben können und teilhaben müssen.
({17})
Wir haben endlich auch in das Gesetz eingefügt - das
haben Sie ja völlig übersehen -, dass alle zwei Jahre die
Pfändungsfreigrenzen angepasst werden müssen. Dann
gibt es nämlich nicht wieder diese großen Sprünge. Dann
kommt es zu vernünftigen, maßvollen Erhöhungen.
({18})
Gestatten Sie mir noch ein Wort zum Grundstücksrechtsbereinigungsgesetz. Auch dabei entziehen Sie sich
der Verantwortung. Sie vertreten Einzelinteressen, Privatinteressen und lassen das Allgemeinwohl - Sie haben
nachher sieben Minuten Zeit, darauf einzugehen, Frau
Voßhoff - völlig aus den Augen.
({19})
Das ist nicht unsere Art. Wir stellen das Allgemeinwohl
bei diesem Grundstücksrechtsbereinigungsgesetz in den
Vordergrund.
({20})
Hätten Sie damals, 1990, vernünftige Gesetze gemacht,
bräuchten wir uns heute überhaupt nicht mehr über diese
Frage zu unterhalten.
({21})
Wir werden, so wie es Herr Funke heute richtig gesagt
hat, nach sehr sorgfältiger Beratung - die Sie ja immer
von uns anmahnen, Herr Funke ({22})
ein neues Gesetz zur Juristenausbildung vorlegen. Wir
legen großen Wert darauf, dass nach diesem Gesetz nicht
mehr nur die als Richter eingestellt werden, die als Einser-Subsumtionsmaschinen nur subsumieren: So ist der
Tatbestand, das kommt unten dabei heraus. Wir wollen,
dass die Richterinnen und Richter, die Recht sprechen,
über Lebenserfahrung, Berufserfahrung und vor allen
Dingen über soziale Kompetenz verfügen. Das halten wir
für den richtigen Weg.
({23})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie das so ist: Die
Opposition unterbricht einen pausenlos. Ich habe das, was
ich sagen wollte, aber gesagt. Wir haben mit diesem Justizhaushalt den Weg des Fortschritts, den Weg der Modernisierung weiter beschritten. Dazu gehört auch, dass
wir - ich möchte das wiederholen - entsprechende wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen. Da haben wir
nicht so sehr viel zu bieten; aber wir können das Patentund Markenamt - da geschieht etwas - anführen. Wenn
beim Patent- und Markenamt die Anträge zügig bearbeitet werden, wird sich das positiv auf die deutsche Wirtschaft auswirken.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich möchte mich an dieser
Stelle, verehrte Frau Präsidentin, sehr herzlich bei der Justizministerin bedanken
({0})
für die Art, wie sie uns mitnimmt auf dem Weg, die Justiz
zu modernisieren, für die Art, wie sie sich auch gegen Widerstände durchsetzt. Ich denke, verehrte Frau Justizministerin, diesen Weg gehen wir gemeinsam weiter. Wir
werden dann zeigen, dass wir eine vernünftige und gute
Justizpolitik machen.
Vielen Dank, auch für Ihre Geduld, Frau Präsidentin.
({1})
Nun hat das Wort die
Kollegin Andrea Voßhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Der Kollege Hartenbach hat
es schon angesprochen und es ist vorhin auch schon von
der Kollegin Kenzler erwähnt worden: Neben dem
Thema Justizhaushalt und der damit verbundenen politischen Weichenstellung in der Rechtspolitik, zu der es
noch die eine oder andere Anmerkung meinerseits zu machen gäbe, beschränke ich mich auf den Gesetzentwurf,
der heute abschließend beraten werden soll. Dabei geht
es um die Bereinigung noch offener Fragen des Rechts an
öffentlich genutzten Grundstücken in den neuen Ländern.
Mit dem dazu von der Bundesregierung vorgelegten
Entwurf soll eine weitere Klärung noch offener Fragen in
den neuen Ländern herbeigeführt werden. So weit, so gut.
Dieses Ansinnen ist dem Grunde nach auch richtig und
mit Blick auf das am 30. September dieses Jahres auslaufende Moratorium für öffentlich genutzte Grundstücke
auch notwendig. Wenn wir dem vorgelegten Entwurf
heute dennoch nicht zustimmen, dann nicht deshalb, weil
wir den Regelungsbedarf verkennen.
({0})
- Nein, weil genau das eingetreten ist, was wir befürchtet
haben. Durch unnötigen Zeitdruck sind die Qualität und
die Sorgfalt, die eine abschließende Regelung dieser
Frage erfordert hätte, auf der Strecke geblieben.
({1})
Meine Damen und Herren, der Zeitdruck, unter dem
das parlamentarische Beratungsverfahren stand, hat auch
nichts mit dem Ablaufen der Frist am 30. September dieses Jahres und einer notwendigen Anschlussregelung zu
tun. Wir hätten uns in diesem Hause nur früher damit beschäftigen müssen. Die von uns aufgeworfenen Fragen
hätten dann auch sorgfältig beraten und abgearbeitet werden können.
Das parlamentarische Beratungsverfahren Ende Juni
dieses Jahres, also drei Wochen vor der Sommerpause, zu
beginnen und das Gesetz schon in der zweiten Sitzungswoche nach der Sommerpause zu beschließen, entspricht
dem Grundsatz rot-grüner Rechtspolitik: Augen zu und
durch.
Die von der CDU/CSU eingeforderte Anhörung, die
wir in der Sommerpause durchgeführt haben, hat gezeigt:
Trotz der guten Vorarbeit auf Bund-Länder-Ebene - diese
konzediere ich gerne - bestand und besteht immer noch
Änderungsbedarf.
({2})
Gerade für abschließende Regelungen offener Grundstücksfragen in den neuen Ländern besteht ein hohes Maß
an Verpflichtung, für Rechtsklarheit und Rechtsfrieden
zu sorgen. Jede abschließende Regelung der offenen Fragen - auch die heute vorliegende ist eine solche - sollte
daher in besonderem Maße von Qualität und Sorgfalt geprägt sein.
({3})
Sorgfalt heißt in diesem Fall, im Jahre 11 nach der Wiedervereinigung, Regelungsklarheit und Regelungssicherheit für die Betroffenen. Ich gestehe zu, dass diese in dem
vorliegenden Entwurf wohl dank der Zuarbeit der Länder
von der einen oder anderen Stelle auch umgesetzt wurden.
Aber, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition und Frau Justizministerin, was werden Sie dem
Eigentümer sagen, der nach diesem Gesetz künftig ein
Grundstück an die Kommune veräußern muss, der die
Ablösung der Altlast, wenn es sich um eine im Grundbuch
eingetragene handelt, von der er nicht einmal einen
wirtschaftlichen Vorteil gehabt hat - ich nenne das Stichwort Abgeltungshypothek -, in der Summe höher ist als
der von Ihnen in der Entgeltbegrenzung festgelegte Kaufpreis? Was heißt das unterm Strich? - Der Eigentümer
gibt sein Eigentum auf, er verliert es, und er muss dabei
noch draufzahlen. Das hat nichts mit einseitiger
Interessenvertretung zu tun.
({4})
Ich halte es für verfassungsrechtlich bedenklich und daher für nicht zustimmungsfähig.
({5})
Meine Bedenken gerade in dieser Frage sind in den
Beratungsgesprächen auch durch die Antwort des Justizministeriums, dass solche Fälle bisher noch nicht bekannt
sind, nicht beseitigt worden. Auch die zu diesem Problem
gestern im Rechtsausschuss vorgelegte Änderung löst das
Problem nicht. Ihre Neuregelung in § 7 besagt nämlich
nichts anderes, als dass der Gläubiger zwar auf seine
grundbuchliche Absicherung verzichten muss, nicht aber
auf sein Geld.
Die Bereinigung offener Grundstücksfragen kann im
Jahre 11 nach der Wiedervereinigung mit anderen Erfahrungswerten gestaltet werden, als das in den Anfangsjahren der Fall war. Wir könnten heute selbstverständlich
einen viel besseren Überblick über die zu regelnden Problemfälle haben als damals. Ich sage deshalb könnten,
weil es in diesem Beratungsverfahren leider keine Klarheit zum Umfang der betroffenen Fälle gab. Es hieß, es
könnten hunderttausend, aber auch weit mehr sein. Mit
welchen grundbuchlichen Belastungen diese Grundstücke noch behaftet sind, ist ebenso unklar.
Neben diesem von mir angeschnittenen Problem gibt
es weiteren Regelungsbedarf für die stillgelegten Deponien. Hier ist zwar im Zuge der Anhörung und der Beratungen eine Änderung des Gesetzentwurfs erfolgt, aber
diese bezieht sich nur auf die genutzten Deponien. Was
aber macht ein Eigentümer, dessen Grundstück zu DDRZeiten von der Kommune als Deponie genutzt wurde,
diese nun stillgelegt wurde, gleichwohl aber, wie es bei
Deponien üblich ist, kontaminiert und damit wertlos geworden ist?
Auch die Ankaufsfrist der Kommunen bis zum
Jahre 2007 ist nach unserer Auffassung für den Eigentümer nur schwer zumutbar, heißt es doch, dass er
unter Umständen noch weitere sechs Jahre auf eine abschließende Regelung warten muss. Wir sehen sehr
wohl auch die Umsetzungsprobleme, wenn die Frist für
alle genannten Fälle einfach nur verkürzt werden
würde. Wir haben in der Anhörung vernommen, wie
schwierig es für viele Kommunen ist. Eine differenzierte Frist für die im Gesetz genannten Verkehrsflächen einerseits und die sonstigen Flächen andererseits wäre aber denkbar gewesen.
({6})
Zur Vermeidung weiterer finanzieller Belastungen
für die Kommunen, die neben der Kaufpreiszahlung
auch die gesamten Abwicklungskosten des Kaufvertrags
zu tragen haben, hätten wir uns eine Befreiung der Kommunen von der Grunderwerbsteuerpflicht bei diesen Erwerbsfällen gewünscht.
Meine Herren, meine Damen, zu unserer Ablehnung
des Gesetzentwurfs lasse ich den Vorwurf, der im Rechtsausschuss erhoben wurde, wir würden rigide Oppositionspolitik betreiben, nicht gelten. Ich habe im Beratungsgespräch nach der Anhörung bereits dezidiert auf die
einzelnen Problemfälle aufmerksam gemacht und unsere
Bedenken dazu geäußert. Ich habe auch unseren konstruktiven Beitrag angeboten, hier Lösungswege zu finden und sie mitzutragen.
Wenn Sie von uns konkrete Regelungsvorschläge zu
den aufgeworfenen Problemen erwarten - das klang in der
gestrigen Sitzung des Rechtsausschusses an -, erwidere
ich Ihnen: Auch die CDU/CSU kann in der von Ihnen zu
verantwortenden zu kurzen Zeit für die Beratung über
dieses Gesetzgebungsvorhaben nicht das nachholen, was
Sie in drei Jahren Ihrer Regierungszeit nicht geschafft haben.
({7})
Wir helfen Ihnen ja immer gerne auf die Sprünge. Nur, in
einer Woche die Schuldrechtsreform im Ausschuss abzuschließen und mal eben so auch über das vorliegende Gesetz abschließend zu beraten, das entspricht Ihrer
Hauruckgesetzgebung, aber nicht unserem Verständnis
vom Gesetzgebungsauftrag des Bundestages.
Vielen Dank.
({8})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Christian Ströbele für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Zum Grundstücksrechtsbereinigungsgesetz
möchte ich nur sagen, dass es ein gutes Gesetz ist und dass
wir es heute verabschieden sollten.
({0})
Zwar ist das eine wichtige Materie. Aber heute gibt es
noch Wichtigeres, worüber diskutiert werden muss. Deshalb werde ich die wenigen Minuten meiner Redezeit auf
einen anderen Punkt verwenden.
({1})
- Ein sehr wichtiges Gesetz!
Ich habe für den Deutschen Bundestag kandidiert
({2})
und sehe meine Aufgabe in der Politik unter anderem
darin, Gesetze, die unter einer terroristischen Bedrohung in den 70er-Jahren vom Deutschen Bundestag erlassen worden sind, und Maßnahmen, die damals eingeleitet und umgesetzt worden sind,
({3})
zu überprüfen und eventuell zu korrigieren.
Heute befinde ich mich in einer Situation, in der wieder wegen einer terroristischen Bedrohung uns allen, auch
mir und meiner Fraktion, die Entscheidung abverlangt
wird, ob es mehr Repressionen geben soll und die Freiheitsrechte stärker eingeschränkt werden sollen. Ich
möchte nicht, dass man in einem Vierteljahrhundert über
den heutigen Deutschen Bundestag und die heutige Gesellschaft sagen wird: Was haben die damals aus Angst
vor einer bestimmten Form des Terrorismus, wie er in
New York und Washington sichtbar geworden ist, bloß
mit dem Rechtsstaat und der freiheitlichen Demokratie
gemacht!
({4})
Deshalb ist für mich und meine Fraktion wichtig, dass bei
allen Maßnahmen, die jetzt vorgeschlagen werden und
über die wir diskutieren, bestimmte Leitprinzipien eingehalten werden:
({5})
Erstens. Wir müssen alle vorgeschlagenen gesetzgeberischen, finanziellen und sonstige Maßnahmen daraufhin
überprüfen, ob sie geeignet gewesen wären, eine solche
Form des Terrorismus, wie er in den USA sichtbar geworden ist, zu verhindern bzw. das Risiko eines solchen
Anschlags zu vermindern.
({6})
- Das ist nicht immer selbstverständlich gewesen, Herr
Kollege Geis.
Zweitens. Wir müssen uns bei jeder einzelnen Maßnahme und bei jedem Gesetzesvorhaben immer fragen: Ist
die Einschränkung der persönlichen Freiheit und der Freiheitsrechte der Gesellschaft nicht zu groß im Vergleich zu
dem, was mit der entsprechenden Maßnahme in der Gesellschaft erreicht werden kann?
({7})
Anhand dieser Kriterien wollen wir über alles schonungslos, rückhaltlos und vorbehaltlos diskutieren.
({8})
Auch ich bin dafür, dass es Maßnahmen geben muss, die in
Zukunft solche terroristischen Anschläge wie die in den
USA verhindern helfen - ich glaube, das ist das wichtigste
Ziel - und die dazu beitragen, dass die Verantwortlichen dieser Anschläge wirksam zur Rechenschaft gezogen werden.
({9})
Aber alles, was darüber hinausgeht, müssen wir vermeiden,
({10})
weil sich eine parlamentarische, tolerante, freiheitliche
und rechtsstaatliche Gesellschaftsordnung nicht nur bei
Schönwetterlagen, sondern gerade in einer solchen Ausnahmesituation wie der jetzigen bewähren muss.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, gibt es eine
Reihe von Maßnahmen, mit denen wir uns anfreunden
können.
({11})
- Einige Maßnahmen, die Sie vorgeschlagen haben - ich
erwähne nur § 12 FAG, die Kronzeugenregelung und den
geplanten § 129 b StGB -, gehen uns in der jetzigen Form
zu weit. Das heißt nicht, dass wir darüber nicht weiterhin
diskutieren sollten, um Lösungen zu finden, mit denen wir
alle leben können und die wir alle auch noch in 25 Jahren
- ich bin dann schon sehr alt - rechtfertigen können. Wir
sollten dann sagen können: Es war richtig und notwendig;
wir haben die freiheitliche, tolerante Demokratie trotzdem nicht aufgegeben, sondern wir haben die rechtsstaatlichen Regeln gewahrt. - Das ist unser Leitprinzip.
({12})
Weitere Wortmeldun-
gen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/6812 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Grund-
stücksrechtsbereinigungsgesetzes, Drucksachen 14/6204,
14/6466 und 14/6964. Ich verweise darauf, dass es zwei
persönliche Erklärungen zur Abstimmung gibt, zum einen
vom Kollegen Hans-Joachim Hacker1) und zum anderen
vom Kollegen Günter Nooke. Der persönlichen Erklärung
des Kollegen Nooke haben sich mehrere Kolleginnen und
Kollegen der CDU/CSU-Fraktion angeschlossen.2)
Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/6966 ab. Wer stimmt
für den Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen
der PDS-Fraktion abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stim-
men von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und
PDS angenommen.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft, Einzelplan 10, sowie zum Geschäfts-
bereich des Bundesministeriums für Gesundheit, Ein-
zelplan 15.
Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c
auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung
und Verwendung eines Kennzeichens für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus ({0})
- Drucksache 14/6891 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 3
2) Anlage 2
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung
des diagnoseorientierten Fallpauschalensystems
für Krankenhäuser ({2})
- Drucksache 14/6893 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung
der Leistungen bei häuslicher Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf ({4})
- Drucksache 14/6949 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft, Renate Künast.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beim Start der
Agrarwende vor neun Monaten sahen manche auf den
Oppositionsbänken den Untergang der deutschen Landwirtschaft herannahen. Doch die Wirklichkeit sieht anders
aus.
({0})
Nach einer Umfrage des Ifo-Instituts schätzen die Landwirte in Deutschland ihre wirtschaftliche Lage im Sommer dieses Jahres besser als vor einem Jahr ein. Sie halten
ihre Lage im Jahr 2001 also für besser als vor der
BSE-Krise.
({1})
Wie kommts? Die Landwirte haben in diesem Jahr
eine hervorragende Getreideernte eingebracht. Auch bei
Raps gab es sehr gute Erträge.
({2})
- Zunächst einmal beschreibe ich hier die Ernte. Das wird
man als Agrarministerin wohl noch dürfen, oder?
({3})
Die Getreideernte ist hervorragend. Die Erzeugerpreise von Raps liegen 20 Prozent höher als im letzten
Jahr. Im ersten Halbjahr dieses Jahres sind die Erträge der
Milchbauern um 9 Prozent gestiegen. Auch in der Schweinemast hat sich die Situation erheblich verbessert. Dort
hat man ordentliche Gewinne erwirtschaftet. Unser einziges Problem betrifft den Rindfleischmarkt. Er hat sich
- dank der konsequenten Maßnahmen der Bundesregierung - wieder ein gutes Stück erholt.
Trotzdem gibt es in diesem Bereich im Augenblick
Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten dort haben einen
Namen: mangelndes Vertrauen der Verbraucherinnen und
Verbraucher in die Lebensmittelsicherheit. Deshalb
muss Lebensmittelsicherheit für uns das Thema Nummer
eins sein. Unser Interesse ist es, das Vertrauen der Verbraucher zu stärken.
({4})
Das Vertrauen der Verbraucher ist sozusagen das Kapital
der deutschen Landwirtschaft. Das ist ihre Zukunft. Deshalb wollen wir mit einer nachhaltigen Landwirtschaft
aus der alten Sackgasse herausfinden.
Ich denke, dass der Haushalt 2002 im Bereich Ernährung und Landwirtschaft ein Dokument der Zukunftsorientierung ist. Wir wollen damit sichere und gesunde
Lebensmittel, umweltverträgliche und artgerechte Lebensmittelerzeugung sowie neue Perspektiven für die
Landwirte und für den ländlichen Raum erreichen. Deshalb gibt es an dieser Stelle konkrete Maßnahmen.
Ich weiß, dass manche von Ihnen gehofft haben, die
Agrarwende würde am Geld scheitern. Nun stellen wir
fest, dass die Länder und nicht der Bund zu wenig Geld an
dieser Stelle investieren. Insbesondere die Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU werden versuchen, das
Ziel auf andere Weise zu erreichen. Ich hoffe, Sie haben
Erfolg, weil wir alle um die Zukunft der Landwirtschaft
kämpfen. Ich biete Ihnen meine Unterstützung an, wenn
in Ihrem Bundesland die Maßnahmen noch nicht entsprechend umgesetzt werden konnten.
({5})
Die Fundamente sind gelegt. Der ökologische Landbau wird durch höhere Prämien, durch verbesserte Förderung der Vermarktung und der Verarbeitung der Produkte stärker gefördert als bisher, damit die Vermarktung
von Ökomilch als Ökomilch am Ende nicht wie in den
vergangenen Jahren und Jahrzehnten zum Beispiel an
fehlenden Abfüllanlagen scheitert, nicht wahr, Herr
Carstensen?
Der konventionelle Landbau erhält Anreize, beim
Umwelt- und Tierschutz höhere Standards als gesetzlich
vorgeschrieben umzusetzen. Wir tun auch einiges für die
Entwicklung der ländlichen Räume, zum Beispiel durch
die Aktivitäten im Hinblick auf die Modellregionen.
({6})
Ein Teil unserer Aktivitäten bezieht sich auf das Biosiegel. Wir beraten dazu heute das Öko-KennzeichengeVizepräsidentin Petra Bläss
setz, das von den beiden Regierungsfraktionen eingebracht
wurde. Ich weiß, es hat an der einen oder anderen Stelle
Kritik gegeben. Aber ich kann Ihnen sagen - das wird die
Opposition natürlich mit Neid erfüllen -, dass die Besonderheit dieses Siegels darin liegt, dass alle mitmachen.
({7})
- Während Ihrer Regierungszeit hat es ein ÖPZ-Siegel gegeben, bei dem nicht einmal 10 Prozent der Ökolandwirte
in Deutschland mitgemacht haben. So groß war Ihre wirtschaftliche Kompetenz. Wir gehen es anders an. Bei unserem Siegel machen 100 Prozent mit.
({8})
Das war nicht einfach. Wir haben uns angestrengt und Erfolg gehabt. Selbst die Öko-Prüfzeichen GmbH kann sich
darauf umstellen, ohne dass sie Aufgaben abgeben muss.
Sie wird in Zukunft informieren.
Wir haben gemeinsam, angefangen beim Lebensmitteleinzelhandel bis zum ökologischen Landbau, vereinbart,
dass wir daran arbeiten werden, dass die EG-Ökoverordnung überarbeitet wird. Wir arbeiten an einem Memorandum. Wir haben bereits mit der Kommission und mit
anderen Mitgliedstaaten eine Vereinbarung darüber getroffen, dass die Anforderungen zumindest in einigen
Punkten erhöht werden. All diejenigen unter Ihnen, die
rechnen können,
({9})
werden leicht erkennen, dass für Umwelt- und Naturschutz und damit für die Reduzierung der Folgekosten, für
die der Steuerzahler aufkommen muss, mehr getan ist,
wenn der Anteil der Ökolandwirte verdoppelt wird, als
wenn es weiterhin nur 10 Prozent Ökolandwirte gibt, die
nach höheren als den EG-Standards arbeiten.
Wir wollen also das Niveau der EG-Verordnung erhöhen. Aber das ist noch nicht alles. Wir werden auch die
Kontrolle verbessern. Wir kennen einen aktuellen Fall aus
Bayern - Sie alle haben darüber gelesen -, bei dem der
Verdacht geäußert wurde, dass aus Drittländern importierte Ware gar nicht öko ist. Das zeigt, dass die Länderund die Bundeskontrolle an dieser Stelle noch verbessert
werden müssen.
Als Ergänzung haben wir im Haushalt ein Bundesprogramm Ökologischer Landbau verankert, um
Löcher, die Jahrzehnte lang bestehen blieben, zu stopfen
und um Defizite bei der Forschung, bei der Be- und Verarbeitung zu beheben. Wir wissen, dass die Zahl der Ökobauern in Deutschland deshalb so klein geblieben ist, weil
die Vermarktung ihrer Produkte in der Vergangenheit
nicht gefördert wurde und sie sträflich allein gelassen
wurden. Das wollen wir ändern.
({10})
Da Sie von der CDU/CSU und von der FDP immer Ihre
wirtschaftliche Kompetenz herausstreichen, werden Sie
neidvoll betrachten,
({11})
dass wir es geschafft haben, gemeinsam mit der Wirtschaft, mit der CMA und auch mit dem Bauernverband
ein Siegel für die konventionelle Landwirtschaft zu erarbeiten. Mit dem Einstieg im Bereich Fleisch wollen wir
das magische Sechseck gewissermaßen zusammenbringen. Wir diskutieren im Augenblick über eine durchgehende Dokumentation und über Zusatzkriterien. Wenn
wir es schaffen, dass auch nur die Hälfte der konventionellen Bauern im nächsten Jahr auf dieses Siegel umstellt,
was, wenn der Bauernverband mitmacht, geschehen kann,
dann werden wir allein durch die Nichtverwendung von
Tiermehl und die Nichtverwendung antibiotischer Leistungsförderer einen grandiosen Beitrag dazu leisten, dass
die Tiere artgerecht gehalten werden.
({12})
- Ich verstehe Ihren Neid!
Wir gehen des Weiteren die Modulation an. Das heißt,
dass von Direktzahlungen für die Produktion auf Agrarumweltmaßnahmen umgesteuert wird. Ich weiß, die Länder - egal, welcher Couleur - tun sich schwer, an dieser
Stelle mitzuarbeiten. Ich weiß aber auch, dass sich gerade
bei den jungen Landwirten und bei den Studentinnen und
Studenten eines durchsetzt - das haben auch Gespräche,
die ich rund um den Bauerntag in Münster mit jungen
Landwirten geführt habe, gezeigt -: Der Markt verändert
sich, und zwar so, dass die Bauern heutzutage genau nachrechnen, was die nächste WTO-Runde und die Erweiterung der Europäischen Union für sie bringen. Sie achten
darauf, wonach sie sich ausrichten müssen.
({13})
Wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie eines genau: Die
Osterweiterung wird dazu führen, dass wir in Deutschland zwar die gleiche Summe an die EU zahlen, aber dass
wir wegen des Wegfalls der Ziel-1-Gebiete immer weniger für die Landwirtschaft in Deutschland entnehmen
können, wenn wir bei dem bestehenden System bleiben.
({14})
In zehn bis 15 Jahren werden die Agrarsubventionen auf
null heruntergefahren. Wer also möchte, dass die Bauern
in Deutschland eine Zukunft haben, muss sie rechtzeitig
darauf umstellen und dafür Sorge tragen, dass sie für den
Bereich, in dem sie gesellschaftliche Aufgaben erledigen,
zum Beispiel im Umweltschutz, Geld erhalten.
({15})
Wir möchten nicht, dass die Bauern weiter mit Karacho in
eine Sackgasse getrieben werden. Genau das verhindert
der Haushalt 2002.
({16})
Auch im Verbraucherschutz haben wir die Mittel um
60 Prozent erhöht. Wir wollen Verbraucheraufklärung
und Verbraucherinformation. Es geht dabei nicht allein
um Lebensmittel. Wir haben ein Eckpunktepapier für ein
Verbraucherinformationsgesetz in Arbeit. Wir arbeiten an
einem Gesetzentwurf für die Änderung der Produktsicherheit, also gewissermaßen an einem kompletten Perspektivenwechsel.
Das wird für den Verbraucherschutz nicht ausreichen.
Wir brauchen neue Institutionen. Frau von Wedel hat dazu
gute Vorgaben gemacht. Wir wollen im Rahmen dieser
Haushaltsberatung das Bundesamt für Verbraucherschutz
finanziell absichern, damit es in Deutschland bei der Lebensmittelüberwachung ein einheitlich hohes Niveau
gibt. Ich kann Ihnen eines sagen: Die BSE-Krise des letzten Jahres war nicht die letzte Krise; am Horizont zeigen
sich bereits die nächsten.
({17})
Wir wollen in diesem Haushalt Mittel für eine unabhängige wissenschaftliche Stelle zur Risikoanalyse bereitstellen, damit nichts verheimlicht wird und damit Analysen und Krisenmanagement im wahrsten Sinne des
Wortes zusammenpassen.
Wir alle aus den Regierungsfraktionen und aus der Opposition wollen eines: gesundheitlichen Verbraucherschutz. Das wird ohne zusätzliche Mittel vom Bund und
von den Ländern nicht möglich sein. Manche Bundesländer sind bereits vorausgegangen. Ich bitte Sie an dieser
Stelle um Ihre Unterstützung. Wir brauchen im Haushalt 2002 eine entsprechende Finanz- und Stellenausstattung, damit wir tatsächlich sagen können: Wir bieten der
Bevölkerung höchstmögliche Lebensmittelsicherheit.
({18})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt die Kollegin Annette WidmannMauz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin Künast, Ihre Rede heute war wieder einmal ein Beispiel dafür, dass Ihre Verbraucherschutzpolitik eine
Politik des schönen Scheins ist. Sie orientieren sich mehr
am Politbarometer als an den Erfordernissen der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({0})
Sie setzen nur da Prioritäten, wo es Ihnen angesichts der
Wahl im Jahre 2002 parteipolitisch opportun erscheint.
Gerade eben haben Sie wieder ein gutes Beispiel dafür
gegeben, wie grüne Politik mit den Ängsten der Menschen arbeitet.
({1})
Sie sagen Skandale voraus, die es noch nicht gibt. Falls
Sie hier mehr wissen sollten, dann benennen Sie sie konkret und beschuldigen Sie hier nicht ganze Berufsstände!
({2})
Wir brauchen diesen Politaktionismus nicht, sondern
wir brauchen Nachhaltigkeit beim Verbraucherschutz.
Doch was machen Sie mit dem Haushalt 2002? - Genau
das Gegenteil. Was unscheinbar daherkommt, hat nämlich
einschlägige Folgen. Um Nachhaltigkeit in der Verbraucherschutzpolitik zu erreichen, brauchen zum Beispiel die
Verbraucherverbände und -organisationen eine angemessene finanzielle Basisausstattung und Planungssicherheit.
Sie jedoch frieren die dringend notwendigen institutionellen Fördermittel ein und stopfen das Geld in Projekte.
Da darf schon einmal darauf hingewiesen werden, dass
bei der Förderung von Projekten die Entscheidung letztlich stets eine politische Entscheidung ist. Frau Künast,
ich frage Sie: Sollen jetzt die Menschen nur noch dort geschützt werden, wo es Ihnen politisch opportun erscheint?
Ich will Ihnen meine Sorgen im Detail erläutern: Die
institutionelle Förderung bleibt in diesem Haushalt niedrig. Bei der Stiftung Warentest erreicht die Förderung bei
weitem nicht einmal das Niveau des Jahres 2000.
({3})
So können die Kapazitäten nicht mit den steigenden Anforderungen wachsen. Sie engen mit diesem Haushalt
darüber hinaus den Verbraucherschutz abermals auf die
ökologische Landwirtschaft ein. Und Sie nehmen den
Verbraucherverbänden die Mittel und konzentrieren sie
im Ministerium.
({4})
Unabhängigkeit, Nachhaltigkeit, Transparenz und thematische Breite des Verbraucherschutzes leiden darunter
ganz erheblich.
({5})
Ich will Ihnen, Herr Weisheit, dies an einem konkreten
Beispiel deutlich machen. Nehmen wir das Beispiel der
Verbraucherzentrale Bundesverband, kurz VzBv.
Schon zu unserer Regierungszeit hat das damals noch zuständige Wirtschaftsministerium den Verbraucherzentralen den Auftrag gegeben, eine Reform der Strukturen und
der Konzeption der Verbraucherzentralen zu erarbeiten.
Und das war auch gut so. Aber seit Sie die Regierung stellen, werden den Verbraucherzentralen mit immer neuen
Kriterien die Daumenschrauben angezogen.
Daraufhin wurde ein neues Konzept erstellt. Im November letzten Jahres kam es zur Gründung des neuen
Dachverbandes. Doch die Probleme häufen sich. Aktuell
arbeitet die VzBv ohne Stellenplan und ohne Wirtschaftsplan. Im Haushalt 2001 steht eine Sperre von
2 Millionen DM.
({6})
Ich fordere Sie auf: Heben Sie diese Sperre auf!
Die Bundesregierung weist auch Forderungen nach einer finanziellen Grundsicherung der VzBv zurück.
({7})
Der Bundeshaushalt 2002 orientiert sich vielmehr an
Projekten. Und das steht im Widerspruch zum Ergebnis
der Strukturreform. Danach sollen die Zuwendungen
nämlich ausschließlich als institutionelle Förderungen aus
Bundesmitteln bereitgestellt werden. Das heißt also,
Nachhaltigkeit und Planungssicherheit für die Verbraucherorganisationen sind mittelfristig nicht gewährleistet.
Schauen wir uns doch die Zahlen im Haushaltsplan genauer an; die sind geschönt, denn sie stehen unter dem
Vorbehalt des Wirtschaftsplans, der, wie wir im Haushalt
lesen können, in Vorbereitung sei. Was jedoch nicht im
Haushaltsplan steht, ist, dass der Wirtschaftsplan überarbeitet wurde und bereits vorliegt. Haushaltsplan und Wirtschaftsplan stimmen nicht überein.
Ergebnis ist eine drastische Kürzung um 20 Prozent.
Die Kosten für die Sachverständigen wurden reduziert.
Der Titel Prozesskosten für die Klagetätigkeit der VzBv
wurde sogar um fast 50 Prozent gekürzt. Die Ausgaben für
Veranstaltungen, Veröffentlichungen und zum Aufbau eines bundesweiten Informationssystems wurden gekürzt.
Im Ministerium aber bauen Sie jetzt genau dies auf. Es
werden also nicht die Verbände gefördert, sondern Sie
verlagern die Aufgaben ins Ministerium und machen
Verbraucherschutz mit Beamten.
({8})
Und dort, wo Handlungsbedarf besteht, handeln Sie
nur unzureichend. Die Aufarbeitung der BSE-Krise ist
noch immer nicht gelungen. Das Problem der neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen
wird von Ihnen nicht wirklich angegangen. Der Arbeitskreis BSE - Sie haben es uns schriftlich bestätigt - hat
noch nicht ein einziges Mal getagt, seit Sie im Amt sind.
({9})
In der Zeit bezeichnen Sie es als Ihre Pflicht - ich
zitiere -, den Menschen ehrliche Informationen zu geben, also Klarheit und Wahrheit. Doch mit dem von Ihnen, Frau Künast, eingeführten verwässerten Ökozeichen
tun Sie das glatte Gegenteil. Sie führen die Menschen in
die Irre. Sie sagen in der Zeit weiter - ich zitiere -: Und
wir werden das Sicherheitsniveau laufend erhöhen, gnadenlos. Auch das wieder starke Worte. Doch wie sehen
die Fakten aus? Sie senken die bisher in Deutschland üblichen anspruchsvolleren Qualitätsstandards auf die umstrittenen EU-Standards ab. Ihr Verweis, dass Sie sich
jetzt auf EU-Ebene für höhere Standards einsetzen wollen, glaubt in unserem Land doch sowieso kein Mensch.
Was haben Sie denn bisher auf EU-Ebene durchgesetzt?
Nichts!
({10})
Das Tiermehlverfütterungsverbot läuft aus. Es ist nach
wie vor keine Rede von den Fetten. Es gibt keine einheitliche BSE-Testung in Europa. Die Fleischimporte aus Ländern, in denen kein Tiermehlverfütterungsverbot besteht,
sind nach wie vor dadurch, dass wir sie nicht kontrollieren
können, möglich. Verbraucherschutz ist aber eine europäische Herausforderung. Verbraucherschutz im Europa ohne
Grenzen erfordert Überzeugungskraft und Durchsetzungsfähigkeit im Ministerrat. Beides geht Ihnen ab.
Es ist schon bemerkenswert, dass ausgerechnet eine
grüne Verbraucherschutzministerin das bisherige Niveau
der Ökozeichen in Deutschland unterbietet und sich auf
einen qualitativ niedrigeren Standard einlässt.
({11})
Mit dem Ökozeichen treten Sie zu einem nationalen
Alleingang an, der der regionalen Vermarktung hochwertiger Nahrungsmittel entgegenwirkt und stattdessen Tür
und Tor für Import-Ökoprodukte öffnet. Sie geben sich
mit laxeren EU-Vorschriften zufrieden. Man hat fast den
Eindruck, dass Sie in der Aufweichung des Öko-Qualitätsstandards die einzige Möglichkeit sehen, das von Ihnen angekündigte Ziel eines Marktanteils der Ökoprodukte von 20 Prozent zu erreichen.
({12})
Angesichts meiner Redezeit möchte ich auf die Details
- ich könnte sie Ihnen erläutern - nicht weiter eingehen.
Es ist völlig klar - dies hat Ihnen Frau von Wedel auch
ganz klar ans Revers geheftet -: Die Verbraucherschutzpolitik im BMVEL kann nicht wirksam und umfassend
stattfinden, weil die Zuständigkeiten zersplittert sind, die
Organisationsstruktur den Aufgaben nicht angepasst ist
und eine Grundsatzabteilung, in der Politikplanung stattfindet und die Lebensmittelsicherheit koordiniert wird,
erst gar nicht vorhanden ist.
Frau Künast, vernichtender können die Versäumnisse
derjenigen, die die politische Verantwortung für diese Zustände tragen, kaum aufgelistet werden. Ich habe noch gar
nicht gesagt, was Verbraucherschutz im weiteren Sinne
alles bedeutet.
Frau Kollegin
Widmann-Mauz, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Die Stichworte kennen Sie; ich muss sie hier am Pult jedes Mal
wieder erwähnen.
Ich komme zu einem weiteren Zitat aus der Zeit.
Dort sagten Sie:
Ich zumindest wüsste genau, was ich zu tun hätte,
wenn ich nicht Ministerin wäre.
Frau Künast, ich frage Sie: Was wissen Sie wirklich, was
Sie uns nicht sagen wollen?
({0})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Jella Teuchner.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Herren und Damen! Frau Widmann-Mauz, ich
weiß nicht, welche Grundlage Sie für Ihren Redebeitrag
gewählt haben.
({0})
Ich habe die Ausschussunterlagen gewählt. Wenn ich mir
unter Titel 684 21 bei den Maßnahmen zur Unterrichtung
der Verbraucher außerhalb des Ernährungsbereiches gerade die Verbraucherzentrale Bundesverband anschaue
und sehe, dass die Summe von 8,45 Millionen Euro im
Jahre 2000 auf 10,907 Millionen Euro erhöht wird, dann
kann ich mir nicht erklären, wo Sie das Minus sehen.
({1})
Das hat auch nichts mit der Projektförderung zu tun. Sie
müssen schon grundsätzlich darüber diskutieren. So können wir keine Basis für eine weitere Diskussion schaffen.
Am Anfang dieses Jahres wurde die Zuständigkeit für
den Verbraucherschutz im neuen Bundesministerium
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft gebündelt. Dem Verbraucherschutz und der Verbraucherpolitik sollte ein stärkeres Gewicht gegeben werden. Der
Einzelplan 10 hat daher nicht nur drei zusätzliche Titel
bekommen, es stehen auch mehr Mittel für den Verbraucherschutz zur Verfügung: Statt 21,4 Millionen Euro im
Jahr 2001 sind es 32,3 Millionen Euro für 2002. Das ist
ein Anstieg, den die Ministerin schon erwähnt hat.
Die Lebensmittel müssen sicher sein. Dass dies an erster Stelle auf der landwirtschaftspolitischen Tagesordnung stehen muss, haben wir immer wieder gefordert. Wir
müssen für gute und sichere Lebensmittel sorgen, damit
die Verbraucherinnen und Verbraucher wieder Vertrauen
in die Lebensmittel gewinnen, die Landwirte stabile
Märkte für ihre Produkte vorfinden und sie eine Zukunft
bekommen. Mit den Mitteln, die wir für die Aufklärung
der Verbraucherinnen und Verbraucher im Ernährungsbereich ausgeben wollen, werden wir dies unterstützen.
Allein 7,7 Millionen Euro werden wir für eine Informationskampagne zu den neuen Qualitätssiegeln bereitstellen.
({2})
- Wenn das Wahlkampfhilfe ist, frage ich mich, was Sie
in der Vergangenheit gemacht haben. Dann war das noch
größere Wahlkampfhilfe.
Wir werden 460 000 Euro für die regionale Vermarktung zur Verfügung stellen. Wir schaffen damit Nachfrage
nach Qualitätsprodukten und sorgen dafür, dass Landwirte gute Absatzchancen für ihre Lebensmittel von hoher
Qualität haben.
({3})
Die Aufklärung der Verbraucherinnen und Verbraucher
über gesunde Ernährung wird auf gleich bleibendem Niveau fortgesetzt. Auch der Zuschuss für die Deutsche Gesellschaft für Ernährung wird ab 2002 aus dem Einzelplan 10 bezahlt.
Verbraucherschutz heißt zum einen, Produkte vom
Markt fern zu halten, die Verbraucherinnen und Verbraucher gefährden können. Zum anderen heißt es, die Markttransparenz zu schaffen, die notwendig ist, damit die
Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Entscheidungen
am Markt auch bewusst treffen können. Die notwendige
Markttransparenz für den gesundheitlichen Verbraucherschutz unterstützen wir durch die Projekte der Verbraucheraufklärung im Ernährungsbereich.
Auch den wirtschaftlichen Verbraucherschutz unterstützen wir verstärkt. Stehen 2001 14,9 Millionen Euro
für den wirtschaftlichen Verbraucherschutz zur Verfügung, sind es 2002 16,8 Millionen Euro. Das sind 13 Prozent mehr als 2001. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der
institutionellen Förderung der Verbraucherzentralen und
der Verbraucherverbände.
Die Verbraucherzentralen stehen einem gestiegenen
Beratungsbedarf gegenüber. Der elektronische Handel
wirft genauso wie die private Altersvorsorge neue Fragen
auf, bei denen die Verbraucherinnen und Verbraucher Beratung wünschen. Wie können Verbraucherinnen und Verbraucher seriöse Geldanlagen erkennen? Können sie im Internet sicher einkaufen? Daneben bleiben Fragen zum
Energiesparen, zum sinnvollen Versicherungsschutz und
zum Bauen unverändert aktuell. Wir sehen diesen Beratungsbedarf und unterstützen daher den Bundesverband der
Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände verstärkt.
Mit der stabilen Förderung der Stiftung Warentest sichern wir den Fortbestand anbieterunabhängiger Informationen über Produkte und Dienstleistungen. Auch hier
leisten wir einen notwendigen Beitrag zur Markttransparenz und setzen ein Gegengewicht zur Werbung der Hersteller. Dies sichert die Qualität der Produkte, da diese
Tests vielfach Impulse für Produktverbesserungen sind.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, der Haushalt 2002 ist
geprägt davon, dass wir das Sparen und den Abbau der
Schulden zielgerichtet anstreben. Dennoch wird das Notwendige weiterhin finanziert, dennoch werden politische
Schwerpunkte gesetzt. Verbraucherpolitik hat nicht nur
Eingang in die Bezeichnung des Ministeriums gefunden,
sie findet sich auch in den Zahlen des Haushaltsplanes
wieder. Wir finanzieren eine leistungsfähige Verbraucheraufklärung.
Wir müssen uns aber auch klar darüber sein, dass wir
diese finanzielle Unterstützung der Verbraucherpolitik in
Zukunft fortführen müssen. Im wirtschaftlichen Verbraucherschutz wird der Beratungsbedarf nicht geringer werden. Im gesundheitlichen Verbraucherschutz müssen wir
sicherstellen, dass mit den neuen Behörden die bisherige
Ressortforschung nicht infrage gestellt wird.
Wir müssen - ich bin mir sicher, dass wir dies auch tun
werden - auch im nächsten Haushalt das Signal aussenden: Wir reden nicht nur vom Verbraucherschutz, sondern
wir stellen dafür auch die notwendigen Mittel bereit.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin Annette WidmannMauz das Wort.
Sehr geehrte
Frau Kollegin Teuchner, nachdem Sie mich gefragt haben, ob ich die gleiche Unterlage habe wie Sie, und den
Eindruck vermitteln wollten, als würde ich mit alten
Haushaltsplänen arbeiten, möchte ich Ihnen für Ihre Arbeit und für die gemeinsame Arbeit im Ausschuss zur
Kenntnis geben, dass ich die Drucksache 14/6800 verwende, nämlich den Bundeshaushaltsplan 2002, Einzelplan 10. In der Titelgruppe 684 21 sind die Zuschüsse
verzeichnet, die der Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände erhält. Dort sind rund
21 Millionen DM für diese Arbeit eingestellt. Wenn Sie
dann in die Erläuterungen hineinschauen, dann stellen
Sie fest, dass dabei der Wirtschaftsplan eine Rolle spielt.
Wenn wir uns den Wirtschaftsplan ansehen, dann wird
schon deutlich, in welchem Maße den Verbraucherzentralen die Daumenschrauben angelegt werden. Es
geht darum, die Einnahmen der Verbraucherzentralen um
400 000 DM zu erhöhen und die Ausgaben um 4,4 Millionen DM zu drücken. Das heißt, aus den 21,4 Millionen DM werden in null Komma nichts nur noch
16,6 Millionen DM. Das müssen Sie den Menschen
draußen schon erklären.
({0})
Die nächste Rednerin
in der Debatte ist die Kollegin Gudrun Kopp für die FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Herren und Damen! Frau Ministerin Künast, Sie haben
sich seit Ihrem Amtsantritt auf die Förderung des ökologischen Anbaus konzentriert und fast ausschließlich diesem Bereich Geld und Aufmerksamkeit gewidmet. Sie
sind nicht Ökoministerin, sondern Verbraucherministerin.
({0})
- Natürlich, die Landwirtschaft gehört auch mit dazu. Das heißt, Ihre Aufmerksamkeit müssen Sie auch auf
viele andere Gebiete richten. Hier sehe ich große Versäumnisse.
({1})
Wir haben grundsätzlich eine positive Einstellung zum
ökologischen Landbau. Aber es ist nicht Aufgabe des
Staates, eine Werbekampagne für das Ökosiegel in
Höhe von 15 Millionen DM in den Haushalt einzustellen.
Auf der anderen Seite erklären Sie zum Antrag der FDP,
die Stiftung Warentest in die Unabhängigkeit zu entlassen
und einen Kapitalstock aufzubauen, damit nicht erneut jedes Jahr über die zuzuweisenden Mittel diskutiert werden
muss, dafür sei kein Geld vorhanden. Dieser Punkt ist ein
eklatantes Versäumnis Ihres Hauses und von Ihnen ganz
persönlich,
({2})
weil für uns die Arbeit der Stiftung Warentest eine Säule
der unabhängigen Verbraucherinformation ist. Sie ist
ganz wichtig.
({3})
Sie sprechen von Kontrolle und von Lebensmittelsicherheit. Hierzu muss ich Ihnen etwas sagen: Ich finde
es mehr als traurig und unverantwortlich, dass Restbestände an Tiermehl aus dem Jahr 2000 über zehn Monate bei den Produzenten gelagert wurden, weil es
zwischen Bund und Ländern finanziell keine Einigung
gab. Der Raiffeisenverband schätzt diesen Bestand auf
64 000 Tonnen. Das ist eine ganze Menge. Dabei handelt
es sich möglicherweise um kontaminiertes Tiermehl. Hinter das Thema Lebensmittelsicherheit kann ich bei Ihnen
nur ein Fragezeichen setzen.
Auf Bund- und Länderebene fehlen derzeit 2 500 Lebensmittelkontrolleure. Es gibt jedes Jahr 200 000 Lebensmittelerkrankungen, davon 80 000 Salmonelleninfektionen. Sie sprechen von Kontrollen. Wie soll das
kontrolliert werden? Wollen Sie die Kosten für Kontrollen von Waren mit dem Ökosiegel künftig den Ländern
aufdrücken? Sollen sie dafür sorgen, dass es zu einer entsprechenden Kontrolle kommt? Wenn ein Lebensmittelkontrolleur für 1 400 Betriebe zuständig ist - also Gaststätten, Restaurants und Lebensmittelgeschäfte -, dann ist
dies schlicht eine Überforderung. Es ist eine Farce, da von
Lebensmittelsicherheit zu sprechen.
({4})
Nächster Punkt: Energieberatung. Ich habe eine
große Zahl von Briefen von Verbraucherzentralen und
Verbraucherberatungsstellen erhalten, die um Hilfe bitten,
weil der Etat um 1,3 Millionen DM gekürzt werden soll.
Diese Maßnahmen betreffen insbesondere die Energieberatung für den ländlichen Raum. Das hat doch etwas mit
Ökologie zu tun.
({5})
Das passt doch nicht in Ihr grünes Konzept. Wir müssen
versuchen, den Verbraucherzentralen zu helfen, damit sie
auch in Zukunft Energieberatungen leisten können.
({6})
Zum Schluss möchte ich noch einmal sagen: Ich finde
es beschämend, dass zu anderen Themen, wie Schuldrechtsreform oder Eurobargeldeinführung, nichts, aber
auch gar nichts aus Ihrem Ministerium zu hören oder zu
lesen ist. Das heißt: Verbraucherpolitik ist umfassend. Sie
haben sich - ob Sie das nun wollen oder nicht - auch um
diese Themen zu kümmern.
Die Liste der Versäumnisse ist sehr lang. Wir finden, es
reicht nicht, einfach nur zu sagen: alles Öko, sonst nichts.
Sie werden damit den Ansprüchen der Verbraucher nicht
annähernd gerecht.
Vielen Dank.
({7})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wenn man sich den Entwurf des
Agrarhaushalts für das Jahr 2002 ansieht, wünschte man
den Landwirten, dass jedes Jahr Wahljahr ist. Aber ich
denke, das sollten wir den Wählerinnen und Wählern lieber nicht antun.
Die Aufstockung im Landwirtschaftshaushalt ist allerdings nur vorübergehend angelegt. Auch wenn das Verbraucherministerium von einem guten Kompromiss
spricht, bleibt die Frage, ob der Agrarhaushalt den Erfordernissen der überschwänglich gepriesenen Agrarwende
auch tatsächlich gerecht wird. Eine Aufstockung des
Agraretats um 1 Prozent im nächsten Jahr ist vielleicht gerade genug, um die Zuschüsse für die Stiftung Warentest
zu gewährleisten und die agrarsoziale Sicherung nicht
weiter sinken zu lassen. Es ist nicht mehr als der berühmte
Tropfen auf den heißen Stein.
Was liegt also im Argen? Ich nenne einige Beispiele:
Erstens. Wettbewerbsnachteile können nicht mit der
Gasölversteuerung oder der Senkung von Steuerfreibeträgen ausgeglichen werden.
Zweitens. Finanzierungsnachteile in gartenbaulichen
Betrieben bleiben nach wie vor bestehen.
Drittens. In der Gemeinschaftsaufgabe sind die bisher
gewährten Ausgleichszulagen in benachteiligten Gebieten zur Einkommensverbesserung in den letzten drei Jahren ebenfalls drastisch gesunken.
Viertens. Gleiches gilt für die Anpassungshilfe für ältere landwirtschaftliche Arbeitnehmer bei einem Arbeitsplatzverlust infolge von Rationalisierung ebenso wie für
die Förderung wasserwirtschaftlicher und kulturbautechnischer Maßnahmen.
Fünftens. Die Kofinanzierung der Gemeinschaftsaufgabe gestaltet sich insbesondere für die neuen Bundesländer immer schwieriger. Die Finanzhilfen lassen sich im
Zuge des Sparzwangs nicht mehr in der erforderlichen
Höhe aufbringen, und der Bund zieht sich immer mehr aus
der Verantwortung zurück. Frau Ministerin Künast - Sie
haben das vorhin auch kritisiert -, vielleicht könnten Sie
sagen, woher die Länder das Geld für die Kofinanzierung
nehmen sollen.
Sechstens. Die Mittelkürzung für die BSE-Folgekosten
im Jahre 2001 reflektiert auch künftig auf die gesamte
Landwirtschaft, sodass schließlich alle Landwirte unverschuldet betroffen sein werden. Die Landwirtschaft
musste zwischen 1999 und 2002 zum Subventionsabbau
des Bundes im Umfang von 800 Millionen DM mehr als
die Hälfte beitragen. Dies führt im Gesamtwirtschaftsgefüge zu einer einseitigen und ungerechten Belastung der
Landwirtschaft.
Fazit: Steuerreform, Ökosteuer, Reduzierung der
Gasölbeihilfe und bisherige Kürzungen im Bundesetat
treiben immer mehr Landwirte in den Ruin. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen greifen nicht oder sind als
Projekte auf dem Papier reine Makulatur. So stellt sich die
Frage: Wo ist der sozialpolitische Aspekt für den Erhalt
und den Ausbau von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum?
Wo spiegelt sich der multifunktionale Charakter der
Landwirtschaft in den Haushaltsansätzen wider? Modellregionen - so schön es auch klingen mag - entsprechen
wohl eher dem Charakter von Wettbewerbsprogrammen,
als dass wirklich Hunderte von Problemregionen im ländlichen Raum davon profitieren könnten.
Mit anderen Worten: Die Bundesregierung versucht
gewissermaßen mit dem Fahrrad einen Schnellzug zu verfolgen, und die Landwirte blicken in eine unsichere Zukunft. Allein in Nordrhein-Westfalen sind in den vergangenen acht Jahren täglich im Schnitt fünf Betriebe den
Bach runtergegangen.
Die PDS plädiert daher für die Einstellung eines Titels
für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im ländlichen
Raum zur Schaffung gewerblicher - außerlandwirtschaftlicher - Arbeitsplätze; dies sollte in Verbindung mit
dem Wirtschaftsministerium geschehen.
({0})
Weiterhin fordern wir eine Neuauflage der Förderung der
Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit und
der Produktionsaufgaberente. Außerdem plädiert die PDS
dafür, die Ausgleichszulagen für benachteiligte Gebiete
wieder aufzustocken, um eine flächendeckende Landbewirtschaftung auch in Zukunft zu ermöglichen.
({1})
Wir erwarten, dass aus der Gemeinschaftsaufgabe kein
Fördertatbestand gestrichen wird, und zwar weder die
Beihilfen für die Bewässerungswirtschaft oder den Wegebau noch die Milchleistungsprüfung oder die Anpassungshilfen für ältere Landwirte. Darüber hinaus sind
Biogasanlagen zur Strom- und Wärmeerzeugung wieder
mit einem Teilschuldenerlass zu fördern.
Dass der ökologische Landbau gefördert wird, ist positiv. Das neue Biosiegel ist da und bringt den Verbrauchern
mehr Information und Befähigung zur eigenen Entscheidung. Die Aufregung über die niedrigen Standards der
EG-Öko-Verordnung verliert ihr Gewicht, denn die Zeichen der anerkannten Aufbauverbände können zusätzlich
zu dem neuen Siegel verwendet werden. Um zu verhindern, dass das neue Siegel zum Scheitern verurteilt ist, ist
unseres Erachtens eine Aufklärungskampagne in der Dimension notwendig, wie sie die CMA jetzt wieder für
Fleisch startet.
Meine Damen und Herren, die Agrarwende ich wichtig
und richtig. Landwirte, die sich im Rahmen der gültigen
Fachgesetze auf der Grundlage der guten fachlichen Praxis bewegen, dürfen aber nicht grundsätzlich von der Förderung ausgeschlossen werden. Förderausschlüsse brinGudrun Kopp
gen Zwist und spalten die Bauernschaft. Entweder besteht
Handlungsbedarf bei den Fachgesetzen oder es sollte zuerst der Prüfungs-, Beratungs- und Entscheidungsbedarf
über neue Fördergrundsätze abgeschlossen sein, sodass
über den Haushaltsplan entschieden werden kann. Letztendlich weiß man ja nicht, worüber man abstimmt.
({2})
In den kommenden Haushaltsberatungen muss erreicht
werden, dass sich die künftigen Herausforderungen an die
Agrarpolitik auch im Haushalt widerspiegeln. Ich kann
nur hoffen, dass die Koalitionsfraktionen für Veränderungen offen sind.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Einbringung des Gesetzentwurfes zur Einführung und Verwendung eines Kennzeichens für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus in
den Deutschen Bundestag setzt die Koalition ein deutliches Zeichen der Neuorientierung der Agrarpolitik.
({0})
Das neue Biosiegel ist entwickelt und muss dem Verbraucher nun in einer groß angelegten Informationskampagne bekannt gemacht werden. Hierfür werden im
nächsten Jahr 7,7 Millionen Euro im Agrarhaushalt bereitgestellt. In den letzten Tagen ist sehr häufig die Frage
gestellt worden, warum wir überhaupt ein neues Biosiegel benötigen. Tatsache ist, dass derzeit schon rund
100 verschiedene Biomarkenzeichen bundesweit um die
Verbrauchergunst konkurrieren. Allein neun Anbauverbände wie Bioland und Demeter arbeiten nach eigenen Qualitätskriterien. In diesem Kennzeichendschungel
die Übersicht zu behalten, kann dem Verbraucher wohl
niemand auf Dauer abverlangen.
({1})
Für die Mehrheit der Konsumenten heißt das Resultat
Verunsicherung: Warum soll ich für meine Lebensmittel
eigentlich mehr bezahlen, wenn ich mir nicht sicher sein
kann, was drin ist? Das neue Siegel soll hier Klarheit
schaffen. Der Blick in andere Länder zeigt, dass einheitliche staatliche oder verbandsübergreifende Dachwarenzeichen für Ökolebensmittel die Konsumsicherheit für
Verbraucher deutlich erhöhen können und somit zu einem
erfolgreichen Absatz der Produkte führen. Als eine Art
Über-Siegel kann es in Deutschland für alle Produkte
des ökologischen Landbaus verwendet werden, die mindestens nach den Kriterien der EG-Öko-Verordnung hergestellt werden.
({2})
Das klingt einfach, ist einfach, und gerade in dieser
Einfachheit liegt auch der innovative Ansatz.
({3})
Wenn wir für Ökoprodukte tatsächlich den Durchbruch
aus der Nische heraus schaffen wollen,
({4})
dann geht es auch nicht an dem Ort vorbei, wo 80 Prozent
unserer Lebensmitteleinkäufe getätigt werden: dem konventionellen Lebensmitteleinzelhandel. Nur ein Siegel
mit einfachen Regeln, die sich dem Verbraucher schnell
und glaubhaft erschließen, hat auf diesem Markt eine
Chance.
({5})
Das bedeutet: Öko rein in die Supermärkte und möglichst
auch in die Discountermärkte.
Wir sprechen hier nicht über ein kleines Alibi-Ökosortiment, vorzugsweise in einem Holzregal präsentiert und
in irgendeiner Ladenecke versteckt. Ziel ist es vielmehr,
ein gleichwertiges Nebeneinander von Ökoprodukten und
konventionellen Erzeugnissen zu schaffen. Öko darf nur
einen Handgriff entfernt von anderen Markenprodukten
in den Regalen stehen.
({6})
Der Verbraucher soll die Wahl treffen.
({7})
Wenn er sich für das Ökoprodukt entscheidet, dann soll er
auch auf Anhieb erkennen können, dass dort wirklich Öko
drin ist.
({8})
Das Biosiegel schafft unverwechselbare Einheitlichkeit, Klarheit und Orientierung. Und da gebe ich Ihnen
Recht -: Es ist kein leichter Schritt in den konventionellen Lebensmitteleinzelhandel. Wir haben es hier mit einem anspruchsvollen und machtvollen Marktpartner zu
tun. In diesem hart umkämpften Markt agiert niemand aus
Gründen des Idealismus, zum Wohl der Menschen und
der Umwelt. Das Motto lautet hier: größer, weiter, zentralistischer. Es darf nur derjenige mitmachen, der sich in
diesen Strukturen behaupten kann. Auch diese Gefahr
darf in dieser Debatte nicht verschwiegen werden.
Aber an der Entstehung des neuen Biosiegels wurden
alle Akteure des berühmten magischen Sechsecks beteiligt, auch der konventionelle Lebensmitteleinzelhandel.
Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ist der eigentliche Sieg der Ministerin in dieser
Angelegenheit.
({9})
Im Ergebnis konnte man sich auf ein einheitliches Siegel einigen. Bisher war es nicht gelungen, ein übergeordnetes Ökokennzeichen zu kreieren, das branchenübergreifend auf einen so breiten Konsens, eine so große
Akzeptanz trifft. Vielmehr - das füge ich kritisch hinzu ist bisher jeder Versuch einer Vereinheitlichung an den Eigeninteressen von Anbauverbänden und Herstellern gescheitert, die ihre eigenen Qualitätsmaßstäbe als der
Weisheit letzter Schluss ansahen.
({10})
Schmeckt das neue Biosiegel nun zu sehr nach Kompromiss, weil die Kriterien der EG-Öko-Verordnung in
einigen Bereichen unterhalb der deutschen AGÖL-Richtlinien liegen? Nein! Hier frage ich mich, wie Sie, Frau
Kollegin Widmann-Mauz, dazu kommen, dass die Orientierung an einem EU-Standard ein nationaler Alleingang
sei. Diese Logik verschließt sich mir.
({11})
Eine Orientierung an den Kriterien der EG-Öko-Verordnung ist keinesfalls nur ein Kompromiss, sondern
dient in einer sehr konsequenten Art und Weise dem Ziel,
die Nachfrage nach Ökoprodukten in einem Maße zu steigern, dass eine kontinuierliche Ausweitung des Ökolandbaus als gesichert angesehen werden kann und dass eine
Umstellung der Betriebe auf Ökolandbau Perspektiven
für die deutsche Landwirtschaft bietet.
Forschungsergebnisse besagen, dass künftig nicht die
Nachfrage nach Ökolebensmitteln den begrenzenden
Faktor für die Marktentwicklung darstellt. Dieser wird
eher in der Angebotsseite und vor allem darin gesehen,
dass die Angebotsstruktur der Produkte den Verbraucherwünschen nicht entspricht. Der Absatz der Produkte über
den traditionellen Lebensmitteleinzelhandel bietet hier
neue Chancen. Wir reden hier in der Tat von neuen Chancen, während die Opposition in der Regel nur Bedenkenträger war und Ängste verbreitet.
({12})
Hierfür ist jedoch eine zusätzliche Professionalisierung
notwendig, die im bisher klein strukturierten Ökomarkt so
nicht erforderlich war. Das wird eine Herausforderung
darstellen.
Eine wichtige Voraussetzung für eine Kooperation mit
dem konventionellen Handel ist aber eine ausreichende
Sortimentsbreite. Dieser breite Einstieg kann derzeit nur
über den Standard der EG-Öko-Verordnung realisiert
werden. Frau Ministerin, ich kann Ihnen die Unterstützung der SPD-Fraktion versichern,
({13})
wenn es darum geht, gemeinsam zu versuchen, die Standards in Europa nach oben zu bewegen.
({14})
Mit dem neuen Biosiegel geben wir dem Verbraucher ein
hilfreiches Instrument an die Hand. Jetzt appellieren wir an
die Mündigkeit des Verbrauchers. Ist das Siegel erst auf dem
Produkt, dann kann die Verbraucherin bzw. der Verbraucher
über den Einkaufskorb Einfluss auf landwirtschaftliche Produktionsweisen nehmen und damit die Umwelt besser
schützen und die Landwirtschaft besser verdienen lassen.
Vielen Dank.
({15})
Nächster Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Josef Hollerith für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selten ist ein
Minister bzw. eine Ministerin nach der Berufung von den
Medien mit so vielen Vorschusslorbeeren ausgestattet
worden wie Frau Künast nach dem 12. Januar 2001.
({0})
Nach rund acht Monaten ihrer Amtszeit stellen wir fest:
Der Lack ist ab, sie ist von den Realitäten des Haushalts
und von den Einstimmigkeitserfordernissen beim europäischen Agrarrat eingeholt worden, die Lücke zwischen
Anspruch und Wirklichkeit wird größer, die Landwirte,
die ohnehin nichts von ihr erwartet haben, sind zunehmend darüber verbittert, dass sie Agrarpolitik nicht nach
den sachlich-pragmatischen Erfordernissen des europäischen Binnenmarktes, sondern ideologisch durch ihre
grün gefärbte Brille gestaltet.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Berufsstand ist auch darüber verbittert, dass sie einen Keil zwischen die Bauern treibt,
({2})
indem sie zwischen den vermeintlich Guten, die ökologisch wirtschaften, und den vermeintlich Schlechten, die
konventionelle Landwirtschaft betreiben, unterscheidet.
Dies ist falsch, denn wir brauchen beide Richtungen. Der
Verbraucher entscheidet durch seine Kaufentscheidung
jeden Tag darüber, was wie und wo produziert wird.
Das ist schlicht eine Beleidigung zehntausender bäuerlicher Betriebe, die über Jahrzehnte nachhaltig und konventionell gesunde Nahrungsmittel höchster Qualität
produziert haben, was wir daran sehen, dass die Lebenserwartung der Menschen, die diese Nahrungsmittel gegessen haben, ansteigt.
({3})
Betrachten wir den ersten Haushalt, den Frau Ministerin Künast zu verantworten hat, so stellen wir fest, dass
das Soll im Haushaltsansatz für das Jahr 2002 gerade einmal um 109 Millionen DM auf rund 11,068 Milliarden DM ansteigt. Das ist ein völlig unzureichender Ansatz, um die gigantischen Herausforderungen der durch
BSE, MKS und die daraus resultierenden Folgekosten gebeutelten Landwirtschaft zu bewältigen.
Ich möchte Sie insbesondere auf zwei Beispiele für die
Widersprüchlichkeit rot-grüner Agrarpolitik hinweisen.
Erstes Beispiel: Sie haben den Verbraucherschutz auf
europäischer Ebene nicht durchgesetzt.
({4})
Fettaustauscher, die bei uns in der Tiermast verboten
sind, werden um uns herum in der Mast von Hähnchen,
von Truthähnen, von Gänsen und Enten massenweise verwendet. Genau diese Produkte konkurrieren auf dem
deutschen Markt mit den Produkten unserer Landwirtschaft und werden zu Weihnachten von den Verbrauchern
gekauft werden.
({5})
- Mit Ökosiegel. - Das ist Täuschung der deutschen Verbraucher.
({6})
Ein zweites Beispiel für die Widersprüchlichkeit rotgrüner Politik: Sie verraten erneuerbare Energien.
Durch Ihre falschen Beschlüsse lasten 400 Millionen DM Ökosteuer auf den erneuerbaren Energien.
Trotzdem hat Ihr Amtskollege im Kabinett in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion die ohnehin geringen Zuschüsse von 12,5 Prozent der Investitionskosten bei Biogasanlagen von heute auf morgen abgeschafft. Er hat damit Planungssicherheit beseitigt und gegen die grüne
Programmatik verstoßen, die vorsieht, dass Sie erneuerbare Energien fördern wollen.
({7})
Wir wollen Ihnen in den weiteren Beratungen dieses
Haushaltes gern die Hand reichen, damit Sie diese falsche
Entscheidung rückgängig machen können.
({8})
Der Fördersatz von 12,5 Prozent bedeutet, dass bei jeder Investition von 100 DM gerade einmal 12,50 DM gefördert werden, aber gleichzeitig 16 DM Mehrwertsteuer
in die staatlichen Kassen fließen. Daran erkennen Sie,
dass zum einen der Fördersatz zu gering ist und sich zum
anderen ein solches Programm aus sich selbst heraus finanziert. Diese Entscheidung des Wirtschaftsministers
war also auch volkswirtschaftlich höchst unsinnig und widersprüchlich.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Schlussteil meiner Rede gehe ich auf die besonders dramatische
Situation der Rindermäster ein, die von BSE betroffen
sind. Ich stelle fest: Der bäuerliche Berufsstand ist an BSE
am wenigsten schuld; gleichwohl hat er die Lasten dafür
zu tragen. Vergleicht man den Preis, der vor der BSEKrise für Rindfleisch erzielt wurde, mit dem jetzigen
Preis, so erkennt man, dass der Bauer pro Kilogramm
Schlachttier 1 DM verliert. Die Hälfte dieses Verlustes ist
marktbedingt; die andere Hälfte ist durch Kosten bedingt,
die aufgrund der BSE-Gefahr entstehen: durch den BSETest, durch die Herausnahme des Risikomaterials, durch
die höheren Entsorgungskosten für das Konfiskat und für
die Knochen, durch den Wertverlust des fünften Ferkels, sprich: der Innereien. Diesen Verlust muss allein
der Landwirt schultern.
Wenn wir heute über innere Sicherheit reden, so ist ein
Analogieschluss zur Lebensmittelsicherheit erlaubt.
Beide Sicherheitsbegriffe betreffen den Menschen. Hinsichtlich der inneren Sicherheit betrachten wir es als
selbstverständlich, dass die Mehrkosten - etwa durch
Kontrollen - vom Steuerzahler getragen werden und die
Fluggesellschaften den Verlust durch den Rückgang der
Fluggastzahlen tragen.
Darum ist es völlig logisch und gerecht, dass die Kosten für die Sicherheit der Nahrungsmittel zum einen von
der Allgemeinheit der Steuerzahler getragen werden, was
die BSE-bedingten Mehrkosten angeht, um die Lebensmittelsicherheit zu erhöhen, dass auf der anderen Seite
aber auch - um die Analogie zum Flugverkehr aufrechtzuerhalten - die Bauern die Belastungen des Verbrauchsrückgangs schultern müssen. Darum fordern wir ein, dass
der Staat, die Gemeinschaft der Steuerzahler, die innere
Sicherheit genauso behandelt - das unterstützen wir ({10})
wie die Lebensmittelsicherheit,
({11})
die Kontrolle der Nahrungsmittel auf BSE. Mit unseren
Anträgen wollen wir sicherstellen, dass in den Beratungen
den BSE-gebeutelten Bauern durch vernünftige Anträge
ein Stück weit bessere Chancen und bessere Perspektiven
für ihre Existenz gegeben werden.
({12})
Wir werden Sie von der Regierung daran messen, inwieweit Sie unseren Anträgen folgen.
({13})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt Herrn Kollegen Dr. Gerald
Thalheim das Wort.
Herr Kollege Hollerith,
zum Thema Verbraucherschutz habe ich selten so viel
Heuchelei gehört wie von Ihnen und von Ihren Kolleginnen und Kollegen in dieser Debatte.
({0})
Sie haben uns eben vorgeworfen, wir hätten uns bei der
Umsetzung europäischer Richtlinien oder bei dem Thema
Milchaustauscher nicht durchgesetzt.
({1})
Genau vor einem Jahr, am 1. Oktober 2000, ist das Verbot
des Risikomaterials Gesetz geworden. Vielleicht denken
Sie alle einmal daran zurück, welche Reden hierzu gehalten worden sind - dass das viel zu weit gehe, dass das der
Untergang der deutschen Landwirtschaft sei. Für diejenigen, die sich unter Risikomaterial nichts vorstellen können, füge ich hinzu: Da geht es um Gehirn, da geht es um
alles, was drum herum ist, das heißt um jene Körperteile
der Rinder, von denen tatsächlich eine Gefahr ausging.
Das bedeutet: Im vergangenen Jahr haben wir zum
Stichwort Verbraucherschutz das Mindeste dessen gemacht, was man erwarten konnte.
({2})
Herr Kollege Hollerith, Ihre Parteifreundin, die Ministerin Stamm, hat diese Heuchelei den Ministerposten
gekostet. Wenn Sie weiter so agitieren, kann es passieren,
dass Ihnen im nächsten Jahr Ähnliches geschieht.
Vielen Dank.
({3})
Zur Erwiderung Herr
Kollege Hollerith, bitte.
Herr Kollege, Herr
Staatssekretär Thalheim, ich finde es sehr erfreulich, dass
Sie sich von der Regierungsbank auf die Abgeordnetenbank begeben haben, um Ihre parlamentarischen Möglichkeiten wahrzunehmen.
Ich stelle erstens fest: Von mir haben Sie eine solche
Aussage bezüglich Risikomaterial nicht gehört.
({0})
Zweitens stelle ich fest, dass in der damaligen Diskussion
Herr Bundeslandwirtschaftsminister Funke, der heute
nicht mehr im Amt ist, und der Landwirtschaftsminister
von Niedersachsen die gleiche Position vertreten haben.
({1})
- Ich behaupte nicht, dass das richtig war. Ich stelle nur
fest, weil der Herr Kollege Thalheim diese Frage gestellt
hat, dass ich diese Position hier nicht vertreten habe, und
ich stelle fest, wer sie sonst noch in den Reihen der SPD
vertreten hat. Dieses Spiel lässt sich fortsetzen.
Drittens stelle ich fest, dass die Fettaustauscher in
Deutschland zu Recht verboten sind. Ich stelle weiter fest,
dass sie in allen übrigen europäischen Ländern nach wie
vor verwendet werden, und ich stelle darüber hinaus fest,
dass die Tiere, die mithilfe dieser bei uns verbotenen Fettaustauscher gemästet werden, reichhaltig nach Deutschland exportiert werden und hier zulasten des Verbraucherschutzes massenweise verzehrt werden,
({2})
wie ich hinzufügen möchte: unter Belastung der Wettbewerbsbedingungen der deutschen Landwirtschaft.
({3})
Nächste Rednerin in
der Debatte ist die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Werte
Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Hollerith, Ihren Ausführungen soeben möchte ich für das
Publikum hinzufügen, dass Teile Ihrer Fraktion damals
gegen das Verbot der Verfütterung von Tierfetten gestimmt haben. Wenn die Diskussion so heuchlerisch geführt wird, wie es von Ihrer Seite aus hier teilweise geschehen ist und immer noch geschieht, dann brauchen wir
uns nicht zu wundern, dass bisher ein generelles Verfütterungsverbot auf europäischer Ebene nicht durchsetzbar
gewesen ist.
({0})
Frau Kollegin Lemke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Straubinger?
Ja.
Frau Kollegin Lemke,
weil Sie das Abstimmungsverhalten einzelner Kollegen
unserer Fraktion bezüglich des Verbotes der Verfütterung
von Tierfetten angesprochen haben: Würden Sie zur
Kenntnis nehmen, dass wir in breiter Mehrheit zugestimmt haben? Ich persönlich habe dagegen gestimmt,
({0})
weil damit auch Fette verboten wurden, die für den
menschlichen Verzehr zugelassen waren. Das kann nicht
in den Sinn des Gesetzes passen. Mittlerweile haben Sie
selbst Ihre eigene Verordnung zum Fischmehlverbot wieder zurückgenommen.
({1})
Gefragt war nichts, das ist schon okay. Ich kann trotzdem darauf antworten.
({0})
Es ging mir nicht darum, darzustellen, dass Ihre Fraktion
geschlossen gegen das Verbot der Verfütterung von Tierfetten gestimmt hat. Hätten Sie sorgfältig zugehört, hätten
Sie meine Differenzierung auch bemerkt. Ich habe darauf
abgezielt, dass es, so wie die Diskussion hier geführt wird
und damals geführt worden ist, kein Wunder ist, dass wir
auf europäischer Ebene noch nicht weiter sind.
({1})
Wenn sich diese Form der Diskussion bei der Frage, ob
das Fett der geschlachteten Tiere verfüttert werden soll
oder nicht, hindurchzieht und wenn wir nicht zu einer
sachlichen und fairen Diskussion miteinander kommen,
dann werden wir kein umfassendes Verfütterungsverbot
erreichen; denn man kann natürlich immer mit Wirtschaftlichkeitsaspekten argumentieren. Es ist selbstverständlich wirtschaftlich sinnvoller, das Tierfett zu verfüttern.
({2})
- Jetzt bin ich dabei, seine Frage zu beantworten. Hört dabei eine Sekunde zu!
Eines möchte ich noch anfügen: Wenn wir beim Thema
BSE auch über die Frage, was die Ministerin bisher an Erforschung geleistet oder nicht geleistet hat, diskutieren
wollen, dann muss ich sagen: Da bin ich einmal auf den
bayerischen Beitrag in dieser Frage gespannt. Wir sollten
einmal zu der Frage kommen, was die Ursachen dafür
sind, dass über die Hälfte aller bisherigen BSE-Fälle in
Bayern aufgetreten ist.
({3})
Ich komme zurück zur Debatte über den Haushalt für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft für das
Jahr 2002. Wir setzen mit diesem Haushalt Zeichen für die
Neuorientierung der Agrarpolitik und der Verbraucherschutzpolitik, indem wir eine Umschichtung der Mittel im
Haushalt und auch eine Erhöhung der Mittel für den Bereich Verbraucherschutz, für umweltgerechte Landwirtschaft, für tierartgerechte Landwirtschaft, aber auch für
Sozialpolitik im ländlichen Raum und für die Sicherung
der Einkommen der Landwirte beschließen.
Ich will zu diesen einzelnen Punkten einige Ausführungen machen und fange mit dem Verbraucherschutz an.
Der Verbraucherschutzetat im Bereich des Agrar- und Verbraucherschutzministeriums wird in verschiedenen Punkten aufgestockt. Frau Widmann-Mauz, Sie haben den einen Titel hier erwähnt und haben berechnet, dass dort
keine Erhöhung erfolgt. Man muss aber den Haushalt,
wenn man ihn lesen will, vollständig lesen und darf sich
nicht nur einzelne Titel herausnehmen. Hätten Sie das getan, dann hätten Sie festgestellt, dass im Verbraucherschutzbereich keine Reduzierung eintritt. Erstens wird sowohl im Bereich der institutionellen Förderung von
Verbraucherschutz eine Erhöhung um 2,5 Millionen DM
vorgenommen. Zweitens wird eine Aufstockung der Stellen für die Institutionen im Verbraucherschutz vorgenommen, und zwar nicht nur im Ministerium, sondern auch
bei den Verbänden. Wir stellen zusätzlich - zusätzlich! Mittel für die Projekte zur Verfügung, nachdem die institutionelle Förderung aufgestockt worden ist.
Die Ausführungen, die Sie hier gemacht haben, sind
nicht richtig. Ich denke, dass wir das in der Diskussion im
Ausschuss noch klarstellen können, wenn wir uns über
den gesamten Haushalt und nicht über Detailinformationen aus einem einzelnen Haushaltstitel unterhalten.
({4})
Ich glaube, dass klar ist, dass mit diesem Haushalt eine
Stärkung des Verbraucherschutzes erfolgen musste und
auch erfolgt. Ich wäre für konstruktive Vorschläge seitens
der Opposition in diesem Bereich wesentlich dankbarer
als für eine Kritik, die sich lediglich darauf beschränkt,
dass in einzelnen Punkten dieses oder jenes nicht so passiert ist, wie Sie das gerne vorgeschlagen hätten, ohne
eine Gegenfinanzierung dafür vorlegen zu können.
Zum Bereich der umwelt- und tierartgerechten
Landwirtschaft. Wir haben das nicht auf den Ökolandbau beschränkt. Ich bitte Sie noch einmal - ich habe das
von dieser Stelle aus schon des Öfteren getan -, aufzuhören, eine ideologische Diskussion Konventionell gegen ökologisch zu führen.
({5})
- Hören Sie einmal zu. - Haben Sie, Frau Kopp, die einfache Tatsache zur Kenntnis genommen, dass wir ein Aktionsprogramm zur Stärkung des ökologischen Landbaus
auflegen, wie es in dieser Woche - Herr Deß, ich will auf
Bayern eingehen - der Bayerische Bauernverband gefordert hat? Er hat vorgeschlagen, die Haushaltsmittel in den
Bereichen Forschung, Stärkung der Umstellungsberatung
etc. aufzustocken. Ich finde, dass es richtig ist, was der
Bayerische Bauernverband vorgeschlagen hat. Wenn die
FDP das aber zum Anlass nimmt, hier von Ökodiktat zu
sprechen, dann muss ich Ihnen erstens sagen, dass Sie keine
Ahnung von Diktat haben. Zweitens ist es vollkommen unangemessen, auf eine sinnvolle Forderung, die inzwischen
von weiten Kreisen der konservativen Bauernschaft erhoben wird, mit solchen Schlagworten zu reagieren.
({6})
Wir werden den ökologischen Landbau unterstützen.
Das Ökosiegel, das die Ministerin vorgestellt hat - den
entsprechenden Gesetzentwurf beraten wir heute mit-,
wird zu einer deutlichen Ausweitung des ökologischen
Landbaus führen, und es wird vor allem für die Verbraucher mehr Transparenz beim Kauf von Produkten aus
ökologischem Landbau schaffen. Wir haben uns natürlich
bei der Frage, wie das Siegel ausgestaltet werden soll, gestritten. Es gab dazu verschiedene Auffassungen. Wir
haben aber einen vernünftigen Vorschlag unterbreitet, und
wir werden auch das, was auf europäischer Ebene bisher
nicht ausreichend geregelt ist, in Zukunft vernünftig regeln. Dabei können Sie uns ja unterstützen, wenn Sie es
mit Ihren Forderungen ernst meinen.
Das Wichtigste ist aber, dass wir ein Ökosiegel vorgelegt haben, das man in den Regalen finden wird und das
nicht in Schreibtischschubladen vergammelt, wie das bisher der Fall war.
Wir werden darüber hinaus im Bereich der tierart- und
umweltgerechten Landwirtschaft die Haushaltsmittel verstärken. Ich bedaure zutiefst, dass es aufgrund des Widerstandes von Bundesländern, aber auch aus dem Bauernverband heraus nicht gelungen ist, die Modulation, die für
den Agraretat in bestimmten Bereichen der Landwirtschaft mehr Haushaltsmittel bedeutet hätte, bereits im
Jahre 2002 beginnen zu lassen, sodass sie jetzt erst im
Jahre 2003 beginnen wird.
({7})
Wir werden das trotzdem tun.
({8})
Wir werden damit Akzente für die Stärkung von Umweltaspekten in der Landwirtschaft setzen.
Betrachten wir das, was in den USA im Hinblick auf
Green-Box-Maßnahmen bei der WTO und im Hinblick
darauf, dass auch die Vereinigten Staaten jetzt davon ausgehen, dass die Förderung dieses Bereichs gestärkt werden muss, an vorsichtigen Akzentuierungen in der Debatte zu vernehmen ist, so bin ich sehr zuversichtlich, dass
wir auf europäischer und internationaler Ebene ein gutes
Stück vorankommen werden.
Bezüglich der Sicherung des Einkommens der Landwirte möchte ich noch einen Bereich ansprechen. Das sind
die erneuerbaren Energien. Wir werden im Gegensatz zum
Regierungsentwurf eine Aufstockung der Mittel für die
erneuerbaren Energien vornehmen. Ich glaube, dass wir
wenigstens in diesem Punkt gemeinsam voranschreiten
können, weil das, was Rot-Grün mit dem ErneuerbareEnergien-Gesetz und dem Marktanreizprogramm vorgelegt hat, nicht nur für die Umwelt, sondern auch für die
Einkommen der Landwirte gut ist.
({9})
Wir werden für die Landwirtschaft neue Einkommensmöglichkeiten eröffnen. Wir werden den Sozialetat der
Landwirtschaft weiter stärken, und wir werden außerdem
die Neuorientierung der Agrarpolitik, die bezüglich der
tierart- und umweltgerechten und der ökologischen Landwirtschaft dringend notwendig ist, einleiten.
Danke.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Marita Sehn für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müsste der heutige Tag
ein Glückstag für die Landwirtschaft sein. Schließlich
wird der Agrarhaushalt um 150 Millionen DM aufgestockt. Doch bei genauerem Hinsehen bestehen berechtigte Zweifel, ob die Gelder in ihrer Gesamtheit sinnvoll
verwendet werden.
({0})
Es stimmt bedenklich, dass die Bundesregierung, Frau
Lemke, noch immer keine Einzelheiten zu den Inhalten
des Bundesprogramms Ökolandbau nennt, oder sollte
ich sagen: nennen kann.
({1})
Vielleicht wissen Sie selber noch nicht genau, was Sie
wie fördern wollen. 68 Millionen DM in 2002 und 68 Millionen DM in 2003 sind ein bisschen viel Geld für eine
Katze im Sack, auch wenn auf diesem Sack Ökolandbau steht.
({2})
Das Bundesprogramm Ökolandbau bleibt genauso
im Dunkeln wie die gesamte Agrarwende, die - das habe
ich eben gehört - angeblich schon da ist. Aber ich habe sie
leider noch nicht gesehen. Ich erinnere mich noch gut an
den Anfang dieses Jahres, als uns das Ende der Landwirtschaftspolitik alten Typs, die so genannte Agrarwende,
und ein magisches Sechseck angekündigt wurden. Das
einzige Sechseck, das Sie bislang zustande gebracht haben, ist ein Aufkleber für Ökolebensmittel und der ist alles andere als magisch.
({3})
Mithilfe der Modulation wollten Sie eine komplette
Neuorientierung der Agrarpolitik erreichen. 6 Prozent der
Direktbeihilfen sollten in Fördermittel für den ländlichen
Raum umgewandelt werden. Bereits 2002 wollten Sie mit
der Modulation beginnen.
({4})
Nun bezieht sie sich auf 2 Prozent der Direktbeihilfen
und kommt erst 2003. Obendrein gibt es einen Freibetrag
von 20 000 DM. Damit wird den einen geschadet, ohne
dass jemandem geholfen wird. Die Modulation, liebe
Heidi Wright, ist auf keinen Fall ein geeigneter Weg, die
deutsche Landwirtschaft auf die EU-Osterweiterung und
die bevorstehende Welthandelsrunde vorzubereiten.
({5})
Landwirtschaft und Gartenbau brauchen vergleichbare
Wettbewerbsbedingungen in Europa. Davon sind wir
meilenweit entfernt. Warum dürfen zum Beispiel deutSteffi Lemke
sche Bauern nicht die gleichen Pflanzenschutzmittel wie
ihre europäischen Kollegen einsetzen?
({6})
Die Bundesregierung sagt: Aus Gründen des vorsorgenden Verbraucherschutzes. Aber worin besteht der vorsorgende Verbraucherschutz, wenn entsprechend behandelte Nahrungsmittel problemlos auf den deutschen
Markt gelangen können? Frau Künast ist auf dem besten
Wege zu einer Exportgehilfin für europäische Konkurrenzprodukte zu werden.
({7})
Sie wendet sich damit gegen unsere Bauern, gegen die
ländliche Bevölkerung und letztendlich auch gegen die
Verbraucher. Denn in unsere Kühe kommen vielleicht nur
Getreide, Wasser und Gras. Aber was ist mit den Kühen in
anderen Ländern? Vielleicht sollte man die Bundesregierung öfter daran erinnern: Wer Ja zu Europa sagt, der muss
auch Ja zu einer gemeinsamen Agrarpolitik sagen und kann
nicht bei jeder Gelegenheit sein eigenes Süppchen kochen.
({8})
Die FDP lehnt die massive Förderung des ökologischen Landbaus am Markt vorbei ab. Wenn mehr Ökolebensmittel produziert als nachgefragt werden, dann werden zunächst einmal die Preise sinken. Die Leidtragenden
werden die ökologisch wirtschaftenden Betriebe sein.
Deshalb ist es wichtig, dass sich Angebot und Nachfrage
in gleichem Maße entwickeln können. Warum soll man
dem Markt nicht das überlassen, was er viel schneller, billiger und besser als die Politik kann, nämlich Angebot und
Nachfrage in Einklang zu bringen?
({9})
Auch der jetzt vorliegende Agrarhaushalt ist zu 70 Prozent ein Sozialhaushalt. Er beschäftigt sich vorrangig mit
der sozialverträglichen Abwicklung der Landwirtschaft.
Dagegen hilft auch keine Agrarwende. Im Gegenteil:
Wenn jetzt 180 Millionen DM an zusätzlichen Sozialkosten auf den Agrarhaushalt zukommen, dann spricht dies
eine deutliche Sprache.
({10})
Den Landwirten fehlen eine ökonomische Perspektive
und jegliches Vertrauen in die Politik.
({11})
Aber wie können unsere Landwirte auch Vertrauen in eine
Ministerin haben, die sie wie Frau Künast in einem Interview mit der Zeitung Die Zeit der Wasserverseuchung
durch Gülle bezichtigt? Mit Verlaub: Blödsinn bleibt
Blödsinn, auch wenn er von einer Ministerin stammt.
({12})
Die Menschen in unserem Land sehen die Agrarwende
längst als das an, was sie ist: ein Märchen mit dem Titel
Der Künast neue Kleider. Auch ein Biosiegel reicht
nicht aus, um die Blöße der Ministerin zu verdecken.
({13})
Jetzt spricht der Kollege Matthias Weisheit für die Fraktion der SPD.
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Der Haushaltsentwurf des Bundesministeriums für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft weist für das kommende
Jahr eine Steigerung von 109 Millionen DM auf. Das ist
angesichts der Haushalte der vergangenen Jahre durchaus
ein positives Signal;
({0})
denn die Übertragung der Kosten für den Agrardiesel, die
dieses Jahr mit 375 Millionen DM noch im Einzelplan 10
aufgeführt sind, hätte eigentlich zu einer Senkung der
Ausgaben für die Landwirtschaft führen müssen. Tatsächlich wurde der Ansatz für die Gemeinschaftsaufgabe um
130 Millionen DM auf 1,845 Milliarden DM erhöht.
Die Erhöhung des Mittelansatzes für Modell- und Demonstrationsvorhaben von 7 Millionen DM auf 31 Millionen DM und das neue Bundesprogramm Ökolandbau,
für das 68 Millionen DM veranschlagt sind, versetzen uns
in die Lage, neue, positive Entwicklungen in der deutschen Landwirtschaft einzuleiten.
Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion kann
ich in diesem Zusammenhang durchaus Zufriedenheit
zum Ausdruck bringen; denn das Ziel der Konsolidierung
des von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, zerrütteten Staatshaushaltes bleibt oberste Priorität. Mehrausgaben können sich daher nur in einem bescheidenen Rahmen bewegen.
({1})
- Das werden Sie immer wieder hören müssen.
({2})
Wir müssen in den Haushalt jedes Jahr 80 Milliarden DM
für die Tilgung von Zinsen einstellen. Ich sähe es furchtbar gern, wenn ein Teil dieses Betrags für den Agrarhaushalt zur Verfügung stünde; das wäre wunderbar. Wir
könnten dann alle Ihre Wünsche erfüllen.
({3})
Mit den zusätzlichen Mitteln werden wir, wie die Bundesministerin ausgeführt hat, längst überfällige neue Prioritäten setzen. Multifunktionale Landwirtschaft und
ländliche Entwicklung sind Schlagwörter, die wir durch
Modellvorhaben in 15 Regionen mit Leben erfüllen wollen.
Herr Kollege
Weisheit, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hollerith?
Nein, heute nicht. Wir sind
ohnehin schon weit über die Zeit.
Was die verbraucherorientierte nachhaltige Produktion
und die Vermarktung hochwertiger und gesunder Nahrungsmittel bzw. den Aufbau regionaler Verarbeitungsund Vermarktungsstrukturen angeht, lohnt sich ein Blick
über die Grenzen auf die Staaten, die demnächst der EU
beitreten werden, also einige mittel- und osteuropäische
Staaten. Diese Staaten sind uns auf dem Gebiet um einiges voraus.
({0})
Die Einbeziehung von Nachhaltigkeitsaspekten in die
Angebote von Bildung, Weiterbildung und Beratung steht
im Mittelpunkt dieser Projekte. Der spannende und zukunftsweisende Ansatz dieser Modellprojekte ist, dass sie
nicht, wie Sie gerne glauben machen würden, von Regierungsseite übergestülpt werden, sondern dass sich die Regionen für eine Teilnahme bewerben können und selbst
Vorstellungen entwickeln müssen, wie sie diese Zielsetzungen den jeweiligen Verhältnissen vor Ort, die wirklich
überall anders sind, anpassen wollen.
Es geht zum Beispiel darum, zu klären, wie außer den
Bauern die Handwerker, die Gastronomie, die bestehenden oder zu gründenden verarbeitenden Betriebe, Verwaltung und Handel, Volkshochschulen, allgemeinbildende
Schulen, Landwirtschaftsberatung und Verbraucherberatung zusammenwirken können und wollen, um ein solches Projekt auf den Weg zu bringen. Ich weiß durchaus,
wovon ich rede. In meinem Wahlkreis gibt es ein ähnliches Modellprojekt, das über das Land Baden-Württemberg angestoßen wurde. Nach einigen Jahren ist es eine
Erfolgsstory geworden.
({1})
- Ach, Peter Harry.
Auch ich weiß, dass es nicht einfach ist, die vielen unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen.
Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass über diesen Titel
das erforderliche Regionalmanagement, das diese Projekte leitet und zusammenführt, finanziert werden soll.
Erst danach folgen zusätzliche Aktivitäten, die nicht aus
irgendwelchen anderen Töpfen der EU, der Länder, des
Bundes oder der Kommunen bezuschusst werden können.
Ich halte die zeitliche Begrenzung dieser Förderung für
richtig. Es darf keine Dauersubvention werden. Ich
könnte mir durchaus vorstellen, dass die vorgesehenen
zwei Jahre nicht ganz ausreichen werden.
({2})
Die Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe
Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes werden um über 100 Millionen DM angehoben.
Für viele Bundesländer ist die GA ein wesentliches Instrument zur Gestaltung und Kofinanzierung der zweiten
Säule der gemeinsamen Agrarpolitik, der Politik für den
ländlichen Raum. Mit den zusätzlichen Mitteln lassen
sich die zwischen Bund und Ländern verabredeten neuen
Zielsetzungen realisieren. Niemand soll hier die Illusion
verbreiten, die Gemeinschaftsaufgabe werde nur vom
Bund bestimmt. In Wirklichkeit machen das Bund und
Länder gemeinsam.
Ich denke insbesondere an die Verarbeitungs- und Vermarktungsförderung. Mittelfristig müssen wir dazu kommen, dass Bauern nicht ausschließlich Rohstofflieferanten sind, sondern dass sie durch Beteiligung an der
Verarbeitung und an der Vermarktung am Mehrwert teilhaben, der daraus entsteht.
({3})
Die Möglichkeiten für Erzeugergemeinschaften werden
wir durch eine Novellierung des Marktstrukturgesetzes verbessern. Auch die Neuausrichtung der Ausgleichszulage für
die benachteiligten Gebiete und die Investitionsförderung
für eine besonders artgerechte und flächengebundene Tierhaltung gehören zu den wichtigen neuen Impulsen in der
Gemeinschaftsaufgabe.
({4})
Der Agrarteil des Haushaltsentwurfs ist zukunftsorientiert und gleichzeitig dem Ziel der Haushaltskonsolidierung verpflichtet. In den parlamentarischen Beratungen
werden wir noch die eine oder andere Korrektur vornehmen. Dabei denke ich auch an die 10 Millionen DM, die
als Liquiditätshilfe an den Unterglasbau vorgesehen waren, aber von der EU nicht genehmigt wurden. Vielleicht
können sie auf andere Weise zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Gartenbaus eingesetzt werden; denn
die Situation des Unterglasbaus ist nach wie vor prekär.
({5})
Das Gutachten der Frau von Wedel schlägt eine Reihe
grundlegender organisatorischer Veränderungen vor,
durch die ein Höchstmaß an Sicherheit und Zuverlässigkeit für Lebensmittel erreicht werden soll. An dieser Stelle
muss ich noch auf zwei Beiträge von vorhin eingehen. Es
ist doch in der Tat so, dass die Lebensmittelkontrolle bisher in der Hoheit und im Aufgabenbereich der Länder
liegt. Hätten die Länder - Herr Hollerith, insbesondere
das Land Bayern ({6})
bei der Lebensmittel- und Futtermittelkontrolle in der
Vergangenheit nicht sträflich versagt, dann hätten wir die
ganzen Probleme mit BSE wahrscheinlich gar nicht gehabt.
({7})
- Aber keine Futtermittelkontrollen! Dafür gab es nur eine
halbe Planstelle.
Wir wollen ein Höchstmaß an Sicherheit und Zuverlässigkeit für Lebensmittel erreichen. In diesem Zusammenhang wird es im Haushalt noch Änderungen geben
müssen; denn neue Bundeseinrichtungen lassen sich ohne
zusätzliches Personal nicht aufbauen.
Ich bin mir sicher, dass es im Zusammenwirken zwischen Ministerien, Haushaltsausschuss und Fachausschuss im Laufe der Beratungen in diesem Herbst zu einer einvernehmlichen Lösung kommt. Ich will aber auch
ankündigen: Wir werden alle noch so verlockenden Anträge der Opposition ablehnen, die auf eine Ausweitung
des Haushaltsvolumens abzielen.
Herzlichen Dank.
({8})
Letzter Redner zum
Einzelplan 10 ist der Kollege Peter Bleser aus der Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem
wirren Strauß agrarpolitischer Vorstellungen der Ministerin und dem inhaltsschweren Satz, das Kapital der
Landwirtschaft sei ihre Zukunft, möchte ich etwas Struktur in die Debatte bringen
({0})
und zunächst einmal unsere agrarpolitischen Ziele definieren, damit Sie wissen, was wir an Ihrer Stelle tun
würden.
Wir würden die Bevölkerung mit sicheren, gesunden
und hochwertigen Nahrungsmitteln versorgen. Dies wollen wir unter ganz konkreten Bedingungen erreichen: Erstens. Eine an den Verbraucherwünschen orientierte
Nahrungsmittelerzeugung muss dem vorbeugenden und
vorsorgenden Verbraucherschutz verpflichtet sein.
({1})
Zweitens. Unsere hohen Standards beim Tierschutz müssen eingehalten werden. Drittens. Der Schutz unserer
Umwelt und die Erhaltung unserer Kulturlandschaft dürfen nicht dem Wettbewerb geopfert werden.
({2})
Um diese Ziele erreichen und eine flächendeckende
Landwirtschaft erhalten zu können, müssen unsere Landwirte in die Lage versetzt werden, aus ihren Unternehmenserträgen ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften.
({3})
Genau an diesem Punkt hat die Regierung schwere Fehler
begangen. Frau Ministerin, seit die SPD und die Grünen
die Regierung übernommen haben, haben die Landwirte
viele Sonderbelastungen tragen müssen. Ich will beispielhaft die entsprechenden Stichworte nennen: Agenda
2000, Ökosteuer, Kürzung der Zuschüsse für die Berufsgenossenschaft
({4})
und eine enorme Verteuerung des Agrardiesels. Das ist
eine Wettbewerbsbenachteiligung gegenüber allen anderen europäischen Nachbarstaaten. Darüber hinaus haben
Sie in den letzten Jahren die Landwirtschaft mit einer
Bürokratie überzogen, die kaum noch zu bewältigen ist.
({5})
Mit der BSE-Krise im November vergangenen Jahres
wurde die mangelnde Krisenfestigkeit dieser Regierung
erneut deutlich. Geradezu in zynischer Weise haben Sie,
Frau Ministerin, und der Bundeskanzler wissentlich und
zu Unrecht die bäuerlichen Familien mit dem Wort von
den Agrarfabriken als Verursacher der Krise gebrandmarkt.
({6})
Sie haben sich mit Frau Höhn einen regelrechten Wettbewerb geliefert, wie man aus der Verunsicherung von Verbrauchern politisches Kapital schlagen kann. Frau Ministerin, ich werfe Ihnen Folgendes vor: Sie haben Ihre
Umfragewerte mit einer unseriösen Verängstigung der
Verbraucher und auf den Knochen der Bauern nach oben
getrieben.
({7})
Ihre Umfragewerte sind Gott sei Dank wieder im Sinkflug; die Folgen Ihrer Politik sind aber nach wie vor für
viele ländliche Bereiche und für die Bauern existenzgefährdend.
Einvernehmlich haben wir den deutschen Bauern
höhere Auflagen bei der Verbesserung der Nahrungsmittelsicherheit aufgelastet: Jedes Rind, das älter als
24 Monate ist, muss einem BSE-Test unterzogen werden.
Tiermehl darf nicht mehr verfüttert werden. Wir haben
diese Maßnahmen mitgetragen und mitbeschlossen. Deshalb kann ich hier - sicher in Ihrer aller Namen - feststellen: Das sicherste Rindfleisch auf der Welt ist deutsches Rindfleisch.
({8})
Ich kann die Verbraucher nur bitten, dieses gute Fleisch
weiterhin zu genießen.
Sie aber, Frau Ministerin, haben es nicht geschafft, an
importierte Lebensmittel die gleiche Messlatte anzulegen.
({9})
Denn weiterhin wird Fleisch nach Deutschland aus den
Ländern importiert, in denen keine BSE-Tests durchgeführt und unsere Auflagen im Rahmen der Fütterung nicht
beachtet werden müssen.
Die Bundesregierung hat wie keine andere Regierung
in der Europäischen Union unsere Bauern bei der Beseitigung der BSE-Folgen im Stich gelassen. Die Herauskaufaktion von Rindern ist verspätet und schleppend
angelaufen und dann mussten die Bauern auch noch monatelang auf ihr Geld warten. Dies ist eine Unverschämtheit in Anbetracht der Notlage, in der sich die Betriebe befinden.
Jetzt möchte ich eine Forderung stellen: Frau Ministerin, der Weideabtrieb steht an. Der Rindfleischmarkt ist
am Boden. Obwohl die Verbraucher für Rindfleisch mehr
zahlen müssen als früher, sind die Bauern in arge
Existenznöte geraten. Ich fordere Sie auf, ein Hilfsprogramm aufzulegen, damit wenigstens die derzeitige
Marktübersättigung überwunden werden kann.
({10})
Frau Ministerin, das Einzige, was Sie bisher vorzuzeigen haben, ist die Schaffung eines Ökosiegels. Dieses
neue Siegel wollen Sie deshalb einführen, weil Sie Ihre
Versprechungen, nämlich einen 20prozentigen Marktanteil von Ökoprodukten, mit der Absenkung von Qualitätskriterien erreichen wollen. Dabei opfern Sie kaltschnäuzig die mit hohen Investitionen auf dem Markt bereits
etablierten deutschen Ökosiegel wie Bioland, Demeter
und viele andere.
({11})
- Fragen Sie doch einmal die Vertreter dieser Gütezeichen!
({12})
Die auf europäischen Kriterien basierenden wachsweichen Vorgaben dieses Ökosiegels öffnen der Verbrauchertäuschung Tür und Tor.
({13})
Finanzieren wollen Sie dieses Ökosiegel im Rahmen der
Modulation, bei der Sie konventionell wirtschaftenden
Landwirten das Geld aus der Tasche ziehen. Das lehnen
wir ganz entschieden ab.
({14})
Wie inkonsequent die Bundesregierung mit ihrem ökologischen Anspruch umgeht, zeigt die Rücknahme der
Förderung von Biogasanlagen. Ein Pilotprojekt auf dem
Flugplatz Hahn, der in meinem Wahlkreis liegt, zeigt,
dass die Nutzung von Biomasse - auch in Kombination
mit kommunaler Abwasserentsorgung und Kraft-WärmeKopplung - sowohl in ökologischer als auch in ökonomischer Hinsicht viele neue Perspektiven bietet.
Deshalb ist es ein Skandal, dass die Bundesregierung
die Förderung von Biomassefeuerungsanlagen zurückgefahren hat. Ich freue mich, wenn jetzt bei Ihnen die Einsicht wächst, diese Rücknahme wieder zurückzunehmen.
Aber diesen Umweg hätten wir uns alle sparen können.
({15})
Genauso verwerflich ist, dass Sie den dort gewonnenen
Strom noch mit der Ökosteuer belasten. Auch dies ist
nicht in Ordnung und dient keinem ökologischen Ziel. Die
Einschränkung, dass die räumliche Bindung zwischen
Stromerzeuger und Stromverbraucher sehr eng sein muss,
hemmt die weitere Entwicklung.
Frau Ministerin, Sie machen sich bei einem weiteren
Punkt unglaubwürdig: beim Tierschutz. Sie wollen die
Käfighaltung von Legehennen verbieten. Der Aufschrei
der Wissenschaft, dass die Bodenhaltung keineswegs
tiergerechter sei, stört Sie genauso wenig wie die Verlagerung der Produktion ins Ausland.
({16})
Eine neue, die Tierhygiene und den Tierschutz beachtende
Kleinvolierehaltung lehnen Sie stur ab. Um eine europäische Lösung kümmern Sie sich erst gar nicht.
({17})
Was Glaubwürdigkeit im Tierschutz angeht, so ist
eines sehr deutlich, Frau Künast: Während wir über viele
Jahre die Zahl der Tierversuche zurückgeführt haben, ist
sie nach dem neuesten Tierschutzbericht, den Sie vorgelegt haben, im Jahre 1999 um 100 000 angestiegen - das
zur Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung in Sachen
Tierschutz.
({18})
Herr Kollege Bleser,
Sie müssten bitte zum Schluss kommen.
Ich bin schon am Schluss,
Frau Präsidentin.
Verehrte Frau Ministerin, Sie sind nun seit wenigen
Monaten im Amt und stehen vor einem Scherbenhaufen
Ihrer Politik. Nicht BSE und MKS sind das Hauptproblem
der deutschen Landwirte. Das Hauptproblem sind Sie und
Ihre Regierung.
Danke schön.
({0})
Weitere Wortmeldungen zum Einzelplan 10 liegen nicht vor.
Auch wenn die Rednerliste für den Einzelplan 15 noch
nicht ausgedruckt ist, eröffne ich bereits jetzt die Aussprache dazu und erteile das Wort der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
gerade daran gedacht, dass das alles gut zusammenpasst;
denn gesunde Ernährung ist auch gut für die Gesundheit.
Menschen, die sich dank der Politik der Landwirtschaftsministerin gesund ernähren, bleiben länger fit, und wer
länger fit bleibt, bleibt länger gesund.
({0})
- Ich bin zuständig für die Gesundheitspolitik. Wenn Sie
dafür zuständig wären, wüssten Sie, dass ein gesundes Leben oder eine gesunde Ernährung und die Verantwortung
für die eigene Gesundheit etwas mit Gesundheitspolitik
zu tun haben.
({1})
Meine Damen und Herren, die aktuellen Auseinandersetzungen über Einsparungen im Arzneimittelbereich zeigen erneut, dass es in der Gesundheitspolitik immer auch
um Geld geht. Insgesamt steuert das Bundesgesundheitsministerium ein Ausgabenvolumen von rund
520 Milliarden DM. Bei diesen Zahlen ist es kein Wunder, dass es immer wieder zu großen Verwerfungen und
Streitereien kommt, dass immer wieder um alles hart gerungen wird.
Demgegenüber ist der Haushalt des Bundesgesundheitsministeriums, den wir heute einbringen, mit knapp
1,4 Milliarden Euro eine geradezu verschwindend kleine
Größe. Grund dafür ist, dass das Finanzvolumen, das im
Bereich Gesundheit bewegt wird, in den Haushalten der
Kassen und zum Teil auch in den Haushalten der Länder
vorkommt. Wir haben die Rahmenbedingungen dafür zu
schaffen, dass mit diesen Geldern verantwortlich umgegangen wird.
Auch die aktuellen Gesetzesvorhaben, die wir heute
mit beraten, sind Weichenstellungen für die Zukunft. Sie
sollen dafür sorgen, dass die Gesundheitsversorgung an
den Bedürfnissen der Menschen orientiert wird und dass
die Ausgaben zwei Forderungen gerecht werden: Ausgaben sollen qualitätsgesichert und wirtschaftlich erfolgen.
({2})
Angesichts der Debatten der letzten Wochen ist es vielleicht notwendig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass
wir in Deutschland ein leistungsfähiges Gesundheitswesen haben, um das uns viele Länder beneiden. Wir haben
eine flächendeckende Behandlung durch Ärzte und
Zahnärzte, eine flächendeckende Behandlung durch
Krankenhäuser. Bei uns gibt es keine Wartelisten für Operationen.
({3})
Wir haben eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung mit Arzneimitteln und ein funktionierendes Rettungswesen. Auf
alle diese Leistungen haben die Menschen, die gesetzlich
krankenversichert sind, Anspruch und dies soll auch in
Zukunft so bleiben.
({4})
Dieser Anspruch ist unabhängig vom Alter, vom Geschlecht, vom Familienstand und vom Einkommen. Und
das ist gut so, Herr Kollege Thomae!
({5})
- Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist; in meiner Stadt ist
die Versorgung so.
Weil das so ist, halten wir an der solidarischen Krankenversicherung fest. Eine Aufteilung ihres Angebots in
Grund- und Wahlleistungen kann nicht die Sicherheit, wie
wir sie heute haben, bieten.
({6})
Ich will nicht verschweigen, dass wir vor großen Herausforderungen, auch in der Gesundheitspolitik stehen.
Ich nenne hier nur einmal die Herausforderungen durch
den medizinischen Fortschritt, Herausforderungen aufgrund der demographischen Entwicklung und aufgrund
der wachsenden Zahl multimorbider Menschen und chronischer Erkrankungen. Deshalb ist eine Weiterentwicklung des Systems notwendig, eine Weiterentwicklung hin
zu mehr Patientenorientierung, mehr Versorgungsqualität, vor allem für chronisch kranke Menschen, und mehr
Wirtschaftlichkeit.
({7})
Ich darf heute sagen: Knapp drei Jahre nach dem Regierungswechsel haben wir vieles erreicht.
({8})
Die Stärkung der hausärztlichen Versorgung, mehr Qualität und Transparenz, eine bessere Verzahnung der Leistungsbereiche
({9})
sowie die Förderung der Prävention und Selbsthilfe bedeuten nichts anderes als mehr Orientierung an den Patienten und deren Bedürfnissen.
({10})
Trotz Leistungsverbesserungen - da sollten Sie mal gut
zuhören -, trotz einer Entlastung der Patientinnen und Patienten bei den Zuzahlungen
({11})
und trotz einer rapide voranschreitenden Entschuldung
der Kassen in den neuen Bundesländern, die Sie ja stoppen wollten,
({12})
konnten wir, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU und der FDP, die Beiträge stabil halten.
({13})
Der durchschnittliche allgemeine Beitragssatz liegt immer noch bei 13,6 Prozent.
({14})
Das war genau der Beitragssatz, den uns der Kollege
Seehofer übergeben hat,
({15})
nachdem unter seiner Ägide der Beitragssatz in sieben
Jahren um durchschnittlich 0,2 Prozent jährlich angestiegen war.
({16})
Unser Gesundheitswesen - ({17})
- Es ist nicht pleite, da brauchen Sie gar keine Angst zu
haben. Ich habe da auch keine Sorgen. Wenn man aktuelle
Schwierigkeiten hat, muss man darauf reagieren.
({18})
Wir brauchen kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen.
Wir brauchen vor allen Dingen eines: Wir müssen das Gesundheitswesen mehr als bisher an medizinischen Bedürfnissen ausrichten.
({19})
Dazu gehört richtigerweise, dass wir uns mit einer umfassenden Umgestaltung der Entgeltsysteme auseinander
setzen müssen.
Für den niedergelassenen ärztlichen und zahnärztlichen
Bereich werden die Vergütungssysteme grundlegend reformiert. Daran arbeiten zurzeit die Selbstverwaltungsgremien. Im Krankenhaus wird mit dem heute eingebrachten
Gesetz zur Einführung der Fallpauschalen ebenfalls ein
leistungsorientiertes Preissystem eingeführt und damit die
bislang umfassendste Reform im Krankenhausbereich eingeleitet. Die konkrete Umsetzung erfolgt mit dem Fallpauschalengesetz. Da wir uns in der Zielsetzung einig
sind, gehe ich davon aus, dass wir uns auch bei der Frage
der konkreten Umsetzung, so wie wir sie im Gesetzentwurf vorgesehen haben, einig werden.
({20})
Ich glaube, dass der große Fortschritt darin besteht,
dass wir mit dem Fallpauschalensystem wirklich eine
starre, fiskalisch orientierte Budgetierung im Krankenhaus überwinden und dass ein modernes, prozessoffenes
Vergütungssystem auf den Weg gebracht wird. Das Geld
muss der medizinischen Leistung folgen. Es muss klar erkennbar sein, wohin die Ressourcen fließen und für welche Leistungen sie gebraucht werden.
({21})
Diese Transparenz schaffen wir mit dem Fallpauschalensystem. Dies ist eine wirklich große Reform, die auch
langfristig Wirtschaftlichkeitsreserven im größten Ausgabenbereich der Krankenversicherungen erschließen und
die Qualität verbessern wird.
({22})
Wer Ja sagt zur Leistungsorientierung und dazu, dass
die Krankenhäuser mehr Freiräume erhalten sollen, der
muss auch zu den Instrumenten Ja sagen, die wir brauchen, um sicherzustellen, dass nur das medizinisch Notwendige - dies aber in jedem Fall - erbracht wird und dass
Leistungen in der Qualität abgesichert werden.
({23})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
deshalb müssen die Kontrollmechanismen und die Prüfmöglichkeiten der Krankenkassen und der Medizinischen Dienste angepasst werden. Ich sage dies auch an
die Kritiker gerichtet, die oft aus den Krankenhäusern
kommen: Wer mehr Freiheit will - und das wollen ja
alle -,
({24})
der muss sich der fachlichen Überprüfung stellen, Herr
Kollege Lohmann. Ich glaube, wir sind uns einig, dass
dies notwendig ist.
({25})
Der Gesetzentwurf wird dem, was zurzeit diskutiert
wird, gerecht: Es herrscht die Befürchtung, dass die Krankenhäuser durch die Verzögerung der Softwareeinführung
in Bedrängnis kommen. Wir sehen eine behutsame und
abgestufte Einführung der Fallpauschalen vor,
({26})
sodass alle Beteiligten - Krankenhäuser und Krankenkassen - eine faire Chance zur Anpassung haben und man
wirklich sagen kann, dass dies ein lernendes System ist.
({27})
- Die Krankenhäuser können ab 1. Januar 2003 starten,
aber wir verlängern die budgetneutrale Phase um ein Jahr,
sodass spätestens zum 1. Januar 2004 alle Krankenhäuser
in diesen Prozess eintreten und wir dann Zeit haben, zwei
Jahre lang zu beobachten, wo es Schwierigkeiten gibt und
wie sie überwunden werden können.
Deshalb trifft der Gesetzentwurf auch noch keine Festlegungen für die Zeit ab 2007. Es versteht sich von selbst,
dass wir bei einem lernenden System erst im Jahre 2006
aufgrund der Erfahrungen der Zeit davor festlegen können, wie es nach 2007 weitergehen soll.
({28})
Sonst würden wir Dinge vorwegnehmen, die man im
Grunde genommen heute nicht entscheiden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Schritt für Schritt,
das ist auch die Maxime für die Verbesserungen der
Versorgung pflegebedürftiger Menschen in Deutschland. Ein Baustein ist die bessere Versorgung demenzkranker Menschen durch das Pflege-Leistungsergänzungsgesetz.
({29})
- Ich habe ein Baustein gesagt, Kollege Lohmann, weil
ich mir darüber im Klaren bin,
({30})
dass dies vor dem Hintergrund der begrenzten finanziellen Mittel der Pflegeversicherung nur ein erster Schritt
sein kann. Es müssen weitere Schritte folgen, aber ich
halte es für einen wichtigen Schritt.
({31})
Wir machen mit diesem Gesetzentwurf vor allem denjenigen ein Angebot, die zu Hause rund um die Uhr demenzkranke Angehörige pflegen und sehr viel Kraft in
diese Aufgabe stecken. Ich weiß, dass sehr viel mehr Geld
nötig wäre.
({32})
Aber 900 DM im Jahr für den, der einen demenzkranken
Menschen betreut, machen immerhin 500 Millionen DM
in der gesetzlichen Pflegeversicherung aus. Wir müssen ja
auch sehen, es ist ein Baustein, ein erster Schritt.
({33})
Die Mittel sind zweckgebunden für die Tages- und
Nachtpflege, die Kurzzeitpflege und andere niedrigschwellige Betreuungsangebote. Wir sind in Gesprächen
mit den Landesarbeitsämtern bzw. mit dem Bundesarbeitsministerium, um zu erreichen, dass durch ergänzende
Maßnahmen die Vorraussetzungen dafür geschaffen werden, dass mit diesem Geld Betreuung finanziert werden
kann. Es sind vor allen Dingen Frauen, die die Kranken
pflegen, und unser Ziel ist es, dass man für sie ein Stück
Entlastung erreicht.
({34})
Darüber hinaus sollen Modellvorhaben zur Entwicklung neuer Versorgungskonzepte und -strukturen auf den
Weg gebracht und gefördert werden. Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf ein Netz von abgestuften, bedarfsorientierten und gemeindenahen Hilfen anbieten. Ich sage es
noch einmal: Wir werden dies ausbauen müssen, auch im
Zuge der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, weil
hier ein großer Bedarf besteht.
({35})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gehen Schritt für
Schritt die Reform des Gesundheitswesens an:
({36})
Solidarität mit den Kranken, Wettbewerb um die beste
Versorgung, optimale Leistungen, auch bei Beratung,
Vorsorge und Prävention. Die weitere Eindämmung der
Kosten und die Stabilisierung der Beiträge sind und bleiben unser Ziel. Ich bin davon überzeugt, dass wir dieses
Ziel am Ende auch erreichen werden.
Diesem Ziel diente auch das vorgestern mit den Spitzenverbänden der Kassen, der Selbstverwaltung der Kassen und dem DGB vereinbarte Maßnahmenpaket zur Eindämmung der Kosten im Arzneimittelsektor. Wenn man
sich einmal die großen Leistungsbereiche in der gesetzlichen Krankenversicherung ansieht, ist neben dem Bereich
der Krankenhäuser und dem Bereich der ambulanten Versorgung der Arzneimittelbereich derjenige, der die größten
Zuwächse zu verzeichnen hat. Es hat im ersten Halbjahr
2001 etwas stattgefunden, was wirklich zu einer Wende
führt, wenn wir nicht dagegenhalten, nämlich dass für die
Arzneimittel im Bereich von Apotheken und anderen mehr
Geld ausgegeben wird als für die gesamte Vergütung im
ambulanten Bereich. Da kann etwas nicht stimmen, meine
Damen und Herren. Da kann man sich Gedanken machen,
wie wir in diesem Bereich zu Einsparungen kommen.
({37})
Das, was wir vorschlagen und auch in den nächsten
Wochen hier diskutieren werden, führt zusammen mit der
Absenkung der Festbeträge und der Initiative der Selbstverwaltung, der Kassenärztlichen Vereinigungen und der
Krankenkassen, im Hinblick auf die Steuerung der Arzneimittelausgaben Schritt für Schritt zur Sicherung unseres solidarischen Systems. Das führt dazu, dass wir die
Beiträge auch langfristig stabil halten können.
Mit diesem Schritt - das geht noch einmal an Sie - haben wir einen Weg gefunden, bei steigenden Kosten nicht
Ihre Politik fortzusetzen, die immer darin bestanden hat,
dass Sie bei Kostenexplosionen die Zuzahlungen für die
Kranken erhöht
({38})
und zusätzlich Leistungen eingeschränkt haben. Würde
man diese Politik fortsetzen, untergräbt man die Akzeptanz der solidarischen Versicherung, weil die Menschen
nicht bereit sind, das hinzunehmen.
({39})
Wir haben einen besseren Weg gefunden. Ich hoffe auf
Ihre Unterstützung, damit wir die gesetzliche Krankenversicherung gemeinsam stabilisieren.
Vielen Dank.
({40})
Das Wort hat der Kollege Horst Seehofer für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Woche hat Der Spiegel eine Umfrage veröffentlicht. Danach sind 68 Prozent der Deutschen mit der aktuellen
Gesundheitspolitik unzufrieden.
({0})
- Das war keine Umfrage über meine Amtszeit. Aber ich
darf Ihnen sagen, Frau Göring-Eckardt: Das ist der
schlechteste Wert, der jemals bei einer Befragung zur Gesundheitspolitik herausgekommen ist. Kein anderer Politikbereich wird von der Bevölkerung schlechter bewertet
als die Gesundheitspolitik dieser Regierung.
({1})
Diese miserable Bewertung hat einen Namen und einen Grund: Ulla Schmidt mit einer chaotischen Gesundheitspolitik, bei der niemand mehr weiß, wohin die Reise
geht.
({2})
Frau Schmidt, Sie nennen immer wieder den Beitragssatz von 13,6 Prozent, den Sie übernommen haben. Ich
will mich gar nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass
in den 90er-Jahren die Gesundheitspolitik größtenteils gemeinsam von SPD, CDU/CSU und FDP gemacht wurde.
({3})
Aber ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Die
13,6 Prozent Beitragssatz, die Sie 1998 übernommen haben, können Sie nur halten, erstens, indem Sie Millionen
Menschen in Deutschland, die einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, mit einer Sozialversicherungspflicht belegt haben und somit bei kleinen Verdienstverhältnissen abkassieren; zweitens, indem Sie durch Ihre
Budgetierung dazu beitragen, dass Millionen kranke
Menschen in Deutschland die notwendige Versorgung
nicht mehr bekommen;
({4})
drittens, indem Sie ein riesiges Defizit vor sich herschieben.
({5})
Es ist eine einfache Politik: Der Beitragssatz wird stabil gehalten, indem ich nicht die Krankenversicherungsbeiträge belaste, sondern die Menschen mit einer geringfügigen Beschäftigung, mit 630-DM-Jobs, zu einem
Beitrag zwinge, indem ich über die Budgetierung Leistungen ausgrenze und außerdem ein riesiges Defizit anhäufe. Das ist keine politische Kunst. Deshalb kam es zu
dieser schlechten Bewertung.
({6})
Jetzt möchte ich Ihnen sagen, wie ich zu meinem Urteil gekommen bin, Ihre Gesundheitspolitik sei chaotisch.
({7})
Ich möchte meine Kritik nur an einem Punkt festmachen,
weil er symptomatisch für alle anderen Bereiche ist. Man
könnte beispielsweise auch über den Medikamentenpass
reden, aber ich bleibe bei dem Punkt, den Sie in den
nächsten Monaten offensichtlich in den Mittelpunkt Ihrer
Gesundheitspolitik stellen werden, nämlich die Medikamentenversorgung in Deutschland.
({8})
Sie haben am 6. März dieses Jahres vor der Bundespressekonferenz Folgendes gesagt:
Es gibt bisher keinen Hinweis auf den Anstieg der
Arzneimittelausgaben seit Anfang 2001. Eher das
Gegenteil ist zu erwarten wegen der Verhandlungen
mit den Kassenärztlichen Vereinigungen.
So Ulla Schmidt im März dieses Jahres! Dann kam der
September. Im September mussten wir registrieren: Die
Arzneimittelausgaben waren um 11 Prozent gestiegen.
Siehe da: Nach der Verlautbarung des Ministeriums - Sie
haben das vor der Presse wiederholt - begründen Sie den
Arzneimittelanstieg, den Sie noch im März verneint haben, als Sie das Gegenteil angekündigt haben, wie folgt:
Der nunmehr im 1. Halbjahr 2001 registrierte Anstieg der Ausgaben in Höhe von 11 Prozent hängt
auch zusammen mit einem erheblichen Zuwachs der
Arzneimittelausgaben für die Verordnung von Arzneimitteln zur Behandlung von schwerwiegenden
und lebensbedrohlichen Erkrankungen. So sind insbesondere die Ausgaben für die Krebsmedikation
und die Aids-Therapie deutlich angestiegen. In diesen Therapiebereichen hat es in letzter Zeit wichtige
Innovationen gegeben. Weiterhin ist zu beachten,
dass die zur Verfügung stehenden Rationalisierungspotenziale, zum Beispiel bei den umstrittenen Arzneimitteln, zunehmend an Grenzen stoßen.
Das war die Begründung, die im September dieses Jahres gegeben wurde.
Vorgestern sagt die gleiche Ministerin: Stopp, weder
die erste Prognose, es gebe keinen Anstieg, noch die Begründung für den Anstieg - er betreffe nur schwere Erkrankungen - stimmt. Jetzt sagen Sie, die Pharmaindustrie habe sehr gut verdient und deswegen müssten wir sie
nun zur Verantwortung ziehen.
({9})
Innerhalb von wenigen Monaten wird eine dreifache Prognose und Begründung zum gleichen Sachverhalt abgegeben.
({10})
Frau Ministerin, Ihr Wort ist ein Muster ohne Wert. Sie betreiben eine chaotische Gesundheitspolitik.
({11})
Ich kann Sie nur dringend davor warnen - es wird eine
gewaltige Auseinandersetzung geben -, Ihren Vorschlag
weiter zu verfolgen, dem Arzt die Therapiefreiheit zu
nehmen, indem Sie ihn dazu verpflichten, nur eine Wirkstoffgruppe zu verschreiben, und der Apotheker dann das
billigste Arzneimittel aus der verordneten Wirkstoffgruppe abgeben muss.
({12})
Sie können nicht auf der einen Seite in schönen Schalmeienklängen sagen, im Mittelpunkt steht der Patient, wir
legen höchsten Wert auf die Qualität, der Patient in
Deutschland soll das Beste bekommen, was für ihn zur
Verfügung steht,
({13})
während Sie auf der anderen ein Gesetzgebungsverfahren
mit dem Ziel einleiten, für die Menschen nur das billigste
Medikament zur Verfügung zu stellen.
({14})
Eine solche Politik halten wir für absolut falsch und wir
werden sie mit massiven Mitteln bekämpfen. Der erste
Grundsatz muss sein: Die Verantwortung für die Medikamententherapie gehört in die Hand des Arztes und darf
ihm nicht genommen werden.
({15})
Stellen Sie sich einmal vor, was diese Maßnahme in der
Praxis bei Lipobay bedeutet hätte. Ich garantiere Ihnen:
Bei Lipobay wären Sie die Erste gewesen, die gefragt
hätte, wer diesen Unsinn gemacht hat, und gefordert hätte,
das Medikament zurückzurufen. Wenn Sie Ihren Vorschlag - der Arzt verordnet eine Wirkstoffgruppe und das
Arzneimittel wählt der Apotheker aus - bereits umgesetzt
hätten, hätte das im Zusammenhang mit dem Arzneimittelskandal um Lipobay bedeutet - ich nenne nur zwei Medikamente -: Es gibt das Medikament mit dem Namen Liprevil. In der kleinsten Packung - 50 Tabletten - kostet es
112,04 DM. 50 Tabletten Lipobay - zur gleichen Wirkstoffgruppe der Statine gehörend - kosten nur 98,45 DM,
also rund 14 DM oder 10 Prozent weniger.
Hätten Sie Ihren Gesetzentwurf bereits umgesetzt gehabt, hätte das dazu geführt, dass unabhängig von der Befindlichkeit des Patienten, von seinem Blutbild und seinen
sonstigen Erkrankungen der Apotheker das billigere Arzneimittel abgegeben hätte.
({16})
Dann wäre aus dem Problem Lipobay eine Katastrophe in
Deutschland geworden.
({17})
Ich kann mir vorstellen, dass dagegengehalten wird,
der Arzt sei zu einem solchen Vorgehen nicht verpflichtet.
In welchem Land leben Sie eigentlich? Wenn Sie als Gesetzgeber den Arzt verpflichten, nur noch den Wirkstoff
festzuschreiben - es sei denn, er wünscht ausdrücklich ein
anderes Medikament -, dann müssen Sie doch wissen:
Entzieht sich der Arzt diesem gesetzlichen Auftrag und
weicht damit im Umfang der Verordnungen vom Durchschnitt seiner Kollegen ab, dann werden anschließend die
Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen
den Arzt, der sich sinnvoll verhält, einer Wirtschaftlichkeitsprüfung unterziehen.
({18})
Dem werden sich die Ärzte entziehen. Deshalb kann
ich Sie nur dringend davor warnen, die Therapiefreiheit
des Arztes so massiv einzuschränken und die Verantwortung für die Medikamententherapie in andere Hände zu
legen. In der Medikamententherapie wird es ein undurchschaubares Durcheinander geben und der nächste Arzneimittelskandal ist vorprogrammiert.
Frau Schmidt, wir werden Sie dann ganz persönlich
dafür verantwortlich machen;
({19})
denn Sie wissen so gut wie ich, dass es nicht alleine auf
die Wirkstoffgruppe ankommt. Für die Befindlichkeit
sind andere Umstände, zum Beispiel die Galenik verantwortlich. Auch in unserer Zeit mussten wir erleben, welch
gewaltige Auswirkungen bei kranken Menschen entstehen, die in ihrer Medikamententherapie umgestellt werden. Die Betroffenen haben häufig nur gesehen, dass sie
anstelle einer weißen eine blaue Tablette bekommen. Dahinter stand die Bioverträglichkeit.
({20})
Diesen Umstand können Sie nicht außer Acht lassen, indem Sie nur auf Wirkstoffe oder Wirkstoffgruppen abstellen.
({21})
Deshalb sage ich Ihnen: Die Arzneimittelsicherheit und
die Verantwortung für die Verordnung müssen beim Arzt
bleiben. Das kann nicht geteilt werden.
({22})
Nun zu der Sicht der Apotheker - ich übrigens würde
als Apotheker genauso handeln -: Wenn nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten auszuwählen ist, dann werden die
Zielfahnder der Pharmaunternehmen den Apotheker in ihr
Zielkreuz nehmen. Sie werden natürlich Rabatte anbieten.
Ich sage gar nicht, dass dies unanständig ist. Das ist ein
ganz normaler Prozess. Wenn Sie im Gesundheitsbereich
alleine auf die Betriebswirtschaft und auf das Geld abstellen, dann werden Rabatte angeboten. Dann wird das
Medikament natürlich dort gekauft, wo die höchsten Rabatte gewährt werden. Das ist eine ganz normale Verhaltensweise.
Durch diese Maßnahme tragen Sie letzen Endes dazu
bei, dass der Patient bei der Medikamententherapie in der
Zukunft nicht mit solchen Medikamenten behandelt wird,
die gut und nötig sind, sondern mit solchen, die so billig
wie möglich sind. In eine solche Situation wollen wir in
Deutschland nicht kommen.
({23})
Wir wollen in Deutschland nicht zu der Lösung kommen,
dass die Masse der Bevölkerung mit den billigsten Medikamenten abgespeist wird und diejenigen, die privat zahlen können, erste Sahne bekommen. Das haben wir vor
zehn Jahren gerade beseitigt.
({24})
Sie ökonomisieren die Medizin total. Die Medikamententherapie wird von A bis Z ökonomisiert. Das Patienteninteresse spielt keine Rolle mehr.
Dazu setzen Sie noch einen drauf: Sie bürokratisieren.
Ohnehin haben Sie jetzt schon wieder die unsinnige Positivliste eingeführt.
({25})
Man muss sich einmal Folgendes vorstellen: Ein Arzneimittel wird von einer staatlichen Behörde zugelassen.
Dann kommt Ihre Wissenschaftlergruppe mit der Positivliste ins Spiel. Nun kommt noch das Sahnehäubchen an
Unsinn obendrauf:
({26})
Jetzt wird der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen noch eine dritte Prüfung durchführen, ob mit dem
Medikament wirklich ein medizinischer Fortschritt verbunden ist.
Jetzt kann es Ihnen passieren, dass ein Medikament,
das vom Staat zugelassen ist, in der Positivliste erscheint
({27})
und plötzlich vom Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen für nicht verordnungsfähig erklärt wird. Sie
müssen mir einmal sagen, wie wir der Bevölkerung
draußen eine solche dreifache Zulassung mit jeweils unterschiedlichen Ergebnissen erklären sollen. Das ist
Bürokratie total.
({28})
Frau Schmidt, ich möchte Sie nur darauf hinweisen:
Sie können jede Richtgröße für die Wirtschaftlichkeitsprüfung der Ärzte vergessen, wenn Sie den Arzt bei der
Therapiehoheit nicht mehr in die Verantwortung nehmen.
Erst haben Sie die Budgetierung aufgehoben, ohne Richtgrößen einzuführen. Jetzt wollen Sie Richtgrößen mit entsprechenden Gesetzen einführen und während Sie sie einführen, schaffen Sie ihre Wirksamkeit dadurch wieder ab,
dass Sie dem Arzt die Verantwortung aus der Hand nehmen. Das ist ein Schwachsinn ohnegleichen.
({29})
Frau Ministerin, eine letzte Bemerkung! Sie lächeln ja
gerne. Ich darf Ihnen sagen: Der Bevölkerung ist das Lachen durch Ihre Gesundheitspolitik vergangen.
({30})
Ich muss auch sagen, dass wir Sie sehr nachsichtig und am
Anfang auch mit einem Stück Hoffnung begleitet haben.
Auch nach den Lipobay-Vorfällen im August haben wir
Sie noch mit Nachsicht behandelt, obwohl Ihr Staatssekretär in der Öffentlichkeit eine hemmungslose Kampagne gegen den Hersteller durchgeführt hat.
({31})
Wegen der Vorkommnisse in Amerika haben wir dies
nicht zu einem politischen Thema gemacht,
({32})
aber - das sage ich Ihnen - man hätte daraus sehr wohl ein
politisches Thema machen können.
Sie haben uns enttäuscht. Sie haben viele Menschen,
die Hoffnungen in Sie gesetzt haben, mit jedem Auftritt
- auch heute wieder - enttäuscht. Sie sind weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben. Das hätte ich nicht
für möglich gehalten.
({33})
Sie sind jetzt insgesamt drei Jahre in der Verantwortung. Sie können Ihre drei Jahre Gesundheitspolitik nicht
mehr mit den letzten 30 Jahren deutscher Gesundheitspolitik begründen. Auch Sie persönlich sind bereits lange
Zeit im Amt.
({34})
Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie weiter diesen falschen
Weg der staatlichen Intervention und der ständigen Reglementierungsspirale gehen, dann werden wir Sie persönlich für das, was in der Praxis geschieht, mehr und
mehr zur Verantwortung ziehen.
Verzichten Sie auch auf Ihr Argument bezüglich der
Zuzahlung und der kleinen Leute. Meine Damen und
Herren, ich stehe zu der Erhöhung der Zuzahlung um
5 DM, weil die Bevölkerung in der Praxis erlebt hat, dass
eine Erhöhung der Zuzahlung, von der 20 Millionen Menschen, die ein geringes Einkommen haben, befreit sind,
sozialer ist als eine hundertprozentige Leistungsausgrenzung, wie Sie sie bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen durchgeführt haben.
({35})
Sprechen Sie mit Marianne Koch, die die Schmerzkranken und die Parkinsonkranken Deutschlands vertritt und
die vor kurzem mit diesen Kranken vor die Öffentlichkeit trat. Sie steht bestimmt nicht in dem Verdacht, ein
Anwalt der Union zu sein. Sie hat der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass von den 600 000 Schmerzpatienten in
Deutschland nicht einmal 5 Prozent aufgrund der Arzneimittelbudgets und der Arzneimittelregresse eine adäHorst Seehofer
quate Arzneimittelversorgung erhalten und dass nicht
einmal die Hälfte der Parkinsonpatienten wegen Ihrer
Budgets die notwendigen Leistungen von ihren Ärzten
erhält. Frau Schmidt, das ist die wahre Wirkung Ihrer
Politik und der Budgets. So etwas bewirken nicht 5 DM
mehr Zuzahlung.
({36})
Deshalb rufe ich Sie auf: Korrigieren Sie Ihren Kurs! Ansonsten werden Sie mit uns in den nächsten Monaten noch
viel Freude haben. Sie werden auch noch schlechtere Umfrageergebnisse erhalten, als sie heute schon in den
68 Prozent Unzufriedenheit mit Ihrer Politik zum Ausdruck kommen.
({37})
Ich erteile
das Wort der Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Seehofer, wir müssen uns darüber unterhalten,
ob bei dem Beispiel, das Sie zum Schluss genannt haben,
die Ursachen, die Sie in der Budgetierung ausgemacht zu
haben glauben, wirklich in den Gesetzen oder nicht vielmehr in der Umsetzung der Gesetze begründet liegen. Darauf werde ich später noch einmal zurückkommen.
Die Frau Ministerin hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass sich unsere Bilanz in der Gesundheitspolitik sehen
lassen kann. Ich nenne deshalb hier nur die Stichworte,
die mir besonders wichtig sind: das Thema Hausärzte
stärken, das Thema Qualität und das Thema Selbsthilfe.
Diese Themen haben wir mit der Gesundheitsreform 2000
auf den Weg gebracht, dies werden wir weiter ausgestalten. Trotzdem - daran gibt es keinen Zweifel, nicht in diesem Haus, nicht in der Regierung und auch nicht darüber
hinaus - gibt es weiteren Reformbedarf.
Wir alle wissen, dass es Wirtschaftlichkeitsreserven
gibt. Weil uns die Krankenkassenbeiträge eben nicht egal
sind und weil es uns nicht egal ist, mit welchen Lohnnebenkosten wir konfrontiert sind, sind wir mit der Absicht
angetreten, die Wirtschaftlichkeitsreserven im System zu
mobilisieren. Sie haben uns lange aufgefordert, eine neue
Gesundheitsreform auf den Weg zu bringen. Aber immer
dann, wenn über einen weiteren Schritt diskutiert wird,
sagen Sie, dieser Schritt dürfe es auf keinen Fall sein. So
haben Sie es auch heute wieder in Bezug auf die Arzneimittelverordnung getan. Herr Seehofer, was Sie heute zu
der Therapiehoheit der Ärzteschaft gesagt haben, ist eine
Art von Angstmacherei und Verunsicherung, die überhaupt nicht nötig ist.
({0})
Den Vorschlag, Medikamente, die kostengünstiger
sind, dort zu verordnen, wo dies sinnvoll ist, halte ich für
völlig berechtigt. Das hat nichts damit zu tun, dass den
Ärzten die Therapiehoheit genommen werden soll, wohl
aber damit, dass wir auf die Einsparmöglichkeiten achten.
Genau das haben Sie immer wieder von uns verlangt.
Natürlich kann man nicht sagen, es komme allein auf den
Wirkstoff an. Aber es ist eben auch nicht richtig, dass ein
Medikament nur deshalb besser ist, weil es teurer ist. Insoweit sind wir hier auf einem richtigen Weg.
In der Ausschusssitzung von vor zwei Wochen haben
wir sehr viel über die Finanzierung im Gesundheitssystem
geredet. Ich war über das, was dazu vonseiten der Union
gesagt worden ist, sehr erschrocken. Die Union hat klar
und deutlich in den Raum gestellt, es komme nun darauf
an, dass der Bundeshaushalt für das Gesundheitssystem
in die Pflicht genommen werde. Dies ist wirklich entlarvend.
({1})
All das, was Sie hier und an anderer Stelle über Schuldenabbau und Einsparungen sagen, passt damit ebenso
wenig zusammen wie Ihre Kritik an den jüngsten Steuererhöhungen.
Sie wissen, Herr Lohmann, dass auch ich die Auffassung vertrete, hinsichtlich der versicherungsfremden
Leistungen müsse etwas geändert werden.
({2})
Das hat aber nichts damit zu tun, dass man mehr Geld in
das System geben darf, damit die Versorgung besser wird.
({3})
Sie wissen ganz genau, dass es nicht so ist. Ich bin froh,
dass die von uns begonnene Politik der Verbesserung der
Versorgung, der Qualität und der Patientenorientierung
({4})
nicht damit einhergeht, dass wir auf der anderen Seite
Strukturveränderungen als unnötig abtun, und einfach nur
mehr Geld in das System pumpen.
({5})
Das können wir uns im Übrigen auch deswegen nicht
leisten, weil wir alle wissen - das hat uns der Sachverständigenrat zu Recht noch einmal ins Stammbuch geschrieben
-, dass es in Deutschland auch Unterversorgung gibt.
Diese Unterversorgung ist das entscheidende Thema, das
wir angehen müssen. Wir werden sie nicht angehen, indem wir einfach mehr Geld in das System stecken; vielmehr müssen wir sehr genau hinschauen, an welchen
Punkten Veränderungen notwendig sind.
({6})
Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten
deutlich gesagt, dass es bei den Asthmaerkrankungen
überhaupt nicht darauf ankommt, mehr Geld oder teurere
Medikamente zur Verfügung zu stellen, sondern auf Patientenschulungen. Das ist nicht Aufgabe der Politik, sondern klassische Aufgabe der Selbstverwaltung, die von ihr
nicht angenommen wird. Das trifft auch auf die Problematik der Krebserkrankungen zu. Nicht umsonst sind beispielsweise die Heilungschancen bei einigen Krebsarten
in den USA doppelt so hoch wie in Deutschland. Dieser
Tatsache müssen wir uns stellen.
({7})
- Das hat eben nichts mit den Medikamenten zu tun,
({8})
sondern damit, dass es eine andere Art von Diagnose und
Therapie in Krebszentren gibt.
Wir sollten darüber nachdenken, wie wir sehr schnell
solche Kompetenzbündelungen erreichen können. Es
liegt nicht an der Zahl der Arztbesuche, es liegt nicht an
den Medikamenten, sondern an der Kompetenzbündelung. Ich bin sehr dafür, dass wir solche Fragen wie
die in Deutschland existierende Unterversorgung auf die
Tagesordnung setzen, statt einfach mehr Geld für das bestehende System zu verlangen, wobei wir durchaus die
vorhandenen Strukturen beibehalten sollten.
Sie haben erneut die Budgetierung kritisiert. Sie kritisieren seit der Gesundheitsreform 2000, damit werde eine
Ausgabenbegrenzung vorgenommen. Sie haben aber
selbst - ich erspare Ihnen das auch heute nicht; Hans
Eichel hat es heute Morgen schon einmal gesagt - die Flexibilität innerhalb der Budgetierung durch Ihre Blockade
im Bundesrat verhindert.
({9})
- Natürlich haben Sie damit einen ernsthaften Schritt in
Richtung auf weitere Möglichkeiten der Strukturveränderung verhindert.
({10})
An dieser Stelle gehe ich auf etwas ein, was mir wirklich Sorge bereitet. Über diese Frage müssen wir in der
nächsten Zeit gemeinsam diskutieren, denn sie hat nichts
mit parteipolitischen Auseinandersetzungen zu tun. Wie
Sie wissen, kann ich das nicht aus eigener Erfahrung sagen, weil ich damals nicht im Bundestag war, aber ich
meine, dass auch die Gesundheitspolitik von Horst
Seehofer unter der durch die Selbstverwaltung nicht oder
viel zu langsam erfolgenden Umsetzung der beschlossenen Gesetze litt. Ich halte es für unbedingt erforderlich,
dies auf die Tagesordnung zu setzen - hierzu wird sich der
Sachverständigenrat im nächsten Jahr äußern -, damit es
uns gelingt, zu Veränderungen zu kommen, die dann auch
wirksam werden, weil die Selbstverwaltung tatsächlich in
die Pflicht genommen wird.
Lassen Sie mich zum Schluss eine Anmerkung zu einem Papier machen, das Sie im Zusammenhang mit der
Arbeitsmarktpolitik vorgelegt haben und in dem sich auch
wenige Zeilen zum Thema Gesundheitspolitik finden.
Daran kann man sehr gut erkennen, worin sich Ihre Gesundheitspolitik von der von Rot-Grün unterscheidet.
({11})
Sie haben darin von Transparenz, Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit gesprochen. Das sind sehr wichtige Stichworte. Sie wissen, dass ich viele der damit verbundenen
Gedanken teile. Sie haben aber nicht von der Bedeutung
der Solidarität gesprochen.
({12})
Sie haben nicht davon gesprochen, was sinnvolle Eigenverantwortung und Selbstbestimmung bedeuten.
({13})
Dieses Aufgeben der Solidarität, die man aus diesem Papier erkennen kann, unterscheidet uns. Die FDP redet
überhaupt nur von Wettbewerb.
({14})
Bei Ihnen kommt gar nichts anderes mehr vor; Ihnen geht
es nur um Ökonomie.
Sie können sich darauf verlassen, dass die Gesundheitspolitik von Rot-Grün mit einem vernünftigen
Gleichgewicht von Effizienz und Wettbewerb auf der einen Seite und von Patientenorientierung und Solidarität
auf der anderen Seite fortgesetzt wird und dass wir dafür
- dessen bin ich mir ganz sicher, Herr Seehofer - auch die
Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger bekommen
werden.
({15})
Ich erteile
das Wort nunmehr dem Kollegen Dr. Dieter Thomae für
die Fraktion der FDP.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass
Horst Seehofer es schon vorweg gesagt hat: Diese Politik
ist ein Chaos. Jeden Tag erfahren wir irgendetwas Neues,
was diese Bundesregierung oder diese Koalition unbedingt durchsetzen will.
({0})
Der eine spricht davon, die Hausärzte zu stärken, der Andere fordert den Medikamentenpass, obligatorisch. Und
jeder, der ein bisschen Ahnung hat, weiß, dass dies aus
datenschutzrechtlichen Gründen einfach nicht machbar
ist.
({1})
Ich würde mir wünschen, dass man einmal nachdenkt, bevor man solche Schlagwörter in die Debatte wirft und die
deutsche Bevölkerung verunsichert.
({2})
Jetzt geht es ja weiter, Schlag auf Schlag. Nachdem
man viele Leistungen und finanzielle Mittel dem gesetzlichen System im Krankenversicherungsbereich entzogen
hat, muss man mit aller Macht verhindern, dass die Beitragssätze steigen. Jetzt geht es los, jetzt hat man wieder
die Arzneimittel entdeckt und beginnt erneut, träumerische Ideen zu verbreiten. Man glaubt, man könne die Therapiefreiheit einfach so in andere Hände legen.
Ich sage Ihnen, Frau Ministerin: Was Sie betreiben, ist
organisierte Verantwortungslosigkeit in diesem Bereich.
({3})
Es ist so! - Es ist unverantwortlich, welches Spiel Sie jetzt
mit Arzneimitteln betreiben. Wenn Sie sagen, Sie wollten
auf der einen Seite aut idem in diesen Bereich verlagern, Sie wollten die Rabatte reduzieren
({4})
- meine Damen und Herren, wir wollen die Rabatte spreizen -, dann wissen Sie, dass das für die allgemeine Versorgung in der Bundesrepublik gerade im Flächenbereich
erhebliche Nachteile hat. Da gibt es überhaupt keine Diskussion.
({5})
Dann soll jetzt auch noch der Bundesausschuss entscheiden. Meine Damen und Herren, wir setzen Experten
ins Arzneimittelinstitut, die über viele Jahre hinweg überprüfen, ob Arzneimittel keine Nebenwirkungen haben
und keine Probleme bereiten. Und jetzt soll ein Bundesausschuss - man muss sich einmal die Zusammensetzung
ansehen - auch noch entscheiden, welche Arzneimittel
genutzt werden können. Es ist unglaublich, welchen
Schwachsinn Sie in die Diskussion werfen.
({6})
Ich begreife Sie einfach nicht und verstehe nicht, wie verantwortliche Politiker aus Ihren Reihen,
({7})
die diese Probleme seit vielen Jahren kennen, so etwas
mitmachen können.
Es gibt ja noch weitere Probleme. Von der Ministerin
wird davon gesprochen, die Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland im ambulanten Bereich und im stationären Bereich - sei ideal. Gehen Sie einmal in die
neuen Bundesländer! Ich nenne Ihnen nur Brandenburg.
Da gibt es Allgemeinpraxen, die seit über einem Jahr
leer stehen und für die sich kein Nachfolger findet. Das
Problem wird sein: Wir werden in einem Jahr oder in
zwei Jahren nennenswerte Arztprobleme in dieser Republik haben. Dafür gibt es heute schon massive Kennzeichen in der Form, dass an den Kliniken zu wenig junge
Ärzte sind. Was tun Sie? Nichts tun Sie! Sie zerstören
ganz bewusst die freiheitlichen Strukturen in unserem
System.
({8})
In Brandenburg können wir Ihnen Praxen zeigen, die
nicht besetzt werden. Was machen Sie da? Nichts! Das ist
für Sie selbstverständlich. Das liegt auch an dem Honorierungssystem, das Sie in den letzten Jahren etabliert haben.
({9})
Wir sind für DRGs, aber ich sage Ihnen auch: Ich mache mir Sorgen, wie im Laufe Ihrer Politik die DRGs verändert werden. Sie bekommen unsere Zustimmung nur
dann, wenn Sie die DRGs so organisieren, dass daraus ein
echtes Preissystem wird, dass die Budgetierung fällt.
Sonst können wir das nicht machen.
Ganz wichtig ist auch, dass die Hochschulmedizin bei
den DRGs nicht vor die Hunde geht. Auch dies ist ein
wichtiger Bereich, der beachtet werden muss. Hier habe
ich noch viele Bedenken und Vorbehalte, aber ich denke,
wir werden in den Beratungen noch weiter über dieses
Thema sprechen.
Lassen Sie mich bitte noch einen Punkt außer der Ärzteproblematik ansprechen, der mir sehr am Herzen liegt.
Das ist die Pflegeproblematik. Wir haben heute schon
Kliniken und Altenheime, die teilweise oder ganz geschlossen werden müssen, weil wir keine Pflegekräfte
mehr haben. Frau Ministerin, ich denke, Sie haben auch
die Aufgabe, mit den Verbänden und Organisationen eine
Imagekampagne in diesem Bereich zu starten. Sonst werden wir dramatische Entwicklungen erleben.
({10})
Ich fordere Sie auf, endlich Ihre Funktion und Ihre Aufgaben in diesem Bereich wahrzunehmen.
Ich bin pessimistisch, dass Sie unser Gesundheitssystem wirklich weiter organisieren können. Sie haben bisher voll versagt.
({11})
Nun spricht
für die Fraktion der PDS die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Für uns ist es keine Überraschung, dass auch
dieser Haushalt im Zeichen der Spar- und Konsolidierungspolitik steht. Massiv davon betroffen sind die gesetzliche Krankenversicherung und das Gesundheitswesen. Um die Neuverschuldung des Bundes abzubauen,
bedient sich leider auch diese Regierung kräftig aus den
Beitragseinnahmen der Krankenkassen. Und niemand hat
den Mut, das zu korrigieren.
Festgehalten werden muss auch, dass es - mit Ausnahme der Arzneimittelkosten - nicht die Ausgabenentwicklung ist, die für die aktuellen Finanzprobleme der
GKV verantwortlich ist. Beim Arzneimittelbudget hat die
Ministerin den Fehler gemacht, Restriktionen aufzuheben, ohne ein sinnvolleres Steuerinstrument zu etablieren.
Jetzt bemüht sie sich um eine Begrenzung der Medikamentenkosten. Das halten wir für richtig, auch wenn man
sich über die einzelnen Vorschläge durchaus streiten kann.
Nur, Frau Ministerin, das allein wird den politischen
Druck nicht abbauen, unter dem Sie wegen der drohenden
Beitragserhöhungen stehen.
So zeigen die jüngsten gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen, dass die Privatisierer von Gesundheitskosten wieder auf breiter Front gegen die solidarische
Krankenversicherung angetreten sind. Aus der Erfolglosigkeit der bisherigen Kostendämpfungsgesetze wird jetzt
abgeleitet, dass das ganze System radikal umgebaut werden muss. Am lautesten kommt dieser Ruf aus dem Arbeitgeberlager, begleitet von der rechten Seite dieses Hauses. Dem Umbau soll vor allem eine Marktradikalität
zugrunde liegen. Genau das halten wir für grundfalsch,
weil damit die soziale Funktion des Gesundheitswesens
völlig verloren geht.
({0})
Verlangt wird von den Rufern, dass es möglichst sofort
zu einer neuen großen Gesundheitsreform kommt. Ein
solches Vorhaben, soll es Sinn machen, muss natürlich tief
in die Strukturen und Anreizsysteme des Gesundheitswesens eingreifen. Das aber bedarf selbstverständlich sorgfältiger Vorbereitung. Doch darum geht es anscheinend
nicht. Ziel ist vielmehr, einen möglichst schnellen und
deutlichen Schub bei der Privatisierung des Krankheitsrisikos zu erreichen. Das ist die nackte Wahrheit, die hinter
den ständigen Rufen nach mehr Eigenverantwortung,
nach Grund- und Wahlleistungen und mehr Wettbewerb
im Gesundheitswesen stecken.
Natürlich, der Wettbewerb um bestmögliche medizinische Qualität und höhere Effektivität im Gesundheitswesen ist sinnvoll. Allerdings wird gefordert, jeder Kasse
das Recht zu geben, mit ausgewählten Krankenhäusern
und Ärzten einzeln Verträge abzuschließen. Das heißt, einen ökonomischen Wettbewerb auch auf die Leistungserbringer auszudehnen. Wer Einkaufsmodelle favorisiert,
sollte aber offen sagen, was er damit bezweckt und was
die Folgen sind. Erstens. Der für die Versicherten prinzipiell mögliche Zugang zu allen Versorgungseinrichtungen
würde aufgegeben. Zweitens. Die Krankenhäuser und
Ärzte würden in einen Preisunterbietungswettbewerb gezwungen, der zu wachsenden Abstrichen in der medizinischen Qualität führen muss. Drittens. Die Kassen werden
früher oder später bestrebt sein, Einfluss auf die unmittelbare Behandlung ihrer Versicherten zu nehmen.
Regel- und Wahlleistungen - meine Damen und Herren von der rechten Seite, da können Sie reden, was Sie
wollen - bedeuten die Abkehr vom Prinzip einer sozialen
Krankenversicherung, das jedem Mitglied im Bedarfsfall
alle notwendigen Leistungen zur Verfügung stellt. Die offene Zweiklassenmedizin lässt grüßen. Um das zu verhindern, halten wir es für umso wichtiger, dass die Sozialdemokraten in all diesen Fragen wieder mit einer Zunge
sprechen.
({1})
Nicht einzelne Politikerinnen und Politiker - wie Sie
heute wieder, Frau Minister, was uns freut -, sondern Ihre
Partei selber muss den Menschen, und zwar noch vor den
Bundeswahlen, sagen: Dieser Weg, den ich eben vorgezeichnet habe, wird es mit der SPD nicht geben.
({2})
Nun zur neuen Krankenhausvergütung: Sie, Frau
Minister, sagen, das sei eine gute Sache. Ich wünsche
mir das von Herzen, nur leider scheint das nicht so zu
werden. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wer Fallpauschalen einführt und damit zu einer prospektiven Finanzierungsform übergeht, verlagert das finanzielle Risiko
von der Versicherung allein auf die Leistungserbringer.
Das hat nach allen internationalen Erfahrungen auch
gravierende Folgen für das medizinische Handeln der
Ärzte und Schwestern. Außerhalb der Krankenhäuser
entsteht neuer Behandlungs- und Pflegebedarf. Das alles
bleibt in der Diskussion bisher weitgehend unberücksichtigt.
In den Beratungen zum Gesetzentwurf werden wir uns
deshalb dafür einsetzen, dass die Versorgungsqualität für
Patienten und Pflegebedürftige sowie angemessene Arbeits- und Tarifbedingungen in den Krankenhäusern nicht
unter die Räder kommen.
({3})
Der heute auch vorgelegte Gesetzentwurf zur Leistungsverbesserung für bestimmte Pflegebedürftige geht
ohne Frage in die richtige Richtung. Aber auch er bleibt
sowohl im Leistungsumfang als auch in der konkreten
Ausgestaltung Stückwerk. Auch hier werden wir die Einzelheiten in den Ausschüssen beraten. Ich hoffe, dass wir
aus dem Stückwerk für die zu Pflegenden ein gutes Gesetz machen können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Dr. Martin Pfaff für die Fraktion der
SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder, aber auch jeder seriöse Gesundheitspolitiker und vor allem die Fachleute wissen:
Wenn Ausgabendruck besteht, gibt es letztlich nur vier
Wege, um ihm zu begegnen. Man kann erstens die Beitragssätze steigen lassen. Das wollen wir aber weder den
Erwerbstätigen noch den Arbeitgebern zumuten.
({0})
Die zweite Möglichkeit wäre, die Zuzahlungen steigen zu
lassen. Das ist die Faust aufs Auge. Wir haben sie am Anfang der Wahlperiode gesenkt; das kann keine Lösung sein.
Die dritte Möglichkeit ist die Leistungsausgrenzung. Darüber hinaus könnte man noch ein wenig Camouflage betreiben und die Bürgerinnen und Bürger zu täuschen versuchen, indem man von Wahl- und von Regelleistungen
spricht. Aber auch das ist im Endeffekt eine Auslagerung
von Leistungen. Nur diejenigen können diese Wahlleistungen bezahlen, die mehr DM oder Euro in der Tasche haben.
Und es gibt viertens den Weg der Einsparungen.
Herr Seehofer, Sie haben mit Stolz auf die Beitragssätze am Ende der letzten Legislaturperiode hingewiesen.
Auch Ihre Kollegen haben öfter auf den Überschuss des
Jahres 1998 aufmerksam gemacht. Ich sage Ihnen: Wer
Ausgaben durch Zuzahlungen und Leistungsausgrenzungen auf die Alten und Kranken verlagert, wer den Weg der
Privatisierung geht, der bekommt wie Sie 1998 zu Recht
die politische Quittung für einen solchen Weg.
({1})
Sie haben selbst zugestanden, dass dies ein Grund war,
weshalb Sie die Wahl verloren haben. Das war ein viel
deutlicheres Zeichen des Missbehagens der Bevölkerung
über die Gesundheitspolitik als die Umfrage, die Sie heute
zitiert haben.
({2})
Sie haben der Gesundheitsministerin Schmidt beispielsweise vorgeworfen, dass sie jetzt eine Preisabsenkung um 5 Prozent vorsieht.
({3})
- So habe ich Sie zumindest verstanden. Dann ist es eben
in Ihrer Gruppe gefallen. Ich frage Sie, Herr Seehofer, haben Sie in Ihrer Amtszeit eine Absenkung um 5 Prozent
durchgesetzt, ja oder nein?
({4})
- Dann ist es ja gut. Dann sind Sie in dieser Geschichte
auf unserer Seite. Das möchte ich festhalten. Ich hoffe,
dass Sie es auch in Zukunft nicht sagen können.
Das, was Sie, Herr Seehofer, zur Therapiefreiheit gesagt haben, hat mich enttäuscht. Ich hätte von Ihnen schon
ein höheres Niveau erwartet.
({5})
Wir wissen, dass das, was der Arzt verschreibt, gemäß
medizinischer Indikation und nach sonst gar nichts zu erfolgen hat. Ich frage Sie: Wo ist die Therapiefreiheit eingeschränkt, wenn ein Arzt ein Arzneimittel einer bestimmten generischen Art verschreibt, weil es angebracht
ist, und der Apotheker - es werden übrigens heute schon
bei 25 Prozent der Rezepte Kreuzchen gemacht -, anhand
dieser Verschreibung ein günstigeres Arzneimittel wählt?
Das kann ich wirklich nicht erkennen. Ich kann das beim
besten Willen nicht erkennen.
({6})
Wenn Sie die Argumente wiederholen, ist das eine bewusste Täuschung der deutschen Öffentlichkeit.
Ich komme jetzt auf den Kassenrabatt zu sprechen, da
muss ich Dieter Thomae erwähnen, der sagte: Sie zerstören die freiheitlichen Strukturen in unserem System.
Ich frage: Sind Monopol- oder Oligopolpreise, sind oligopolistische Strukturen wie im Pharma- und Apothekerbereich, die durch gesetzgeberisches Handeln bestimmt
werden, Ausdruck der Freiheit in unserem System?
({7})
Ich meine nicht. In keinem anderen Bereich unserer
Volkswirtschaft würden Sie solche Preisstrukturen dulden
- die wenigen Ausnahmen wie die Landwirte und Ähnliche will ich nicht angehen -, Sie würden vielmehr die
Einsparungen fordern, die diese Bundesregierung vornimmt. Sie hat nämlich festgestellt, dass Einsparungen
möglich sind; und wenn es Einsparungsmöglichkeiten
gibt, dann müssen sie auch genutzt werden.
Sie haben der Ministerin gesagt - das hat mich besonders überrascht -, Sie seien die ganze Zeit sehr nachsichtig gewesen. Herr Seehofer, wir waren am Anfang Ihrer
Amtszeit mit Ihnen nicht nur nachsichtig, sondern haben
Sie auch tatkräftig unterstützt. Das müssen Sie zugestehen. Das sage ich nicht nur, um Punkte bei Ihnen zu sammeln. Wir haben Ihre Konzepte - ich nenne nur die Lahnstein-Reform - nach bestem Wissen verbessert. Wir haben
die Entscheidungen zusammen getroffen. Jetzt der Ministerin zu sagen, man sei angesichts dessen, was sie getan
hat, noch nachsichtig mit ihr gewesen, finde ich nicht
richtig. Wenn ich die Haltung Ihrer Partei in der Frage des
Risikostrukturausgleichs sehe, dann frage ich: Wo bleibt
Ihre Glaubwürdigkeit, wenn Sie behaupten, dass Sie an
den Fehlentwicklungen, die wir gemeinsam zu verantworten haben - 90 Prozent der Abgeordneten dieses Parlaments haben das von Ihnen jetzt kritisierte Gesetz verabschiedet; wir haben es also gemeinsam beschlossen -,
keine Schuld hätten? Mit welchem moralischen Anspruch
können Sie der Bundesministerin jetzt solche Vorhaltungen machen?
({8})
Sie haben wieder auf das Budget hingewiesen. Das
scheint für Sie die Zauberformel zu sein, mit der man alle
Argumente der anderen Seite entkräften kann. Ich frage
Sie: Steht in Norbert Blüms Gesundheitsreformgesetz etwas von Beitragssatzstabilität? Wird mit dem Gesundheitsstrukturgesetz Beitragsstabilität angestrebt, ja oder
nein? Die Antwort auf beide Fragen lautet: Ja! Wie soll Beitragssatzstabilität gewährleistet werden? Sie kann nur gewährleistet werden, wenn die Ausgaben im Gesundheitswesen nicht stärker steigen als die Löhne, auf deren
Grundlage die Beiträge zur Krankenkasse bemessen werden. Das Gebot der Beitragssatzstabilität führt zu nichts anderem als zur Begrenzung der Ausgaben entsprechend der
Höhe der Einnahmen. Das haben Sie damals, als Sie an der
Regierung waren, auch so dargestellt. Jetzt sind Sie in der
Opposition und nun scheint das alles nicht mehr zu gelten.
({9})
Ich sage dazu: Wer im Glashaus sitzt, der sollte wahrlich
nicht mit Steinen werfen.
({10})
Noch ein anderer Punkt: Wenn Sie Einsparungen nicht
realisieren, wie wir das tun wollen, und die Beiträge angeblich auch nicht steigen lassen wollen - das wollen wir
alle nicht -, dann sollten Sie, lieber Herr Seehofer, den
Frauen und Männern in diesem Land sagen: Wir von der
CDU/CSU und FDP wollen, dass eure Zuzahlungen und
eure Beiträge steigen, und zwar wegen Kapazitäten, die
über den Bedarf hinausgehen. Aber dazu fehlt Ihnen sicherlich der politische Mut; denn Sie wissen, dass Sie
dann im nächsten Jahr die gleiche Quittung wie 1998 bekommen werden.
Wir wissen, dass Beitragssatzdruck im System besteht. Wir wissen, dass dies die Konsequenz aus mehreren
Faktoren bzw. Verschiebebahnhöfen ist, die Sie und auch
wir - das sage ich ganz offen - zu verantworten haben. Sie
haben nach Schätzung der Krankenkassen ein Defizit von
66 Milliarden DM - das entspricht, hochgerechnet auf
dieses Jahr, in etwa einem halben Beitragssatzpunkt - zu
verantworten. Auch die jetzige Bundesregierung musste
- das kann doch wirklich keinen Gesundheitspolitiker beglücken - Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen ergreifen; denn Sie haben uns - das haben Sie vorhin nicht erwähnt - einen hohen Beitragssatz und einen Schuldenberg
im fiskalischen Haushalt in Höhe von 1,5 Billionen DM
hinterlassen. Glaubt denn irgendeine oder irgendeiner in
diesem Hohen Hause, dass zum Beispiel die Reform der
Rente und anderes geschehen wäre, wenn wir keine Sparmaßnahmen zur Haushaltskonsolidierung hätten ergreifen müssen? Das kann doch niemand ernsthaft glauben.
Das ändert natürlich nichts daran, dass es sich um Verschiebebahnhöfe gehandelt hat. Aber sie müssen auch im
Lichte ihrer Hinterlassenschaft gesehen werden. Daran
muss man gar nicht lange herumdeuteln.
Sie haben aber jetzt eine Chance, der staunenden Öffentlichkeit zu zeigen, wie konstruktiv Sie in der Opposition sein können, indem Sie nichts anderes tun als das,
was wir während Ihrer Amtszeit, lieber Herr Seehofer, getan haben: Wir haben Sie bei Ihrem Gesetz, mit dem Sie
die Finanzen der GKV-Ost stärken wollten, unterstützt.
Wir haben Sie unterstützt, als die CSU in Bayern und die
CDU in Baden-Württemberg Sie im Regen hat stehen lassen. Obwohl wir in der Opposition und die Fronten damals verhärtet waren, haben wir gesagt: Es ist gut und
richtig, dass wir etwas für die Menschen in den neuen
Ländern tun; wir werden Herrn Seehofer trotz allem unterstützen! Wir haben es auch getan. Wo bleibt Ihr Beispiel heute, wenn es um die RSA-Reformen geht?
({11})
Das ist doch nichts, was wir erfunden haben. Wir haben
das gemeinsam zu verantworten. Wo bleibt Ihr Verantwortungsgefühl in diesem Bereich?
Ihr Versuch, irgendetwas gegen die Regierungskoalition zu finden, ist legitim. Es ist irgendwie nachzuvollziehen, dass Sie immer wieder auf die Ladenhüter zurückkommen, wenn Ihnen gute Argumente fehlen. Ich will
daher gnädig sein und nicht zu hart mit Ihnen ins Gericht
gehen. Aber glauben Sie doch nicht, dass irgendjemand in
deutschen Landen annehmen wird, dass die Folgen für die
Beitragssatzentwicklung, die wir jetzt spüren, systembedingt, also eine zwingende Konsequenz aus Fehlelementen unseres Systems, sind. Diese Entwicklung ist die
Folge einer fehlerhaften Politik. Teilweise haben wir sie
von Ihnen als Erblast übernommen, teilweise haben wir
diese fehlerhafte Politik fortgesetzt.
({12})
Wir werden uns nicht beirren lassen. Wir bleiben bei
den Grundprinzipien einer sozialen Krankenversicherung. Auch in Zukunft wird jeder Mann, jede Frau und jedes Kind Leistungen nach dem Bedarf - nur danach, nicht
nach dem Umfang der Geldbörse - erhalten.
({13})
Auch in Zukunft wird es so sein, dass diejenigen mit breiteren Schultern eine schwerere Last zu tragen haben.
({14})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Hans Georg
Faust.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Jahren hat
Frau Ministerin Fischer mit dem Gesetz zur Reform der
gesetzlichen Krankenversicherung - das Wort Reform
streiche ich - versucht, die in der Bundesrepublik gewachsene Krankenhauslandschaft gewissermaßen einzudampfen. Vieles ist damals - Sie erinnern sich: monistische Krankenhausfinanzierung, Krankenhausplanung in
Krankenkassenhand - im Bundesrat gescheitert. Übrig
geblieben ist die Einführung eines neuen Entgeltsystems
für die stationären Leistungen der Krankenhäuser ab dem
1. Januar 2003. Allen Kennern der Materie ist die Brisanz
dieser Grundsatzentscheidung bewusst. Zunehmend wird
auch den Beteiligten klar, dass die Einführung der DRGs
in Deutschland einer Revolution im Krankenhaussektor
gleichkommt, von der alle im und um das Krankenhaus
betroffen sein werden.
Die Geschichte kennt blutige und auch friedliche
Revolutionen. Die Steuerung ist immer schwierig und das
Ende immer ungewiss. Was die komplette Umstellung des
Entgeltsystems angeht, wissen wir zwar im Jahr 2003,
spätestens 2004, welche Krankenhäuser in dem dann vielleicht fertigen System gute, schlechte oder gar keine Überlebenschancen haben; die harten Folgen werden aber
gleich danach, in den folgenden Konvergenzjahren, einsetzen.
Sie, Frau Ministerin Schmidt, transplantieren jetzt ein
wettbewerbsorientiertes, scharfes Preissystem in ein von
Budgets und sektoralen Abgrenzungen geprägtes, in den
letzten Jahren zunehmend reguliertes und von Ankündigungen gestütztes Gesundheitssystem. Diese Operation
- das garantiere ich - werden viele kleine Krankenhäuser
in der Fläche dann mit Sicherheit nicht überleben, wenn
die Einführung der Fallpauschalen nicht in einen Gesamtreformansatz eingebunden ist.
({0})
- Ich bin immer ein netter Mensch, auch jetzt.
Drei wesentliche Rahmenbedingungen stimmen nicht,
Frau Ministerin:
Erstens. Der Zeitplan ist vollkommen durcheinander
geraten. Die aus Prestigegründen beibehaltene, mittlerweile nur teilweise vollzogene Einführung eines australischen Systems schon 2003 führt zu überflüssigen
Bindungen von Kapazitäten in vielen Bereichen, insbesondere - das wissen Sie genau - im Softwarebereich. Ein
Jahr budgetneutrale Anpassung für alle Häuser im
Jahr 2004 und auch die Konvergenzphase sind zu kurz.
Von einer Konvergenzphase für die Krankenkassen, die
sich bei unterschiedlichen Ausgangsbedingungen ebenfalls anpassen müssen, und von dem dann auftretenden
Mischmasch zwischen Konvergenzphase der Krankenhäuser und Konvergenzphase der Krankenkassen spricht
überhaupt niemand.
Zweitens. Die Einbettung in das Gesamtsystem ist
nicht vorbereitet. Ein erklärtes Ziel der Fallpauschalen ist,
die Verweildauer in den Krankenhäusern zu verkürzen.
Wenn das geschieht, dann verdichten sich die Krankenhausleistungen und der Anreiz ist groß, durch Abbau
von Kosten - das ist ja teilweise gewünscht - Qualität zu
sparen. Die Patienten werden durch ein neues Entgeltsystem nicht gesünder. Wer schon eine personalbelastende Leistungsverdichtung in Kauf nimmt, muss wenigstens erklären, wie die vor- und nachgeschalteten Bereiche,
der Reha-Sektor und insbesondere die niedergelassene
Ärzteschaft, die dann nicht mehr im Krankenhaus erbrachten Leistungen abdecken sollen. Der Hinweis auf
das Budgetablösungsgesetz hilft da wenig; denn Richtgrößen mit Regressdrohungen wird es auch in Zukunft geben. Das prophezeie ich Ihnen.
Drittens. Die Krankenhausplanung stimmt mit der
neuen Krankenhauslandschaft nicht überein. Wie Sie,
Frau Ministerin, die sich dann an Entgelten orientierende
Krankenhausentwicklung mit der von den Ländern zu
verantwortenden Kapazitätsplanung abgleichen wollen,
bleibt mir ein Rätsel. Ökonomische Wirklichkeit und
Sicherstellungsvorstellungen der Länder werden weit
auseinander klaffen. Auch der von Ihnen zugesagte Kitt
der Zuschlagsvereinbarung wird diese Spalten nicht füllen können.
Alles in allem: eine evolutionäre Weiterentwicklung
des Fallpauschalensystems - ja. Das kann auch mit dem
Ziel einer weitgehenden Abdeckung von Diagnosen und
Prozeduren geschehen, aber bitte in einem angemessenen
Zeitrahmen, unter Berücksichtigung des gesetzlichen
Auftrags der Länder und vor allem, Frau Ministerin, eingebettet in eine Gesamtreform des Gesundheitswesens.
Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Klinische Experimente, die die Krankenhauslandschaft
weitgehend unkontrolliert zerschlagen und die wohnortnahe Versorgung gefährden, sind mit uns nicht zu machen.
({1})
Ich erteile
nunmehr dem Kollegen Horst Schmidbauer für die Fraktion der SPD das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon auffallend: Wenn in Deutschland über DRGs geredet wird,
will niemand mehr zurück. Es ist auffallend, dass niemand
mehr eine Bezahlung nach belegten Betten haben will.
Die Menschen wollen, dass auch in Deutschland nach
Leistung bezahlt wird. Es ist auffallend: Wenn über DRGs
diskutiert wird, werden keine wirklichen Alternativen zu
dem aufgezeigt, was wir jetzt einleiten werden.
Es ist aber auch klar - das dürfen wir dabei nicht verkennen -, dass mit der Einführung der DRGs ganz entscheidende Weichenstellungen stattfinden. Die Ministerin
hat heute deutlich gesagt: Was den Krankenhaussektor angeht, steht die umfassendste Reform im Gesundheitswesen vor uns. Es geht daher bei vielen Betroffenen eine Art
Angst um. Wenn wir aber unsere Werte von einer ganzheitlichen Krankenbehandlung sichern und befördern,
überwinden wir die Ängste auch bei denjenigen, die vor
den Entscheidungen stehen.
({0})
Unser Gesetz zur Einführung des diagnoseorientierten
Fallpauschalensystems für Krankenhäuser steht erstens
für eine umfassende Patientenorientierung, zweitens für
eine umfassende Mitarbeiterorientierung, drittens für eine
umfassende Qualitätssicherung und viertens für eine umfassende Effizienzverbesserung.
({1})
Erstens. Für umfassende Patientenorientierung
steht: Der Patient rückt jetzt in den Mittelpunkt. Die
Struktur und die Betriebsabläufe orientieren sich absolut
an den Bedürfnissen der Patienten; denn Krankenhäuser
arbeiten in Zukunft nur dann wirtschaftlich, wenn sie die
Betriebsabläufe patientenorientiert einführen. Dann ist
der Patient gleichzeitig der Gewinner.
Zweitens. Für umfassende Mitarbeiterorientierung
steht: Der gerechte Preis für die Leistung rückt in den Mittelpunkt. Die Leistung der Mitarbeiter wird transparent.
Diese Transparenz schafft mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung von Ressourcen in Krankenhäusern. Schauen wir
einmal nach Hamburg und woandershin: Selbst Verantwortungsträger, die diesem Vorgehen kritisch gegenüber
standen, sind davon überzeugt, dass mit DRGs mehr Gerechtigkeit innerhalb der Krankenhäuser eingeführt wird.
({2})
Damit aber das Geld der Leistung folgen kann, müssen
wir eine gerechte Vergütungsform schaffen. Das neue
Entgeltsystem gleicht die individuelle Leistung am Patienten ab. Es differenziert nach Diagnosen, nach Schweregrad, nach Alter und Begleiterkrankung und sorgt für eine
gerechte Bezahlung. Auch die individuelle Belastung der
Beschäftigten durch den Versorgungsauftrag eines Krankenhauses wird durch Zu- und Abschläge gerecht ausgeglichen. Krankenhäuser, die ausbilden, werden nicht mehr
bestraft. Durch einen von allen Krankenhäusern gespeisten Ausgleichsfonds werden diejenigen Krankenhäuser
Geld erhalten, die zukünftig ausbilden.
Drittens. Für umfassende Qualitätssicherung steht:
Die Qualität der Versorgung des Patienten rückt in den
Mittelpunkt. Zur Sicherstellung der Versorgungsqualität
wird der Medizinische Dienst der Krankenkassen erweiterte Rechte bekommen. Damit wird gewährleistet, dass
Patienten nicht vorzeitig entlassen werden, dass im Krankenhaus kein Drehtüreffekt entsteht und dass nicht falsch
abgerechnet wird. Dazu schaffen wir eine Qualitätssicherung mit Biss. Denn nur mit finanziellen Sanktionen kann
man eine Wirkung erreichen. Wenn ein Krankenhaus vorsätzlich zu hohe Rechnungen gestellt hat, ist anstelle des
Differenzbetrages der doppelte Differenzbetrag zurückzuzahlen.
Viertens. Für umfassende Effizienz steht: Die Wirtschaftlichkeit rückt in den Mittelpunkt. Das Gesetz
zwingt Krankenhäuser zu einer besseren Prozess- und Patientenorientierung. Unnötig lange Liegezeiten werden
vermieden. Es wird nicht mehr so sein, dass am Freitag
die Einweisung in ein Krankenhaus erfolgt und am Montag die Behandlung beginnt. Diese Dinge werden der Vergangenheit angehören.
({3})
Die Krankenhäuser, die schon heute gut arbeiten, werden
gewinnen. Die Krankenhäuser, die eher schlampig geführt sind, werden sich wandeln müssen. Mit einer verbesserten Effizienz - darauf sind wir dringend angewiesen - werden wir in Deutschland vom letzten Platz, was
Verweildauer und Bettenzahl angeht, zumindest wieder
auf einen mittleren Platz innerhalb der OECD-Staaten
vorrücken.
Was wir mit Patienten- und Mitarbeiterorientierung,
mit Qualitätssicherung und Effizienz erreichen wollen, ist
deutlich geworden. Wir haben uns auf dem Weg dahin für
ein lernendes System entschieden.
({4})
Die eine Seite des lernenden Systems ist: Die Krankenhäuser lernen, mit dem neuen Vergütungssystem umzugehen. Keinem Krankenhaus wird die Neuregelung übergestülpt. Der Wandel geht vielmehr Schritt für Schritt vor
sich.
({5})
Die Umstellung erfolgt in drei Phasen. Voll eingeführt
und voll angewendet wird das neue Vergütungssystem ab
dem 1. Januar 2007. Ich weiß nicht, wie bei einer Einführungszeit von fünf Jahren ein Zeitplan durcheinander
geraten kann. Wir werden vielfach gefragt:
({6})
Seid ihr verrückt? Warum braucht ihr denn fünf Jahre, um
ein Vergütungssystem einzuführen? Das muss doch auch
in kürzerer Zeit erreicht werden können.
({7})
- Gehen wir einmal zusammen in Ihre Heimat, Herr
Thomae. Dann können wir das feststellen. Ich werde Ihnen im Anschluss gerne sagen, welche Krankenhäuser
diese Frage gestellt haben. Viele wollen dieses neue Vergütungssystem nämlich lieber morgen als übermorgen.
({8})
Die zweite Seite des lernenden Systems ist: Auch die
Politik lernt mit dem neuen System. Die daraus gewonnenen Erfahrungen finden vor 2007 Eingang in ein Folgegesetz.
Lassen Sie mich beim Leitbild des lernenden Systems
bleiben, wenn ich zur Pflege und zu unserem Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz überleite. Gelernt haben wir,
dass die Pflege um die Betreuung für demenzkranke Menschen ergänzt werden muss. Gelernt haben wir, dass es für
die Dementen nicht die Lösung gibt. Gelernt haben wir,
dass wir eine Palette von Angeboten, ein Angebot unterschiedlicher Bausteine, brauchen.
({9})
Wir brauchen Bausteine, die sich kombinieren lassen, sodass sie der individuellen Situation der Erkrankten und ihrer Angehörigen gerecht werden.
Bekanntlich durchläuft die Demenz drei Phasen. Jede
Phase führt sowohl bei den Betroffenen als auch bei den
Angehörigen zu anderen Bedürfnissen, zu anderen Erfordernissen. Anneliese Heyde, die in Baden-Württemberg
eine Betreuungsgruppe für Demente leitet, hat es so formuliert:
Mein Mann war zehn Jahre demenzkrank. Ich habe
ihn in den ersten Jahren durch die Krankheit begleitet. Die folgenden Jahre waren von Versorgung bestimmt.
- Das ist also die zweite Phase: Es ging darum, da zu sein.
Die letzten drei Jahre waren von Pflege rund um die
Uhr geprägt.
Das sind diese drei Phasen. Vor allem für die ersten
zwei Phasen schaffen wir niedrigschwellige Angebote,
die die betroffenen Familien entlasten. Somit ist es der
Bezugsperson für die Dauer von zwei oder drei Stunden
möglich, einen Arzttermin wahrzunehmen, zum Friseur
zu gehen oder auch, wenn es notwendig ist, den Nachtschlaf nachzuholen, den sie nicht hatte.
({10})
Oft erleichtern gerade diese niedrigschwelligen Angebote
den pflegenden Angehörigen den für sie schweren Schritt,
erstmals Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen.
Horst Schmidbauer ({11})
Aber mit Betreuungsgruppen wird auch den Pflegebedürftigen nachhaltig geholfen. Den Pflegebedürftigen
wird in der Entlastungsphase der Angehörigen eine Betreuung geboten, die ihnen helfen soll, vorhandene Fähigkeiten zu erhalten oder verloren gegangene Fähigkeiten
wieder zu gewinnen. Damit wird für Demenzkranke und
pflegende Angehörige ein Netz von abgestuften, bedürfnisorientierten, gemeindenahen Hilfen und Versorgungsangeboten geschaffen. Dazu braucht man Menschen, die in die Familie gehen. Wir müssen also viel
mehr Menschen finden, die dazu bereit sind.
Aber auch die Angehörigen verdienen unser Augenmerk, denn die Angehörigen brauchen Beratung und Unterstützung. Sie müssen wissen, was auf sie zukommt. Sie
müssen lernen, dass sie mit der Aggression der Kranken
nicht persönlich gemeint sind; sie lernen damit umzugehen. Deshalb sind im Netz auch Angehörigengruppen und
Selbsthilfegruppen mehr als gefragt.
Aber auch wir wollen mit allen Beteiligten gemeinsam
lernen. Wir wollen lernen, wie die Zukunft am besten gestaltet werden kann. Dazu werden fünf Jahre lang 20 Millionen Euro Jahr für Jahr für Modellvorhaben zur Verfügung gestellt.
({12})
Also, auch die Pflege braucht Pflege. Pflege braucht
neue Versorgungsformen. Pflege muss an die gesellschaftliche Entwicklung angepasst werden. Pflege muss
auf die individuellen Bedürfnisse des Pflegebedürftigen
und seiner Angehörigen ausgerichtet sein. Pflege muss
das Selbstbestimmungsrecht respektieren und stärken. Sie
sehen, wir sind auf dem richtigen Weg.
({13})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Ulf Fink das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Schmidbauer hat
dargetan, was die Regierungskoalition Großartiges für die
Pflegebedürftigen tun will. Ich muss nur darauf hinweisen, dass im Gesetzentwurf der Regierungskoalition und
der Bundesregierung null Verbesserungen - ich wiederhole: null Verbesserungen - für die Dementen in den
Heimen vorgesehen ist.
({0})
Aber gerade dort besteht der allergrößte Bedarf. Fast die
Hälfte der Menschen, die in den Heimen leben, sind dement.
Sie wollen den Leuten zwar ein neues Kontrollgesetz
aufbürden, dadurch werden die Pflegekräfte zusätzlich
mit Bürokratie belastet. Aber eine Hilfestellung geben
Sie ihnen nicht. Sie haben gesagt, jetzt könnten sich
wenigstens diejenigen, die zu Hause sind, die Verwandten, einmal zwei bis drei Stunden am Tag eine Hilfe besorgen. Ich kann Ihnen nur sagen, was das, was Sie vorschlagen, bedeutet. Das bedeutet für ambulant Demente
2,50 DM pro Tag. Versuchen Sie einmal, für 2,50 DM am
Tag irgendjemanden zu finden, der Sie für zwei oder drei
Stunden entlastet. Ich habe das bisher noch nicht gesehen.
({1})
Sie haben schon ein sehr merkwürdiges Verständnis
von Solidarität und Gerechtigkeit. Sie sagen, Sie hätten
kein Geld, um die notwendigen Verbesserungen für die
Pflegebedürftigen, für die Dementen einzuleiten. Aber
Sie hatten das Geld. Nun haben Sie den Krankenkassen
1 Milliarde DM aufgebürdet, weil Sie der Meinung waren, dass die Selbstbeteiligung nicht 9, 11 und 13 DM,
sondern nur 8, 9 und 10 DM betragen soll. Dafür hatten
Sie 1 Milliarde DM, obwohl es Härtefallklauseln, Überforderungsklauseln usw. gibt. Aber hier lassen Sie die
Menschen allein, ohne jede Härtefallklausel, ohne jede
Überforderungsklausel. Was ist denn das für ein Verständnis von Gerechtigkeit?
({2})
Herr Kollege Schmidbauer, möchten Sie antworten?
Ich möchte
den Kollegen nur fragen: Was haben Sie, während Sie Regierungsverantwortung trugen, aus den neuen Erkenntnissen, die Ihnen heute Abend so plötzlich gekommen
sind, an Konsequenzen gezogen? - Fehlanzeige! Null!
({0})
Sie haben wissentlich diese Aspekte außen vor gelassen.
Ich meine, unser entscheidender Vorteil ist, dass wir
lernfähig sind. Wir haben gelernt, dass es für das Problem
der Dementen nicht die Lösung gibt, die teilweise am
Anfang der Diskussion stand, sondern wir haben von den
Angehörigen, den Selbsthilfegruppen, den großen Organisationen gelernt, dass wir dazu eine bestimmte Angebotspalette brauchen. Diese Angebotspalette gilt es jetzt
zu entwickeln. Es ist ein genialer und richtig angelegter
Zug der Ministerin gewesen,
({1})
dass sie dies mit einem 20-Millionen-Euro-Modellprogramm begleitet hat, um die Entwicklung voranzutreiben
und sie wissenschaftlich zu unterstützen, damit wir in
Deutschland die notwendige Erfahrung bekommen, um
entscheiden zu können, welchen Weg wir in den nächsten
Jahren und Jahrzehnten zielorientiert gehen müssen, um
diese schwierige Aufgabe zu erfüllen.
Ich persönlich habe mich am meisten darüber gefreut,
dass unsere Idee, niederschwellige Angebote zu unterbreiten und entsprechende Bausteine einzuführen, mit denen
der Bedarf von den betreuenden Familienangehörigen abgerufen werden kann, gerade bei den Selbsthilfegruppen
auf unheimlich hohe Akzeptanz gestoßen ist.
({2}): Das kam doch gar
nicht von Ihnen! Das war doch gar nicht eure
Idee!)
Horst Schmidbauer ({3})
Die Menschen sind uns dankbar. Wir lassen es nicht zu,
dass Sie dies mies machen. Wir werden in der nächsten
Stufe auch über die Dinge in den Heimen sprechen müssen. Dazu haben wir die ersten Maßnahmen eingeleitet,
auf Qualitätssicherungsaspekte hingewiesen und entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen.
({4}): Aber kein Geld!)
Auch die Heime können - ich denke, das ist möglich - jetzt
auf diese Herausforderungen entsprechend reagieren.
Der Einstieg ist richtig. Die 500 Millionen Euro zusätzlich zu dem Modellvorhaben sind ein angemessener Rahmen. Das zeigt, dass wir es ernst meinen. Ich denke, die
Menschen draußen werden es honorieren, auch wenn Ihnen dazu die Größe fehlt.
({5})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 14/6891, 14/6893 und 14/6949 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/6893
soll zusätzlich an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und an den Verteidigungsausschuss überwiesen
werden. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/6949 soll
zusätzlich an den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend sowie an den Haushaltsausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Einzelplan 17, auf.
Mit Blick auf die angesetzten Fraktionssitzungen bitte
ich darum, auf die Einhaltung der Redezeiten besonders
achten.
Ich gebe das Wort der Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Christine Bergmann.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Lassen Sie mich, bevor ich zu der eigentlichen Haushaltsdebatte komme, noch ein paar Worte sagen.
Die unfassbaren Anschläge in New York und Washington haben - so denke ich - bei uns allen Spuren hinterlassen. Insbesondere für Kinder und Jugendliche ist es
schwer, diese Eindrücke zu verarbeiten und mit diesen
Bildern fertig zu werden. Die vielen Aktionen der Solidarität an den Schulen, in der Jugendarbeit und in den Kitas
und die vielen Gespräche, die Eltern und Erziehungsverantwortliche mit den Kindern führen, um die Angst zu
überwinden, sind auch ein positives Zeichen für das
menschliche Klima in unserem Land.
Ich möchte noch einmal besonders darauf hinweisen,
wie viele Initiativen von Kindern und Jugendlichen ausgegangen sind. Sie haben Wandzeitungen erstellt und
Trauerveranstaltungen organisiert. Ich sage das, weil wir
über diese Generation häufig nicht nur freundlich reden.
Wir müssen auch einmal wahrnehmen, dass Kinder und
Jugendliche in dieser Situation Anteil genommen und versucht haben, Hilfe zu leisten.
Das gilt auch für die vielen Initiativen und Vereine, die
zum Teil auch von uns unterstützt werden. Sie haben vermehrt Angebote für Eltern sowie Erzieherinnen und Erzieher bereitgestellt, um ihnen bei Telefonberatungen und wo
auch immer zu helfen. Wir werden das weiter unterstützen
und in den nächsten Tagen eine Internetseite - aufbauend
auf unsere Akiju-Plattform - bereitstellen, um Möglichkeiten für Eltern und Jugendliche zu bieten, sich auszutauschen. Wir werden dies auch moderieren und das eine oder
andere Informationsmaterial für die Beratungsstellen zur
Verfügung stellen, um diese wichtige Arbeit zu unterstützen. Ich wollte an dieser Stelle auch einmal dafür danken, dass sich diese Menschen, die das meist ehrenamtlich
machen, so schnell mit diesem Thema auseinander gesetzt
haben.
({0})
Familien brauchen Unterstützung - nicht nur in Krisenzeiten. Ich bin froh, dass der Stellenwert von Familien
für unsere Gesellschaft endlich wieder deutlich geworden
ist. Endlich wird deutlich, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Zukunftsfrage für unser Land ist.
({1})
Endlich wird auch deutlich, dass Familienpolitik eine
Aufgabe ist, die Männer und Frauen gleichermaßen angeht, also nicht nur Frauen.
Das Klima für Familien verändert sich in unserem
Land Schritt für Schritt. Das ist nun wirklich das Verdienst
dieser Regierung.
({2})
- Ja, wir waren es. Wir haben die Rahmenbedingungen
für Familien in unserem Land ganz wesentlich verbessert. Ich weiß, dass Sie das nicht gerne akzeptieren, aber
es ist so.
Wir haben in den drei Jahren der Regierungsarbeit die
finanziellen Leistungen für Familien ganz beträchtlich erhöht. Ich will das nicht im Einzelnen aufzählen; es ist
auch heute Morgen schon getan worden. Das kann sich sehen lassen - vom Kindergeld über die Steuererleichterungen, über das Wohngeld bis zum BAföG und was noch alles dazu gehört. Das ist eine beträchtliche finanzielle
Entlastung für Familien, die sie auch bitter nötig haben.
Wir haben das seriös finanziert,
({3})
weil es für Familien auch nicht gut ist, wenn die Schulden
steigen. Das müssen wir uns doch nicht jedes Mal wieder
neu erzählen. Es sind die Familien, es sind die Kinder, die
am Ende die Lasten zu tragen haben.
Horst Schmidbauer ({4})
Deswegen ist auch das, was Sie an finanziellen Leistungen mit Ihrem Familiengeld vorschlagen, so unglaubwürdig.
({5})
Die Menschen wissen, dass es nicht zu finanzieren ist,
außer durch mehr Schulden. Das wollen die wenigsten
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Es ist auch in
sich unausgewogen.
Ich sage es noch einmal, obwohl wir es schon mehrfach
gesagt haben: Das, was Sie mit Ihrem Familiengeld vorschlagen, kommt vor allen Dingen den Besserverdienenden zugute. Denn Familien mit einem geringen Einkommen, die jetzt vom Erziehungsgeld profitieren und
Kindergeld beziehen, haben schon mindestens 900 DM,
mit der Budgetierung haben sie 1 200 DM an Förderung.
Das wollen Sie quasi allen geben, unabhängig von der
Einkommenshöhe. Ich glaube, hiermit kommen Sie bei
den Familien nicht allzu weit.
Wir haben über unsere finanziellen Leistungen hinaus
bessere Rahmenbedingungen für Familien geschaffen.
Das sollten Sie wirklich einmal anerkennen. Frau
Böhmer, ich wende mich jetzt einmal an Sie: Man kann ja
immer schon vorher lesen, was nachher kommen wird.
Das ist nett. Dann kann man sich schon ein bisschen darauf einstellen.
({6})
- Bei mir auch, klar. So ist das.
Sie haben geschrieben, Sie wollen eine familienfreundliche Arbeitswelt. - Na prima! Aber das, was wir
hier schon auf den Weg gebracht haben, haben Sie in gar
keiner Weise unterstützt. Wir haben Familienfreundlichkeit in der Arbeitswelt gesetzlich beträchtlich verbessert.
Denken wir an das Bundeserziehungsgeldgesetz,
({7})
wonach Väter und Mütter zur gleichen Zeit Erziehungsurlaub nehmen können. Denken wir an das Teilzeitgesetz.
Der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit ist natürlich sehr
wichtig für Familien. Was ist wichtiger als dies,
({8})
wenn es darum geht, Familie und Arbeitswelt in Übereinstimmung zu bringen?
Wir haben nicht nur Gesetze gemacht. Wir haben dies
auch ganz kräftig mit Kampagnen begleitet. Im Rahmen
der Väter-Kampagne war ich in vielen Unternehmen unterwegs, um zu versuchen, Familienfreundlichkeit in den Betrieben zu verwirklichen, auch in kleinen. Das ist nicht nur
ein Thema für große Firmen, auch für kleine und mittlere.
Sie ziehen zum Teil prima mit - das muss man auch einmal
sagen -, weil sie in ihren Arbeitskräften auch die sozialen
Wesen und nicht nur die Arbeitskraft sehen. Darum geht es
dabei. Sie sind auch daran interessiert, die gut eingearbeiteten Mütter und Väter im Unternehmen zu halten.
Bei solchen Dingen könnten Sie auch einmal die Größe
aufbringen zu sagen: Okay, das habt ihr gut gemacht, wir
könnten uns vielleicht noch mehr vorstellen, machen wir
es doch gemeinsam!
({9}): Sagen Sie doch einmal etwas
zum Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft!)
Aber so etwas höre ich nicht. Das zeigt natürlich, wie
ernst Sie es mit Ihrem Vorhaben, Familienfreundlichkeit
in der Arbeitswelt durchzusetzen, wirklich meinen. Das
sind schlichtweg leere Worte.
({10})
Das Thema Familienfreundlichkeit spielt natürlich
auch bei der Vereinbarung zur Chancengleichheit in den
Unternehmen eine große Rolle. Ich sage allen Kritikern
und Kritikerinnen dieser Vereinbarung: Lesen Sie sie erst
einmal. Manchmal hilft das schon. Da sieht man, dass
eine Menge darin enthalten ist, womit man richtig etwas
machen kann. Es sind durchaus Vorgaben darin enthalten,
wie Familienfreundlichkeit und Chancengleichheit umzusetzen sind. Es gibt eine Kontrolle. Wir sind im Moment
dabei, die Bestandsaufnahme mit den Unternehmen zu
vereinbaren. Wir haben eine wirksame Kontrolle bis zum
Jahr 2003. Es ist auch klar, was passiert, wenn die Unternehmen sich nicht von der Stelle bewegen. Dafür haben
wir dann das Gesetz; das ist auch klar.
In diesem Bereich können wir durchaus agieren, vor allem auch mit dem, was das Betriebsverfassungsgesetz auf
den Weg gebracht hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie
das Betriebsverfassungsgesetz begeistert begrüßt hätten.
Sich jetzt hinzustellen und zu fragen, warum wir hier kein
Gesetz gemacht haben, und das, was vorhanden ist, permanent herunterzureden, ist auch nicht sehr überzeugend.
({11})
Sie wissen: Wir haben die Quotierung im Betriebsverfassungsgesetz eingeführt. Wir haben sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei den Gewerkschaften - auch die
brauchen manchmal den einen oder anderen Anschub für Regelungen gesorgt, mit denen die Chancengleichheit wirklich vorangebracht wird. Das ist Bestandteil der
Personalplanung. Darüber muss berichtet werden. Die
Arbeitnehmer müssen sich um dieses Thema kümmern.
Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Wenn Ihnen dieses
Thema so sehr am Herzen liegt, dann können wir versuchen, gemeinsam Vorschläge umzusetzen. Darauf kommt
es an.
Ein Satz zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie in
Bezug auf Kinderbetreuung. Ich kann mich an Haushaltsberatungen erinnern, in denen Sie mir immer vorgeworfen haben, ich würde mich allzu sehr um die Erwerbsarbeit von Frauen kümmern. Über dieses Stadium sind wir
hinaus. Um diesen Punkt müssen wir uns aber nach wie
vor kümmern.
({12})
Dass Sie sogar anerkennen, dass die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie ein Thema ist und dass man sich
um die Kinderbetreuung kümmern muss, ist schön. Aber
machen Sie nun endlich etwas in den von Ihnen regierten
Ländern und Kommunen, denn dies ist deren Sache. Wir
haben den Ländern im zweiten Familienfördergesetz, das
von Ihnen sehr gescholten wurde, finanzielle Möglichkeiten eröffnet. Der Bund übernimmt beim Kindergeld einen
höheren Anteil, wodurch 2 Milliarden DM für die Kinderbetreuung an die Länder und Kommunen gehen. Das
haben auch einige Ministerpräsidenten anerkannt.
Was passiert in den Ländern? Wenn ich mir das nicht
sehr arme Land Bayern anschaue und feststelle, dass die
Versorgungsquote für Kinder unter drei Jahren bei mageren 1,4 Prozent liegt, dann komme ich wirklich ins Grübeln. Das kann man nicht allzu ernst nehmen.
({13})
Ich will auf einen anderen Punkt eingehen, der nicht
nur mit der Familie etwas zu tun hat. Es geht um die Unterstützung der Erziehungskompetenz der Familien.
Ich habe in Ihrer Vorlage gelesen, dass sich Familien mit
wachsenden Herausforderungen konfrontiert sehen. Weiter steht dort: Tradierte Verhaltensweisen erweisen sich
immer öfter als nicht mehr hilfreich. Danach kommen ein
paar vage Formulierungen. Es wird nicht konkret. Der
Analyse konnte man aber zustimmen.
Ich will darauf hinweisen, dass wir genau das, was Sie
allgemein formulieren - man könnte es auch hohle Worte
nennen -, umsetzen. Ich denke dabei an das Gesetz, das
den Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung garantiert. Hier werden wir konkret und liefern den Eltern gezielte Hilfen. Wir verändern etwas im Bewusstsein der
Menschen.
Wir haben große Kampagnen gestartet, die weiterhin
laufen. Unsere Hilfsangebote werden viel in Anspruch genommen. Ich bin sehr froh, dass wir von vielen gesellschaftlichen Gruppen Unterstützung erfahren. Wir setzen
an der Wurzel an, wo die Gewalt entsteht. Es ist leider so,
dass Gewalterfahrungen zuallererst in der Familie gemacht werden. Also muss man hier ansetzen.
({14})
Sie von der Opposition haben dies nicht unterstützt. Immer, wenn es konkret wird, machen Sie nicht mit.
Im Bereich der Gewalt gegen ältere Menschen haben wir einiges getan. Wir haben ein Modellprojekt zum
Abschluss gebracht, das mit seinen Erfahrungen für die
Kommunen sehr wichtig ist, die entsprechende Angebote für Betroffene und Angehörige bereitstellen. Auch
mit dem Aktionsprogramm zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt haben wir viel angestoßen. In den Ländern und Kommunen gibt es zum Teil Aktionsprogramme. Dazu gehört das Gewaltschutzgesetz. Endlich
sind wir so weit, dass die Täter und nicht die geprügelten Frauen mit ihren Kindern die Wohnung verlassen
müssen.
({15})
Vielleicht werden Sie sogar zustimmen. Das hoffe ich
jedenfalls. Aber es ist ein mühsames Geschäft, mit Ihnen
einen Konsens zu finden.
({16})
Ich habe Ihnen gerade die Beispiele genannt. Ich könnte
dies noch fortsetzen. Wenn es konkret wird, ist von Ihnen
nicht mehr viel zu sehen.
Ich will noch die Altenpflege ansprechen, weil ich
mich vorhin über einen Beitrag hierzu geärgert habe. Herr
Thomae von der FDP hat sich darüber beschwert, dass
nicht genügend zur Aufwertung der Altenpflege getan
wird. Ich darf daran erinnern, dass wir gegen die Stimmen
der Opposition ein Gesetz verabschiedet haben.
({17})
- Ja, die FDP hat zugestimmt. Ich korrigiere mich. Was
soll ich denn noch alles tun?
Bayern klagt gegen dieses Gesetz beim Bundesverfassungsgericht. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass wir
dieses Gesetz auf den Weg gebracht haben. Der Beruf des
Altenpflegers wird dadurch aufgewertet. Wir wollen, dass
ältere Menschen, wenn sie pflegebedürftig sind, würdevoll behandelt werden.
({18})
Lassen Sie mich zum Schluss einen Satz zur Freiwilligenarbeit sagen. Wir haben das Internationale Jahr der
Freiwilligen. Es ist viel Neues in Gang gekommen; auch
bisher gab es schon viel Positives.
({19})
- Doch, doch. Wir können darüber an anderer Stelle diskutieren.
Wir werden unsere Vorhaben weiterführen; in diesem
Bereich geht es uns um Nachhaltigkeit und Freiwilligkeit.
Wir wissen, dass es viel Engagement gibt; das hat sich
deutlich erwiesen. Wir wollen die freiwilligen Jahre ausweiten. Es laufen bereits Modellversuche. In der nächsten
Woche wird ein Gesetzentwurf auf den Tisch kommen, um
im Sport- und Kulturbereich das freiwillige soziale und
das freiwillige ökologische Jahr zu erweitern. Ich sehe,
dass es zu diesem Punkt eine große Zustimmung gibt; das
ist erfreulich. Wir wollen die Freiwilligkeit erhalten; was
wir nicht brauchen können, sind Pflichtjahre, am allerwenigsten Pflichtjahre für Senioren. Eine Diskussion darüber - Herr Schönbohm hat das Thema auf den Tisch gebracht - ist ein nicht zu überbietender Zynismus.
({20})
Wir brauchen die Älteren, die auf freiwilliger Basis
viel leisten. Wir brauchen aber auch Junge, die sich engagieren. Deswegen machen wir im Jugendbereich eine aktivierende Politik. Wir werden in den nächsten Wochen
ein Regierungsprogramm zur Jugendpolitik vorlegen. Wir
stärken die Beteiligung von Jugendlichen. Ich lade Sie
ein mitzumachen. Im November gibt es einen Auftakt zu
einer bundesweiten Beteiligungsbewegung für Jugendliche. Es geht uns darum, Jugendliche noch stärker an die
Demokratie heranzuführen. Ich bin der Meinung, dass das
funktioniert, wenn wir die richtige Form finden. Wir sehen, wie stark Jugendliche bei der Bekämpfung des
Rechtsextremismus in Projekten mitarbeiten. Auf diesem
Feld laufen sehr viele Aktivitäten.
Ich will zum Schluss betonen, dass wir mit dem, was
wir in der Politik angeschoben haben, die wichtigen Themen nicht nur angeschnitten, sondern kräftig vorangetrieben haben. Wir haben auf diesem Feld noch viel zu tun;
nach 16 Jahren Ihrer Regierung ist das klar. Ich bedanke
mich für die Unterstützung, soweit sie gegeben wurde.
Vielleicht sind in dem einem oder anderen Bereich noch
Verbesserungen möglich.
Danke.
({21})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Dr. Maria
Böhmer.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Ministerin Bergmann, ich würde Sie wirklich gerne einmal für innovative, richtungsweisende Lösungen loben,
({0})
aber wo ich auch hinsehe, muss ich feststellen: Fehlanzeige. Sie müssen auch erst einmal in den eigenen Reihen
werben. Als der Bundeskanzler vor der Sommerpause
seine große Pressekonferenz gab - bekanntlich ging es um
die Erfolge dieser Bundesregierung -, wurde über vieles
gesprochen. Es wurde über die Steuerreform, die Rente
und die Greencard gesprochen, es wurde aber kein Wort
über die Familienpolitik verloren. Wenn selbst der Bundeskanzler bei seiner Erfolgsbilanz die Familienpolitik
nicht aufzählt, dann muss es um die Familienpolitik dieser Bundesregierung düster bestellt sein.
({1})
Sie sollten auch mehr auf Ihren eigenen Beirat hören.
Die Frankfurter Rundschau schrieb im Mai - die Pressemitteilung ist also noch nicht so alt -: Rot-grüne Familienpolitik gerügt. - In dieser Zeitung - wahrlich kein
Blatt, das auf der Seite der CDU/CSU steht, sondern eher
bei Ihnen zu orten ist - wurde deutlich gesagt: Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfamilienministeriums
kritisiert massiv die Gerechtigkeitslücke bei der Familienpolitik der rot-grünen Koalition. - Das ist die Wahrheit
und darüber täuscht nichts hinweg.
({2})
- Das war im Jahr 2001.
Sie glauben, die Familienpolitik neu erfunden zu haben. Ich muss Ihnen sagen, Frau Bergmann: All das, was
Sie eben aufgezählt haben - familienfreundliche Arbeitswelt, Kinderbetreuung, Erziehungsurlaub und dessen
Weiterentwicklung -, ist von der früheren Bundesregierung geschaffen worden - von niemandem sonst.
({3})
In diesem Land hätte es ohne die Union keine Anerkennung von Kindererziehungszeiten bei der Rente gegeben.
({4})
In diesem Land hätte es ohne die Union keine Anerkennung von Erziehungszeiten und keinen Erziehungsurlaub
gegeben. In diesem Land hätte es ohne die Union keinen
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gegeben.
({5})
Da Sie vielleicht eher der amtlichen Statistik glauben als
mir - das ist ja, wie ich es eben bei Ihnen gemerkt habe,
durchaus realistisch -, will ich einmal nachschauen, wie es
mit der Kinderbetreuung in den einzelnen Bundesländern aussieht. Denn in der Tat gilt: Handeln, nicht reden.
({6})
Ich habe mir die amtliche Statistik Kindergartenplätze
pro 100 Kinder für die Drei- bis Sechsjährigen des Statistischen Bundesamtes angeschaut. Spitzenreiter ist BadenWürttemberg, das bekanntlich seit vielen Jahren CDU-regiert ist.
({7})
- Ich nehme Sie gerne mit in das Boot.
Wenn Sie sich die neuen Bundesländer, die diese Statistik anführen, anschauen, stellen Sie fest: In Thüringen
gibt es pro 100 Kinder 153 Plätze
({8})
und in Sachsen 135 Plätze. In Baden-Württemberg sind es
125 Plätze. Das sind Spitzenleistungen.
({9})
- Das kann ich Ihnen gern sagen: In Bayern sind es
97 Plätze. Bayern liegt deutlich vor Nordrhein-Westfalen,
Schleswig-Holstein und Hamburg; denn in Hamburg stehen nur ganze 75 Plätze zur Verfügung.
({10})
Nach 44 Jahren eindeutiger SPD-Regierung in Hamburg
({11})
ist die bisherige Regierung nicht nur wegen der inneren
Sicherheit, sondern auch wegen einer verfehlten Familienpolitik abgewählt worden.
Wenn ich schon in Richtung Norden blicke, möchte ich
Ihnen auch einmal die Situation in Schleswig-Holstein
schildern:
Liebe Frau Ministerin Bergmann,
({12})
Ich glaube, Sie müssen erst noch in den eigenen Reihen
für Ihre Ideen werben. Denn Frau Simonis hat sich am
30. August dieses Jahres gegen weitere Kindergelderhöhungen ausgesprochen. Sie sollten in den Reihen der
Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten einmal
aufräumen. Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass
eine solche Aussage von einer Ministerpräsidentin getroffen wird. Davon kann auch nicht dadurch abgelenkt
werden, dass anschließend gesagt wird, sie wolle das eingesparte Geld für einen Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten verwenden.
Man kann nicht die eine Gruppe von Eltern damit bestrafen, dass man der anderen etwas gibt. Eltern verdienen
die gleiche Förderung. Dies ist nicht als Alternative zu sehen nach dem Motto: Für die einen die Kinderbetreuung,
für die anderen die Familienförderung. - Wir brauchen ein
Gesamtkonzept einer zukunftsorientierten Familienpolitik, die beides einschließen muss.
({13})
Sie muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie
die finanzielle Gerechtigkeit für Familien in diesem Land
einschließen.
Da Sie häufig auf die Lebensbedingungen abheben, die
in SPD-regierten Zeiten unwahrscheinlich gut seien,
möchte ich Ihnen sagen: Ich habe mir einmal die Erwerbsstatistik von Frauen in den einzelnen Bundesländern angesehen. Auch dies ist die Stunde der Wahrheit.
Wo bestehen die höchsten Erwerbsquoten? Sie würden
wahrscheinlich vermuten: in Nordrhein-Westfalen oder
vielleicht sogar in Hamburg, weil Sie dort ja so lange an
der Macht waren.
({14})
Die stärkste Erwerbsbeteiligung von Frauen gibt es mit
62,3 Prozent in Bayern und in Baden-Württemberg mit
60,9 Prozent. Nordrhein-Westfalen steht mit 53,6 Prozent
an drittletzter Stelle. Daran sieht man doch, wer wirklich
etwas für Frauen und Familien tut und wer sie im Regen
stehen lässt.
({15})
Jetzt muss ich Ihnen etwas zu den Themen Kindergelderhöhung und Besserstellung der Familien, die hier immer wieder angeführt werden, sagen: Auch hier ist die
Stunde der Wahrheit. Wenn es um die Kindergelderhöhung geht, ist festzuhalten: Sie haben 30 DM mehr
gegeben.
({16})
- Sie haben 30 DM mehr gegeben.
({17})
- Ich finde es wunderschön, dass Sie mir das noch einmal
sagen. Für diejenigen, die, wie Sie, daran erinnert werden
wollen, was die damalige Bundesregierung aus Union und
FDP getan hat, sage ich: Wir haben das Kindergeld von
damals 50 DM - in dieser Höhe haben wir es übernommen - auf 220 DM erhöht.
({18})
An eine solche Steigerung des Betrages müssen Sie erst
einmal herankommen.
({19})
Deshalb sollten Sie aufhören, solche Märchen zu erzählen. Denn dadurch, dass Sie Märchen erzählen, wird die
Situation nicht besser. Denn auf der einen Seite gehen Sie
hin und geben den Familien 30 DM mehr Kindergeld, aber
auf der anderen Seite - wir haben ja gerade die Gesundheitsdebatte geführt und auch Sie sind, wie ich, einige Zeit
dabei gewesen - hat eine völlig verfehlte Gesundheitspolitik zu einem Ansteigen der Kassenbeiträge geführt.
Wenn man ein durchschnittliches Einkommen von
5 000 DM im Monat zugrunde legt, macht ein halber Prozentpunkt 25 DM mehr aus, die den Menschen aus dem
Portemonnaie genommen werden. Damit ist die Kindergelderhöhung durch Ihre verfehlte Politik von den Sozialabgaben verfrühstückt worden.
({20})
Frau Kollegin Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk?
Aber gerne.
({0})
Frau Kollegin Böhmer, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass Sie nicht das Kindergeld von 50 DM auf
200 DM erhöht haben, sondern dass es zu der Zeit, als das
Kindergeld 50 DM betrug, noch einen zusätzlichen Kindersteuerfreibetrag gab, sodass die Differenz sehr viel geringer war? Würden Sie dies dem Hohen Hause einmal erläutern?
Frau Kollegin
Schewe-Gerigk, Sie wissen, dass wir den dualen Familienleistungsausgleich eingeführt haben. Sie setzen ihn ja
auch fort, allerdings am unteren Rand, sodass die finanziell
schwächeren Familien, die mehr Geld brauchen, im Regen stehen bleiben.
({0})
Ihre Verbesserungen nützen gar nichts. Hinzu kommt,
dass Sie die Familien mit einer Familienstrafsteuer, nämlich der Ökosteuer, belastet haben.
({1})
All dies bedeutet, dass Sie keine Verbesserungen für Familien erreicht haben. Vielmehr sind die Belastungen für
Familien in diesem Land größer geworden, seit Sie an der
Regierung sind.
({2})
Nun schauen wir einmal, was sich im Bereich der
Frauenpolitik getan hat. Hinsichtlich dieses Politikfeldes
hatte ich immer die Erwartungshaltung, nach dem Regierungswechsel werde alles besser, für die Frauen werde
eine neue Zeit anbrechen und wir könnten den Leistungen
der Bundesregierung endlich einmal Beifall zollen. Aber
was lese ich beim Deutschen Frauenrat? Nachdem Sie das
Gleichberechtigungsgesetz endgültig eingemottet haben,
schrieb der Deutsche Frauenrat - ich zitiere die Vorsitzende nach einer Pressemeldung vom 3. Juli 2001 -:
Versprochen hat uns die Regierung ein Gesetz, nun
wollen die Spitzenverbände der Wirtschaft ihren
Mitgliedern die Förderung empfehlen. Es ist ein
Hohn, wie sich die Regierung das versprochene Gesetz hat abschwatzen lassen. Die rot-grüne Gleichstellungspolitik wurde wie beim Sommerschlussverkauf verramscht.
Das ist die Wahrheit über die Frauenpolitik dieser Bundesregierung.
({3})
Wer so für Familien und Frauen im Lande Politik
macht, bei dem wundere ich mich nicht mehr, dass er in
der Erfolgsbilanz nicht vorkommt. Die Bürgerinnen und
Bürger in diesem Land wissen sehr wohl, woran sie mit
Ihnen sind, denn die Waagschale geht in Sachen Familienkompetenz für diese Bundesregierung nach unten.
({4})
- Wenn das eine Frage sein sollte, Herr Präsident, werde
ich sie gern beantworten.
({5})
Ich sehe
noch keine Frage.
Das war ein Zwischenruf. Aber ich beantworte Ihre Frage trotzdem
gern: Wir haben eine Alternative entwickelt. Wir sagen
nicht nur, wo es Schwachpunkte gibt und wo Hilflosigkeit herrscht. Wir sagen, dass wir für die Familie eine
zukunftsorientierte Politik brauchen, die auf drei Säulen
steht: auf der besseren Vereinbarkeit von Familie und
Beruf mit einem deutlichen Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten, auf einer gerechten finanziellen
Förderung mit einem Familiengeld, das diesen Namen
wirklich verdient und keine Minischritte beinhaltet,
sondern die Kinder aus der Sozialhilfe holt. Frau
Bergmann, dieses Familiengeld würde nicht zu einer
Schlechterstellung der Familien führen; denn wer bis
zum dritten Lebensjahr eines Kindes 1 200 DM erwarten kann, wäre deutlich besser gestellt als jetzt. Drittens
wollen wir die Erziehungskompetenz der Familien stärken; denn die Familien und die Kinder sind das wichtigste Gut, das wir haben. Deshalb brauchen wir in diesem Lande eine starke Familienpolitik. Daran werden
wir arbeiten und dafür werden wir kämpfen.
Ich danke.
({0})
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Böhmer, Sie wissen selbst, dass Sie mir auf
meine Frage nicht geantwortet haben. Diesen Abwehrmechanismus, diesen pawlowschen Reflex, immer wieder
die Ökosteuer anzusprechen, hätten Sie sich eigentlich
sparen können.
({0})
Mit dem Haushaltsplan 2002 ist es uns gelungen, im
Einzelplan 17 ein ausgewogenes Verhältnis zwischen
Konsolidierung und gestalterischer Politik herzustellen.
Die Einsparungen in Höhe von 79 Millionen Euro resultieren hauptsächlich aus der Umsetzung des Zukunftsprogramms 2000 im Bereich des Zivildienstes. Ich bin froh,
dass die Arbeit des Bundesamtes nicht beeinträchtigt
wird. Durch die Verkürzung des Zivildienstes auf zehn
Monate konnte hier problemlos eingespart werden. Damit
nimmt auch die Bedeutung des Zivildienstes als Ausfallbürge für Arbeitsplatzverkürzungen im sozialen Bereich
ab. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass in den alten Tätigkeitsfeldern der Zivildienstleistenden neue Arbeitsplätze
geschaffen werden. Die Reduzierung geht also nicht, wie
Sie von der Opposition immer so gern behauptet haben,
auf Kosten der bis dato Betreuten.
Im letzten Haushalt hatten wir einmalig Mittel in Höhe
von 15,3 Millionen Euro zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eingesetzt. Diese Mittel sind im Haushalt
2002 nicht mehr vorhanden. Allerdings haben wir für weitere Projekte gegen Rechtsextremismus 5 Millionen Euro
veranschlagt.
Für die Integration junger Migrantinnen und
Migranten wurde mit der Veranschlagung von 41 Millionen Euro eine deutliche Aufstockung der Mittel erreicht
und das ist auch gut so, denn Sprachförderung ist - das
wissen wir alle - für die Integration besonders wichtig.
({1})
- Was wir wollten, darüber entscheiden wir nicht. Es geht
um das, was im Haushalt steht, Frau Kollegin.
An dieser Stelle ein Wort zur Familienzusammenführung: Natürlich ist es für die Integration besser, wenn
die Kinder von Migrantinnen und Migranten möglichst
jung nach Deutschland kommen. Aber eine Aufspaltung
der Gruppen von Kindern in solche, die bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres nachziehen dürfen, weil deren
Eltern hochqualifiziert sind, und solche, die nur bis zum
12. Lebensjahr nach Deutschland kommen sollen, weil
deren Eltern weniger qualifiziert sind, werden wir nicht
zulassen.
({2})
Nach unserem Grundgesetz steht die Familie unter
dem besonderen Schutz des Staates. Das darf natürlich
nicht nur für deutsche Familien gelten. Damit bin ich bei
der Familienpolitik, Frau Böhmer. Gerade auf diesem Gebiet hat die rot-grüne Bundesregierung Enormes geleistet
und das lassen wir uns auch von ihnen nicht kleinreden.
({3})
- Ich nenne Ihnen die Zahlen. Durch das Zweite Familienförderungsgesetz erreichten wir eine zusätzliche Entlastung in Höhe von 2,3 Milliarden Euro und erfüllten
damit termingerecht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Dies, die Erhöhung des Kindergeldes in
dieser Legislaturperiode um 41 Euro, Verbesserungen
beim BAföG und beim Wohngeld sowie die Erhöhung
von Freibeträgen - das macht im Jahr 2001 insgesamt
98 Milliarden DM aus. Das können Sie sich auf der Zunge
zergehen lassen. Die Tendenz ist steigend.
({4})
Natürlich könnte es immer noch etwas mehr sein.
Wenn Sie aber bedenken, dass trotz einer Erhöhung des
Etats für familienpolitische Leistungen um 20 Milliarden DM seit dem Regierungsantritt der Konsolidierungskurs weitergeführt wurde, wir also nicht länger wie Sie
auf Kosten der nächsten Generation leben, dann sollten
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, uns
dafür ein Kompliment machen.
({5})
Solche Beträge für die Familien haben Sie bei Ihrem
Finanzminister, der ja auch immer Familienminister sein
sollte, nicht durchsetzen können. Darum nützt es Ihnen
auch gar nichts, wenn Sie nun in der Opposition die
Spendierhosen anhaben und allen Familien, ob sie es
brauchen oder nicht, ein Familiengeld von 1 200 DM zahlen wollen. Sie haben folgendes Problem: Niemand glaubt
Ihnen, dass Sie das machen würden, denn Sie hätten ja
viele Jahre Gelegenheit gehabt, das durchzusetzen.
({6})
Aber wir haben nicht nur finanzielle Verbesserungen
für Familien durchgesetzt. Damit Väter und Mütter Erwerbsarbeit und Familienarbeit besser vereinbaren können, wurden Regelungen zur Elternzeit geschaffen, um auf
die individuellen Bedürfnisse der Eltern Rücksicht nehmen zu können. Ich hoffe mit guten Grund, dass künftig
mehr Väter als bisher davon Gebrauch machen. Nehme ich
die Mitarbeiter meiner Fraktion zum Maßstab, so wird es
in Deutschland künftig die neue Väterlichkeit geben.
({7})
Es ist ein schöner Gedanke für mich, nicht länger in einer
vaterlosen Gesellschaft zu leben. Das könnten wir durch
einen 14-tägigen Vaterschaftsurlaub, wie es ihn in Frankreich gibt, noch attraktiver machen. Aber natürlich müssen auch Staat und Wirtschaft ihren Beitrag zu einer
kinderfreundlichen Gesellschaft leisten. So haben wir
noch enormen Nachholbedarf bei der Errichtung von Kinderbetreuungseinrichtungen, gerade in den alten Bundesländern.
Aus dem Titel Frauenpolitik wird eine Vielzahl von zukunftsweisenden Projekten finanziert, im Übrigen auch
für Männer, die sich immer über ihre Benachteiligung beklagen;
({8})
denn eine wirklich gleichberechtigte Gesellschaft ist nur
vorstellbar, wenn sich nun endlich auch die Männer ändern und ihr eingeengtes Rollenverhalten ablegen.
({9})
Ich danke der Ministerin ausdrücklich dafür, dass sie die
Väter-Kampagne umgesetzt hat, denn das ist ein Beitrag
zum gender mainstreaming.
({10})
Lassen Sie mich noch auf eines der Frauenprojekte
besonders eingehen, die Förderung des bundesweiten Koordinierungskreises gegen Frauenhandel und Gewalt an
Frauen in Migrationsprozessen. Dieses Projekt läuft im
November des nächsten Jahres aus, und wir alle miteinander sollten ein Interesse daran haben, dass diese
wichtige Arbeit weitergeführt werden kann.
({11})
Natürlich brauchen wir begleitend zu dem Gesetzesvorhaben hinsichtlich der Verbesserung der Situation von
Prostituierten auch eine Kampagne, damit Prostituierte
über ihre neuen Rechte informiert werden und diese auch
nutzen können. Dafür muss der Haushaltstitel nicht
zwangsläufig ausgeweitet werden.
Zum Schluss noch ein Wort zur Seniorenpolitik. Dort
sind die Haushaltsansätze nahezu gleich geblieben. Allerdings haben wir zwei wichtige Gesetze auf den Weg gebracht: das Heimgesetz und das Altenpflegegesetz. Worüber wir in diesem Parlament aber insgesamt noch einmal
nachdenken sollten, sind grundsätzliche Veränderungen
im Heimbereich. Der Anteil der alten und hochbetagten
Menschen wird in den kommenden Jahren enorm steigen.
Darum brauchen wir neue Formen des Wohnens, der
Pflege und der Betreuung. Aus diesem Grund begrüße ich
die Initiative, die unter anderem die Universität Bielefeld
ins Leben gerufen hat, in der nächsten Legislaturperiode
eine Enquete-Kommission des Bundestages dazu einzurichten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können nur das
Geld ausgeben, das wir einnehmen. Darum ist es umso
wichtiger, unseren Gestaltungsspielraum um kreative und
zukunftstaugliche Maßnahmen zu erweitern. Das muss
nicht zwangsläufig Mehrausgaben zur Folge haben. Die
Menschen erwarten von uns, dass wir auch mit knapperen
Ressourcen verantwortungsvoll umgehen. Ich danke Ihnen.
({12})
Ich gebe
dem Herrn Kollegen Klaus Haupt das Wort. Er spricht für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um die Chancen und
die Perspektiven unserer Kinder und Jugendlichen geht,
ist die Politik mehr denn je gefordert. Der Anteil der jungen Menschen in unserer Gesellschaft, die aus Immigrantenfamilien stammen, wächst immer mehr an, während
die Geburtenrate in Deutschland auf niedrigem Niveau
verharrt. Daher wird die Jugendpolitik immer mehr zu
einem Element der Zuwanderungspolitik. Die Integration von Zuwanderern ist ein großes Problem, eine entscheidende Herausforderung für unsere Gesellschaft.
Der Etatansatz für die Integration junger Zuwanderer
ist durch Übertragung der Mittel aus dem BMA-Haushalt
erhöht worden. Eine wirkliche Steigerung ist daraus nicht
ablesbar; in Anbetracht der immensen Aufgabe, die uns
hier bevor steht, wäre aber genau dies notwendig.
({0})
Migrationsexperten stellen mittlerweile fest, dass gerade die Bildung von abgeschotteten kulturellen DiasporaGruppen ethnischen Extremismus und religiösen Fundamentalismus massiv begünstigt. Hier besteht also ein
dringender Handlungsbedarf, den wir schon bei den Haushaltsberatungen der vergangenen Jahre angemahnt haben.
Aber leider ist den Weiter-so-Haushalten der Jugendministerin nicht anzusehen, dass das Problem in seiner
ganzen Tragweite wirklich erfasst worden ist.
Das Gesamtsprachkonzept der Bundesregierung ist an
sich zwar begrüßenswert, aber der Finanzrahmen wird
dem Bedarf nicht gerecht. Für alle Zuwanderer ist das Erlernen der deutschen Sprache wesentliche Voraussetzung
für eine erfolgreiche Integration in die deutsche Gesellschaft und für eine erfolgreiche Zukunft auf dem Arbeitsmarkt.
({1})
Erfolgreiche Integrationsarbeit ist auch eine wesentliche Voraussetzung für die Bekämpfung des Rechtsextremismus unter Inländern. Ich halte es deshalb für bedenklich, dass die Bundesregierung die Mittel zur
Bekämpfung des Rechtsextremismus kürzt - auch die
Mittel zur Hilfe für die Opfer rechtsextremer Gewalt.
Besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang auch
die Kürzung der Mittel für die politische Bildung. Ich
fürchte, hier spart die Ministerin entschieden an falscher
Stelle.
Wichtig für den Kampf gegen Rechtsextremismus sind
auch internationale Bildung und Verständigung der Jugend. Deshalb begrüßen wir die Aufstockung der Mittel
für das deutsch-polnische Jugendwerk. Wir fordern aber
auch die Errichtung eines deutsch-russischen Jugendwerkes.
({2})
Dabei sind wir uns durchaus über die in beiden Ländern
sehr unterschiedliche Jugendarbeit im Klaren. Aber gerade mit der Jugend Russlands muss ein Austausch zustande kommen, damit auch auf dieser Ebene das größte
Land Europas besser in die europäische Völkergemeinschaft, wie Präsident Putin in seiner Rede gestern hier
wünschte, eingebunden wird.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße ausdrücklich, dass Kinder- und Familienpolitik in unserer
Gesellschaft in den Vordergrund tritt. Ich bedaure aber,
dass in unserem Land offenkundig vor allem das
Bundesverfassungsgericht dafür zuständig ist.
({4})
Ich bedaure auch, dass bei Rot-Grün die Förderung der
Familien weitgehend durch die Familien selbst finanziert
wird und dass Alleinerziehende und Familien mit vielen
Kindern benachteiligt werden. Ein Beispiel: Der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, Thomas Krüger,
hat kürzlich moniert, dass in Deutschland sogar Katzenfutter unter den ermäßigten Mehrwertsteuersatz fällt, auf
Kinderbedarf wie Kindernahrung, Windeln und Kinderbekleidung dagegen mehr als der doppelte Satz erhoben
wird. Das ist eine Schande. Wir alle müssen uns fragen,
ob wir nicht viel entschlossenere Schritte für Familien mit
Kindern tun müssen; auch, aber nicht nur, angesichts der
demographischen Schieflage.
Wir bürden jungen Familien im Moment immense
Kosten auf, obwohl sie ihre Leistungen im Interesse der
gesamten Gesellschaft erbringen. Wir müssen ihnen eine
Perspektive bieten, sich ein Leben mit Kindern wirklich
leisten zu können. Wir müssen Kindern in unserer Gesellschaft endlich nicht nur einen höheren Stellenwert, sondern einen hohen Stellenwert geben.
({5})
Das bedeutet aber mehr als nur Diskussionen über Geld.
Kinder dürfen nicht nur als Bilanzproblem und als Belastung gesehen werden. Kinder sind kein Gut - Kinder sind
gut.
({6})
Sie sind eine Bereicherung der Gesellschaft. Ja, Kinderlärm ist Zukunftsmusik. Das ist eine gesellschaftspolitische Herausforderung an alle - ich betone: an alle -, für
die sich jede Mühe lohnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorgelegte Haushaltsentwurf sinkt insgesamt um circa 79 Millionen Euro
gegenüber dem Vorjahresetat. Dieses Einsparvolumen
geht fast vollständig auf Kosten der Zivildienstleistenden. Die Bundesregierung spart aber nicht, indem sie
etwa eine neue Struktur für den Zivildienst aufbaut, sondern indem sie einfach an der Dienstzeitschraube dreht.
Die anhaltenden und neuerdings wieder verstärkten Diskussionen um Sinn oder Unsinn der Wehrpflicht führen
nicht dazu, dass Vorbereitungen getroffen würden, Dauerarbeitsplätze im Sozialbereich zu schaffen, die in absehbarer Zeit die Zivildienstleistenden ersetzen könnten.
({7})
Ein schlüssiges Gesamtkonzept für den Zivildienst ist
nicht erkennbar.
Gestatten Sie mir ein Wort zur Seniorenpolitik. Auch
seniorenpolitisch ist in diesem Haushalt offenbar Stagnation Trumpf. Demographischer Wandel ist das Thema der
Gesellschaftspolitik - nur im Haushalt der Seniorenministerin spiegelt sich das nicht wider. Es ist eine große
Aufgabe, die Ressourcen, die die älteren Menschen in unserer Gesellschaft bieten, besser in das Leben unserer Gesellschaft zu integrieren und zu nutzen. Hier hätte ich mir
aus dem zuständigen Ministerium doch eine entsprechende Akzentsetzung gewünscht.
Im Etat des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend ist eine weitgehende Fortschreibung der bisherigen Zahlen bei einigen Umtitelungen - vor allem
schmerzlichen Kürzungen - oder stagnierenden Zuwendungen gerade im Bereich der derzeitigen gesellschaftlichen Problemfelder festzustellen. Wir Liberalen meinen:
Jugend, Familie, Senioren und Frauen verdienen einen
höheren Stellenwert in der deutschen Politik, als im Haushalt von Frau Bundesministerin Bergmann deutlich wird.
({8})
Für die
Fraktion der PDS spricht nun die Kollegin Petra Bläss.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was im Nachfolgeprozess zur vierten
Weltfrauenkonferenz immer wieder betont worden ist, hat
für uns alle in unserem Bewusstsein seit dem 11. September eine neue Dimension bekommen. Es gibt einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden. Bewaffnete Konflikte,
Angriffskriege und Terror sind schwerwiegende Hindernisse für die Förderung von Frauen.
Ich denke, auch wir haben uns auf nationaler Ebene zu
fragen, was daraus folgt, dass Frauen in Entscheidungsgremien zur Friedenssicherung und Konfliktlösung nach
wie vor unterrepräsentiert sind, dass Frauen einen großen
Beitrag zur Friedenserhaltung und -schaffung im Dialog
der Kulturen leisten und die Zivilgesellschaft, insbesondere die NGOs und die Frauen eine große Rolle dabei
spielt.
Wenn ich den Bundeshaushalt 2002 betrachte, dann
denke ich vor allem an Schlussfolgerungen für die institutionelle und die Projektförderung. Ich gehe davon
aus, dass es durchaus notwendig ist, hier neue Akzente zu
setzen. Ich gebe nur Stichworte in die Runde. Dazu
gehören Integrationsprojekte für Migrantinnen und Migranten. Ich denke aber auch an bilaterale Austauschprojekte. Der Kollege Haupt hat gerade vom Jugendaustausch gesprochen; darüber hinaus gibt es aber auch
bilaterale Frauenforen. Ich denke aber auch an Planspiele
wie das National Model United Nations oder das Europäische Jugendparlament, in dem junge Leute den Dialog
der Kulturen seit Jahren ziemlich professionell praktizieren.
Zu allererst denke ich aber an den notwendigen Kampf
gegen den Rechtsextremismus. Ich empfinde es als fatales Signal, dass der Haushalt in diesem Bereich um
40 Millionen DM, insbesondere beim Kinder- und Jugendplan, gekürzt wird. Wir waren uns in den letzten Jahren in diesem Hause darüber einig, dass die Bekämpfung
des Rechtsextremismus tatsächlich Priorität haben muss
und solche Projekte nachhaltig unterstützt werden müssen.
({0})
Ich denke dabei an das Programm Civitas, das nicht nur
verstetigt, sondern auch in die alten Bundesländer ausgedehnt werden muss. Bei Prävention, Beratung und Opferunterstützung darf es keine Kürzungen geben.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung
wollte die Gleichstellung von Mann und Frau zu einem
großen gesellschaftlichen Reformprojekt machen. Ich
gehe davon aus, dass es dafür grundlegender Änderungen
in den Bereichen der Arbeitsförderung, der Gleichstellung
in der privaten Wirtschaft sowie bei der Vereinbarkeit von
Berufstätigkeit und Familie bedarf.
Schauen wir in den Etatentwurf 2002, so sehen wir
zunächst, dass der Zuschuss an die Bundesanstalt für Arbeit um 614 Millionen Euro auf null reduziert wird. Das
halte ich angesichts der Tatsache, dass nach wie vor ein
Großteil der Langzeitarbeitslosen Frauen sind und Frauen
strukturell auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden,
für einen frauenpolitischen Offenbarungseid.
Nun haben Sie sich als rot-grüne Bundesregierung zu
Recht den Anspruch gestellt, die Frauendiskriminierung
im Arbeitsförderungsrecht abzubauen. Sie haben das
Job-Aqtiv-Gesetz in dieser Woche vorgelegt. Zu begrüßen ist zweifellos die Einbeziehung von Pflege- und
Erziehungszeiten in die Arbeitslosenversicherung.
({2})
Hier möchte ich aber gleich eine Frage stellen: Woher soll
der Finanzbedarf in Höhe von 1 Milliarde Euro, den Sie
selbst ermittelt haben, kommen? Dazu habe ich im Haushalt nichts gesehen.
Sie schrecken in diesem Gesetz vor verbindlichen Regelungen zurück. Zentrale frauenpolitische Forderungen
werden nicht aufgenommen. Ich erinnere an die Wiedereinführung des Berufs- und Qualifikationsschutzes, an
den Abbau der frauendiskriminierenden Pendelzeiten, an
die Einbeziehung ausschließlich geringfügig Beschäftigter in die aktive Arbeitsmarktpolitik und in die Arbeitslosenversicherung sowie an die Verbesserung der eigenständigen Existenzsicherung durch den Wegfall der
Bedürftigkeitsprüfung in der Arbeitslosenhilfe.
Mit dem Rückzieher bei der gesetzlichen Regelung der
Gleichstellung in der Privatwirtschaft - sei er auch noch
so schöngeredet wie heute wieder - haben Sie nicht nur
auf ein politisches Schwerpunktthema verzichtet, sondern
auch auf den diesbezüglichen politischen Gestaltungsanspruch. Ich erinnere an die massiven Proteste zum Beispiel der 100 Frauen, aber auch der Gewerkschaften, hier
nicht locker zu lassen. Die PDS hat dazu einen Antrag in
die parlamentarische Beratung eingebracht.
Abschließend möchte ich noch einen kurzen Kommentar zum angekündigten Paradigmenwechsel in der
Familienpolitik machen. Wir haben die Schritte in die
richtige Richtung durchaus wohlwollend begleitet: die
Erhöhung des Kindergeldes und die Festschreibung des
Rechts auf einen Teilzeitarbeitsplatz mit Rückkehrrecht.
Der richtige Paradigmenwechsel fehlt aber nach wie vor.
Ich möchte auf die Alternativvorlage der PDS aufmerksam machen, in der ein Zeitkonto bei der Freistellung von erwerbstätigen Eltern, eine einjährige Lohnersatzleistung und ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung
in den ersten 14 Lebensjahren eingefordert werden.
Lassen Sie mich angesichts der aktuellen Situation in
Afghanistan noch kurz einen Vorschlag machen. Wir haben seit Jahren überfraktionell über das Elend der Frauen
unter der Gewaltherrschaft des Talibanregimes diskutiert.
Im Moment ist die Lage so prekär, dass wir Frauen uns interfraktionell recht schnell darauf verständigen sollten,
hier tätig zu werden. Wir sollten den Vorschlag der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck, rasche humanitäre
Hilfe zu leisten, aufnehmen. Danke.
({3})
Die Kollegin Christel Humme spricht nun für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Böhmer, wenn Sie schon
Statistiken anführen, dann sollten Sie sie auch vollständig
vortragen. Wir freuen uns natürlich, dass Sie das Ziel der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Ihr Programm
aufgenommen haben. Aber wenn dieses Ziel erreicht werden soll, dann müssen in ausreichendem Maße Plätze für
die Ganztagsbetreuung von Kindern zur Verfügung gestellt werden.
({0})
Ich führe jetzt ein paar Zahlen auf, die in der von Ihnen
vorgetragenen Statistik nicht vorgekommen sind. In Baden-Württemberg beträgt die Versorgungsquote im Bereich der Ganztagsbetreuungsplätze in Kindergärten
4,3 Prozent. In Bayern liegt die Versorgungsquote im Bereich der Hortplätze bei 3 Prozent. Das sind 20 Plätze für
1 000 Kinder. Bei den Krippenplätzen kommen 14 Plätze
auf 1 000 Kinder. Das entspricht einer Versorgungsquote
von 1,4 Prozent. Ich denke, Ihre Statistik musste um diese
Zahlen ergänzt werden, um deutlich zu machen, wie es
um die Kompetenz für die Familie, die Sie für sich eingefordert haben, tatsächlich bestellt ist.
Sie reden immer von Familienoffensive, Familiengeld
und liberaler Familienförderung. In Sonntagsreden wetteifern Sie, meine Herren und Damen von der CDU/CSU
und der FDP, um die Gunst der Familien. Diese schönen
Begriffe können allerdings nicht über die Unglaubwürdigkeit Ihrer Familienpolitik hinwegtäuschen. Sie ist unglaubwürdig, weil Sie in Ihrer Regierungsverantwortung
genug Zeit hatten, Politik für Familien und Kinder zu machen, Familienpolitik aber quasi nicht vorkam.
({1})
Als wir 1998 - damals waren wir noch in der Opposition
- das Kindergeld auf 250 DM erhöhen wollten - Sie sollten ruhig zuhören -, haben Sie dies verhindert.
Und heute? Heute wollen Sie plötzlich ein Familiengeld in Höhe von 1 200 DM, so Angela Merkel, oder
1 000 DM, so Edmund Stoiber, einführen.
({2})
- Doch, das wollen Sie. - Das würde eine jährliche Haushaltsbelastung von bis zu 60 Milliarden DM ausmachen.
Auch hier zeigt sich Ihre Unglaubwürdigkeit, weil Sie
schnell in Verlegenheit kämen, wenn Sie deutlich machen
müssten, wo Sie die Milliarden hernehmen wollen.
Anzunehmen ist, dass Sie Ihre Politik in alter Manier
über Schulden finanzieren wollen. Genau das geht nicht,
liebe Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU. Sie
leisten mit Ihrem Familiengeld den Familien einen
Bärendienst; denn Familienpolitik über Schulden zu finanzieren ist nicht seriös und hieße, Familienpolitik zulasten derjenigen zu machen, die man eigentlich entlasten
will.
({3})
Die Zeche für nicht finanzierbare Konzepte von heute
zahlen morgen und übermorgen unsere Kinder.
Darüber hinaus leisten Sie auch den Frauen einen
Bärendienst. Für den Betrag Ihres Familiengeldes bleibt
kaum ein Mann zu Hause. Mütter dagegen werden durch
dieses Familiengeld in das berufliche Abseits geschickt;
denn jeder weiß, wie schwierig ein beruflicher Wiedereinstieg nach einer längeren Pause ist.
({4})
Der von der rot-grünen Bundesregierung eingebrachte
Haushaltsentwurf für 2002 macht dagegen deutlich: Wir
rücken die Familien dahin, wo sie hingehören, nämlich in
das Zentrum unseres politischen Handelns. Wir schaffen
beides: Wir setzen den soliden Konsolidierungskurs fort
und stellen trotzdem mehr Mittel für die Förderung der
Familien zur Verfügung. Rund 102 Milliarden DM beträgt
das Gesamtvolumen der Leistungen und der Steuererleichterungen für Familien im Jahr 2002. Das sind rund
24 Milliarden DM mehr als bei unserem Regierungsantritt
im Jahr 1998, also 24 Milliarden DM mehr, als Sie, meine
Herren und Damen von der Opposition, für Familien
übrig hatten.
({5})
Die rot-grüne Regierungskoalition hat in Sachen Familienpolitik ein gerechtes Reformpaket geschnürt, das
sich im Haushaltsentwurf 2002 deutlich widerspiegelt.
Familien erhalten ab dem 1. Januar 2002 mehr Kindergeld. Frau Böhmer, das sind in der Tat 80 DM mehr innerhalb einer kurzen Zeit.
({6})
Sie hatten 16 Jahre Zeit. 80 DM mehr, das sind 36 Prozent
mehr für die Familien und ihre Kinder.
({7})
Familien können auch einen höheren Freibetrag für
Betreuung, Erziehung und Ausbildung steuerlich geltend
machen. Gleichzeitig wird der Kinderfreibetrag für den
existenziellen Sachbedarf eines Kindes endlich den gestiegenen Lebenshaltungskosten angepasst.
Familien profitieren nicht nur im Rahmen des Gesetzes
zur Familienförderung, sondern auch - hören Sie ruhig
zu! - von der Steuerreform. Gerade Familien mit kleinem
und mittlerem Einkommen werden erheblich weniger
Steuern zahlen. Klar, Ökosteuer ist das Stichwort. Diese
Entlastung bleibt auch dann noch bestehen, wenn man die
Belastung durch die Ökosteuer hinzurechnet. Wir haben
für eine umfangreiche Entlastung gesorgt; denn keine Familie kann so viele Kilometer fahren, dass die Entlastung,
die wir den Familien zukommen lassen, durch die Ökosteuer aufgehoben wird.
({8})
Darüber hinaus haben wir viele andere Maßnahmen
für Familien auf den Weg gebracht. Der Sorge der Familien um die berufliche Zukunft ihrer Kinder treten
wir unter anderem mit dem Sofortprogramm gegen
Jugendarbeitslosigkeit entgegen. Das JUMP-Programm
hat zu einer deutlichen Senkung der Jugendarbeitslosigkeit
geführt. Da dieses Programm so erfolgreich war, verstetigen wir die Maßnahmen und übernehmen wesentliche
Elemente in das neue SGB III, in die reformierte Arbeitsförderung.
({9})
Auch eine weitere Sorge beschäftigt die Familien: die
Gefahr des Rechtsextremismus, der Jugendliche ausgesetzt sind. Frau Bläss, Sie haben gerade gesagt, dass wir
in unserem Haushalt eine Kürzung von 40 Millionen DM
vornehmen. Das ist so nicht richtig. Sie wissen ganz genau, dass wir in den Haushalt 2001 einmalig einen Kinder- und Jugendplan im Umfang von 30 Millionen DM
eingestellt haben. Den Etat für Projekte gegen
Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern verstetigen wir mit 10 Millionen DM im Jahr 2002.
Ich gebe Ihnen aber Recht, dass wir vielleicht noch ein
bisschen mehr tun müssen. Vielleicht sollten wir darüber
hinaus gemeinsam genauer hinschauen, welche Projekte
besonders erfolgreich waren, und in der parlamentarischen Debatte einen höheren Betrag zur Verstetigung
der zielorientierten präventiven Jugendarbeit einfordern.
Da teilen wir Ihre Auffassung.
Konsolidierung der Haushalte, Reformierung der Familienförderung, Steuerreform, Reform des Erziehungsgeldes, BAföG-Reform, Wohngeldreform - das sind
Maßnahmen, die bei den Familien unmittelbar ankommen. Im Mittelpunkt des rot-grünen Haushaltsentwurfs 2002 steht eindeutig die Familie.
({10})
- Frau Lenke, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen:
Es ist so.
Unsere Familienpolitik sorgt für mehr soziale Gerechtigkeit. Unsere Familienpolitik schafft die Voraussetzungen für mehr Bildungsbeteiligung von Familien mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Unsere Familienpolitik
sorgt für Chancengleichheit von Männern und Frauen.
Frau Kollegin Humme, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Nein, ich möchte jetzt zum
Schluss kommen. Danach kann Frau Lenke gerne etwas
sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Sie sehen: Wir handeln, Sie halten Sonntagsreden.
Danke schön.
({0})
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht nun der Kollege Klaus
Holetschek für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Was Sie hier geboten haben,
wäre noch nicht einmal in einem schlechten Bauerntheater zu verkraften. Was Sie uns hier als Familienpolitik vorsetzen wollen, das ist doch wohl eine Zumutung.
({0})
Sie brüsten sich hier irgendwelcher Wohltaten, zum Beispiel der Kindergelderhöhung. Denken Sie einmal daran, was Sie eigentlich für diejenigen Familien tun, die
mehr als zwei Kinder haben! Wo sind denn da Ihre Leistungen?
({1})
- Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen.
Sie stellen sich hierhin und behaupten: Früher war alles schlecht; wir sind jetzt drei Jahre an der Regierung; wir
können jedoch nichts ändern und nichts für die Familien
tun, weil uns die nötigen Mehrheiten fehlen. Es ist ganz
einfach: Sie versuchen, schwarzer Peter zu spielen; aber
das klappt nicht immer. Auch die Leute draußen werden
Ihnen das nicht abkaufen.
({2})
Sie nehmen eine Umverteilung vor. Ich kann Ihnen
- die Fraktion der Grünen ist nur noch mit einer Person
vertreten - das Wort Ökosteuer nicht ersparen.
({3})
Es ist eine typische Umverteilung: raus aus der einen Tasche und rein in die andere Tasche. Das wird nicht klappen und das werden die Menschen draußen im Lande Ihnen auch übel nehmen.
Es besteht kein Zweifel: Wir sind für die Wahlfreiheit
zwischen Familie und Erwerbstätigkeit. Aber Sie müssen
auch die Leistungen der Mütter und Hausfrauen in unserem Land anerkennen und gleich werten.
({4})
Da ist es wenig hilfreich - hören Sie bitte zu; vielleicht
können Sie daraus etwas mitnehmen -, wenn Ihr Bundespresseamt Kampagnen unter dem Motto startet: Internet
ist in und die drei K - Kinder, Küche, Kirche - sind out.
Es ist letztendlich eine Diffamierung auch derer, die daheim als Mutter und Hausfrau tätig sind. Es gibt nicht nur
Ihr Familienleitbild, sondern ein vielfältiges Bild der
Familie. Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({5})
Die Prioritätensetzung in Ihrer Familienpolitik ist
klar. Sie verwenden viel Zeit darauf, ein Lebenspartnerschaftsgesetz auf den Weg zu bringen.
({6})
Kein Thema: Wir sind tolerant; andere Lebensformen
müssen respektiert werden. Aber vielleicht hätten Sie ein
bisschen mehr Zeit auf eine nachhaltige Familienpolitik
verwenden müssen.
({7})
Am 1. August waren sehr viele von Ihnen auf den Standesämtern; Sie haben sich um die Standesämter förmlich
gedrängelt. Vielleicht gehen Sie auch einmal hin, wenn
normale Eheschließungen stattfinden, und gratulieren
auch diesen Menschen.
({8})
Frau Ministerin, freiwilliges soziales Jahr und Entsendegesetz: Es war eine große Ankündigung, dass Sie für
die freiwillig im Ausland Tätigen etwas tun wollen. Was
ist bis jetzt passiert? - Gar nichts. Sie haben gesagt, Sie
machen ein Entsendegesetz, um die sozialversicherungsrechtliche Absicherung auch dieser Personen zu gewährleisten. Jetzt wollen Sie uns einen Entwurf zur Reform des
freiwilligen sozialen und des freiwilligen ökologischen
Jahres verkaufen. Da werden die entsprechenden Regelungen hineingemixt. Ich habe schon die Ankündigung
aus Ihrem Ministerium gehört, dass in der nächsten Wahlperiode ein Entsendegesetz kommen wird. Es wird sicherlich kommen, aber hoffentlich nicht unter Ihrer Regierung.
({9})
Hier ist eindeutig noch nichts passiert, obwohl es ein
wichtiger Bestandteil in Ihrer Koalitionsvereinbarung
war.
Den Zivildienst hat die Kollegin Böhmer schon angesprochen. Die Kürzungen sind uns alle bekannt. Es sind
auch keine Qualitätsverbesserungen in Bezug auf Fortund Ausbildung zu spüren. Im Gegenteil: Hier ist gestrichen worden.
Ich komme zum Ehrenamt. Für dieses Jahr haben Sie
einen großen Ansatz für das Ehrenamt im Haushalt. Das ist
sehr gut. Aber er wird im nächsten Jahr erheblich gekürzt.
Es kann nicht sein, dass man ein Jahr das Ehrenamt und die
Regierung für ihr Engagement feiert; aber im nächsten Jahr
ist wieder Schluss damit. Wir haben eine Enquete-Kommission, die sich diesem Thema widmet. Das Ehrenamt
muss nachhaltig gefördert werden, weil die Leistungen für
unsere Gesellschaft von unvorstellbarem Wert sind.
({10})
Auch hier zeigt sich wieder einmal, dass es sich nur um
Plattitüden und Ankündigungen handelt.
Familienpolitik hat nicht nur etwas mit materiellen
Dingen zu tun. Wir haben ein geschlossenes Konzept des
Familiengeldes. Ich weiß, dass Sie Schwierigkeiten mit
der Unterscheidung zwischen einer Vision und einer Utopie haben. Familiengeld ist eine Vision, die wir haben und
die sich auch umsetzen und finanzieren lässt. Ich erinnere
daran: Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, bessere Durchsetzung des Lohnabstandsgebots,
Abschaffung der Sozialleistungen, wenn zumutbare Arbeit nicht angenommen wird, und vieles mehr. Das alles
trägt zu einer Finanzierung bei.
({11})
Die Bereitschaft, die Familien immateriell zu fördern,
und Erziehungskompetenz sind bei Ihnen nicht zu finden.
Die Werte, die für die Familien als Fundament und Keimzelle unserer Gesellschaft wichtig sind, kommen eindeutig zu kurz. Angesichts Ihrer Politik brauchen wir nicht
nur ein Bündnis für Arbeit, sondern ein Bündnis für Familienwerte, die vermittelt werden müssen und die wieder
im Zentrum stehen müssen.
({12})
In ein solches Bündnis für Werte gehören auch die Kirchen.
Minimallösungen auf Ihrer Seite und kein Gesamtkonzept. Ich kann nur wiederholen: Wenn wir der Familienpolitik den Stellenwert in unserer Gesellschaft einräumen,
den jeder hier fordert, dann müssen wir auch die Prioritäten dementsprechend setzen. Ich vermisse eindeutig die
Prioritätensetzung bei Ihnen.
Ein weiteres Thema wäre sicher auch der familienorientierte Umbau der sozialen Sicherungssysteme, wie wir
ihn auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur
Pflegeversicherung jetzt vorgegeben bekommen haben.
Auch das müssen wir uns zu Herzen nehmen.
Die Zeit drängt. Die demographische Entwicklung
zwingt uns zum Handeln. Ich sage Ihnen noch einmal:
Stoppen wir diesen Trend! Widmen wir uns den Familien
als Basis unserer Gesellschaft! Das Ziel darf dabei nicht
nur die ökonomisch optimierte Familie, sondern das Ziel
muss die glückliche Familie sein. Das muss auch die Politik erkennen.
({13})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf morgen, Donnerstag, den 27. September 2001,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.