Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die klagenden Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen
erstritten hatten, war es notwendig, den bundesstaatlichen
Finanzausgleich neu zu ordnen, und zwar in zwei Stufen:
mit einem Maßstäbegesetz, das die abstrakten Grundlagen für den Finanzausgleich legt, und zwar bis zum
31. Dezember 2002, und einem neuen Finanzausgleich,
aufbauend auf dem Maßstäbegesetz mit Wirkung spätestens zum 1. Januar 2005. Gleichzeitig war ein neuer Solidarpakt für den Aufbau Ost abzuschließen, da der Solidarpakt I, der 1993 vereinbart worden war und 1995 in
Kraft getreten ist, am 31. Dezember 2004 ausläuft.
Deswegen hatten wir ein komplexes Thema vor uns.
Die Länder und der Bund hatten verabredet - dies war ursprünglich der Wunsch der Länder -, in dieser Wahlperiode nicht nur, wie vom Verfassungsgericht vorgesehen,
das Maßstäbegesetz zu verabschieden, sondern auch den
Solidarpakt II und den bundesstaatlichen Finanzausgleich zu regeln.
Der Zeitplan dafür, den Bund und Länder vereinbart
hatten, sah - erstens - die Verabschiedung des Maßstäbegesetzes und - zweitens - eine grundsätzliche Verständigung über die Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und den Solidarpakt II vor der Sommerpause
dieses Jahres vor. Ich stelle fest, dass dieser Zeitplan, wie
ihn Bund und Länder verabredet hatten, eingehalten werden konnte, wenngleich es - das möchte ich ausdrücklich
sagen - in der Zwischenzeit auch geknirscht hat. Aber ich
halte es für ein ganz beachtliches Zeichen der Fähigkeit
der Länder, sich untereinander zu einigen, und der Fähigkeit des Bundes, sich mit den Ländern zu verständigen,
dass ein so grundlegendes Problem, das im Übrigen zu
tief greifenden Auseinandersetzungen zwischen Bund
und Ländern sowie der Länder untereinander geführt hat,
im Wege einer allgemeinen Einigung vor der Sommerpause dieses Jahres gelöst werden konnte.
({0})
Für den Bund sage ich ausdrücklich: Auch wir hatten
einen Fahrplan. Dieser sah vor, dass wir unsererseits, bevor wir die Einigung mit den Ländern über den Solidarpakt II und den Finanzausgleich suchen, nicht nur den
Haushaltsplanentwurf für das Jahr 2002, sondern auch die
mittelfristige Finanzplanung, die bis einschließlich 2005
gilt, verabschieden; denn für mich war ganz entscheidend,
dass sich die Einigung mit den Ländern im Rahmen des
Konsolidierungskurses bewegt, den wir im Sommer 1999
eingeschlagen haben. Ich kann feststellen: Auch dies ist
eingehalten worden.
Nun komme ich auf die Lösung zu sprechen. Wir können jetzt - das ist meine herzliche Bitte an Sie - das Maßstäbegesetz vor der Sommerpause, so wie es geplant war,
verabschieden. Wir haben Klarheit über den Finanzausgleich und den Solidarpakt II. Das ist eine grundlegende
Weichenstellung für die nächsten 20 Jahre.
({1})
Ich möchte dabei deutlich machen: Wir streben langfristige Linien und Klarheit in der Finanzpolitik an, und
zwar nicht nur bei der Haushaltskonsolidierung und der
Steuerpolitik - wir haben bereits Steuersenkungen für
zwei Wahlperioden gesetzlich festgeschrieben -, sondern
auch beim Aufbau Ost sowie bei den Finanzbeziehungen
zwischen Bund und Ländern und der Länder untereinander; denn Stabilität im System macht Flexibilität und
auch den Wettbewerb der Ideen erst möglich. Deshalb
halte ich es - ich sage das, weil ich weiß, dass es darüber
Diskussionen gegeben hat - auch für vernünftig - die zeitliche Begrenzung gibt der Solidarpakt II vor -, dass
Deutschland dann - so haben wir es verabredet -, wenn
seine innere Einheit im Jahr 2020 hergestellt ist, noch einmal die Chance hat, das föderale System und die Finanzbeziehungen grundlegend auf den Prüfstand zu stellen und
entsprechend, wenn das dann gewollt wird, zu reformieren.
Es war ohnehin klar, dass der Solidarpakt II auf
15 Jahre angelegt wird. Es ist vernünftig, dass alle Revisionsklauseln, über die zwischendurch debattiert worden
ist, für den Finanzausgleich auch vor dem Hintergrund
aufgegeben worden sind, dass 2020 ein neuer Finanzausgleich in Kraft treten wird, der definitiv die ostdeutschen
Länder mit allen Rechten und Pflichten in das gesamtdeutsche System hineinnehmen wird. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass 2020 mit der Förderung der ostdeutschen Länder Schluss wäre. Vielmehr wird dann in
Deutschland nicht mehr zwischen Ost und West, sondern
schlicht nach gleichen und ungleichen Lebensverhältnissen unterschieden werden. Das heißt selbstverständlich, dass es weiterhin einen Finanzausgleich, in dessen
Rahmen die Stärkeren für die Schwächeren einzustehen
haben, geben wird und dass der Bund weiterhin eine
Strukturpolitik betreiben wird, die auf die unterschiedlichen Situationen in den Ländern mit der Zielsetzung
Präsident Wolfgang Thierse
einwirkt, wertgleiche Lebensbedingungen in allen Regionen unseres Landes, wie es im Grundgesetz festgelegt ist,
herzustellen.
Entscheidend ist aber: Wir haben für eine halbe Generation Klarheit geschaffen.
({2})
Das heißt - auch das muss man sich klarmachen -, dass
die Herstellung der inneren Einheit Deutschlands - ich
möchte gar nicht kritisch zurückblicken; ich sage das für
uns alle - länger dauern wird, nämlich eine Generation,
als wir es ursprünglich im ersten Überschwang gedacht
hatten. Wir brauchen eine Generation und noch viel Geld
für den Aufbau Ost, damit die ostdeutschen Länder die
Chance haben, zu den westdeutschen Ländern aufzuschließen.
Dass wir das geschafft haben, auch mit dieser Perspektive, zeigt, dass der Föderalismus in Deutschland reformfähig ist. Ich sage aber auch ausdrücklich: Es gibt auch
Reformnotwendigkeiten. Es gibt nicht erst Reformnotwendigkeiten im Jahr 2020, wenn angesichts der inneren
Einheit Deutschlands, die dann hergestellt sein wird, alles
neu auf den Prüfstand kommt, sondern es gibt bereits
vorher Reformnotwendigkeiten. Das finden Sie übrigens
in unseren Verabredungen. Nachdem wir für den Solidarpakt II Klarheit geschaffen haben, wollen wir, dass künftig die ostdeutschen Länder, nachdem die Mittel für das
Schließen der Infrastrukturlücke klar sind, die Verantwortung selbst übernehmen und selbst dokumentieren,
was sie mit dem Geld tun. Das ist der Sinn der Fortschrittsberichte, die von den ostdeutschen Ländern - das
war deren eigene Vorstellung - jedes Jahr vorgelegt werden. Wir alle hantieren ja mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dieses Landes. Deswegen sind
wir ihnen rechenschaftspflichtig.
Wir geben den ostdeutschen Ländern aber auch Selbstständigkeit. Das heißt, die Mittel werden nicht mehr
aufgespalten in ungebundene Sonderbundesergänzungszuweisungen und gebundene Investitionsfördermittel
nach dem Investitionsfördergesetz, sondern die Mittel
nach dem Investitionsfördergesetz werden in ungebundene Mittel umgewandelt und in den Finanzausgleich
integriert. Ich halte das für einen großen Fortschritt.
({3})
Ich weiß aber auch, dass es immer mehr darauf ankommt - das wird Diskussionen auslösen; das wissen aber
auch die ostdeutschen Länder -, die etwas altertümliche
Unterscheidung zwischen konsumtiven und investiven
Ausgaben aufzugeben - konsumtive Ausgaben senken
und investive Ausgaben erhöhen - und vielmehr zukunftsbezogene Ausgaben zu stärken. So sind zum Beispiel die Ausgaben für Bildung und Forschung keine Investitionen im klassischen Sinne, sondern konsumtive
Ausgaben; aber es sind Ausgaben, die helfen, künftigen
Wohlstand zu erzeugen. Da wird es noch Diskussionen in
den ostdeutschen Ländern selbst darüber geben, was sie
mit der zusätzlich gewonnenen Verantwortung und Freiheit machen. Das finde ich aber auch richtig. Das ist gelebter Föderalismus.
({4})
Außerdem werden wir in der Zwischenzeit an das
Thema der Mischfinanzierung herangehen. Ich bin sehr
gespannt, wie die Position der Länder am Schluss wirklich sein wird. Die Bundesregierung steht dieser Diskussion nicht nur aufgeschlossen gegenüber; sie bereitet sich
systematisch darauf vor und wird auch ihren Beitrag dazu
leisten.
Lassen Sie mich in aller Freundschaft eines sagen, weil
ich das eine oder andere aus den Ländern gehört habe: Die
Abschaffung der Mischfinanzierungstatbestände wird
nicht so laufen, dass der Bund alles Geld herübergibt, also
weiter finanziert, und die Länder entscheiden, sondern die
Abschaffung der Mischfinanzierungstatbestände wird
vernünftigerweise so vor sich gehen, dass man sich Aufgabe für Aufgabe ansieht, dann entscheidet, wer welche
Aufgabe besser erfüllen kann, die Länder oder der Bund,
und die Finanzen dementsprechend aufteilt. Erst danach
folgt die Auflösung der Mischfinanzierungstatbestände.
Die Auflösung der Mischfinanzierungstatbestände
- das will ich mit aller Klarheit sagen - muss dann auch
ausgabenneutral erfolgen. Das ist keine Gelegenheit, im
Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern Geld hinund herzuschieben und insgesamt zu höheren Ausgaben
zu kommen. Das kann nicht das Ziel der Veranstaltung
sein, im Gegenteil: Wenn wir mehr Klarheit über die Ausgabenverantwortung haben, was ich für sehr wünschenswert halte, dann müsste es doch auch die Chance geben,
mit denselben Mitteln mehr zu machen, sie effizienter einzusetzen oder aber auch mit etwas weniger Mitteln auszukommen. Beides muss möglich sein. So müssen wir die
Diskussion um die Auflösung der Mischfinanzierungstatbestände anlegen.
({5})
Das also sind Wege zur weiteren Reform des Föderalismus, die am vorvergangenen Wochenende zwischen
Bund und Ländern einvernehmlich so diskutiert und in
den Beschlüssen auch niedergelegt worden sind.
Heute geht es um das Maßstäbegesetz. Dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts folgend hat die Bundesregierung im Frühjahr den Entwurf eines Maßstäbegesetzes
vorgelegt. Sie haben gesehen, dass dies auch prägend auf
die Diskussion eingewirkt hat.
Nun will ich etwas sagen, weil ich ja auch kritische
Diskussionen führe: Ich halte das nicht für Schacherei und
anderes - wie es von einigen bezeichnet wird -, sondern
ich sehe das wie folgt. Die Länder nehmen ihre Interessen
in Deutschland wahr, genauso wie wir als Deutsche unsere Interessen in Europa wahrnehmen. Das sind demokratisch gewählte Regierungen, die die Interessen ihrer
Länder wahrnehmen.
Die Regierungschefs der Länder und der Stadtstaaten
hatten zuvor einvernehmlich festgestellt - das war die
Grundlage -, dass die Länderneugliederung in diesem
Zusammenhang keine Rolle spiele. Das bedeutet auch,
dass man einen Finanzausgleich durchführen muss, der
allen Mitgliedern der bundesstaatlichen Gemeinschaft
eine auskömmliche Finanzierungsgrundlage sichert. Es
macht keinen Sinn, einen Finanzausgleich zu schaffen,
der einzelne Länder in eine Haushaltsnotlage bringt. Das
wäre von vornherein falsch. Wer etwas anderes anstrebt,
der muss sagen, dass er eine Länderneugliederung will.
Alle Länder haben dezidiert gesagt, das sei für sie im Zusammenhang mit dem Finanzausgleich kein Thema.
Hinter dem Maßstäbegesetz stehen die Gedanken einer
auskömmlichen Finanzausstattung für alle und einer besonderen Solidarität mit den ostdeutschen Ländern
während einer halben Generation, also in den nächsten
15 Jahren - das haben wir am Wochenende gemeinsam
beschlossen -, um den Aufbau Ost weiterhin möglich zu
machen. Die Bundesregierung hat in genauer Verfolgung
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts darauf gedrungen, dass das System einfacher und transparenter
wird, dass es eine breitere Ausgleichsbasis erhält und dass
auf dieser breiteren Ausgleichsbasis ein flacherer Tarifverlauf möglich wird, der viele Sondertatbestände integriert. Schließlich steht hinter dem Maßstäbegesetz der
Gedanke, dass die Anreizwirkungen im System zugunsten
derjenigen gestaltet sind, die in überproportionalem
Maße - das sind nicht immer die Wohlhabenden - steuerlich belastet werden. Sie sollen mehr von dem behalten
können, was sie überproportional bekommen haben.
All diese Elemente finden sich - das will ich ausdrücklich einräumen - im Gesetzentwurf, wenn man ihn
mit unserem ursprünglichen Entwurf vergleicht, nicht in
Reinkultur wieder. Dieser Gesetzentwurf ist ein Ergebnis
der Verabredungen der Länder untereinander und der
Länder mit dem Bund.
Das Problem des Deckungsquotenverfahrens zwischen Bund und Ländern - diesbezüglich gibt es im Maßstäbegesetz Lösungsansätze - ist noch zu lösen. Diese
Frage ist, solange es die Bundesrepublik Deutschland
gibt, nicht beantwortet. Ich halte es für unbefriedigend,
dass die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern in
Wirklichkeit immer nur über politisches Armdrücken
statt über nachvollziehbare Kriterien geregelt wird.
({6})
Auch wenn wir dieses Problem bisher noch nicht gelöst
haben, halte ich es für einen großen Fortschritt, dass sich
die Länder bereit gefunden haben, dieses Thema anzugehen, und zwar mit der Zielsetzung, noch in dieser Wahlperiode zu einem Ergebnis zu kommen.
Ich will aber ebenso deutlich sagen: Für mich hängt
diese Frage mit dem Ziel zusammen - dieses Thema ist
hier ebenfalls zu behandeln; ich habe in dieser Hinsicht
schon klare Vorschläge gemacht -, den Europäischen
Stabilitäts- und Wachstumspakt in innerdeutsches
Recht umzusetzen. Die Finanzverteilung zwischen Bund
und Ländern - sie wird im Übrigen immer Grund für politischen Streit sein, unabhängig vom Verfahren, das man
findet - ist dann nicht mehr von besonderer Bedeutung,
wenn wir uns alle auf den Weg der Haushaltskonsolidierung begeben und sich die Frage, was passiert, wenn jemand über die Stränge schlägt, überhaupt nicht mehr
stellt. Meine Zielsetzung war es, auf diese Frage eine Antwort zu finden.
Nach allen Diskussionen, die wir geführt haben - die
Länder brauchen noch ein bisschen Zeit -, glaube ich,
dass wir eine Chance haben, gemeinsam in diese Richtung
zu gehen. Ich sage ausdrücklich: Aus meiner Sicht muss
die Regelung des Deckungsquotenverfahrens mit der Implantierung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes in das innerdeutsche Recht verbunden werden.
Wir wollen einer Einigung in dieser Angelegenheit
nicht im Wege stehen. Ich glaube, dass dieser Tag aufgrund dessen, was wir am Wochenende beschlossen haben, ein großer Tag für den Föderalismus und für seine
Reformfähigkeit ist.
({7})
- Sie müssen einmal aufpassen!
({8})
- Ich habe nicht Ihr Manuskript, Herr Koppelin. Sie können Ihre Rede gleich hier abliefern; das ist wohl wahr. Sie
müssen sich einmal entscheiden. Zwar sind Sie zurzeit nur
in wenigen Ländern an der Regierung beteiligt; doch dort,
wo dies der Fall ist, tragen Sie diese Politik natürlich mit.
Deswegen muss auch Ihre Partei einmal zu einer einheitlichen Strategie kommen.
({9})
Es geht nicht an, dass Sie in Mainz, in Wiesbaden und in
Stuttgart kräftig mitregieren, aber im Deutschen Bundestag sagen: Wir verabschieden uns von all dem, was unsere
Parteifreunde in den Ländern machen.
({10})
- Ich weiß, dass das der Bundestag ist. Sehr verehrter Herr
Westerwelle, Sie müssen versuchen, eine einheitliche
liberale Antwort auf die bundespolitischen und auf die
länderpolitischen Fragen zu finden.
({11})
Wenn das nicht möglich wäre, dann gäbe es keine Einigung. Sie machen es sich ein bisschen leicht. Ich vertrete
hier massiv die Bundesinteressen. Wenn das während der
Zeit, als Sie an der Bundesregierung beteiligt waren, auch
immer so gewesen wäre, wäre für den Bund vielleicht
manches ein bisschen leichter.
Verehrter Herr Westerwelle, Ihre Partei wird nicht umhin kommen - das werden Sie mit Herrn Braukhage,
Herrn Brüderle und vielen anderen ausmachen müssen -,
zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Wenn Sie die
nicht finden, ist Ihre Partei für den Föderalismus leider ein
Ausfall.
({12})
Nur die Parteien, die am Schluss zu einer einheitlichen Linie zwischen Bund und Ländern finden, können dieses
Problem lösen.
Deshalb sage ich hier mit aller Klarheit: Die Bundesregierung wollte eine Regelung bezüglich der Frage, was
passiert, wenn Haushaltsnotlagen entstehen, ins Gesetz
schreiben; sie findet sich im jetzigen Gesetz nicht wieder.
Die Rechtsposition des Bundes hat sich aber in keiner
Weise geändert. Solange ich Bundesfinanzminister bin,
werde ich alles daran setzen, die entsprechende Regelung
durchzusetzen, falls der Fall jemals auftritt. Es ist eine gemeinsame Sache von Bund und Ländern, einem unverschuldet in Not geratenen Land bzw. einem Mitglied der
bundesstaatlichen Gemeinschaft zu helfen. Damit es völlig klar ist - das werde ich auch am nächsten Freitag im
Bundesrat so sagen -: Das ist nicht alleinige Aufgabe des
Bundes.
({13})
Fazit: Wir haben in der Tat ganz klare Linien gezogen,
und zwar gemeinsam, trotz allen Streites, den es im Vorfeld gegeben hat und den es immer geben wird, wenn es
um Geld geht. Ich wiederhole: Verehrter Herr Koppelin,
das ist Föderalismus. Dem Föderalismus sind wir alle verpflichtet. Bundestreue ist eine wechselseitige Verpflichtung. Falls das nicht klar sein sollte, sage ich es Ihnen: Der
Deutsche Bundestag hat die föderalen Belange genauso
zu achten, wie die Länder diese im Bundesrat zu achten
haben.
({14})
Der Bundestag und der Bundesrat sind die Gesetzgebungsorgane des Bundes und der Bund besteht aus den Ländern.
So muss das verstanden werden.
({15})
Ich lege großen Wert darauf festzustellen, dass wir
große Schritte vorangekommen sind.
({16})
Vor allen Dingen haben wir die Finanzpolitik langfristig
klar angelegt. Ich nenne nur den Weg der Haushaltskonsolidierung, der aus dem Schuldenstaat herausführt, die
langfristig angelegte Steuerpolitik und die langfristig angelegten Regelungen für den Aufbau Ost sowie für die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.
({17})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinz Seiffert, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Maßstäbegesetz, das wir
heute beschließen, ist Teil der Einigung der Ministerpräsidenten vom 23. Juni dieses Jahres. Ich will diese Einigung bestimmt nicht kleinreden, sondern ausdrücklich
würdigen. Der Euphorie und dem Jubel aber, den der Bundeskanzler und einige Ministerpräsidenten sowie jetzt am
Schluss auch Herr Eichel verbreitet haben, kann ich mich
beim besten Willen nicht anschließen.
({0})
Das war kein großer Tag. Dieser Kompromiss war keine
Sternstunde für den Föderalismus, sondern hart errungen
und mit ganz erheblichen Schönheitsfehlern behaftet.
Die 16 Ministerpräsidenten waren sich mit der Bundesregierung einig, dass der Finanzausgleich nicht grundlegend reformiert, sondern so weiter geführt wird, dass
alle - der Bund und die Länder - profitieren. Möglich
wurde dies nur durch die Einbeziehung des Fonds Deutsche Einheit in den Finanzausgleich. Dieses Vorgehen
verschaffte die notwendige Manövriermasse, andere sagen: das nötige Spielgeld. Bund und Länder waren sich einig, in den Jahren 2002 bis 2004 die Tilgung im Fonds
Deutsche Einheit fast vollkommen auszusetzen. Von
2005 bis 2019 übernimmt der Bund die Zins- und
Tilgungslasten. Er lässt sich den Aufwand teilweise durch
eine Vorwegentnahme aus dem Umsatzsteuertopf entgelten und vermindert seine Tilgungsleistungen weiter.
Diese scheinbar elegante Lösung hat einen entscheidenden Nachteil: Die Tilgungsstreckung geht voll zulasten derer, die nicht am Verhandlungstisch gesessen haben,
nämlich zulasten der kommenden Generationen, der
künftigen Steuerzahler und übrigens auch der künftigen
Regierungen.
({1})
Herrn Finanzminister Eichel wird diese Liquiditätsschöpfung im Wahljahr helfen, seine Haushaltsprobleme
zu bewältigen. Er hat durch diese Aktion bis 2004 deutlich über 4 Milliarden DM an Tilgungsausgaben vermieden und damit Liquidität geschöpft. Auch den Ländern
kommt diese Tilgungsstreckung durchaus gelegen. Das ist
ein sehr bequemer Weg, der da gemeinsam beschritten
wird. Aber richtig ist das nicht.
Ich kann es nicht unterlassen, bei dieser Gelegenheit
ins Jahr 1997 zurückzublenden. Damals hat die alte Regierung den Tilgungsbetrag für 1998 bis 2000 um je
3 Milliarden DM gekürzt. Das ist wahr. Dies war jedoch
damals problemlos möglich, weil unter Theo Waigel zu
diesem Zeitpunkt der Tilgungsplan übererfüllt war. Damals haben Veräußerungserlöse zur überplanmäßigen
Schuldentilgung im Fonds Deutsche Einheit beigetragen und diese sind auch dafür verwendet worden. Von einem ursprünglichen Gesamtvolumen des Fonds in Höhe
von 160 Milliarden DM ist bis zum Regierungswechsel
1998 von Bund und Ländern gemeinsam fast die Hälfte
getilgt und finanziert worden.
Es war somit völlig klar, dass die Tilgung des Fonds bis
2016, also innerhalb einer Generation, wie dies immer geplant war, abgeschlossen werden kann. Heute aber streitet
man sich, wer - der Bund oder die Länder - den Betrag
zahlt, der nach 2019 noch immer zu tilgen ist. Das ist der
Unterschied zwischen der damaligen Situation und heute.
({2})
Trotzdem ist Theo Waigel für eine damalige maßvolle
und sehr wohl begründete Tilgungsstreckung von der
seinerzeitigen Opposition scharf angegriffen worden.
Herr Kollege Spiller hat - ich zitiere das Protokoll vom
9. Oktober 1997 - der damaligen Regierung Buchhaltertricks und Bilanzkosmetik vorgeworfen. Der Kollege
Oswald Metzger - auch ihn darf ich zitieren - hat das damals als eine Politik des Nach uns die Sintflut bezeichnet. So ändern sich also die Zeiten.
({3})
Jetzt bin ich einmal gespannt. Sie haben ja gleich Gelegenheit, einmal darzustellen, wie Sie es heute beurteilen.
Tatsache ist und bleibt: Der Griff in den Fonds Deutsche Einheit hat vom Zwang entbunden, eine wirkliche
Reform des Finanzausgleichs vorzunehmen. Nur so war
es möglich, zulasten künftiger Steuerzahler einen Minimalkonsens zu finden, der letztendlich alle Beteiligten als
Sieger erscheinen lässt.
Das Maßstäbegesetz, das Grundlage für den neuen Finanzausgleich und den Solidarpakt sein soll, erfüllt leider
in vielen Punkten nicht unsere Vorstellungen und wohl
auch nicht die des Bundesverfassungsgerichts: Durch den
jetzt eingeschlagenen Weg wird der Finanzausgleich nicht
einfacher und transparenter, sondern teilweise noch komplizierter und noch unverständlicher. Zu den zahllosen
Rechenschritten, die notwendig sind, kommen weitere
hinzu. Das bringt ein Mehr an Rechenaufwand und damit
ein Weniger an Verständlichkeit und Transparenz.
Praktisch alle Sonderregelungen bleiben erhalten und
neue kommen hinzu. Wenn ich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts richtig verstanden habe, dann hätten
diese Sondertatbestände auf ihre Berechtigung und Rationalität hin überprüft werden sollen; dann hätten Maßstäbe
beschrieben und Kosten nachgewiesen werden müssen;
dann hätten Grundsätze und Fakten konkret benannt werden müssen.
Dies alles ist leider ziemlich unterblieben. Von Maßstäben habe ich wenig gehört, hat der Ausschussvorsitzende Kröning dem Spiegel berichtet.
({4})
Leider waren sachfremde Erwägungen und Zusagen des
Herrn Bundeskanzlers, die er im Zusammenhang mit der
Steuerreform gemacht hat, wichtiger und entscheidender.
({5})
So haben wir also künftig - wohl bis 2019 - die Stadtstaatenregelung mit einer Einwohnergewichtung von
135 Prozent wie bisher, unabhängig von der unterschiedlichen Größenordnung. Wir bekommen neuerdings eine
stärkere Einwohnergewichtung für dünn besiedelte Ostländer. Zur Deckung der Kosten für die politische
Führung in den kleinen Ländern werden auch künftig
- zwar um ein Drittel verringert - weiter Bundesergänzungszuweisungen gewährt. Auch die Hafenlasten sind
zwar gekürzt, aber nicht ganz vergessen worden. Für
Rheinland-Pfalz sollen, damit man auch dort einen Reformgewinn vermelden kann, noch 20 Millionen DM pro
Jahr draufgesattelt werden.
Damit ich nicht missverstanden werde: Ich gönne jedem einzelnen Land seine Zuweisungen und Vorteile. Allerdings hätte ich in dem Maßstäbegesetz gern ihre Berechtigung nachgewiesen gehabt.
Dasselbe gilt für die Einbeziehung der kommunalen
Finanzkraft in das Ausgleichssystem. Hier wurde ein
höherer Ansatz gewählt - statt seither 50 Prozent künftig
64 Prozent -, unabhängig davon, ob nun die Finanzautonomie der Kommunen seit der letzten Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts von 1992 zugenommen hat
oder kleiner geworden ist. Die Erhöhung von 50 auf
64 Prozent war das Ergebnis mehr eines Kuhhandels als
eine Prüfung der Fakten.
Dies sind alles Kritikpunkte, die nach meiner Überzeugung mehr sind als Schönheitsfehler. Wenn die
CDU/CSU-Fraktion dem Gesetz, das richtigerweise bis
Ende 2019 befristet wird, dennoch zustimmen wird, so hat
dies folgende Gründe:
Der Finanzausgleich wird durch das neue Gesetz für
Zahler- und Empfängerländer ein Stück weit gerechter. Es
ist gelungen, die Anreizwirkung im System deutlich zu
verbessern, ohne dadurch dem Wettbewerbsföderalismus
zu sehr zu huldigen. Wir halten es für richtig, dass durch
die Abflachung der Ausgleichstarife Geber- wie Empfängerländer für erfolgreiches Wirtschaften künftig besser
belohnt werden.
({6})
Auch das Prämienmodell, das ab 2005 einen verbesserten Selbstbehalt bringt, ist ohne Vorbehalt zu befürworten. Für wichtig halte ich ebenso, dass durch diesen
Anreiz auch die Empfängerländer profitieren.
Schließlich ist es voll berechtigt, bei 72,5 Prozent eine
Abschöpfungsobergrenze einzuziehen. Da durch dieses
verbesserte Anreizsystem künftig auch die Finanzkraftreihenfolge im Länderfinanzausgleich wohl ehere eingehalten wird, erscheint eine wichtige Forderung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Punkt erfüllt.
Dass sich die Ministerpräsidenten auf diese sicher erst
langfristig wirkende Verbesserung der Anreizwirkung
verständigen konnten, ist hoch einzuschätzen. Dies ist ein
wichtiger Beitrag für das gutnachbarschaftliche Miteinander in unserem föderalen Staatsaufbau.
Eindeutig positiv sehe ich auch die Einigung der Ministerpräsidenten auf die Fortführung des Solidarpakts II. Ich sehe darin ein Stück verwirklichter Solidarität der Länder, auch der Geberländer, sowie des
Bundes.
Eines will ich aber zu dem, was in der Öffentlichkeit
als großer Segen für die neuen Bundesländer verkauft
worden ist - teilweise ist vermeldet worden, das sei mehr,
als sie gewollt hätten -, klar sagen: Das ist deutlich
weniger, als bisher gewährt wurde, und es ist deutlich weniger als das, was die neuen Bundesländer berechtigterweise verlangt und durch Gutachten als gerechtfertigte
Forderung nachgewiesen haben.
({7})
Immerhin sollen die neuen Länder über das Geld aber
nun frei verfügen können, ohne besondere Zweckbindung. Das begrüßen wir ausdrücklich, weil dies ein Stück
mehr Gestaltungsmöglichkeit und Autonomie für die
Länder schafft. Allerdings übernehmen die Länder damit
auch mehr Verantwortung und sie werden sich künftig
jährlich in einem Fortschrittsbericht an den Erfolgen messen lassen müssen.
Es ist auch ausdrücklich zu begrüßen, dass die neuen
Länder durch den Kompromiss zum Länderfinanzausgleich und zum Solidarpakt II bis zum Jahr 2019 Planungssicherheit erhalten. Das halte ich für wichtig, weil
damit auch ein Stück Unabhängigkeit verbunden ist.
Wenn wir diese Unabhängigkeit und das Vertrauen der
Kommunen langfristig sichern wollen, muss der Bund
alsbald die Kraft aufbringen, eine Neuordnung und Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung in Gang zu
setzen.
Zu dieser Föderalismusreform gehört auch eine umfassende Gemeindefinanzreform.
({8})
Wenn die Länder jetzt eine Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierung anmahnen, so
sollte der Bund die Chance ergreifen und alsbald auf dieses Verhandlungsangebot eingehen. Mit so genannter ruhiger Hand oder durch Aussitzen kann die Regierung dieses drängende Problem nicht lösen.
({9})
In 19 Sitzungen hat sich der Sonderausschuss seit November 2000 mit dem komplizierten Thema Maßstäbegesetz und Länderfinanzausgleich befasst. Über viele
Monate hatten die Sitzungen den Charakter gehobener
Volkshochschulfortbildungskurse.
({10})
Nach der Einigung der Ministerpräsidenten vor elf Tagen
musste dann aber alles hoppla hopp gehen. In anderthalb
Wochen wurde das Maßstäbegesetz durchgepaukt. Dieses
überstürzte Vorgehen und der wahnsinnige Zeitdruck gehen ganz sicher zulasten der Qualität des Gesetzes.
({11})
Aber das kennen wir von dieser Regierung ja schon.
Wenn ein Umdruck über einen Vorschlag zur Änderung der vertikalen Umsatzsteuerverteilung, also komplizierte Sachverhalte, erst am Morgen eines Sitzungstages
als Vorlage auf den Tisch gelegt wird, dann kann man
beim besten Willen nicht von einem geregelten und ordnungsgemäßen Verfahren sprechen.
({12})
Viele Kolleginnen und Kollegen von der Opposition haben sich durch dieses chaotische Verfahren ganz erheblich
in ihren Mitwirkungsrechten beeinträchtigt gefühlt. Diese
Kritik kann ich Ihnen nicht ersparen. Gleichwohl darf ich
anerkennen, dass die Regierungskoalition bereit war, einige Änderungsvorschläge von uns zu akzeptieren und zu
unterstützen; das kommt leider selten genug vor.
Ich hoffe sehr, dass dies beim Finanzausgleichsgesetz,
das wir richtigerweise noch in dieser Legislaturperiode
verabschieden wollen, besser wird. Der Entschließungsantrag, den SPD, Grüne und PDS heute vorlegen, ist
ebenso wie das Maßstäbegesetz mit heißer Nadel gestrickt worden. In verschiedenen Punkten war eine Überprüfung und Abstimmung mit den Landesministern
schlichtweg nicht mehr möglich. Noch gestern sind am
späten Nachmittag in diesem Entschließungsantrag Änderungen und Nachbesserungen vorgenommen worden.
Ich fühle mich daher einfach nicht in der Lage, meiner
Fraktion auf dieser unsicheren Basis eine Zustimmung zu
diesem Entschließungsantrag zu empfehlen. Wir sollten
uns im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch einmal in Ruhe und mit Sorgfalt mit all den Themen, die Sie
jetzt in diesem Entschließungsantrag ansprechen, befassen. Wir werden uns deshalb bei der Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Stimme enthalten.
Dem Maßstäbegesetz und dem Änderungsantrag, in
dem die Befristung des Gesetzes bis Ende 2019 geregelt
wird, stimmen wir nach reiflicher Abwägung zu.
({13})
Ich hoffe sehr, dass dieses Gesetz langfristig die Basis für
einen gerechteren Finanzausgleich, der aber äußerst kompliziert ist, sein wird.
Vielen Dank.
({14})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, zwischendurch möchte ich mitteilen, dass
die F.D.P. im Rahmen der Schlussabstimmung zu Tagesordnungspunkt 3 namentliche Abstimmung beantragt hat,
die um etwa 11.30 Uhr stattfinden wird.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Oswald
Metzger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man fühlt sich
schon ein wenig zwiespältig bei einem Gesetzgebungsverfahren, von dem man genau weiß, dass
viele Absprachen und Abstimmungen, was sowohl die
CDU- und CSU-regierten als auch die SPD-geführten
Länder betraf, buchstäblich in Nachtsitzungen getroffen
wurden und dass das grüne Licht für die jeweiligen Verhandlungspartner der Fraktionen erst am nächsten Vormittag kam. Nachdem wir am letzten Freitag hier im Plenum in diesem Zusammenhang eine große Messe
gesungen haben - das betrifft alle, die zu diesem Thema
gesprochen haben, auch einen CDU-Ministerpräsidenten,
Herr Kollege Seiffert -, ist das Nachtarocken auf der Arbeitsebene, das in den letzten Tagen erfolgte, ziemlich erbärmlich. Das muss ich einfach loswerden; denn wenn
man etwas von der Sache versteht, dann findet man das
umso schlimmer.
Andererseits ist es beruhigend, zu wissen, dass dieser
Streit die breite Masse der Bevölkerung kaum erreicht.
Denn dieses Thema interessiert den Normalbürger in der
Tat fast gar nicht, obwohl es ihn interessieren müsste, weil
es um extrem viel Geld geht, nämlich um 60 Milliarden DM Ausgleichsmasse pro Jahr. Wir sprechen hier
über einen Zeitrahmen von 19 Jahren. Gesetze mit einer
solch umfassenden und langfristigen Finanzwirkung verabschiedet der Bundestag extrem selten. Die öffentliche
Aufmerksamkeit steht also in keinem Verhältnis zur Substanz, die in Gestalt der entsprechenden Finanzmasse vorliegt.
Nun zu dem Thema - die F.D.P. hat dies behauptet;
aber auch der Kollege Seiffert hat es in seinem Redebeitrag besonders herausgekehrt -, der Bund bzw. der Bundesfinanzminister verschiebe durch das Maßstäbegesetz
und die parallel vorgesehene Einbeziehung des Fonds
Deutsche Einheit Lasten auf die Zukunft. Ich kann dies
nicht bestätigen. Solange öffentliche Haushalte in dieser
Republik ständig neue Schulden machen, ist zu hinterfragen - das soll mir, bitte schön, einmal jemand beantworten -, wer die Tilgung von Sondervermögen bezahlt.
Die bezahlt man mit Krediten, also doch zulasten der heutigen Generation. Wie kann eine kreditfinanzierte Tilgung
tatsächlich eine Entlastung der Steuerzahler sein? Überhaupt nicht! Das war es auch zu Ihrer Regierungszeit
nicht. Deshalb haben wir dies damals kritisiert. Wir wollten es seriöser machen.
Schauen Sie sich einmal den Bundeshaushalt dieses
Jahres, den von 2001, an: Die Regierungskoalition hat im
letzten Herbst den Effekt der Tilgungsstreckung beim
Fonds Deutsche Einheit, der auf Druck der Bundesländer zustande kam, dazu genutzt, die Neuverschuldung im
laufenden Jahr im Vergleich zum Regierungsentwurf des
Bundesfinanzministers vom Mai letzten Jahres um
1,2 Milliarden DM abzusenken. Wir haben solide und seriös gehandelt. Sie können sich darauf verlassen, dass wir
im Herbst dieses Jahres im parlamentarischen Verfahren
den Betrag von 740 Millionen DM, der sich jetzt durch die
Tilgungsstreckung für das Jahr 2002 ergibt, dazu verwenden werden, die Neuverschuldung gegenüber dem Regierungsentwurf zu reduzieren. Wenn die gleiche Solidität
auf der Länderseite - ob schwarz, ob rot oder ob bunt gemischt regiert - an den Tag gelegt würde, dann würde der
deutsche Steuerzahler in der Tat profitieren. Er profitiert
aber nicht davon, dass man einfach nur die Backen aufbläst.
({0})
Ein zweiter Gesichtspunkt. Man muss natürlich aufgrund des diffizilen Verhältnisses zwischen Bund und
Ländern - diese Erfahrung macht jede Regierung dieser
Republik, egal wer gerade regiert - die Interessen genau
austarieren. Wenn ein so großes Misstrauen besteht - es
bestand jetzt über viele Monate zwischen Bund und Ländern, zwischen Ost- und Westdeutschland, weil jede Seite
Angst hatte, bei diesem riesigen Reformpaket, bei dem es
um viel Masse geht, von der jeweils anderen Seite über
den Tisch gezogen zu werden -, führt das faktisch zu einer Lähmung der föderalen Politik in unserem Land. Angesichts der Tatsache, dass man jetzt - wenn auch nur
marginal - eine Veränderung im Maßstäbegesetz erreicht
hat, die beiden Seiten, den Geberländern wie den Nehmerländern, und vor allem dem Osten über den Solidarpakt Planungssicherheit gibt und die Verlässlichkeit in
Bezug auf die Rahmenbedingungen schafft, komme ich
zu der Überzeugung, dass dieses Gesetz für den Föderalismus in unserem Land gut ist, auch wenn noch nicht
das große Rad einer echten Finanzverfassungsreform gedreht wurde.
Es ist daher kein Wunder, dass diesem Maßstäbegesetz
auch die größte Oppositionsfraktion im Bundestag zustimmt. Es gibt einen Grundkonsens, der darauf basiert,
dass man in diesem Bereich wieder rational handeln und
zwischen Bund und Ländern eine Geschäftsgrundlage für
die Gesetzgebung schaffen will. Das ist gut und richtig.
Richtig ist auch, dass wir Signale ausgesandt haben,
die auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1999 aufgreifen. Wir wollen nämlich die
Bundesergänzungszuweisungen, die praktisch eine Art
Sahnehäubchen im Finanzausgleich sein sollten, die aber
inzwischen auf rund 20 Milliarden DM pro Jahr angewachsen sind, langfristig zurückführen. Dazu muss man
den Topf des Finanzausgleichsgesetzes vergrößern und
die Bemessungsgrundlage verbreitern, indem man die Finanzkraft der Kommunen stärker einbezieht als in der
Vergangenheit. Das ist ein Fortschritt, um den gekämpft
wurde. Wir hätten gerne einen größeren Anteil als 64 Prozent erreicht. Aber 64 Prozent sind mehr als die bisherigen 50 Prozent.
({1})
Diese Regelung nutzt langfristig vor allem dem Osten dieser Republik, weil gerade die Armenhäuser in Deutschland davon profitieren, dass der Finanzausgleich auf lange
Sicht mehr Masse hat. Das ist gut so.
Richtig ist auch, dass Anreize in das Maßstäbegesetz
aufgenommen werden: das Prämiensystem - von Herrn
Seiffert zu Recht positiv erwähnt - oder der größere
Selbstbehalt der Länder bei den Steuereinnahmen. Das
sind positive Effekte, die durchaus dazu führen können,
dass künftig mehr Effizienz in das binnenstaatliche Handeln kommt.
Ich will noch einmal sagen - da bin ich Realist genug -:
Es sind kleine Schritte auf dem Weg zu einer Reform. Es
kann nicht darum gehen, im großen Stil Wasser in den
Wein zu gießen. Mehr war zu diesem Zeitpunkt einfach
nicht möglich. Das muss man auch als grüner Finanzpolitiker anerkennen.
In dieser Debatte ist natürlich ein weiterer Gesichtspunkt zu beachten: Wenn wir mit einer großen Finanzverfassungsreform wirklich Ernst machen wollen - es
sind sich alle hier im Hause darüber im Klaren, dass sie
auf der Agenda steht -, dann werden wir in der nächsten
Legislaturperiode in der Tat über mehr Verantwortung der
verschiedenen staatlichen Ebenen für die Einnahmen und
Ausgaben diskutieren müssen. Wir werden natürlich auch
über das Konnexitätsprinzip diskutieren müssen, das man
als Kommunalpolitiker auf den Nenner bringen kann: Wer
bestellt, bezahlt.
Wenn Aufgaben an untere staatliche Ebenen übertragen werden, dann hat die jeweils übertragende Stelle auch
für eine entsprechende Finanzausstattung zu sorgen.
({2})
In diesem Kontext muss eine große Reformagenda in der
nächsten Legislaturperiode angegangen werden. Wir sind
dazu bereit. Ich hoffe, dass dann, wenn es konkret wird,
weniger interessengeleitet diskutiert wird als in den letzten Wochen.
({3})
Jetzt komme ich zu dem Punkt, der für mich persönlich
auch nicht gerade alltäglich ist. Ich bekenne heute als
Redner meiner Fraktion, die überwiegend zu einem Änderungsantrag steht, zu dem auch die CDU/CSU, aber
auch die SPD stehen: Ich persönlich finde es falsch, das
Maßstäbegesetz, über das wir heute abstimmen, zu befristen.
({4})
Ich sage auch, warum. Wir können nicht ein Maßstäbegesetz befristen, zu dem das Bundesverfassungsgericht
in seiner Entscheidung von 1999 gesagt hat, dass es dazu
dient, die unbestimmten Rechtsbegriffe in Art. 106 und
107 des Grundgesetzes zu konkretisieren.
({5})
Wir konkretisieren unbestimmte Rechtsbegriffe eines
unbestimmt geltenden Grundgesetzes. Wie man Grundrechtsnormen im Maßstäbegesetz befristen kann, erschließt sich mir nicht.
Befristet hingegen ist das Finanzausgleichsgesetz, das
im Prinzip vom Maßstäbegesetz abgeleitet wird. Das Finanzausgleichsgesetz wird man immer wieder - je nach
Entwicklung der Finanzströme zwischen den staatlichen
Ebenen - überarbeiten müssen. Das gilt jedoch nicht für
das Maßstäbegesetz. Jedenfalls darf es nicht ein verabredetes Verfallsdatum haben.
({6})
Daher werde ich nachher gegen den Passus, durch den das
Maßstäbegesetz befristet wird, stimmen.
Ich möchte eine weitere Anmerkung machen. Die Art
und Weise der Auseinandersetzung im Sonderausschuss
war eigentlich auf Rationalität angelegt. Ich gucke auch
den Vorsitzenden, Volker Kröning, an, der hier im Saal
sitzt. Sein Appell, das Gesetzgebungsverfahren so zu organisieren, dass es auch Verfassungsgerichtsmaßstäben
genügt, und eine Diskussion über Maßstabsbildungen zuzulassen, bei der nicht jeder sofort zum Taschenrechner
greift, war aller Ehren wert.
In der Praxis hat es nicht funktioniert - das wissen wir -,
weil offensichtlich sämtliche Fraktionen des Deutschen
Bundestages - mit Ausnahme der Grünen - darauf gewartet
haben, was ihre Ländervertreter ihnen sozusagen ins Gesetzbuch schreiben. Nur unsere Fraktion hatte eine eigenständige Positionierung zum Maßstäbegesetz.
({7})
Wir haben diesen Entwurf schon im letzten Jahr eingebracht, bevor der Bundesfinanzminister seinen Regierungsentwurf vorgestellt hat. Was wahr ist, muss wahr
bleiben.
({8})
- Lieber Fraktionsvorsitzender Struck, wenn unsere Fraktionsvorsitzende bei der Verabredung im Kanzleramt, an
der Sie teilgenommen haben, dabei gewesen wäre, würde
ich sagen: Okay. Sie war aber nicht dabei.
({9})
Aus diesem Grunde sage ich: Wir sind zwar an Landesregierungen beteiligt, aber die Prokura hatten die Finanzminister, die in den entsprechenden Regierungen alle
das SPD-Parteibuch haben.
Was die Runde im Kanzleramt angeht, so muss ich das
schon sagen. Kleine Neckereien angesichts dessen, was in
den letzten Tagen gelaufen ist, müssen erlaubt sein. Ich
bin davon überzeugt, dass wir - das hat man jetzt auch
gemerkt - tatsächlich eine finanzpolitische Grundlinie
hinbekommen und dass wir in den nächsten Monaten
durch das Maßstäbegesetz ein besseres Klima zwischen
Bund und Ländern haben werden. Ich hoffe, dass wir die
Kraft haben, bei dem Finanzausgleichsgesetz in dieser
Legislaturperiode ein ordentliches Ergebnis zu erzielen.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günter Rexrodt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es war einmal eine rot-grüne Koalition. Sie war angetreten, den Reformstau in Deutschland
aufzulösen.
({0})
Den gab es; den gibt es. Er hat viele Gründe. Ich sage einmal - unabhängig vom täglichen politischen Schlagabtausch -: Er besteht, weil gesellschaftliche Gruppierungen, Institutionen, Bundesländer und Kommunen sich mit
aller Macht an ihre Besitzstände und Privilegien klammern. Sie verteidigen diese mit Klauen und Zähnen.
Reformen kommen in diesem Land oft nur schwer oder
gar nicht in Gang, weil es zur Normalität geworden ist,
nicht nur Besitzstände zu verteidigen, sondern immer
noch mehr haben zu wollen. Die Institutionen und auch
die Bundesländer lassen sich daran messen, ob sie noch
etwas über das Normale hinaus bekommen haben. So
wird Politik gemacht: Die Parteien nehmen diese Interessen mehr oder weniger auf - und in welcher Gruppierung
auch immer.
({1})
Vor diesem Hintergrund haben wir in der alten Koalition manches geschafft und manches auch nicht. Gut waren wir beispielsweise bei der Deregulierung im Bereich
der Telekom und der Energiewirtschaft. Es war uns jedoch
verwehrt, eine Steuerreform zu machen. Das hatte viele
Gründe: Es lag zum Teil an Ihnen, zum Teil aber auch an
uns. Auch wir haben Fehler gemacht.
Sie haben bei der Steuerreform einen eigentlich gar
nicht verdienten Punktsieg errungen. Den Mittelstand haben Sie verprellt.
({2})
Sie haben enormen Schaden angerichtet, so beispielsweise beim Arbeitsrecht und bei der Ausweitung der Mitbestimmung. So ist das nun einmal.
({3})
Man kann dies nicht mit zwei Sätzen abtun, aber so ist nun
einmal das politische Geschäft.
Aber nie war eine Regierung aus fadenscheinigen
Gründen so zaghaft und feige wie Sie bei diesem Reformwerk, das wir unter der Überschrift Maßstäbegesetz diskutieren.
({4})
Hier geht es um die Verteilung von Steuergeldern in einer
Höhe von Hunderten von Milliarden, also von Mitteln, für
die viele Millionen Menschen in Deutschland über Jahrzehnte hinweg arbeiten. Diese Reform war Ihnen vom
Bundesverfassungsgericht vorgegeben. Ihren Gesetzestext präsentieren Sie jetzt quasi handstreichartig.
({5})
Dieser Gesetzestext enthält Allgemeinplätze und
Sprechblasen, die das Bundesverfassungsgericht gerade
aus der Welt schaffen wollte. Das Bundesverfassungsgericht wollte geklärt haben, welches laufende und welches notwendige Ausgaben, was Sonderlasten sind und
was ein billiger Ausgleich ist. Karlsruhe wollte Klarheit
bei den Prinzipien für die Verteilung der Mittel zwischen
Bund und Ländern sowie den Ländern untereinander haben. Das alles ist von Ihnen mit Sprechblasen und weiteren Allgemeinplätzen umschifft worden.
({6})
Sie sind dabei einem einfachen Kalkül gefolgt, welches für die Regierung Schröder typisch ist: Was interessieren uns Grundsätze und Prinzipien? Die Hauptsache
ist, gut auszusehen. Um das, was später kommt, werden
wir uns später kümmern.
({7})
So kann man vielleicht die 17. Änderung der Binnenwasserstraßenverordnung
({8})
oder die 9. Änderung der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes angehen.
({9})
- Nicht einmal das; völlig richtig.
Dies geht aber nicht bei einem Gesetzeswerk, welches
die Verteilung unserer wirtschaftlichen Ressourcen über
Generationen hinweg betrifft. Sie sind nach dem Muster
vorgegangen: Wir haben bei der Steuerreform und der unseligen Ökosteuer genug Unruhe gehabt. Wir haben Unruhe und Ärger bei der Rentenreform gehabt. Wir haben
auch immer noch Unruhe im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform; nun bloß keinen Ärger mit den Ländern.
Sie sagen also: Wir nehmen Geld in die Hand
({10})
und dann dürfen die Geberländer ein bisschen mehr behalten und die Nehmerländer bekommen ein bisschen
mehr. Für den Osten müssen wir sowieso bezahlen. - Damit das nicht missverstanden wird: Das ist auch richtig
und wir stehen dazu,
({11})
eine entsprechende Sicherheit zu geben. Das ist gut für die
Menschen und schafft eine Perspektive für die Investoren.
({12})
Aber Ihr Muster war: Wir nehmen Geld in die Hand,
denn der Bundesminister hat aufgrund von Einmalereignissen ein bisschen mehr als sonst. Um das, was später
kommt, kümmern wir uns dann, wenn es so weit ist.
({13})
Wo ist da die für die Schaffung von Prinzipien notwendige Moral? Wer Geld hat, vergisst die Moral. Das
wissen wir alles.
({14})
Sie haben ein wichtiges Reformwerk, das Ihnen das
Verfassungsgericht aufgegeben hat, nicht umgesetzt. Sie
sind von hinten herumgegangen, haben Geld in die Hand
genommen, und zwar da ein Stück und dort ein Stück, und
beschwichtigt. Dann ist Ruhe. Den Kollegen von der
Union sage ich: Von Ihnen kommt eine pflaumenweiche
Stellungnahme, weil Sie die Länder, in denen Sie regieren, haben gut bedienen können.
({15})
Deshalb gehen Sie nicht auf das ein, worauf es ankommt,
nämlich auf die Klärung von Grundsätzen. Sie haben sich
herausgemogelt. Ich sage Ihnen das ganz klar.
({16})
Wo sind denn im Rahmen dieser Föderalismusdebatte
die Fragen nach dem Anreiz für die Erfolgreichen oder
dem Ausgleich für die Schwächeren geklärt worden?
({17})
Genauso unbeantwortet blieb die Frage, was uns die
Hauptstadt wert ist und warum uns die Hauptstadt etwas
wert ist.
Wo sind bei den Fragen der Degression und des Auslaufens von Fördermitteln Grundsätze erkennbar? Es sind
keine erkennbar. Ebenso ist im Hinblick auf die ausstehende Reform der Finanzverfassung eine schlechte
Vorarbeit geleistet worden. Sie haben zu diesem Thema
nichts gesagt, sondern mit diesem Gesetzentwurf opportunistisch und feige gehandelt. In Ihren Reihen ist eine
Diskussion aufgekommen, die dazu geführt hat, dass der
Kollege Kröning aufgrund der bestehenden Unklarheiten
seinen Vorsitz im Sonderausschuss - gestern Abend oder
heute Morgen - niedergelegt hat. Das ist Ausdruck Ihrer
Zerrissenheit, Ihres schlechten Gewissens und Ihrer Unfähigkeit, mit diesem Problem umzugehen.
({18})
Lassen Sie mich als Letztes sagen: Sie haben Tagespolitik gemacht, obwohl es um Werte und um eine vorausschauende Verantwortung geht. Ihr Handeln ist ein Fehlschlag. Über die Tatsache, dass Sie in einer wichtigen
prinzipiellen Frage versagt haben, wird Ihre Mehrheit bei
der heutigen Abstimmung nicht hinwegtäuschen können.
({19})
Das wird Ihnen, auch über diese Legislaturperiode hinaus,
anhängen.
({20})
Ich erteile der Kollegin Barbara Höll, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Rexrodt, so ist das nun einmal: Von
18 Prozent träumen und Inhalte nicht einmal von 0,8 Prozent.
({0})
Schauen Sie einmal in Ihren Entschließungsantrag unter Nr. 2. Sie wollen im Sinne von mehr Wettbewerbföderalismus eine Überarbeitung. Sie würden vielleicht
besser daran tun, in das Grundgesetz zu schauen. Dort
steht eindeutig, dass wir einen solidarischen Föderalismus haben. Es geht um eine Angleichung der Lebensverhältnisse um eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Solange Sie nicht entsprechend den Zielen des
Grundgesetzes agieren können, sollten Sie aufhören, sich
bei der SPD anzudienen, nachdem Sie heute so geschimpft haben und am liebsten dort ins Bett kriechen
würden.
({1})
Ich muss andererseits sagen: Für mich ist diese Rede
ein gewisses Novum, denn es ist meine erste Rede - es
wird sicher die einzige bleiben -, in der ich mich in so
großer Übereinstimmung mit dem Bundesfinanzminister
befinde. Ich denke, dass das Ergebnis, das wir vereinbart
haben und das heute im Bundestag verabschiedet werden
soll, ein Erfolg im Sinne des Föderalismus ist. Es ist auch
ein Erfolg gegenüber dem Ansinnen eines der Grundprinzipien des Grundgesetzes, den solidarischen Föderalismus, aufbrechen oder gar beseitigen zu wollen. Dieser
Versuch wurde abgewehrt und deshalb signalisieren wir
ganz klar unsere Zustimmung zu dem Gesetzentwurf, der
heute verabschiedet werden soll.
Es gibt sicher eine Reihe von Kritikpunkten, die man
anführen kann; es wurde dazu auch schon einiges gesagt.
Mit dem Entwurf wurde die Zielstellung des Bundesverfassungsgerichtes, mehr Transparenz und Überschaubarkeit für die Bürgerinnen und Bürger, nicht erreicht.
Meines Erachtens sind die Maßstäbe, mit denen die angestrebte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse erreicht
werden soll, nicht klargestellt. Trotz allem meinen wir:
Mit dem gefundenen Kompromiss ist eine sehr gute
Grundlage dafür geschaffen worden, dass der Föderalismus gestärkt in die nächsten Jahrzehnte gehen kann.
Ein besonderer Diskussionspunkt hier im Hause war
die Befristung der Vorschriften. Lassen Sie mich dazu
kurz bemerken: Das Gesetz sieht nun Regelungen für fast
20 Jahre vor. Wir meinen, dass man mit einer Befristung
leben kann, vor allem angesichts der Tatsache, dass die
letzten Vereinbarungen zum Länderfinanzausgleich nicht
einmal den vereinbarten Zeitraum überlebt haben und am
Ende der Befristung sowieso eine grundlegende Neuordnung stehen muss, da der Solidarpakt II dann ausläuft.
Lassen Sie mich noch einmal besonders hervorheben,
dass wir als PDS in die Beratungen des Ausschusses Änderungsanträge eingebracht haben, mit denen wir vorgeschlagen haben, den Finanzausgleich zweistufig zu
gliedern. In der ersten Phase sollte eine Angleichung der
Finanzkraft der Länder vorgenommen und in der zweiten
eine Angleichung der Lebensverhältnisse im Wege von
Bundesergänzungszuweisungen realisiert werden. Dieser
Vorschlag wurde von der Mehrheit im Ausschuss nicht
getragen. Aber es sollte eine Möglichkeit bleiben, über die
wir weiter nachdenken, auch bei der Beratung des Finanzausgleichsgesetzes, das uns ja als nächstes ins Haus steht.
Das, was bezüglich des Fonds Deutsche Einheit
vereinbart wurde, ist ein Kompromiss, mit dem, so glaube
ich, alle leben können. Das Bedürfnis der alten Bundesländer, eine gewisse Tilgungsstreckung vorzunehmen,
können wir verstehen; wir werden uns dem nicht versperren. Die Kritik von Herrn Seiffert bezüglich der Regelung,
die festschreibt, wie diese Tilgungsstreckung realisiert
wird, kann ich allerdings nicht teilen. Er sagt, dies gehe
zulasten der zukünftigen Generationen. Aber wenn ich
mich recht erinnere, war es Theo Waigel, der als Bundesfinanzminister 1995
({2})
die Möglichkeiten, die er mit der Einstellung der zusätzlichen Bundesbankgewinne hatte, eben nicht genutzt hat.
Er hätte mit der Tilgung durchaus vorankommen können,
hat die sich bietenden Möglichkeiten aber nicht genutzt,
sondern extra noch das Gesetz geändert. Deshalb sollten
Sie an dieser Stelle in Ihrer Kritik wirklich etwas zurückhaltend sein.
({3})
Die Vereinbarungen für die neuen Bundesländer bezüglich des Solidarpaktes schaffen tatsächlich mehr Planungssicherheit. Das ist das Entscheidende für politische
Handlungsfähigkeit. Dass gleichzeitig ein größerer Freiraum zur politischen Gestaltung und damit mehr Eigenverantwortung vereinbart wurde, kann ja nur im Sinne
von uns allen sein, da damit die Zielstellung verbunden
ist, den Föderalismus tatsächlich zu stärken. Ich glaube,
das ist ein wichtiger, sehr guter Schritt. Kein Land wird
Schwierigkeiten haben, im Fortschrittsbericht nachzuweisen, dass die Gelder sinnvoll eingesetzt wurden.
({4})
Lassen Sie mich noch etwas zur Frage der Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft bemerken. Auch wir
hätten uns eine stärkere Einbeziehung vorstellen können,
zumal wir schon mehrmals im Bundestag betont haben,
dass eine grundlegende Finanzreform notwendig ist. Eigentlich, so muss ich sagen, bin ich diesbezüglich auch
etwas enttäuscht, Herr Metzger; denn dieses Ziel war bereits im Koalitionsvertrag vereinbart und sollte in dieser
Legislaturperiode angegangen werden. Beides, eine
grundlegende Prüfung und eine Stärkung der kommunalen Finanzkraft, ist nicht erfolgt, sodass Sie hier in der
Bringschuld sind. Ich bin aber optimistisch, dass wir das
gemeinsam angehen können.
({5})
Die PDS wird die Befristung also mittragen und unterstützt auch den Entschließungsantrag zur Neugestaltung
des Solidarpaktes. Ich glaube, es ist gut, dass wir das
schon heute verabschieden, auch wenn wir das noch nicht
unbedingt gemusst hätten. So herrscht Klarheit, auch für
die Öffentlichkeit, dass Solidarität mit den neuen Bundesländern angesagt ist und dass alle Bundesländer bereit
sind, diese Solidarität zu üben.
Ich bedanke mich.
({6})
Ich erteile dem Ersten
Bürgermeister der Stadt Hamburg, Ortwin Runde, das
Wort.
Ortwin Runde, Erster Bürgermeister ({0}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Verabschiedung der Finanzreform im Bundesrat am
9. Mai 1969 hat Herbert Weichmann, Bundesratspräsident
und Hamburger Bürgermeister, Folgendes gesagt:
Die Materie der Finanzreform zeichnet sich nicht
eben durch Sex-Appeal aus.
({1})
Stimmt bis heute! Die Länderfinanzreform ist tatsächlich
ein richtig schwerer Brocken. Man merkt ja auch immer,
wie wenige wirklich etwas davon verstehen; manchmal
schimmert das bei den Reden durch.
({2})
Wir haben aber diesen schweren Brocken bewegt, und
zwar in die richtige Richtung. Das waren in der Tat zähe
und äußerst mühselige Verhandlungen; darüber könnte
ich einiges berichten.
({3})
Die Einigung, die wir am Ende erzielt haben, ist ein Erfolg für alle.
({4})
Vor allem ist es aber ein Erfolg für die Menschen. Der
Länderfinanzausgleich hat nicht nur etwas damit zu tun,
wie sich die Länder untereinander und mit dem Bund
streiten, sondern am Ende sind die von der Finanzverfassung Betroffenen die Bürgerinnen und Bürger in allen
Ländern dieser Republik, die froh sind, dass wir dies endlich hinbekommen haben.
({5})
Der Bundeskanzler hat mit Recht davon gesprochen,
dass unser Land gewonnen hat. Es hat in dreifacher Hinsicht gewonnen: Erstens. Die Eigenständigkeit aller Länder und das föderale System sind gesichert. Zweitens. Das
Solidarprinzip im Föderalismus wird gestärkt, weil es einen fairen Ausgleich zwischen Empfänger- und Geberländerinteressen gibt, was gerade für die neuen Länder
wichtig ist. Drittens. Intelligente Anreizsysteme kommen
allen Ländern zugute. Und das ist auch gut so.
In der nun laufenden Diskussion sind wir kritisch gefragt worden, wo denn nun die Schönheitsfehler seien.
Daraufhin habe ich mir natürlich die Mühe gemacht, mir
die Architektur dieses Maßstäbegesetzes anzusehen. Ich
muss sagen, der zweifach geknickte linear-progressive
Tarif in symmetrischer Ausgestaltung für Zahler- und
Nehmerländer ist im Vergleich zum bestehenden wirklich
viel schöner.
({6})
Oder schauen Sie sich einmal die Sache mit dem
Selbstbehalt kirchhofscher Prägung an. Dazu hat Herr
Kollege Rexrodt etwas Richtiges gesagt: Wer Geld hat,
vergisst die Moral.
({7})
Deswegen hat Kirchhof immer gesagt, der Selbstbehalt
gelte nur für die Erfolgreichen. Jetzt haben wir im Maßstäbegesetz eine wirklich neue moralische Qualität: Der
Selbstbehalt in Höhe von 12 Prozent dessen, was jährlich
über dem Durchschnitt der Mehreinnahmen liegt, gilt
nicht nur für Reiche, sondern auch für die Armen. Das ist
doch ein großer Erfolg. Ich verstehe nicht, dass die F.D.P.
da nicht mitmachen will.
({8})
Beim Fonds Deutsche Einheit haben wir, nachdem
das von der Finanziererseite immer ein bisschen gequält
zurückkam, wenn wir ein wenig vorangekommen waren,
am Ende eine einfache und faire Lösung gefunden, die
richtig gut ist.
Nimmt man das ganze Verfahren vom Streit vor dem
Verfassungsgericht bis heute, dann muss man feststellen,
dass zwei Schulen gegeneinander gestanden haben: die
Schule der Staatsrechtler mit Böckenförde und die Schule
derjenigen, die das eher neoliberal-ökonomisch angehen
wollten. Das, worauf wir uns verständigt haben, stellt einen Sieg für die staatsrechtliche Schule dar. Dass die andere Schule das nicht so akzeptiert, ist recht klar, da sie
eben nicht recht zum Zuge gekommen ist. Aber wir wollten eben keinen Wettbewerbsföderalismus.
Die Einigung über den Länderfinanzausgleich und
über den Solidarpakt II ist ein wichtiger Beitrag zu einem
modernisierten Föderalismus und zugleich ein Beitrag zur
Vollendung der inneren Einheit. Dieser Meinung sind alle
16 Ministerpräsidenten, selbst diejenigen, die mit der
F.D.P. in einer Koalition zu sein das Glück oder Unglück
haben.
({9})
Genau genommen muss man, wie Kurt Biedenkopf es getan hat, von einem 17:0-Sieg sprechen; denn die Einigung
schließt auch den Bund ein.
Wichtig ist, dass die Regelungen den Anforderungen
des Bundesverfassungsgerichts gerecht werden.
({10})
Ganz einfach sind diese Anforderungen ja auch nicht.
Manchmal hatte man den Eindruck, dass man das Stufenprinzip von Maßstäbegesetz, Länderfinanzausgleich und
Solidarpakt entwickelt hat, um das Ganze justiziabel zu
machen, weil es sich in seiner Komplexität der richterlichen Rechtsprechung ein bisschen entzogen hat. Wir sollen also den Verfassungsrechtlern und dem Verfassungsgericht die Arbeit für die Zukunft ein wenig erleichtern.
Meine Damen und Herren, damit eine Einigung möglich wurde, musste mancher von Illusionen Abschied nehmen. Zu ihnen gehörte zum einen die Illusion, sich zulasten der anderen bereichern zu können. Dazu gehört aber
auch die Illusion, über den Länderfinanzausgleich eine
Länderneugliederung herbeiführen zu können. Mancher
hatte da wohl insbesondere die Stadtstaaten ins Auge gefasst. Dies hätte aber weder dem Grundgesetz noch dem
Urteil des Verfassungsgerichts entsprochen.
Ich glaube umgekehrt, dass das erzielte Ergebnis viel
von der Kreativität des Föderalismus widerspiegelt. Im
Lösungsmodell gibt es einen Anreizmechanismus, der im
Saarland entwickelt wurde, einen Tarif, der in SachsenAnhalt konstruiert und in Süddeutschland verfeinert
wurde, einen Deckel für die Abschöpfung bei den Zahlerländern aus Hessen und ein Modell für den Fonds Deutsche Einheit aus Hamburg. Das, was wir entwickelt haben, ist also ein kreatives Gesamtkunstwerk.
({11})
Meine Damen und Herren, die Zielsetzung muss es
doch sein, für die Zeit bis 2019 Frieden zu haben. Jeder,
dem es an den Kragen gehen sollte, weiß, was Krieg bedeutet. Jeder, der dann hätte Verluste fürchten müssen,
weiß, was es bedeutet, wenn 16 Länder und der Bund miteinander eine Finanzverfassung verabreden, die friedliche
Zeiten und damit auch Planbarkeit für den Zeitraum bis
2019 beinhaltet.
Dass wir den Knoten durchschlagen konnten, ist auch
dem Bund zu verdanken, der - wenn auch nicht mit frischem Geld - den Ländern dauerhaft wirksam jährlich
1,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt hat. In diesem
Punkt gilt dem Bund in der Tat mein Dank. Das hat wirklich als Erleichterung der Konsensfindung gewirkt. Mein
Dank gilt insbesondere Herrn Eichel und dem Kollegen
Koch, der für die CDU-geführten Länder eine sehr konstruktive Rolle gespielt hat. Ich muss sagen, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU, Ihre Ministerpräsidenten
waren sehr viel entscheidungsfreudiger, sehr viel konsequenter, als ich das heute von Ihnen hier gehört habe.
Meine Damen und Herren, dass beim Hamburger Bürgermeister sämtliche Alarmglocken schrillen, wenn man
unsere Eigenständigkeit infrage stellt, werden Sie sicher
verstehen. In dieser Situation waren wir ja. Die große Bedeutung der Stadtstaaten im föderalen Verbund wurde
von allen akzeptiert. Konsequenterweise ist dann auch die
Einwohnerwertung ohne Wenn und Aber auf 135 Prozent
festgelegt worden.
Ortwin Runde, Erster Bürgermeister ({12})
Herr Rexrodt, ich habe gehört, dass Sie hier in Berlin
zukunftsorientiert eine politische Rolle spielen wollen.
Daher hat mich Ihre Position zum Maßstäbegesetz und
zum Finanzausgleich etwas erstaunt; denn das ist natürlich etwas, was für die Berliner von zentraler Bedeutung
ist. Sie hätten sich diesbezüglich vielleicht mit den Berliner Kollegen verständigen sollen.
({13})
Die Hauptstadtregelung ins Maßstäbegesetz einfügen zu
wollen, das zeigt in voller Klarheit die moralische Position, die Sie dazu haben. Darüber war ich etwas verwundert.
({14})
Meine Damen und Herren, das, was der Sonderausschuss nach sicher nicht einfachen Verhandlungen auf den
Tisch gelegt hat, ist Grundlage für die kontinuierliche
Weiterentwicklung in den 16 Ländern. Es ist auch ökonomisch von großer Bedeutung, für einen so langen Zeitraum Planungssicherheit zu haben. Es wird den neuen
Ländern nicht unerheblich helfen, dass die Mittel im Bereich des Solidarpaktes II jetzt sehr viel flexibler eingesetzt werden können. Das sind meines Erachtens sehr positive Regelungen. Zwei Jahrzehnte haben wir nun Zeit:
die neuen Länder zum Aufholen, jedes Bundesland für die
Weiterentwicklung spezifischer Stärken und der Föderalismus für seine Fortentwicklung. Für mich stärkt dieser
Kompromiss den Föderalismus und macht den Kopf für
neue Aufgaben angesichts der deutschen Einheit, der
zunehmenden Europäisierung und Internationalisierung
frei.
So gesehen: Die Beschlüsse zum Länderfinanzausgleich und zum Solidarpakt II sind wichtige, man kann sie
mit einigem Recht auch historische Beschlüsse nennen.
({15})
Der Föderalismus hat die Zukunft und das Solidarprinzip gestärkt.
({16})
Wer sich mit dem Begriff historisch etwas schwer tut,
der könnte auch, frei nach Herbert Weichmann, meinem
berühmten Vorgänger - allerdings muss man darauf hinweisen: Bei uns in Hamburg sind alle Vorgänger berühmt,
das habe ich mit Herrn Stoiber gemein -, sagen: Die Lösung, die wir gefunden haben, hat durchaus SexAppeal.
({17})
Ich erteile dem Kollegen Bartholomäus Kalb, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heute zu
beschließende Änderungsantrag hat innerhalb der Koalitionsfraktionen zu erheblichen Spannungen geführt. Ich
bin aber sehr froh, dass es zu diesem Änderungsantrag gekommen ist und er beschlossen wird, weil ich ihn für notwendig halte. Es muss wieder der Zwang zu einer grundlegenden Neuordnung des Länderfinanzausgleichs und
der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern vorhanden sein.
Dieses Mal war es so, dass wir vom Bundesverfassungsgericht praktisch dazu gezwungen worden sind.
Die Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen haben mit ihrem Gang nach Karlsruhe im Grunde die Entscheidung und damit auch diese Situation herbeigeführt.
Der Gesetzgeber wäre nicht frei, die Dinge grundsätzlich
und grundlegend neu zu ordnen, wenn das Maßstäbegesetz fortbestehen würde. Ich möchte hier gerne einige
Stichworte anführen. Ich denke an die Bestimmungen im
Maßstäbegesetzentwurf zur vertikalen Umsatzsteuerverteilung, zur Einwohnerwertung, zur Einbeziehung
der kommunalen Finanzkraft, der Eigenbehalte, des Deckungsquotenverfahrens und die Bundesergänzungszuweisung für die neuen Länder. Ich könnte mir vorstellen:
Sie wären sehr froh, wenn diese Bestimmungen im Maßstäbegesetz entgegen der Vereinbarung über das Jahr 2019
hinaus fortbestehen würden.
Der Kollege Metzger - ich sehe ihn im Moment nicht hat heute sehr gemäßigt gesprochen. Gestern hat er aber
sehr vollmundig harte Kritik geübt. Heute steht im Handelsblatt etwas von ihm zu lesen. Ich zitiere:
Wir lassen uns nicht von den finanzstarken Südländern vorführen.
Das hat doch nichts mit den finanzstarken Südländern zu
tun. Es war die Vereinbarung aller, die sich darauf verständigt haben. So steht es auch im Protokoll über die Tagung der Ministerpräsidenten.
Oswald Metzger hat noch letzte Woche, ausweislich
des Protokolls, auf eine Zwischenfrage Folgendes geantwortet:
Eines dürfen Sie
nicht vergessen: Wir gehen als
Koalition davon aus, dass die Reform der Finanzverfassung in Deutschland damit nicht zu Ende ist. Auch
die Regierung weiß, dass wir eine Finanzverfassungsreform größeren Umfangs brauchen, mehr Verantwortung auf Länder und Gemeinden übertragen
müssen
Deswegen verstehe ich seine Reaktion überhaupt nicht.
({0})
Ein wesentlicher Bestandteil dieser Einigung ist die
Fortführung des Solidarpaktes, der Solidarpakt II. Für
uns, für die CDU/CSU, aber auch für die CDU- bzw.
CSU-geführten Länder war von vornherein klar, dass die
Hilfe für die neuen Länder fortgeführt werden muss. Der
Widerstand und die Bedenken kamen doch ganz überwiegend aus den Reihen der Bundesregierung und der SPDgeführten Bundesländer. Von ihnen kamen die Vorbehalte
und Widerstände.
Ortwin Runde, Erster Bürgermeister ({1})
Die Südländer haben nie einen Zweifel daran gelassen,
dass sie bereit sind, Solidarität zu üben. Das haben sie sowohl vor dem Bundesverfassungsgericht als auch bei jeder Äußerung zu diesem Thema immer wieder zum Ausdruck gebracht. Es ist jetzt vorgesehen, 306 Milliarden DM im Rahmen des Solidarpaktes II, der bis einschließlich 2019 gilt, zur Verfügung zu stellen. Diese
Summe ist notwendig, weil es unendlich schwierig ist, die
Schäden, die Sozialismus und Kommunismus in 40 Jahren im Osten Deutschlands angerichtet haben, zu beheben.
({2})
Heute hat der Bundesfinanzminister ausgeführt, dass
die neuen Länder länger als zunächst gedacht Unterstützung bräuchten. Das wussten wir von vornherein. Die
neuen Länder brauchten auch in den zurückliegenden
zehn Jahren unsere starke Unterstützung. Wenn ich die
Zahl richtig in Erinnerung habe, dann sind bereits mehr
als 1 Billion DM in den Aufbau der neuen Länder investiert worden. Ihnen ist diesbezüglich nichts anderes eingefallen, als uns den Schuldenberg vorzuwerfen. Kollege
Metzger hat noch letzte Woche von Verprassen des Geldes gesprochen. Ich sage: Wir haben sinnvoller- und notwendigerweise in die Behebung der Schäden von Sozialismus und Kommunismus sowie in den Aufbau der neuen
Länder in den letzten zehn Jahren investiert.
Wenn heute gesagt wird, es sei ein wichtiges Ziel, zu
einem ausgeglichenen Bundeshaushalt zu kommen, dann
kann ich nur sagen: Wir hätten die Nettokreditaufnahme
schon im Jahre 1991 vermeiden können, wenn es die Wiedervereinigung nicht gegeben hätte. Trotzdem sage ich
wie viele Menschen in diesem Lande: Gott sei Dank kam
es zur Wiedervereinigung. Wir müssen uns jetzt all den
Herausforderungen stellen, die damit zusammenhängen.
Wir stellen uns diesen Herausforderungen sehr gern.
({3})
Der Bundesfinanzminister hat am letzten Donnerstag
im Zusammenhang mit einem anderen Thema nebenbei
bemerkt: Ich weise nur darauf hin, dass Japan zweieinhalbmal höher verschuldet ist als Deutschland. Und das
ohne Wiedervereinigung! Mir ist jedenfalls nicht bekannt,
dass Japan oder irgendein anderes Land die Lasten einer
Wiedervereinigung zu tragen gehabt hätte. Das heißt, es
spricht noch im Nachhinein für die Politik von Kohl und
Waigel, wenn die Staatsverschuldung in Deutschland
zweieinhalbmal niedriger als in Japan ist.
({4})
Der Solidarpakt II, so ist es vereinbart worden und so
steht es im Finanztableau, wird ab 2006 degressiv gestaltet, das heißt auch, dass der Solidaritätszuschlag spätestens ab diesem Zeitpunkt abgesenkt werden muss. Frau
Staatssekretärin Hendricks hat im Sonderausschuss zugesagt, dass dies möglich und beabsichtigt sei. Wir werden
die Bundesregierung beim Wort nehmen. Es muss im Zusammenhang mit dem noch zu beschließenden Finanzausgleichsgesetz die Absenkung und Abschaffung des Solidaritätszuschlages fixiert werden; denn sonst besteht die
Gefahr, dass der Solidaritätszuschlag ein Ewigkeitszuschlag bleibt.
Es ist auch sehr wichtig - deswegen bin ich froh, dass
jetzt eine Einigung darüber erzielt worden ist -, die Eigenverantwortung der Länder zu stärken und die Übernivellierung zu beseitigen. Es ist wichtig, dass ein Bundesland von seinen eigenen besonderen Anstrengungen
profitieren wird. Ich zitiere den Ministerpräsidenten von
Nordrhein-Westfalen, Herrn Clement, der laut Handelsblatt am 18. Juni vor der Ministerpräsidentenrunde sagte:
Für den neuen Finanzausgleich, bei dem es am Samstag bei BK Schröder ({5}) zu einer Einigung kommen soll, müsse gelten, dass sich gute Politik für die
Länder künftig wieder lohne. Das bisherige System
ist nicht wettbewerbsfähig, sondern zu einem
Hemmschuh im Wettbewerb der Regionen um Investitionen und Arbeitsplätze geworden. Von steuerlichen Mehreinnahmen muss deshalb den Ländern
- das gilt für Zahler wie für Empfänger - künftig ein
größerer Eigenanteil bleiben.
Das war die Forderung der allermeisten Länder, die
sich darum bemüht haben. Darum kann ich dies auch nur
unterstreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedauere
sehr, dass es um den Entschließungsantrag so viele Diskussionen gegeben hat und geben musste, weil man offensichtlich nicht in der Lage war, in den verschiedenen
Ausschüssen Klarheit darüber herzustellen, wie sich der
Fonds Deutsche Einheit in Abfinanzierung und Verzinsung darstellt. Einmal wird von einer Restschuld von
12,8 Milliarden DM gesprochen, ein anderes Mal wird
schon jetzt unterstellt, es seien 7,8 Milliarden DM mehr
zu bedienen. Die verschiedenen Staatssekretärinnen und
Staatssekretäre haben in den Ausschüssen zum Teil nicht
deckungsgleiche Auskünfte gegeben. Das macht es natürlich schwer, zu klaren Ergebnissen zu kommen. Das
macht es auch uns von der Union unmöglich, jetzt zuzustimmen, was wir sonst gern getan hätten. Mir muss einmal jemand erklären, wieso man auf eine Zahl von
12,8 Milliarden DM kommt, wenn man gleichzeitig schon
weiß - das findet sich in einem anderen Papier -, dass
diese Zahl um 7,8 Milliarden DM überschritten werden
wird.
Mehr Offenheit, mehr Transparenz, mehr Klarheit,
bessere Information hätten hier sicherlich sehr gut getan.
Sicherlich wäre es auch gut gewesen, wenn wir denn etwas mehr Zeit gehabt hätten. Vielleicht wäre es auch ganz
gut gewesen - diese Kritik kann ich mir nicht ersparen -,
wenn sich Bundesminister Eichel auch persönlich in dieser Woche noch etwas stärker in dem einen oder anderen
Gespräch mit einem Ministerpräsidenten engagiert hätte.
({6})
Vielleicht hätte dann manche Unklarheit gegenüber dem
Parlament ausgeräumt werden können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Ausschussvorsitzender, Kollege Kröning, hat mir vorhin den
Entwurf eines für ihn, für uns alle bedeutsamen SchreiBartholomäus Kalb
bens gezeigt. Unabhängig davon darf ich Ihnen, lieber
Herr Kröning, sehr herzlich für die Arbeit danken, die Sie
an der Spitze unseres Ausschusses bis jetzt geleistet haben.
({7})
Wir haben eine sehr intensive Vorberatung durchgeführt.
Manche haben das auch etwas ironisch kommentiert.
Wenn wir diese intensive Vorarbeit aber nicht gehabt hätten, wären wir mit Sicherheit nicht in der Lage gewesen,
das, was letztes Wochenende vereinbart worden ist, so
schnell, innerhalb einer Woche, umzusetzen und, wie ich
denke, in eine einigermaßen passable Gesetzesform zu
gießen. Herzlichen Dank, Herr Kollege Kröning, an Sie,
an Ihre Mitarbeiter im Sekretariat, an die Mitarbeiter der
beteiligten Häuser und Fraktionen.
Ich hoffe, dass wir nach der Sommerpause ein Finanzausgleichsgesetz hinbekommen, das den Ansprüchen und
den Anforderungen genügt.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich erteile der Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Geld hört
bekanntlich die Freundschaft auf. Um einen Klassiker zu
bemühen: Shakespeare ließ im Hamlet sagen: Man kann
lächeln und lächeln und doch ein Schurke sein. - Ich sage
das etwas spöttisch, wie Sie merken, meine Kollegen und
Kolleginnen.
Man hat gemerkt, Herr Runde - das muss man deutlich
sagen -, dass bei Ihnen die Anspannung abgefallen ist. Sie
haben hier ein paar heitere Anekdötchen dargeboten. Das
legt uns allen nahe: Es war ein harter, ein fast verzweifelter Kampf. Er ist in sehr großer Anspannung verlaufen.
Das wird nach außen zwar nicht so deutlich, aber man
merkt es nachher bei den Abschlussreden, wenn die ganze
Anspannung abfällt und sich viele in Anekdoten und heiteren Anmerkungen ergehen.
Ganz so heiter ist die Bilanz nicht, die ich ziehe; das
sage ich ganz deutlich. Die Bilanz ist durchwachsen, wie
es einem gut erkämpften Kompromiss auch wohl anstehen mag. Ich möchte auf zwei Punkte eingehen, von denen ich denke, dass wir sie noch einmal genau anschauen
müssen, um zu verstehen, warum die Bilanz so durchwachsen ist. Ich möchte etwas zur Investitionskraft der
Kommunen, die in sämtlichen Verhandlungen absolut
keine Rolle gespielt hat, und etwas zum Verfahren sagen.
Dem Ergebnis ist deutlich anzumerken, dass die Kommunen nicht am Tisch gesessen haben. Obwohl alle, die
in Ländern und Kommunen regieren, wissen, dass Länder und Kommunen eigentlich eine Art finanzielle
Schicksalsgemeinschaft sind und dass man eigentlich immer den Standpunkt der Kommunen mitdenken muss, ist
dem Ergebnis deutlich anzumerken - das werde ich gleich
erläutern -, dass die Landesoberhäupter ohne die Vertreter der Kommunen verhandelt haben.
Ich mache das zum einen am Problem der Anrechnung
der kommunalen Finanzkraft fest. Sie wurde bisher zu
50 Prozent angerechnet, um herauszufinden, wie finanzstark ein Land eigentlich ist. Auf diese Weise wurde die
Finanzkraft finanzstarker Länder ein bisschen heruntergerechnet, sodass sie etwas mehr Geld bekamen, und die
Finanzkraft finanzschwacher Länder wurde ein wenig
heraufgerechnet, sodass sie weniger Geld bekamen. Einige Länder sind sogar mit der Forderung aufgetreten, die
kommunale Finanzkraft auf 0 Prozent herunterzurechnen,
weil die Kommunen in diesem Zusammenhang keine
Rolle zu spielen hätten. Dazu gehört schon eine gewisse
Chuzpe. Vor dem Hintergrund der finanziellen Schicksalsgemeinschaft zwischen Kommunen und Land ist das
politisch unanständig.
Diese Länder haben sich nicht durchgesetzt. Einzelne
Vertreter der Südländer Bayern und Baden-Württemberg
haben immer wieder gefordert, 0 Prozent anzurechnen.
Ich habe hier schon einmal zum Besten gegeben, dass
mein Studium der historischen Debatten über die Finanzpolitik der alten Bundesrepublik Deutschland ergeben
hat, dass der damals sehr berühmte Finanzpolitiker Franz
Josef Strauß einmal sagte, als es dem Lande Bayern noch
sehr schlecht ging und es vom Föderalismus sehr abhängig war, er wünsche die 100-prozentige Anrechnung der
kommunalen Finanzkraft, damit der Aufbau Süd gelinge.
({0})
Ich bitte herzlich darum, den ostdeutschen Ländern nicht
irgendetwas Frivoles vorzuwerfen, nur weil sie im Hinblick auf den Aufbau Ost das gleiche Ansinnen hegen.
Wenn jemand sagt, der Sprung von 50 Prozent auf
100 Prozent sei nicht in einem einzigen Schritt zu schaffen,
dann kann ich damit irgendwie leben. Wir hätten allerdings
einen Korridor von 70 Prozent bis 80 Prozent erreichen
müssen, um den realen Verhältnissen einigermaßen gerecht zu werden. Das ist nicht gelungen. Die Runde, die
aus dem Finanzminister, dem Kanzler und den Ministerpräsidenten bestand, hat 64 Prozent erbracht. Dieses Ergebnis ist sogar noch ein bisschen magerer als der Anteil
von zwei Dritteln, von denen zunächst die Rede war. Man
bedenke, dass es sich auch bei einem Unterschied von nur
ungefähr 2 Prozentpunkten um reales Geld handelt.
Ich muss sagen: Ich kann mir gut vorstellen, dass auch
die Haushaltssituation der Länder nicht leicht ist. Es
wurde sogar vereinbart - die konkrete Ausarbeitung
bleibt abzuwarten -, dass sich auch die Landeshaushalte
am Maastricht-Kriterium orientieren und ihre Verschuldung herunterfahren sollen. Das ist völlig korrekt und
nachdem der Bund nach harten Kämpfen in dieser Frage
schon mit gutem Beispiel vorangegangen ist, kann man
es erwarten.
Man kann den ostdeutschen Ländern, deren Haushalte
mehr als klamm sind, Geld über den Solidarpakt II - auf
die Summe komme ich gleich zu sprechen - zukommen
lassen. Dabei kann man zum Beispiel das Investitionsförderungsgesetz, das bisher ein Teil des Solidarpakts I
gewesen ist, nicht anwenden und auf diese Weise die
Zweckbindung bestimmter Gelder an die Kommunen
wegfallen lassen. Diese Gelder kann man denjenigen Ländern zukommen lassen, deren Haushalte schwach sind.
Das würde bedeuten: Zwar haben sowohl Kommunen als
auch Länder schwache Haushalte; aber den Hebel, das
Problem zu beheben, bekommen ausschließlich die Länder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Politik
auf Dauer tragfähig ist. Ich bin damit nicht zufrieden.
Das Land Sachsen hat damals - völlig zu Recht; ich
habe mich dieser Meinung angeschlossen - gesagt, es sei
sinnvoll, den Sockel des Investitionsförderungsgesetzes
zu erhalten und es nicht degressiv zu gestalten, das heißt,
die entsprechenden Gelder nicht abzuschmelzen; wer
Teile des Solidarpakts abschmelzen wolle, der solle bei
den Sonderbundesergänzungszuweisungen ansetzen,
aber nicht bei denjenigen Geldern, die direkt in die Kommunen flössen und dort zweckgebunden ausgegeben werden sollten. Dieses Ziel haben wir nicht erreicht.
Kollegin Hermenau,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wer möchte denn gerne eine Zwischenfrage stellen?
Der Kollege Rössel
von der PDS.
Ach Gott, der Herr Rössel.
Liebe Kollegin
Hermenau, ich teile Ihre Einschätzung in weiten Teilen.
Ich möchte Sie fragen: Ist die von Ihnen vorgetragene Kritik nicht ein Anlass dafür, über den Bundeshaushalt recht
schnell eine kommunale Investitionspauschale des
Bundes zu verankern?
({0})
Denn dann - Sie beklagen, dass das nicht so ist - können
die Kommunen selbst entscheiden und die Länder können
nicht sozusagen hineinregieren. Nennen Sie einmal Ihre
Argumente!
Herr Rössel, ich finde es nett, dass Sie versuchen, jede
Chance zu nutzen, ein Kind, das Sie jahrelang gehegt und
gepflegt haben, hier immer wieder an den Tropf zu hängen. Aber davon wird es auch nicht kräftiger. Gestatten
Sie, dass ich beim Thema bleibe und nicht auf Ihre Ausflüchte eingehe.
Ich komme auf die Frage zurück, die ich gerade aufgeworfen habe. Die Länder bekommen im Rahmen des Solidarpakts II ein Extrageld. Die Finanzkraft ihrer Kommunen wird nicht angerechnet. Das ist das Kernproblem.
Dieses Extrageld ist im Prinzip - das sage ich hier ganz
deutlich - eine Art Entschuldigungssumme. Es ist im
Prinzip die Wiedergutmachung dafür, dass es nicht gelungen ist, die alten Bundesländer davon zu überzeugen, dass
die Finanzkraft der Kommunen stärker angerechnet werden muss. So empfinde ich das politisch. Ich geniere mich
überhaupt nicht dafür, dass die ostdeutschen Länder aufgrund des Solidarpaktes jetzt 20 Milliarden DM im Jahr
bekommen. Dieser Betrag wird ja degressiv abgeschmolzen und nicht ewig weiter gezahlt. Ich bin überhaupt nicht
bereit, mich dafür zu genieren. Schämen müssen sich für
dieses Verhandlungsergebnis andere.
Ich finde es gut, dass der Bund - an ihm ist es wieder
hängen geblieben - versucht hat, bestimmte Entwicklungen zu mildern, die schon absehbar waren. Das Steueraufkommen der ostdeutschen Länder wird in den
nächsten Jahren stagnieren, jedenfalls nicht deutlich anwachsen. Das ist ganz klar. Die Einkommensteuerreform
wirkt sich im Osten aufgrund der Tatsache, dass viele Einkommen, die jetzt gerade so mit Ach und Krach über der
Grenze liegen, aus der Steuerpflicht herausfallen werden,
massiv aus. Natürlich spielt auch eine Rolle, dass die EUFördermittel im Jahre 2006 auslaufen. Das heißt also, die
Einnahmen der ostdeutschen Länder aus vielen verschiedenen Bereichen werden ungefähr zum gleichen Zeitpunkt zurückgehen. Ich bin dankbar, dass die im Solidarpakt II vereinbarte Degression erst im Jahre 2008
greift, sodass man sich in einer Übergangsphase auf diese
Verhältnisse einstellen kann. Der Bund hat hier eine solidarische Haltung eingenommen, die gemäß meinem Verständnis der Dinge eigentlich die Länder hätten übernehmen müssen.
Nun noch ein Wort zum Verfahren: All die Dinge, die
ich jetzt geschildert habe, zeigen, dass es eine durchwachsene Bilanz war, um die wir hart gerungen haben.
Dieser Kompromiss ist, weil Kompromisse eben so sind,
nicht erotisch,
({0})
aber man kann damit leben; so hätte ich dem auch gut zustimmen können. Liebe Frau Frick, ich hätte mir gewünscht, Sie hätten gleich zu Anfang für die F.D.P. gesprochen und die ganze Redezeit verbraucht; dann wäre
uns Herr Rexrodt erspart geblieben. Sie haben nämlich in
einem Punkt immer sehr klar Stellung bezogen. Ich
stimme in diesem Punkt mit Ihnen völlig überein.
({1})
Hierbei geht es um die Tatsache, dass politische Entscheidungen in letzter Sekunde am Parlament vorbei getroffen werden, wo doch dem Parlament eigentlich die
Aufgabe zukommt, diese Entscheidungen zu treffen. Ich
finde, es ist völlig korrekt, diese Kritik anzubringen. Ich
weiß auch, dass eine Reihe von Kollegen, nicht nur aus
der Opposition, diese Auffassung teilt. Ich finde es doch
erstaunlich, dass in letzter Sekunde dieses Maßstäbegesetz befristet werden soll,
({2})
das eigentlich ganz allgemeine Regeln festlegen soll. Mir
scheint, dass man dem Frieden nicht traut: Erst einigen
sich alle am Parlament vorbei, dann traut man seinen eiAntje Hermenau
genen Regelungen nicht und führt eine Befristung ein,
damit aufgrund von formellen Fehlern im Zweifel die
Möglichkeit zur Klage besteht. Ich halte es für unanständig, die Arbeit des Parlaments auf diese Weise zu konterkarieren. Ich bin damit nicht einverstanden und stimme
dem auch nicht zu.
Ganz zum Schluss möchte ich dem Kollegen Kröning
für die inhaltliche Tiefe und die umfassende und übersichtliche Art und Weise, wie er den Ausschuss geleitet
und uns allen die Möglichkeit gegeben hat, dieses Problem vernünftig zu beurteilen, danken. Ich füge einen
letzten Satz hinzu: Ich glaube nicht, dass die Sachkunde
der Ministerpräsidenten in der Runde, in der alles ausgekaspert worden ist, höher war als die des Ausschusses.
Wir hatten nämlich einige Ministerpräsidenten zu Besuch; deren Statements waren qualitativ ausgesprochen
unterschiedlich.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort
Kollegin Gisela Frick, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Frau Hermenau, ich bedanke mich. Es
kommt ja nicht oft vor, dass von Kollegen nicht nur die
Person des Redners, sondern gleich auch die Inhalte seiner Rede angekündigt werden. Ich werde natürlich diese
starke Stellungnahme, die ich jeweils in den Sitzungen
des Sonderausschusses abgegeben habe, hier weiter vertiefen. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich bei der
Einbringung dieses Gesetzes meine Begrüßung um die
Mitglieder des Bundesrates erweitert. Heute begrüße
ich Sie, Herr Runde, natürlich sehr herzlich; damals war
aber die Bank voller. Ich möchte das hier jetzt gerne einmal öffentlich sagen, weil das natürlich auch ein Hinweis
darauf ist, wie hoch der Respekt vor dem Parlament ist.
({0})
Sie haben jetzt aus Ihrer Sicht alles in trockenen
Tüchern und brauchen sich um das Parlament nicht mehr
sehr zu scheren, so sage ich einmal etwas scharf. Das war
bei der Einbringung noch anders; da haben wir ganz andere Präsenzen gesehen. Nichtsdestotrotz freue ich mich,
auch wenn ich gewisse Zweifel habe, ob Sie hier wären,
wenn nicht gerade im September Wahlen in Hamburg
wären.
({1})
- Herr Rexrodt ist Haushälter.
({2})
Wir haben heute hier eine Debatte über das, was die
Regierung Sternstunde des Föderalismus genannt hat.
Dies ist mitnichten eine Sternstunde des Föderalismus,
({3})
sondern es ist eine rabenschwarze Stunde für den Parlamentarismus, rabenschwarz!
({4})
Ich glaube, dass ich das für die meisten Kollegen im Ausschuss sagen kann. Ich selbst bin nur so konsequent, dann
auch die richtigen Folgerungen daraus zu ziehen, nämlich
Nein dazu zu sagen. Denn vieles von dem, was wir beispielsweise von Herrn Seiffert oder von Herrn Metzger
gehört haben, hätte eigentlich ein Nein als Endergebnis,
als Conclusio nahe gelegt.
({5})
Es kam aber erstaunlicherweise ein - wenn auch sehr bedrücktes - Ja dabei heraus.
Wir sagen also Nein zu diesem Maßstäbegesetz, und
zwar deshalb, weil es vom Verfahren her eine unmögliche Situation war, dass wir im Ausschuss mehr oder weniger auf die Entscheidung der Ministerpräsidenten
gewartet haben. Das ist insbesondere deshalb besonders
ärgerlich, weil die Ministerpräsidenten noch nicht einmal
das Tempo beschleunigt haben, obwohl sie unseren Zeitplan kannten. Sie haben ihre ganz normalen Sitzungstermine eingehalten, und dann war nun einmal leider der
23. Juni der nächste ordentliche Sitzungstermin. Insofern
waren wir weitgehend gehindert.
Frau Hermenau, wenn Sie eben gesagt haben, dass die
Kommunen nicht mit am Tisch saßen, dann stimmt das
zwar. Aber wer auch nicht mit am Tisch saß und wo es
sehr viel schmerzhafter ist: Auch die Steuerzahler und
die künftigen Generationen saßen nicht mit am Tisch und genau so sieht die Regelung dann auch aus.
({6})
Kollegin Frick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kröning?
Gern, aber nicht, ohne mich
auch gleichzeitig bei ihm für die Führung des Sonderausschusses zu bedanken.
Das ist nett; aber Sie wissen,
Frau Kollegin, dass ich Ihrem Charme nur begrenzt
({0})
erliege.
({1})
Ich frage Sie, Frau Kollegin Frick, ob Ihre Absicht, sich
an der Veranstaltung gar nicht zu beteiligen, vielleicht
schon von vornherein feststand und welche Erklärung Sie
dafür haben, dass Sie sich heute total anders einlassen als
Ihr Kollege Funke in der ersten Lesung des Gesetzes. Dort
hatte er nämlich eine konstruktive Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren angekündigt. Wie erklären Sie sich,
dass das im Ausschuss völlig ausgeblieben ist?
({2})
Erstens freue ich mich natürlich
immer, Herr Kröning, wenn Sie meinen Charme loben.
Aber ich lege mehr Wert auf Sach- und Fachkenntnis und
möchte auch gern, dass das hier respektiert wird.
Das Zweite. Wir waren von Anfang an zu einer konstruktiven Mitarbeit bereit, aber im Rahmen der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns eine ganz bestimmte Stufenfolge aufgegeben. Diese Stufenfolge hätte
bedeutet, dass wir zunächst einmal abstrakt und ganz allgemein die Kriterien für die Verteilung der Finanzen zwischen Bund und Ländern und, am Rande betrachtet, auch
noch für die Kommunen und erst danach, in einer zweiten
Stufe, die konkreten Zahlungsströme und in diesem Zusammenhang insbesondere auch den Solidarpakt II behandeln.
Dass das politisch sehr schwierig war, ist zugegeben.
Das ist gar keine Frage. Was wir aber gemacht haben, ist
ja, genau dieses angeforderte Verfahren auf den Kopf zu
stellen und damit erst einmal die konkreten Finanzströme
festzusetzen - deshalb mussten wir ja angeblich auf die
Ministerpräsidenten warten - und im Nachhinein das
theoretische Übergebäude in der Hoffnung darüber zu
stülpen, dass es halbwegs passt.
Was die Sache noch auf die Spitze treibt - darin stimme
ich Herrn Metzger ausdrücklich zu -, ist die Befristung
dieser ganzen Veranstaltung. Das zeigt mehr als deutlich
- deutlicher kann man es gar nicht zeigen -, was davon zu
halten ist. Ein Maßstäbegesetz mit objektiven Kriterien
und gleichzeitig mit Verfalldatum wie ein Joghurt oder
wie ein Quark ist doch unmöglich. Ich halte es sogar für
verfassungswidrig, wenn wir hier eine Beschränkung vornehmen.
Ich bin allerdings - das muss ich zugeben - deswegen
etwas hin- und hergerissen, weil ich die Veranstaltung für
so schlecht halte, dass ich an sich ganz froh wäre, wenn
sie nicht ewig weiterginge.
({1})
Aber es ist ja ein einfaches Gesetz, das man mit den
entsprechenden parlamentarischen Mehrheiten jederzeit
ändern kann. Ich bin auf gar keinen Fall - aber das ist, wie
gesagt, bei meiner Einstellung und der Einstellung meiner
Fraktion nur eine Randerwägung - dafür, hier noch eine
Befristung einzuführen.
Kollegin Frick, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Kröning?
Ja.
Frau Kollegin, ich folge Ihrer
Sach- und Rechtskunde ausgesprochen gerne. Wie erklären Sie sich denn - wenn Sie schon meine erste Frage
nicht beantworten, dann beantworten Sie doch bitte meine
zweite Frage -, dass der Wirtschaftsminister des Landes
Baden-Württemberg bereits vor Verabschiedung des
Maßstäbegesetzes erklärt hat, dass die Gesetze, die wir
jetzt beschließen, in zwei, drei Jahren ohnehin wieder auf
den Prüfstand kommen müssen? Was haben Sie, um das
einmal ganz spitz zu sagen, dazu beigetragen, ein - wenn
schon nicht im Vermittlungsausschuss landendes - Gesetz
zu machen, das wenigstens Rechtsfrieden für möglichst
lange Zeit schafft?
Herr Döring kannte natürlich
meine Einstellung bzw. die meiner Fraktion im Ausschuss. Aber ansonsten bin ich für die Äußerungen von
Herrn Döring nicht verantwortlich; es tut mir Leid. Dass
Sie mich jetzt dafür in die Pflicht nehmen wollen, finde
ich verständlich, aber ich finde es nicht gut; das sage ich
ganz ehrlich. Wir haben hier und heute das parlamentarische Verfahren über das Maßstäbegesetz abzuschließen.
({0})
Wir haben hier nicht eine Versammlung von Länderregierungen. Sie sehen ja die Besetzung auf der Bundesratsbank; ich habe zu Beginn darauf hingewiesen. Das heißt,
es können nicht alle einzeln in die Pflicht genommen werden. Das hat übrigens auch Herr Eichel eben versucht, indem er die Haltung der Fraktion hier im Bundestag gegen
die Haltung der Länder bei der Abmachung der Ministerpräsidenten ausspielen wollte.
Wenn die Länder alle dabei sind - ich habe mir berichten lassen, dass das Verfahren an dem Wochenende von
Drohungen und Erpressungen nur so gestrotzt habe -,
({1})
dann muss man natürlich mitmachen - das gehört noch zu
der Beantwortung der Frage; darauf lege ich wegen der
Zeit Wert -, damit man hinterher nicht, wie letztens von
Rezzo Schlauch, den Vorwurf bekommt, man habe
schlecht verhandelt, weil man nicht so viel wie möglich
für sein eigenes Land herausgepresst hat, sondern statt-
dessen versucht hat, nach der Vorgabe des Bundes-
verfassungsgerichts tatsächlich nach objektiven Maßstä-
ben zu suchen. Es ist legitim, dass sich die Länder diese
Vorwürfe auf der eigenen Länderebene nicht einhandeln
wollen.
Wir hier im Parlament sind aber der Gesetzgeber, und
zwar der eigentlich zuständige Gesetzgeber,
Jörg van Essen [F.D.P.]: So ist es!)
zugegebenermaßen mit Zustimmung des Bundesrates,
und haben deshalb die Aufgabe, hier eigenständig zu entscheiden.
Herr Eichel, wenn Sie die Bundestreue anmahnen,
dann frage ich mich, was Sie unter Bundestreue verstehen. Offensichtlich verstehen Sie darunter, dass man
erst als Letzter auf ein Klageverfahren gegen den
Länderfinanzausgleich aufspringt. Das haben Sie damals
bei der Einbringung hier gesagt: Ich war dabei, aber als
Letzter. - Wenn das Bundestreue ist, dann können wir uns
dazu unsere eigenen Gedanken machen.
Wir verhalten uns bundestreu. Aber gerade für ein bundestreues Verhalten braucht man eine entsprechende
Grundlage. Diese sollte durch das Maßstäbegesetz geschaffen werden. Aber sie ist nicht geschaffen worden.
Das Maßstäbegesetz ist einerseits zu allgemein, weil es
mehr oder weniger nur die Formulierungen des Grundgesetzes abschreibt, und andererseits ist es zu speziell,
weil es ganz bestimmte Regelungen enthält wie beispielsweise die Berücksichtigung der kommunalen Finanzkraft. Beides ist nicht in Ordnung. Wir hätten uns hier
wirklich um allgemeine Grundsätze bemühen müssen.
Da das nicht passiert ist, habe ich nicht etwa meine
konstruktive Mitarbeit verweigert - das geht noch einmal ganz besonders an Sie, Herr Kröning -, sondern ich
habe mich insbesondere dieser Art des Verfahrens verweigert. Es ist ziemlich einfach und billig, dann zu sagen:
Ihr habt nie mitgemacht, ihr habt euch verweigert. - Ich
habe mich nicht verweigert. Ich habe immer wieder festgestellt, dass das nicht in Ordnung ist. Aber wir haben nun
einmal noch nicht die entsprechenden parlamentarischen
Mehrheiten. Wir arbeiten daran, wie Sie wissen, und wir
sind dabei sogar relativ erfolgreich. Aber noch ist es nicht
so weit und so lange müssen wir deshalb noch warten.
({2})
Das ist zu dem gewissen Widerspruch, der zwischen dem
Verhalten der Länder und dem unserer Bundestagsfraktion besteht, zu sagen.
Ich möchte ganz klar betonen, dass das nicht bedeutet,
dass wir alle Abmachungen im Einzelnen ablehnen, insbesondere die nicht, die die Solidarität mit den neuen
Ländern, also den Solidarpakt II, betreffen. Das ist hier
gerade nicht das Thema. Es ist ganz selbstverständlich,
dass immer wieder versucht wird, das in dieser Form umzumünzen. Dagegen möchte ich mich hier ausdrücklich
verwahren. Wir stehen zur Solidarität mit den neuen Ländern; das ist bekannt. Wir wissen und unterstützen, dass
weiterhin Finanzleistungen in die neuen Länder fließen.
Wir geißeln nur das Verfahren, das uns von diesen ganzen
Entwicklungen ausgesprochen ausgrenzt. Deshalb sagen
wir heute Nein.
Nachdem gestern die unsägliche Diskussion über das
Verfallsdatum des Maßstäbegesetzes hinzugekommen
ist, fühle ich mich in dieser Haltung sehr viel wohler. Ein
solches Verfallsdatum können wir nun wirklich nicht einführen. Aber dies hätte dem Maßstäbegesetz natürlich einen deutlichen Stempel dahin gehend aufgedrückt, zu zeigen, was es eigentlich ist, nämlich genau das Gegenteil
von dem, was das Bundesverfassungsgericht angemahnt
hat.
Wir sagen also zu diesem Maßstäbegesetz Nein. Wir
haben dazu eine namentliche Abstimmung beantragt.
Zum Schluss möchte ich in den Dank, den ich schon
dem Ausschussvorsitzenden anlässlich einer Zwischenfrage ausgesprochen habe, natürlich auch das Sekretariat
und die Vertreter der Länder ausdrücklich einbeziehen,
die sehr viel Arbeit hatten, wenn sie auch leider zu einem
falschen Ergebnis geführt hat.
Danke schön.
({3})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Christa Luft, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Länderfinanzausgleich, der
Solidarpakt II und das Maßstäbegesetz sind in diesem
Hause überwiegend positiv beurteilt worden. Auch meine
Fraktion hat sich diesem Urteil angeschlossen, weil ein
gewisser verlässlicher Rahmen geschaffen worden ist.
Dennoch - das ist mein Plädoyer - darf hier heute nicht
der Eindruck bestehen bleiben, als seien die genannten
Vereinbarungen eine Art Garantieurkunde dafür, dass
zwischen 2005 und 2019 der selbsttragende Aufschwung
in den neuen Bundesländern geschafft werden würde und
dann das Problem Ostdeutschland aus der Welt sei. Das
wäre zwar wünschenswert, aber als gesetzt kann das nicht
gelten.
Auch angesichts nun fixierter Finanzsummen darf sich
die Politik weder auf der Bundes- noch auf der Länderebene zurücklehnen und sich sozusagen auf den Selbstlauf verlassen. Denn dann würden die Transfers wie bisher zu einem ganz großen Teil zu Konjunkturprogrammen
für die Wirtschaft und für Unternehmen außerhalb der
neuen Bundesländer werden. Herr Kollege Kalb, mit Verlaub, Sie hätten, bevor Sie, wie Sie es gerade getan haben,
auf Kommunisten und Sozialisten herumdreschen, vielleicht zur Kenntnis nehmen sollen, dass die Transfers des
letzten Jahrzehnts in Höhe von 1,4 Billionen DM zu einem Konjunkturprogramm für die Wirtschaft in den alten
Bundesländern, aber auch für die in einigen anderen europäischen Ländern geworden sind.
Warum kann sich die Politik nicht zurücklehnen? Erstens sind die vereinbarten Transfers weitaus geringer als
im vorangegangenen Zeitraum. Zweitens entwickeln sie
sich ab 2008 degressiv. Drittens - das ist für mich das
Wichtigste - würde der Osten, wenn fördertechnisch und
haushaltsmäßig alles beim Alten bliebe, im Jahre 2005,
wenn die genannten neuen Vereinbarungen wirksam werden, mit der gleichen wirtschaftlichen und sozialen Kluft
zum Westen starten, wie wir sie aktuell festzustellen haben und die zu der berühmten Diskussion, ob der Osten
auf der Kippe stehe, geführt hat.
Die PDS-Fraktion fordert daher mit dem heute vorgelegten Antrag von der Bundesregierung, die vielen Miniprogramme, die es gibt, unverzüglich, also schon bis
2005, zu bündeln und sie zielgenau auf Schwerpunkte in
den Bereichen Forschung, Technologieentwicklung und
regionale Vernetzung zu konzentrieren.
({0})
Wir fordern weiterhin, den Zugang zu den Programmen insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen
zu erleichtern. Sie haben bisher die größten Hürden zu
überwinden, an diesen Programmen teilzuhaben. Auf
diese Weise könnte mit gleichen Geldern schon bis zum
Jahre 2005 ein größerer wirtschaftlicher und sozialer
Effekt erzielt werden. Der Start der neuen Bundesländer
wäre mit den genannten Vereinbarungen ab 2005 günstiger.
({1})
Das ist insofern besonders wichtig, als sich die neuen
Länder in den kommenden zwei, drei Jahren ganz besonderen Herausforderungen gegenübersehen. Die
schwächelnde Konjunktur trifft sie stärker als die alten
Bundesländer. Auch die Osterweiterung der Europäischen Union stellt eine riesige Herausforderung dar.
Ebenso ist der Bevölkerungsrückgang ein Problem für
die künftige wirtschaftliche Entwicklung.
Wir fordern daher erstens fördertechnische Veränderungen, damit mit gleichen Geldern ein größerer Effekt
erzielt werden kann. Wir fordern zweitens, beginnend mit
dem Haushalt 2002, ein dreijähriges Wirtschaftsprogramm aufzulegen, das die Mittel und Instrumente für
eine Investitions-, Innovations- und Gründungsoffensive
in Ostdeutschland mit adäquaten Maßnahmen der Markterschließung und der Marktrückgewinnung bereitstellt.
({2})
Wir fordern eine kommunale Infrastrukturpauschale, weil gerade in den Kommunen die größten strukturellen Defizite vorhanden sind, weil man mit einer solchen Pauschale Spielräume für öffentliche Vorhaben
schaffen könnte und weil man den kleinen und mittleren
territorialen Unternehmen neue Aufträge verschaffen
kann. Es reicht nicht, den Mund zu spitzen, Frau Kollegin
Hermenau. Wir sind uns darüber völlig einig,
({3})
dass die Rolle der Kommunen in Bezug auf die Finanzen
gestärkt werden muss. Wenn man das aber will, muss man
ein entsprechendes Instrument einführen.
({4})
Wir plädieren für ein Maßnahmebündel, das die ostdeutsche Landwirtschaft in die Lage versetzt, einen
wirksamen Beitrag zu regionalen wirtschaftlichen Kreisläufen zu leisten. Wir werden uns energisch dagegen zur
Wehr setzen, dass mit bloßen Umschichtungen im Haushalt in den kommenden zwei, drei Jahren der Eindruck erweckt werden soll, es würde dem dringenden Handlungsbedarf im Osten entsprochen.
Ich nenne ein Beispiel: Es ist zu begrüßen, dass das
Städteumbauprogramm im Jahr 2002 und dann auch in
den kommenden zwei Jahren mit 300 Millionen DM pro
Jahr in den Haushalt eingestellt werden soll. Wenn man
aber genau hinschaut, dann muss man feststellen, dass das
keine zusätzlichen Mittel, sondern Umschichtungen sind.
Diese Umschichtungen gehen vor allen Dingen zulasten
der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur. Das kann unsere Zustimmung nicht
finden. Wir dürfen nicht versuchen, die Probleme in den
neuen Bundesländern mit Haushaltstricks zu lösen. Wir
brauchen vielmehr substanzielle Entscheidungen, die
dann eben auch Geld kosten.
({5})
Ein letzten Satz.
Kollegin Luft, Sie
müssen zum Ende kommen.
Ja. - Wir unterstützen - das
wissen Sie - den Abbau der Neuverschuldung. Das ist
keine Frage. Wir sind aber schon der Meinung, dass dieser Abbau bis zum Jahre 2006 so lange nicht festgemauert werden darf, solange noch die Gefahr besteht, dass der
Osten im Zustand der Rückständigkeit verharrt.
Danke.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Schild, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lassen Sie mich vorab einige Sätze zu dem
Verfahren und zu den Klagen, die dazu heute Morgen hier
vorgetragen wurden, sagen. Meine Erfahrung ist, dass
sich ein Ausschuss noch nie so intensiv mit der Materie eines Gesetzentwurfs befasst hat wie dieser Sonderausschuss.
({0})
- Wir haben den Entwurf zumindest ein knappes Jahr gekannt.
({1})
Wir haben uns im Ausschuss sehr intensiv mit all den vom
Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Problemstellungen befasst. Wir wussten alle, dass sich die Entscheidung letztendlich auf einige wenige Kernfragen konzentrieren würde. Niemand kann also überrascht gewesen
sein, weil auch dort die Interessenlagen zu einem relativ
frühen Zeitpunkt bekannt waren.
In der Tat, es war ein Kraftakt; das gestehe ich zu. Ich
teile auch die Bedenken, die dagegen geäußert worden
sind, dass letztlich innerhalb weniger Tage, nachdem
durch die Vereinbarung des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten grünes Licht gegeben worden ist, die
letzten entscheidenden Weichenstellungen im Maßstäbegesetz vorgenommen worden sind.
Ich möchte mich bei allen Fraktionen dieses Hauses
- ich nehme Sie da ein bisschen aus, Frau Kollegin Frick ausdrücklich für die konstruktive Arbeit im Ausschuss bedanken; denn sonst hätten wir das in diesen wenigen TaDr. Christa Luft
gen nicht hinbekommen und letzte Woche nicht abschließen können.
({2})
Das Urteil vom 11. November 1999 hat den Gesetzgeber in der Tat vor eine außergewöhnlich schwierige
Aufgabe gestellt. Um Missverständnisse auszuräumen,
Frau Kollegin Frick: Der Auftrag zur Schaffung des zwischen der Finanzverfassung und dem Finanzausgleichsgesetz einzufügenden Maßstäbegesetzes war eigentlich
nie als Pflicht zur Gesetzgebung im Blindflug zu interpretieren.
Was die in Ihrem Antrag unter Nr. I zum Ausdruck
kommende Moral angeht - auf die anderen Punkte komme ich noch zu sprechen -, so war das ein Missverständnis. Das ist auch in der Anhörung des Sonderausschusses
deutlich geworden. Wir sind bei der Verabschiedung des
Maßstäbegesetzes hier im Deutschen Bundestag in der
Verantwortung, uns über die finanziellen und ökonomischen Folgen unserer Gesetzgebungsarbeit für Bund und
Länder Klarheit zu verschaffen.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinen philosophischen Ausführungen über einen Schleier des Nichtwissens, hinter dem die Entscheidungen zum Maßstäbegesetz zu treffen seien, den Anlass dafür gegeben, dass in
der öffentlichen Debatte eine erhebliche Verwirrung entstanden ist. Ich möchte aus der Anhörung des Sonderausschusses den Verfassungsrechtler Professor Wieland
zitieren. Das sage ich insbesondere in Ihre Richtung; denn
das muss aufgeklärt werden. Professor Wieland hat uns in
der Anhörung gesagt:
Der Gedanke, man könnte zunächst abstrakte Maßstäbe festlegen und dann, völlig getrennt davon, darauf schauen, was konkret daraus folgt, scheint
mir - und das würde ich in aller Deutlichkeit und bei
allem Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht
sagen - die Aufgabe des Parlaments zu verkennen.
({3})
- Der Beifall gebührt allerdings nicht mir, sondern
Professor Wieland.
({4})
Er sagt weiter:
Ich verstehe parlamentarische Arbeit vielmehr so,
dass Sie
- wir als Parlament Ihre Entscheidungen so treffen sollen, dass Sie das
Ergebnis verantworten können. Und das Ergebnis
können Sie nur verantworten, wenn Sie - um es salopp zu sagen - wissen, was hinten rauskommt, und
die Folgen kennen.
Meine Damen und Herren, die Regelungsmaterien des
Maßstäbegesetzes und des Finanzausgleichsgesetzes sind
also nicht vollkommen getrennt zu behandeln, nach dem
Motto: die Worte im Maßstäbegesetz und die Zahlen im
FAG.
Die entscheidende Vorgabe des Gerichts - das ist sicherlich unstrittig - für das Verfahren haben wir erfüllt,
nämlich den zeitlichen Vorrang des Maßstäbegesetzes vor
dem neuen Finanzausgleichsgesetz.
({5})
Wir haben mit diesem Gesetz die Grundprinzipien der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern sowie unter den Ländern in abstrakter Form festgelegt. Diese abstrakten Maßstäbe sind langfristig angelegt und weisen den
Weg für das Finanzausgleichsgesetz, das die konkreten finanziellen Ausgleichsergebnisse hervorbringt.
Ich möchte einige Anmerkungen zur Befristung machen. In der Tat, sie ist strittig. Aber wir haben dem Gesetz eine langfristige Geltung verschafft. Mit Ablauf des
Jahres 2019 sollen nach übereinstimmender Auffassung
von Bund und Ländern der Solidarpakt, das neue Finanzausgleichsgesetz und gleichzeitig das Maßstäbegesetz
auslaufen. Wir gehen davon aus, dass bis zu diesem Zeitpunkt die wirtschaftliche Integration der neuen Länder
- 30 Jahre nach ihrem Beitritt - vollzogen ist. Das ist ein
Zeitpunkt, zu dem man erneut über Maßstäbe im Finanzausgleich nachdenken muss.
Wir sind unserer Verantwortung für die finanziellen
Folgen nachgekommen. Das Ergebnis ist bekannt. Es ist
im Entschließungsantrag festgelegt worden.
Ich möchte noch einmal auf den Antrag der F.D.P.Fraktion zu sprechen kommen. Es wäre konstruktiv gewesen, wenn die im Antrag enthaltenen Überlegungen
auch in die Beratungen des Sonderausschusses eingebracht worden wären. Ich möchte dies kurz klassifizieren:
Im ersten Abschnitt des Entschließungsantrages geht es
um die Moral. Darin wird auf das Bundesverfassungsgericht verwiesen. Dazu habe ich eben schon etwas gesagt. Es wäre unverantwortlich gewesen, wenn man in
diesem Haus den Maßstab ohne Kenntnis der finanziellen
und ökonomischen Folgen festgelegt hätte.
({6})
- Nein. Das wollte das Gericht nicht, das war ein Missverständnis.
Dann kommt ein weiterer Abschnitt, in dem es um den
Wettbewerbsföderalismus geht. Auch hierzu gab es ein
Missverständnis. Dem Bundesverfassungsgericht ging es
nicht darum, den Wettbewerbsföderalismus im Finanzausgleichs- und Maßstäbegesetz zu installieren. Es ging
vielmehr darum, dem Bund und allen Bundesländern auch
weiterhin auf der Grundlage eines solidarischen Finanzausgleichs zu erlauben, seine verfassungsmäßigen Aufgaben wahrzunehmen.
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt zu sprechen
kommen. Dazu hat auch der Berliner Wahlkämpfer, der
Kollege Rexrodt, gesprochen. Er sollte die Folgen dessen,
was er vorschlägt, bedenken, wie wir es beim Maßstäbegesetz auch getan haben. In dem Entschließungsantrag
der F.D.P. wird vorgeschlagen:
Bei der Bestimmung der Finanzkraft der Länder sind
die kommunalen Einnahmen aus Realsteuern und
steuerähnlichen Abgaben nicht mehr zu berücksichtigen. Bei den ausgleichsverpflichteten Ländern sind
die Leistungen aus dem Finanzausgleich jeweils auf
50 % des Betrages zu begrenzen, um den deren Finanzkraft die durchschnittliche Finanzkraft aller
Länder übersteigt.
Ich befürchte, der Kollege Rexrodt hat nicht errechnet,
was dies für das Land Berlin bedeutet. Dieser Antrag ist
ein klassisches Eigentor.
({7})
Aber vielleicht sagen ihm dazu die Berliner Kolleginnen
und Kollegen noch einiges.
Wir haben im laufenden Gesetzgebungsverfahren das
erfüllt, was uns das Bundesverfassungsgericht in seinen
Leitsätzen aufgegeben hat. Darin heißt es:
Das Finanzausgleichsgesetz bestimmt die in Art. 106
und 107 GG für die gesetzliche Ausgestaltung der
Finanzverfassung vorgegebenen Maßstäbe nicht mit
hinreichender Deutlichkeit und ist deshalb nur noch
als Übergangsrecht anwendbar... Das Grundgesetz
beauftragt den Gesetzgeber, die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zu konkretisieren und zu ergänzen.
Meine Damen und Herren, mit dem vorgelegten Maßstäbegesetzentwurf haben wir diesen Auftrag erfüllt.
Ich danke Ihnen.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Antje Hermenau,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Ich beziehe mich auf die Rede von Frau Professor Luft.
Sie haben hier wieder versucht, eine Schimäre von der
kommunalen Investitionspauschale aufzubauen. Wenn
Sie § 2 aufmerksam gelesen hätten, müsste Ihnen bewusst
sein, dass erhebliche Mittel pro Jahr für diesen Zweck,
nämlich den Ausgleich der unterproportionalen kommunalen Finanzkraft, vorgesehen sind. Insofern ist dem Anliegen nach meinem Verständnis im Kern Rechnung getragen worden.
Was ich aber kritisiere, ist, dass der Ausgleich der kommunalen Finanzkraft nicht in ein bestehendes, grundgesetzlich verankertes System, nämlich den Länderfinanzausgleich, eingefügt worden ist. Diesen Gedanken wollen
Sie nicht verstehen, weil Sie wieder zentralstaatlich denken. Das ist der Punkt. Sie wollen gemäß Ihrem alten Denken, dass der Zentralstaat alles regelt und Bundesgelder in
den Ausgleich hineinsteckt. Das widerspricht aber der
Idee des Föderalismus.
({0})
- Jetzt habe ich Sie erwischt. Das erkennt man daran, dass
Sie der Befristung zustimmen. Sie stimmen zu, dem Länderfinanzausgleichsgesetz eine Befristung zu verpassen.
Das tun Sie, weil Sie denken und sich innerlich darauf
vorbereiten, dass Sie in den ostdeutschen Ländern mitregieren werden. Der Punkt aber ist der, dass Ihre Basis das
noch nicht weiß.
Danke schön.
({1})
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Dr. Christa Luft.
Kollegin Hermenau, dieses
Thema schon zu einem Wahlkampfauftritt zu nutzen,
hatte ich nicht beabsichtigt.
({0})
Die Regelungen zum Länderfinanzausgleich, zum Solidarpakt II, auf die Sie sich beziehen, gelten ab dem Jahr
2005. Das ist der erste Punkt. Unser Vorschlag bezieht
sich auf die Zeit zwischen dem Jahr 2002 und dem Jahr
2005.
({1})
Im Übrigen könnte die kommunale Investitionspauschale sofort wieder abgeschafft werden, wenn es möglich wäre, die Vermögensteuer wieder zu erheben; die
Vermögensteuer ginge in die Haushalte der Länder und
die Länder hätten auf diese Weise Geld, um ihren Kommunen in stärkerem Maße unter die Arme zu greifen.
({2})
Zweitens: Eine kommunale Investitionspauschale
hat es 1991 und 1993 gegeben. Es wird immer wieder behauptet, sie sei verfassungswidrig. Das Argument der
Grundgesetzwidrigkeit benutzen jene, denen die kommunale Investitionspauschale sowieso nie gepasst hat. Ich
kenne kein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die
Unzulässigkeit dieser Pauschale zum Ergebnis gehabt
hätte.
({3})
Außerdem sind Bundesfinanzzuweisungen in prekären
Situationen nicht nur zulässig, sondern auch praxisgerecht. Dass wir es in den ostdeutschen und in nicht wenigen westdeutschen strukturschwachen Kommunen mit
einer prekären Finanzsituation zu tun haben, dürfte unbestritten sein. Es gehört auch zum Prinzip der kommunalen
Selbstverwaltung, dass die Kommunen über ein gewisses
Maß an Finanzmitteln verfügen, mit dem sie Schwerpunkte setzen können, da vor Ort eine hohe Kompetenz
vorhanden ist.
Es wäre sinnvoll, wenn Geld, das den Kommunen zur
Verfügung gestellt wird, nicht mit allzu viel Rahmenvorgaben in Bezug auf den Mitteleinsatz versehen wird.
Dann würde auch Demokratie in den Kommunen wieder
einen größeren Sinn machen.
({4})
Wenn Kommunen keinen Spielraum haben, ist es am Ende
egal, welche Partei regiert, Frau Kollegin Hermenau, denn
keine Partei kann in einem solchen Fall viel machen.
({5})
Die Gefahr, dass die Grünen im Osten eine große Rolle
spielen werden, ist ohnehin nicht sehr groß.
({6})
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
möchte gegen Ende der Debatte noch zwei Bemerkungen
machen.
Erstens zur Sache: Es wurde eingewandt, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hätten nicht mit am Tisch
gesessen und müssten deswegen die Rechnung zahlen.
Das ist falsch. Ich habe darauf geachtet, dass das nicht geschieht, und deswegen haben wir die mittelfristige Finanzplanung auch vorher beschlossen. Wichtig ist, dass
das, was wir beim Finanzausgleich und beim Solidarpakt
beschließen, in die Konsolidierungsstrategie hineinpasst.
Sie machen Ihre Behauptung an der Regelung zum
Fonds Deutsche Einheit fest. Der Fonds Deutsche
Einheit muss - das will das Verfassungsgericht - einbezogen werden. Eine Tilgung von Schulden hat es bis heute
nicht gegeben. Das hat aber überhaupt nichts mit der
Regelung zum Fonds Deutsche Einheit zu tun. Solange
Sie defizitäre Haushalte haben, tun Sie bei der so genannten Tilgung beim Fonds Deutsche Einheit nichts anderes, als Schulden des Fonds Deutsche Einheit zu Schulden der Länderhaushalte oder des Bundeshaushaltes zu
machen. Die Frage, ob getilgt wird oder nicht, entscheidet
sich an dem Umstand, wann wir zum ersten Mal zu einem
ausgeglichenen Haushalt und zu Überschüssen kommen.
({0})
Infolgedessen hat Ihr Einwand mit dieser Regelung überhaupt nichts zu tun. Die entscheidende Frage ist, ob wir
die Konsolidierungsstrategie ernst nehmen oder nicht.
({1})
Ich habe in diesem Punkt, gerade in den letzten Tagen,
Zweifel an der Opposition anmelden müssen, nachdem
ich gehört habe, was Sie alles vorgeschlagen haben.
Zweitens zum Verfahren: Ich kann zum Teil verstehen,
was hier eingewandt worden ist. Ich will deswegen
zunächst dem Sonderausschuss für seine intensive Arbeit
herzlichen Dank sagen. Es ist eingewandt worden, der
Sonderausschuss habe in der letzten Phase unter einem
ungeheuren Zeitdruck arbeiten müssen. Das ist wahr,
aber die Redlichkeit gebietet es, auch etwas anderes zu sagen: Glaubt jemand, dass wir die Probleme bei Finanzausgleich und Solidarpakt im Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat - das wäre die
Alternative gewesen - hätten lösen können? Nein!
({2})
Das hätte vor allem nicht mit der Zielsetzung funktioniert, dass alle 16 Länder und der Bund zustimmen sollten. Bei einer solchen Zielsetzung haben Sie keine andere
Chance, als zunächst unter den Ländern den Versuch zu
machen, zu einer Einigung zu kommen. Eine solche wäre
nicht gelungen, wenn der Bund nicht dazu bereit gewesen
wäre, noch etwas dazuzutun. Dies ist mir sehr schwer gefallen und hat sich daher auch sehr in Grenzen gehalten;
darauf habe ich geachtet.
Das Verfahren, das eine Zumutung für den Ausschuss
gewesen ist, konnte nur in dieser Weise durchgeführt werden. Deswegen sage ich dem Ausschuss ausdrücklich
Dank dafür, dass er diese erschwerten Bedingungen akzeptiert hat, weil es eine realistische Alternative nicht gegeben hat. Auch ein längeres Hinziehen der Verhandlungen hätte es nicht besser gemacht.
({3})
Deswegen sage ich zum einen Dank an den Bundestag
- insbesondere an den Ausschuss -, zum anderen aber
auch ausdrücklich Dank an die Länder.
Wahr ist auch - in der Tat war das 1993 genauso -:
Nach einer solchen Mammutkonferenz gibt es immer
noch einzelne offene Fragen, weil eben nicht alles geklärt
ist. Dies hätte auch ich mir anders gewünscht. Dennoch
will ich ausdrücklich den Ministerpräsidenten und den Finanzministern für ihre sehr konstruktive, wenn auch zuweilen äußerst kontroverse Arbeit Dank sagen, die wir zusammen bewältigt haben. Zwei Ministerpräsidenten
möchte ich in diesem Zusammenhang namentlich erwähnen, die es uns ermöglicht haben, alle wesentlichen Einzelfragen zum Schluss zu klären, und die zu einem Zusammenführen besonders beigetragen haben. Damit meine
ich Herrn Bürgermeister Runde und den hessischen Ministerpräsidenten Koch. Beide haben als Verhandlungsführer - der A- und B-Länder - dafür gesorgt, dass wir
auch in Details zu vernünftigen Konditionen einig geworden sind.
Deswegen: Wenn man sich entschließt, das nicht im
Vermittlungsausschuss zu regeln, gibt es keine Alternative zu diesem Verfahren. Dann muss man auch dankbar
sein für das erreichte Ergebnis.
({4})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Günter Nooke.
Frau Präsidentin! Sehr
verehrte Damen und Herren! Ich will gleich eingangs
feststellen: Auch wir begrüßen die Einigung über die Neuregelung des Finanzausgleichs und die Einigung zum
Solidarpakt II, die damit eingeschlossen ist. Damit wird
der Weg frei für das vorliegende Maßstäbegesetz, das den
künftigen Länderfinanzausgleich regelt.
Mit den Kollegen meiner Fraktion aus den neuen Bundesländern bin ich froh und dankbar für die Einigung und
weiß die Solidarität von Bund und alten Ländern gegenüber den neuen Ländern zu schätzen. Wir wissen auch:
Ohne das selbstbewusste Verhandeln der Ministerpräsidenten, ihrer Staatskanzleien und der Finanzminister aus
den neuen Bundesländern und ohne den erklärten politischen Willen der Geberländer zur Solidarität wäre diese
Einigung beim Solidarpakt II in dieser Legislaturperiode
wohl nicht zustande gekommen. Übrigens hat - ich merke
das einmal an - der für die neuen Länder zuständige
Staatsminister auch in dieser Frage keine gute Rolle gespielt, genauer gesagt: Er hat sogar versucht, dem Bundesfinanzminister den Rücken zu decken, indem er
50 Milliarden DM weniger gefordert hat, als hinterher herauskam.
Für die neuen Länder ist mit der Neuregelung des Finanzausgleichs ein großer Schritt in Richtung Planungssicherheit getan. Ich erwähne das deshalb ausdrücklich,
weil Planungssicherheit ein nicht zu unterschätzender
Vorteil für die neuen Länder ist, insbesondere für deren
Haushalte und deren Gestaltungswillen beim weiteren
Aufbau Ost. Für uns alle aber ist wichtig, dass das Thema
Aufbau Ost eine nationale Herausforderung bleibt, der
wir uns nicht nur zu stellen haben, sondern die wir weiter
meistern müssen.
({0})
Der Solidarpakt II und das Maßstäbegesetz regeln
diese nationale Herausforderung natürlich nur bedingt.
Wir haben noch eine ganze Menge zu tun. Es ist kein Geheimnis - ich will das auch für unsere Fraktion noch einmal sagen -, dass die kommunale Finanzkraft aus Sicht
der ostdeutschen Länder stärker hätte berücksichtigt werden sollen. Aus ostdeutscher Perspektive rechnen sich
nach dem gegenwärtigen Verfahren die reichen Länder
sehr wohl ärmer und erhöhen somit ihren Selbstbehalt
beim Länderfinanzausgleich. Bekanntermaßen gibt es
dazu unterschiedliche Meinungen, und eine Änderung
war politisch nicht durchsetzbar. Dies kann ich, für meine
Fraktion wie für die ostdeutschen Länder, so feststellen.
Darüber, ob aus ostdeutscher Perspektive die eher dürftigen Regelungen, die das Maßstäbegesetz jetzt enthält,
hinreichend sind und ob das alles bestimmt genug ist,
kann man ebenfalls streiten. Auf jeden Fall haben die
neuen Länder jetzt mehr Möglichkeiten der eigenen Gestaltung und können eher eigene Wege gehen, eigene
Schwerpunkte setzen. Ich glaube, dass wir uns davor angesichts der bisherigen Entwicklung in Sachsen und
Thüringen nicht fürchten müssen. Vielmehr kommt uns zugute, dass man sieht, wo gute Regierungen sind: Dort, wo
gute Politik gemacht wird, geht es den Menschen besser.
({1})
Meine Damen und Herren, wir werden also auch künftig in diesem Hause den Diskurs zum Aufbau Ost führen.
Auch künftig wird es so manchen Streit über Wünsche
und Notwendigkeiten beim Aufbau Ost geben. Ich halte
diesen Diskurs auch für richtig; denn wir dürfen unter der
Überschrift Aufbau Ost nicht nur über finanzielle Leistungen sprechen, auch wenn es in diesem Zusammenhang
notwendig war. Wir müssen uns wieder stärker über Ziele
und Prioritäten unterhalten.
({2})
Bei dem Stichwort Ziele und Prioritäten drängt sich
noch eines auf: die Taktiererei der Bundesregierung und
ihre Bestrebungen, Entwicklungen und Verhandlungen
zum Solidarpakt II durch Vorabtreffen der SPD-Strategen
zu präjudizieren. Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Das
hier verschiedentlich im Umgang mit den Ländern praktizierte Verfahren hatte mit Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, mit einem fairen und transparenten Miteinander
nicht viel zu tun. Noch im Frühjahr dieses Jahres haben
wir an dieser Stelle über die wirtschaftliche Entwicklung
in den neuen Bundesländern und die Tatsache diskutiert,
dass die Schere zwischen Ost und West auseinander geht.
Die Einschätzung der Sachverständigen, wonach Ostdeutschland von einer selbsttragenden Entwicklung noch
weit entfernt sei, wurde wieder und wieder durchdekliniert. Niemand zog in Zweifel, dass die Schließung der
Infrastrukturlücke die Voraussetzung für die weitere ökonomische Entwicklung in den neuen Bundesländern darstellt.
Mittlerweile haben sich die gesamtwirtschaftlichen
Aussichten weiter extrem verdüstert: Die Inflationsrate
hat dramatisch zugenommen. Der Bundeswirtschaftsminister selbst hat quasi ein Nullwachstum prognostiziert.
Das trifft die fragilen Wirtschaftsstrukturen in den neuen
Bundesländern besonders hart. Hier lässt die Zahl der Unternehmensgründungen nach, es gibt eine wachsende
Zahl von Insolvenzen. Die Folge sind fehlende Investitionsmöglichkeiten der kleinen und Kleinstbetriebe.
Zum heutigen Thema muss noch Folgendes gesagt
werden: Die neuen Länder haben keine Angst vor Wettbewerb und vor einem - wie ihn Herr Westerwelle gefordert hat - wettbewerblichen Föderalismus. Aber es
sollte klar sein, dass eine solche Idee eine Zukunftsvision
darstellt. Gegenwärtig sind die neuen Länder nicht fit genug und auf Gehhilfen angewiesen. Ein zu schneller
Verzicht auf diese Hilfen, wie jetzt manchmal von einigen
Grünen gefordert, könnte aus Rekonvaleszenten Dauerpatienten machen. Das können wir nicht wirklich wollen.
Beim Solidarpakt II gab es übrigens einen Konsens,
was diese Hilfen angeht: Fortführen für mindestens zehn
Jahre auf hohem Niveau. Die Forderung der ostdeutschen
Ministerpräsidenten war sogar: auf bisherigem Niveau.
Unstrittig war, dass der Solidarpakt II an der Notwendigkeit zur Überwindung dieser teilungsbedingten Lasten
und an der Deckung der Infrastrukturlücke in Höhe der
genannten 300 Milliarden DM festgemacht wird. Diese
Zahl wurde im Übrigen nicht aus der Luft gegriffen und
auch nicht in irgendwelchen Hinterzimmern ausgekungelt, sondern im Jahre 2000 durch ein Gemeinschaftsgutachten der fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute
dieses Landes ermittelt und belegt.
An diesem Punkt muss ich auf ein öffentlich gewordenes Missverständnis aufmerksam machen, das am vorletzten Wochenende die Medien bewegte. Es beginnt damit, dass der Chefsachenkanzler von vornherein die
Parole ausgegeben hat, mehr als 20,6 Milliarden DM gebe
es für den Solidarpakt II pro Jahr und für die Dauer von
zehn Jahren nicht. Das ergab die Summe von 206 Milliarden DM. Der Finanzminister ist dann sogar mit einer
Summe von 157 Milliarden DM in die Verhandlungen gegangen und hat versucht, in der öffentlichen Wahrnehmung den Eindruck zu manifestieren, der Nachholbedarf
im Osten sei bei weitem nicht so dringlich wie der Zwang
zur Haushaltskonsolidierung und sein Image als Sparkommissar. Als Alibi wurde noch ein ansonsten renommiertes Forschungsinstitut bemüht, das die Infrastrukturlücke schnell einmal auf die Hälfte saldiert hat. Über die
Zweckzuweisung - die 10 Milliarden DM für zehn Jahre,
also insgesamt 100 Milliarden DM - wurde am Anfang
gar nicht gesprochen. Am Ende hörte man in der Öffentlichkeit, es sei allein über die 300 Milliarden DM für
die Beseitung der Infrastrukturlücke gesprochen worden.
Im Gesamtergebnis kamen aber für 15 Jahre lediglich
306 Milliarden DM heraus.
Das wurde als Erfolg gefeiert und bejubelt. Die angebliche Summe von 306 Milliarden DM bedeutet zwar eine
ganze Menge Planungssicherheit, aber verteilt sich eben
auf den Zeitraum bis 2019. Die erwähnte und ansonsten
nicht unbedingt für Regierungsverlautbarungen bekannte
Sonntagszeitung titelte nun: Deutsche müssen weitere
15 Jahre für den Osten zahlen. Dies stimmt schlichtweg
so nicht. Die 100 Milliarden DM, die noch zugesichert
werden, unterliegen der Evaluierung und müssen durch
jährlich von den Ländern anzufertigende Fortschrittsberichte für den Aufbau Ost belegt werden. Sie sind also Teil
jährlicher Haushaltsverhandlungen und damit keineswegs
rechtlich abgesichert.
Ich habe nichts gegen Fortschrittsberichte, aber
manchmal sollten wir darüber nachdenken, ob diese nur
für die neuen Bundesländer und nur an dieser Stelle oder
nicht ebenfalls für andere öffentliche Mittel notwendig
wären, über die wir im Bundestag beschließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen Sie es mir
nach, wenn ich sarkastisch sage: Wenn die Planungssicherheit für den Osten bis 2050 hergestellt worden wäre und
man dann bejubelt hätte, dass die 306 Milliarden DM auf
45 Jahre aufgeteilt wurden, hätte es das wohl nicht sein
können.
({3})
Insofern bleibt die nüchterne Bilanz: 1998 hatten wir
Transferzahlungen in Höhe von etwa 40 Milliarden DM.
Für die nächsten 15 Jahre, also für den Zeitraum von 2005
bis 2019, betragen diese Zahlungen im Durchschnitt
20 Milliarden DM. Das ist ungefähr die Hälfte. Also sollten wir nicht sagen, hier sei etwas Schlimmes geschehen,
weil mehr Zahlungen für den Osten vereinbart worden
seien. Das stimmt so nicht.
Ein paar positive Aspekte des Gesetzes will ich noch
nennen. Die pauschalen statt der zweckgebundenen Zuweisungen aus dem Investitionsförderungsgesetz werden
von uns ausdrücklich begrüßt. Wir stellen uns dem Wettbewerb. Wir sind auch für Anreize zur Erhöhung der eigenen Steuerkraft durch höheren Selbstbehalt bei überdurchschnittlichen Zuwachsraten. Ich habe die Hoffnung,
dass die neuen Länder bei Chancengleichheit durchaus
wieder in der Lage sein könnten, überdurchschnittliche
Zuwachsraten zu erreichen, allen voran vielleicht sogar
diese Stadt Berlin. Dafür müsste man sich hier natürlich
für die Zukunft und nicht für die Vergangenheit entscheiden.
Die Beibehaltung der bisherigen Einwohnerwertung
für Stadtstaaten, ebenso die neue Einwohnerwertung für
dünn besiedelte Länder - Mecklenburg-Vorpommern,
Brandenburg und Sachsen-Anhalt profitieren davon -, die
Berücksichtigung der besonderen Leistungsschwäche der
neuen Bundesländer und Berlins bei der Deckung von
Sonderlasten und beim Ausgleich unterproportionaler Finanzkraft - das alles können wir positiv vermerken.
Ich spreche aber auch noch die kritischen und problematischen Punkte an. Die mit der Neuregelung im Finanzausgleich verbundene Hoffnung einer Föderalismusreform ist unerfüllt geblieben. Ich will es ganz deutlich
sagen: Darauf warten wir weiter. Föderalismus findet
noch nicht statt, wenn sich 16 Bundesländer zulasten Dritter einigen.
Frau Professor Frick, ich stimme mit dem Bundesfinanzminister überein: Wenn wir das Ganze pragmatisch
sehen, können wir auch nicht erwarten, über ein so kompliziertes Gesetz im Vermittlungsausschuss verhandeln zu
können. Wir werden die Föderalismusreform, wenn wir
sie überhaupt realisieren wollen, hier im Bundestag in Angriff nehmen müssen, oder wir werden immer wieder ein
kompliziertes Verfahren haben. Diese Problematik halte
ich nicht für im Vermittlungsausschuss lösbar.
({4})
Herr Kollege Nooke,
jetzt muss ich Sie für einen Moment unterbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist klar, dass vor
einer namentlichen Abstimmung der Lärmpegel im Saal
steigt. Aber ich bitte doch darum, dem Kollegen Nooke
noch angemessen zuzuhören. Es gibt danach auch noch
einen weiteren Redner in dieser Debatte. Alle Kolleginnen und Kollegen haben verdient, dass ihnen zugehört
wird.
({0})
Frau Präsidentin, die
Materie ist kompliziert, aber ein paar Fakten müssen einfach aufgezeigt werden. Lassen Sie mich deshalb bitte
noch meine Ausführungen beenden.
Der Versuch, die neuen Länder ins Finanzausgleichssystem zu integrieren, hat sich mit dem Beharrungsvermögen, bei den alten Besitzständen zu bleiben, überlagert.
Insofern spreche ich das Thema Geltungsdauer an, Herr
Kollege Metzger. Wir sprechen doch sonst auch bei Gesetzen mit Verfallsdatum davon, dass diese Aufgabe eines
Tages beendet sein wird. Es kann doch eigentlich nicht so
schlimm sein, dass wir uns der Aufgabe, noch einmal über
eine Föderalismusreform und eine Regelung zu diskutieren, bei der nicht nur zehn Länder auf Beinen und sechs
Länder auf Krücken stehen, sondern mit der wir ein System erreichen, das wirklich passt und dem Föderalismus
in Deutschland gerecht wird, in 15 Jahren noch einmal unterziehen müssen.
Der Fonds Deutsche Einheit wird nicht wie vorgesehen getilgt. Die Tilgungsstreckung verzögert den Schuldenabbau und geht zulasten der nachkommenden Generationen. Auch hier, Herr Kollege Metzger, wollen wir
erst einmal sehen, ob wir es wirklich schaffen, im nächsten Bundeshaushalt die von Ihnen genannten 740 Millionen DM einzusparen.
Daraus resultieren übrigens die Liquiditätsgewinne für
die alten Bundesländer; denn die neuen Bundesländer waren an der Tilgung des Fonds Deutsche Einheit nicht beteiligt.
Auch haben wir die Degression der Finanzmittel im
Rahmen des Soli II festgeschrieben. Aber wir haben noch
nichts dazu gesagt, was nach dem Wegfall der Ziel-1-Fördermittel nach 2006 bei der EU-Osterweiterung, die bald
ansteht, passiert. Eine Kompensation ist nicht vorgesehen.
Bei der Mittelfestschreibung für den Solidarpakt II gilt
das Nominalprinzip. Das ist bei Preissteigerungen, wachsender Inflation und Kaufkraftverlust nachteilig. Alle wissen: In 20 Jahren ist das Geld, das wir heute festschreiben,
nur noch die Hälfte wert, wenn wir die Inflationsrate von
heute annehmen. Machen Sie sich klar: Auch hier wird
eine große Menge Geld weniger vorhanden sein.
({0})
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, eingangs
sagte ich, dass wir als ostdeutsche Abgeordnete über die
Einigung zur Neufestlegung des Länderfinanzausgleichs
froh sind. Dazu stehe ich. Aber erwarten Sie nach dem,
was hier zu sagen war, nicht, dass die Ostdeutschen jetzt
vor Dankbarkeit auf den Knien rutschen. Dazu besteht
kein Anlass.
Ich fasse deshalb zusammen: Die Liquiditätsgewinne
für die alten Länder aus der Tilgungsstreckung beim
Fonds Deutsche Einheit werden durch Einsparungen in
den neuen Ländern erwirtschaftet. Ich sage für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Wir haben das gemerkt,
Herr Bundesfinanzminister, liebe Ländervertreter, meine
Damen und Herren. Auch das gehört zum Protokollarischen bei diesem Gesetz. Ich schließe aber mit einem Bekenntnis zum Pragmatismus. Auch uns ist natürlich der
Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach.
Danke schön.
({1})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Maßstäbegesetz erfüllen wir die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts,
ein Fundament zu bauen, auf das wir später, wie beim
Hausbau, die staatlichen Finanzbeziehungen mit dem Finanzausgleichsgesetz setzen. Auf die Schwierigkeit, ein
Fundament zu bauen, ohne zu wissen, wie groß und wie
schwer das Haus sein wird, hat der Kollege Schild schon
hingewiesen. Ich denke, dass wir eine Lösung gefunden
haben, die dem Prinzip der Solidarität, das die Grundlage unseres Gemeinwesens bildet, gerecht wird und
gleichzeitig denjenigen Ländern, die heute noch Nehmerländer sind, genügend Ansporn bietet, auch weiterhin
Fortschritte zu erzielen.
Sowohl das Maßstäbegesetz als auch der Entschließungsantrag erfüllen drei Ansprüche, die ich für
sehr wichtig und nicht selbstverständlich halte:
Erstens. Wir haben durch die uns vorliegenden Regelungen langfristige und planbare Perspektiven, insbesondere für die neuen Länder, geschaffen. Das ist aus meiner
Sicht allemal wichtiger und vernünftiger als Sofortprogramme, wie sie von Frau Merkel oder Herrn Vogel permanent gefordert werden. Uns ist es darauf angekommen,
bezahlbare und die Solidarität nicht gefährdende Regelungen zu finden. Das, was Herr Vogel unentwegt fordert,
ist verantwortungslos. Er schürt Hoffnungen, die ohne
höhere Staatsverschuldung oder Steuererhöhungen nicht
finanziert werden können.
({0})
Mit uns Sozialdemokraten wird es jedoch weder zu Steuererhöhungen noch zur Erhöhung der Staatsverschuldung
kommen.
({1})
Vom heutigen Tag wird das Signal ausgehen, dass der
Osten mehr denn je Zukunft hat
({2})
und dass vor allem den jungen Menschen in den neuen
Ländern Perspektiven geboten werden. Der neue Länderfinanzausgleich und das Maßstäbegesetz schaffen die
Voraussetzungen für weitere Investitionen in den neuen
Bundesländern. Sie bieten daher gerade jungen Menschen große Chancen, die genutzt werden wollen und genutzt werden müssen.
Ich habe eingangs vom Prinzip der Solidarität gesprochen. Wir in den neuen Ländern wissen diese Form der
Solidarität zu schätzen. Die Menschen dort wissen, dass
der Bundeskanzler diese Solidarität erst möglich gemacht hat. Die Bürgerinnen und Bürger in den Ländern
wissen auch, wer diese Solidarität in Karlsruhe infrage
gestellt hat. Ich kann daher den Vertretern des ehemaligen Nehmerlandes Bayern nur sagen: Mein Ziel als
Thüringer ist es, dass Thüringen es schafft, selbst Geberland zu werden.
({3})
Das geht nicht von heute auf morgen. Das hat auch bei Ihnen in Bayern eine Weile gedauert. Aber ich bin zuverGünter Nooke
sichtlich, dass wir in Thüringen dies aus eigenen
Anstrengungen sowie durch die Solidarität des Bundes
und der anderen Länder schaffen können.
Der zweite für mich wichtige Anspruch, den das Maßstäbegesetz und der Entschließungsantrag erfüllen, ist der,
dass der in Deutschland erfolgreiche kooperative Föderalismus in seinen Grundfesten bestehen bleibt. Damit
ist der von den Südländern so vehement geforderte Wettbewerbsföderalismus, der die Solidarität aufgekündigt
hätte, vom Tisch. Bezeichnenderweise hat ihn das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 1999 nicht
einmal mit einem Wort erwähnt. Ich sage es ganz deutlich:
Ich bin zwar nicht gegen Wettbewerb. Wettbewerb ist gut
und wünschenswert. Aber wer fair spielen will, der achtet
auch darauf, dass die Ausgangspositionen einigermaßen
gleich sind. Aber das sind sie nun einmal nicht. Daher ist
die vereinbarte Lösung mit ihren Anreizmechanismen aus
meiner Sicht gerade noch vertretbar. Mir persönlich wäre
es lieber gewesen, sie wären gar nicht hineingekommen.
Ich bin gespannt, wie sie sich in den nächsten fünf bis sieben Jahren auswirken werden und ob es nicht noch Handlungsbedarf für uns geben wird.
Der dritte Punkt, den ich ausdrücklich begrüße und gegen den sich anfangs alle Länder gewehrt haben, ist die
Aufnahme des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes in das Maßstäbegesetz. Jedes Land hat für
sich und die Solidargemeinschaft Verantwortung zu tragen. Eine gemeinsame Ausgabenlinie zur Begrenzung des
gesamtstaatlichen Defizits war daher längst überfällig.
({4})
Die Aufnahme dieser Regelung in das Maßstäbegesetz
trägt die Handschrift der SPD-Bundestagsfraktion, die für
eine solide Finanzpolitik steht.
Die am 23. Juni ausgehandelten Regelungen sind eindeutig ein Kompromiss. Darauf ist schon vielfach hingewiesen worden. Ich gebe gern zu, dass ich mir eine umfassendere Maßstabsbildung, wie sie zum Beispiel auch
vom Bundesverfassungsgericht gefordert wurde, gewünscht habe.
({5})
Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung
war in dieser Beziehung viel weitergehender und genauer
als die mit den - ich möchte es einmal so formulieren beharrungswütigen Ländern letztendlich erreichte Lösung. Zu nennen wäre hier zum Beispiel die 100-prozentige Einbeziehung der kommunalen Steuereinnahmen,
die ich für ausgesprochen wichtig und richtig halte. Ich
hoffe, dass wir es irgendwann einmal schaffen werden, sie
in das Maßstäbegesetz hineinzuschreiben.
Ein wichtiger Punkt ist die auch exaktere Maßgabe der
vertikalen Steuerverteilung. Ich muss ehrlicherweise
zugeben: Wenn man sich das Gesetz genau anschaut, dann
stellt man fest, dass es dazu fast nichts enthält. Das birgt
sehr viel Potenzial an Konflikten zwischen den Ländern
und dem Bund in den nächsten Jahren. Das hätten wir
zwar ausräumen können. Aber das haben wir durch die Intervention der Länder leider nicht geschafft.
({6})
Wir Sozialdemokraten nehmen das Prinzip der Solidarität sehr ernst.
({7})
Das gilt zwar nicht nur für den Aufbau Ost, aber gerade
dort gilt es, solidarisch zu sein. Ob mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz, dem Investitionsprogramm Verkehr oder
dem Inno-Regio-Projekt - die Liste ließe sich beliebig
fortsetzen -, wir räumen dem Aufbau Ost höchste Priorität
ein,
({8})
und zwar nicht nur um seiner selbst willen, sondern deshalb, weil wir über unseren nationalen Tellerrand hinausschauen und die europäische Einigung nie aus dem
Blick verlieren. Wir haben - das hat auch die Debatte in
der letzten Woche gezeigt - schon einen guten Teil des
Weges zurückgelegt, vor allen Dingen dank der unermüdlichen Bereitschaft der Ostdeutschen, sich den
neuen Bedingungen anzupassen und ihr Schicksal
selbst in die Hand zu nehmen, aber auch dank des solidarischen Verhaltens der Menschen in den alten Bundesländern.
Insgesamt 306 Milliarden DM - die Zustimmung der
beiden Häuser vorausgesetzt - werden in den nächsten
Jahren in die neuen Länder fließen. Auch wenn die Bundesergänzungszuweisungen nominal und degressiv ausgestaltet sind, ist dies eine angemessene Summe, die wir
in den neuen Ländern sehr zu schätzen wissen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Herr
Koch wurde von Ihnen heute schon mehrmals gelobt.
({10})
Ich wäre an Ihrer Stelle ein bisschen vorsichtiger. Seine
Äußerungen in Richtung Berlin und Koalition halte ich
für sehr bedenklich; denn jede Drohung gegenüber den
Wählerinnen und Wählern in Ostdeutschland ist meines
Erachtens ein Anschlag auf die gesamtstaatliche Solidarität.
({11})
Im Übrigen brauchen wir uns von niemandem Nachhilfeunterricht in Sachen Demokratie geben zu lassen. Die
jeweilige Farbe einer Landesregierung ist kein Maßstab
für die Finanzbeziehungen der Länder,
({12})
auch wenn es Ihnen, liebe Kollegen von der Union - die
F.D.P. erwähne ich gar nicht -, nicht schmeckt, dass Sie
im Osten in der nächsten Zeit keinen Fuß mehr auf die
Erde bekommen werden.
Über das Auslaufen des Investitionsfördergesetzes ist
bereits berichtet worden. Die neuen Bundesländer erhalten durch die Sonderbedarfsergänzungszuweisungen
eine höhere Flexibilität. Mir ist an dieser Stelle daran
gelegen, an die Länder zu appellieren, diese Mittel auch
wirklich investiv einzusetzen. Auf uns als Bundestagsabgeordnete wird die Pflicht zukommen, die Berichte, die
erstellt werden, genau zu prüfen.
Ich möchte hier aber noch Folgendes sagen: Wer auf
der einen Seite die Entflechtung der Finanzbeziehungen
zwischen Bund und Ländern fordert - das ist oftmals angesprochen worden -, der darf auf der anderen Seite nicht
bei jedem sich stellenden kleinen Problem nach dem
Bund rufen und schreien, dass ihm der Bund doch bitte
helfen möge.
({13})
Die Länder sind jetzt in die Lage versetzt, sich selbst zu
helfen und etwas aus ihrem Potenzial zu machen. Wir haben mit diesem Maßstäbegesetz für die nächsten Jahre die
Grundlagen dafür gelegt.
Ich bin gespannt, ob das bis 2019 hält. Ich halte diese
Maßgabe der Befristung für sehr kritisch, aber ich stimme
letztlich zu, weil mir das übergeordnete Interesse daran,
dass dieses Gesetz durchgeht und dass der Aufbau Ost Solidität und langfristige Perspektiven erhält, viel wichtiger
ist. Deshalb bitte ich auch Sie um Zustimmung zu diesem
Gesetzentwurf.
({14})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Maßstäbege-
setzes in der Ausschussfassung. Es handelt sich um die
Drucksachen 14/5951 und 14/6533. Wir stimmen zu-
nächst über den Änderungsantrag der Fraktionen von
SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 14/6581 ab. - Zu dieser Abstimmung gibt es vom
Kollegen Volker Kröning eine schriftliche Erklärung
gemäß § 31 der Geschäftsordnung.1) - Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und einige Stimmen aus der
SPD-Fraktion angenommen.
({0})
Ein Kollege aus der SPD-Fraktion hat sich der Stimme
enthalten.
Ich bitte nun diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit der so-
eben beschlossenen Änderung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthal-
tungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dieser Fassung
in zweiter Beratung gegen die Stimmen der F.D.P.-Frak-
tion angenommen.
Ich möchte noch bekannt geben, dass der Kollege
Jochen-Konrad Fromme gemäß § 31 der Geschäftsord-
nung ebenfalls eine schriftliche Erklärung zu seinem Ab-
stimmungsverhalten abgegeben hat.2)
Interfraktionell ist vereinbart worden, trotz Annahme
eines Änderungsantrags in zweiter Beratung jetzt unmit-
telbar in die dritte Beratung einzutreten. - Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden.
Deshalb kommen wir jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktion der F.D.P. verlangt
namentliche Abstimmung. - Ich möchte bekannt geben,
dass im Anschluss an die namentliche Abstimmung noch
zwei einfache Abstimmungen stattfinden. - Ich bitte jetzt
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-
nen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das
ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-
geben3). Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die
Plätze recht schnell wieder einzunehmen, da wir noch
zwei einfache Abstimmungen durchführen müssen.
Ich möchte bekannt geben, dass es bei der Abstimmung
über den Änderungsantrag auf Drucksache 14/6581 drei
Gegenstimmen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegeben hat.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktionen der SPD, des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und der PDS auf Drucksache 14/6577.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der
CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Druck-
sache 14/6555. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.- Fraktion
abgelehnt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6492 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind offensicht-
lich alle damit einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
1) Anlage 2
2) Anlage 3
3) Seite 17900
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Norbert Geis, Erwin Marschewski,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Kriminalität wirksamer bekämpfen - Innere
Sicherheit gewährleisten
- Drucksache 14/6539 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Roland Pofalla, Wolfgang
Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der gesetzlichen
Maßnahmen gegenüber Kinder- und Jugenddelinquenz
- Drucksache 14/3189 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 14/6546 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Volker Beck ({4})
Sabine Jünger
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Zuständigkeit für die Anordnung einer DNAUntersuchung bei Spuren
- Drucksache 14/5264 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich dem ersten Redner das Wort erteile, möchte
ich im Namen aller Mitglieder des Hauses den peruanischen Staatspräsidenten Dr. Alejandro Toledo auf der
Besuchertribüne recht herzlich begrüßen. Wir bedanken
uns für die Aufmerksamkeit, die uns hier zuteil wird.
({6})
Erster Redner in dieser Debatte ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die Bundesregierung misst der inneren
Sicherheit und damit der Verbrechensbekämpfung und
Verbrechensverhütung einen hohen Stellenwert bei.
Erfreulicherweise zeigt die polizeiliche Kriminalstatistik ein eindeutiges Bild:
({0})
Wir können einen Rückgang der Kriminalität bei einer
steigenden Aufklärungsquote, die beispielsweise im Jahr
2000 über 53 Prozent betrug, feststellen. Hierzu haben der
Bund und alle Länder einen erfolgreichen Beitrag geleistet. Das sollte auch hier Erwähnung finden.
Deutschland ist im internationalen Vergleich eines der
sichersten Länder. Das kann man mit Fug und Recht behaupten.
({1})
Meine Damen und Herren, lieber Kollege Geis, dieser Befund korrespondiert natürlich mit einer deutlichen Verbesserung des subjektiven Sicherheitsempfindens der
Bevölkerung. Dieses Ergebnis ist nicht zuletzt Resultat
der engagierten, zuverlässigen und häufig risikobehafteten Arbeit der Beamtinnen und Beamten aller Sicherheitsbehörden. Auch ihnen gebührt an dieser Stelle ein
herzliches Dankeschön für ihre engagierte Arbeit.
({2})
Auch unser Bundesgrenzschutz hat durch seine hervorragende Arbeit dazu beigetragen, dass die Kriminalitätsentwicklung weiter rückläufig ist. Hinzu kommen
die zahlreichen Sicherheitspartnerschaften zwischen
dem Bundesgrenzschutz auf der einen und den Landespolizeien auf der anderen Seite, die sich außerordentlich gut
bewährt haben. Damit erhöht sich zugleich die Präsenz
von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in der Öffentlichkeit. Ich sage: Bei der Herstellung von innerer Sicherheit ist für Eifersüchteleien und Kompetenzfragen kein
Platz. Das ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund und
Ländern.
({3})
Unser Bundeshaushalt betont die Bedeutung der inneren Sicherheit eindeutig. Wir wissen, dass die Haushaltssituation nicht einfach ist. Welche Verpflichtungen wir
übernehmen mussten - ich denke insbesondere an die
Zinslasten -, ist bekannt. Im laufenden Jahr werden aber
die Ausgaben für den Sicherheitsbereich - dazu gehören
insbesondere die Ausgaben für Aufgaben des Bundeskriminalamtes, des Bundesgrenzschutzes, des Bundesamtes
für Verfassungsschutz sowie des Bundesamtes für die
Sicherheit in der Informationstechnik - auf einem hohen
Niveau gehalten und gegenüber dem Vorjahr sogar um
100 Millionen DM erhöht. Ich glaube, das ist in Anbetracht der Haushaltssituation ein sehr bemerkenswerter
Beitrag.
({4})
Meine Damen und Herren, wir haben es heute auch mit
einem Antrag der Union zu tun. Auch wenn er erst eine relativ kurze Zeit vorliegt, konnte man doch feststellen, dass
Vizepräsidentin Petra Bläss
er sowohl im Bereich der Justiz- als auch beispielsweise
im Bereich der Innenpolitik nicht viel überraschend
Neues enthält.
({5})
Die Aufgabe, innere Sicherheit herzustellen, ist eine Aufgabe, deren Lösung nicht davon abhängt, wie viele Gesetzentwürfe vorgelegt werden,
({6})
sondern es ist auch ganz entscheidend, wie der Gesetzesvollzug gewährleistet wird.
({7})
Diese Bundesregierung hat eine eindeutige Strategie:
Kriminalität dort zu bekämpfen, wo sie entsteht. Wir können dafür viele Beispiele anführen: Diese Bundesregierung hat es geschafft, wesentliche so genannte OK-Abkommen mit Staaten Osteuropas, mit der Russischen
Föderation oder den baltischen Staaten, abzuschließen.
({8})
- Ja, lieber Herr Geis, auch wenn Sie das zum Teil vorbereitet haben, haben Sie es aber nicht zum Abschluss
({9})
und insbesondere nicht zum Laufen gebracht.
({10})
Wir sind sehr froh, dass uns das gelungen ist; denn wir
wissen, dass die organisierte Kriminalität internationale
Bezüge hat. Deswegen darf die Bekämpfung organisierter
Kriminalität an nationalen Grenzen nicht Halt machen.
({11})
Aus diesen Gründen ist diese Strategie ganz wichtig. Ich
bin dankbar, dass es uns gelungen ist, hier tätig zu werden
und, wie ich glaube, auch gute Regelungen zu finden.
Ich bin auch sehr dankbar, dass die Union in ihrem Antrag erkannt hat, dass es bei einer wirksamen Kriminalitätsbekämpfung nicht ausschließlich auf Repression ankommt, sondern dass auch die Prävention ein wichtiger
Bestandteil ist.
({12})
Deswegen bin ich froh, dass es uns gelungen ist, das Deutsche Forum für Kriminalitätsprävention nicht nur zu
gründen, sondern auch in Gang zu setzen. Denn ich bin
der Auffassung: Prävention ist ein ganz wichtiger Schlüssel bei der Bekämpfung von Kriminalität.
({13})
Dankbar bin ich dafür, dass das offensichtlich erkannt
worden ist.
({14})
Ich empfehle Ihnen auch den Periodischen Sicherheitsbericht, den wir in den nächsten Tagen vorlegen werden, der sich auch sehr differenziert mit Jugendgewalt und
Jugendkriminalität auseinander setzt und unter anderem
untersucht, wie ein bestimmtes Sanktionssystem auf
junge Leute wirkt. Ich sage einmal ein bisschen überspitzt: Ihre Forderung Jugend in den Knast halte ich einfach für zu kurz gesprungen.
({15})
- Lieber Herr Geis, das wollte ich Ihnen auch nicht in dieser Verkürzung unterstellt haben; aber Sie wissen, worauf
ich hinaus will. Ich denke, da sind wir auf einem guten
Wege.
Ich sage ganz unumwunden: Wir werden Ihren Antrag
sehr sorgfältig prüfen und schauen, wo Kreativität und
gute Anregungen vorhanden sind.
({16})
So werden wir diesen Antrag behandeln.
Es geht aber nicht - und das soll meine letzte Bemerkung sein -, etwa zu versuchen, Länder auseinander zu
treiben. Denn was das Herstellen von innerer Sicherheit
anbelangt, so sind die Länder ganz entscheidend gefordert. Da kann man sie nicht an den Pranger stellen, sondern das geht nur mit ihnen.
({17})
Die Erfolgsquote hängt nicht unbedingt davon ab, welche Farbe die jeweilige Landesregierung hat. Dafür ist
dieses Thema viel zu vielschichtig und zu schwierig.
({18})
Ich denke, wir sind auf einem guten Weg.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({19})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Vor kurzem wurde die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2000 vorgestellt.
Sie gibt Auskunft über das Kriminalitätsgeschehen - genauer gesagt: über das der Polizei bekannt gewordene
Kriminalitätsgeschehen - und soll Erkenntnisse über vorbeugende und verfolgende Verbrechensbekämpfung lieParl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
fern, um daraus die notwendigen kriminalpolitischen
Maßnahmen zu entwickeln.
Es reicht nicht aus, der Öffentlichkeit nur diese Statistik zu präsentieren. Viel wichtiger ist es, so schnell wie
möglich diejenigen gesetzlichen Konsequenzen zu ziehen, die dringend geboten und zum Teil längst überfällig
sind, um Kriminalität wirksamer bekämpfen zu können.
({0})
Erfreulich ist, dass wir seit 1995 einen leichten, aber
doch kontinuierlichen Rückgang von registrierten Straftaten von ehemals 6,8 Millionen auf heute 6,2 Millionen zu
verzeichnen haben und dass gleichzeitig seit 1993 die
Aufklärungsquote ansteigt und jetzt bei über 50 Prozent
liegt.
CDU und CSU danken all jenen, insbesondere den vor
Ort tätigen, Polizistinnen und Polizisten, die durch ihren
oft lebensgefährlichen persönlichen Einsatz Straftaten
verhindern, verfolgen und aufklären.
({1})
Wer Polizeibeamte beschimpft, beleidigt, bedroht oder
gar tätlich attackiert, greift nicht nur - schlimm genug den einzelnen Polizisten an, sondern auch unseren freiheitlichen Rechtsstaat insgesamt.
({2})
Herr Kollege Körper, in der Tat ist das Kriminalitätsgeschehen bundesweit nicht gleichmäßig verteilt. Aber
das kann nicht zur Folge haben, dass man nicht über die
Unterschiede sprechen darf. Dass die Kriminalitätsbelastung in den Ballungszentren größer ist als in ländlichen
Gebieten, ist keine Überraschung. Aber es gibt auch in
den Flächenländern erhebliche Unterschiede.
Die Stagnation der Kriminalität auf einem zu hohen
Niveau ist kein unabänderliches Naturgesetz; sie ist oft
eine Folge verfehlter Kriminalitäts- und Sicherheitspolitik. Mit Abstand am sichersten lebt man in Baden-Württemberg, in Bayern und im Saarland,
({3})
allesamt unionsgeführte Bundesländer.
({4})
Am problematischsten ist die Lage in Hamburg. Wer dort
seit Jahrzehnten die politische Verantwortung trägt, ist bekannt.
({5})
Besorgnis erregend sind die große Zahl der straffälligen Kinder und Jugendlichen sowie der Umstand, dass
bei der Gruppe der Heranwachsenden, also der zwischen
18- und 21-Jährigen, erneut ein Anstieg zu verzeichnen
ist.
Eine besondere Problemgruppe bilden die jugendlichen Intensivtäter, sodass es dringend geboten ist, das jugendstrafrechtliche Instrumentarium auszubauen, damit
die Richter die Möglichkeit haben, im Rahmen eines
Strafverfahrens sachgerecht, gezielt, aber auch zügig zu
reagieren.
({6})
Bedenklich ist aber auch, dass die Bereitschaft, Gewalt
anzuwenden, stetig steigt. Typisch für diese Entwicklung
ist der erneute Anstieg von gefährlicher und schwerer
Körperverletzung. Wir geben uns mit der Meldung, die
Zahl der registrierten Straftaten sei leicht gesunken, nicht
zufrieden, zumal die Kriminalitätsbelastung heute doppelt so hoch ist wie Anfang der 70er-Jahre. 6 Millionen
Straftaten sind exakt 6 Millionen Straftaten zu viel. Deswegen bringen wir heute neben einem Gesetz zur besseren Bekämpfung der Kinder- und Jugendkriminalität einen Antrag ein, der ein ganzes Bündel von Maßnahmen
vorsieht, um Straftaten besser als bislang verhindern oder
verfolgen zu können.
Von überragender Bedeutung ist in der Tat - da gebe
ich dem Kollegen Körper Recht - eine wirksame Kriminalprävention. So kann beispielsweise eine gezielte Videoüberwachung von Kriminalitätsschwerpunkten Straftaten bewiesenermaßen wirkungsvoll verhindern und
auch das Sicherheitsgefühl der Menschen stärken.
Bevor sich nunmehr die Empörung organisiert, darf ich
ausdrücklich auf Folgendes hinweisen: Nein, wir wollen
keine flächendeckende Videoüberwachung zwischen
Flensburg und Mittenwald, wir wollen auch nicht ganze
Städte und Gemeinden mit Video überwachen. Es geht
ausschließlich und ausdrücklich um die Überwachung
von Kriminalitätsbrennpunkten. Die Städte und Gemeinden und die dort tätigen Polizisten wissen ganz genau, wo
der Einsatz dieser Technik notwendig und sinnvoll ist und
wo nicht. Die Überwachung muss auf sicherer Rechtsgrundlage und offen erfolgen, nicht etwa verdeckt und geheim. Wenn die so gewonnenen Informationen, Daten und
Bilder für Strafverfolgungsmaßnahmen nicht mehr
benötigt werden, dann müssen sie gelöscht werden.
Die Ergebnisse von Pilotprojekten, beispielsweise in
Sachsen, sind überzeugend. So hat es auf dem Bahnhofsvorplatz in Leipzig im Jahre 1997 noch 566 Diebstähle
von oder aus Kraftfahrzeugen gegeben - 566 auf einem
einzigen Platz. Nach Einsatz der Videoüberwachung ist
diese Zahl im ersten Halbjahr 2000 auf 98 zurückgegangen. In den Monaten Juli und August wurden nur ganze
acht Delikte gezählt.
Auch die Ergebnisse anderer Pilotprojekte sind überzeugend. Dort konnte ebenfalls ein deutlicher Rückgang
an Straftaten registriert werden, ohne dass ein Verdrängungseffekt erzielt wurde.
Eine besondere Herausforderung ist der Kampf gegen
die organisierte Kriminalität. Wir brauchen wieder eine
effektive Kronzeugenregelung. Es war ein kapitaler Fehler dieser Regierung, die alte - zeitlich befristete - Regelung auslaufen zu lassen, ohne sie durch eine Nachfolgeregelung zu ersetzen.
({7})
Wenn Sie uns nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens den erfahrenen Ermittlern und Richtern. Nach einer
Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen - der Leiter ist vor kurzem Justizminister in
Niedersachsen geworden ({8})
haben sich über 90 Prozent der befragten Polizeibeamten,
Staatsanwälte und Strafrichter für eine neue Kronzeugenregelung ausgesprochen. Tatverdächtige höherer Hierarchiestufen in kriminellen Netzwerken seien ohne die Gewährung von Vergünstigungen für selbst in kriminelle
Machenschaften verstrickte Zeugen angesichts des damit
für sie verbundenen Risikos kaum zu überführen, so die
Experten.
Die Erfahrungen mit den existierenden bereichsspezifischen Regelungen, insbesondere mit § 31 Betäubungsmittelgesetz - niemand denkt daran, die in diesem Bereich
bestehende Kronzeugenregelung abzuschaffen -, zeigen,
dass diese Regelungen ein effektives Mittel zur Verbrechensbekämpfung sein können.
({9})
Wenn wir in den Kernbereich der organisierten Kriminalität vordringen wollen, brauchen wir wieder eine effektive Kronzeugenregelung,
({10})
und zwar nicht nur, um Straftaten aufzuklären und Straftäter zu überführen, sondern auch um neue, schwere und
schwerste Straftaten zu verhindern. Wer sich dieser Einsicht verschließt, handelt unverantwortlich.
Wir brauchen eine bessere Abschöpfung von Verbrechensgewinnen und wollen das so gewonnene Geld unmittelbar zur Entschädigung von Opfern und für eine bessere Bekämpfung der Kriminalität einsetzen.
Wir wollen eine konsequentere Anwendung der DNAAnalyse.
({11})
Die Auswertung des genetischen Fingerabdrucks ist eine
äußerst wirksame Methode bei der Aufklärung von
Straftaten und der Überführung von Straftätern. Sie hat
sich hervorragend bewährt. Dabei geht es nicht, wie gelegentlich kolportiert, um die Erlangung von irgendwelchen Erbinformationen mutmaßlicher Täter, sondern
ausdrücklich und ausschließlich um die Feststellung der
Identität.
({12})
War der Verdächtige am Tatort oder nicht? Stammen
die Spuren am Opfer von dem Verdächtigen oder von einer anderen Person? Wieso sollen wir diese Methode nur
bei Straftaten von erheblicher Bedeutung einsetzen?
75 Prozent aller Vergewaltiger waren vorbestraft, aber
nicht alle wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung. 25 Prozent aller Vergewaltiger haben ihre kriminelle Karriere als Spanner oder Exhibitionist begonnen.
Was spricht eigentlich dagegen, von Spannern oder Exhibitionisten die Abgabe eines genetischen Fingerabdrucks zu verlangen - ein Haar genügt -, zumal dieser
Eingriff in die körperliche Integrität wesentlich geringer
ist als die Abgabe einer Blutprobe nach einer Trunkenheitsfahrt?
({13})
Herr Kollege Bosbach,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, heute aus
zeitlichen Gründen nicht. Sonst immer.
({0})
Aber diese Zeit wird
Ihnen doch nicht auf Ihre Redezeit angerechnet. Die Uhr
wird angehalten.
Ich muss gleich
zur Bundespressekonferenz.
Alles klar.
Gerade wenn wir
Sexualstraftaten wirkungsvoller bekämpfen wollen - und
das ist dringend nötig -, müssen wir die Möglichkeiten
der DNA-Analyse besser nutzen.
({0})
Kritiker mögen bedenken, dass die DNA-Analyse auch
dazu dienen kann, Verdächtige zu entlasten. Vor kurzem
wurde in den USA ein Mann nach 17 Jahren Strafhaft entlassen, weil dessen Unschuld erst durch eine DNA-Analyse herausgefunden werden konnte.
Wir brauchen einen besseren Schutz der Bevölkerung
vor nicht resozialisierbaren Schwerkriminellen. Nach geltendem Recht kann Sicherungsverwahrung nur zum
Zeitpunkt der Aburteilung angeordnet werden, nicht jedoch danach und auch dann nicht, wenn sich erst in der
Haft herausstellt, dass nach der Entlassung die Gefahr
weiterer schwerer Straftaten besteht. Wenn sich Schwerkriminelle entgegen der Erwartung des Gerichtes als nicht
resozialisierbar und hochgefährlich erweisen, dann dürfen sie nicht in die Freiheit entlassen werden. Für diese
Fälle muss die Möglichkeit geschaffen werden, dass ein
Gericht auch nachträglich Sicherungsverwahrung anordnen kann.
Auch dieser Vorschlag wird natürlich Kritiker finden.
Sie werden sagen, dass eine solche Maßnahme echt
hart sei. Richtig, eine solche Maßnahme ist sogar
äußerst hart und das soll sie ja auch sein. Im Mittelpunkt
unserer Politik steht nämlich nicht das Wohlergehen des
Täters, sondern der Schutz der Bevölkerung vor Kriminellen.
({1})
Die heutige Debatte sollte noch einmal Anlass geben,
grundsätzlich darüber zu sprechen, wie wir Recht und
Gesetz besser Geltung verschaffen können. Was wäre eigentlich in unserem Lande los gewesen, wenn am
vergangenen Montag mitten in Berlin nicht Linksradikale die Redner der Union, sondern wenn Rechtsradikale
die Redner von SPD und PDS angegriffen hätten? Ein
massiver Polizeieinsatz hätte sofort jeden Angriff unterbunden und die Veranstaltung geschützt. Ein Aufschrei
der Empörung wäre durch unser Land gegangen. Das
Fernsehen hätte Sondersendungen geschaltet und der
Aufstand der Anständigen, Teil zwei, wäre sofort organisiert worden.
({2})
Aber so wurden ja nur die führenden Repräsentanten
von CDU und CSU angegriffen. Was macht das schon?
({3})
Wer Radikale von rechts oder von links wüten lässt
oder ihnen mit klammheimlicher Freude zusieht, ist als
Sachwalter für Recht und Ordnung ungeeignet.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Alfred Hartenbach
das Wort.
Verehrter Herr Kollege
Bosbach, ich habe gar nicht gewusst, dass Sie am Rednerpult so ängstlich sind, eine ganz harmlose Zwischenfrage von mir zu beantworten. - Wo ist er eigentlich
jetzt?
({0})
- Das macht er merkwürdigerweise immer so, wenn ich
ihn etwas fragen will.
Könnten Sie ihn vielleicht bitten, hier zu bleiben, Frau
Präsidentin?
Herr Kollege
Hartenbach, der Kollege Bosbach hat mir Bescheid gegeben, dass er zur Bundespressekonferenz gehen muss. Das
muss man zur Kenntnis nehmen.
({0})
Wenn ihm das wichtiger
ist, als in vernünftiger Form mit Kollegen zu diskutieren,
dann offenbart das seine Schwäche.
({0})
Lassen Sie mich, verehrte Frau Präsidentin, zu dem
Thema DNA-Analyse, das er angesprochen hat, an dieser Stelle trotzdem etwas sagen; denn seine Äußerungen,
die nicht unwidersprochen bleiben dürften, können
leicht in Vergessenheit geraten, bis ein Redner darauf
eingeht.
Wir sind natürlich alle der Überzeugung, dass die
DNA-Analyse sehr geeignet ist, Straftaten aufzuklären.
Deswegen unterstützen wir entsprechende Maßnahmen.
Aber wir meinen, dass die Verhältnismäßigkeit immer gewahrt bleiben muss, wenn man Menschen eine DNAProbe entnimmt. Wenn Herr Bosbach die Spanner anspricht, dann zeigt dies, welches Wissen er über die
Schwere von Straftaten hat. Wenn er schon Spanner anspricht, dann muss er auch die betrunkenen Autofahrer ansprechen, die sehr viel gewaltbereiter sind. Er muss
ebenso die Raser erwähnen. Da könnte er möglicherweise
selbst in Gefahr geraten, dass man ihm eine DNA-Probe
entnimmt.
Ich bitte doch sehr darum, dass wir bei diesem Punkt
auf dem rechtsstaatlichen Boden bleiben und sagen: Eine
DNA-Probe darf nur denen entnommen werden, bei denen eine Straftat von erheblichem Gewicht vorliegt.
Danke schön.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich jetzt das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über verfassungskonkretisierende allgemeine
Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, für den Finanzausgleich unter den Ländern sowie
für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen,
also über das Maßstäbegesetz, in der Ausschussfassung
bekannt. Es handelt sich um die Drucksachen 14/5951
sowie 14/6533. Abgegebene Stimmen 568. Mit Ja haben
533 Abgeordnete gestimmt, mit Nein haben 33 Abgeordnete gestimmt, enthalten haben sich 2 Kolleginnen und
Kollegen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 568;
davon
ja: 532
nein: 34
enthalten: 2
Ja
SPD
Brigitte Adler
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({2})
Kurt Bodewig
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Lothar Fischer ({6})
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Lilo Friedrich ({7})
Harald Friese
Arne Fuhrmann
Konrad Gilges
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({8})
Angelika Graf ({9})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({10})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({11})
Jelena Hoffmann ({12})
Walter Hoffmann
({13})
Iris Hoffmann ({14})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Johannes Kahrs
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Brigitte Lange
Christian Lange ({15})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({16})
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dieter Maaß ({17})
Winfried Mante
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Dr. Jürgen Meyer ({18})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({19})
Jutta Müller ({20})
Christian Müller ({21})
Franz Müntefering
Gerhard Neumann ({22})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
Michael Roth ({23})
Birgit Roth ({24})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Otto Schily
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({25})
Silvia Schmidt ({26})
Dagmar Schmidt ({27})
Wilhelm Schmidt ({28})
Dr. Frank Schmidt
({29})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({30})
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({31})
Brigitte Schulte ({32})
Volkmar Schultz ({33})
Ewald Schurer
Dietmar Schütz ({34})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Reinhold Strobl ({35})
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({36})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({37})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({38})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Norbert Wieczorek
Vizepräsidentin Petra Bläss
Jürgen Wieczorek ({39})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Heino Wiese ({40})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({41})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({42})
Waltraud Wolff
({43})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Dr. Joseph-Theodor Blank
Dr. Norbert Blüm
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
({44})
Klaus Brähmig
Paul Breuer
Klaus Bühler ({45})
Hartmut Büttner
({46})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({47})
Peter H. Carstensen
({48})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Ilse Falk
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({49})
Axel E. Fischer
({50})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({51})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Dr. Heiner Geißler
Georg Girisch
Dr. Wolfgang Götzer
Hermann Gröhe
Horst Günther ({52})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({53})
Gerda Hasselfeldt
Hansgeorg Hauser
({54})
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Klaus Hofbauer
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({55})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({56})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({57})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({58})
Erwin Marschewski
({59})
Dr. Martin Mayer
({60})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller ({61})
Bernd Neumann ({62})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({63})
Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({64})
Dr. Klaus Rose
Adolf Roth ({65})
Dr. Norbert Röttgen
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Dr. Gerhard Scheu
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({66})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({67})
Michael von Schmude
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Wolfgang Schulhoff
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm Josef Sebastian
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({68})
Michael Stübgen
Dr. Rita Süssmuth
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß ({69})
Gerald Weiß ({70})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({71})
Hans-Otto Wilhelm ({72})
Bernd Wilz
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({73})
Marieluise Beck ({74})
Volker Beck ({75})
Angelika Beer
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({76})
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Winfried Hermann
Kristin Heyne
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Kerstin Müller ({77})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({78})
Werner Schulz ({79})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({80})
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Vizepräsidentin Petra Bläss
Maritta Böttcher
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Ursula Lötzer
Heidemarie Lüth
Pia Maier
Angela Marquardt
Manfred Müller ({81})
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Christina Schenk
Dr. Winfried Wolf
Nein
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Oswald Metzger
Christine Scheel
F.D.P.
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
({82})
Ernst Burgbacher
Ulrike Flach
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({83})
Detlef Parr
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Marita Sehn
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Enthalten
CDU/CSU
Dietrich Austermann
Susanne Jaffke
Vizepräsidentin Petra Bläss
Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Jetzt erteile ich das Wort dem Justizsenator der Stadt
Berlin, Wolfgang Wieland.
Wolfgang Wieland, Senator ({84}) ({85}): Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat die Leitlinien ihres
Bundesvorstandes, unter der Federführung meines Kollegen Schönbohm erarbeitet, nun als Antrag heute hier vorgelegt. Wir freuen uns zunächst, dass einige grobe Unrichtigkeiten weggefallen sind. Dazu zählen zum Beispiel
die Forderung, dass Kinder, die ja nicht strafmündig sind,
vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden, oder die
Selbstverständlichkeit, dass der Schutz der öffentlichen
Ordnung in die Polizeigesetze der Länder aufgenommen
werden soll, wo er seit jeher in der Generalklausel steht.
Es bleibt aber auch mit diesem Antrag bestehen, was
der Vorsitzende der GdP so formuliert hat: Dies ist ein
Strauß aus Unmöglichem und Selbstverständlichem. Vor
allem: Man spürt die Wahlkampfabsicht und man ist verstimmt.
({86})
Ich sage gerne etwas zu den Eierwürfen, die hier angesprochen worden sind. Alle Parteien in Berlin haben diese
Eierwürfe scharf verurteilt. Aber es ist auch richtig, dass
die CDU einen Straßenwahlkampf mit einem Stand angemeldet hatte, sodass das Ausmaß der Kundgebung der Polizei vorher nicht bekannt war. Es gibt eine Pflicht des
Veranstalters zur Kooperation. Das hätte die CDU vorher
klarstellen müssen.
({87})
Herr Justizsenator, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Günter
Nooke?
Des Kollegen
Nooke immer sehr gern.
Sehr geehrter Herr Senator Wieland, ist Ihnen, wenn Kooperation von Ihnen angemahnt wird, bewusst, dass selbst fünf oder zehn Polizisten, die sich ungefähr 100 bis 150 Meter vom Geschehen
entfernt aufhalten, nach den ersten Eierwürfen zumindest
ein paar Schritte näher kommen sollten und dass ich,
wenn ich jemanden, den wir dingfest gemacht haben, weil
er eine Flasche geworfen hat, die durchaus zu gefährlichen Verletzungen hätte führen können, den Polizisten
entgegenführe, erwarten kann, dass die Polizisten die Anweisung erhalten, mir ein Stück entgegenzukommen?
({0})
Herr Kollege
Nooke, die Berliner Polizei soll nicht auf Anweisungen
warten, sondern sie soll von sich aus aktiv und einsatzfreudig sein. Da sind wir uns ja wohl einig.
({0})
Aber es war bisher so, dass im Wahlkampf der Kontakt
zu den Bürgern gesucht wurde. Wenn jetzt gefordert wird,
da umzuschalten, dann bitte ich zu überlegen, ob wir das
alle so wollen.
({1})
Ich möchte in meiner Rede fortfahren.
({2})
- Geschätzter Herr Kollege, es ist klargestellt, dass Wahlveranstaltungen in Zukunft stärker geschützt werden. Aus
diesen Eierwürfen ist gelernt worden. Aber das hat auch
eine sehr unerfreuliche Seite; das will ich hier deutlich sagen.
Was uns in diesem Antrag der CDU/CSU-Fraktion
empfohlen wird, ist in der Tat der alte konservative Dreiklang, nämlich mehr Polizei, schärfere Gesetze, härtere
Strafen, als ob dies irgendwo auf der Welt zu einer Eindämmung der Kriminalität geführt hätte.
({3})
Sie selber sagen in Ihrem Antrag, dass die Statistik zu
Dramatisierungen keinerlei Anlass biete. Der Berliner
Leiter des Landeskriminalamts hat erst vor wenigen Tagen gesagt, dass es einen erheblichen Rückgang der Kriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden, denen
Sie Ihre besondere Aufmerksamkeit widmen, gibt.
({4})
- Ja, ich sage etwas zum Innensenator. Wir hatten den
Höchststand bei der Jugenddelinquenz im Jahre 1997;
seitdem sind die Zahlen stark rückläufig. Zu dieser Zeit
war der geschätzte Kollege Schönbohm Innensenator in
Berlin. Wir haben diese Parallele niemals gezogen. Wir
haben niemals gesagt, dass das die Schuld von Herrn
Schönbohm ist. Sie sind es, die sich hier hinstellen und die
Farbe von Landesregierungen mit der Höhe der Kriminalitätsbelastung gleichsetzen. Das ist billig und albern.
({5})
Vor allem sollten Politiker Ängste in der Bevölkerung
vor Kriminalität ernst nehmen. Das sagen wir auch. Aber
sie dürfen sie niemals instrumentalisieren, schon gar nicht
in Wahlkampfsituationen.
({6})
Angst ist ein schlechter Ratgeber. Angst lähmt. Davon
sollten Sie Abstand nehmen. Hören Sie auf, zu glauben, in
dieser Art und Weise im Wahlkampf punkten zu können!
({7})
Ich komme zu Ihren Vorschlägen im Einzelnen. Sie
wollen nicht nur die akustische Raumüberwachung, vulgo
den großen Lauschangriff ausdehnen. Sie sagen nicht,
wohin; ich nehme an, auf Redaktionen, auf Anwaltskanzleien, auf ärztliche Praxen.
({8})
Sie wollen auch gleich die Videoüberwachung des
Wohnraumes, wollen also mit einen großen Spähangriff
in das, wie das Bundesverfassungsgericht es genannt hat,
letzte Refugium des Privaten eindringen. Dazu kann man
nur sagen: Das haben wir alles schon gehabt. Orwell lässt
schön grüßen. - Das sind Ihre Vorschläge.
({9})
- Ihre Vorschläge sind unerträglich. Das sind Ihre Vorschläge,
({10})
die ich hier nur ausbreite. Das werden Sie sich anhören
müssen. Das ist die Übersetzung dessen, was Sie vorgeschlagen haben.
({11})
- Herr Kollege Geis, ich bin Justizsenator dieses Landes.
({12})
- Möglicherweise für Sie, für die Berlinerinnen und Berliner nicht.
({13})
- Stehen Sie doch zu Ihrem Vorschlag der Videoüberwachung des Wohnraumes und kneifen Sie nicht! Man wird
doch noch sagen dürfen, welche Konsequenzen das hat,
insbesondere bezogen auf die Jugendstrafe. Das wurde
hier in Abrede gestellt.
({14})
Sie wollen das Höchstmaß der Jugendstrafe auf
15 Jahre anheben. Damit wäre das Jugendstrafrecht mit
dem Erwachsenenstrafrecht gleichgesetzt. Dann gäbe es
keinen Unterschied mehr. Wo bleibt denn dann der Erziehungsgedanke?
Sie behaupten, es werde - ich zitiere aus Ihrem Antrag - selbst bei schweren und schwersten Straftaten vielfach schematisch und ohne nähere Prüfung auf Heranwachsende das Jugendstrafrecht angewandt. Sie
betreiben hiermit eine pauschale Richterschelte ohne jegliche Beweise. Da hat Ihnen offenbar ein gewisser Herr
Schill einen Textbaustein geliefert.
({15})
Die DNA-Analyse ist wichtig. Man sollte sie aber
zielgerichtet einsetzen. Sie jedoch wollen eine breite
Anwendung und die DNA-Analyse quasi genauso wie
den Fingerabdruck einsetzen. Sie wollen nicht zur
Kenntnis nehmen, welche Anforderungen das Bundesverfassungsgericht - zu Recht - an eine Gefährlichkeitsprognose gestellt hat. Sie denken, man könne einfach
sagen: Das ist völlig harmlos, ein bagatellhafter Eingriff. Das Bundesverfassungsgericht sieht dies anders.
Es hält die DNA-Analyse für einen schwerwiegenden
Eingriff und will eine präzise Einzelfallprognose. Das
werden Sie doch bitte schön zur Kenntnis genommen
haben.
Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Ihren Vorschlägen. Damit Sie sich jetzt richtig aufregen können, zitiere
ich dazu Ingo Müller, der gesagt hat: Das sind alles
Leckerbissen von der Speisekarte reaktionärer Feinschmecker.
({16})
Wer die innere Sicherheit tatsächlich verbessern will,
der muss den Bürger zum Partner machen und darf ihn
nicht als Sicherheitsrisiko betrachten. Kriminalpräventive
Räte, Sicherheitspartnerschaften - das ist der Weg, um
Kriminalitätsangst in produktive Mitarbeit, in sinnvolle
Aktivitäten umzuwandeln.
Auf jugendliche Normabweichung muss vor allem
eine schnelle Reaktion erfolgen, muss die erfolgreiche
Diversionsarbeit fortgesetzt werden, muss der TäterOpfer-Ausgleich zum Wirken kommen. Das gilt auch
für den Bereich Graffiti; das sage ich ausdrücklich. Die
Strafbarkeit solcher Taten ins Unermessliche zu erweitern, indem ich von dem Erscheinungsbild der Sache
ausgehe und jede Veränderung gegen den Willen der
Berechtigten unter Strafe stelle, nützt gar nichts. Gerade
in diesem Bereich ist eine Gesamtkonzeption notwendig.
({17})
Gerade hier muss man die Jugendlichen insgesamt ansprechen und ihnen Möglichkeiten geben, legale Graffiti
zu machen.
({18})
Das versäumen Sie. Sie setzen an diesem Punkt wieder
einmal ausschließlich auf Bestrafung, an dem sie erfahrungsgemäß überhaupt nichts bringt, wo sie zu kurz greift.
Als Berliner Justizsenator fällt mir natürlich auf, welch
geringen Stellenwert die Wirtschafts- und die Korruptionskriminalität in Ihren Leitlinien einnehmen. Das Rechtsbewusstsein der Bürger - besonders der in Berlin - ist gerade
an dieser Stelle in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber
das beachtet die CDU nicht oder sie fühlt sich hier möglicherweise zu sehr befangen.
({19})
Abschließend möchte ich sagen: Zu Ihren Vorschlägen
fällt mir nach wie vor nur der Satz von Benjamin Franklin
ein - er gilt uneingeschränkt -:
Der Mensch, der seine Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.
Sorgen wir dafür, dass es dazu nicht kommt!
({20})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaum eine Frage bewegt den Bürger
mehr als die innere Sicherheit. Wenn ich in meinem Wahlkreis, zum Beispiel in meiner Eigenschaft als Bürgervereinsvorsitzender, mit älteren Mitbürgern spreche, werde
ich sehr häufig auf dieses Thema angesprochen. Ältere
Menschen haben Angst vor Einbrüchen und Überfällen
auf offener Straße. Wenn man sie fragt, warum sie nicht
mehr zu den abendlichen Veranstaltungen - zum Beispiel
der Kirche oder der Gewerkschaften - kommen, dann sagen sie sehr häufig:
({0})
Ich wage mich abends nicht mehr auf die Straße.
({1})
In einem ländlichen Bezirk mag ja alles noch in Ordnung sein, aber Hamburg ist nicht umsonst als Hauptstadt
des Verbrechens bezeichnet worden. Ich bedaure sehr,
dass es der Bürgermeister von Hamburg, der bei den
schlichten fiskalischen Fragen noch anwesend war und
gesprochen hat, nicht nötig hat, bei der Frage der Kriminalitätsbekämpfung im Bundestag anwesend zu sein.
({2})
- Also, das hält sich bei Herrn Runde in Grenzen. Nicht
umsonst musste er seinen Innensenator Wrocklage entlassen. So toll war es offensichtlich nicht, wie er seine Hausaufgaben erledigt hatte.
({3})
Die Kriminalitätsentwicklung führt zu einer bedrohlichen Situation für die gesamte Gesellschaft. Gerade wir
Liberalen setzen uns dafür ein, dass in einem freiheitlichen Staat jeder von Furcht vor Verbrechen und KrimiWolfgang Wieland, Senator ({4})
nalität frei sein muss. Hier ist der Rechtsstaat und damit
die Demokratie besonders gefordert. Meines Erachtens
hilft uns auch der Ruf nach immer mehr und schärferen
Gesetzen nicht so sehr weiter; wir müssen vielmehr dafür
Sorge tragen, dass die Gesetze konsequent umgesetzt
werden.
({5})
Das Sprichwort: Wer schnell gibt, gibt doppelt gilt
analog auch für den Rechtsstaat.
({6})
Wer auf frischer Tat ertappt wird, muss schnell verurteilt
werden; das gilt für alle Tätergruppen. Wenn zum Beispiel
in meiner Heimatstadt Hamburg Untersuchungshäftlinge
nach sechs Monaten entlassen werden müssen, weil die
Anklageschrift von der Staatsanwaltschaft nicht rechtzeitig gefertigt werden konnte,
({7})
ist das in der Tat ein Skandal, der dem Rechtsstaat schadet und den Bürger an der Rechtsordnung zweifeln lässt.
({8})
Justiz und innere Sicherheit sind Kernaufgaben des
Staates. Polizei und Justiz müssten einen Haushalt vorfinden, der ihnen die Arbeit ermöglicht. Stattdessen werden Justiz und Polizei bei wachsenden Kriminalitätszahlen in Sparkonzepte eingeschnürt, die nicht sehr
fantasiereich sind.
({9})
Ein solches Vorgehen führt zu Zweifeln am Rechtsstaat
und unterminiert damit unsere Demokratie.
So sind zum Beispiel in meiner Heimatstadt Hamburg
bei der Staatsanwaltschaft in den letzten vier Jahren zehn
Dezernatsstellen und 30 Dienstposten, die nicht dem
höheren Dienst zugerechnet werden, abgebaut worden.
Dies führt zu einer Überlastung der Staatsanwaltschaften
und damit zu verspäteten Anklagen und stärkt somit nicht
die Leistungsfähigkeit der Staatsanwaltschaften.
Dasselbe gilt für den Bereich der Gerichte. Sie werden
gelesen haben, dass sich fast alle Richter in Hamburg an
die Justizsenatorin gewandt haben, um auf ihre besondere
Situation aufmerksam zu machen. Sie haben darauf hingewiesen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ordnungsgemäß Urteile zu fertigen, weil die Gerichte durch Stellenkürzungen unterbesetzt sind.
Ich räume ein, dass die Justizsenatorin in Hamburg inzwischen einige Stellen neu geschaffen hat. Das geschieht
aber nur im Hinblick auf den Wahlkampf.
({10})
Offensichtlich will man das Stellenkürzungsprogramm
fortsetzen, denn die mittelfristige Finanzplanung, in die
ich gelegentlich schaue, sieht das vor. An diese mittelfristige Finanzplanung ist natürlich auch die Justizsenatorin
gebunden.
Was also nötig ist, ist, so glaube ich, ziemlich klar:
Erstens. Die Präsenz der Polizei vor Ort muss gestärkt
werden. Die Gerichte müssen personell und organisatorisch besser ausgestattet werden, um so schneller Recht
sprechen zu können.
Zweitens. Das Augenschließen vor so genannter Kleinkriminalität und Sachbeschädigungen - wie Graffitischmierereien - muss ein Ende haben. Mit anderen Worten: Die Alltagskriminalität muss schnell und effektiv
bekämpft werden.
({11})
Drittens. Wir müssen zur Bekämpfung insbesondere
der organisierten Kriminalität die Abschöpfung von Verbrechungsgewinnen endlich so verschärfen, dass durch
den Entzug von Finanzmitteln diese Kriminalität im Mark
getroffen wird.
Lassen Sie mich, viertens, auf einen Punkt aufmerksam
machen, der in den Anträgen der CDU/CSU nicht enthalten ist, auf den aber der Herr Justizsenator bereits hingewiesen hat - wir sind ja froh, dass wir in Berlin wieder einen Justizsenator haben; wenn er auch nicht von Ihrer
Partei sein musste -: Ich meine die zunehmende Korruption, insbesondere in unseren Ballungszentren. Hier muss
die Verwaltung intern durch geeignetere Maßnahmen
präventiv tätig werden, zum Beispiel durch Jobrotation.
Zudem müssen die Ermittlungstätigkeiten, beispielsweise
durch ein Controlling, intensiviert und verbessert werden.
Denn die Korruption ist ein schleichendes Gift und untergräbt das Vertrauen des Bürgers in den Staat.
Ich hoffe, die heutige Debatte führt dazu, dass wir
- überparteilich - der Kriminalitätsbekämpfung eine etwas größere Bedeutung beimessen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der
CDU/CSU-Fraktion beginnt mit einer Bitte:
Der Bundestag wolle beschließen: ...
Freiheit und Sicherheit sind elementare Grundbedürfnisse der Menschen.
Ginge es nur um diesen Satz, die Stimmen der PDS-Fraktion wären Ihnen komplett sicher. Aber dann folgen
20 Seiten mit sehr konkreten Vorstellungen zur Verbrechungsbekämpfung, zu Strafmaßen und Polizeibefugnissen.
Ich habe mich gefragt, ob der Anspruch auf Freiheit
und Sicherheit damit besser befriedigt werden kann, und
muss Ihnen sagen: Nein. Denn nahezu alles, was Sie in
Namen der Sicherheit vorschlagen, läuft auf eine Einschränkung der Freiheit hinaus.
({0})
Aus aktuellem Anlass sage ich: Es ist so eine Sache mit
dem Verfassungsschutz; wir haben gestern darüber debattiert. Ich habe den Eindruck: Gegen Ihren Antrag zu
sprechen, gegen diesen Antrag zu stimmen, das ist aktiver
Verfassungsschutz.
({1})
Ich habe in der vergangenen Woche in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung vom 28. Juni eine
treffliche Beschreibung Ihres Antrages gefunden. Der
Kommentator meinte: Was in der Metzgerei der Presssack
sei, sei in der Politik das Diskussionspapier. - Er meinte
das von den Herren Schönbohm und Bosbach vorgestellte
CDU/CSU-Papier, das uns nun als Antrag vorliegt. - Im
Presssack lande all das, was beim Kehren des Schlachthauses so zusammenkomme, meinte der Kommentator,
ganz wie beim vorliegenden Antrag. Denn es handle sich
hier - ich zitiere - um die Wiederaufbereitung der rechtspolitischen Schlachtabfälle der vergangenen 20 Jahre.
All dies wurde schon vielfach gewogen und der Befund
lautete stets: Unbrauchbar, aber kreuzgefährlich.
({2})
Sie wollen mit diesem Antrag den ohnehin viel zu
großen Lauschangriff noch erweitern. Sie wollen das
Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten aufweichen.
({3})
Sie wollen die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit beschneiden. Ja, Sie wollen sogar die Beweislast
umdrehen, sodass künftig nicht mehr den Bürgerinnen
und Bürgern Schuld nachzuweisen ist, sondern diese gefälligst selbst die Belege für ihre Unschuld abliefern. Das
alles unter die Überschrift Freiheit und Sicherheit zu
stellen ist schon ein starkes Stück und obendrein - ich
wiederhole mich - grundgesetzwidrig.
Über die zahlreichen von Ihnen vorgeschlagenen Strafverschärfungen werden wir sicherlich noch ausführlich
debattieren können. In aller Regel folgen sie dem Grundsatz: Je mehr, schneller und länger weggesperrt wird,
desto besser. Sie werden ahnen, dass dies nicht unser Ansatz ist.
Ich gehe heute nur auf einen Ihrer Vorschläge noch etwas genauer ein, der landauf, landab medial debattiert
wird. Sie wollen Straftäter, insbesondere Jugendliche mit
einem - ich zitiere aus Ihrem Antrag - Fahrverbot als
Zuchtmittel abstrafen, und zwar auch dann, wenn es sich
nicht um ein Verkehrsdelikt handelt. Ich habe gelesen,
dass die Kontrolle dieser Sanktion einigen Aufwand erfordern könne. Aber ich habe auch gelesen, dass sich Herr
Bosbach
({4})
mit dem schönen Satz zitieren lässt:
Nichts ist uncooler, als wenn man am Wochenende
mit dem Linienbus zur Disco fahren muss.
Ich müsste jetzt eigentlich den anwesenden Justizsenator der Stadt Berlin fragen, ob er den Erlass des Kollegen
Werthebach schon aufgehoben hat, sodass Politikerinnen
und Politiker aller Parteien in dieser Stadt wieder englisch
reden dürfen. Dies zu verbieten war ja eine seiner letzten
Amtshandlungen.
Aber zurück zur Sache: Bei uns gibt es in ganzen Landstrichen gar keine Linienbusse mehr, die Jugendliche zur
Disco hin- oder von ihr wegbringen.
({5})
Außerdem fallen mir eine ganze Menge Dinge ein, die Jugendliche und nicht nur Jugendliche cool finden. Wenn
Sie sie auch noch verbieten wollen und dieses Verbot kontrollieren wollen, dann habe ich endlich den Sinn Ihrer
Vorschläge zur Ausweitung des Lauschangriffes verstanden, warum Sie also auch noch Wohn- und Schlafräume
optisch und akustisch überwachen wollen.
Ich habe das Gefühl, Ihnen ist überhaupt nicht aufgefallen, dass in der umfangreichen Liste krimineller Delikte, die Sie zurückdrängen wollen, eine Kategorie, die
uns nicht nur im Land Berlin besonders bewegt, einfach
fehlt:
({6})
die Wirtschaftskriminalität. Ich wage gar nicht daran zu
denken, was hier ein Fahrverbot als Zuchtmittel bewirken würde
({7})
und welche Auswirkungen das auf die Autoindustrie
hätte, einem Industriezweig, der unserem Kanzler ja besonders am Herzen liegt.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit wir uns hier
nicht missverstehen: Auch wir nehmen die Kriminalitätsentwicklung sehr ernst. Die Bürgerinnen und Bürger haben nicht nur ein elementares Bedürfnis, sondern auch
Anspruch darauf, dass sie ihr Leben in Freiheit und Sicherheit gestalten können. Nur ist der Antrag der
CDU/CSU, der hier heute verhandelt wird, dazu schlicht
ungeeignet. Ich hoffe sehr, dass die anderen Fraktionen
dieses Hauses mit mir zumindest darin übereinstimmen,
dass Freiheit nicht dadurch gemehrt werden kann, dass
Bürgerrechte eingeschränkt werden.
Wir jedenfalls wenden uns gegen die dem Antrag zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie, dass jeder und
jede grundsätzlich verdächtig sei, Straftaten zu begehen
und entsprechend zu behandeln sei. Liberale wie auch sozialistische Politik hat ein anderes Menschenbild und
muss anderen Prämissen folgen.
({9})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Günter Graf.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zumindest eines hat der
Debattenbeitrag der Union deutlich gemacht: Die Union
steckt in einem ganz tiefen Dilemma.
({0})
Sie hat massive Personalprobleme
({1})
und auch viele andere Probleme. Um diese zu kaschieren
und von ihnen abzulenken, sucht man sich ein Thema.
Wenn Landtagswahlen, wie jetzt in Hamburg und Berlin, anstehen, dann schaut man, welches Thema für den
Wahlkampf gut geeignet ist, und bringt immer wieder - es
ist über die Jahrzehnte hinweg stets dieselbe Leier - ein
Sammelsurium von Vorschlägen auf den Tisch, die sich
mit der inneren Sicherheit beschäftigen und im Grunde
genommen nichts anderes bewirken sollen, als von den eigenen Problemen abzulenken und der Öffentlichkeit in
Deutschland vorzugaukeln, man könne mit Repressionen
die Probleme in unserem Lande in den Griff bekommen.
In Wahrheit ist dies nicht so und das wissen die Kolleginnen und Kollegen von der Union ganz genau.
({2})
Nun ist es sicherlich nicht unehrenhaft, aus wahltaktischen und parteitaktischen Gründen bestimmte Dinge zu
tun oder auch nicht zu tun. Aber ich finde es in höchstem
Maße bedenklich, wenn man gerade Themenbereiche aufgreift, die geeignet sind, die Ängste der Menschen im
Lande zu schüren und Szenarien aufzubauen, die diese
Ängste noch verstärken. Dazu gehört sicherlich der Bereich der Kriminalitätsbekämpfung mit seinen vielen Facetten. Dies ist ein ganz bedenklicher Vorgang. Er dient
nicht dazu, das Empfinden, dass bei uns innere Sicherheit
herrscht, zu verstärken. Es führt im Gegenteil allenfalls
dazu, für ein verstärktes subjektives Empfinden von Unsicherheit in der Bevölkerung zu sorgen. Ich bin dem Kollegen Funke dankbar, dass er dies angesprochen hat.
({3})
Ich will es ganz deutlich sagen: Die Themen innere Sicherheit und Kriminalität sind keine Themen, die sich für
Parteienstreit eignen.
({4})
Es geht um die Menschen in unserem Land. Es geht darum, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land das
Gefühl haben, sich frei bewegen zu können, ohne Angst
vor Kriminalität zu haben.
Auch Sie von der Union wissen: Die Ergebnisse
der Umfragen von vor Jahren besagten, dass sich 75 bis
80 Prozent der Bevölkerung subjektiv unsicher fühlten.
Das heißt, dass dieser Anteil der Bürgerinnen und Bürger
das Gefühl hatte, Opfer einer Straftat werden zu können.
Betrachten Sie heute die Ergebnisse der Befragungen, so
sind diese Zahlen deutlich gesunken und das ist gut so.
Das ist das Ergebnis von Politik.
Auch in der vergangenen Wahlperiode sind von der damaligen Koalition die gesetzgeberisch notwendigen
Dinge auf den Weg gebracht worden, die diesen Trend sicherlich begünstigt haben, wobei ich allerdings auch deutlich sagen will, dass wir dies seitens der SPD-Bundestagsfraktion unterstützt haben. Das sollte so fortgeführt
werden; denn nur durch gemeinsames Handeln auf diesem Gebiet kommen wir ein Stück weiter und dienen den
Interessen der Menschen.
({5})
Hier ist auch die Öffentlichkeit vertreten. Daher will
ich ein Weiteres sagen, weil das oftmals gar nicht so recht
deutlich wird. Wer sind eigentlich diejenigen, die die innere Sicherheit in unserem Land zu gewährleisten haben?
Das sind die Hunderttausende Polizisten, die Tag für Tag,
Nacht für Nacht auf der Straße stehen und dafür sorgen,
dass die Menschen in unserem Land Sicherheit empfinden. Darauf haben Kollege Körper und wohl auch Kollege
Bosbach hingewiesen.
Es ist unbestritten, dass man immer mehr machen
kann. Es gibt allerdings viele Ursachen dafür, dass nicht
alles, was wünschenswert ist, auch machbar ist. Es ist aber
eine gute Sache, sich darum zu bemühen, dass noch mehr
getan wird.
Im Übrigen will ich darauf hinweisen: Soweit der Bund
die Zuständigkeit im Bereich der inneren Sicherheit hat
- sowohl hinsichtlich der Gesetzgebung als auch hinsichtlich des BKA als Serviceunternehmen für die Bundesländer oder des Bundesgrenzschutzes -, wird das geleistet, was leistbar ist, und zwar erst seit einiger Zeit. Ich
darf noch einmal das Stichwort Kooperation des BGS mit
den Länderpolizeien und gemeinsame Streifengänge aufgreifen. Das ist sicherlich ein geeignetes Mittel; hierbei
bringt sich der Bund in hervorragender Weise ein.
An unserem Bemühen, Schuldenabbau zu betreiben,
werden wir festhalten. Jedem hier muss klar sein - man
sollte auch nach außen nichts anderes verkünden -, dass
bereits bei den Kürzungen im Haushalt 2001 der Bereich
Polizei und innere Sicherheit ausgeklammert worden war.
Vielmehr wurden die Mittel für diesen Bereich schon im
letzten Haushalt aufgestockt. Auch in dem jetzt vorliegenden Haushaltsentwurf für das Jahr 2002 werden wir
100 Millionen DM zusätzlich bereitstellen. Trotz aller
Sparbemühungen dieser Regierung, die wir für richtig
und notwendig halten, klammern wir die Bereiche aus, bei
denen es um die Sicherheit der Menschen in unserem
Land geht. Auch diesen Kurs werden wir fortsetzen, damit einmal mit dem Vorurteil aufgeräumt wird: Die Sozis
und die Grünen machen alles kaputt.
({6})
Was hat denn Rot-Grün in den letzten Jahren alles bewirkt und auf den Weg gebracht? Was hat man im Vorfeld
der letzten Wahl nach außen alles verkündet, wo die Reise hingehen werde? Nun muss man feststellen - das ist
natürlich besonders für Sie von der Union enttäuschend -:
Wir haben alles im Griff, wir sind auf einem guten Wege.
Ich sage Ihnen: Wir werden diesen Weg fortsetzen.
({7})
Generell noch ein Wort zu etwas, was mir ein bisschen
Sorge bereitet, weil dies seit Jahrzehnten die Art und
Weise Ihrer Politik ist: Sie reden über innere Sicherheit
und meinen im Grunde genommen immer nur Repression, Strafverschärfung, neue Gesetze und dergleichen
mehr.
({8})
- Herr Kollege Geis, Sie wissen genau, was ich meine.
Wir haben uns auch schon einmal privat über diese Dinge
unterhalten.
Nun kann ich mich noch an unsere Zeit in der Opposition erinnern, weil sie so lange noch nicht zurückliegt.
Herr Geis, Sie selber haben damals eine Strafverschärfung im Bereich des einfachen und schweren Landfriedensbruchs gefordert, um ein Beispiel zu nennen. Seinerzeit habe ich eine Anfrage an Ihre Regierung gestellt.
Meine Frage war: In wie vielen Fällen wurde das Höchstmaß von zehn Jahren bei schwerem Landfriedensbruch
und von fünf Jahren bei einfachem Landfriedensbruch
- wenn ich das noch richtig im Kopf habe - verhängt? Die
Antwort war, dass es im Bereich des einfachen Landfriedensbruchs in einem Jahr in der Bundesrepublik Deutschland zu einer oder zwei Verurteilungen gekommen ist, bei
denen das Höchstmaß von fünf Jahren verhängt wurde,
und dass im Bereich des schweren Landfriedensbruchs im
selben Zeitraum in der Bundesrepublik Deutschland nicht
in einem einzigen Fall das Höchstmaß von zehn Jahren
verhängt wurde.
({9})
Die Frage ist dann sicherlich berechtigt: Was sollen
Strafverschärfungen bringen, wenn das geltende Recht
nicht zügig angewandt wird? Das ist ein Appell an all diejenigen, die damit umzugehen haben, insbesondere auch
an die Länder, die Instrumente, die wir haben - es ist
schon mehrfach angeklungen -, in entsprechender Weise
anzuwenden. Wenn uns dies gelingt - daran müssen wir
alle ein Interesse haben -, dann befinden wir uns auf einem guten Weg. Wenn wir dann feststellen, dass dies alles nicht reicht, kann man auch über andere Dinge nachdenken. Aber wir dürfen nicht den zweiten Schritt vor
dem ersten tun. Das ist mein Appell an Sie.
Ich denke, wir werden dies im Laufe der weiteren Beratungen in den Ausschüssen, in denen wir etwas sachlicher miteinander umgehen, vertiefen und vielleicht - das
ist meine stille Hoffnung - zu besseren Lösungen kommen, als sie von Ihnen vorgeschlagen worden sind; denn
die sind völlig untauglich.
Ich danke Ihnen.
({10})
Jetzt spricht der Innenminister des Landes Brandenburg, Jörg Schönbohm.
Jörg Schönbohm, Minister ({0}): Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Freiheit und Sicherheit sind elementare Grundbedürfnisse des Menschen - darin sind wir uns wohl einig. Es
geht also um die Frage, wie wir gleichzeitig Freiheit und
Sicherheit gewährleisten und den Anspruch des Staates
auf das Gewaltmonopol umsetzen können. Daraus resultiert die Verpflichtung, Freiheit und innere Sicherheit zu
gewährleisten.
Um es gleich von vornherein klarzumachen: Wir haben Sorge vor zu viel Straftätern und nicht vor zu viel Polizei.
({1})
Nur der starke, demokratisch kontrollierte Rechtsstaat
kann die Freiheitsrechte aller Bürger garantieren. Hier ist
er gefordert. Um diese Frage geht es. Was ich hier gehört
habe, legt den Verdacht nahe, dass einige die Papiere gar
nicht gelesen haben, sondern sich im Rahmen einer Rosinenpickerei einige Dinge herausgesucht haben.
({2})
- Ich komme gleich darauf, Herr Graf.
Innere Sicherheit ist unteilbar. Sie gilt für alle, egal ob
arm, ob reich, ob Stadt- oder Landbevölkerung, ob Deutsche oder Nichtdeutsche. Das heißt also: Sicherheit ist den
jeweiligen Herausforderungen anzupassen. Stillstand in
diesem Bereich ist Rückschritt.
({3})
Innere Sicherheit braucht einen klaren Standpunkt und ein
klares und festes Wertfundament.
Ich möchte nur anmerken: Die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern ist von Herrn Kanther
eingeleitet und von Herr Schily abgeschlossen worden.
Innere Sicherheit ist nicht das Ergebnis von Beliebigkeit,
Laisser-faire oder Prinzipienlosigkeit, wie manche angenommen haben.
Frau Pau, wenn Sie sagen, für uns sei jeder verdächtig,
dann muss ich feststellen: Das ist falsch. Aber wer eine
Straftat begangen hat, wird von uns verdächtigt; denn wir
wollen jede Straftat aufklären.
({4})
- Das können Sie nachlesen. Aber Sie müssen alles lesen.
Die Menschen sind der schönen Verheißungen der süffigen Werbebotschaften längst überdrüssig. Dabei sind
die Probleme in unserem Land auch auf dem Gebiet der
inneren Sicherheit längst offenbar. Die Aufklärungsquote hat sich allerdings verbessert. Die Bundesregierung, SPD und Grüne sagen: Es ist alles gut. Ein anderer
hat gesagt: Und das ist auch gut so!
({5})
Günter Graf ({6})
Ich habe nirgendwo gehört, dass jemand von Ihnen gesagt
hat: Wir wollen etwas verändern. Sie haben das nicht gesagt, weil nach Ihrer Ansicht alles gut ist.
({7})
Herr Wieland möchte die grünen Männchen oder - ganz
genau weiß ich es nicht - den grünen Menschen erschaffen. Daher fordere ich Sie auf: Sehen Sie die Wirklichkeit
doch bitte so, wie sie ist.
({8})
- Ich weiß, Sie wollen stören. Das können Sie ruhig tun.
Ich möchte Ihnen ganz kurz nur ein paar Punkte in
Erinnerung rufen. 15 834 Tatverdächtige waren unter
14 Jahren. Rund 295 000 Tatverdächtige waren zwischen
14 und 18 Jahren. Diese Jugendlichen stellen damit einen
Anteil von 12,9 Prozent aller Tatverdächtigen, obwohl ihr
Anteil an der Bevölkerung nur 4,4 Prozent beträgt. Das ist
doch wohl ein Problem. Oder wollen Sie behaupten, dass
dies kein Problem sei, und deshalb darüber hinweggehen?
Es muss weiter festgestellt werden, dass rund 247 000 Tatverdächtige zwischen 18 und 21 Jahre alt sind. Das ist ein
Anteil von 10,8 Prozent aller Tatverdächtigen, obwohl
diese Gruppe nur einen Anteil von 3,4 Prozent an der
Gesamtbevölkerung hat.
({9})
Wenn man sich diese Zahlen vor Augen führt, dann
muss man feststellen, dass diese Gruppe dreimal so viele
Tatverdächtige stellt wie jede andere Bevölkerungsgruppe. Damit müssen wir uns auseinander setzen. Diese
Zahlen müssen uns wachrütteln. Vor diesem Hintergrund
können Sie doch nicht sagen, es sei alles gut.
({10})
700 000 Kinder und Jugendliche werden straffällig, bevor
sie erwachsen werden. Es geht um die Frage, wie das vermieden werden kann.
(Gerald Häfner ({11})
- Darauf komme ich gleich zu sprechen.
Ich hätte es gerne gesehen, wenn jemand auf die Frage
der Erziehung eingegangen wäre. In dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion steht, dass die Vermittlung von Werten und Normen in den Schulen - das erwarten wir - wieder stärker hervorgehoben wird, dass das Sozialverhalten
der Jugendlichen und die Erziehung zu Gewaltfreiheit
stärker gefördert werden.
({12})
Wenn Sie dem zustimmen, dann fordere ich Sie auf, damit dort zu beginnen, wo Sie die politische Verantwortung
haben.
Wir haben außerdem etwas zum Thema Prävention
gesagt. Auch damit haben Sie sich nicht auseinander gesetzt. Es ist vollkommen klar: Erziehung allein reicht
nicht, gute Worte schon gar nicht. Wir brauchen leider
auch Korrekturen durch den Gesetzgeber. Hierfür werden
Vorschläge gemacht.
Wer den Jugendlichen rechtzeitig den Ernst der Lage
unmissverständlich deutlich macht, indem er bei der
Strafaussetzung zur Bewährung gleichzeitig Jugendarrest
anordnet, der erspart manchem Jugendlichen ein späteres
Wiedersehen vor Gericht. Darüber gibt es Untersuchungen. Die Jugendlichen müssen begreifen, wo der Spaß endet und wo der Ernst beginnt.
({13})
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf das
Drogenproblem hinweisen - wahrscheinlich werden Sie
noch fröhlicher werden -: Ich meine, das, was im Bereich
der Drogenkriminalität geschehen ist, ist besorgniserregend. Im letzten Jahr gab es 2 030 Drogentote. Das ist eine
Zahl, die uns nicht gleichgültig lassen kann.
({14})
Darum ist es entscheidend, glaube ich, dass Sie mit der
Diskussion über die Freigabe von Drogen Schluss machen. Die Einschränkung der Verfügbarkeit von Drogen
ist die beste Prävention. Die Duldung einer offenen
Drogenszene ist dem Bürger nicht zumutbar.
({15})
Davon gehen Unsicherheit und Gefährdung gerade auch
für unsere Jugend aus.
In diesen Zusammenhang gehört auch die entschiedene Bekämpfung der Alltagskriminalität, die von
manchen Ideologen als Bagatellkriminalität verniedlicht
wird. Ich sage ganz klar: Es gibt keine Bagatellstraftaten
oder Bagatelldelikte. Darüber müssen wir uns einig werden.
({16})
Das Rechtsbewusstsein unserer Bürger muss doch Schaden nehmen, wenn sie feststellen, dass Vandalismus und
Schmierereien keine Folgen haben.
({17})
Dafür können Sie, Herr Wieland, und jeder Bürger in Berlin doch sehr gute Beispiele sehen. Darüber müssen wir
gar nicht diskutieren. Wir verunsichern die Bürger nicht.
Die Bürger selber sind doch intelligent genug, die Wirklichkeit, in der sie leben, zu begreifen.
({18})
Jörg Schönbohm, Minister ({19})
Wenn die Bürger sagen, dass sie sich abends nicht mehr
auf die Straße trauten, dann können Sie doch nicht sagen,
dass sie blöd seien. Das ist nun einmal so. Wenn die Bürger fragen, warum ihre Stadt so verhunzt und verschmiert
sei, dann müssen Sie sich damit auseinander setzen. Erklären Sie doch einmal einem Bürger, warum Graffitischmierereien keine Sachbeschädigungen sind.
({20})
Ich kann es nicht erklären; denn ich bin kein Jurist. Hier
hätte schon längst etwas geändert werden müssen. Sie
wissen doch, dass der rot-grüne Senat in Berlin entsprechende gesetzliche Änderungen zurückgezogen hat.
({21})
- Ich finde es ja gut, dass hier wenigstens ein Intelligenter anwesend ist, Herr Abgeordneter. Es ist gut. Aber ich
wusste gar nicht, dass Sie so lebhaft werden können. Das
ist übrigens ein gutes Zeichen. Immer dann, wenn jemand
lebhaft wird, ist er getroffen.
({22})
Wenn Sie der Auffassung sind, dass hier in Berlin oder
auch in Hamburg hinsichtlich Graffiti alles in Ordnung
ist, dann sagen Sie es doch!
({23})
Vergehen ist Vergehen. Verbrechen ist Verbrechen. Darüber brauchen wir uns gar nicht auseinander zu setzen.
Innere Sicherheit hat auch viel mit dem Sicherheitsgefühl zu tun. Ständig geht es um das Thema Präsenz der
Polizei und um das Thema Videoüberwachung.
({24})
Gehen Sie einmal über einige Plätze in Berlin und gucken
Sie sich das an! Wenn Sie mir dann sagen, dass dort die
Videoüberwachung keinen Erfolg hat, dann können wir
darüber diskutieren.
({25})
Diskutieren Sie das doch einmal am ganz konkreten Beispiel!
({26})
- Ja, am Breitscheidplatz. Fragen Sie einmal Herrn
Wieland! Das ist doch Ihr Koalitionspartner. Die haben es
doch verhindert.
({27})
Herr Minister
Schönbohm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?
Jörg Schönbohm, Minister ({0}): Meine
Zeit ist fast um, aber gern.
Die Zeit läuft dann
nicht weiter; ich halte sie an.
({0})
Jörg Schönbohm, Minister ({1}): Sind Sie
hier Zeitnehmer oder Schiedsrichter?
Noch wache ich hier
oben über die Zeit, Herr Kollege Hartenbach.
({0})
Verehrter Herr Minister,
können Sie der geneigten Öffentlichkeit und dem interessierten Parlament vielleicht einmal erläutern, wer in Berlin im Bereich der inneren Sicherheit in den letzten Jahren - bis vor vier Wochen etwa - als Innensenator die
Verantwortung hatte? Ich wäre sehr interessiert, das von
Ihnen zu hören. Wir nehmen solche Belehrungen immer
sehr gern entgegen.
({0})
Jörg Schönbohm, Minister ({1}): Darüber
freue ich mich. - Habe ich noch Redezeit?
Wir haben die Spielregel - ich glaube, sie gilt auch im Landtag -, dass die Redezeit in diesem Fall angehalten wird.
Jörg Schönbohm, Minister ({0}): Ihre Kollegen aus Berlin, wenn welche hier anwesend sind, werden Ihnen sagen können, dass alle Ansätze der Union, in
diesem Bereich vorwärts zu kommen, an der SPD im
Land Berlin gescheitert sind.
({1})
- Ganz eindeutig! Alle Gesetzentwürfe sind daran gescheitert.
({2})
Der frühere Regierende Bürgermeister wollte die Große
Koalition an diesem Thema nicht auseinander brechen
lassen - nicht ahnend, dass Sie in Berlin gemeinsam mit
der PDS ins Bett gehen würden; das war da noch gar nicht
zu erkennen.
({3})
Jörg Schönbohm, Minister ({4})
Wir hatten die Verantwortung. Ich habe die Anträge gestellt. Sie sind abgeschmettert worden. Nun können Sie es
gemeinsam auch so weitermachen. - Vielen Dank für die
Frage.
({5})
Zum Thema der organisierten Kriminalität ist einiges
gesagt worden, auch, was vermisst wurde. Wirtschaftskriminalität - das ist, glaube ich, einigen von Ihnen klar ist ein Teil der organisierten Kriminalität. Einige Antworten, die ich gehört habe, waren - ich möchte es so sagen scheuklappenbewehrt. Es wäre gut, wenn wir einmal feststellten, wie die Herausforderungen sind und wie wir sie
gemeinsam angehen wollen. Da können wir, glaube ich,
einiges bewegen.
Polizei und Justiz haben diese Herausforderungen insgesamt angenommen. Jetzt geht es darum, wie wir das
gesetzliche Instrumentarium verbessern, damit diese Herausforderungen besser angenommen werden können.
Der Gesetzgeber - das ist unsere Position - ist in diesem
Bereich gefordert. Die Hydra der organisierten Kriminalität hat viele Köpfe - und sie spricht auch viele Sprachen.
({6})
Meine Damen und Herren, auch wenn ich nur einige
Aspekte des Gesamtkomplexes ansprechen kann, so
möchte ich auf einen Aspekt unbedingt eingehen, und
zwar auf den Opferschutz. Angesichts von mehr als
6 Millionen registrierten Straftaten, ihrer Verfolgung und
Ahndung meine ich, dass der Opferschutz mehr in den
Vordergrund unserer Überlegungen gerückt werden muss.
Wir haben uns zu lange zu wenig mit den Folgen für die
Opfer - bis hin zur Traumatisierung - befasst. Was soll ich
einer älteren Frau sagen, die auf dem Rückweg von der
Bank überfallen wurde, der die Tasche geraubt wurde und
die nun sagt, sie traue sich nicht mehr auf die Straße, weil
sie Angst habe? - Diesen Aufgaben müssen wir uns stellen; besonders die Unsicherheit der älteren Mitbürger
muss mit berücksichtigt werden.
Darum ist das Thema Täter-Opfer-Ausgleich in unserem Vorschlag enthalten. Vergessen wir nicht: Es sind
nicht nur die Opfer von Gewaltverbrechen; es sind zum
Teil auch die Opfer von Alterskriminalität, die dadurch
verunsichert sind.
Der Antrag der CDU/CSU bietet, wie man gesehen hat,
eine gute Grundlage für die Diskussion, aber auch, meine
ich, für Entscheidungen, um die Herausforderungen für
die innere Sicherheit anzunehmen. Lassen Sie Taten folgen! Es ist Zeit. Es muss sich etwas verbessern.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist
der Kollege Volker Beck für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man
Kriminalität bekämpfen will und wenn man den Bürgern
die Kriminalitätsängste nehmen will oder darauf jedenfalls angemessen reagieren will, ist es entscheidend,
zunächst einmal die Tatsachen richtig festzustellen. Insofern ist Ihre dramatisierende Tonlage unangemessen;
denn die Kriminalität ist im letzten Jahr zurückgegangen;
die Aufklärungsquote ist gestiegen. Also: Wir sind da
auf einem richtigen Weg, den wir aber natürlich energisch
fortsetzen müssen.
Selbstverständlich ist die Kriminalitätsbekämpfung
eine vordringliche Aufgabe der Politik. Rot-grüne Kriminalpolitik setzt nicht allein auf Repression, wie das in
Ihrem Antrag formuliert wird, sondern auf eine Trias von
Prävention, Repression und Resozialisierung der Täter.
Wir wollen die Ursachen der Kriminalität bekämpfen und
auf Kriminalität deutlich und angemessen reagieren.
Sie haben gefragt, was wir ändern wollen: Wir sind dabei, eine ganze Menge auf den Weg zu bringen. All das gefällt Ihnen nicht und Ihre Kollegen im Rechtsausschuss
stöhnen schon, weil sie bei diesem Reformtempo gar nicht
hinterherkommen. Die Koalition hat gesagt: Ein Schwerpunkt muss auf der Prävention liegen. Wir haben deshalb
das Forum für Kriminalprävention gegründet, um eine
wissenschaftlich fundierte Begleitung durchzuführen und
diesen Teil der Kriminalpolitik, der 16 Jahre lang brachlag, zu intensivieren.
Wir haben auch dafür gesorgt, dass Gewalt in der Familie nicht mehr als Erziehungsmittel legitimiert ist. Das
ist für die Prävention ganz entscheidend, weil - das wissen wir - Straftäter als Kinder und Jugendliche in ihrer Familie häufig Gewalt erlebt haben. Überproportional viele,
die als Kinder und Jugendliche derartige Erfahrungen gemacht haben, werden später Gewalttäter.
({0})
Mit dem so genannten Gewaltschutzgesetz, das wir auf
den Weg gebracht haben, haben wir dafür gesorgt, dass
Opfer von Gewalt in der Familie und in der näheren Umgebung künftig besser geschützt werden und dass der Polizei als Partner der Bürgerinnen und Bürger, die bedroht
werden, neue, konkrete Aufgaben zugewiesen werden.
Aufgrund dieses Gesetzes können sich die Bürgerinnen
und Bürger gegen Gewalttaten, gegen sexuelle Belästigung und gegen Bedrohungen wehren. Das wird die Alltagserfahrung der Menschen ganz entscheidend beeinflussen, weil sie sehen, dass ihre Umwelt sicherer wird
und dass sie die Polizei rufen können, wenn sie sich ernsthaft bedroht fühlen.
({1})
Wir sind dabei, durch eine Reform des Sanktionenrechts dafür zu sorgen, dass das Gericht auf die Täterpersönlichkeit und auf den sozialen Hintergrund besser
Jörg Schönbohm, Minister ({2})
eingehen kann. In Deutschland sind die Gefängnisse überbelegt. Die Qualität des Strafvollzugs, der auch Behandlungsvollzug sein soll, leidet darunter. Wir haben deshalb
mit der Sanktionenreform ein Programm vorgelegt, das
Abhilfe schafft, und wir werden eine entsprechende Vorlage im Bundestag verabschieden.
Meine Damen und Herren von der Union, das
JUMP-Programm, das der Bundesminister für Arbeit auf
den Weg gebracht hat, hat mehr zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendkriminalität beigetragen als jeder einzelne
Ihrer Vorschläge, die Sie hier machen.
({3})
Wir beraten heute eine eindimensionale Strategie der
Union, gegen Kriminalität vorzugehen: Repression, möglichst frühes Wegsperren, Strafrecht als Prima Ratio und
Eingriffe in die Bürgerrechte. Man erkennt die Handschrift von Herrn Schönbohm, der der CDU/CSU-Fraktion mangels eigenem Sachverstand offensichtlich die Feder geführt hat. Man spürt aber auch, dass Herr Kanther,
der sich als Law-and-Order-Politiker verdient gemacht
hat - seine eigene Biografie spricht allerdings ein bisschen gegen seine Glaubwürdigkeit -, und Herr Schill, der
offensichtlich ein geistiger Bruder der Union ist, die geistigen Väter dieser Strategie sind.
Sie haben in Ihren Papieren eine Art Window-Dressing versucht. Sie können mittlerweile das Wort
Prävention buchstabieren. Das ist zwar schön; aber ansonsten liest man dieselben alten Forderungen. Wir werden Ihren Gesetzentwurf zur Verbesserung der Bekämpfung der Jugendkriminalität ablehnen; denn wir sind der
Auffassung, dass das Jugendstrafrecht ein angemessenes
erzieherisches Einwirken auf problematische Jugendliche
ermöglicht. Daran wollen wir festhalten. Die Anhörung
im Rechtsausschuss hat uns darin bestätigt.
Die Grundthese Ihres Antrags - eine Besorgnis erregende Kriminalitätsentwicklung in diesem Bereich - lässt
sich zumindest nicht anhand der Zahlen dokumentieren;
sie ist schlichtweg falsch. Im Vergleich zu 1998 ist im
Jahre 1999 der Anteil der registrierten tatverdächtigen Jugendlichen erneut zurückgegangen. Aber Sie von der
Union können Fakten offensichtlich sowieso nicht beeindrucken.
Auch alles das, was Sie im Hinblick auf Drogenkriminalität und Drogenpolitik vorschlagen, ist Mumpitz. Es ist
problematisch, dass der Bundestag in einem Antrag aufgefordert werden soll, eine Diskussion zu beenden. In einer Demokratie ist es eigentlich unüblich, dass Parlamentarier sagen, bestimmte Diskussionen dürfe man nicht
führen.
({4})
Was die Drogenpolitik angeht, ist es an der Zeit, dass
wir zwischen Drogen, die zu Abhängigkeit führen, und
Drogen, für die das nicht gilt, differenzieren. Unsere Aufforderungen zur Prävention sind nicht glaubwürdig, wenn
wir weiche Drogen wie Cannabis mit Heroin, Crack und
anderen gefährlichen Drogen gleichstellen. Richtige Botschaften von jemandem, der so offensichtlich unglaubwürdige Botschaften aussendet, werden dann nicht
mehr gehört. Das ist ein entscheidendes Problem bei der
Drogenpolitik. Wir müssen weiter darüber diskutieren,
wie wir zu einem angemesseneren Umgang kommen können. Wir müssen die Diskussion über die Freigabe von
Cannabis mit dem Ziel führen, zu einem Ergebnis zu kommen. Da liegt aber noch ein weiter Weg vor uns, weil wir
in diesem Parlament noch nicht so weit sind, die entsprechenden Schritte gehen zu können.
Noch ein Punkt zum Schluss: Sie nehmen sich der
Computerkriminalität an. In der Tat werden die neuen
technischen Möglichkeiten eine der neuen Herausforderungen in der Sicherheitspolitik sein. Man muss da entsprechend kriminalpolitisch reagieren. Ihr Vorschlag,
dass die Polizei ohne richterliche Anordnung nur aufgrund eines Tatvorwurfs zu jedem gehen kann und die Daten und Netzstruktur herunterladen darf, ist wirklich haarsträubend. Das hat zu Recht den breiten Protest der
Datenschützer hergerufen. Das ist ja mittlerweile ohnehin
zum Regelfall geworden, wenn die Union in Wahlkampfzeiten ihr kriminalpolitisches Horrorkabinett ausbreitet.
Solche Vorschläge haben bei dieser Koalition, die auf
Prävention und angemessenes Reagieren auf Kriminalität
setzt, keine Chance.
({5})
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Jörg van Essen für die F.D.P.Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Debatte bisher verfolgt
hat, wird erlebt haben, dass es im Plenum insbesondere
bei den Zuhörern ganz erhebliche Emotionen gegeben hat
und der eine oder andere erfolgte Zuruf nicht unbedingt
sachlich war.
({0})
Von daher hat mich der sachliche Ton, den der Kollege
Graf angeschlagen hat, ganz außerordentlich gefreut. Ich
glaube nämlich, dass alle Menschen erwarten, dass wir
uns hier nicht wie die Kesselflicker streiten, sondern vernünftige Argumente darüber austauschen, wie man die innere Sicherheit in diesem Lande verbessern kann.
({1})
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir uns über diese Fragen nicht immer nur gestritten haben, sondern sie in den vergangenen Jahren entgegen dem, was von den Grünen behauptet wurde, in
Zusammenarbeit aller Fraktionen dieses Hauses angegangen sind und Dinge auf den Weg gebracht haben, durch
die die innere Sicherheit in diesem Land vorangebracht
wurde.
({2})
Volker Beck ({3})
Ich denke, dass wir dazu verpflichtet sind - die F.D.P.
steht zu dieser Verpflichtung -, bei diesem Wettstreit um
die besten Ideen zu einer Verbesserung der inneren Sicherheit beizutragen. Deshalb ganz herzlichen Dank für
Ihren Beitrag. Ich denke, von diesem Klima muss die Debatte bestimmt werden.
Sie werden deshalb jetzt von mir nicht hören, was ich
an den anderen Beiträgen schlecht finde. Das haben Sie
gerade bei Volker Beck erlebt, der alle anderen angegriffen,
({4})
aber nicht gesagt hat, warum beispielsweise die Grünen
zu Fragen der Betäubungsmittelkriminalität bisher keine
Vorschläge gemacht haben. Er hat gesagt: Wir werden sie
vorlegen. - Ich hätte gerne einmal gehört, was denn da
vorgelegt wird und wie die Überlegungen aussehen.
({5})
Der Schwerpunkt der F.D.P. liegt ganz eindeutig beim
Opferschutz. Zwei Redner, leider nur zwei, haben diesen
Aspekt angesprochen. Ich glaube aber, dass das der wichtigste Punkt ist. Alle Verbesserungen im Bereich der inneren Sicherheit müssen wir aus der Sicht des Opfers vornehmen.
({6})
Ich bin froh, dass sich bei der Sichtweise, die insbesondere in den 70er-Jahren ausschließlich täterbezogenen geprägt war, indem bei Diskussionen um die innere Sicherheit immer vom Vorleben des Täters gesprochen wurde dass das wichtig ist, wissen wir natürlich alle - und das
Opfer schlicht vergessen wurde, etwas geändert hat.
({7})
Ich denke, dass diese neue Sicht auch ein wichtiger Faktor bei jeder Debatte zur inneren Sicherheit sein muss. Wir
haben einige wichtige Dinge erreicht, beispielsweise die
Einführung eines Opferanwaltes, wir müssen aber auch
darüber diskutieren, ob wir das weiter ausbauen.
Das Thema Jugendkriminalität steht heute auch auf
der Tagesordnung. Ich will für die F.D.P. sagen, dass wir
dafür offen sind, die Tätigkeit des Opferanwaltes ebenso
wie die Ermöglichung einer Nebenklage auf den Bereich
des Jugendstrafrechts auszudehnen.
({8})
Denn ich finde, dass auch im Prozess gegen Jugendliche
die Aspekte des Opferschutzes, die Interessen des Opfers
beachtet werden müssen. Für uns ist ganz wichtig, dass
die zivilrechtlichen Ansprüche des Opfers, beispielsweise
der Schadensersatz, gleich im Strafprozess mit entschieden werden,
({9})
damit das Opfer dann auch seine Ansprüche schnell geltend machen kann, weil auch das etwas ist, bei dem der
Täter merkt, dass seine Tat Konsequenzen gehabt hat,
dass das Opfer leidet, dass es Schäden davongetragen hat
und dass der Täter dafür einstehen muss. Ich glaube, dass
das eine ganz wichtige Botschaft ist.
({10})
Wenn wir schon über Opferschutz reden, müssen wir
auch über einen Aspekt sprechen, der uns bislang nicht beschäftigt hat, nämlich die Nachwirkungen von Taten. Gerade in diesen Tagen erleben wir ja, dass wahrscheinlich
wieder zwei Mädchen ermordet worden sind. Wer erlebt,
welche Auswirkungen das auf die Familien hat, der weiß,
dass Familien danach sehr häufig Betreuung brauchen. Bisher haben wir keinerlei Regelungen im Opferentschädigungsgesetz, dass das auch finanziert wird. Deshalb schlägt
die F.D.P. vor, dass wir hier zu einer Verbesserung kommen, damit Familien, die unter den Folgen einer Tat leiden,
in Zukunft auch von staatlicher Seite unterstützt werden.
({11})
Das alles macht deutlich, dass das, was hier angesprochen worden ist - das eine ist gut, das andere ist
schlecht -, nicht richtig ist. Es ist im Interesse unserer
Menschen noch etwas zu tun. Wir sollten nicht dem einen
oder anderen Argument schon von vornherein absprechen, dass es gut ist. Wer gute Gegenargumente hat, soll
sie vortragen, aber in einem vernünftigen Ton. Ich glaube,
dass das die Bürger zu Recht von uns erwarten. Wir als
F.D.P. werden uns so in die Diskussion einbringen.
Vielen Dank.
({12})
Für das
Bundesjustizministerium gebe ich nunmehr Herrn Professor Dr. Eckhart Pick das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich bin Herrn van Essen ausgesprochen dankbar,
dass er das Thema Opferschutz heute erwähnt hat. Dieses Thema hat einen Stellenwert, der gelegentlich nicht
richtig eingeschätzt wird.
Ich bin dem Hause auch dankbar, dass es vor kurzem
eine Verbesserung des Opferschutzes insoweit beschlossen hat, dass der Opferschutzgedanke in allen Stadien eines Verfahrens berücksichtigt werden muss. Ich denke,
dass dies ein ganz wichtiger Schritt gewesen ist.
({0})
Meine Damen und Herren, wir beschäftigen uns heute
mit Anträgen der CDU/CSU-Fraktion und des Bundesrates. Ich will ausdrücklich sagen, dass jeder, der die Kriminalität wirksam bekämpfen will, die Bundesregierung
an seiner Seite hat. Trotzdem muss es erlaubt sein, zu den
einzelnen Vorschlägen Stellung zu nehmen. Es ist sicherlich kein Geheimnis, dass wir nicht allen Vorschlägen zustimmen können, die heute auf dem Tisch liegen.
Ich will kurz das Thema Delinquenz junger Menschen ansprechen und auf die Anhörung des Rechtsausschusses im Mai dieses Jahres verweisen. Dort ist bereits
sehr kritisch über diesen Entwurf debattiert worden. Die
Vorschläge sind zu einem großen Teil ungeeignet, manche
sogar schädlich und einige auch überflüssig. Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine Zusammenfassung von Anträgen, die Bayern im Bundesrat durchzubringen versucht
hat und die, wie wir alle wissen, bereits im Jahre 1999 dort
keine Mehrheit gefunden haben. Insofern kann man sagen: Es sind olle Kamellen, die in der Sache keine Lösungen darstellen.
Nun zum Bundesratsentwurf, zur Regelung der Zuständigkeit für die Anordnung der DNA-Untersuchung: Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die
Anordnung einer solchen Untersuchung, also einer Untersuchung von Spurenmaterial eines Menschen, einen
tiefen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht eines Menschen darstellt. Wir sind deshalb der Meinung, dass eine
solche Anordnung nur auf einer richterlichen Grundlage
ergehen kann. Deswegen werden wir die Anordnungskompetenz für die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten, die vom Bundesrat vorgeschlagen wird, nicht
unterstützen können.
Wir wissen, dass diese Auffassung bei einzelnen Gerichten offenbar zweifelhaft ist. Deswegen werden wir in
Kürze einen Regierungsentwurf vorlegen, der dies ausdrücklich klarstellt. Der Entwurf wird in einer der nächsten Kabinettssitzungen verabschiedet werden.
Ich komme nun zu einigen Vorschlägen der
CDU/CSU-Fraktion; hinter manchen stehen durchaus
richtige Ideen.
Ich möchte etwas zur Frage der Sanktion Fahrverbot
sagen. Auch wir haben zunächst daran gedacht, das Fahrverbot völlig vom Bezug auf ein Verkehrsvergehen zu lösen und auf alle Straftaten anzuwenden, also auch auf solche Straftaten, die keinerlei Zusammenhang mit dem
Straßenverkehr haben. Letztendlich sind wir aber doch
nicht für diese Lösung. Die Begründung liegt zum einen
darin, dass viele Menschen ein allgemeines Fahrverbot
eher als eine Art Denkzettelstrafe empfinden würden. Das
zweite Argument ist, dass ein solches Fahrverbot von
Behörden und Polizei kaum wirksam überwacht werden
könnte. Man muss sich nur einmal selbst fragen, wann
man eigentlich zuletzt in eine Fahrzeugkontrolle gekommen ist. Bei mir ist das ungefähr drei, vier Jahre her.
({1})
- Aber selbst im weinfrohen Rheinhessen oder im Rheingau kommt das nur alle Jubeljahre vor.
Eine Sanktion, die nicht glaubwürdig überprüft und
durchgesetzt werden kann, steht letztlich nur auf dem Papier und ist damit wertlos.
Wir planen allerdings einen anderen Einsatz des Fahrverbotes. Wir wollen das Fahrverbot in unserem Gesetzentwurf zum Sanktionensystem aufwerten, indem wir es
zu einer Hauptstrafe machen. Es soll dann nicht mehr wie
bisher nur neben, sondern auch anstelle einer Geldstrafe
verhängt werden können.
Wir wollen zum Zweiten die Höchststrafe von drei
Monaten auf sechs Monate erweitern. Damit das Fahrverbot in der Praxis häufiger verhängt wird, wollen wir eine
Regelvorschrift schaffen: Wird ein Kraftfahrzeug als Tatmittel eingesetzt, dann soll in der Regel ein Fahrverbot
verhängt werden. Ich denke, das ist ein besserer Schutz
der Menschen vor Kriminalität.
({2})
Ich will noch eine Bemerkung zu den Forderungen hinsichtlich der Bekämpfung von Sexualdelikten machen.
Es wird gefordert, den Grundtatbestand des sexuellen
Missbrauchs von Kindern als Verbrechen einzustufen.
Das Bundesministerium der Justiz prüft in der Tat, ob es
sich empfiehlt, die Strafdrohung der §§ 176 und 179 StGB
- das betrifft neben dem sexuellen Missbrauch von Kindern auch den sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen - an die Strafdrohung des § 177 StGB, sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung, anzupassen. Das
würde bedeuten, dass man auch die Grundtatbestände der
§§ 176 und 179 als Verbrechen einstuft.
Hier sind wir durchaus einer Meinung, dass man darüber nachdenken muss. Denn wir müssen die Frage der sexuellen Selbstbestimmung von Kindern und Widerstandsunfähigen sehr, sehr ernst nehmen.
Eine abschließende Bemerkung betrifft die Prävention; sie ist bereits häufig angesprochen worden. In der
Tat: Es ist wichtiger, Straftaten zu verhindern, als sie später zu sanktionieren, und sei es auch durch eine noch so
konsequente Strafverfolgung. Wir müssen nachdrücklicher als bisher auf die Ursachen der Kriminalität eingehen. Hier sind alle aufgerufen: Familie, Kindergarten,
Schule, Kirchen, Medienverbände und natürlich auch
Bund, Länder und Kommunen. Herr Kollege Körper hat
schon darauf hingewiesen: Die Bundesregierung sieht in
der Errichtung der Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention einen Schritt, um die vielfältigen Initiativen auf kommunaler und Länderebene miteinander zu
verknüpfen und einen entsprechenden Erfahrungsaustausch zu ermöglichen.
({3})
Hiermit wird übrigens eine Zusage aus der Koalitionsvereinbarung eingelöst.
Der Kriminalitätsentwicklung kann man also nicht mit
einer einzigen Maßnahme, nämlich mit höheren Strafen,
begegnen, sondern nur mit einem Bündel von Maßnahmen. Dazu gehört in besonderer Weise die Prävention.
Vielen Dank.
({4})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nunmehr der Kollege Norbert
Geis.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Es hat keinen Sinn, auf
die Rede des Herrn Wieland einzugehen. Das war unterste Schublade. Es war widerlicher, kaltschnäuziger Zynismus, was wir hier erlebt haben.
({0})
Das darf und sollte sich in einem solchen Hause nicht ereignen.
({1})
Wir sind dazu aufgefordert, in Vernunft miteinander zu
sprechen und einander nicht zynisch gegenüberzustehen.
Das war reiner und billiger Zynismus; das sollte einmal
deutlich gesagt werden.
({2})
Wir haben in unserem Antrag den Vorschlag gemacht,
die Kronzeugenregelung wieder einzuführen. Ich habe
weder vonseiten der Regierung noch vonseiten der Regierungsparteien ein Wort dazu gehört. Ich halte es für
dringend erforderlich, dass wir dieses Thema wieder aufgreifen. Wir wissen, dass die Kronzeugenregelung im
Ausland, insbesondere in Italien, bei der Kriminalitätsbekämpfung beste Wirkung erzielt hat. Wir haben sie
in unseren Antrag aufgenommen und die Forderung danach wiederholt gestellt.
Ich bitte Sie sehr herzlich, sich mit dieser Frage auseinander zu setzen. Ich weiß, dass es bei der SPD genügend
Kolleginnen und Kollegen gibt, die der gleichen Meinung
sind. Dass dies am Widerstand der Grünen scheitert, weiß
auch ich. Der Innenminister befürwortet diese Regelung.
Ich bin sicher, dass die Justizministerin nicht viel dagegen
einzuwenden hätte. Sie sollten in Ihren eigenen Reihen,
zwischen den Regierungsparteien, endlich eine Diskussion darüber führen; denn wir brauchen die Kronzeugenregelung wieder.
({3})
Auch das Problem der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist hier nicht weiter erörtert worden. Es gibt
Sexualstraftäter, bei deren Verurteilung nicht erkennbar
ist, ob bei ihm die Therapie anschlägt oder nicht, ob es
also angezeigt ist, nach Ablauf seiner Strafe Sicherungsverwahrung anzuordnen. Bislang kann dies nur im Zusammenhang mit dem Urteil beschlossen werden. Der erkennende Richter muss die Sicherungsverwahrung
aussprechen. Es ist aber ohne weiteres denkbar, dass sich
im Laufe des Strafvollzugs gerade im Zusammenhang mit
den Therapiemaßnahmen, die nicht greifen, herausstellt,
dass es sich hier um einen Wiederholungstäter handeln
kann, der erneut straffällig werden kann, und dass die Situation die gleiche sein kann wie bei dem, der gleichzeitig mit dem Urteil zur Sicherungsverwahrung verurteilt
worden ist.
Deswegen schlagen wir die nachträgliche Sicherungsverwahrung vor. Auch hier bitte ich darum, dieses Thema
aufzugreifen. Wir halten dies für dringend notwendig.
Leider hat dieser Vorschlag in dieser Debatte bislang
keine Antwort gefunden.
Zur Videoüberwachung. Hier ist ja mit Orwell argumentiert worden. Das sind abgegriffene, dümmliche Argumente; die brauchen wir doch hier nicht vorzubringen.
Keiner von uns will den orwellschen Staat haben. Aber
wir wissen doch aus anderen Ländern, zum Beispiel aus
den USA, aus Frankreich und aus England, und sogar von
dem präventiven Einsatz unserer Polizei, dass Videoüberwachungen in Wohnungen von allergrößter Bedeutung
sein können. Deswegen muss dies nach unserer Auffassung nach wie vor diskutiert werden; wir können darauf
nicht verzichten.
({4})
Wir verabschieden heute das Gesetz zur Jugenddelinquenz. Herr Graf, das ist im Übrigen ein Gesetzentwurf,
der im April 2000 eingebracht worden ist. Dass dieser Gesetzentwurf endlich einmal zur Verabschiedung kommt,
ist richtig. Die Gelegenheit heute bietet sich dafür an.
Ich glaube, dass bei der Jugenddelinquenz zunächst
einmal darauf zu achten ist, dass wir insbesondere bei der
Jugendgewaltkriminalität nach wie vor eine dramatische Situation haben. Wir kennen die Zahlen. Wir wissen
auch, dass 95 Prozent dieser gesamten Gewaltkriminalität
von Jugendlichen ausgeführt wird, die eher gesellschaftlich randständig sind. Jugendliche, die solche Gewalttaten
verüben, kommen aus Randgruppen. Dazu gehören natürlich deutsche Jugendliche. Wir wissen aber auch, dass
viele ausländische Jugendliche dazu zählen. Dies können wir den Verurteilungsstatistiken und der polizeilichen
Kriminalstatistik entnehmen.
Auch das muss uns durch den Kopf gehen: Wir wissen,
dass viele ausländische Jugendliche keinen Arbeitsplatz
finden. Überhaupt haben es die Ausländer bei uns schwer,
einen Arbeitsplatz zu finden.
({5})
Wir haben eine hohe Arbeitslosenquote, für deren Abnahme meiner Ansicht nach zu wenig getan wird. Wir haben 3,7 Millionen Arbeitslose in der Bundesrepublik
Deutschland. Damit können wir uns nicht zufrieden geben. Auch das ist eine Frage, mit der man sich im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Kriminalität beschäftigen muss.
Wir wissen, dass die ausländischen Jugendlichen oft
nicht die gleiche Bildung haben wie deutsche Jugendliche. Deshalb kommen sie auch nicht so schnell an einen
Arbeitsplatz. Wir wissen weiterhin, dass bei ausländischen Jugendlichen die Bindung an die Eltern und an das
persönliche Umfeld mit dem Älterwerden schwächer
wird. Aber es gelingt ihnen nicht, in eine allgemeine Sozialisation einzutreten. Sie bleiben vielmehr in Gruppen
unter sich. Man kann eine Art Gettobildung bei ausländischen Jugendlichen feststellen. Die Auffassung, die Sozialisation geschieht in - ich will nicht sagen: Banden fast völlig separierten Gruppen, in denen es leicht möglich ist, in die Kriminalität abzurutschen, ist meiner Meinung nach richtig. Auch das ist ein Thema, dessen wir uns
dringend annehmen müssen.
Natürlich wissen wir, dass es keine Patentrezepte gibt.
Ich weiß natürlich auch, dass man diese Entwicklung
nicht mit Repressionen stoppen kann. Hier ist in der Tat
die Prävention gefordert. Man muss den größten Wert darauf legen, dass bei uns die ausländischen Jugendlichen
die gleiche Schulbildung wie die deutschen Jugendlichen
durchlaufen, dass ihnen Arbeitsplätze angeboten werden
und dass sie an unserem Vereinsleben teilnehmen. Nichts
wirkt integrierender, als beispielsweise in einer Fußballmannschaft mitzuspielen. Jede Integration in unsere Gesellschaft verhindert neue Kriminalität. Deswegen sind
wir der Meinung, dass dies ein wichtiger Punkt bei der
Frage der Jugenddelinquenz ist.
Wir haben den Gedanken der Prävention auch in unserem Gesetzentwurf aufgegriffen. Es geht darum, Frau
Simm, dass wir den Familiengerichten eine größere
Möglichkeit einräumen wollen, bereits dann auf Kinder
unter 14 Jahren einzuwirken, wenn die Erziehungskraft
der Eltern nicht mehr ausreicht oder wenn die Eltern die
Erziehung schon aufgegeben haben. Hier muss das Gericht schneller als bisher in der Lage sein, einzugreifen.
Wir können die Kinder nicht einfach ihrem Schicksal
überlassen. Wenn die Kinder straffällig werden, weil sie
beispielsweise in Diebesbanden organisiert sind, und
wenn die Eltern versagen, müssen wir dafür Sorge tragen,
dass der zuständige Richter am Familiengericht wenigstens die Möglichkeit hat, darauf hinzuwirken, dass der Jugendliche in einer bestimmten Gruppe nicht mehr so oft
verkehrt.
Der Täter-Opfer-Ausgleich ist zwar erst nach einer
Straftat möglich; ein unter 14-Jähriger kann bekanntlich
noch keine Straftat begehen, weil er strafunmündig ist.
Vielleicht gelingt es durch die Vermittlung des Richters aber doch, dass der Jugendliche eine Art Täter-Opfer-Ausgleich leistet, damit er erkennt, in welche Richtung seine Karriere unter Umständen laufen kann.
Herr Pick hat die anderen Punkte schon angesprochen.
Er hat dies in einer sachlichen Form getan, wofür ich mich
ausdrücklich bedanke, weil das heute nicht immer der Fall
gewesen ist. Ich glaube, dass das Fahrverbot, das wir als
Repression gegenüber Jugendlichen vorsehen, einen Sinn
hat, auch wenn keine Straftat vorliegt, die mit einem Fahrzeug begangen wurde. Das Fahrverbot muss als selbstständige Strafsanktion und nicht nur als eine Nebenstrafe
angewendet werden. Ich bin sehr wohl dafür, dass wir darüber ernsthaft diskutieren. Sie werden zwar heute unseren Gesetzentwurf ablehnen. Aber trotzdem bitte ich, einmal ernsthaft darüber nachzudenken, ob ein Fahrverbot
nicht mehr Eindruck auf den Jugendlichen macht, weil er
für eine gewisse Zeit seine Mobilität verliert, als eine
Geldstrafe, die unter Umständen doch nur von der
Großmutter gezahlt wird.
Wir wollen auch den Einstiegsarrest. Ich halte diese
Maßnahme deshalb für richtig, weil der Jugendliche, der
aus dem Gerichtssaal mit einer Gefängnisstrafe auf Bewährung herausgeht, das Gefühl hat, er sei freigesprochen
worden. Wenn der Jugendliche das Geld nicht hat, zahlt er
die Geldbuße sowieso nicht. Sie wird dann von der Familie gezahlt. Ich meine, ein Einstiegsarrest ist für einen solchen Jugendlichen in der Tat wirksam. Deswegen bitte
ich, darüber nachzudenken, auch wenn Sie heute Nein
dazu sagen.
Ich will noch einen letzten Punkt erwähnen. Es ist
wahr, Herr Graf, für die Heranwachsenden, also die
18- bis 21-Jährigen, wollen wir stärker das Erwachsenenstrafrecht vorsehen. Wir wissen, dass 18-Jährige alle
Geschäfte tätigen können. Sie können Gesellschaften
gründen. Sie werden im Geschäftsleben als Erwachsene
behandelt. Angesichts dessen ist es nicht ganz logisch,
wenn man sie dann, wenn sie straffällig geworden sind,
als Jugendliche behandelt.
Vor allem gibt es - das ist der eigentliche Grund, weshalb wir da ansetzen - ein Gefälle zwischen Nord und
Süd. Wir haben im Norden eine stärkere Anwendung des
Jugendstrafrechtes und im Süden eine stärkere Anwendung des Erwachsenenstrafrechtes. Das halte ich nicht für
gut. Es müssen einheitliche Regelungen getroffen werden. Das sieht unser Gesetzentwurf vor.
Danke schön.
({6})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Günter Graf von
der SPD-Fraktion das Wort.
Ich möchte mich an
den Kollegen Geis wenden, der eben das Thema der
Jugendkriminalität in besonderer Weise angesprochen
hat. Ich sage hier in aller Deutlichkeit - weil ich es so
nicht erwartet habe -: Dass Sie hier bemerkt haben, dass
in diesem Bereich mit Repression wenig zu erreichen ist,
sondern dass die Prävention im Vordergrund stehen
muss, macht mich ein Stück hoffnungsfroh, dass wir in
den Beratungen in den Ausschüssen sachlich mit diesem
Thema umgehen werden.
Ich denke, es sollte Einvernehmen in diesem Haus darüber bestehen, dass wir die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, das Werteverbinden in dieser Gesellschaft ein Stück weit stärker in den Vordergrund stellen
und bei allem, was wir tun, auch berücksichtigen, welche
Wirkungen es in dieser Gesellschaft erzeugt.
Die Bundesregierung - das will ich hier positiv vermerken; ich habe es vorhin verschwitzt zu sagen - hat
durch das JUMP-Programm arbeitslose Jugendliche in
Ausbildungsberufe, in Fortbildungsmaßnahmen gebracht; davon waren Hunderttausende betroffen. Das ist
ein Baustein, um dieser Thematik durch Prävention zu begegnen. Wenn wir diesen Weg in vielen anderen Feldern
weitergehen, dann, glaube ich, kann es uns gemeinsam
gelingen, hier zu deutlich sichtbaren Erfolgen zu kommen.
Danke.
({0})
Nun spricht
für die SPD-Fraktion der Kollege Professor Dr. Jürgen
Meyer.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe allen Redebeiträgen aufmerksam zugehört. Es ist gewiss schwierig, in der vielleicht 30. Debatte über innere Sicherheit in
den letzten Jahren neue Gedanken vorzutragen. Aber
einige der Beiträge, insbesondere der von Herrn
Schönbohm, der jetzt leider nicht mehr hier ist, veranlassen mich dazu, drei Anregungen für die Fortführung der
Debatte, nicht zuletzt an die Adresse der CDU/CSU-Fraktion, vorzutragen.
Die erste Anregung knüpft an die Intervention des Kollegen Graf an. Ich meine, wir sollten in künftigen Debatten gemeinsam sehr deutlich machen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus in Europa
nicht nur in einer gemeinsamen Wirtschaftsordnung leben, sondern auch eine gemeinsame von uns allen bejahte
Werteordnung haben.
Jede Straftat ist neben der Verletzung des durch den jeweiligen Straftatbestand geschützten Rechtsguts auch
eine Verletzung von Solidarität. Der Täter setzt sich rücksichtslos im eigenen Interesse über die Interessen anderer
hinweg. Ich meine, dass fast jede Straftat auch eine Verletzung von Menschenwürde ist, und zwar nicht nur des
Opfers, was außerordentlich wichtig ist, sondern auch des
Täters selbst.
Ich erinnere daran, dass wir in der Grundrechte-Charta
der Europäischen Union den aus unserer Verfassung bekannten Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar
um den Satz ergänzt haben: Sie ist zu achten und zu
schützen. Das verpflichtet nicht nur den Staat mit seinen
Machtinstrumenten, sondern auch uns alle zum Tätigwerden, so zum Beispiel auch dazu, nicht wegzuschauen,
wenn Straftaten begangen werden.
Im Zusammenhang mit der Solidarität erlaube ich mir
die Bitte, die speziell aus München kommenden Vorbehalte gegen die Rechtsverbindlichkeit der Charta, die diesen Rechtsgrundsatz konkretisiert, zurückzustellen.
Denn wenn man sagt, Solidarität sei zu teuer, muss man
sich fragen, ob man das Bekenntnis zu ihr wirklich ernst
nimmt.
({0})
Meine zweite Anregung geht dahin, dass bitte auch die
Opposition zur Kenntnis nimmt und akzeptiert, dass es in
der Kriminalpolitik seit dem Regierungswechsel eine Akzentverschiebung gegeben hat; man könnte sogar von einem Paradigmenwechsel sprechen. Wir sind der Auffassung, dass in der Debatte über innere Sicherheit nur sehr
wenig über Strafrecht und Machtinstrumente und viel
mehr über die uns allen bekannten Ursachen der Kriminalität gesprochen werden sollte.
Herr Kollege Geis, Sie haben das Thema vorhin angesprochen. Ich hoffe, wir sind uns einig darüber, dass wir
in der Bundesrepublik im Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit in den letzten Jahren im europaweiten Vergleich
außerordentlich erfolgreich gewesen sind. Ich nenne auch
die Familienpolitik, die - um nur zwei Stichworte zu nennen - durch Kindergelderhöhung und die Anrechnung von
Erziehungszeiten die Chancen für die Familien verbessern muss, ihren Erziehungsauftrag zu erfüllen.
Ich erinnere daran, dass in den landespolitischen Auseinandersetzungen über Bildungspolitik - zuletzt vor wenigen Monaten in Baden-Württemberg - das Thema Bildung eine viel stärkere Rolle als das Thema innere
Sicherheit gespielt hat. Warum? Es geht doch nicht nur
vordergründig um ausfallende Unterrichtszeiten oder um
mehr oder weniger Lehrerstellen, sondern es geht darum,
jungen Menschen Zukunftschancen zu eröffnen. Wir wissen alle, dass fehlende Zukunftschancen eine ganz wesentliche Kriminalitätsursache sind.
Ich möchte schließlich mit einer dritten Anregung darauf hinweisen, dass es an der Zeit ist, Vorschläge, die wir
in den letzten zehn Jahren immer wieder von der
CDU/CSU-Fraktion gehört haben, nicht ständig und immer wieder - jetzt mit der Einleitung durch Statistiken, die
eher ein Zurückweichen staatlichen Strafrechts signalisieren könnten - zu wiederholen.
Es sollte Ihnen zu denken geben, dass die Fachwelt,
also nicht etwa nur die Experten auf dem Jugendgerichtstag, sondern auch Verbände sowie vor wenigen Wochen
die Experten auf der Strafrechtslehrertagung in Passau,
Ihr kriminalpolitisches Programm als nicht überzeugend
verworfen hat. Sie sollten sich mit diesen Argumenten
auseinander setzen und nicht das Programm im Wege einer wortwörtlichen Übernahme in Form eines Antrags
hier im Bundestag einbringen. Er hat - wie Sie selbst sehen - wenig Erfolgschancen.
Wenn Sie jetzt sagen, Sie hätten sich überlegt, was getan werden muss, müssen Sie sich die Frage gefallen lassen, ob Sie nicht die Vorschläge, die Sie jetzt mit großem
Nachdruck machen, in den vergangenen 16 Jahren hätten
durchsetzen können. Warum kommen Sie jetzt damit,
warum haben Sie das nicht früher durchgesetzt? Zu Ihrer
Bemerkung, das habe die F.D.P. verhindert,
({1})
kann ich nur sagen: Damit machen Sie deutlich, dass Sie
hier im Bundestag mit Ihrem einseitigen Setzen auf sehr
viel mehr - jedenfalls mehr als bisher - Repression alleine
stehen. Dann sollten Sie den Menschen auch sagen, dass
Sie hier Vorschläge machen, die keine Chance auf Verwirklichung haben. Das gehört dann auch zur Ehrlichkeit
der Debatte.
({2})
Weil Herr Kollege Pick das eben angesprochen hat,
möchte ich in Richtung Bundesrat sagen, dass der Vorschlag, den genetischen Fingerabdruck in Verfahren, in
denen ein Beschuldigter noch nicht bekannt ist, durch
Staatsanwaltschaft oder Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft anordnen zu lassen, im Bundestag keine Chance
hat. Unserer Meinung nach stellt die DNA-Analyse einen Grundrechtseingriff dar. Wer dies nicht akzeptiert,
sollte mindestens sehen, dass die anschließende Speicherung der Analyseergebnisse in der DNA-Analysedatei des Bundeskriminalamtes unzweifelhaft einen starken
Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt.
({3})
Aus diesem Grunde sagen wir: Das müssen die Richter
machen; denn sie sind für die Kontrolle der manchmal unvermeidbaren Eingriffe in Grundrechte zuständig. Eine
letzte Bemerkung, weil in Ihrem Papier von organisierter
Kriminalität und Gewinnabschöpfung die Rede ist: Geben Sie bitte Ihren Widerstand auf, der dazu führt, dass
Geldwäsche bisher nicht wirkungsvoll verfolgt werden
kann. Wir alle wissen, dass organisierte Kriminelle große
Gewinne machen, die sie aber, obwohl sie dazu wegen der
Wertneutralität des Steuerrechts verpflichtet wären, nicht
beim Finanzamt angeben. Deshalb schlagen wir vor, die
schwere Steuerhinterziehung - also die Steuerhinterziehung, bei der es um Millionenbeträge geht, die übrigens
anlässlich der Währungsumstellung ans Licht kommen als Vortat der Geldwäsche ausdrücklich anzuerkennen.
({4})
Ein solches Vorgehen wäre ein Warnschuss auch an das
Kreditgewerbe, denen, die auf unredliche Weise Gelder
angesammelt haben, nicht durch Geldwäsche zu helfen.
Helfen Sie uns dabei, dann machen wir eine vernünftige
Kriminalpolitik.
Danke schön.
({5})
Als letzter
Rednerin in dieser Debatte gebe ich der Kollegin Erika
Simm, ebenfalls SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war etwas verblüfft,
als ich die heutige Tagesordnung sah, in der der Punkt,
über den wir jetzt reden, aufgeführt ist. Es ist der Gesetzentwurf der CDU/CSU zur Bekämpfung der Kinder- und
Jugendkriminalität, der in zweiter und dritter Lesung behandelt werden soll, sowie ein Antrag zur Kriminalitätsbekämpfung enthalten, der ganz aktuell - er war zumindest
bis gestern ohne Drucksachennummer aufgeführt - ist.
Nachdem ich mir die Drucksachen angesehen habe,
habe ich festgestellt, dass in dem Antrag zur Kriminalitätsbekämpfung unter dem Kapitel zur Jugendkriminalität exakt das Gleiche steht, das in dem Gesetzentwurf
enthalten ist, den wir am Mittwoch im Ausschuss abschließend behandelt und zu dem wir am 9. Mai eine, wie
ich meine, recht aufschlussreiche und interessante Anhörung durchgeführt haben.
({0})
Erstaunlich ist aber, dass von dem Ergebnis der Anhörung nichts in diesen Entschließungsantrag eingeflossen ist. Ich habe mir überlegt: Warum macht man so
etwas? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen - Sie werden
mir verzeihen -, dass man hier nach dem Prinzip verfährt:
Stelle Forderungen auf, bringe einen Antrag ein, lass ihn
dir ablehnen und dann hast du ein Thema im Wahlkampf,
mit dem du die rot-grüne Regierungskoalition vorführen
kannst, weil sie nicht bereit ist, etwas zur Bekämpfung der
Jugendkriminalität zu tun.
({1})
Ich denke, dass wir - Herr Beck hat es schon angesprochen - einiges - Gewaltschutzgesetz, Gesetz zur gewaltfreien Erziehung, Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit - aufzuweisen haben, und zwar in
einem Kontext, den Sie selber für das Entstehen von Jugendkriminalität, speziell Gewaltkriminalität bei Kindern
und Jugendlichen, als bedeutsam aufgeführt haben.
Ich meine, wenn man mit dem Thema so umgeht, wie
Sie das im Augenblick tun, wird man der Problematik
nicht gerecht. Das Problem der Kinder- und Jugendkriminalität hat es verdient, etwas seriöser angefasst zu werden.
Das vermisse ich in der gegenwärtigen Situation aufseiten
der Opposition.
({2})
- Ich habe doch einiges angesprochen, das wir in der Vergangenheit bereits gemacht haben.
({3})
Lassen Sie mich noch etwas zur Kriminalstatistik sagen. Man erlebt selten, dass Statistiken so nach Belieben
interpretiert werden wie die Kriminalstatistik. Ich traue
mir zu, das zu sagen, weil ich mir über viele Jahre die Kriminalstatistik sehr genau angesehen habe. Ich schaue mir
auch die Verurteiltenstatistik an, die den Nachteil hat, dass
sie immer mit einem Nachklapp von mehreren Jahren
kommt, und bei der man das Problem hat, keine direkten
Bezüge herstellen zu können. Ich frage mich aber schon,
welchen Erkenntnisgewinn man aus der Tatsache zieht,
dass im Verhältnis zu 1999 im Jahre 2000 der Anteil der
tatbeteiligten Kinder um 0,3 Prozent zurückgegangen ist,
bei den Jugendlichen - den 14- bis 18-Jährigen - ein
Rückgang um 0,2 Prozent zu vermerken ist, während bei
den Heranwachsenden ein Anstieg von 0,2 Prozent festzustellen ist.
Sie argumentieren - so steht es in Ihrem Antrag; ich
habe das gelesen - mit dem 30-prozentigen Anteil der unter 21-Jährigen an den Straftätern. Ich habe meine Zweifel, dass das eine geeignete Grundlage für konkrete Gesetzesinitiativen sein kann. Richtig ist, dass man sich die
Details anschauen muss. Im Bereich der Gewaltkriminalität zum Beispiel sind Tendenzen ablesbar, die uns zur
Sorge Anlass geben müssen. Aber - das habe ich bereits
gesagt - gerade bei der Gewaltkriminalität ist die Prävention von besonderer Bedeutung. Auch meine langjährige
Erfahrung als Jugendrichterin hat mir gezeigt, dass Kinder und Jugendliche, die durch Gewalttätigkeit auffallen,
Dr. Jürgen Meyer ({4})
sehr häufig aus Familien kommen, in denen sie Gewalt als
ständiges Mittel der Konfliktbewältigung erfahren haben,
und keine Gelegenheit hatten, andere Möglichkeiten der
Konfliktbewältigung zu erlernen.
Deswegen noch einmal: Wenn wir versuchen, geeignete Maßnahmen gegen Gewalt im häuslichen Nahbereich zu finden und das Prinzip der gewaltfreien Erziehung im Gesetz zu verankern - ich habe im Hinterkopf,
dass wir dazu von der Union zumindest keine rückhaltlose
Unterstützung erfahren haben -, dann hat das als Präventionsmaßnahme einen hohen Stellenwert.
({5})
Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten ansonsten keine
konkreten Vorschläge gemacht. Wir haben keine in Form
von Gesetzesänderung gemacht - aus gutem Grund: Ein
wesentliches Ergebnis der Anhörung im Mai, die wir im
Rechtsausschuss durchgeführt haben, war doch, dass es
im Jugendstrafrecht, im Familienrecht, im Zivilrecht, im
Jugendhilferecht eine ganze Menge von Instrumenten
gibt, mit denen wir auf abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen sachgerecht und individuell reagieren können,
({6})
und dass allenfalls ein Defizit bei der Umsetzung, bei der
Anwendung dieser Instrumentarien besteht. Viele der
Diskussionen, die wir geführt haben, waren wohl auch
deshalb nötig, weil diese Instrumentarien nicht allen in
den Reihen der Union bekannt waren. Herr Geis, ich habe
mir noch einmal Ihre Rede durchgelesen, die wir bei der
ersten Lesung des Gesetzentwurfes zu Protokoll gegeben
haben. Ich hatte den Eindruck, Sie wüssten nicht, dass
man schon im normalen Jugendstrafverfahren einen Vorführbefehl erlassen kann, wenn der Jugendliche nicht erscheint. Das gibt es. Machen wir Gebrauch davon, wenn
es notwendig ist, dann werden wir eine Beschleunigung
des Verfahrens erreichen! Machen wir Gebrauch davon,
dass der Familienrichter das Erziehungsgespräch - das
Sie fordern, aber das er längst führen kann - tatsächlich
auch führt! Dann, so denke ich, werden wir bei der
Bekämpfung von Ursachen der Jugendkriminalität effektiver sein, im Sinne von besserer Prävention. Wirken Sie
in diesem Zusammenhang mit! Dann tun wir mehr für die
Jugendlichen und für die Opfer, die es zu schützen gilt.
({7})
Ich schließe
die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 14/6539 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Verbesserung der gesetz-
lichen Maßnahmen gegenüber Kinder- und Jugenddelin-
quenz auf Drucksache 14/3189. Der Rechtsausschuss
empfiehlt auf Drucksache 14/6546, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe!
- Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und PDS bei Enthaltung der F.D.P. gegen die Stimmen
von CDU/CSU abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Tagesordnungspunkt 4 c: Interfraktionell wird Über-
weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/5264 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Andere Vorschläge liegen nicht vor. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 e
sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b - es handelt sich
um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne De-
batte auf:
29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess ({0})
- Drucksache 14/6393 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung bilanzrechtlicher Bestimmungen an die
Einführung des Euro, zur Erleichterung der Publizität für Zweigniederlassungen ausländischer
Unternehmen sowie zur Einführung einer Qualitätskontrolle für genossenschaftliche Prüfungsverbände ({1})
- Drucksache 14/6456 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Euro im Berufsrecht der Rechtspflege, in Rechtspflegegesetzen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und in Gesetzen des
Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts
- Drucksache 14/6371 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss({3})
Innenausschuss
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Statistik über die Beherbergung im
Reiseverkehr ({4})
- Drucksache 14/6392 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf
Bindig, Angelika Graf, Hanna Wolf ({6}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Kerstin Müller ({7}),
Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN
Prävention und Bekämpfung von Frauenhandel
- Drucksache 14/6540 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Ressortforschung überprüfen - Effizienz der
Forschung steigern
- Drucksache 14/5329 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Wahlstatistikgesetzes
- Drucksache 14/6538 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Auch mit diesem Vorschlag ist das Haus
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 30 a
bis 30 h und 30 j bis 30 p sowie den Zusatzpunkten 3 a bis
3 i. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 30 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 25. Januar 1996 über die Ausübung von Kinderrechten
- Drucksache 14/5438 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({11})
- Drucksache 14/6526 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Ronald Pofalla
Volker Beck ({12})
Sabine Jünger
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6526,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 b:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Haager Übereinkommen
vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern
und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der
internationalen Adoption
- Drucksache 14/5437 ({13})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung von Rechtsfragen auf dem Gebiet
der internationalen Adoption und zur Weiterentwicklung des Adoptionsvermittlungsrechts
- Drucksache 14/6011 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15})
- Drucksache 14/6583 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Ronald Pofalla
Volker Beck ({16})
Sabine Jünger
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6583, den
Gesetzentwurf anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6583, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchten, um das Handzeichen.
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Keine
Gegenstimmen, keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf
ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({17}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Norbert Geis, Maria
Eichhorn, Renate Diemers, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Ratifizierung des Haager Adoptionsabkommens
- Drucksachen 14/4932, 14/6583 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Ronald Pofalla
Volker Beck ({18})
Sabine Jünger
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/4932
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 d:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik vom 2. Februar 2000 zur weiteren Erleichterung des Rechtshilfeverkehrs
- Drucksache 14/6101 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20})
- Drucksache 14/6534 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Dr. Susanne Tiemann
Volker Beck ({21})
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6534,
den Gesetzentwurf anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Möchte sich die Regierung auch erheben?
({22})
Es tut mir Leid, dass Sie um die Mittagszeit so in Anspruch genommen werden, aber das ist dann die richtige
Einstimmung für die nachfolgende Aktuelle Stunde.
({23})
Tagesordnungspunkt 30 e:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Dreiundzwanzigsten
Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 14/6311 ({24})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({25})
- Drucksache 14/6507 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe Küster
Eckart von Klaeden
Steffi Lemke
Dr. Heidi Knake-Werner
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt auf Drucksache 14/6507, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Keine
Gegenstimmen, keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Der
Gesetzentwurf ist, da keine Gegenstimmen und keine Enthaltungen vorliegen, einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung von Vorschriften des Dienst-, allgemeinen Verwaltungs-, Sicherheits-, Ausländerund Staatsangehörigkeitsrechts auf Euro ({26})
- Drucksache 14/6096 ({27})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({28})
- Drucksache 14/6536 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Hagemann
Meinrad Belle
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen will, der hebe bitte die Hand. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung von CDU/CSU
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
und PDS, Ablehnung durch die F.D.P.-Fraktion und Zustimmung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist dieser
Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte um Ihr Votum. Wer
stimmt zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit der gleichen Stimmenmehrheit wie
in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung von Gesetzen und Verordungen im
Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums
für Wirtschaft und Technologie sowie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf Euro
({29})
- Drucksache 14/5937 ({30})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({31})
- Drucksache 14/6552 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
Wer zustimmen möchte, hebe bitte die Hand. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit
den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Wer stimmt zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der
gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung
angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 h:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 22. September 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Großherzogtum Luxemburg über Zusammenarbeit im Bereich der Insolvenzsicherung
betrieblicher Altersversorgung
- Drucksache 14/5439 ({32})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({33})
- Drucksache 14/6447 Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothea Störr-Ritter
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/6447, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, den
bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 j:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({34}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Gerhard Jüttemann,
Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar Bartsch und der
Fraktion der PDS
Fertigung des Airbus A 3xx struktur- und
umweltpolitisch sinnvoll organisieren
- Drucksachen 14/3677, 14/4690 Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3677 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({35})
Übersicht 9
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/6494 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Es gibt keine Gegenstimmen und keine Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 30 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 280 zu Petitionen
- Drucksache 14/6471 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 280 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 281 zu Petitionen
- Drucksache 14/6472 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 281 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Tagesordnungspunkt 30 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 282 zu Petitionen
- Drucksache 14/6474 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 282 ist mit den Stimmen
des Hauses bei erneuter Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 283 zu Petitionen
- Drucksache 14/6475 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 283 ist bei Enthaltung der
F.D.P. und Gegenstimmen der CDU/CSU mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 284 zu Petitionen
- Drucksache 14/6476 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Mit den Stimmen des Hauses bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion ist die Sammelübersicht 284 angenommen.
Zusatzpunkt 3 a:
Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({41})
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 182 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 17. Juni 1999 über das
Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur
Beseitigung der schlimmsten Formen der
Kinderarbeit
- Drucksache 14/6107 ({42})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
({43})
- Drucksache 14/6574 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß ({44})
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/6574, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. - Es
gibt keine Gegenstimmen und keine Enthaltungen. Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({45}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Christine Ostrowski, Heidemarie
Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Vorlage einer Verordnung zur Umsetzung des
§ 6 a des Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Altschuldenhilfe-Gesetzes
- Drucksachen 14/4399, 14/4692 Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Otto ({46})
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4399 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses. Zunächst zum Zusatzpunkt 3 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({47})
Sammelübersicht 285 zu Petitionen
- Drucksache 14/6556 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die PDS
enthält sich, die anderen Fraktionen haben zugestimmt.
Die Sammelübersicht 285 ist angenommen.
Zusatzpunkt 3 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({48})
Sammelübersicht 286 zu Petitionen
- Drucksache 14/6557 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 286 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Zusatzpunkt 3 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({49})
Sammelübersicht 287 zu Petitionen
- Drucksache 14/6558 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 287 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({50})
Sammelübersicht 288 zu Petitionen
- Drucksache 14/6559 Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({51})
Sammelübersicht 289 zu Petitionen
- Drucksache 14/6560 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 289 ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der übrigen Fraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({52})
Sammelübersicht 290 zu Petitionen
- Drucksache 14/6561 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.
Zusatzpunkt 3 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({53})
Sammelübersicht 291 zu Petitionen
- Drucksache 14/6562 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist die Sammelübersicht 291 mit den Stimmen des Hauses angenommen.
Ich bedanke mich.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zur steigenden
Arbeitslosigkei im vierten Monat in Folge
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die Antragstellerin zunächst dem Kollegen Hansjürgen Doss das
Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen! Die Unionsfraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt, um die Bundesregierung an ihre Pflichten zu erinnern.
({0})
Vielleicht teilt dies irgendjemand einmal der Bundesregierung mit.
({1})
Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist Besorgnis
erregend. Keine Woche vergeht, ohne dass ein namhaftes
Wirtschaftsinstitut seine Wachstumsprognosen nach unten
korrigiert. Europaweit trägt Deutschland die rote Laterne
bei Wachstum und Beschäftigung. Übrigens: Bundeskanzler Schröder wollte sich am Rückgang der Arbeitslosigkeit messen lassen. Das wird ein trauriges Spiel.
({2})
Sein Ziel, die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen
zurückzuführen, rückt in weite Ferne. Seit Januar steigt
die Arbeitslosigkeit saisonbereinigt jeden Monat an: im
Januar um rund 10 000, im Februar um 5 000, im März um
12 000, im April um 6 000, im Mai um 18 000 und im Juni
um 22 000. Keine Reaktion von Müller und Schröder.
({3})
- Hören Sie doch einmal zu. Dann können Sie etwas
lernen.
({4})
Damit nicht genug: Die Inflation ist nach Deutschland
zurückgekehrt. Bei den Erzeugerpreisen ist der Anstieg
mit fast 5 Prozent so hoch wie seit 18 Jahren nicht mehr.
Schlichtweg - das muss einmal gesagt werden und ich
rede die Wirtschaft damit nicht herunter -: Die Wirtschaftslage in Deutschland ist ein einziges Desaster.
({5})
Was macht die Bundesregierung? Sie verweist auf ihre
ruhige Hand. Wirtschaftsminister Müller ignoriert die
dramatische Lage in der Bauwirtschaft und produziert
mittelstandspolitische Sprechblasen. Die Beschäftigungssituation beim Bau war noch nie so schlecht wie heute:
1995 gab es im Baugewerbe 1,4 Millionen Beschäftigte.
Heute sind es nur noch 940 000. Die Tendenz ist weiter
fallend.
({6})
Bei den Baugenehmigungen gibt es seit den 80er-Jahren
einen drastischen Einbruch. Der Umfang der Auftragsbestände im Bau ist so niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Umsätze und Investitionen sind stark
rückläufig.
In Deutschland blüht nur eines, nämlich die Schwarzarbeit. Letztes Jahr wurde in diesem Bereich ein Umsatz
von 658 Milliarden DM erzielt. Im Vergleich zur legalen
Wirtschaft wächst die Schattenwirtschaft dreimal so
schnell. Dreistellige Milliardenbeträge gehen an den öffentlichen Kassen vorbei. Die dramatische Situation der
Bauwirtschaft strahlt natürlich auf die Gesamtwirtschaft
aus. Der arbeitslose Bauarbeiter oder der arbeitslose Elektroinstallateur kauft keinen Kühlschrank und kein Auto.
Die negative Entwicklung ist im Wesentlichen auf die
falsche Politik der Bundesregierung zurückzuführen.
({7})
- Sie sollten nur dann schreien, wenn Sie eine Mindestahnung von dem Thema haben. Das würde Ihren Beitrag
interessanter machen.
({8})
Das Niveau der im Bundeshaushalt vorgesehenen Investitionen bewegt sich auf einem Nachkriegsrekordtief.
2005 sind nur noch 10,3 Prozent der Gesamtausgaben für
Investitionen vorgesehen. 1998 betrug der Anteil noch
12,5 Prozent, was wenig genug war. Die aus den UMTSErlösen finanzierten Infrastrukturmaßnahmen sind nur
ein Tropfen auf den heißen Stein.
({9})
Private Finanzierungsmodelle kommen nicht voran.
({10})
Bei uns in Nierstein zum Beispiel gäbe es die Möglichkeit, den Bau einer Brücke privat zu finanzieren. Das Investitionsvolumen ist beachtlich. Aber das ist nicht möglich.
({11})
Die Industrienation Deutschland lebt bei den Infrastrukturinvestitionen von der Substanz. Alleine der kommunale
Investitionsbedarf erreicht fast 1 000 Milliarden DM.
Lohndumping, Wettbewerbsverzerrungen und das Unterlaufen der VOB
({12})
interessieren die Bundesregierung einfach nicht. Sie
nimmt es mit ruhiger Hand zur Kenntnis. Des Weiteren ist
die Verschärfung des Mietrechts eine eindeutige Maßnahme gegen eine Belebung des Wohnungsbaus.
Die Hauptursache der wirtschaftlichen Misere in
Deutschland liegt darin: Die Arbeitnehmer verdienen
netto zu wenig und kosten brutto zu viel.
({13})
Das treibt die Menschen in die Schwarzarbeit. Legale Arbeit muss wieder bezahlbar werden. Die Fakten beweisen:
Sie sind auf dem Holzweg. Große Aktiengesellschaften
werden steuerlich massiv entlastet. Aber Arbeitnehmer
und Mittelstand werden vertröstet. Die neuen Abschreibungstabellen sind Gift für die Investitionstätigkeit. Fehlanzeige bei der versprochenen Senkung des Anteils der
Sozialversicherungsbeiträge am Bruttolohn auf unter
40 Prozent! Des Weiteren werden mit der Ökosteuer nicht
die Lohnnebenkosten gesenkt. Vielmehr wird nur umfinanziert. Sie muss weg.
Deswegen meine ich: Hören Sie auf, das Falsche
schnell und das Richtige spät oder gar nicht zu tun. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Statt sie abzulehnen, handeln Sie danach!
({14})
Für die
SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Klaus Brandner.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in
der Rede von Herrn Doss, der seit fast sechs Wahlperioden in diesem Parlament tätig ist, nichts von einem
schlechten Gewissen gehört. Er hat nur angeklagt. Aber
Sie, Herr Doss, sollten sich daran erinnern: Wer in 16 Jahren die Arbeitslosigkeit von 2 Millionen auf über 4 Millionen getrieben hat, der sollte eine solch scheinheilige
Rede, wie Sie sie gehalten haben, nicht halten.
({0})
Interessant ist im Übrigen, dass der CDU/CSU wieder
einmal nichts Besseres eingefallen ist und sie inhaltlich
scheinbar nichts anderes zu bieten hat, als schlecht zu reden und mies zu machen. Die gerade gehaltene Rede hat
das wieder einmal deutlich gemacht. Ich frage mich: Wo
bleibt Ihr Patriotismus für dieses Land, indem Sie das,
was positiv geschaffen worden ist, auch einmal anerkennen?
({1})
Meine Damen und Herren, ich will es ja nicht schönreden. Die Arbeitsmarktzahlen sind kein Grund zum Jubeln,
({2})
aber erst recht sind sie kein Grund für die Schwarzmalerei der Opposition.
({3})
Es ist zwar Ihr gutes Recht, so zu handeln, aber Sie tun damit der deutschen Wirtschaft keinen Gefallen. Sie wissen
selbst doch nur zu gut, dass die Erwartungen der Menschen in diesem Lande Einfluss auf die wirtschaftliche
Entwicklung haben. Mit übertriebenem parteitaktisch
motiviertem Pessimismus verschrecken Sie Konsumenten und Investoren gleichermaßen. Damit leisten Sie
nichts Positives für diese Gesellschaft.
({4})
Zu den Zahlen. Die Arbeitslosigkeit geht weiter zurück, nicht nur gegenüber dem Vormonat Mai, sondern
auch gegenüber dem Monat Juni 2000.
({5})
Nur der Abstand hat sich verringert. Der Zug fährt in die
richtige Richtung, wie Sie wissen, nicht rückwärts, wie
bei Ihnen, sondern vorwärts,
({6})
nur eben - das ist richtig - etwas langsamer als in den vergangenen Monaten.
({7})
In Ihrer Regierungszeit, also in der der CDU/CSU und der
F.D.P., ist er aber in die völlig falsche Richtung gefahren.
({8})
Meine Damen und Herren, Sie werden ja noch ein paar
Beispiele verfolgen können. Stellen Sie sich einmal vor:
Ein Auto fährt mit 100 Stundenkilometern nun einmal
schneller als mit 90 Stundenkilometern, auch wenn es
vorher einmal 110 Stundenkilometer gefahren ist. - Genau das ist die Situation, die Sie ansprechen.
({9})
Da können Sie mit Ihren rein abstrakten saisonbereinigten
Zahlen nicht überzeugen.
({10})
Noch wichtiger übrigens ist: Die Zahl der Arbeitsplätze
nimmt deutlich zu.
({11})
- Sie wollen doch der Statistik hier nicht Lüge unterstellen, Herr Niebel.
({12})
Wir zählen derzeit 38,5 Millionen Erwerbstätige. Das sind
235 000 mehr als vor einem Jahr. Diese Männer und
Frauen freuen sich über den neuen Job. Das können Sie
mit Zahlenspielereien, wie Sie, Herr Doss, es heute vorgetragen haben, nicht wegdrücken.
({13})
Wir werden unsere ganze Kraft voll darauf konzentrieren, die konjunkturelle Delle, in der wir uns befinden, zu
überwinden und die Geschwindigkeit im doppelten Sinne
wieder zu erhöhen, das heißt, den Abbau der Arbeitslosigkeit und den Aufbau der Beschäftigung zu beschleunigen. Ein unverdächtiger Zeuge hat dafür gerade ein klares
Signal gegeben. Die OECD sagt für Deutschland einen
Rückgang der Arbeitslosenquote von 7,3 Prozent in diesem Jahr auf 6,8 Prozent im nächsten Jahr voraus.
({14})
Wir bleiben bei unserer gemischten Strategie - der Kanzler hat das, wie Sie wissen, die ruhige Hand genannt - aus
Angebots- und Nachfolgepolitik; die ist richtig und notwendig.
({15})
Mit der kräftigen Erhöhung des Kindergeldes - 6 Milliarden DM im nächsten Jahr - werden wir die Familien
entlasten und damit einen deutlichen Schub für die Kaufkraft breiter Arbeitnehmerschichten in diesem Lande
auslösen.
({16})
Eine solche Kindergelderhöhung haben Sie in Ihren
16 Jahren nicht hinbekommen.
({17})
Meine Damen und Herren, die Grundlagen für eine
dauerhafte Verbesserung am Arbeitsmarkt sind gelegt.
Dazukommen soll aber noch eine Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz
werden wir einen weiteren Impuls für den Arbeitsmarkt
geben,
({18})
und zwar ohne auf ein kurzfristiges Aufblähen von Beschäftigungsmaßnahmen zu setzen, wie Sie es mit Wahlkampf-ABM vor der letzten Bundestagswahl getan haben.
Die Arbeitsämter setzen, wie Sie wissen, bereits heute
verstärkt auf Lohnkostenzuschüsse und Qualifizierung
und weniger auf ABM und SAM. Was manche Wissenschaftler heute vorschlagen, ist schon längst Realität und
wird von uns mit einem guten Programm bestätigt und beschleunigt.
({19})
Wir setzen bei unserer Reform der Arbeitsmarktpolitik
im Betrieb an, um Arbeitslosigkeit erst gar nicht entstehen
zu lassen. Durch Qualifizierung gerade der Älteren und
der Un- und Angelernten, die Sie völlig vergessen haben,
wird der präventive Schutz vor Arbeitslosigkeit erhöht.
Dies nenne ich eine nachhaltige und in die Zukunft gerichtete Politik. Diese werden wir systematisch weiter
verfolgen.
Für uns bleibt es dabei, dass die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unsere Hauptaufgabe ist. Rund 60 Prozent
der Bevölkerung sehen das genauso. Für sie ist Beschäftigungspolitik das Wichtigste in diesem Land und die dringlichste Aufgabe. 43 Prozent halten die SPD für die kompetenteste Partei in dieser Angelegenheit, meinen also, dass
die SPD das am ehesten schafft. Den Christdemokraten
trauen dies nur 28 Prozent der Bürger zu, meine Damen und
Herren, und das mit abnehmender Tendenz.
({20})
Die heutige Debatte - dessen bin ich mir sicher - dürfte
diese abnehmende Tendenz deshalb noch beschleunigen.
({21})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dirk Niebel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde ist
keine glückliche Stunde;
({0})
denn seit sechs Monaten steigt die Zahl der Arbeitslosen
saisonbereinigt wieder an. Allein in diesem Monat ist die
Arbeitslosenzahl saisonbereinigt um 22 000 gestiegen.
Sie haben gesagt, dass Sie sich an Ihrem Erfolg im Hinblick auf den Abbau der Arbeitslosigkeit jederzeit messen
lassen wollen. Offenkundig ist es notwendig, das hier jede
Woche wieder zu tun, weil Sie tatsächlich nichts tun, um
die Arbeitslosen in Beschäftigung zu bringen.
({1})
Die Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung ist seit fast
drei Jahren zum Spielball rückwärts gewandter Gewerkschaftsideologien geworden. Es ging mit den so genannten Reformgesetzen los. Sie haben den Kündigungsschutz
verschärft, was dazu geführt hat, dass Einstellungen in
kleinen und mittleren Betrieben viel schwieriger geworden sind.
({2})
Es ging mit den 630-Mark-Jobs, mit den so genannten
Scheinselbstständigen oder mit dem Teilzeitpflichtgesetz
weiter,
({3})
das nur dazu führt, dass gerade junge Frauen nicht mehr
eingestellt werden und weiterhin in der Arbeitslosigkeit
verharren.
({4})
VW hat gezeigt, dass die rückwärts gewandte Gewerkschaftsideologie in diesem Land Arbeitsplätze vernichtet
und verhindert. 5 000 Arbeitslose weniger würden für die
Bundesanstalt für Arbeit und damit für den Staatssäckel
Mehreinnahmen bzw. Minderausgaben in Höhe von
150 Millionen DM bedeuten. Dass es dazu nicht gekommen ist, ist Ihr Verdienst.
({5})
Die Ideologien von Rot-Grün führen dazu, dass immer
mehr verregelt, verwaltet und verriestert wird. Die
strukturellen Schwächen des Arbeitsmarktes werden nicht
angegangen.
({6})
Die Liberalen haben hier konkrete Vorschläge eingebracht. Wir brauchen eine Deregulierung des Tarifvertragsrechts, damit mehr Rechte in die Betriebe verlagert
werden; denn diejenigen, die im Betrieb arbeiten, wissen
besser als irgendwelche Verbandsfuzzis in irgendwelchen
Gewerkschafts- oder Arbeitgeberverbandszentralen,
({7})
wie sie ihre Arbeitsplätze sichern.
({8})
Wir brauchen für die Menschen, die sich in diesem
Land aufhalten dürfen, eine vernünftige Regelung für den
Zugang zum Arbeitsmarkt. Wer sich in diesem Land aufhalten darf, der muss für die Dauer des erlaubten Aufenthalts auch für seinen Lebensunterhalt selbst arbeiten dürfen. Dass das nicht so ist, haben Sie, die Roten, die Grünen
und die Schwarzen, verhindert.
({9})
Wir machen uns über eine vernünftige Zuwanderungsregelung Gedanken. Das ist richtig, notwendig und wichtig. Wir müssen uns darüber hinaus auch über diejenigen
Menschen Gedanken machen, die schon in diesem Land
sind.
({10})
Auch wenn Sie noch so sehr schreien, werden Sie in der
zukünftigen Diskussion nicht an einer Regelung dieses
Sachverhalts vorbeikommen.
({11})
Wir brauchen eine strukturelle Veränderung der Bundesanstalt für Arbeit. Von 83 000 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern sind sage und schreibe 10 000 im Bereich der
Arbeitsvermittlung beschäftigt. Wo sind wir denn hier?
Geht es nur darum, zu alimentieren und die Menschen am
Transfertropf zu halten, oder geht es darum, den Arbeitsmarktausgleich zu stärken?
({12})
Sie weigern sich strikt, unsere Vorschläge aufzunehmen, zumindest eine höhere Deckungsfähigkeit im Hinblick auf die arbeitsmarktpolitischen Leistungen einzuführen und langfristig zu einem Globalhaushalt zu
kommen, der selbstverständlich auch dazu führt, dass der
Personalhaushalt in diesem Globalhaushalt eingeführt
wird.
({13})
Ein solches Vorgehen sorgt dafür, dass man vor Ort entscheiden kann, ob es vielleicht sinnvoller ist, in Eckernförde eine ABM für 150 000 DM einzurichten oder einen
zusätzlichen Arbeitsvermittler einzustellen. Das kann in
Calw ganz anders gesehen werden. Da herrscht bei einer
Arbeitslosenquote von 3,5 Prozent übrigens fast Vollbeschäftigung. Das hat seine Gründe: Es liegt an den von der
Politik gesetzten Rahmenbedingungen. Sie haben die
Weichen immer exakt in die falsche Richtung gestellt.
Wir brauchen in diesem Land wieder ein Klima, das
dazu führt, dass es Spaß macht, Arbeitsplätze zu schaffen.
({14})
Ihre Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vergiftet
dieses Klima und sorgt dafür, dass die Menschen ihr Geld
lieber in Aktien investieren, ins Ausland tragen und auf jeden Fall nicht in Arbeit investieren. Wenn man so etwas
wie das erleben muss, was die IG Metall in Wolfsburg gemacht hat, dann wundert es einen beim besten Willen
nicht, dass in Ihrer Fraktion mittlerweile wieder die alte
Linke - 243 Angehörige Ihrer Fraktion sind Gewerkschaftsmitglieder - und nicht die Neue Mitte das Sagen
hat.
({15})
VW hat gezeigt, dass die Ideologien der alten Linken
dazu führen, dass Arbeitsplätze vernichtet oder nicht geschaffen werden. Die Öffentlichkeit erkennt, dass die
F.D.P. die Partei der sozialen Verantwortung ist - und das,
meine Damen und Herren, ist auch gut so.
Vielen Dank.
({16})
Ich gebe der
Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Herr Niebel, wir brauchen in diesem Land nicht das
Klima, das Sie uns aufgrund von Rekordverschuldung
und Rekordarbeitslosigkeit hinterlassen haben.
({0})
Lassen Sie mich mit einer Bemerkung frei nach Karl
Valentin beginnen: Herr Doss, was Sie hier gesagt haben,
war Stuss.
({1})
Herr Doss, was Sie uns hier vorgetragen haben, hat mit
der Realität nichts zu tun.
({2})
Sie beschreiben eine Situation, bei der von einem Wachstum von ungefähr 1,4 Prozent ausgegangen wird. Wir diskutieren also in einer Zeit, in der wir eine Wachstumsdelle
haben, dabei ist die Wachstumsrate vergleichbar hoch mit
der durchschnittlichen der 90er-Jahre. Alle Wissenschaftler und Prognosen sagen uns heute, dass wir allein in diesem Jahr über die von Ihnen so beklagte Wachstumsrate
hinauskommen werden.
({3})
Sie haben uns hier beispielhaft vorgeführt, dass Sie
Meister im Kaputtreden sind; Sie setzen sich jedoch nicht
ernsthaft mit der jetzigen Situation auseinander.
({4})
Sie behaupten, wir seien untätig. Was schlagen Sie uns
vor?
({5})
Sie schlagen uns zum Beispiel ein Konjunkturprogramm
auf Pump vor. Was bedeutet das?
({6})
Das bedeutet, dass weiterhin ungedeckte Schecks ausgestellt werden, die auch in Zukunft nicht gedeckt werden
können. Das bedeutet weiterhin eine Verschuldungspolitik, wie Sie sie in der Vergangenheit betrieben haben. Das
wollen wir nicht. Das bedeutet auch - Sie ignorieren übrigens die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge -, dass
Sie auf eine Strohfeuerpolitik setzen, die uns überhaupt
nicht weiterhelfen wird.
Was schlagen Sie weiter vor? Als Beispiel nenne ich
die Abschaffung der Ökosteuer. Was bedeutet das? Das
bedeutet zum Beispiel eine Steigerung des Beitrags zur
Rentenversicherung um 2 Prozentpunkte. Unterm
Strich reden Sie weiteren Lohnnebenkostensteigerungen das Wort. Das ist genau das, was Sie in der Vergangenheit bereits praktiziert haben. Gerade das wollen wir
nicht.
({7})
Wir haben bereits in den letzten zwei Jahren die Lohnnebenkosten gesenkt und wollen diesen Kurs weiter fortführen. Allen, die Bedenken haben, sage ich: Wir wollen
die weitere Senkung der Lohnnebenkosten nicht zulasten
der aktiven Arbeitsmarktpolitik durchführen.
({8})
Die Spielräume, die sich in diesem und dem nächsten
Jahr ergeben, wollen wir nutzen, um eine entsprechende
Senkung der Lohnnebenkosten zu erreichen. Diese Spielräume ergeben sich zum Beispiel dann, wenn die Beschäftigtenzahlen weiter steigen. Eine Steigerung um
1 Prozentpunkt bringt bereits eine zusätzliche Einnahme
in Höhe von 1 Milliarde DM.
({9})
Eine vorsichtig geschätzte 2-prozentige Lohnsteigerung
- positiv geschätzt - würde zusätzliche Einnahmen von
fast 2 Milliarden DM bringen. Allein die Senkung der Arbeitslosenzahlen auf etwa 3,5 Millionen würde weitere
Einsparungen in der Arbeitslosenversicherung bringen.
({10})
Wenn wir - das werden wir tun - am 1. Januar nächsten Jahres unser Job-Aqtiv-Gesetz in Kraft setzen, haben
wir gute Hebel, um die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit, die heute noch bei 35 Wochen liegt, zu senken.
({11})
Die Senkung der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit - wir wollen vor allen Dingen die Langzeitarbeitslosigkeit reduzieren - um eine Woche bringt bereits
1 bis 2 Milliarden DM.
({12})
Diese Spielräume wollen wir nutzen.
Sie schlagen uns eine Politik vor, die letzten Endes auf
Kosten der Systeme der sozialen Sicherung geht.
({13})
Zum Beispiel wollen Sie die Regelung der 630-MarkJobs abschaffen. Diese Politik würde dazu führen - auch
das schlagen Sie in Ihren Papieren vor; lesen Sie es einmal nach -, dass soziale Leistungen eingeschränkt werden
müssten.
({14})
Das wollen wir gerade nicht.
({15})
Wir wollen eine Arbeitsmarktpolitik, die Flexibilität und
soziale Sicherheit miteinander verbindet. Wir Grünen
schlagen ein Konzept der Flexicurity vor, das wir langfristig verfolgen wollen.
Der erste Schritt, den wir mit der rot-grünen Regierung
unternehmen, wird das Job-Aqtiv-Gesetz sein,
({16})
das viele Hebel bringen wird, um gerade die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt voranzubringen.
Ich danke Ihnen.
({17})
Ich erteile
dem Kollegen Dr. Klaus Grehn, Fraktion der PDS, das
Wort.
Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Herr Präsident! Ich stelle mir vor, was die Arbeitslosen in diesem Land gedacht haben, als sie den Titel der Aktuellen Stunde gelesen haben.
({0})
- Nein, Herr Niebel. Die Aktuelle Stunde ist ja von einer
bestimmten Fraktion eingereicht worden.
Herr Doss, was Sie hier vorgetragen haben, hat uns
nicht einen einzigen Arbeitsplatz gebracht.
({1})
Wenn wir jetzt jeden Tag über Arbeitsmarktpolitik oder
über den Arbeitsmarkt reden, dann entspricht das zwar der
Situation; aber wenn dabei nichts herauskommt, dann ist
das ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für dieses Parlament. Ich glaube, zu Recht erwarten die Arbeitslosen und
die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, dass, wenn das
Parlament darüber redet, auch etwas dabei herauskommt.
({2})
Für das, was jetzt geschehen ist, will ich ein paar Dinge
benennen. - Herr Doss - ich hoffe, Ihre vier Redner, die
noch kommen, werden Vorschläge machen -,
({3})
Sie sprechen von dem Versprechen des Bundeskanzlers,
die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen zu senken.
Okay, das hat er gemacht. Aber ich kann mich sehr gut an
ein Versprechen von jemand ganz anderem erinnern, der
einmal die Arbeitslosigkeit halbieren wollte.
({4})
- Ja, mit der Gewerkschaft zusammen. Aber nichts ist passiert.
Wenn Sie schon Schuldzuweisungen machen, dann
muss man sagen, dass die Situation auf diesem Arbeitsmarkt, wie sie ist, vor 1998 entstanden ist, und dass sie
sich auf ein Ausmaß hochgeschaukelt hat, das vorher nie
zu erahnen war. Das ist verbunden mit Tätigkeit bzw.
Untätigkeit der vormaligen Regierungskoalition. Ich
frage mich, was passiert wäre, wenn Sie weiterhin so tätig
bzw. untätig gewesen wären wie zu jener Zeit.
({5})
Ich will auch etwas zu dem wirtschaftlichen Desaster
sagen, das Sie dargestellt haben, Kollege Doss.
({6})
In Berlin würde man sagen: Kann es nicht für einen Groschen weniger sein? Ich glaube, dass das stark übertrieben
ist.
Kollege Niebel, der Vorwurf, nichts zu tun, stimmt
wahrlich nicht. Sie können kritisieren, dass nicht das
Richtige getan worden ist
({7})
- das verstehe ich aus Ihrer Situation sogar -, dass nicht
das getan wird, was Sie gern hätten. Aber der Vorwurf des
Nichtstuns stimmt nicht.
Sie haben in Ihrer Rede schwere Geschütze aufgefahren, mit denen Sie allerdings nicht die Arbeitslosigkeit im
Sinne des Abbauens beschossen haben, sondern Sie haben
Salut für die F.D.P. geschossen.
({8})
Aber statt Salut wurde ein Rohrkrepierer daraus, mehr
nicht.
Ich möchte allerdings, Kollege Brandner, auch sagen,
dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt nach den heutigen Zahlen in der Tat doch etwas ernster ist, als ich es Ihrer Rede entnommen habe. Ich nenne dazu die Ergebnisse: Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit erneut
gestiegen. Die Erwerbstätigkeit ist praktisch nicht vorangekommen - es gibt keine Veränderungen -,
({9})
und die Kräftenachfrage ist verhalten. Das alles sind Signale, die nicht gut sind und die uns herausfordern, etwas
dagegen zu tun.
Deshalb sollten wir nicht über Tätigkeit oder Untätigkeit streiten, sondern wir sollten unsere Programme vorlegen. In diesen Programmen sollten wir darstellen, wie
Inhalt und Effektivität der Arbeitsmarktpolitik, der Entwicklung von Arbeitsplätzen vorangebracht werden.
Aber, Kollege Niebel, wir haben dabei existenzsichernde
Arbeitsplätze im Auge.
({10})
Wir haben nicht einen Ausbau des Niedriglohnsektors im
Auge, der vielleicht Arbeitsplätze schaffen würde.
({11})
Wir haben auch nicht vor, einen der tragenden Eckpfeiler
dieser Gesellschaft, nämlich die Tarifpolitik, abzuschaffen.
({12})
Wir werden ja morgen erneut einen Antrag von Ihnen
diskutieren.
({13})
Lassen Sie uns, statt es zu zerreden, über Programme,
über Inhalte streiten. Lassen Sie uns das auch an die Betroffenen rüberbringen. Lassen Sie uns deutlich machen,
dass sich dieses Parlament in der Tat um die Schaffung
von Arbeitsplätzen müht und sich nicht in Selbstdarstellung oder in politischen Grabenkämpfen ergeht.
({14})
Wir haben, Kollege Niebel, morgen Gelegenheit, zum
Beispiel über den beschäftigungspolitischen Aktionsplan
der Bundesregierung zu reden.
({15})
Dort sind in den Säulen zwei bis vier viele Maßnahmen
aufgelistet. Damit können Sie einverstanden sein oder
nicht. Aber wenn Sie das kritisieren, dann bitte nicht, um
eine Partei zu kritisieren, sondern um die Maßnahme zu
kritisieren, und zwar in der Form, dass Sie bessere Vorschläge vorlegen, die akzeptabel sind.
({16})
Das glauben Sie doch nur selbst, Kollege Niebel; das
stimmt nicht.
Wir haben morgen Gelegenheit, darüber zu debattieren. Ich bin gespannt darauf, wer von Ihrer Fraktion reden
wird.
({17})
Wenn Sie es wieder sind, Kollege Niebel, hoffe ich, dass
Ihre Rede mehr Inhalt hat als Ihre heutige.
({18})
In diesem Sinne: Auf morgen, Kollege Niebel!
({19})
Das Wort erhält nun der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Gerd Andres.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Diese BundesregieDr. Klaus Grehn
rung hat seit dem Regierungswechsel entscheidende
Schritte zur Erneuerung Deutschlands getan.
({0})
Wir gestalten die Zukunft dieses Landes und wir ducken
vor den Problemen, die dieses Land ohne Zweifel hat,
nicht weg und das ist auch gut so.
Genau deshalb haben wir nach dem Regierungswechsel wie versprochen die Haushaltskonsolidierung eingeleitet; denn für uns ist Schluss damit, die Zeche, unsere
Zeche, zu prellen, und zwar auf Kosten zukünftiger
Generationen. Das ist sehr wohl unangenehm, aber unaufschiebbar. Jede vierte Mark in die Schuldentilgung und
in die Zinsen? - Nicht mit uns, kann ich dazu nur sagen!
({1})
Wir haben die größte Steuersenkung in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland auf den Weg gebracht.
({2})
Damit werden die Steuerzahler bis zum Jahr 2005 um insgesamt 95 Milliarden DM entlastet.
({3})
Über 60 Milliarden DM kommen den privaten Haushalten zugute, rund 30 Milliarden DM der Wirtschaft. Beides
stärkt das Wirtschaftswachstum und ist gut für neue
Arbeitsplätze,
({4})
die wir noch immer dringend nötig haben.
({5})
Wir haben die Lohnnebenkosten gesenkt. Was von allen gefordert wird, in jeder Sonntagsrede - die Aussagen
von Ihren Vertretern dazu kann ich überall nachlesen -,
wir haben es umgesetzt. So ist der Rentenversicherungsbeitrag von 20,3 Prozent im Jahre 1998
({6})
auf 19,1 Prozent in diesem Jahr gesunken.
({7})
Das bedeutet mehr Geld in den Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
({8})
das bedeutet mehr Spielraum für die Unternehmen, neue
Arbeitsplätze zu schaffen. Wir wollen diesen Kurs fortsetzen.
({9})
Aber noch wichtiger ist: Wir senken und stabilisieren
den Beitragssatz mit unserer Rentenreform langfristig.
({10})
Wir stellen sicher, dass der Rentenversicherungsbeitrag in
einem Zeitraum von zehn Jahren trotz der absehbaren demographischen Entwicklung nicht über 19 Prozent steigen wird.
({11})
Selbst innerhalb von 20 Jahren soll er nicht über 20 Prozent und im Jahre 2030 nicht über 22 Prozent ansteigen.
({12})
Unser Handeln ist auf Nachhaltigkeit angelegt. Es hilft
keinem, nun angesichts eines diffusen Straußes von unterschiedlichen Prognosen in Panik auszubrechen. Panikmache und das Schüren von Rezessionsängsten überlassen wir Ihnen von der Opposition. Viel Spaß dabei,
machen Sie weiter so!
({13})
Ich sage nur eines: Jetzt in kurzatmigen Aktionismus
zu verfallen und auf den Zug aufzuspringen, mit dem Sie
von der Opposition mit Ihrem Sofortprogramm, Ihrem
Zehn-Punkte-Programm,
({14})
zur Rettung der Konjunktur schon in die falsche Richtung
rasen, fällt uns nicht ein.
({15})
Wir werden unseren unter anderem im Bündnis für Arbeit eingeschlagenen Kurs beibehalten. Ich bin sicher, wir
werden auch in diesem Jahr wieder erleben, dass sich die
Tarifpartner auf beschäftigungsfördernde Tarifabschlüsse
einigen. Ich bin genauso sicher, dass sie - darüber haben
wir ja gestern diskutiert - gemeinsam neue Wege zur
Schaffung von Arbeitsplätzen gehen werden, auch bei
VW. Herr Niebel, machen Sie ruhig weiter so; Sie werden
schon sehen, was Sie davon haben.
({16})
Wir haben im Bündnis für Arbeit mit der Bekämpfung
der Massenarbeitslosigkeit Ernst gemacht. Nach gut
zweieinhalb Jahren sage ich: Wir sind auf einem guten
Weg.
({17})
Wer es sehen will, kann es sehen: Die Arbeitslosigkeit
sinkt
({18})
seit dem Regierungswechsel kontinuierlich Monat für
Monat.
({19})
Im Juni waren weniger als 3,7 Millionen Menschen ohne
Arbeit. Das sind noch immer viel zu viele; das gebe ich
gerne zu. Aber das ist der niedrigste Stand in einem Juni
seit 1995.
Ich darf Sie daran erinnern, dass im letzten Jahr Ihrer
Regierungszeit im Jahresdurchschnitt rund 4,3 Millionen
Menschen arbeitslos waren. Im Jahr 2000 waren es im
Jahresdurchschnitt unter 3,9 Millionen.
({20})
Diese Zahl sinkt weiter. Es bleibt dabei: Wir wollen und
werden nächstes Jahr die Zahl der Arbeitslosen weiter
deutlich reduzieren.
({21})
Nennen Sie solche Erfolgszahlen eine Krise?
({22})
Ich sage Ihnen, Herr Niebel, trotz Ihres ständigen Zwischengequakes voraus: Auch in diesem Jahr wird die Arbeitslosigkeit zurückgehen. Schauen Sie sich die Zahlen
aus der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung an: Da ist die
Arbeitslosigkeit Monat für Monat angestiegen. Das ist die
Wahrheit!
({23})
Hauptsächlich durch die Schaffung neuer Beschäftigung wurde die Arbeitslosigkeit gesenkt.
({24})
Die Jobmaschine Deutschland läuft. Von 1998 bis 2000
hat sich die Zahl der Erwerbstätigen um fast 1 Million erhöht.
({25})
Das Statistische Bundesamt hat mitgeteilt, dass die Zahl
der Beschäftigten bis zum April dieses Jahres - neuere
Zahlen liegen nicht vor - um über 235 000 gestiegen ist.
Schauen Sie sich Ihre Zahlen an! Sie sollten sich schämen!
({26})
Reden Sie keine Rezession oder Ängste in diesem Land
herbei!
({27})
Diese positive Entwicklung seit 1998 ist nicht wie
Manna vom Himmel gefallen. Die wirtschafts-, finanzund beschäftigungspolitische Gesamtstrategie dieser
Bundesregierung ist auf das zentrale Ziel der Schaffung
neuer Arbeitsplätze ausgerichtet.
({28})
Zu dieser Strategie gehören gezielte arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, zum Beispiel das Sofortprogramm zum
Abbau der Jugendarbeitslosigkeit oder die Förderung von
Modellprojekten zur Verbesserung der Zusammenarbeit
zwischen Arbeits- und Sozialämtern.
Ich stelle fest: Unsere arbeitsmarktpolitische Bilanz
kann sich sehen lassen. Sie ist eine Bilanz, von der Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, in
Ihrer Regierungszeit nicht zu träumen gewagt hätten.
({29})
Klar ist natürlich, dass nach wie vor viel zu viele Menschen arbeitslos sind. Deshalb legen wir keineswegs die
Hände in den Schoß. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bleibt nach wie vor ganz oben auf der Tagesordnung
unserer Politik. Deshalb werden wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente modernisieren.
Zentraler Schwerpunkt ist die Verbesserung der Arbeitsvermittlung. Ziel ist es, dass Arbeitslosigkeit nach
Möglichkeit erst gar nicht eintritt oder so rasch wie
möglich beendet wird. Die Arbeitsvermittlung ist das
wichtigste Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Drohender Langzeitarbeitslosigkeit muss durch ein frühzeitiges Erkennen des Risikos entgegengewirkt werden.
Durch rasche und auf den einzelnen Arbeitslosen zugeschnittene Maßnahmeangebote wird eine möglichst nachhaltige Eingliederung von Arbeitslosen in reguläre Beschäftigung unterstützt.
({30})
Mit dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung
zwischen dem Arbeitslosen und dem Arbeitsamt wird der
Grundsatz des Förderns und Forderns fair und für beide
Seiten akzeptabel umgesetzt.
({31})
Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
haben deshalb am Dienstag dieser Woche ein Eckpunktepapier für ein Job-Aqtiv-Gesetz beschlossen, mit dem die
arbeitsmarktpolitischen Instrumente modernisiert werden
sollen. Herr Niebel, ich kann Sie beruhigen: Ab September werden Sie als Oppositionsabgeordneter die große
Freude haben, sich mit dem entsprechenden Gesetzentwurf auseinander zu setzen.
({32})
Aussitzen statt handeln, das war Ihre Parole. Reformstau war das Wort des Jahres 1997. Handeln statt aussitzen, so lautet unsere Parole. Ich sage Ihnen noch einmal:
Wir werden Deutschland erneuern.
({33})
Meine Damen und Herren von der Union, lassen Sie also
die Kirche im Dorf! Bewahren Sie einen kühlen Kopf und
hören Sie mit der penetranten Miesmacherei auf!
({34})
Was wir gegenwärtig konstatieren müssen, ist eine
konjunkturelle Delle. Ausgehend von der Entwicklung in
den USA und Japan hat sich das weltwirtschaftliche Klima eingetrübt.
({35})
Deutschland als exportstarke Nation ist hiervon natürlich
betroffen. Dies schlägt sich auch auf dem Arbeitsmarkt
nieder.
({36})
In den letzten Monaten sind die Arbeitslosenzahlen deswegen nicht mehr so gesunken, wie wir das zusammen
mit den Experten erwartet hatten.
({37})
Aber die Arbeitslosenzahlen sinken immer noch und auch
in diesem Jahr erwarten wir im Jahresdurchschnitt eine
deutliche Abnahme der Arbeitslosigkeit.
Von einer Krise ist also weit und breit nichts zu sehen.
Die einzige Krise, die ich in Deutschland sehe, ist der innerparteiliche Zustand der Union, eine Krise, die da lautet: In Sachen Wir gegen uns geht es munter voran. Machen Sie ruhig weiter so! Ihnen traut sowieso niemand die
Führung dieses Landes zu. Da können Sie hier so viele
Aktuelle Stunden beantragen, wie Sie wollen. Denn die
Konzepte, die Sie vorschlagen, taugen nichts. Sie müssen
sich schon entscheiden, ob Sie die Neuverschuldung abbauen oder ein Konjunkturprogramm auflegen wollen.
({38})
Wir werden das auf alle Fälle nicht mitmachen.
Meine Empfehlung ist: Kühlen Kopf bewahren; das
fördert klare Gedanken.
Herzlichen Dank.
({39})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Ulrich Klinkert.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Titel der von der CDU/CSU beantragten Aktuellen Stunde sollte ursprünglich lauten:
Untätigkeit der Bundesregierung angesichts steigender
Arbeitslosenzahlen. Der Titel ist nun geändert worden in
Haltung der Bundesregierung ... . Ich finde dies richtig;
denn Untätigkeit kann man der Regierung eigentlich nicht
vorwerfen.
({0})
Im Gegenteil: Ihre Tätigkeit und Ihr Aktionismus sind für
die steigende Arbeitslosigkeit verantwortlich, die wir in
Deutschland zu verzeichnen haben.
({1})
Wenn man die weltfremden und wirklichkeitsfernen
Ansichten des Herrn Staatssekretärs Andres über die angeblich sinkende Arbeitslosigkeit hört, dann - ({2})
- Könnten Sie mich vielleicht einmal zu Wort kommen
lassen, meine Damen und Herren von der Opposition?
({3})
Herr Präsident, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie
dafür sorgen könnten, dass ich gegen die Zurufe der linken Krakeeler einmal zu Wort kommen kann.
({4})
Ich sage es noch einmal: Die weltfremden und wirklichkeitsfernen Ansichten des Herrn Staatssekretärs
Andres lassen Schlimmstes befürchten. Er geht - völlig an
der Wirklichkeit vorbei - von sinkenden Arbeitslosenzahlen aus. Wahrscheinlich liegt das daran, Herr Andres, dass
Sie in Ihrer Zahlenkosmetik die 630-Mark-Jobs mit einrechnen. Aber davon lassen wir uns nicht täuschen.
({5})
An der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wolle er sich
messen lassen, tönte Gerhard Schröder vor und nach den
Wahlen 1998 - vor allem in den neuen Bundesländern. In
der ersten Euphorie ging man sogar von 3 Millionen Arbeitslosen aus; das wurde schnell auf 3,5 Millionen korrigiert.
({6})
Inzwischen sind wir allerdings auf dem Weg, dass 4 Millionen Menschen in Deutschland die Chance auf einen Arbeitsplatz kaputtgemacht wird.
({7})
Lassen Sie mich in der kurzen Zeit auf einige wenige
Ursachen eingehen. Die alte Bundesregierung hatte eine
Reihe von Maßnahmen, auch von unbequemen Maßnahmen, auf den Weg gebracht, um die Lohnnebenkosten zu
senken und um Anreize für Investitionen zu schaffen.
Trotz der Blockade der Steuerreform durch Lafontaine
und Schröder - um einmal den Begriff Reformstau aus
dem Jahre 1997 mit Namen zu belegen, Herr Staatssekretär Andres - gab es 1997 und 1998 höhere Investitionen
und eine zurückgehende Arbeitslosigkeit.
Wenn Sie mir das nicht glauben, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, dann möchte ich Sie
fragen, wie Sie die Aussage von Gerhard Schröder aus
dem Sommer 1998 Dieser Aufschwung ist mein Aufschwung interpretieren. Leider währte dieser Aufschwung nur so lange, bis sich die rot-grüne Wirtschaftspolitik auf den Standort Deutschland auszuwirken
begann;
({8})
denn die Schröder-Regierung hat in einer Phase hervorragender wirtschaftlicher Rahmendaten Maßnahmen beschlossen, die die Konjunktur bremsten,
({9})
die D-Mark schwächten und Deutschland zum wirtschaftlichen Schlusslicht in der Euro-Zone gemacht haben.
({10})
Besonders dramatisch wirkt sich die rot-grüne Wirtschaftspolitik auf die neuen Bundesländer aus. Neben der
Abschwächung der Konjunktur haben die neuen Länder
unter einer Reihe von durch Rot-Grün beschlossenen
Kürzungen zu leiden,
({11})
insbesondere Kürzungen der GA-Mittel sowie Kürzungen
bei den Altlastensanierungen und bei den Infrastrukturmitteln zum Beispiel für den Straßen- und für den Schienenbau. Der Mittelstand leidet unter einer nie da gewesenen Kaufkraftvernichtung, hervorgerufen durch Ökosteuer und Rentenbetrug.
({12})
Was unternimmt die Bundesregierung? - Die Bundesregierung unternimmt nichts. Sie sieht stattdessen tatenlos zu, wie Hunderttausende junger Menschen die neuen
Bundesländer verlassen müssen, um eine berufliche Zukunft zu haben.
({13})
Trotz dieser Wanderbewegungen ist in den neuen Bundesländern kein Absinken der Arbeitslosigkeit zu spüren;
im Gegenteil. Da sie, Frau Wittig, sich gerade lautstark
äußern, muss ich Sie fragen: Wie erklären Sie, dass es in
unserem Arbeitsamtsbezirk 10 000 Arbeitslose mehr als
1998 gibt?
({14})
In den neuen wie auch in den alten Bundesländern
müssen wir steigende Lohnnebenkosten verzeichnen, verursacht durch die populistische Rücknahme von Entscheidungen der alten Bundesregierung.
({15})
Dabei bin ich mir sicher: Jeder der fast 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland würde lieber ein paar Mark
mehr für Medikamente ausgeben oder im Falle von
Krankheit lieber einige Wochen mit 80 Prozent Krankengeld auskommen, als dauerhaft von 63 Prozent Arbeitslosengeld oder gar von Arbeitslosenhilfe leben zu müssen.
({16})
Herr Kollege Klinkert, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum
Schluss, Herr Präsident. - Die Reihe der Maßnahmen der
rot-grünen Bundesregierung ließe sich lange fortsetzen.
Wir haben Alternativvorschläge auf den Tisch gelegt.
({0})
Wir appellieren an Sie und an die Bundesregierung, im
Jahr 2002 die Arbeitslosenstatistik nicht durch eine erneute Zahlenkosmetik aus Ihrer Sicht zu verbessern, sondern endlich die Maßnahmen zu ergreifen, die die Menschen wieder in Lohn und Brot bringen.
Vielen Dank.
({1})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nunmehr der
Kollege Werner Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was
Sie hier führen, Herr Klinkert, ist eher eine Dauerdebatte
zu Wirtschaft, Wachstum und Konjunktur, eine ständige
Wiederholung dessen, was wir letzte Woche schon hatten.
Junge Leute würden sagen: Das nervt.
({0})
- Wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann und das
Ihr einziges Anliegen ist, dann tue ich das gern.
({1})
Nur hilft das, was Sie bringen, nichts. Sie machen keine
vernünftigen Vorschläge.
({2})
Diesmal kommen Sie über die Arbeitsmarktpolitik.
Das grandiose Zehn-Punkte-Programm, das wir letzte
Woche besprochen haben, ist ja zur Feinabstimmung in
die Union zurückgegeben worden; es enthält ein paar Unstimmigkeiten. Diesmal geht es in der Debatte um den Arbeitsmarkt. Schauen wir uns deswegen einmal an, was im
Moment auf dem Arbeitsmarkt los ist.
Das abgeschwächte Wirtschaftswachstum schlägt sich
auf dem Arbeitsmarkt nieder. Die Arbeitslosigkeit ist in
den letzten Monaten nicht wesentlich zurückgegangen;
wir haben momentan 3,7 Millionen Arbeitslose. Das allerdings als Dramatisierung und als Alarmzeichen hinzustellen, wie Sie, Herr Doss und Herr Niebel, oder auch
Laurenz Meyer das tun, die einer Koalition angehörten,
die die Arbeitslosigkeit in den 90er-Jahren an die 5-Millionen-Grenze getrieben hat, ist unverantwortlich. Herr
Niebel, da können Sie reden, was Sie wollen. Aber vielleicht ist das auch einfach nur dumm.
({3})
Sie haben auch in der Opposition Verantwortung. Diese
Verantwortung kann nicht darin bestehen, dass Sie die Situation dramatisieren und dass Sie Panik machen.
({4})
Ich verstehe sehr wohl, dass Übertreiben anschaulich
macht. Aber Sie übertreiben nicht, sondern betreiben Panikmache. Das ist der eigentliche Punkt.
({5})
Sie legen uns ein Konjunkturprogramm vor, das sämtliche Wirtschaftsinstitute ablehnen, das Herr Jagoda ablehnt und das man im Grunde genommen nur ablehnen
kann, weil es die falsche Antwort auf die Situation ist, die
wir haben. Sie betreiben aus purer Angriffsfreude gegenüber der Regierung eine falsche Analyse, weil Sie die konjunkturelle Abschwächung gerne dieser Bundesregierung
in die Schuhe schieben möchten. Sie koppeln die globale
Vernetzung, die wir haben, die Tatsache, dass wir viel
stärker von der US-Leitkonjunktur abhängig sind, als das
manche Wirtschaftsinstitute geglaubt und prognostiziert
haben, völlig aus.
({6})
Sie führen permanent Diskussionen in dem gleichen
Rhythmus, wie Wetterprognosen erstellt werden, und hinken genauso hinterher.
({7})
Im Endeffekt bieten Sie strukturelle Antworten auf ein
konjunkturelles Übergangsphänomen an. Das ist völlig
falsch. Ich nenne dazu Beispiele. Fangen wir mit dem
Hauptpunkt an: Sie fordern das Vorziehen der zweiten und
dritten Stufe der Steuerreform. Sie haben diese Steuerreform, die Sie jetzt gar nicht schnell genug bekommen können, vorher in Bausch und Bogen abgelehnt. Dies ist
schon ein Widerspruch in sich.
({8})
Wenn wir - Herr Uldall, Sie sind wirklich Experte und
hören im Gegensatz zu einigen, die sich vorgenommen
haben, diese Aktuelle Stunde durch Zwischenrufe zu
stören, auch zu ({9})
die zweite und dritte Stufe der Steuerreform vorziehen
würden, müssten wir die Nettokreditaufnahme erhöhen
und würden die Maastrichtkriterien tangieren. Es würde
zu Neuverschuldungen kommen und die Inflationsrate,
die Sie ohnehin für zu hoch halten - was richtig ist; diese
Sorge teilen wir -, in die Höhe treiben. Auch die moderate Lohnpolitik wäre nicht mehr möglich, weil die Gewerkschaften zu Recht auf eine sozial gerechte Anpassung drängen würden. Mit einem Vorziehen der weiteren
Stufen der Steuerreform würden wir Benzin ins Feuer
gießen.
({10})
Zur Ökosteuer: Der Benzinpreis ist übrigens wieder
gefallen. Es ist interessant, dass dies von Ihnen überhaupt
nicht thematisiert wird. Mit der Ökosteuer haben wir den
Lenkungseffekt erreicht, den wir uns versprochen haben,
dass nämlich die Kraftfahrer in Deutschland mit Benzin
wesentlich sparsamer umgehen.
Die Wirtschaft würde sich im Übrigen bedanken, wenn
wir die Ökosteuer abschaffen würden - aber nicht in dem
Sinne, wie Sie sich das vorstellen, denn die Wirtschaft
profitiert von der Ökosteuer,
({11})
weil dadurch die Lohnnebenkosten, speziell die Rentenversicherungsbeiträge, gesenkt worden sind.
({12})
Sie tun immer so und reden denen das ein.
({13})
Es ist im Grunde genommen jedes Mal die gleiche Masche: 630-Mark-Jobs, Betriebsverfassungsgesetz, Scheinselbstständigkeit, Teilzeitarbeit.
({14})
- Ja, ja. Es ist ein permanenter Evergreen, immer wieder
die gleiche Walze. Es bringt nur nichts.
({15})
Werner Schulz ({16})
Wir lassen uns im Moment nicht beirren. Wir brechen
nicht in irgendwelchen hektischen Aktionismus aus,
({17})
lassen uns nicht von solchen unausgegorenen Programmen wie die, die Sie vorgelegt haben, treiben.
Ich kann Ihnen versprechen: Wir werden dafür sorgen,
dass das Wachstum wieder steigt, die Inflationsrate
zurückgeht
({18})
und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird, genauso wie wir
das in den letzten Monaten beharrlich getan haben.
({19})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Max
Straubinger.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich,
wie schnell es Rot-Grün geschafft hat, negative Spuren
auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland zu hinterlassen.
({0})
- Selbstverständlich, Herr Gilges. Es ist schon erstaunlich, wenn man hier feststellen muss, dass Deutschland im
Jahr 2001 das niedrigste Wirtschaftswachstum innerhalb
der EU aufzuweisen hat, dass nach den Prognosen in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von nur noch 1,2 Prozent zu erwarten ist und damit natürlich die Arbeitslosigkeit zunehmen und nicht abgebaut wird.
({1})
Wir haben bereits jetzt saisonbereinigt 50 000 Arbeitslose
mehr als zu Beginn dieses Jahres.
({2})
Die Regierung stellt sich untätig hin und sagt, wir sollen hier nicht auf Dramatik machen.
({3})
Ich finde das unverantwortlich gegenüber den arbeitslosen Menschen in unserem Land. Deshalb ist es erforderlich, eine andere Politik zu machen.
({4})
Angesichts dieser Entwicklung und der Prognose des
Ifo-Instituts, dass wir im Oktober dieses Jahres wieder
mehr Arbeitslose als im Oktober des letzten Jahres haben
werden, habe ich kein Verständnis für das ruhige Verhalten des DGB. Ich erinnere mich daran, dass es 1998 jeden
Monat Mahnwachen gegen die Arbeitslosigkeit gab.
({5})
Wo ist angesichts der hohen Arbeitslosigkeit heute der
Deutsche Gewerkschaftsbund?
({6})
Wir haben wegen einer verfehlten Politik bedauerlicherweise eine so hohe Arbeitslosigkeit in unserem Land.
Es wurde eine verfehlte Steuerreform durchgeführt, die
besonders den Mittelstand mit verschlechterten Abschreibungsbedingungen und Überregulierung belastet. Wenn
Finanzminister Hans Eichel immer wieder darstellt
- Staatssekretär Gerd Andres hat vorhin auch darauf hingewiesen -, dass es die größte Steuerreform aller Zeiten
gegeben hat,
({7})
so mag dies in den Auswirkungen möglicherweise für die
Großkonzerne richtig sein.
({8})
Wenn wir uns das Steueraufkommen ansehen, stellen wir
fest, dass der breite Mittelstand als Arbeitsbeschaffer der
Nation durch Belastungen zur Melkkuh der Nation geworden ist.
({9})
Ich frage mich: Was werden die Arbeitslosen über die
neue soziale Gerechtigkeit denken, wenn sie feststellen,
dass das Aufkommen aus der Körperschaftsteuer - die
Steuer der Großkonzerne - wegbricht, während das Aufkommen der Lohn- und Einkommensteuer auf dem gleichen Level bleibt? Die Menschen haben sich die soziale
Gerechtigkeit nicht so vorgestellt. Ich glaube, wir tun gut
daran, die Ökosteuer auf den Prüfstand zu stellen und zumindest die nächsten Schritte auszusetzen, wenn Sie
schon nicht dazu bereit sind, sie ganz abzuschaffen.
({10})
Herr Schulz, Sie haben vorhin davon gesprochen, Benzin ins Feuer zu gießen. Wir können uns Benzin angesichts dieser rot-grünen Politik nicht mehr leisten.
({11})
Wir haben aufgrund der politischen Entscheidungen,
die Rot-Grün herbeigeführt hat und die den Mittelstand
belastet haben, die geringsten Investitionen im wirtschaftlichen Bereich. Ich darf in diesem Zusammenhang
an den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, an die Einschränkung der Möglichkeit befristeter Arbeitsverträge,
an Änderungen beim Kündigungsschutz, an den vollen
Lohnfortzahlungsanspruch oder an die Neuregelung des
Betriebsverfassungsgesetzes erinnern. Das bedeutet, dass
die Großbetriebe mit einer Belastung von 10 bis 15 ProWerner Schulz ({12})
zent zu rechnen haben, während der breite Mittelstand
mit 40 Prozent belastet wird. Für Sie muss es doch ein
Alarmzeichen sein, wenn der ZDH ausrechnet, dass den
Handwerksbetrieben mit bis zu 50 Mitarbeitern - der
Beschäftigungsmotor in unserem Land - durch Ihre Gesetzgebung eine Mehrbelastung von 3 Milliarden DM
entsteht.
({13})
In der Politik ist ein Umkehren notwendig. Es kann für
Deutschland auch kein gutes Zeichen sein, wenn die SPD
kontinuierlich mit der PDS - einer Partei, die weiterhin
die Verstaatlichung der Betriebe fordert - zusammenarbeitet.
({14})
Eine solche Zusammenarbeit wird keine Vermehrung von
Arbeitsplätzen herbeiführen, sondern zur Arbeitsplatzvernichtung beitragen.
({15})
Die Ergebnisse einer solchen Politik können wir leider
Gottes jeden Monat an den Arbeitslosenzahlen - besonders für Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ablesen.
({16})
Wir fordern deshalb, dass die Steuerreform für den
Mittelstand und die Arbeitnehmer vorgezogen und eine
steuerliche Entlastung angestrebt wird. Wenn die Staatssekretärin im Finanzministerium, Frau Barbara
Hendricks, gestern gesagt hat, es sei gut, wenn in Amerika
die Steuerbelastung gesenkt werde, sage ich: Um wie viel
mehr müsste es dann gut sein, wenn bei uns die steuerliche Belastung gesenkt würde.
({17})
Herr Kollege,
nun muss es aber auch mit Ihrer Redezeit gut sein.
Frau Präsidentin, ich
komme sofort zum Schluss. - Es ist meines Erachtens
auch wichtig, dass in Zukunft auf die Meinung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gehört wird.
Geben Sie der Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt eine
Chance und strangulieren Sie nicht den Arbeitsmarkt.
Dann werden wir in unserem Lande wieder mehr Arbeitsplätze haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon bemerkenswert, mit welchen Mitteln die Union die Situation am Arbeitsmarkt für
sich ausschlachten will. Die Christdemokraten rufen nach
milliardenteuren Maßnahmen, ohne der staunenden Öffentlichkeit zu erklären, wie das eigentlich finanziert werden soll.
Jetzt verlangt die Union, dass die nächste Stufe der
Steuerreform vorgezogen wird - einer Steuerreform, gegen die sie im vergangenen Jahr gehetzt hat und die auch
Herr Straubinger eben wieder kritisiert hat. Vielleicht
können Sie sich innerparteilich einmal einig werden, was
Sie eigentlich wollen.
({0})
Das Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform kann
schlicht und ergreifend niemand bezahlen. Jeder - aber
wirklich jeder - weiß, dass es zur Konsolidierung der
Staatsfinanzen keine Alternative gibt. Auch Merkel, Merz
und Meyer wissen das; aber politische Glaubwürdigkeit
und Seriosität spielen bei diesem Dreier ohne Steuermann
ganz offensichtlich keine Rolle mehr.
Der Konsolidierungskurs ist nicht zu verwechseln mit
einer sturen Sparpolitik. Wir betreiben konstruktive Arbeitsmarktpolitik und die Förderinstrumente werden laufend auf ihre Effektivität hin überprüft.
({1})
Das gilt insbesondere für das Programm zur Bekämpfung
der Jugendarbeitslosigkeit.
({2})
Damit wurde Hunderttausenden von Jugendlichen geholfen. In den Jahren 1999 und 2000 wurden mehr als
268 000 Jugendliche mit diesem Programm gefördert; seit
Jahresbeginn sind mehr als 63 000 Jugendliche in Maßnahmen des Sofortprogramms eingetreten.
({3})
Dieses Programm ist im Westen wichtig. Im Osten ist
dieses Programm unverzichtbar. Ohne das JUMP-Programm wäre es bei uns in Ostdeutschland zu einer sozialen Katastrophe gekommen,
({4})
eben weil die Situation im Osten so ungleich viel schwieriger ist, eben weil die Arbeitslosigkeit in den strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands doppelt so hoch ist
wie im Westen. Die Jugendlichen dürfen nicht im Stich
gelassen werden - und wir lassen sie nicht im Stich. Genau deshalb gehen seit Jahresbeginn 50 Prozent der Mittel für das JUMP-Programm in die neuen Länder. Derzeit
kommen mehr als 50 Prozent aller Teilnehmer am JUMPProgramm aus Ostdeutschland. Das ist aktive Arbeitsmarktpolitik für junge Leute.
({5})
Wir wollen, dass jeder eine Chance erhält. Die jungen
Leute nutzen diese Chance. Die Zahl der jungen Leute,
die Maßnahmen ohne Begründung ablehnen oder abbrechen, ist verschwindend gering. Das zeigt, die
Jugendlichen wollen eine Ausbildung, sie wollen arbeiten, sie wollen Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen.
Seit Jahresanfang können Arbeitsämter 5 Prozent ihrer
JUMP-Mittel für so genannte Mobilitätshilfen verwenden. Wegen der derzeit viel diskutierten Abwanderung aus
dem Osten erntet die Bundesregierung hierfür zum Teil
herbe Kritik. Aber selbstbewusste junge Leute sind zu allen Zeiten dorthin gegangen, wo sie ihre Chancen gesehen
haben. Es ist doch eine pure Illusion, zu glauben, dass alle
jungen Leute in absehbarer Zeit den Arbeitsplatz ihrer
Wahl am eigenen Heimatort finden könnten.
({6})
Bisher waren vor allem solche jungen Leute mobil, deren
Eltern sich das leisten konnten. Die Mobilitätshilfen
eröffnen diese Möglichkeit allen jungen Arbeitslosen.
({7})
- Auch das ist Herstellung von Chancengleichheit, Herr
Niebel. Genau das wollen wir: Chancengleichheit und
Gerechtigkeit.
({8})
Bisher erhielten ganze vier Jugendliche aus Westdeutschland Mobilitätshilfen aus dem JUMP-Programm,
im Osten waren es 1 784.
({9})
Auch das zeigt, wie dringend dieses Programm im Osten
gebraucht wird.
Aber ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie der
Vorgänger von Herrn Merz hier im Bundestag gegen das
JUMP-Programm agitiert hat. Anfang 1999 hat Herr
Schäuble die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit verhöhnt
({10})
als Programm, um Jugendliche ohne Beschäftigung ruhig zu stellen. Das ist Zynismus und Ihre Zwischenrufe
machen ebenfalls deutlich, dass es Ihnen nicht um das
Problem geht.
({11})
Herr Kollege
Niebel, lassen Sie die Kollegin doch einmal zu Wort kommen.
({0})
Zwischenrufe bedeuten nicht, dass man dauernd dazwischenruft. Sonst wäre es ja die Hauptrede.
({1})
Herr Schäuble hat das ganze Programm damals für völlig ineffektiv erklärt und seine
Streichung verlangt, um 2 Milliarden DM im Jahr zu sparen. Das ist die Wahrheit.
({0})
An diesem Denken und an dieser Herzlosigkeit hat sich das zeigt auch die heutige Aktuelle Stunde wieder - bei
der Union und ganz offensichtlich auch bei der F.D.P.,
nichts, aber auch gar nichts geändert.
({1})
Sie wissen ganz genau, dass die grundsätzlich positive
Entwicklung in der ostdeutschen Wirtschaft und auf dem
ostdeutschen Arbeitsmarkt vom Abbau der Überkapazitäten in der Bauwirtschaft überdeckt wird. Diese Überkapazitäten sind zum Teil durch die verfehlte Förderpolitik
in Ihrer Regierungszeit entstanden.
({2})
Ich muss hier noch eine Bemerkung zum Kollegen
Merz und zum Berliner Wahlkampfauftakt der CDU loswerden. Ich verurteile wie die ganze SPD, dass auf dem
Alexanderplatz mit Eiern geworfen worden ist.
({3})
Wir haben damals im Osten vor und während der Wende
für Demokratie und Gewaltfreiheit sowie dafür gekämpft,
dass jeder überall seine Meinung sagen kann. Gewalt
kann und darf kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein. Aber ich empfinde es schon als sehr schwierig,
dass der Kollege Merz auf dem Alexanderplatz von Gesindel gesprochen hat,
({4})
das er in Deutschland nicht mehr sehen wolle. Das halte
ich auch dann für sehr unangebracht, wenn er das in persönlicher Erregung gesagt hat.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Manfred Grund.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
gerne zum Thema dieser Aktuellen Stunde, zur Situation
am Arbeitsmarkt und zur Situation der Arbeitslosen,
zurückkommen.
({0})
In der Aktuellen Stunde der letzten Woche ging es um
die drohende Schließung des Adtranz-Werkes in Brandenburg und damit um das mögliche Aus für 2 500 Arbeitsplätze und die existenzielle Not von 2 500 Familien.
Die Bundesregierung war in der letzten Woche durch den
Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr, Bauund Wohnungswesen, Stephan Hilsberg, vertreten, der
sich die Sorgen der betroffenen Menschen durchaus zu Eigen gemacht hat, letztendlich aber nichts gesagt hat, was
den Menschen in irgendeiner Weise hätte eine konkrete
Hoffnung geben können. Hilsberg beendete seine Rede
mit dem bemerkenswerten Satz:
Ich wünsche Ihnen bei den Bemühungen um den
Standort viel Glück.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch heute haben wir außer leeren Worthülsen - Staatssekretär Andres
sprach von Panikmache, Frau Dückert von einer Wachstumsdelle, in der wir uns befänden, und der Kollege
Schulz von Übergangsphänomenen, die es zu bekämpfen
gelte - von der Regierung und den sie tragenden Fraktionen nichts zur Situation am Arbeitsmarkt gehört.
({1})
Ich muss Sie schon fragen, ob Sie, die letzte Woche und
heute zusammengenommen, tatsächlich von allen guten
Geistern verlassen sind, dass Sie außer Floskeln und vielleicht noch einem warmen Händedruck zur Situation der
von Arbeitslosigkeit Betroffenen überhaupt nichts mehr
zu sagen haben.
({2})
Sie verweisen gern darauf, dass Sie 1998 eine fürchterliche Erblast übernommen hätten
({3})
und dass Sie das größte Steuerprogramm aufgelegt hätten.
Die Regierung unter Helmut Kohl hat zwischen 1983 und
1989 die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland von
26 Millionen auf 29 Millionen gesteigert. Das war in Verbindung mit der Steuerreform das größte Wachstumsprogramm für Arbeitsplätze, das dieses Land jemals erlebt
hat.
({4})
Nach drei Jahren Regierungsverantwortung von RotGrün, einer Verantwortung, die Sie auch ganz persönlich
tragen, sind diese 3,7 Millionen Arbeitslosen, um die es
heute geht, Ihre Arbeitslosen. Sie müssen sich daran messen lassen, was mit diesen Menschen geschieht.
Es gibt auch für einen Bundeskanzler kein Recht auf
Faulheit.
({5})
Wenn der Bundeskanzler, auf die Arbeitslosen zeigend,
meint, er könne unter ihnen besonders viele Faulpelze
ausmachen, dann weisen bei ausgestrecktem Zeigefinger
drei Finger auf ihn selbst zurück.
({6})
Es ist bei weitem nicht nur die Opposition, Herr Kollege Schulz, die das Nichtstun von Gerhard Schröder für
die Arbeitslosigkeit verantwortlich macht. Alle vergleichenden Gutachten der Europäischen Kommission in
Brüssel, des Internationalen Währungsfonds in Washington oder der OECD in Paris sagen unisono, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland strukturell bedingt und damit hausgemacht ist. Es war ganz einfach fahrlässig, sich
auf die amerikanische Konjunktur zu verlassen sowie allein auf die Exportnachfrage zu setzen und damit die in
diesem Land durchaus notwendigen strukturellen Reformen zu vernachlässigen.
({7})
Jetzt, da die Auslandsnachfrage zusammenbricht, die
Binnenkonjunktur durch Ökosteuern und Sozialabgaben
abgewürgt ist, wird auch klar, dass weder von der Konjunktur noch von der Tarifpolitik irgendein den Arbeitsmarkt entlastendes Moment zu erwarten ist.
Die interessierte Öffentlichkeit hat übrigens lange
nichts mehr vom Bündnis für Arbeit gehört.
({8})
Aber wären denn 5 000 Arbeitsplätze bei VW in Wolfsburg, auf die sich schon 10 000 Arbeitslose beworben haben, nicht des Schweißes der Edlen im Bündnis für Arbeit
würdig?
({9})
Meine Damen und Herren, für 5 000 Arbeitsplätze zu
5 000 DM brutto würden in den neuen Bundesländern
Himmel und Erde in Bewegung gesetzt werden. Möglicherweise würden sogar die Gewerkschaften mithelfen,
damit diese Arbeitsplätze entstehen,
({10})
denn in den neuen Bundesländern, Frau Kollegin Gleicke,
wird die Situation am Arbeitsmarkt von Monat zu Monat
dramatischer. Der Osten sitzt allerdings sowohl beim
Bündnis für Arbeit als auch im Bundeskabinett am
Katzentisch.
Die Arbeitslosenquote liegt im Westen aktuell bei
knapp 7 Prozent, in den neuen Bundesländern bei 17 Prozent, also mehr als doppelt so hoch. Wir haben also eine
Ost-West-Kluft von 10 Prozent. Als Gerhard Schröder ins
Amt kam, betrug die Kluft zwischen Ost und West gerade
7 Prozent. Die Schere geht also dramatisch auseinander,
übrigens auch bei der Jugendarbeitslosigkeit.
({11})
Ich habe von Antje Hermenau einen Satz gelesen, der
die Situation beschreibt, in der sich manche der ostdeutschen Kollegen befinden. Sie hat mit Bezug auf die Bundesregierung gesagt:
Wir fühlen uns aufgegeben und abgeschrieben.
Dies wiederum veranlasste den für den Aufbau Ost im
Kanzleramt zuständigen Rolf Schwanitz zu der scharfsinnigen Analyse:
Wir sehen starke Bewegungen in gegensätzliche
Richtungen.
Es gibt tatsächlich starke Bewegungen, allerdings stark
fallende Bewegungen, und dies besonders im ostdeutschen Baugewerbe. Dazu zitiere ich aus der Presse meiner Heimat nur die Schlagzeilen dieser Woche:
Massenentlassungen bei Deuna-Zement, 103 Mitarbeitern steht Kündigung bevor.
Baustoffwerke AG in Teistungen vor dem Aus.
Weil vorhin von Panikmache die Rede war, weise ich auf
Folgendes hin: In ihrer Not wendet sich nun sogar schon
die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt an die
Oppositionsabgeordneten und fordert uns auf, gemeinsam
etwas gegen die arbeitsplatzvernichtende Politik im
Baugewerbe zu tun.
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bundeskanzler wollte sich an der Abnahme der Arbeitslosigkeit
messen lassen. Das ist hier mehrfach gesagt worden. Er
hat nicht gesagt, dass das Messgerät ein Vergrößerungsglas sein wird. Wenn man tatsächlich den Rückgang der
Arbeitslosigkeit suchen will, muss man eine Lupe zur
Hand nehmen. So kann verantwortliche Regierungspolitik in Deutschland nicht gemeint sein.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Dreßen.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Es wurde in der heutigen Debatte bereits ein
paar Mal von Kollegen aus der Opposition wahrheitswidrig behauptet, die Arbeitslosenzahlen seien in den letzten
Monaten weiter gestiegen.
({0})
Ich will Ihnen einfach die statistischen Angaben der Bundesanstalt für Arbeit vorlesen. Man kann diese Zahlen
übrigens immer nur im Vergleich zum entsprechenden
Vorjahresmonat interpretieren.
({1})
Im März 1998, als Sie am Ruder waren, gab es
4 623 393 Arbeitslose, im März 1999 waren es
4 288 493 Arbeitslose. Das entspricht einem Abbau um
rund 334 000. Im März 2000 waren es 4 140 000 - das entspricht einem Abbau um 147 000 -, im März 2001
3 999 000 Arbeitslose - das entspricht einem Abbau um
141 000.
({2})
Im Juni 2001 waren es 3 694 000 Arbeitslose, also noch
einmal rund 305 000 weniger. Was Sie uns hier erzählen,
stimmt also schlichtweg nicht.
Ich unterstütze voll, was der Herr Staatssekretär gesagt
hat: Die jetzigen Arbeitslosenzahlen sind uns natürlich
nach wie vor zu hoch; gar keine Frage. Wir tun da einiges.
Ihnen muss ich aber etwas zum Thema Rahmenbedingungen sagen.
Ich komme wie Sie aus Baden-Württemberg. In Baden-Württemberg hat man von 1950 bis heute
({3})
mit den Tarifparteien eine Verminderung der Arbeitszeit
von 48 Stunden auf 35 Stunden vertraglich vereinbart.
Wir haben - immer zusammen mit den Kolleginnen und
Kollegen - vernünftige Arbeitsbedingungen in den Betrieben geschaffen; wir haben die Arbeitszeiten verändert.
Ich muss Ihnen sagen: Es gibt über 2 000 Möglichkeiten,
die Arbeitszeiten zu gestalten. Von Inflexibilität kann man
überhaupt nicht sprechen.
({4})
In Baden-Württemberg gibt es die höchsten Löhne.
Ähnlich hoch sind sie in Bayern oder NRW, wo wir ähnliche Verhältnisse haben. Wir haben in Baden-Württemberg eine Arbeitslosenquote von 5 Prozent.
({5})
Aber in den neuen Bundesländern, wo Wildwestmanieren
herrschen, liegt die Arbeitslosigkeit bei 20 Prozent.
({6})
In diesen Ländern herrschen nicht die Rahmenbedingungen, die Sie gern bei uns kritisieren! Nehmen Sie einmal
zur Kenntnis, Herr Niebel: Ihr dummes Geschwätz bringt
uns wirklich nicht weiter.
({7})
Wir haben hier schon einiges von dem gehört, was
diese Regierung gemacht hat. Ich will das nicht wiederholen, sondern auf einige andere Punkte hinweisen. Wir
haben Geld zur Verfügung gestellt, um 50 000 Schwerbehinderte wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Diesen Behinderten, die es noch schwerer haben als andere,
haben wir wieder zu Arbeit verholfen.
Ich will noch einen zweiten Punkt nennen, der heute zu
kurz gekommen ist. Wir in der Politik müssen versuchen,
durch Forschung neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist die Windenergie. Herr Niebel, wir haben im
Bereich der Windenergie 35 000 Arbeitsplätze. Das ist so
viel wie in der gesamten Atomkraftindustrie. Obwohl die
Windenergie nur 2 Prozent des Stromverbrauchs ausmacht, bietet sie 35 000 Arbeitsplätze. Das heißt, wir haben in diesem Bereich neue Arbeitsplätze geschaffen.
Wenn wir uns vorstellen, dass die Windenergie vielleicht
auf einen Anteil von 10 Prozent kommen wird, kann man
ausrechnen, wie viele Arbeitsplätze hier geschaffen werden können.
({8})
Was noch hinzu kommt, ist, dass die Windindustrie im
Moment mehr Stahl als die gesamte Schiffsindustrie verbraucht. Sie sehen: Hier entstehen auch Aufträge für andere Industrien. Insofern glaube ich schon, dass wir durch
den Ausbau der alternativen Energien und durch Energiesparprogramme tatsächlich zusätzliche Arbeitsplätze
schaffen können.
Zum Schluss möchte ich noch etwas zu einem Thema
sagen, das heute schon ein paar Mal angesprochen worden ist: die Geschichte mit VW. Können Sie sich denn
nicht vorstellen, dass es einer Gewerkschaft, die in den
letzten Jahren immer dafür gesorgt hat, dass die Arbeit auf
mehr Schultern verteilt wird, schwer fällt, 42 Stunden in
der Woche für 5 000 DM arbeiten zu lassen?
({9})
Halten Sie es nicht für eine bessere Idee, mit dem Lohn
vielleicht um 500 DM herunterzugehen und auch die Arbeitszeit zu senken? Davon haben die Arbeitslosen etwas;
denn dann können wir mit den eingesparten Geldern statt
5 000 vielleicht 5 500 Menschen einstellen. Das wäre meines Erachtens eine sinnvolle Sache.
({10})
Man muss sich doch klar darüber sein, dass es den Gewerkschaften darum geht, mit den Betriebsräten zu vereinbaren, die Arbeit auf mehr Schultern zu verteilen,
damit Arbeitslose wieder in den Arbeitsprozess hineinkommen. Dazu erklären Sie, dass dies alles Humbug und
schädlich sei, was dort gemacht worden ist. Ich halte Ihre
Rede für einen Witz. Ich sehe auch Ihre Argumentation zu
den Arbeitslosenzahlen, die Sie gebracht haben,
({11})
als schlichtweg unseriös und unglaubwürdig an; dagegen
sprechen alle Tatsachen.
({12})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Birgit Schnieber-Jastram.
({0})
Vielen
Dank für Ihr Mitgefühl, Herr Brandner!
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sollten uns wirklich allen Ernstes anschauen, wie in
diesem Lande die Realität ist. Ich habe in dieser Debatte
bei den Rednern teilweise Realitätssinn vermisst.
Lassen Sie uns einmal über das reden, was heute veröffentlicht worden ist: die aktuellen Arbeitsmarktzahlen.
Sie sprechen doch eine sehr deutliche Sprache. Wenn ich
mich daran erinnere, dass die rot-grüne Bundesregierung
einen Aufbruch propagiert hat,
({0})
dann spiegeln für mich diese Arbeitslosenzahlen den Aufbruch nicht wider. Ich kann ihn nicht erkennen.
({1})
Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit ist trotz einer
großen Zahl von Menschen, die wegen ihres Alters in den
Ruhestand gehen, auf einem Höchststand. Dafür möchte
ich Ihnen drei Beispiele anführen.
Das erste Beispiel: Im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn ist Deutschland fast das Schlusslicht. Es
belegt den zwölften Platz. Nur drei anderen Staaten geht
es noch schlechter. Erschreckend ist auch, dass Deutschland das einzige Land ist, in dem die Arbeitslosigkeit angestiegen ist. Rot-Grün lässt grüßen.
({2})
Das zweite Beispiel: In den neuen Bundesländern ist
die Arbeitslosigkeit weiterhin mehr als doppelt so hoch
wie in Westdeutschland. Es reicht nicht aus, dass der Bundeskanzler im Sommer durch die neuen Bundesländer
reist. Hier ist vielmehr engagiertes Handeln gefragt.
({3})
- Herr Dreßen, Sie behaupten immer, dass er das täte.
Aber wir merken davon nichts.
Das dritte Beispiel: Saisonbereinigt ist nicht etwa, wie
von Rot-Grün behauptet, ein Rückgang, sondern sogar ein
Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen,
({4})
und dies bereits seit Jahresanfang.
Man könnte noch weitere Beispiele anführen, aber ich
habe immer wieder erlebt, dass die Bundesregierung solche Fakten hartnäckig ignoriert. Sie gehen immer mehr
dazu über, die Wahrheit völlig zu verschleiern. Hoffen Sie
eigentlich auf gutes Wetter und auf eine saisonbedingte
Verringerung der Arbeitslosigkeit? Alle führenden Experten erwarten inzwischen keine Trendwende auf dem
Arbeitsmarkt. Bereits seit Mitte letzten Jahres ist das
Wirtschaftswachstum so schwach, dass kaum positive
Beschäftigungsimpulse eintreten. So, wie es derzeit aussieht, wird die Arbeitslosigkeit am Jahresende sogar höher
sein als im Jahre 2000.
({5})
Dass Erfolge möglich sind, wissen Sie genauso gut wie
wir. Das zeigen die aktuellen Daten anderer Länder. Die
Niederlande beispielsweise weisen nur ein Drittel der
deutschen Arbeitslosigkeit auf. Das ist doch ein Grund,
einmal darüber nachzudenken, wie andere Länder das
schaffen.
({6})
Die Arbeitslosigkeit in Deutschland liegt sogar über
dem Durchschnitt derjenigen in der gesamten Europäischen Union bzw. der OECD. Auch innerhalb Deutschlands - Herr Dreßen, Sie sollten sich erinnern, dass in
Ihrem Heimatland Baden-Württemberg die CDU zusammen mit der F.D.P. in der Verantwortung ist - gibt es Erfolge. Das zeigen die allein von uns oder zusammen mit
der F.D.P geführten Bundesländer. Bayern und BadenWürttemberg beispielsweise weisen eine halb so hohe Arbeitslosigkeit wie im Bundesdurchschnitt auf.
({7})
Die dortigen Kollegen verstehen unsere Sorgen nicht.
({8})
Das zeigt: Ein echter, ein drastischer Rückgang der Arbeitslosigkeit ist möglich. Sie müssen nur Ihre Energien
nicht in die Verschleierung der Wahrheit, sondern in mutige Reformen stecken.
({9})
Sie haben übrigens hier mehrfach gezeigt, wie sehr
man Sie jagen muss. Mit unseren Anträgen zur Jobrotation, zu mehr Wettbewerb bei Qualifizierungsmaßnahmen, zum SGB III sowie mit unseren Initiativen zur
Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe
müssen wir Sie ständig antreiben, weil Sie nicht in die
Puschen kommen.
({10})
Ich bitte Sie: Machen Sie die Augen auf und nehmen
Sie die Realität zur Kenntnis.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Andrea Nahles.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fasse das konjunkturpolitische und arbeitsmarktpolitische Programm der
CDU/CSU und der F.D.P. wie folgt zusammen:
({0})
Erstens. Sie wollen Gesetze dieser rot-grünen Bundesregierung abschaffen. Zweitens: Sie wollen Gesetze dieser rot-grünen Bundesregierung vorziehen. Es ist ein Armutszeugnis, dass Sie nicht in der Lage sind, eigene überzeugende Konzepte vorzulegen, und dass Sie sich an uns
abarbeiten müssen, und das dann auch noch schlecht.
({1})
Herr Merz will das Gesetz zur Teilzeitbeschäftigung
abschaffen.
({2})
Das verrät den Geist Ihrer Arbeitsmarktpolitik: Die
Frauen sollen also doch zu Hause bleiben.
({3})
Sie wollen ihnen nicht die Chance geben, Beruf und Familie miteinander zu verbinden. Ich kann Ihnen nur sagen:
Das werden Ihnen die Frauen in diesem Lande danken!
Außerdem wollen Sie die Lohnnebenkosten senken.
Das hätten Sie in den 16 Jahren, in denen Sie regiert haben, machen können. Aber das haben Sie nicht getan.
Stattdessen sind die Lohnnebenkosten ständig gestiegen.
Dagegen, dass Sie die Lohnnebenkosten senken möchten,
ist zwar gar nichts einzuwenden. Aber gleichzeitig wollen
Sie die Ökosteuer abschaffen. Das geht nicht zusammen;
denn dann würden die Lohnnebenkosten sofort um 2 Prozent steigen. Das würde sich entscheidend negativ auf die
Wirtschaftskraft in diesem Lande auswirken.
({4})
Ferner polemisieren Sie die ganze Zeit gegen das
Betriebsverfassungsgesetz. Dazu möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Es mag für die F.D.P reichen, wenn Sie,
Herr Niebel, sich von einer Minderheit der Unternehmen,
die Angst vor einer guten Kooperation mit ihren Mitarbeitern hat, zum Lobbyisten machen lassen. Ich möchte
demgegenüber unterstreichen, dass die Betriebsräte und
Arbeitnehmer ein hohes Interesse an einer erfolgreichen
Unternehmenspolitik haben. Sie sind nicht das Problem.
Sie sind Partner bei der Lösung von Problemen in den Betrieben.
({5})
Frau Schnieber-Jastram, Sie brauchen uns nicht über
die Arbeitsmarktsituation zu belehren.
({6})
Der Rückgang der Arbeitslosigkeit setzt sich derzeit nicht
fort.
({7})
Wir nehmen das ernst. Aber bleiben Sie bitte auf dem Teppich! Unsere Zahlen zeigen einen Aufbau von Erwerbstätigkeit. Wir haben immer noch real 235 000 Arbeitsplätze geschaffen.
({8})
Das heißt: Wir sind im Plus, was die Erwerbstätigenzahlen in diesem Lande angeht. Das können Sie zur Kenntnis
nehmen oder bleiben lassen; die Fakten ändern sich dadurch nicht.
({9})
Sie haben eine Arbeitsmarktpolitik betrieben, deren Kreativität sich darin erschöpft hat, vor Wahlen WahlkampfABM zu schaffen. Sie haben lediglich eine reaktive Arbeitsmarktpolitik betrieben. Wir legen im Herbst eine
Reform zum SGB III vor.
({10})
Damit werden wir zum ersten Mal präventive Arbeitsmarktpolitik betreiben. Wir werden nicht warten, bis die
Leute in Langzeitarbeitslosigkeit stecken, sondern wir
werden den Leuten schon vorher Weiterbildung anbieten.
Auch dann, wenn sie älter als 50 Jahre sind, werden wir
ihnen eine Weiterbildung in Arbeit anbieten.
({11})
Wir werden - das ist entscheidend - die Vermittlung passgenau und individuell auf die Probleme zuschneiden, die
die einzelnen Arbeitslosen haben.
({12})
Das sind die entscheidenden Reformschritte, auf die wir
in Ihrer Regierungszeit lange gewartet haben.
Was mir besonders wichtig ist: Wir werden vor allem
auch in Ostdeutschland versuchen, die Arbeitsmarktpolitik stärker mit der Infrastruktur- und Strukturpolitik vor
Ort zu verzahnen, als es bisher möglich war, und somit
auch die Wirtschaftskraft und die Arbeitsmarktsituation
zu verbessern. Ich hoffe jedenfalls, dass uns das gelingt.
Wir werden alles tun, was dafür nötig ist.
Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik - das machen
wir. Wir wären auch froher, wenn uns die konjunkturpolitische Situation in diesem Land nicht ein Stück weit
zurückgeworfen hätte. Aber wir werden nicht mit dem zufrieden sein, was wir erreicht haben, sondern wir werden
unsere Anstrengungen verdoppeln.
({13})
Also: Schnallen Sie sich an! Ducken Sie sich! Sie wissen:
Ich bin immer noch Juso.
({14})
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 g sowie die
Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
5. a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das Kioto-Protokoll ratifizieren und umsetzen
- Drucksache 14/6542 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Dr. Peter Paziorek, Cajus Caesar, Marie-Luise
Dött, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
6. Weltklimakonferenz - Chancen für mehr
Klimaschutz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Agenda für eine Initiative Deutschlands zum
internationalen Klimaschutz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Birgit Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Solarbericht
- Drucksachen 14/4887, 14/4890, 14/1234,
14/6187 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Ganseforth
Bernward Müller ({1})
Birgit Homburger
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationales Klimaschutzprogramm
Fünfter Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe CO2-Reduktion
- Drucksache 14/4729 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3}) zu dem An-
trag der Abgeordneten Birgit Homburger, Marita
Sehn, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Börsenhandel mit Emissionszertifikaten in
Deutschland konkret vorbereiten
- Drucksachen 14/4395, 14/5588 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Ganseforth
Marie-Luise Dött
Birgit Homburger
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Horst Friedrich ({5}), Hans-
Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
CO2-Ausstoß im Gebäudebereich senken
- Drucksachen 14/660, 14/5302 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Formanski
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({6}) zu dem An-
trag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck,
Dr. Peter Paziorek, Dagmar Wöhrl, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Offensive zur Reduktion von CO2-Emissionen
im Gebäudebestand starten
- Drucksachen 14/4379, 14/5596 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Ganseforth
Dr. Reinhard Loske
Eva Bulling-Schröter
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Dr. Christian Ruck, Kurt-Dieter Grill,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Die 6. Vertragsstaatenkonferenz ({7}) muss
zum Erfolg führen - Für eine nachhaltige Entwicklungs- und Klimapolitik
- Drucksache 14/6439 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Initiative Deutschlands für einen Durchbruch
beim internationalen Klimaschutz
- Drucksache 14/6547 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Winfried Wolf, Rolf
Kutzmutz, Ulla Lötzer und der Fraktion der PDS
Klimapolitik international und national auf
eine neue Grundlage stellen
- Drucksache 14/6570 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Es gibt
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Staatsminister Hans Martin Bury.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit der am 16. Juli in Bonn beginnenden Klimakonferenz der Vereinten Nationen gehen die jahrelangen
Bemühungen um ein verbindliches Klimaschutzabkommen in die entscheidende Phase.
Der Bundeskanzler hat bei seinem Besuch in Washington deutlich gemacht, dass das Kioto-Protokoll gegenwärtig die einzige Basis für den weltweiten Klimaschutz
bildet. Die Bundesregierung hält deshalb am Kioto-Protokoll fest und setzt sich für den erfolgreichen Abschluss der
Klimakonferenz ein.
({0})
Dass Frau Merkel bei ihrem USA-Besuch Verständnis
für die amerikanische Position zeigt, stimmt mich allerdings nachdenklich.
({1})
Sie scheint alles vergessen zu haben, was sie als Umweltministerin noch für richtig hielt, und nicht nur das: Sie isolieren Deutschland in Europa, so wie Sie in der Außenund Sicherheitspolitik unser Land im Bündnis isolieren
wollen.
({2})
Das ist nicht nur Ausdruck mangelnder Regierungsfähigkeit. Der Sonderweg der Union ist eine Sackgasse.
({3})
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union haben in Göteborg erneut ihre Bereitschaft bekräftigt,
die in Kioto eingegangenen Verpflichtungen zur Verminderung der Treibhausgase zu erfüllen. Der Bundeskanzler wird
beim G-8-Gipfel in Genua mit seinen Kollegen aus der EU
darauf drängen, dass auch die anderen großen Industrieländer ihren Teil der Verantwortung übernehmen und damit in
Bonn der Durchbruch geschafft wird.
Von den Gegnern einer aktiven Klimaschutzpolitik
wird immer wieder behauptet, ein wirksamer Klimaschutz
vertrage sich nicht mit einer erfolgreichen wirtschaftlichen
Entwicklung. Das genaue Gegenteil ist richtig.
({4})
Für die Bundesregierung ist die Steigerung der Energieeffizienz ein Schlüssel zur Modernisierung der Volkswirtschaft.
({5})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Damit vermindern wir die Abhängigkeit von Ölimporten
und stärken unsere Wettbewerbsfähigkeit. Ein Quantensprung bei der Energieeffizienz, kombiniert mit einem
massiven Ausbau der erneuerbaren Energien - das ist die
Erfolg versprechende Doppelstrategie der Bundesregierung, das ist unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung. Von dieser Art Klimaschutz gehen wichtige Impulse für Wirtschaft und Beschäftigung aus.
({6})
Aus Anlass der Bonner Klimakonferenz wird auch
deutlich werden, wer nur wohlfeile Bekenntnisse für den
Klimaschutz abgibt und wer aktiv etwas zur Senkung der
CO2-Emissionen tut. An Bekenntnissen zum Klimaschutz hat es die frühere Bundesregierung nie fehlen lassen. Helmut Kohl hat in Rio weit reichende Beschlüsse
mit gefasst. Der Beitrag zur Erreichung dieser Ziele beschränkte sich auf den Zusammenbruch der ostdeutschen
Industrie.
({7})
Wir wollen blühende Landschaften nicht durch Deindustrialisierung, sondern durch Modernisierung. Ich
setze auf ein magisches Viereck aus Wachstum, Energieeffizienz, Ressourceneffizienz und Beschäftigung.
({8})
Mit konkreten Schritten kommen wir diesem Ziel näher:
Erstens. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz erweist
sich weltweit als das erfolgreichste Förderkonzept. In
keinem anderen Land drehen sich so viele Windräder wie
bei uns.
({9})
Zweitens. Mit der Biomasseverordnung schaffen wir
die Voraussetzungen dafür, dass sich in den nächsten zehn
Jahren die Stromproduktion aus Biomasseanlagen verfünffachen wird. Das ist für die Umwelt und für die Landwirtschaft gut.
Drittens. Mit der Wirtschaft haben wir eine anspruchsvolle Vereinbarung zum Klimaschutz getroffen, bis 2010
die CO2-Emissionen um 43 Millionen Tonnen zu reduzieren.
Viertens. Auch bei der Kraft-Wärme-Kopplung ist
uns der Durchbruch gelungen. Die Eckpunkte eines
Konzepts zur Modernisierung und zum Ausbau der KraftWärme-Kopplung wurden vom Kabinett gestern beschlossen. Fortschrittliche Technologien, wie Brennstoffzellen und Blockheizkraftwerke, werden besonders
gefördert.
Fünftens. Für die Sanierung des Gebäudebestandes
hat die Bundesregierung ein Milliardenprogramm aufgelegt. Damit werden Investitionen von rund 10 Milliarden DM angestoßen und 5 bis 7 Millionen Tonnen CO2
eingespart. Zugleich leistet das Programm einen wichtigen Beitrag zur Beschäftigungssicherung, vor allem in
Handwerk und Bauwirtschaft.
Sechstens. Der Benzinverbrauch sinkt. Die Bild-Zeitung - nicht gerade verdächtig, Propaganda für die ökologische Steuerreform zu betreiben - jubelte gestern ich zitiere -:
Auch die Autofahrer können den viel zitierten
Benzinhahn zudrehen - nur eben am anderen Ende
der Leitung.
({10})
Die Bundesregierung hat den Bereich Klimaschutz und
Energie als prioritäres Handlungsfeld einer nachhaltigen
Entwicklung festgelegt. In der vergangenen Woche hat
das Green Cabinet, der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung, weitere Projekte beschlossen und
auf den Weg gebracht. Wir wollen beim Ausbau der erneuerbaren Energien neue Wege gehen: Die Zukunft der
Windenergie liegt im Meer. Wir machen den Weg für die
Errichtung von Offshorewindanlagen frei. Solche Windparks können in 25 bis 30 Jahren rund 85 Terawattstunden
Strom liefern. Das entspricht der Stromproduktion von
acht Kernkraftwerken. Damit holen wir die erneuerbaren
Energien aus der Nische und ersetzen konventionelle
Kraftwerke.
({11})
Die Brennstoffzelle bringt den notwendigen Quantensprung bei der Energieeffizienz. Die Entwicklung im
Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien zeichnet vor, welchen Weg wir auch im Energiebereich erfolgreich beschreiten können. So wie wir vom
Großrechner über mittlere Datentechnik zu vernetzten
PCs und mobilen Anwendungen gekommen sind, so wollen wir von Großkraftwerkstechnologien zu einem Internet dezentraler Energieproduktion kommen.
Im Verkehrsbereich setzen wir auf Effizienzsteigerungen und auf neue Antriebssysteme. Ich möchte, dass das
erste wasserstoffbetriebene Auto in Deutschland in Serie
geht.
Es könnte uns in Deutschland, rein ökonomisch betrachtet, egal sein, wenn andere Staaten die Chancen dieser Zukunftstechnologien nicht wahrnehmen und freiwillig die erste Startreihe beim Rennen um die Märkte von
morgen räumen. Aber die ökologischen Folgen kennen
keine Grenzen. Wir werden uns deshalb dafür einsetzen,
dass die Bonner Klimakonferenz ein Erfolg wird - für
Wachstum, für Umwelt und für mehr Beschäftigung.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Paziorek.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-BundesStaatsminister Hans Martin Bury
tagsfraktion steht zum Kioto-Prozess. Wir wollten ihn und
haben ihn auch maßgeblich durch die damalige Umweltministerin, Frau Merkel, mitgestaltet.
({0})
- Ich komme noch dazu, weshalb wir dem Antrag nicht
zustimmen können. - Auch wir haben kein Verständnis
für die rigide Vorgehensweise der neuen amerikanischen
Regierung, die ihre Bereitschaft aufgekündigt hat, weiter
im Rahmen des Kioto-Prozesses zu verhandeln.
({1})
Dies ist die eine Seite des Problems.
Andererseits wird es langsam Zeit, im Vorfeld der Konferenz von Bonn, den Realitäten ins Auge zu sehen und
den Stand der internationalen Verhandlungen wahrzunehmen. Die Rede, die wir gerade von Ihnen, Herr Staatsminister Bury, gehört haben, hätten Sie vor vier Wochen
halten können, aber nicht wenige Tage vor der Klimakonferenz in Bonn. Die Realitäten sehen leider etwas anders aus, als sie eben von Ihnen beschrieben wurden.
({2})
Der große Fehler bei Ihrem Vortrag war nämlich, allein
eine auf Deutschland bezogene Nabelschau durchzuführen. Deshalb ist es wichtig, dass wir heute einmal fragen, wie die Realitäten wirklich aussehen.
Nachdem die Japaner haben erkennen lassen, dass sie
nicht bereit sind, dabei mitzumachen, die Amerikaner zu
einer Revision ihrer Haltung zu bringen - das ist ja wohl
die Nachricht der letzten Tage -, besteht keine Chance
mehr auf einen Kompromiss, der mithilfe der Japaner gegen die USA durchgesetzt werden könnte. Nun stellt sich
die Frage, ob wir, um den Kioto-Prozess weiter fortzusetzen, eine Koalition in Bonn gegen die Vereinigten Staaten zustande bringen können. Theoretisch ist das möglich.
Wenn wir es schaffen, eine Staatengruppe zusammenzubekommen, auf die 55 Prozent des CO2-Ausstoßes entfallen, ist das möglich. Das ist aber sehr riskant. Die
Parlamentarische Staatssekretärin hat ja gestern im Umweltausschuss geschildert, dass man, wenn man Russland, Japan und Europa zusammenzieht, gerade auf
57 Prozent des CO2-Ausstoßes kommt. Daran kann man
erkennen, wie riskant es ist, zu versuchen, eine Koalition
gegen die USA zustande zu bringen.
Natürlich ist es auch nach Ansicht der CDU/CSUBundestagsfraktion völlig falsch, wegen der schwierigen
Verhandlungslage von einer international abgestimmten
Klimaschutzpolitik Abstand zu nehmen. Wir wissen: Die
Bekämpfung des Klimawandels bzw. der Erderwärmung
hat keine Chance, wenn jedes Land für sich alleine Klimaschutzpolitik betreiben würde. Die Welt braucht somit
für eine wirklich erfolgreiche Klimaschutzpolitik eine gemeinsame Vorgehensweise. Alles andere bliebe Stückwerk.
({3})
Wenn wir dieses Ziel wirklich erreichen wollen, dann
stellt sich die Frage: Was soll in 14 Tagen die Grundlage
für die Verhandlungen in Bonn sein? Da sagen wir als
Erstes - Herr Bury, Sie haben die alte Nomenklatur weiter
fortgeführt; das ist falsch -: Wir Europäer dürfen nicht zu
Gefangenen unserer eigenen Maximalforderung werden.
({4})
Wenige Tage vor Bonn brauchen wir eine realistische Position. In Den Haag haben wir es doch erlebt. Dort sind
wir mit den Worten aufmarschiert: Wir Deutschen wollen
nicht einen Erfolg um jeden Preis. Das waren starke
Worte, die da vom Bundesumweltminister kamen. Was
war das Ergebnis? Die starken Worte haben nichts gebracht; die Konferenz in Den Haag ist vielmehr gescheitert. Wollen Sie das Gleiche für Bonn? Auch Sie wollen
das nicht. Sie müssen rechtzeitig ein besonders gutes Verhandlungsklima schaffen, damit sich in Bonn nicht Den
Haag wiederholt. Das ist doch das große Problem.
({5})
Wenn man sich den Antrag der rot-grünen Koalition
anschaut, dann hat man den Eindruck,
({6})
dass Sie überhaupt keine gemeinsame internationale Klimaschutzpolitik mehr anstreben.
({7})
Sie wissen, dass das schwierig ist, und wollen nun tatsächlich nur noch Ihre reine Lehre verbreiten und nehmen
dafür in Kauf, dass die Konferenz in Bonn genauso wie
die in Den Haag scheitert.
({8})
Wir sagen Ihnen: Eine solche Klimaschutzpolitik ist unverantwortlich.
({9})
Es ist notwendig, bei den Verhandlungen über noch offene Punkte aus dem Kioto-Prozess eine mittlere Linie
einzunehmen, die es uns einerseits erlaubt, den Prinzipien
und Zielvorstellungen des Kioto-Prozesses gerecht zu
werden, die aber andererseits so flexibel angelegt ist, dass
es tatsächlich in Bonn zu einer konstruktiven Lösung
kommt. Zur Bewältigung dieser wichtigen Aufgabe steht
in Ihrem Antrag nichts; Sie wiederholen nur die alten
Floskeln. Es ist aber wichtig und notwendig, dass wir
diese Aufgabe bewältigen. Von einer Flexibilität ist sowohl bei Herrn Trittin als auch bei vielen Umweltministern in der Europäischen Union leider nichts zu sehen.
Wir wissen zum Beispiel, dass der Vorschlag des niederländischen Umweltministers Pronk auch aus deutDr. Peter Paziorek
scher Sicht nicht in allen Punkten zufriedenstellend ist. Es
wäre aber ein positives Signal, einmal darüber nachzudenken, ob das nicht eine Verhandlungsgrundlage wäre,
um den Kioto-Prozess in Bonn erfolgreich zu Ende zu
bringen.
({10})
Bis gestern ist uns im Ausschuss gesagt worden - wenn
Sie mehr wissen, Frau Ganseforth, ist das vielleicht Ihrer
Nähe zum Regierungslager zu verdanken -, dies sei keine
geeignete Grundlage für die Verhandlungen in Bonn. Ich
sage ganz deutlich: Hier sollte sich die Europäische Union
endlich einmal bewegen.
({11})
Wir warnen davor, bei den Verhandlungen in Bonn zu
hoch zu pokern; denn dann könnte am Ende erneut das
negative Den Haager Ergebnis herauskommen. Die taktischen Fehler der Europäischen Union wie auch unseres
Umweltministers in Den Haag dürfen sich nicht wiederholen. Ziehen Sie deshalb Ihren Antrag zurück, den Sie
hier im Bundestag vorgelegt haben.
({12})
Er ist letztlich ein einziger Angriff auf eine Politik, die
auch wir von der inhaltlichen Zielsetzung her nicht für gut
halten - das sage ich noch einmal ganz deutlich -, würde
aber das Verhandlungsklima für Bonn ganz maßgeblich
beeinträchtigen. So werden Sie es niemals schaffen, dass
wir in Bonn eine Mehrheit für einen sinnvollen KiotoProzess zustande bekommen. Sie werden so auch den internationalen Klimaschutz nicht einen Zentimeter weiterbringen. Kommen Sie vielmehr zu einer soliden und
realistischen Verhandlungskonzeption zurück! Nur dann
hat die Europäische Union eine Chance, bei den internationalen Verhandlungen weiterzukommen.
Mit großen Worten allein, wie sie die Europäische
Union in den letzten Tagen von sich gegeben hat, kann
man keine glaubwürdige Klimaschutzpolitik betreiben.
Angesichts der rückläufigen CO2-Reduktionszahlen in
vielen Staaten der Europäischen Union können Zweifel an
der Glaubwürdigkeit manch harter Klimaschutzposition
eines europäischen Staates angebracht sein. Manchmal
habe ich auch das Gefühl, dass von vielen europäischen
Staaten nur große Worte gemacht werden,
({13})
um von den eigenen Fehlentwicklungen abzulenken. Vor
dem Hintergrund der neuesten Zahlen kann man leider nur
feststellen: So geradlinig ist die Klimaschutzpolitik in
vielen anderen europäischen Staaten im Vergleich zu unserer eigenen Position auch nicht.
Herr Bury, vielleicht haben Sie sich als neuer Umweltminister versucht.
({14})
Wer weiß, welche Wechsel noch für das eine Jahr angedacht sind. Ich kann Ihnen nur sagen: Mit Ihren starken
Worten - ({15})
- Ja, was war überhaupt stark daran? Vielleicht hätte man
das stark vortragen können. - Mit einer solchen Rede
schaffen Sie es nicht, die Glaubwürdigkeit Deutschlands
vor der Konferenz in Bonn zu verbessern. Sie haben zwar
gesagt, Sie hätten im Kabinett dieses und jenes verabschiedet. Aber die Zahlen sprechen eine andere Sprache:
Der CO2-Ausstoß geht nicht weiter zurück. - Sie haben
auch im Kabinettsbeschluss zum Klimaschutz Vorgaben
gemacht, in welchen Bereichen wie viele Millionen Tonnen CO2 eingespart werden sollen. Ich bin einmal gespannt, ob sich die deutsche Realität danach ausrichtet,
was Sie im Kabinett beschlossen haben. Ich habe vielmehr
den Eindruck, Sie haben dies beschlossen, um für die aktuelle Diskussion überhaupt ein Zahlengerüst zu haben.
Sie haben im Augenblick noch kein wirklich belastbares Energiekonzept, das die großen Fragen, wie der
CO2-Ausstoß in Deutschland langfristig sinnvollerweise
reduziert werden kann, beantwortet. Sie haben auch noch
kein Energiekonzept vorgelegt, das eine Antwort auf den
Atomausstieg geben kann. Es gibt da noch eine große Klimalücke. Deshalb kann man nur deutlich sagen: Wir in
Deutschland sind mit dieser rot-grünen Politik der letzten
Jahre leider in eine klimapolitische Sackgasse geraten.
Damit hat Deutschland auch an klimapolitischer Glaubwürdigkeit verloren.
({16})
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich nur
klar und deutlich sagen, dass folgende Positionen im Vorfeld der Klimakonferenz vertreten werden sollten:
({17})
Erstens. Die Europäische Union muss am erfolgreichen Abschluss des Kioto-Protokolls festhalten
({18})
und darf auch keine Aufweichung der Zielsetzung zulassen.
({19})
Sie muss aber - im Gegensatz zu dem, was in Ihrem Papier vorgesehen ist - flexibel verhandeln, damit in Bonn
tatsächlich eine Mehrheit für eine solche Zielsetzung erreicht werden kann.
({20})
Sie muss auch offen sein für seriöse und konstruktive
Vorschläge der USA. Wenn das jetzt in Bonn nicht einzuarbeiten ist, muss deutlich gemacht werden, dass wir
einen Nachfolgeprozess brauchen, der darauf ausgerichtet ist, dass auch die Amerikaner irgendwann wieder in
den Klimaprozess einsteigen.
Wenn ich Ihren Antrag sehe, kann ich nur sagen: Wir
müssen bei den Klimaverhandlungen von einer Position
der Eifersüchteleien wegkommen. Die Sache ist in den
letzten Wochen leider nicht so gelaufen, wie wir es uns gewünscht haben. Jetzt kommt es darauf an, dass wir ein
Verhandlungsklima schaffen, in dem sich alle beteiligten
Industrienationen wieder in den Kioto-Prozess einreihen
können.
Zweitens. Der Umfang der globalen klimapolitischen
Herausforderung zwingt national und international dazu,
die Reduktionsziele mit dem geringsten ökonomischen
Aufwand anzustreben. Dies bedeutet verstärkte Technologieforschung und Technologieoffenheit sowie die
Bereitschaft - auch da fehlen mir die Signale aus dem Regierungslager -, die flexiblen Instrumente so auszugestalten, dass von ihnen ein Anreiz zu internationaler Zusammenarbeit ausgeht.
Drittens. Die Entwicklungsländer sind schneller in die
Klimaschutzpolitik einzubeziehen, als es noch in
Kioto vorgesehen war. Dadurch können wir die Treibhausgasemissionen vielleicht mittelfristig stärker reduzieren.
Viertens. Die Entwicklungshilfe muss national wie
international wieder verstärkt werden. In diesem Bereich
gibt der jetzige Haushalt der Bundesregierung leider
ein ganz schlechtes Bild; denn Sie haben die Entwicklungshilfezahlen entgegen Ihren starken Worten reduziert.
Wir sagen ganz deutlich, Herr Trittin: Unterstützung in
der Sache, wenn es sinnvoll ist, immer. Deshalb sagen
wir: Verhandeln Sie in Bonn hart und überzeugend, aber
letztlich auch in Kenntnis der Tatsache, dass am rot-grünen Wesen das Kioto-Protokoll leider nicht wird genesen!
({21})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Lieber Herr Paziorek, bei manchen
Reimen schüttelt es denn einen. Ich finde eigentlich, dass
wir es gar nicht nötig haben, den Konsens, den wir in der
Frage des Klimaschutzes in der Bundesrepublik quer
durch alle Parteien haben - das ist der entscheidende Unterschied zu den USA -, hier mit so schlechter Literatur
zu zerreden.
({0})
- Herr von Klaeden stimmt mir zu; ich freue mich.
Sie haben gesehen, dass die schleswig-holsteinische
Landesregierung dieser Tage eine halbe Milliarde DM zur
Verfügung gestellt hat, weil sie aufgrund der Erkenntnisse
des Wissenschaftlergremiums zum Klimawandel festgestellt hat, dass sie die Deiche in ihrem Land einen halben Meter höher setzen muss, weil damit zu rechnen ist,
dass der Meeresspiegel aufgrund der Klimaentwicklung
ansteigt. Das ist eine der merkwürdigsten Formen des Klimaschutzes, die wir zurzeit erleben. Wir müssen als Folge
einer Wirtschaftsweise, die ungebremst weltweit zu einem CO2-Anstieg führt, Geld ausgeben, um Deiche zu
bauen. Das ist nachsorgender Umweltschutz, das ist
schlechter Umweltschutz. Das ist genau das, was wir mit
dem Kioto-Protokoll zu vermeiden und zu verhindern
versuchen.
Das Wesentliche, der Kern des Kioto-Protokolls ist
nicht die einzelne Reduktionsverpflichtung. Der Kern des
Kioto-Protokolls ist ein völkerrechtlich verbindliches
Abkommen, das diejenigen, die die Hauptverursacher des
Problems sind - das sind nun einmal immer noch die Industriestaaten -, auffordert, tatsächliche Reduktionsleistungen zu erbringen. Darauf können wir auch Ihre Rede
zusammenfassen; das ist Konsens hier im Hause.
Flexibel und fest heißt,
({1})
dass wir ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen
wollen, das sich nicht in kleinkarierter Manier über das
eine oder andere Detail ereifert, sondern im Ergebnis zu
wirklichen Reduktionen führt, und zwar nicht kurzfristig,
sondern langfristig. Das muss doch der Konsens sein.
({2})
Dies ist das Ziel, das wir auf der Klimakonferenz in
Bonn verfolgen werden.
({3})
Das ist das Ziel, auf das wir hinverhandeln. Das war übrigens auch der Gedanke, der dahinter stand, als wir noch
in der letzten Nacht der Konferenz in Den Haag einen
Kompromiss vorgelegt haben, in dem es den Japanern
ermöglicht wurde, die in Japan vorhandenen Senken auf
ihre Mengen an CO2 anzurechnen, was ihnen erlaubte, ihr
Problem zu lösen. Sie können sich darauf verlassen, dass
wir in Bonn in dieser Frage nicht anders verhandeln werden, als wir dies in Den Haag getan haben.
Eine Erschwernis ist hinzugekommen: Die USA haben
erklärt - das ist weder nachvollziehbar noch glaubwürdig -, dass sie das Kioto-Protokoll nicht ratifizieren werden; wir bedauern dies nachdrücklich. Man muss sich das
einmal klarmachen: 25 Prozent der weltweiten CO2Emissionen, die von den USAverursacht werden, sind das
größte Schlupfloch, über das wir je gesprochen haben.
Aber die Gegenfrage muss doch lauten: Sollen wir wegen dieses Ausstieges der USA die restlichen 75 Prozent
der CO2-Emissionen ohne Begrenzung lassen? Dazu sage
ich: Nein. Wir werden uns alle Mühe geben und uns anDr. Peter Paziorek
strengen müssen, die USA, die erklärt haben, sie wollten
freiwillig reduzieren, perspektivisch in den Kioto-Prozess
und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen zurückzuholen.
({4})
Aber wir als die Verantwortlichen dürfen uns nicht von einem Land daran hindern lassen, unseren Weg zum Klimaschutz fortzusetzen. Das ist doch die Linie.
({5})
Ich will nicht auf die einzelnen Debatten Bezug nehmen,
zum Beispiel darauf, ob wir durch diese Position an
Glaubwürdigkeit verloren haben oder nicht. So schlecht
scheint unser Standing in den internationalen Verhandlungen nicht zu sein.
Natürlich ist es richtig, dass dieser Weg schwieriger ist.
Dennoch sage ich: Wir sollten den Versuch machen, eine
Vereinbarung hinzubekommen, die es uns erlaubt, das
Kioto-Protokoll im Jahre 2002 tatsächlich in Kraft treten
zu lassen, was heißt, dass alle Staaten noch zehn Jahre
Zeit haben, bis die erste Verpflichtungsperiode abgelaufen ist. Wir haben damit vergleichsweise weniger Schwierigkeiten als andere. Eine Reduktion von 18 Prozent der
Treibhausgasemissionen haben wir umgesetzt. Dies um
drei Prozentpunkte auf 21 Prozent - das ist die im KiotoProtokoll geforderte Zahl - zu erhöhen, das kann man
schaffen. Aber in anderen Staaten, auch in Nachbarstaaten, sieht die Lage anders aus. Da kann ich vieles von
dem, was Sie, Herr Paziorek, gesagt haben, unterschreiben.
({6})
- Jetzt habe ich Herrn Müller verwirrt. Aber auch das
muss einmal sein.
Deswegen wird es bei der Frage - das muss ich an dieser Stelle betonen -, ob wir es schaffen, unser Ziel zu erreichen, auf der Konferenz in Bonn eine ratifizierbare
Vereinbarung hinzubekommen, auf Japan ankommen.
Ich rate, im Hinblick auf die Behandlung Japans sehr vorsichtig zu sein. Die japanische Regierung hat anlässlich
eines Besuches der EU-Troika in Japan erklärt, sie habe
noch nicht entschieden, wie sie das Problem löse, dass sie
auf der einen Seite sage, sie wolle das Kioto-Protokoll in
Kraft treten lassen, dass sie aber auf der anderen Seite
sage, sie wolle das am liebsten zusammen mit den Amerikanern machen. Ich erwarte, ehrlich gesagt, nicht, dass
die japanische Regierung dies vor der Bonner Konferenz
entscheiden wird. Denn es wird darauf ankommen, was
für Japan in dem auszuhandelnden Lösungspaket enthalten sein wird.
Aber ich denke schon, dass wir uns der Mühe unterziehen sollten, die japanische Regierung, die aus eigenen
Gründen, nämlich aus Gründen der Reduktionsverpflichtung, ratifizieren will, in die Situation zu bringen, dass sie
nur noch vor der Entscheidung steht: Soll wegen Japan
das erste große internationale Umweltabkommen scheitern, das mit dem Namen der japanischen Stadt Kioto verbunden ist? Das wird neben vielen anderen Fragen, zum
Beispiel, wie man mit flexiblen Mechanismen umgeht,
die Schlüsselfrage sein.
Selbstverständlich sind wir uns alle einig, dass das
Pronk-Papier - natürlich nicht die darin enthaltenen einzelnen Positionen, aber das Papier insgesamt - die Verhandlungsgrundlage dafür sein wird. Dies ist immer unsere Position gewesen. Die entscheidende Frage wird aber
sein, ob es uns gelingt, Japan dazu zu bewegen, zu dem
folgenden Bekenntnis, das Europa und Japan immer gemeinsam getragen haben, zurückzukehren: Wir brauchen
ein international verbindliches Abkommen, das zu wirklichen Reduktionen führt.
Lassen Sie mich zum Abschluss darauf hinweisen, dass
es in Bonn eine Aktion von Umweltverbänden geben
wird, die eine große Arche Noah bauen werden. Sie wollen damit mahnen, die Klimaverhandlungen zu einem Erfolg zu führen. Ich halte diese Mahnung für unterstützenswert. Dennoch sollten wir uns hier im Deutschen
Bundestag darin einig sein: Boote zu bauen und Deiche zu
erhöhen mag vielfach notwendig sein. Aber dies kann
nicht die einzige Antwort auf die größte umweltpolitische
Herausforderung auf diesem Globus sein. Deswegen
müssen wir in Bonn vom Verhandeln zum wirklichen
Handeln kommen. Ich denke, dafür gibt es in diesem
Hause einen breiten Konsens. Das ist erfreulich.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Klimaforschung weisen eindeutig darauf
hin, dass es einen Zusammenhang zwischen menschlicher
Aktivität und globaler Erwärmung gibt. Es mag zwar keinen endgültigen Beweis dafür geben. Aber die weltweit
verfügbaren Daten, Berechnungen und vor allen Dingen
die übereinstimmenden Aussagen der Mehrzahl von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen lassen keinen
anderen Schluss mehr zu.
Eine andere politische Option als unverzügliches Gegensteuern, als ein wirksamer nationaler und internationaler Klimaschutz lässt sich nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht vertreten. Deshalb bekräftigt die
F.D.P. das nationale Klimaschutzziel, die CO2-Emissionen in Deutschland bis zum Jahre 2005 gegenüber 1990
um 25 Prozent zu senken.
({0})
Die in Kioto festgelegten Minderungsziele für Treibhausgase sind aus unserer Sicht ein unverzichtbarer erster
Schritt in Richtung eines wirksamen internationalen Klimaschutzes. Deshalb kommt der Konferenz in Bonn eine
ganz besondere Bedeutung zu. Es gilt, den Weg frei zu
machen für die Ratifizierung des Kioto-Protokolls, um es
in Kraft zu setzen. Die Ablehnung des Kioto-Protokolls
durch die Regierung der USA war dabei ein schwerer
Rückschlag, den es zu überwinden gilt. Dazu ist es vor
allem nötig, zu vermitteln. Das heißt, einerseits den Gesprächsfaden mit den USA nicht abreißen zu lassen und
andererseits mit besonderem Engagement Verbündete für
den internationalen Prozess zu suchen
({1})
und Kompromisslinien zu erarbeiten.
({2})
Herr Trittin, ich will deutlich sagen: Regierung und
Opposition sind sich in Deutschland einig, dass es auf jeden Fall zu einer Reduzierung von Emissionen kommen
muss und dass die Industrieländer auch einen entsprechenden nationalen Beitrag zu leisten haben.
({3})
Auch wenn man das akzeptiert, muss man dennoch sagen,
dass in diesem Rahmen eine höhere Flexibilität möglich
ist als die, die von Ihnen in Den Haag an den Tag gelegt
wurde. Ich finde das, was heute über den Ticker gelaufen
ist, bemerkenswert. Demnach wollen Sie Japan entgegenkommen. Damit zeigen Sie Flexibilität. Wenn Sie das
tun, haben Sie unsere Unterstützung.
({4})
Die F.D.P. hat Sie unmittelbar nach dem vorläufigen
Scheitern der Konferenz in Den Haag aufgefordert, entsprechend aktiv zu werden. Dass Sie von der Koalition
diesen Antrag im Umweltausschuss abgelehnt haben und
ihn auch hier heute ablehnen werden, ist nicht weiter
schlimm. Schlimm für Deutschland ist allerdings, dass
Sie, Herr Trittin, diese Herausforderung nicht angenommen haben.
Der Bericht gestern im Ausschuss hat deutlich gemacht, dass Sie sich bilateral bemüht haben - zumindest
verglichen mit der Temperamentlosigkeit von vor Den
Haag. Immerhin haben Sie mit den USA geredet, wenn
auch erst nach der Konferenz der Minister in New York.
Es musste also erst eine Einladung von Herrn Pronk an
alle Umweltminister nach New York erfolgen, bis Sie es
für notwendig gehalten haben, Gespräche mit den USA zu
führen. Es wäre besser gewesen, Sie hätten vorher Kontakt aufgenommen.
({5})
Hinzu kommt aber, dass seitdem weitere Gespräche
Fehlanzeige sind. Ich finde das, was Sie gerade in Ihrer
Rede gesagt haben, völlig richtig: Wenn man die USA
zurückholen will, dann muss man intensive Gespräche
führen. Unter intensiven Gesprächen verstehe ich aber etwas anderes als das, was Sie bisher unternommen haben.
Das Bemühen anderer Länder, wie zum Beispiel Japans, die USA zu einer Rückkehr zum Protokoll zu bewegen, ist bei weitem intensiver, und das, obwohl Sie eine
besondere Verantwortung für diese Konferenz tragen; sie
findet schließlich in Bonn statt.
Stattdessen wurden die Parlamentarier im Umweltausschuss mehrfach dazu aufgefordert, ihre Kontakte zu nutzen, um international Fortschritte zu erzielen. Das hat die
F.D.P. getan. Ich habe, auch unter Nutzung von Kontakten vieler Kolleginnen und Kollegen, eine Vielzahl von
Gesprächen geführt, und zwar in den USA, bei europäischen Partnern, mit Abgeordneten, mit Regierungsstellen
und mit Botschaftern vieler Länder hier in Berlin. Dabei
habe ich stets deutlich gemacht, dass es für die Ratifizierung unter den genannten Bedingungen in Deutschland
einen Konsens zwischen Regierung und Opposition gibt.
Die F.D.P. hat, zum Beispiel auch bei einer Reise unseres
Fraktionsvorsitzenden Gerhardt in den USA, massiv
dafür geworben, international endlich zu handeln und
nicht nur zu forschen.
({6})
Die Erfahrungen aus diesen Gesprächen zeigen mir,
dass die Aussicht für das Gelingen der Konferenz in Bonn
nicht hoffnungslos ist. Zwar ist nicht mit einer Ratifizierung durch die USA zu rechnen; aber es gibt auch ohne
sie eine Chance, das Protokoll in Kraft zu setzen. Dafür
werben wir auch bei anderen Ländern. Deshalb muss
Deutschland, unabhängig vom Ausgang der Konferenz in
Bonn, endlich alle erforderlichen Schritte einleiten, die
für eine deutsche Ratifizierung erforderlich sind. Dazu
fordern wir Sie in unserem Antrag auf.
({7})
Ich frage mich - ich habe diese Frage gestern an Ihre
Staatssekretärin im Ausschuss gestellt; Sie waren leider
nicht dort -: Was spricht eigentlich gegen ein solches starkes Signal an die internationale Staatengemeinschaft? Ihr
Antrag fordert verschiedene andere Länder auf, den Vertrag zu ratifizieren. Sie selbst haben dazu aber keine Vorbereitungen getroffen.
({8})
Klar ist auch: In Deutschland gibt es für einen modernen Klimaschutz noch immer kein schlüssiges Konzept,
sondern nur ein altbackenes Klimaschutzprogramm mit
den Instrumenten der 80er-Jahre, nämlich Ökosteuer, dirigistischen Vorschriften und teuren Subventionsprogrammen.
({9})
Während andere europäische Länder die modernen Instrumente des Kioto-Protokolls längst nutzen, gibt es in
Deutschland gerade einmal eine Arbeitsgruppe, die im
Verborgenen vor sich hinwurschtelt. Eine andere Arbeitsgruppe hat mangels Interesse der Regierung zwischenzeitlich entnervt aufgegeben.
({10})
Die Grünen haben zu Beginn dieser Woche beschlossen, die Ökosteuer über das Jahr 2003 hinaus beizubehalten. Während die CO2-Emissionen in Deutschland im
letzten Jahr erstmals wieder angestiegen sind, verzetteln
Sie sich national in immer neuen dirigistischen Maßnahmen. Es ist nicht im Entferntesten erkennbar, wie dieses
nationale Klimaschutzprogramm, von dem Sie immer
reden, mit den Kioto-Mechanismen verbunden werden
soll. Kurz: Es findet sich in Deutschland keine Spur von
den Instrumenten, über die in wenigen Tagen in Bonn
weiter verhandelt werden soll.
({11})
Die F.D.P. legt heute erneut einen Antrag vor, in dem
glaubwürdige Schritte zur effektiven Verminderung der
durch den Menschen verursachten Treibhausgasemissionen vorgeschlagen werden. Dazu gehören vor allem die
Nutzung der flexiblen Mechanismen des Kioto-Protokolls
und die Vorbereitung des Handels mit Zertifikaten in
Deutschland. Die Erfahrungen anderer europäischer Länder zeigen - ({12})
- Niederlande, Großbritannien, Norwegen, Dänemark,
um nur vier zu nennen.
({13})
Nach Ihrem Kenntnisstand sind das wohl keine europäischen Länder.
({14})
- Herr Kollege Müller, Sie können nachher etwas dazu
sagen.
Die Erfahrungen dieser europäischen Länder zeigen,
dass man auf diesem Weg ökologische Wirksamkeit mit
ökonomischer Effizienz und technologischer Dynamik
verbinden kann. Dadurch erreicht man auf nationaler
Ebene Akzeptanz für den Klimaschutz sowie internationale Anerkennung und Kompetenz. Dies ist - das will ich
Ihnen sagen, Herr Minister Trittin - neben einem deutlich
stärkeren Engagement unserer Regierung in bilateralen
Verhandlungen dringend erforderlich, wenn wir international doch noch zu Emissionsreduktionen kommen
wollen.
Das Kioto-Protokoll darf nicht ausgerechnet in der
ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn endgültig scheitern.
Die F.D.P. wird sich weiter dafür einsetzen. Ich hoffe, Sie
tun das auch.
({15})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! COP 6 in Den Haag ist
gescheitert. Die Vertragsstaatenkonferenz in Bonn steht
uns bevor. Hier wird sich entscheiden, ob der Kioto-Prozess endgültig scheitert oder ob wenigstens ein erster
Schritt in Richtung eines globalen Klimaschutzes gewagt
werden kann. Das wäre allerdings unserer Meinung nach
nur ein sehr kleiner Schritt. Denn ich darf daran erinnern,
dass nach dem Kioto-Protokoll von den Industrie- und
MOE-Staaten bis zum Jahre 2012 global 5,2 Prozent der
Klimagase eingespart werden sollen.
Nun sollen gleichzeitig genau diese Länder ihren Klimagasausstoß bis zum Jahre 2050 um 80 Prozent verringern. So wollen es das IPPC, die Klima-Enquête des Bundestages, an die ich noch einmal erinnern möchte, und
auch die Bundesregierung. Würde aber das Tempo von
Kioto beibehalten, würde der Klimagasausstoß bis zum
Jahre 2050 um lediglich 15 Prozent gesenkt. Dann käme
auf uns nicht nur der Klimawandel, sondern auch eine
Klimakatastrophe zu. Das sollten wir nicht vergessen.
Doch nun steht selbst dieses langsame Tempo für die ersten Jahre infrage. Die USA blockieren den Kioto-Prozess,
angeblich um die Wirtschaft am Brummen zu halten.
Wenn jede Regierung für sich das Recht in Anspruch
nähme, wegen einer vermeintlichen oder tatsächlichen
Bedrohung der Interessen des eigenen Staates andere Länder anzugreifen - so wie es Washington für sich selbstherrlich tut -, müsste nun die gesamte Völkergemeinschaft über die USA herfallen; denn sie ist der mit weitem
Abstand größte CO2-Emittent der Welt und schert sich einen Dreck darum.
Doch nicht nur die US-Regierung und die amerikanische Wirtschaft betreiben eine Umweltaggression - ich
bezeichne das jetzt so -, sondern fast alle Industrie- und
Schwellenländer sind in unterschiedlichem Maße daran
beteiligt. Zudem fordern die Entwicklungsländer ihr
Recht auf Wachstum und Wohlstand ein. Ich meine, dies
ist eine sehr berechtigte Forderung.
Beim Klimaschutz innerhalb der Europäischen Union
ist im Durchschnitt zwar kein Rückschritt zu verzeichnen;
in der Tendenz sind die Ergebnisse allerdings alarmierend. Der CO2-Ausstoß blieb praktisch gleich. Dennoch
ist die große Mehrheit der Mitgliedstaaten weit von ihren
Kioto-Zielen entfernt. Ziel ist laut Kioto eine Reduktion
der Treibhausgase in der EU bis zu den Jahren 2008 bis
2012 um 8 Prozent. Dies ist kaum noch zu schaffen, weil
die Treibhausgasemissionen lediglich in Deutschland,
Großbritannien und Luxemburg reduziert wurden - darüber wurde schon gesprochen -, während sie in allen anderen EU-Ländern anstiegen. Laut Bericht der EU-Kommission wird Europa im Jahre 2010 das niedrige Ziel des
Kioto-Protokolls für das EU-Gebiet ohne weitere Maßnahmen um über 80 Prozent verfehlen. Ausschlaggebend
für diese verhängnisvolle Entwicklung sind an erster
Stelle die verkehrsbedingten Emissionen.
Auch die Bundesrepublik wird ihr selbst gestecktes
Klimaschutzziel ohne zusätzliche Maßnahmen kaum
mehr erreichen. Nach einigen Jahren der Einsparung steigen die Klimagasemissionen wieder an. Wie andere Industriestaaten macht sich Deutschland so mitschuldig an
Überschwemmungen, Stürmen und Hungerkatastrophen,
den heute schon sichtbaren Auswirkungen des Klimawandels.
Deutschland hat zwar im Jahr 2000 gegenüber 1990
rund 15 Prozent Kohlendioxid eingespart. Dies beruht
aber mitnichten auf einem grundlegenden technologischen und konsumtiven Wandel. Dieser steht nach wie vor
aus. Deutschland zehrt bis heute - statistisch gesehen vom Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie in den
neuen Ländern. Vom gesamten Rückgang der CO2-Emissionen zwischen 1990 und 1999 in Deutschland entfielen
mehr als drei Viertel auf die ersten drei Jahre nach der
Wende. Kollege Bury hat dies kurz angesprochen. Seitdem verlangsamte sich die Reduktion drastisch.
Weitere Impulse für den Klimaschutz sind hier nicht zu
erwarten. Im Jahre 2000 stiegen die Emissionen dann
auch in ganz Deutschland wieder temperaturbereinigt um
1 Prozent gegenüber dem Vorjahr an. Ohne eine radikale
Wende, vor allem in der Verkehrspolitik, wird sich diese
Entwicklung unserer Meinung nach fortsetzen. Es gibt
genügend Umweltinstitute, die dies immer wieder anprangern.
Auch im Bereich der Energieumwandlung sind die
Weichen unserer Meinung nach falsch gestellt. Im so
genannten Konsens zwischen der deutschen Stromwirtschaft und der Bundesregierung zur Förderung der klimafreundlichen Kraft-Wärme-Kopplung sollen praktisch
nur existierende Anlagen unterstützt werden. Doch gerade
in der Industrie könnten mit neuen, größeren KraftWärme-Kopplungsanlagen Emissionen effizient verhindert werden. Riesige CO2-Einsparmöglichkeiten werden
verschenkt, weil die Stromerzeuger weitere Konkurrenten
auf dem Energiemarkt verhindern wollen.
Frau Homburger, von dirigistischen Maßnahmen ist
wirklich nichts zu sehen; im Gegenteil: Manchmal fehlen
sie. Das heißt, der Klimaschutz steckt national und international in der Krise und die Wirtschaftsinteressen,
insbesondere die der internationalen Mineralöl- und Automobilkonzerne, setzen sich regelmäßig gegen den globalen Umweltschutz durch. Die Folge davon - man kann
das sehen - sind unzureichende Zielstellungen in den Verträgen oder gar der Bruch von Verträgen. Vor diesem Hintergrund wird Bonn sehr schwierig werden.
Die hilflosen Instrumente der Klimaschutzpolitik setzten auf hochkomplizierte Regelwerke wie den fossilen
Emissionshandel und Anrechnungsverfahren. Schlupflöcher für die fossil-atomaren Energiestrukturen sind vorprogrammiert, müssen aber - wir diskutieren darüber
schon die ganze Zeit - geschlossen werden. Internationaler Klimaschutz wird nicht als Chance zu einem Übergang
ins Solarzeitalter und zur Schaffung einer ökologisch
nachhaltigen sowie sozial gerechten Mobilität, sondern
lediglich als Last und Lastenverteilung begriffen.
Wir fordern: Diese Politik muss endlich durchbrochen
werden. Wir alle müssen uns darum bemühen, dass Bonn
zumindest ein kleiner Erfolg wird, um Zeichen zu setzen.
Ich denke, die Öffentlichkeit - auch in anderen Ländern muss sich darum bemühen, Druck auszuüben.
Danke.
({0})
Jetzt hat der Abgeordnete Michael Müller das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Von Antonio Gramsci stammt
der Satz: Alles hat ein Innen und ein Außen. Zu den beklagten Zuständen gehören auch diejenigen, die diese Zustände hinnehmen. Das heißt, es geht immer darum, nicht
nur zu klagen, sondern auch zu verändern. Es passt nicht
zusammen, auf der einen Seite die Globalisierung der
Umweltprobleme zu beklagen und auf der anderen Seite
zu sagen, sie seien wegen der Globalisierung auch nicht
lösbar. Diesen Zirkelschluss müssen wir durchbrechen.
Man muss sehen: Der Hauptakteur in dieser Frage, die
Vereinigten Staaten mit dem weitaus höchsten Energieverbrauch und den weitaus höchsten Emissionen,
({0})
- pro Kopf und insgesamt - ist ein Gefangener seiner eigenen Wachstums- und Industrieinteressen. Das zeigt sich
immer deutlicher. Die Vereinigten Staaten haben laut
Kioto-Protokoll bis zum Jahre 2010 eine Reduktion ihrer
CO2-Emissionen um 6,2 Prozent vorzunehmen. Nach
dem augenblicklichen Trend werden sie aber einen Zuwachs von 21 Prozent haben. Darum geht es in Wahrheit.
Wir sollten für diese einfache Tatsache nicht irgendwelche schiefen Erklärungen suchen. In Wahrheit ist die Klimaschutzpolitik in Amerika nicht durchsetzbar. Nun geht
es um die Frage, welche Schlussfolgerungen wir in Europa und anderen Teilen der Welt daraus ziehen.
({1})
Glauben wir bei dieser Ausgangssituation und diesen
Bedingungen - noch einmal: statt minus 6,2 Prozent ein
tatsächliches Wachstum von 21 Prozent im Trend - im
Ernst, dass es eine Verständigung geben wird, die nur
halbwegs den von uns aufgestellten Klimaschutzzielen
entsprechen wird? Das ist das eigentliche Problem, vor
dem wir stehen. Ich teile die Position des Bundesumweltministers, dass es schon lange nicht mehr um die CO2Reduktion geht, die eigentlich notwendig wäre, sondern
dass es nur noch darum geht, jetzt den Einstieg in international verpflichtende Verhandlungen zu schaffen.
Wir müssen sehen: Selbst Kioto ist von der Lösung des
Klimaschutzproblems, auch unter den gegenwärtigen Bedingungen, kilometerweit entfernt. Deshalb ist es völlig
verfehlt, wenn Sie von Maximalpositionen reden.
({2})
Wovon haben wir uns eigentlich entfernt? Von welchen
Gemeinsamkeiten sind wir in der letzten Zeit weggekommen? Darin sehe ich die problematische Seite. Wenn wir
einknicken, haben die Hardliner in den USA anscheinend
Recht, wenn sie behaupten, dass wir uns nur hinter hohen,
anspruchsvollen Zielen versteckt haben, um im Zweifelsfall sagen zu können: Weil die Amerikaner es nicht tun,
tun wir es auch nicht. - Wir würden denen Recht geben,
wenn wir so handeln würden. Auch deshalb warne ich davor, eine solche Strategie zu verfolgen. Ihre Strategie ist
falsch.
Ich habe einen sehr interessanten Aufsatz von Klaus
Töpfer gelesen - ich nehme an, viele von Ihnen auch -,
Die Moral des Klimaschutzes. Dort heißt es:
Es gibt keine Gewinner der globalen Erwärmung.
Aber die großen Verlierer sind die Ärmsten der Armen.
Es ist schon interessant, dass die Debatte eigentlich nur
in den Industriestaaten geführt wird. Dies hat viel mit der
Moral und den Interessen bei diesem Thema zu tun. Das
wollen wir nicht akzeptieren, gerade weil wir - auch hier
im Hause - beim Klimaschutz schon einmal sehr viel weiter waren. Deshalb appelliere ich an Sie: Stützen Sie, zumindest bis zu den Konferenzen, die bisherige Grundposition!
Was beispielsweise Sie machen, Frau Homburger,
kann man einfach nicht akzeptieren: Beschlüsse, die Sie
während Ihrer Regierungszeit gefasst haben, bezeichnen
Sie jetzt als alte Kamellen. In dem Beschluss des Kabinetts zum Klimaschutz von 1990 ist beispielsweise die
Ökosteuer enthalten - falls Sie das schon vergessen haben sollten. Die Länder, die auf diesem Gebiet heute sehr
viel weiter sind - Sie haben sie genannt: zum Beispiel
Dänemark und Niederlande -, haben alle die Ökosteuer;
sie verbinden sie mit weiter gehenden Instrumenten. Sie
aber wollen nicht einmal die Ökosteuer.
({3})
Was für Beispiele ziehen Sie hier heran!
({4})
Sie sind unfähig, wenn es darum geht, unangenehme
Wahrheiten zu akzeptieren und Verantwortung zu übernehmen. Das ist der Punkt, den man Ihnen vorwerfen
kann und den wir Ihnen leider auch vorwerfen müssen.
({5})
Betrachten wir noch einmal die Situation: Im Augenblick ist das Notwendige nicht durchsetzbar und das, was
durchsetzbar ist, ist weit von dem entfernt, was notwendig ist. Wollen wir uns denn ernsthaft mit diesem Tatbestand zufrieden geben? Die Schlüsselfrage wird sein, ob
es die Europäer mit der ökologischen Modernisierung
Ernst meinen oder nicht.
In den USA beispielsweise verbrauchen 43 Prozent
aller neu zugelassenen PKW 20 Liter oder mehr auf
100 Kilometer. Der Benzinverbrauch stieg im letzten Jahr
um 8,6 Millionen Barrel. Angesichts dessen machen wir
uns doch etwas vor, wenn wir glauben, auf der bevorstehenden Weltklimakonferenz werde es eine akzeptable Lösung geben, die im Sinne des Klimaschutzes von allen
getragen werden könne. Deshalb plädiere ich dafür, dass
Europa gerade jetzt Standfestigkeit zeigt.
({6})
Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren. Was für
weitreichende Ziele wurden 1988, auf der ersten Weltkonferenz zum Schutz des Klimas in Toronto, formuliert:
minus 20 Prozent bei den CO2-Emissionen bis zum
Jahre 2005! Im Augenblick gibt es - mit Ausnahme der
speziellen Situation in Osteuropa - gerade drei Industriestaaten, die knapp unter dem Niveau von 1990 liegen. Es
kann doch nicht wahr sein, dass so die Verantwortung der
Weltgemeinschaft aussieht und dass wir das auch noch
entschuldigen.
({7})
Deshalb plädiere ich sehr dafür, dass die Europäer
nicht nur Standfestigkeit zeigen, sondern die Initiative ergreifen und eine europäische Richtlinie beschließen,
({8})
die alle EU-Staaten darauf verpflichtet, die Kioto-Ziele
auch umzusetzen. Erst dann wird es nämlich Ernst.
({9})
Frau Homburger, ich finde es ja gut, wenn viele von
uns mit amerikanischen Politikern, Vertretern der amerikanischen Industrie reden. Dort ist das Bild ja auch sehr
viel differenzierter, als es hier bekannt ist.
({10})
Es gibt in den USA auch ganz andere Trends; es gibt viele
Bundesstaaten, die die gerade entgegengesetzte Richtung
der Regierung einschlagen.
({11})
Im Kern ist dies ein Streit zwischen altem und neuem ökonomischen Denken. Wir sollten nichts dazu beitragen,
diesem alten ökonomischen Denken auch noch Vorschub
zu leisten.
({12})
- Genau, Frau Homburger: Wie viele andere war auch der
Bundeskanzler in Washington in dieser Frage vorstellig.
Sie können doch nicht so tun, als gebe es in Europa niemanden, der im Vorfeld Standfestigkeit gezeigt hätte - im
Gegenteil!
Wir verfolgen diesen doppelten Kurs weiter: in der
Bundesrepublik durch nationale Anstrengungen glaubwürdig zu zeigen, dass wir den Klimaschutz Ernst nehmen, und gleichzeitig von der Europäischen Union zu verlangen, dass sie in dieser Frage eine gestaltende Rolle in
der Weltpolitik einnimmt, anstatt sich wie bisher zu verstecken.
Manche mögens heiß heißt ein schöner Film. Aber
für unsere Politik sollte dies kein Motto sein.
({13})
Michael Müller ({14})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Unterschiede der Reden in Bezug auf die Akzentuierung sind
ganz interessant: Die einen waren eher auf die Innenpolitik gerichtet; der Einzige, der sich wirklich mit der internationalen Situation im Sinne dessen, was wir erreichen können, beschäftigt hat, waren Sie, Herr Trittin.
({0})
Herr Bury hat über Innenpolitik geredet.
({1})
Wir reden hier aber über globale Politik, über die Frage,
wie wir mit denen umgehen, die nicht dieselbe Auffassung haben wie wir. Wir können uns ärgern und schimpfen; aber wir werden weder mit Schimpfen noch mit einer
Politik, wie sie im Entschließungsantrag der beiden
Koalitionsfraktionen dargelegt ist, irgendjemanden dazu
bewegen, sich positiv zu unseren Verhandlungszielen einzulassen.
({2})
Herr Müller, Sie haben über damals, das Minus von
20 Prozent und darüber geredet, was alles verabredet worden ist. Damals gab es einen Bundeskanzler, der sich wie
kein anderer Bundeskanzler dieser Republik in internationaler Umweltpolitik engagiert hat.
({3})
Das vermissen wir beim heutigen Bundeskanzler.
({4})
Ein Konsens im Deutschen Bundestag ist sicherlich
wichtig, auch für die Position der Bundesregierung in
Bonn. Aber das darf nicht heißen, dass wir uns nicht kritisch mit dem auseinander setzen, was Sie uns hier vorlegen. Ich tue dies an zwei Punkten:
Erstens. Der Antrag von Rot-Grün - Herr Müller, Sie
haben das gerade wiederholt - ist von dem fatalen Fehler
geprägt, das Scheitern des Kioto-Prozesses und der Klimapolitik einzig und allein bei der Regierung Bush abzuladen. Sie haben in Ihrem Antrag nicht zur Kenntnis genommen, dass Positionen, die die Bush-Politik zu Beginn
bedauerlicherweise bestimmten, längst revidiert wurden.
Das gilt etwa für die Anerkennung des Klimaproblems als
eines zentralen globalen Problems. Wenn hier gesagt worden ist, Erfolg brauche ein Klima, dann ist Ihr Antrag jedenfalls nicht dazu geeignet, das richtige Klima für Bonn
herzustellen. Sie ignorieren, wie gesagt, die Korrekturen,
die in Amerika vorgenommen worden sind, und im Übrigen auch die Mehrheitsverhältnisse und das Maß an Zustimmung in den Häusern des amerikanischen Parlaments. Man kann sogar fast zu der Überzeugung kommen,
dass wegen der durch die Bush-Absage entstandenen Bewegung mehr Senatoren und Kongressabgeordnete für
Kioto sind als vor der Kündigung des Protokolls.
({5})
Zweitens. Der Antrag von Rot-Grün ignoriert ferner,
dass sich auch in Den Haag und in anderen Verhandlungsrunden eine ganze Reihe von anderen Ländern hinter Amerika versteckt haben und dankbar waren, dass die
Amerikaner ihnen diese Arbeit abgenommen haben. Ehrlich war das nicht.
({6})
- Dann sagen Sie es hier auch.
({7})
Das ist in Ihrem Antrag jedenfalls nicht zum Ausdruck gekommen.
Wir sind uns auch einig, dass wir die Verlierer dort suchen müssen, wo Herr Müller es beschrieben hat. Aber
wenn Sie, meine Damen und Herren, wirklich an Gemeinsamkeit interessiert gewesen wären, dann wäre es einen Versuch wert gewesen, eine fraktionsübergreifende
Entschließung auf den Tisch zu legen. Das haben Sie nicht
ernsthaft versucht; daran waren Sie offensichtlich auch
nicht interessiert. Ich stelle das hier nur noch einmal fest,
weil Sie, Herr Trittin, für Ihre Position gerne eine gemeinsame Position dieses Hauses mitnehmen wollen.
Diese lässt sich aber nicht auf diese Art und Weise herstellen.
Herr Müller hat nun gefordert, dass Europa standhaft
bleiben müsse. Das ist eine tolle Sache. Aber auf welchem
Niveau bitte? Frau Bulling-Schröter hat die CO2-Einsparungen in Deutschland auf den Zusammenbruch der
ostdeutschen Industrie geschoben, was der Wahrheit natürlich nicht gerecht wird.
An die Adresse von Herrn Bury sage ich: Nach den
neuesten DIW-Zahlen über die letzten zehn Jahre - also
im Wesentlichen während unserer Regierungszeit - ist die
Energieeffizienz jedes Jahr um 2 Prozent gestiegen. Das
ist eine ausgesprochen gute Rate.
({8})
Vieles von dem, was heute zu Technologien von Herrn
Bury vorgetragen worden ist, ist in unserer Zeit überhaupt
erst so weit erforscht und entwickelt worden, dass es heute
genutzt werden kann.
({9})
Wenn Sie den Bericht der Europäischen Union zu den
CO2-Bilanzen in Europa zur Kenntnis nehmen, dann
wäre es hier in diesem Hause angebracht, die Bundesregierung aufzufordern, nicht nur eine internationale Offensive einzuleiten sowie gegenüber den USA standhaft zu
bleiben und flexibel zu verhandeln, sondern eine europäische
Initiative zu starten. Sehen Sie sich doch einmal die Bilanz an! In Großbritannien ärgert Maggi Thatcher die
Gewerkschaften und wechselt von Kohle zu Gas. In Luxemburg wird Arbed Stahl stillgelegt. Dann kommen wir
als Deutsche. Der Rest EU-Europas - das sind zwölf Staaten - verzeichnet seit 1990 einen Anstieg der CO2-Emissionen. Deswegen rate ich uns dringend, dass wir uns
nicht als die vorbildlichen Europäer herausstellen. Europa
hat seine Hausaufgaben genauso wenig gemacht wie
Amerika.
({10})
- Ich will das hier aus meiner Sicht beleuchten.
Es ist dringend an der Zeit, dass wir in Europa unsere
Hausaufgaben machen. Umso glaubwürdiger können wir
von Japan und von Amerika die Leistungen einfordern,
die notwendig sind, wenn wir trotz Globalisierung oder
gerade auch mit den Mitteln der Globalisierung unsere
klimapolitischen Ziele durchsetzen und das umsetzen
wollen, was im Sinne der Vorsorge notwendig ist, um bestimmte Dinge, wie sie auch hier geschildert worden sind,
zu verhindern.
Trotz KWK und EEG, die Sie hier angesprochen haben,
kommen wir in drei oder vier Jahren in eine Phase der
deutschen Politik hinein, in der es um mehr als nur ein paar
Megawatt gehen wird. Ich habe mir noch einmal eine vor
kurzem bei der Vorstellung des Necar 5 von DaimlerChrysler in Berlin gehaltene Rede des Bundeskanzlers zu
Gemüte geführt. Ich rate Ihnen dringend, sie einmal zu lesen. Denn der Bundeskanzler sagte zum einen: Wir werden
mit Solar- und Windenergie die Ziele nicht erreichen.
({11})
Das stimmt in etwa mit der Aussage des Bundeswirtschaftsministers überein, die Klimalücke könne vor dem
Hintergrund des Ausstiegs aus der Kernenergie nicht geschlossen werden.
({12})
Zum anderen hat niemand anders als der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder,
gesagt: Wir werden Großkraftwerke auf Braunkohle- und
Steinkohlebasis bauen müssen, um die Energieprobleme
zu lösen. Dies ist genau das Gegenteil dessen, was Sie
heute vorgetragen haben.
({13})
Deshalb halte ich es für wirklich an der Zeit, dass Sie uns
mit einem Energiekonzept nachweisen, dass das, was Sie
hier als Ziel proklamieren, auch wirklich erreichbar ist.
Wir wissen ja mittlerweile, dass es nicht mehr als einen
Bericht geben wird. Deswegen sage ich Ihnen: Sowohl in
Europa als auch in Deutschland haben wir alle Veranlassung, an unseren Zielen festzuhalten, so zu verhandeln,
dass es zu Erfolgen kommt, aber etwas bescheidener zu
sein und nicht zu meinen, dass nur anderen die Schuld in
die Schuhe geschoben werden müsste.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal zur internationalen Politik, bevor ich
dann gleich zur Innenpolitik komme. Allen hier im Raum
ist klar, dass das in Bonn in Angriff zu nehmende Unterfangen schwierig ist, weil wir in einem Spannungsfeld
stehen. Auf der einen Seite wollen wir das Kioto-Protokoll ratifizierungsfähig machen. Das erfordert Flexibilität, das erfordert vielleicht auch Kompromisse - hoffentlich keine faulen Kompromisse.
({0})
Auf der anderen Seite wollen wir natürlich, dass die
ökologische Integrität des Protokolls erhalten bleibt. Es
muss also Substanz haben; denn eine Sache, die keine
Substanz hat, ist es auch nicht wert, sich für sie einzusetzen. In diesem Spannungsfeld stehen wir. Darum können
Sie nicht herumreden.
Bevor ich zu all den Details komme, halte ich es für
wichtig, dass wir uns bei dieser Debatte die elementaren
Grundwahrheiten noch einmal vor Augen führen. Das
sind nach meinem Dafürhalten vier Punkte.
Erstens. Der zusätzliche Treibhauseffekt ist eine
ernsthafte Bedrohung für die Menschheit. Sie zu ignorieren wäre gefährlich und könnte uns teuer zu stehen kommen. Darüber sind wir uns einig.
Zweitens. Die Industrieländer tragen die Hauptverantwortung. Historisch gesehen haben die Industrieländer
80 Prozent der Emissionen verursacht. Also müssen sie
auch eine Vorreiterrolle einnehmen. Auch darüber sollte eigentlich Einvernehmen bestehen. Wenn ich einigen von Ihnen zuhöre, bin ich mir da aber nicht mehr ganz so sicher.
Drittens. Die Entwicklungsländer tragen, zumindest
historisch gesehen, keine nennenswerte Verantwortung für
die Existenz dieses Problems. Deswegen verlangen sie zu
Recht von uns, dass wir unsere Hausaufgaben erledigen
und dass wir Technologien und Finanztransfers bereitstellen. Das ist eine Frage der internationalen Gerechtigkeit
und vor allen Dingen der Glaubwürdigkeit. Sie werden erst
dann handeln, wenn wir glaubwürdig voranschreiten.
({1})
Viertens und letztens. Frau Homburger, wir sind beim
Thema Emissionshandel gar nicht so weit auseinander.
Aber es ist doch so - das muss man einmal feststellen -:
Klimaschutz funktioniert nicht vorrangig über Emissionshandel, Senken oder die wechselseitige Anrechnung
von Treibhausgasen.
({2})
Klimaschutz funktioniert im Wesentlichen über Technologie und Lebensstilwandel. Man kann ein Protokoll auch
kaputt flexibilisieren. Das wollen wir nicht.
({3})
Wenn wir von diesen Einsichten ausgehen, dann kann
man sagen - das ist kein unhöflicher Akt gegenüber unseren amerikanischen Freunden -: Das, was Präsident Bush
gemacht hat, ist - das muss man leider in dieser Schärfe
sagen - eine verantwortungslose Absage an die Interessen
der Staatengemeinschaft und an die Interessen der
zukünftigen Generationen.
({4})
Wer sagt, dass Klimaschutz nichts anderes als ein Kostenfaktor und ein Entwicklungshemmnis ist, der verkennt
die wirtschaftlichen Potenziale ökologischer Innovationen. Wer sagt, es könne nicht wahr sein, dass die Amerikaner handeln müssen, während die Entwicklungsländer
untätig bleiben, den wird man bei aller Freundschaft vielleicht auf die simple Tatsache hinweisen dürfen, dass ein
Amerikaner im Durchschnitt für 20 Tonnen, ein Chinese
für 2 Tonnen und ein Inder für 1 Tonne CO2 pro Jahr verantwortlich ist. Wer für zehn- bis zwanzigmal so viel CO2
verantwortlich ist als andere, der sollte besser erst einmal
vor seiner eigenen Haustür kehren, bevor er anderen gute
Ratschläge erteilt.
({5})
Es wurde hier viel von den Vereinigten Staaten gesprochen. Da wir wissen, dass sie das Protokoll nicht ratifizieren werden, können wir uns nicht an ihren Positionen orientieren. Ich will sogar so weit gehen, zu sagen,
dass gerade diejenigen, die in Amerika für den Klimaschutz sind, von uns erwarten, dass wir konsequent agieren und die ökologische Integrität des Kioto-Protokolls
erhalten, damit sie sich in Amerika für diese Sache einsetzen können. Ich sehe mit großer Freude, dass der Klimaschutz in den letzten Monaten eine breite Unterstützung von Wissenschaftlern, Industrieunternehmen,
Umweltschützern, Künstlern und zunehmend auch Politikern erfährt. Ich glaube, das ist gut so.
Ich gehe davon aus: Wenn wir das Kioto-Protokoll in
Kraft setzen, dann wird es die amerikanische Industrie
sein, die von so interessanten Instrumenten wie dem
Emissionshandel und dem Technologietransfer nicht ausgeschlossen sein will.
({6})
Sie werden Druck für eine Ratifizierung machen. Das ist
meine These.
Die Europäische Union hat jetzt vor allen Dingen zwei
Aufgaben - der Minister hat sie, wie ich finde, zutreffend
skizziert -: Zum einen müssen wir versuchen, mit Japan
zusammenzukommen. Zu Japan will ich noch ein Wort
sagen - das wurde auch schon im Umweltausschuss deutlich -: Gegenüber Japan besteht in der Tat kein Grund
zum Hochmut; denn von dem, was die Japaner in Sachen
Energieeffizienz und Klimaschutz gemacht haben, können wir uns alle eine Scheibe abschneiden. Wir sollten
wirklich versuchen, zusammen mit den Japanern einen
Weg zu finden, der ihre Interessen abdeckt. Das ist wichtig. Die Bundesregierung ist auf diesem Weg.
Zum anderen müssen wir im Hinblick auf Russland
sehen, dass wir bei der ökologischen Modernisierung der
Energiewirtschaft helfen. Ich glaube, dass Deutschland
als Partner Russlands eine wichtige Aufgabe hat. Wenn
wir diese beiden Aufgaben erledigen, dann haben wir gute
Aussichten, das Kioto-Protokoll ratifizierungsfähig zu
machen. Das ist kein Antiamerikanismus, sondern internationale Verantwortung.
({7})
Richtig ist auch - das wurde bereits mehrfach gesagt -,
dass die Europäische Union etwas für ihre Glaubwürdigkeit tun muss. Diese Auffassung teile ich ganz und gar.
Das ist vollkommen berechtigt. Wenn nur drei von
15 Staaten ihre Hausaufgaben erledigt haben, dann ist das
nicht gut genug. Bei vielen Themenfeldern sind wir noch
nicht wirklich vorangekommen. Beim Abbau umweltschädlicher Subventionen, bei der Harmonisierung
der Ökosteuern, auch bei anderen Themen, wie beispielsweise der Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene
oder beim ökologischen Landbau, ist in der Tat noch viel
zu tun. Wenn sich Europa als Kontinent der globalen Verantwortung positionieren will, dann muss es dies durch
globales und glaubwürdiges Handeln zu Hause beweisen.
Hier steht der Beweis in der Tat noch aus.
Jetzt komme ich zur deutschen Politik, weil sich viele
der vorliegenden Anträge auf die deutsche Klimapolitik
beziehen. Es ist so, dass wir uns in diesem Hause - Minister Trittin hat zu Recht darauf hingewiesen - weitestgehend einig sind. Wir haben ein nationales Klimaschutzziel, eine Reduktion der CO2-Emissionen um 25 Prozent
bis 2005, das noch unter der Regierung Kohl beschlossen
wurde. Wir als Bundestag - jedenfalls die meisten von Ihnen; ich war noch nicht dabei - haben beschlossen, dass
wir eine Reduktion der Kohlendioxidemissionen bis 2020
um 40 Prozent und bis 2050 um 80 Prozent erreichen wollen. Das heißt also: In diesem Hause besteht Einvernehmen. Auch besteht Einvernehmen darüber - das möchte
ich einmal festhalten -, dass für viele von uns die Diplomatie zu langsam vorangeht und dass wir uns nicht nur auf
dieser langsamen Fahrspur bewegen wollen. Wir sehen
zwar ein, dass wir diese Langsamfahrspur brauchen. Aber
wir wollen uns in Sachen Klimaschutz doch auf der
Schnellfahrspur bewegen. Wir wollen neue Technologien,
neue Verfahren und neue Instrumente einsetzen sowie
eine Vorreiterrolle einnehmen, genau deshalb, weil wir
glauben - wie es Herr Bury gesagt hat -, dass Klimaschutz nicht nur eine Last, sondern vor allen Dingen auch
eine Chance für die Umwelt, die Arbeitsplätze und die Zukunftsmärkte ist.
({8})
Ich möchte jetzt auf unsere Bilanz zu sprechen kommen, ohne mich mit dem ganzen Kleinklein aufzuhalten,
von dem Sie gesprochen haben. Nehmen wir einmal das
Beispiel der ökologischen Steuerreform, die Sie hier so
häufig kritisieren. Wir haben vor wenigen Wochen vom
Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ein wunderbares Zwischenzeugnis ausgestellt bekommen: Der Energieverbrauch im Verkehrssektor geht zurück; Bahn und
ÖPNV legen zu; energieeffiziente Fahrzeuge sind auf
dem Vormarsch; der Umfang der CO2-Emissionen wird
allein durch die Ökosteuer um 25 Millionen Tonnen
zurückgehen. Zu diesem Zwischenzeugnis hätte ich gerne
etwas von der Opposition gehört.
({9})
Wir sind in der Tat der Meinung, dass die ökologische
Steuerreform auch nach 2004 weitergeführt werden sollte.
({10})
Nur wenn die Energiepreise schrittweise steigen, lohnen
sich Investitionen in Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und zur Einsparung von Energie.
({11})
Selbst wenn dieses Projekt unpopulär ist, sage ich: Aus
Gründen des Klimaschutzes ist es unverzichtbar.
({12})
Aus der volkswirtschaftlichen Perspektive müssen wir
noch klarer sehen: Wenn die Energiepreise zu niedrig
sind, dann rechnen sich Energiesparmaßnahmen nicht
mehr. Schlimmer noch: Sinkende Energiepreise entwerten sogar Investitionen in Maßnahmen zur Energieeinsparung.
Summa summarum: Wenn man die ökologische Steuerreform und all die Einzelprojekte wie das ErneuerbareEnergien-Gesetz, die Bonusregelung für Kraft-WärmeKopplung, das Altbausanierungsprogramm, die zusätzlichen
Investitionsmittel für die Bahn und das Marktanreizprogramm zusammennimmt, dann können wir mit erhobenem
Haupt und gutem Selbstvertrauen nach Bonn gehen. Ich
kann der Bundesregierung nur eine glückliche Hand wünschen. Ich glaube, Herr Minister, Sie werden die Parlamentsdelegation auf Ihrer Seite haben, wenn Sie in Bonn
agieren.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Christian Ruck.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich möchte in der Schlussrunde dieser Debatte mit dem beginnen, worüber Konsens
besteht. Die Lage ist ernst. Die menschenbedingte Erwärmung der Erde ist eine reale Bedrohung, die schon
in naher Zukunft, spätestens bei unseren Enkeln, zu einschneidenden ökonomischen und sozialen Folgen führen
könnte. Auch ich bin der Meinung, die Reaktion der Weltgemeinschaft ist bis heute unangemessen, obwohl wir damals in Rio so hoffnungsvoll gestartet sind. Auch ich bin
der Meinung, dass der Erfolg der anstehenden Vertragsstaatenkonferenz noch ungewiss ist und dass uns allmählich die Zeit knapp wird. Auf der erst vor kurzem stattgefundenen Klimakonferenz der Union hat Professor
Schellenhuber eindringlich gemahnt, dass der Zeithorizont drängt und dass wir handeln müssen.
Die Frage, über die wir in dieser Debatte seriös diskutieren können und müssen, ist: Wie können das deutsche
Parlament und die Bundesregierung einen positiven Einfluss auf das Geschehen ausüben? Wir können - das ist
schon gesagt worden - zwei Dinge machen: Erstens müssen wir unsere Hausaufgaben machen.
({0})
Zweitens müssen wir unser internationales politisches
Gewicht mehr in die Waagschale werfen. Die EU - das
wurde auch schon gesagt - hat sich nicht mit Ruhm bekleckert.
({1})
Sie darf jetzt nicht wackeln und muss notfalls - das ist
auch meine Meinung - das Kioto-Protokoll erst einmal
ohne die USA umsetzen. Aber auch die Europäer müssen
wachgerüttelt werden. Es stärkt nicht gerade - wenn ich
das einmal so sagen darf - die europäische Verhandlungsposition, wenn Belgien vor wenigen Tagen lapidar eingesteht, dass es die Kioto-Verpflichtungen bisher nicht erfüllen konnte, es aber bei den Klimaschutzverhandlungen
in den nächsten Tagen und Wochen für Europa ein ganz
wichtiger Verhandlungspartner sein wird und eine herausragende Rolle spielen wird.
Was dieses internationale Gewicht anbelangt, ist
Deutschland, ist die Bundesregierung, stärker gefordert.
Herr Bury, Sie haben etwas kleinkariert, wie ich finde,
über die Rolle des früheren Bundeskanzlers gesprochen.
Er war nicht nur in Rio dabei; ohne ihn wäre das Ergebnis
von Rio nicht zustande gekommen
({2})
und wären auch nicht die Erfolge erreicht worden, die wir
bis dato eingefahren haben.
({3})
Ich erwarte mir vom Bundeskanzler auch, dass er endlich
seine Liebe zum Umwelt- und Klimaschutz entdeckt und
dass er sich zum Beispiel nach der Klimakonferenz genauso rühmen kann - das gönne ich ihm dann auch -, in
Europa Einfluss zu haben, wie er es neulich bei der Übernahmerichtlinie getan hat. Ich erwarte, dass er sich da
stärker in Position bringt.
({4})
- Der Hinweis, dass er mit der Autoindustrie verbandelt
ist, stammt nicht von mir, sondern vom Kollegen Hübner.
Was die USA und Japan anbelangt: Es ist völlig richtig, dass Klimaschutz auf Dauer natürlich nicht ohne die
Hauptemittenten von CO2 betrieben werden kann. Ich
glaube, dass wir konsequent bleiben sollten, und zwar
auch im Hinblick auf faule Kompromisse. Das sage ich
mit Bezug auf das aktuelle Pronk-Papier. Wir sollten auch
deshalb konsequent sein - das kann man ruhig in die Debatte bringen -, weil es ja nicht nur um Ökologie geht.
Wenn die einen die Klimaschutzziele einhalten, wie es die
Bundesrepublik tut, und die anderen das nicht tun, dann
ist das eine ganz massive Wettbewerbsverzerrung. Das
müssen wir gegenüber den Amerikanern ins Spiel bringen. Das wird, glaube ich, auch verstanden.
In Amerika ist wirklich vieles in Bewegung geraten. So
gibt es zum Beispiel unter den Abgeordneten und Senatoren
eine Kioto-Fraktion, die ständig Zulauf erhält. Mittlerweile
haben auch 32 große Wirtschaftsunternehmen, darunter
zum Beispiel alle Elektrizitätsversorger, eine Kioto-Fraktion gebildet. Das stimmt mich eigentlich hoffnungsfroh.
Deswegen bin auch ich der Meinung, dass wir für konstruktive Vorschläge der USA wirklich offen sein sollten.
Herr Trittin, es waren ja die amerikanischen Umweltverbände, die Ihnen vorgeworfen haben, die Amerikaner
in Den Haag falsch behandelt zu haben. Ich möchte das
nicht kommentieren, aber eines ist sicher: Bonn darf keine
Showveranstaltung für die Innenpolitik werden. Der Erfolg der Verhandlungen hängt ganz entscheidend davon
ab, ob man fair mit konstruktiven Vorschlägen umgeht
und ob man auch auf ernsthafte Besorgnisse eingeht.
({5})
In dem Zusammenhang nenne ich drei Punkte, die auch
in den Vereinigten Staaten eine Rolle spielen. Mit denen
sollten wir uns wirklich befassen, weil sie auch uns betreffen.
Zunächst zum Thema Entwicklungsländer. - Es ist
richtig, dass wir diese Länder schneller und stärker in den
Kioto-Prozess einbinden müssen, als das bisher geplant war.
({6})
Die Entwicklungsländer sind einerseits die Hauptbetroffenen - das wurde schon gesagt -, aber andererseits werden sie in wenigen Jahren uns Industrieländer als CO2Emittenten bereits überholt haben. Dort sind also die
größten politischen Wirkungspotenziale.
Was ist Ihre Antwort, meine Damen und Herren von
Rot-Grün? - Entgegen Ihren Wahlversprechungen und
entgegen auch den wohlklingenden Formulierungen in
Ihrem Antrag kürzten Sie die Entwicklungshilfe um bereits 10 Prozent.
({7})
- Das ist ein alter Hut. - Das ist schon ein handfester
Skandal
({8})
angesichts dessen, dass eine vernünftige und erfolgreiche
Energiepolitik nicht ohne eine viel stärkere Entwicklungspolitik betrieben werden kann.
({9})
Jetzt ist die Rede davon, dass man den Entwicklungsländern in zwei Wochen 1 Milliarde DM anbietet. 1 Milliarde DM ist nicht nichts, aber im Vergleich zu den
450 Milliarden DM, die jährlich weltweit in den Energiebereich investiert werden, ist diese 1 Milliarde DM wirkungslos. Deswegen fordern wir Sie auf: Nehmen Sie die
Kürzungen im Entwicklungshaushalt zurück! Fahren Sie
den Entwicklungshaushalt wieder hoch und sorgen Sie
damit auch dafür, dass wir den dringend notwendigen
Technologietransfer in die Entwicklungsländer verstärken können!
In dem Zusammenhang noch ein Wort zu einem wichtigen Detail, zu den Senken. Es gibt von vielen Seiten
wirklich blödsinnige Vorschläge zum Thema Senken. Ich
bitte darum - auch das steht in unserem Antrag -, dass wir
versuchen sollen, den Schutz der Naturwälder mit der
Senkenproblematik zu verbinden. Die Wissenschaftler sagen uns, dass allein 1997 30 Prozent der CO2-Emissionen
auf das Konto der brennenden Naturwälder in Borneo gehen. Wenn das wahr ist, dann muss der Umkehrschluss
richtig sein, dass wir den Waldschutz stärker mit den flexiblen Mechanismen verbinden können.
({10})
Dafür gibt es bereits Modelle. Wir müssen uns der Diskussion über dieses Thema stellen.
Die beiden anderen Stichworte sind Technologieoffenheit und ökonomische Effizienz. Herr Müller, in
dieser Frage - das muss man deutlich ansprechen; wir
werden das in den nächsten Jahren natürlich tun - haben
wir keinen Konsens. Wir sind der Meinung - ich sage es
einmal vorsichtig -, dass Sie nicht technologieoffen sind,
siehe Atomausstieg.
({11})
Wir sind auch der Meinung, dass Sie, was die ökologische
Lenkungswirkung Ihrer Energiepolitik angeht - angefangen bei der Ökosteuer über das EEG bis hin zu Ihrem
neuesten Gag, der KWK -, viel zu teure Instrumente benutzen. Umgekehrt: Mit dem vielen Geld, das Sie inzwischen einsetzen - Sie nehmen es direkt oder indirekt aus
den Portemonnaies der Steuerzahler -, erzielen Sie eine
zu geringe Lenkungswirkung.
({12})
Zu genau diesem Punkt sagen wir: Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
({13})
- Photovoltaik im eigenen Land zum Beispiel.
Ich sage abschließend: Wir wünschen unserer Delegation, unseren Verhandlungspartnern - einige Abgeordnete
sind dabei - in Bonn viel Erfolg in einer sehr schwierigen
Gefechtslage. Wir fordern Sie auf, Ihre Energiepolitik
grundlegend zu überdenken und in der Entwicklungspolitik eine deutliche Kehrtwende vorzunehmen.
Herr Kollege,
die Zeit.
Wenn das geschieht, dann werden Sie in den internationalen Verhandlungen mehr Gewicht haben. Je eher Sie diese Korrekturen anbringen, desto schneller werden Sie an
internationalem Einfluss gewinnen.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Monika Ganseforth.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Die Situation, die wir jetzt
vorfinden, erinnert mich sehr stark an die Zeit im Vorfeld
des Weltgipfels von Rio. Auch damals wollten die Amerikaner von ihrem American Way of Life keinen Abschied
nehmen. Der damalige Präsident George Bush war der
Wortführer der sagte: Das ist mit uns nicht zu machen.
Die starre Haltung der USA hat zur damaligen Zeit
dazu geführt, dass die Fronten, die sich im Vorfeld aufgebaut hatten - hier die Industrieländer, dort die Entwicklungsländer -, aufgebrochen wurden. Ich will zwar nicht
sagen, dass die USA damals gegen den Rest der Welt standen; die Fronten damals waren aber sehr eindeutig. Es ist
gelungen, einen Zusammenschluss der übrigen Industrieländer und der Entwicklungsländer zustande zu bringen.
Es hat sich eine ganz neue Dynamik ergeben. Es ist richtig, dass der Vertreter der damaligen Bundesregierung,
Herr Töpfer, diese Dynamik hervorragend genutzt hat.
Wir haben in Rio ein sehr gutes Ergebnis erzielt, obwohl
das im Vorfeld kaum zu erwarten war.
In diesem Hause waren wir uns damals über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass es gilt, Töpfer zu unterstützen. Herr Ruck, es ist nicht wahr, dass es Rio ohne den damaligen Kanzler Kohl nicht gegeben hätte. Die
Verhandlungsführung hat hinter verschlossenen Türen
- eine Bundestagsdelegation, zu der auch ich gehörte, war
ebenfalls in Rio - dazu beigetragen, dass dieses Ergebnis
zustande gekommen ist.
Nun geht es um die Umsetzung des Kioto-Protokolls.
Merkwürdigerweise ist die Situation so ähnlich wie damals: Diesmal agiert der Sohn Bushs und wiederum legen
die USA eine starre Haltung an den Tag und tragen Kioto
nicht mit.
Jeder internationale Prozess hat seine eigene Dynamik.
Ich weiß nicht, ob sich aus diesem Prozess nicht doch wieder etwas ergeben kann, sodass wir zu einem Erfolg kommen. Im Augenblick ist es jedenfalls so, dass sich in den
USA die Kräfte bündeln, die es anders sehen als die Regierung, dass Europa näher zusammenrückt und dass die
Entwicklungsländer mit uns und Europa an einem Strang
ziehen. Insofern könnte sich wieder eine Dynamik ergeben, wenn sich nicht Länder - wie zum Beispiel Japan hinter den USA verstecken und ebenfalls aussteigen. Ich
kann mir allerdings nicht vorstellen, dass gerade Japan
dazu beiträgt, dass das Scheitern des internationalen Klimaprozesses mit dem Namen Kioto verbunden wird. Es
kommt nämlich - neben der Tatsache, dass Kioto in Japan
liegt - hinzu, dass Japan seine Hausaufgaben bereits gemacht hat. Es ist schon angesprochen worden: Japan hat
sehr niedrige Pro-Kopf-Treibhausgasemissionen. Das
hängt auch damit zusammen, dass sie im letzten Jahrzehnt
eine Industriepolitik der hohen Strom- und Energiepreise
betrieben haben. Dadurch haben sie Effizienzreserven aktiviert. Diese sind in den anderen Ländern noch längst
nicht ausgeschöpft.
Ich glaube, dass unser Antrag, der die Regierung auffordert, den Kioto-Prozess in Bonn erfolgreich weiterzuführen, gerade zur richtigen Zeit kommt, um dies zu erreichen.
({0})
Ich finde, man kann die internationalen Belange und
das nationale Handeln, so wie es Herr Grill hier versucht
hat, nicht gegeneinander ausspielen. Beides gehört zusammen. Unabhängig davon, wie die internationalen Verhandlungen weitergehen, müssen wir - das fordern wir in
unserem Antrag - den Weg auf nationaler Ebene weiter
gehen; auch Europa muss dies tun. Wenn Sie kritisieren,
dass Europa zu wenig angesprochen wird, dann muss ich
Ihnen sagen, dass Sie unseren Antrag nicht gelesen haben.
Wir sagen nämlich genau das und fordern, dass dies auch
weiterhin geschieht.
In den anderen europäischen Ländern sind die erfolgten Reduktionen noch nicht ausreichend. Man darf aber
auch nicht vergessen, dass einigen Ländern zusätzliche
Emissionen zugesagt worden sind. Diese - ich nenne
Griechenland und Portugal - sind auf dem Weg, das angestrebte Ziel zu erreichen bzw. es sogar zu übertreffen.
Wir können nicht nur die Reduktion betrachten, sondern
müssen es im Ganzen sehen. Es ist aber richtig, dass noch
weiter gehende Vereinbarungen notwendig sind.
Die rot-grüne Regierung hat die ehrgeizigen Ziele, die
die alte Regierung öffentlich verkündet hat, übernommen
und deren Umsetzung zugesagt, obwohl wir wussten, dass
dazu nur sehr wenig Zeit vorhanden war, und wir es mit
nicht gemachten Hausaufgaben und einer Altlast Ihrer Regierung zu tun hatten. Ich finde es grotesk, dass Sie sich
hier hinstellen und sagen, dass wir die Kioto-Ziele und die
dort gemachten Zusagen nicht erreichen, sondern eindeutig verfehlen würden. Sie hatten so viele Jahre dazu Zeit,
blieben aber weit hinter den Zielen zurück.
({1})
- Jede Studie hat ergeben, dass Sie es nicht auf den Weg
gebracht haben. Wir fanden eine Situation vor, in der wir
uns gefragt haben, ob wir überhaupt noch zu den Zielen
stehen und versuchen können, sie mit einer großen
Kraftanstrengung zu erreichen.
Wir haben eine ganze Menge auf den Weg gebracht.
Als Sie in der Regierungsverantwortung waren, haben wir
Ihre Vorhaben mitgetragen. Leider haben Sie dies bei den
Vorhaben, die wir auf den Weg gebracht haben, nicht getan, sondern sie abgelehnt. Ich nenne die Ökosteuer, das
Erneuerbare-Energien-Gesetz,
({2})
das Vorschaltgesetz und die Kraft-Wärme-Kopplung, im
Gegenteil: Sie haben es bekämpft und dagegen gestimmt.
Ich weiß nicht, warum Herr Ruck unser 100 000-DächerProgramm, unser Altbausanierungsprogramm, unser
Marktanreizprogramm und all das, was wir gemacht haben, industrie- und technologiefeindlich nennt. Aber auch
diese Programme reichen noch nicht aus.
({3})
Es sind noch Lücken vorhanden. Die Bundesregierung hat
uns das Klimaschutzprogramm vorgelegt; die KraftWärme-Kopplung wird auf den Weg gebracht. Aber auch
das Problem der Effizienz muss beachtet werden.
Herr Ruck, auf unserer Seite hat sich niemand nur auf
das Erneuerbare-Energien-Gesetz konzentriert; für uns ist
auch die Energieeffizienz sehr wichtig. Wir warten noch
auf die Energieeinsparverordnung. Ferner möchte ich
nennen: die Verdoppelung der erneuerbaren Energien,
Offshore, wie es der Minister angesprochen hat, sowie die
Biomassenutzung. Eine Menge Dinge sind auf den Weg
gebracht worden. Zugegebenermaßen muss noch mehr
passieren.
Der Verkehrssektor ist ein Problem. Dazu ist in dem
Klimaschutzprogramm der Bundesregierung auch einiges
angesprochen.
Wir haben den Fahrradplan eingebracht.
({4})
- Das finden Sie komisch? Das ist ein wichtiges Verkehrsmittel!
Außerdem ist eine Aufklärungskampagne für energiesparendes Fahren nötig. Sie wird etwas bringen.
Wir brauchen die vergleichende Verbrauchskennzeichnung von PKWs. Es ist klar: Die Automobilindustrie will
das nicht, weil sie weiß, dass dann die Verbraucher vielleicht Autos kaufen, die weniger verbrauchen.
Das alles muss schnell umgesetzt werden. Ich bin davon überzeugt, dass Klimaschutz nicht etwa die Wirtschaftsentwicklung hemmt. Klimaschutz ist im Gegenteil, wenn die Investitionszyklen berücksichtigt werden,
sogar der Motor für Fortschritt und Entwicklung, schafft
Arbeitsplätze und bietet Chancen für Innovationen. Wer
nicht dabei ist, wird Nachteile haben. Das weiß inzwischen auch ein großer Teil der amerikanischen Industrie.
Die haben Sorgen, dass sie abgehängt werden.
Allerdings erfordert Klimaschutz auch eine Umstrukturierung; denn die bisherigen Produktions- und Lebensweisen sind nicht nachhaltig. Gegen die Umstrukturierung wehren sich natürlich die rückwärts gewandten
Beharrungskräfte und die Verlierer einer solchen Entwicklung. Wir merken das in den eigenen Reihen. Wir erhalten permanent Briefe von Branchen und Lobbyisten,
die nicht Gewinner sind, seien es die Mineralölwirtschaft,
die Automobilindustrie, die chemische Industrie, die
Aluminiumindustrie, Ziegeleien, elektrische Wärmeerzeuger und Ähnliches. Leider fallen doch viele - vor allen Dingen auf Ihrer Seite - auf diese Argumente herein,
weil sie unbequeme Wahrheiten und die Verantwortung
für diese Umstrukturierung scheuen.
Wir müssen auch helfen - da hat Herr Ruck Recht -,
dass die Entwicklungsländer nicht die gleichen Fehler begehen, die wir gemacht haben, sondern dass sie zu einer
nachhaltigen Wirtschafts- und Produktionsweise kommen, zumal die Nutzung der Solarenergie in den Entwicklungsländern natürlich nahe liegt. Dazu brauchen sie
Know-how-Transfer; dazu brauchen sie Geld; dazu brauchen sie unsere Unterstützung. In unserem Antrag fordern
wir auch, dass dies getan wird.
Alles, was an Kritik von Ihnen gekommen ist, ist meiner Ansicht nach in dem Antrag berücksichtigt. Ich habe
am Anfang sogar geglaubt, wir könnten hier zu einer gemeinschaftlichen Verabschiedung des Antrags kommen.
Wir üben keine Kritik an der Vergangenheit, an dem, was
Ihre Regierung getan hat, sondern es ist ein Antrag, der
nach vorn weist und fordert: das Kioto-Protokoll ratifizieren und umsetzen. Die Debatte hat mir gezeigt, dass
diese Gemeinsamkeit hier im Hause leider nicht mehr besteht.
({5})
Von der F.D.P., bei der sich die gesamte Klimapolitik nur
noch auf Emissionshandel reduziert, ist dabei ganz zu
schweigen. Das ist ein additives Instrument, aber es ist
nicht das Kerninstrument beim Klimaschutz.
Ich hoffe also, dass unser Antrag eine Mehrheit bekommt: Er will die Regierung unterstützen und mit dazu
beitragen, alles, was möglich ist, hinzubekommen, damit
der Klimaprozess und das Kioto-Protokoll in Bonn in
14 Tagen zum Erfolg geführt werden.
Schönen Dank.
({6})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 14/6542 mit dem Titel Das Kioto-Protokoll ratifizieren und umsetzen. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der
PDS angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache
14/6187. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4887
zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur
6. Weltklimakonferenz. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Die PDS hat
sich enthalten.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/4890 mit dem Titel Agenda für
eine Initiative Deutschlands zum internationalen Klimaschutz. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des
Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1234 mit dem Titel Solarbericht. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4729 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir auch so.
Tagesordnungspunkt 5 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/5588 zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel Börsenhandel mit
Emissionszertifikaten in Deutschland konkret vorbereiten. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4395 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der F.D.P.
bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 5 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 14/5302 zu dem Antrag der Fraktion der
F.D.P. mit dem Titel CO2-Ausstoß im Gebäudebereich
senken. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/660 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
F.D.P. bei Enthaltung von CDU/CSU und PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 5 f: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/5596 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel Offensive zur Reduktion von CO2-Emissionen im Gebäudebestand starten.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/4379 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung von F.D.P. und PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 5 g: Wir kommen zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel Die 6. Vertragsstaatenkonferenz ({0}) muss zum Erfolg führen Für eine nachhaltige Entwicklungs- und Klimapolitik.
Abweichend von der Tagesordnung soll über den Antrag
heute abgestimmt werden. Wer stimmt für diesen Antrag
auf Drucksache 14/6439? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von F.D.P. und
CDU/CSU bei Enthaltung der PDS abgelehnt worden.
Zusatzpunkt 5: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/6547 zu einer Initiative Deutschlands für einen Durchbruch beim internationalen Klimaschutz. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt worden.
Zusatzpunkt 6: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel Klimapolitik international
und national auf eine neue Grundlage stellen. Wer
stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/6570? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der
PDS, die zugestimmt hat, abgelehnt worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 sowie Zusatzpunkt 7
und 8 auf:
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria
Böhmer, Norbert Barthle, Meinrad Belle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kein Import von und keine Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland bis zu
einer Entscheidung des Deutschen Bundestages
- Drucksache 14/6314 ({1}) Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine sorgfältige und umfassende Prüfung
des Imports und der Forschung mit embryonalen Stammzellen
- Drucksache 14/6551 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Kein Verbot und kein Moratorium für den Import embryonaler Stammzellen
- Drucksache 14/6550 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt
es nicht. Dann werden wir auch so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Maria Böhmer.
({3})
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor
fünf Wochen, am 31. Mai, haben wir die erste Grundsatzdebatte in dieser Legislaturperiode zur Bio- und Gentechnologie geführt. An diesem Tag ist sehr deutlich zum
Ausdruck gekommen, welch hohe Verantwortung sich
mit diesen Entscheidungen verbindet. Je mehr der
Mensch selbst zum Gegenstand der Forschung wird, desto mehr müssen wir uns hier im Bundestag den Fragen des
Lebens, des Menschseins, des Schutzes des menschlichen
Lebens und der menschlichen Würde stellen.
({0})
Wie sehr jeder von uns um Antworten ringt, hat diese Debatte gezeigt. Über die Fraktionsgrenzen hinweg ist deutlich geworden, dass wir in diesen ethischen Fragen der
Bio- und Gentechnologie vor Gewissensentscheidungen
stehen. Das müssen wir auch beibehalten. Es geht in diesen Fragen wirklich um Gewissensentscheidungen.
({1})
Ich bin allerdings sehr betroffen, dass der so gut begonnene Weg von der Regierungsseite heute verlassen
wird. Denn Sie stellen mit Ihrem Vorgehen die Koalitionsfrage über die Gewissensfrage.
({2})
Macht oder Moral, das kann und darf nicht die Alternative
sein. Daher bitte ich Sie herzlich, Ihr Vorgehen noch einmal zu überdenken.
({3})
Lassen Sie mich kurz den politischen Ablauf der letzten fünf Wochen rekapitulieren: Just an dem Tag, an dem
der Deutsche Bundestag, also wir alle hier, über die Fragen der Bio- und Gentechnologie debattiert haben und an
dem wir uns über die Fraktionsgrenzen hinweg - ich betone das noch einmal - darüber im Klaren waren, dass wir
uns für eine gründliche Debatte Zeit geben wollen, dass
wir die Fragen wirklich ausloten wollen und dass wir dann
aber auch zu Entscheidungen kommen müssen, hat der
Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen
von Israel aus erklärt, dass er den Import von und die Forschung an embryonalen Stammzellen in seinem Bundesland fördern will. Ich finde, das ist ein starkes Stück. Das
ist ein Affront gegen den Deutschen Bundestag.
({4})
Wir debattieren und der Ministerpräsident von NordrheinWestfalen will Fakten schaffen. Ich glaube, das hat nicht
nur Einzelne, sondern uns alle berührt. Wir wissen, dass
mit einem solchen Vorpreschen Fakten geschaffen werden, die unsere Entscheidungsfindung beeinträchtigen
und reduzieren.
Wie in den Reihen der Regierungskoalition darüber gedacht wird, das hat die Abstimmung im nordrhein-westfälischen Landtag am 20. Juni dieses Jahres gezeigt: CDU
und Grüne haben sich dort gegen das Vorhaben des Ministerpräsidenten ausgesprochen.
({5})
Ich finde es beachtlich, dass sich die Grünen in Nordrhein-Westfalen an ihre Beschlüsse und an ihre ethischen
Maßstäbe gehalten haben. Dafür möchte ich den nordrhein-westfälischen Grünen ganz herzlich danken. Denn
das ist in ihrer Position von besonderer Bedeutung.
Wie anders aber stellt sich die Situation auf Bundesebene dar? Es ist einer Grundsatzdebatte leider nicht angemessen - das muss ich wirklich betonen -, wenn jetzt
eine parteipolitische Auseinandersetzung geführt wird.
Zuerst wurde sie in der Bundesregierung geführt und jetzt
wird sie im Bundestag geführt. Deshalb muss ich sagen:
Den Vorwurf, den ich vom Fraktionsvorsitzenden der
SPD gehört habe, nämlich dass unser Moratorium bezüglich des Imports von und der Forschung an embryonalen
Stammzellen verlogen sei, finde ich ungeheuerlich. Ich
weise das strikt zurück.
({6})
Wir wollen nicht, dass durch das Vorpreschen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Fakten am Parlament vorbei geschaffen werden. Eine Entscheidung
über den Import von und die Forschung an embryonalen
Stammzellen kann nur im Deutschen Bundestag und nicht
außerhalb getroffen werden. Es gilt dabei, das Votum der
Enquête-Kommission Recht und Ethik in der modernen Medizin in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Das ist nicht nur eine Sachfrage; das ist eine Frage
des Selbstverständnisses unseres Parlaments. Deshalb haben wir den Antrag für ein Moratorium in den Deutschen
Bundestag eingebracht.
({7})
Wir haben die Form des Antrags gewählt, weil wir bewusst eine Brücke zu den Kolleginnen und Kollegen der
anderen Fraktionen bauen wollten.
({8})
Es geht uns hier um die Sache. Wir haben das daran deutlich gemacht, dass wir auf Sie zugegangen sind und gesagt
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
haben, wir würden diesen Antrag zurückstellen, wenn es
zu einem Gruppenantrag aus der Mitte des Parlamentes
käme. Darauf habe ich lange gehofft; nicht nur ich habe
Gespräche geführt, sondern auch meine Kollegen haben
Gespräche geführt. Wir wissen, wie schwierig die Situation inzwischen bei Ihnen geworden ist. Ich bedaure es
sehr, dass es nicht zu solch einer Initiative mitten aus
dem Parlament kommt. Damit hätte deutlich gemacht
werden können, dass wir bezüglich des Imports und der
Erforschung von embryonalen Stammzellen keine Fakten geschaffen haben wollen, sondern zuerst eine
Entscheidung im Deutschen Bundestag getroffen werden muss.
({9})
Die Regierungskoalition hat angekündigt, unseren Antrag abzulehnen. Sie stellen aber ebenfalls einen Antrag,
der nichts anderes beinhaltet als ein Moratorium, wenn
auch in recht abgeschwächter Form. Ich sehe das als den
kleinsten gemeinsamen Nenner an. Ihr Appell an Wissenschaftler und Forschungsinstitutionen, einer Entscheidung des Deutschen Bundestages nicht durch Schaffung
vollendeter Tatsachen vorzugreifen, entspricht in der Tat
der Form nach einem Moratorium. Deshalb hätte ich mir
gewünscht, dass eine Brücke gebaut worden wäre und wir
aufeinander zugegangen wären, um unser gemeinsames
Ziel deutlich zu machen. Wenn ein solches Moratorium
das Ziel sein sollte, dann bitte ich Sie noch einmal herzlich, unserem Antrag zuzustimmen, damit wir dieses gemeinsam nach außen deutlich machen können. Wenn Sie
kein Moratorium wollen, dann sollten Sie Ihren Antrag
zurückziehen.
Ich habe gestern bei einer Rede des Bundeskanzlers erhebliche Zweifel bekommen, was eigentlich mit diesem
Antrag erreicht werden soll. Auch darüber muss gesprochen werden. Der Bundeskanzler hat nämlich bei der
Jahresversammlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ganz klar gesagt, dass er nicht nur die Erwartung
hegt, sondern davon ausgeht - das hat er gegenüber
der Deutschen Forschungsgemeinschaft deutlich ausgedrückt -, dass eine Entscheidung darüber im Dezember
dort zu treffen sei. Zugleich hat er gesagt, dass das
Embryonenschutzgesetz in dieser Legislaturperiode
nicht mehr geändert werden soll. Diesen Punkt haben wir
übrigens auch immer miteinander diskutiert, aber offensichtlich haben sich die Verhältnisse geändert.
Nehmen wir uns einmal diese Worte des Bundeskanzlers vor. Sie heißen doch im Klartext: Die Tür im Embryonenschutzgesetz für den Import embryonaler Stammzellen und damit auch für die Forschung an diesen soll
offen gehalten werden. Wir hier im Deutschen Bundestag
dürfen debattieren; die Entscheidung liegt aber in der
Hand der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ich will
deshalb in aller Klarheit hier feststellen: Das Drängen des
Bundeskanzlers kann die Notwendigkeit einer Entscheidung hier im Deutschen Bundestag nicht aushebeln.
({10})
Schauen wir uns einmal an, was in den letzten Wochen
geschehen ist. Beginnen muss ich mit der Änderung der
Haltung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die sie
am 3. Mai dieses Jahres vollzogen hat. Bis zu diesem Datum sagte sie noch: keine Forschung an embryonalen
Stammzellen. Danach hat sie eine Empfehlung für die
Forschung an und vor allen Dingen für den Import von
embryonalen Stammzellen ausgesprochen. Zugleich erklärte sie aber, dass therapeutisches Klonen in Deutschland nicht zulässig sein solle. Inzwischen gibt es Wissenschaftler - ich nenne zwei, weil sie sich auch öffentlich
geäußert haben, Professor Ganten und Professor Bartram -,
die demgegenüber offen erklären, dass die Forschung ohne
therapeutisches Klonen kaum zu anwendbaren Therapien
führen werde.
({11})
Ich sehe in der Tat, dass man Schritt für Schritt in diese
Richtung gehen wird. Erst wird die Frage gestellt werden:
Können die importierten embryonalen Stammzellen möglicherweise - einige, wie Professor Bartram selbst, sagen
ja schon, dass Import von Doppelmoral zeuge - nicht hier
in Deutschland erzeugt werden, indem man die verwaisten tiefgekühlten Embryonen dafür nutzt? Dabei muss ich
mich sowieso fragen, was das Wort verwaist bedeutet.
Als Nächstes wird wahrscheinlich die Frage gestellt, wie
man beim therapeutischen Klonen verfährt; denn die Wissenschaftler wissen, dass mit der Verwendung eines derart erzeugten Gewebes keine Abstoßungsprozesse verbunden wären.
Die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts
weist zu Recht darauf hin, dass man zunächst einmal überlegen muss, inwieweit Forschungsergebnisse in einem
überschaubaren Zeitraum überhaupt realistisch sind und
was Forschung möglich macht. Ich füge hinzu: Wir müssen überlegen, welche Alternativen es gibt. Wir dürfen
nicht isoliert über die Forschung an embryonalen Stammzellen sprechen, sondern müssen auch die Möglichkeiten
der Forschung an adulten Stammzellen, an fetalen
Stammzellen und an Stammzellen aus Nabelschnurblut
wieder verstärkt in die Diskussion mit einbringen; denn
all das gibt Menschen die Chance, dass sich deren Heilungsaussichten verbessern. Ich frage mich deswegen immer wieder: Warum konzentrieren wir uns in der Diskussion auf den ethisch problematischen Bereich der
embryonalen Stammzellen? Warum setzen wir nicht stärker auf die unproblematische Forschung an adulten und
fetalen Stammzellen, auch, um Deutschland in diesem
Bereich im Spitzenfeld der Forschung zu halten?
({12})
Angesichts dessen glaube ich, dass wir in der nächsten
Zeit nicht nur die Frage des Imports von embryonalen
Stammzellen und die Forschung daran im Blick haben
dürfen; wir müssen uns vielmehr der viel grundsätzlicheren Frage der verbrauchenden Embryonenforschung
zuwenden. Nur wenn man das ganze Feld im Blick hat,
kann man wirklich verantwortlich über die Frage des Imports von und der Forschung an embryonalen Stammzellen entscheiden. Wir alle müssen uns deutlich vor Augen
führen: Es gibt keine embryonalen Stammzellen ohne die
Tötung eines Embryos und damit die Vernichtung
menschlichen Lebens.
({13})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Unter diesem Gesichtspunkt haben wir dieses Moratorium hier eingebracht. Ich appelliere noch einmal sehr herzlich an Sie:
Stimmen Sie diesem Moratorium zu. In ihm wird die
Bundesregierung aufgefordert, sicherzustellen, dass bis zu
einer Entscheidung des Deutschen Bundestages kein Import von und keine Forschung an embryonalen Stammzellen stattfinden soll. Wir bitten darin die Deutsche Forschungsgemeinschaft, so lange von einer entsprechenden
Förderung abzusehen. Darüber hinaus wenden wir uns
auch an die Wissenschaftler und richten den Appell auch
an sie, das zu berücksichtigen.
Es geht um Fragen des Menschseins und des Lebens.
Um diese zu entscheiden, brauchen wir Zeit und die gediegene Auseinandersetzung mit all diesen Fragen. Ich
bin gewillt, dass wir das zügig tun und uns mit aller Kraft
damit auseinandersetzen. Es kann aber nicht sein, dass
Fakten geschaffen werden und wir mit diesen Fakten konfrontiert werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Margot von Renesse
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Dr. Böhmer, ich
hoffe, dass die Auseinandersetzung um die Art und Weise,
wie diese Anträge zustande gekommen sind, die gute Zusammenarbeit, die wir am 31. Mai dieses Jahres begonnen
haben und die auch in der Enquête-Kommission stattfindet, Herr Lensing, nicht beeinträchtigen wird. Deswegen
ist es mir wichtig, den Punkt an den Anfang meiner Rede
zu stellen, worin wir übereinstimmen, nämlich darin, dass
die Entscheidung hier im Deutschen Bundestag fallen
muss.
({0})
Lassen Sie mich aber deutlich erklären, warum wir
Ihrem Antrag in der Sache nicht zustimmen können. Andere mögen etwas über den Verdacht sagen, dass sie
gar keinen sachlichen Antrag vorlegen wollten, sondern
die Brandfackel in das Haus der Koalition haben werfen
wollen.
({1})
Ich verstehe davon nicht genug, um darüber viel sagen zu
können. Das, was Sie vorhin gesagt haben, Frau Böhmer,
hat mich etwas zweifelnd gemacht; das hätte ich bis jetzt
gar nicht geglaubt. Darüber will ich aber gar nicht viel reden, sondern will auf die Sache selbst eingehen.
Es gibt ein paar Gründe, warum Ihrem Antrag von uns
nicht zugestimmt werden kann. Wären Sie im Status Nascendi dieses Antrages zu uns gekommen, so hätten wir
vielleicht eine gemeinsame Ebene finden können. Aber
einfach diesen Antrag zu stellen und uns zu sagen, wir
könnten ja zustimmen, ist vielleicht doch nicht die richtige Methode der Zusammenarbeit zwischen einer Regierungskoalition und der Opposition, so gerne man diese
Zusammenarbeit auch hat.
Lassen Sie es mich von der Sache her begründen. Das
Erste: Sie haben in Ihrem Antrag erklärt, dass das
Embryonenschutzgesetz die Produktion und den Import
von Stammzellen offen lasse bzw. nicht erfasse, weil man
das damals nicht gekannt habe. Dies sieht so aus, als ob
das Embryonenschutzgesetz diese Tatbestände erfassen
müsse. Nun ist das Embryonenschutzgesetz ein reines
strafrechtliches Nebengesetz. Ob das Embryonenschutzgesetz diese beiden Fälle umfassen müsste, ist unter uns
enorm streitig. Es kann dazu also keinen Antrag geben,
den wir alle unterschreiben können; jedenfalls nicht zum
jetzigen Zeitpunkt.
Das Zweite: Ein Moratorium ist etwas, das Betroffene
freiwillig vereinbaren können. Aber die Sprache des
Deutschen Bundestages ist ein Gesetz.
({2})
Sie hatten einen Gesetzentwurf vorbereitet. Davon weiß
ich und davon wissen wir alle. Sie haben sich selber nicht
einigen können und die Vorstellung, der Deutsche Bundestag könne wie ein absoluter Fürst, ohne das Wort „Gesetz“ in den Mund zu nehmen, Leuten etwas ge- oder verbieten, beruht auf der Inanspruchnahme einer Autorität,
die wir nicht haben und die unsere wirkliche Autorität
eher verdunkeln würde. Das mache ich nicht mit.
({3})
Das Dritte: Sie fordern ganz konsequent die Bundesregierung dazu auf, dass sie sicherstellen solle, dass der Import von Stammzellen nicht geschieht. Wie soll eine
Bundesregierung dies sicherstellen, ohne dass ihr der
Bundestag ein Gesetz dafür liefert?
({4})
Das geht nun einmal nicht und das machen wir nicht mit.
Wir bleiben bei der Autorität, die wir haben, das heißt, wir
sagen: Wir sollen selber etwas tun.
Lassen Sie mich Ihnen und auch den Forschern, der
DFG und anderen, die damit zu tun haben, ganz aufrichtig sagen: Ich frage mich seit geraumer Zeit, ob wir als
Gesetzgeber nicht einiges verschlafen haben und ob wir
nicht die Hängepartie, die wir Forschern zumuten - auch
ehrlichen Forschern wie Brüstle, die öffentlich Anträge
stellen und nicht heimlich importieren, die es auch gibt -,
mit verschuldet haben, weil wir möglicherweise geschlafen und nicht gesehen haben, was passiert.
Sie haben selber einiges genannt, worüber wir möglicherweise holterdiepolter Entscheidungen treffen müssen, die wir aber hoffentlich sorgfältig vorbereiten. Die
Enquête-Kommission wird das Ihre dazu tun. Dafür stehen alle Mitglieder der Enquête. Dies wird aber nach der
Zeit, in der wir uns hinter einem Embryonenschutzgesetz
verschanzt haben, welches ohne Zweifel ein Glücksfall in
der deutschen Rechtsgeschichte ist, aber im Zusammenhang der Lebenswissenschaften hätte fortgeschrieben
werden müssen, nicht einfach sein.
({5})
- Nein, bitte, Herr Lensing, ein andermal. Entschuldigen
Sie bitte.
({6})
- Ja, hier. Aber der Deutsche Bundestag muss das Ergebnis in Form eines Berichts zur Kenntnis nehmen und das
werden wir tun.
Nun der vierte Grund, warum wir Ihrem Antrag nicht
zustimmen: Wenn wir an die Forscher den Appell richten
- das Einzige, was wir tun können -, immer noch auf uns
zu warten, dürfen wir auch nicht trödeln. Dann müssen
wir handeln.
({7})
Dann muss der Deutsche Bundestag auch sagen, dass er
jetzt etwas tun wird. Er muss den Leuten sagen, dass nicht
das passiert, was sich einige in diesem Hause wünschen,
nämlich zu sagen, dass die Forscher warten sollen, sie
aber anschließend bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten zu lassen. Diese kalte Küche darf es hier im Parlament
nicht geben. Wir werden uns entscheiden. Wir werden es
tun. Ich hoffe, dass wir uns richtig entscheiden.
Wir betreten vermintes Gelände, das wissen wir alle.
Wie auch immer wir uns entscheiden - eines will ich ganz
deutlich sagen: Gesetzt den Fall, dass wir die Heuchelei
der Nichtgewinnung von Stammzellen in Deutschland
nicht vermeiden und auch gleichermaßen den Import verbieten, werden wir dann eines Tages auch die Erkenntnisimporte verneinen, werden wir diese auch verbieten?
Werden wir unseren Forschern verbieten, nach Amerika
zu gehen und dort zu tun, was nach deutschem Recht
- Entschuldigung, das sage ich auch als Juristin - nach der
Strafrechtsandrohung sowohl nach Handlungs- als auch
nach Erfolgsunrecht
({8})
eher eine lässliche Sünde ist, mit maximal drei Jahren
Freiheitsentzug bestraft wird? Dies ist schon bei Diebstahl mehr. Ich frage mich, ob wir so heilig werden können, wie wir vorgeben zu sein.
({9})
Das Embryonenschutzgesetz sieht jedenfalls manches
offensichtlich anders: Warum ist der Status eines verwaisten Embryos höher als der eines abgegangenen oder abgetriebenen Fötus, von dem keiner behauptet, er sei nicht
Forschungsobjekt? Er ist es schon seit über 100 Jahren.
({10})
Die Embryologie lebt davon. - Fragen über Fragen!
Wenn wir konsistent und konsequent bleiben wollen
- das sage ich nun all denen, die an Standortfragen interessiert sind, was meine Sache nicht ist -, kann Deutschland nur bei moralisch und ethisch geradem Weg Standort für Wissenschaft und Wirtschaft sein. Es gibt in
Deutschland, in dessen Nachbarschaft das alles geschieht,
keine Möglichkeit, etwas zu tun, was das Licht der
Öffentlichkeit scheuen müsste. Das muss der Wirtschaft
gesagt werden und das muss der Wissenschaft gesagt werden. Diejenigen, die Stammzellen importiert haben, ohne
dass die Öffentlichkeit etwas davon wusste - anders als
Brüstle -, haben die Diskussion erheblich belastet, weil
sie das Misstrauen vergrößert haben.
({11})
Die Diskussion ebenso belastet haben Journalisten, die
den Namen und die Adresse von Brüstle deutlich gekennzeichnet haben, um ihn an den Pranger zu stellen; er bekommt bereits Morddrohungen. Das sind Methoden, die
in diesem Hause und auch außerhalb zwischen Kontrahenten verschiedener Meinungen nicht angemessen sind.
Lassen Sie mich noch etwas sagen: Wir haben mit
Menschenwürde zu tun und wir haben sie zu achten; sie
ist nicht abwägbar. Darum müssen wir uns die Frage stellen, wie verzichtbar Forschung sein kann. Die adulten
Stammzellen sind deswegen kein Thema, weil sie ohne
ethisches Problem gefördert werden. Deshalb erscheint es
mir unter dem Gesichtspunkt des Art. 5 des Grundgesetzes, der Forschungsfreiheit garantiert, fraglich, dass der
Deutsche Bundestag die Frage nach einer sinnvollen Forschung beantworten soll. Ich glaube, das ist nicht unser
Thema, sondern wir werden die Frage nach der Verletzung
der Menschenwürde beantworten müssen, und zwar nach
Gewissen und Wissen. Es gibt kein Grundrecht sozusagen
auf Respekt vor Tabus. Wir müssen jedes Verbot, das wir
aussprechen wollen, mit Rechtsgütern, die in der Verfassung ihre Grundlage haben, legitimieren. Das allgemeine
Entsetzen und das allgemeine Gefühl der Abscheu sind
kein ausreichender Grund für ein Verbot. Wir müssen das
Problem klar benennen und nüchtern darüber diskutieren.
({12})
Letzter Punkt: Wir reden immer vom Embryo. Das ist
auch richtig, denn die Menschenwürde, die sich im Embryo verwirklicht, weil sie ihm nach der allgemeinen
Überzeugung des Deutschen Bundestags zukommt, steht
in Rede. Reden wir aber auch vom Ende des Lebens. Ich
spreche ein ethisches Problem an, das mich in letzter Zeit
bei der Stammzellenforschung bewegt: Ich habe Angst
vor einer Vampirmedizin, die Alter, altersbedingten Verfall, vielleicht auch den Tod, als Krankheit identifiziert
und deswegen die Lebenskraft anderer Lebewesen
benötigt, um das Lebenslicht, so wie man auf eine erlöschende Kerze eine andere steckt, zu verlängern. Ich
möchte, dass wir immer noch einen Begriff von Krankheit
und von der Endlichkeit des Lebens haben; wir müssen
begreifen, wo sich das Leben rundet und wo es sich vollenden darf.
Danke sehr.
({13})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Werner
Lensing von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Weil ich eben nicht die
Gelegenheit hatte, eine Frage stellen zu dürfen - was ich
aber im Übrigen durchaus verstehe -, nutze ich das Mittel der Kurzintervention.
Es wird hier mit hohem Ethos beschworen, dass wir
uns in diesen Fragen, bei denen es im wahrsten Sinne des
Wortes um Leben und Tod geht, möglichst breit zwischen
den Parteien verständigen und dabei naturgemäß auch
eine Gewissensentscheidung berücksichtigen. Aber die
Arbeitsbasis - Frau Kollegin Böhmer hat bereits darauf
hingewiesen - wird uns allen in dem Augenblick entzogen, in dem man bei dem Vorschlag einer Partei, in diesem Fall der CDU/CSU-Fraktion, sagt, er sei verlogen,
und im anderen Falle meint, man habe die Wahrheit gepachtet.
Deswegen möchte ich Folgendes mit Nachdruck feststellen: Es kann überhaupt nicht sein, dass auf der einen
Seite in einem Antrag gefordert wird, der Bundestag solle
sich als höchster Souverän - ich unterstütze das vom
Grundsatz - mit dieser Frage befassen, was befassen
immer heißen mag, und auf der anderen Seite erklärt wird,
man wolle über das Embryonenschutzgesetz während
dieser Legislaturperiode nicht verhandeln. Es stellt sich
die Frage: Entweder scheidet die Möglichkeit, dass sich
der Deutsche Bundestag für ein dauerhaftes Verbot des
Imports der infrage stehenden Stammzellen entscheidet,
nach allgemeiner Ansicht ganz aus oder aber der Deutsche
Bundestag kann sich zwar möglicherweise ein dauerhaftes Verbot wünschen, wird es aber nicht wirksam im Embryonenschutzgesetz verankern können.
Das bedeutet im Klartext: Egal, wie wir uns verhalten,
der Import kann - da wir nicht an das Embryonenschutzgesetz herangehen wollen - automatisch weiter laufen,
weil er auch schon jetzt erfolgt. Das ist eine Doppelmoral,
die - um den Ausdruck zu zitieren - verlogen ist. Ich frage
die SPD und Bündnis 90/Die Grünen: Was soll die viel beschworene Diskussion eigentlich erbringen, wenn wir
doch nicht handeln können? Wenn man uns vorwirft, wir
hätten keinen eigenen Antrag eingebracht, sich selbst aber
auch weigert, Ähnliches zu tun, dann wird dieser Appell,
der hier heute groß beschworen wird, aus meiner Sicht zur
Farce.
Vielen Dank.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Flach von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Keine
Strafe ohne Gesetz - das ist einer der wichtigsten Grundsätze unseres freiheitlichen Rechtsstaates. Mit anderen
Worten: Es darf nur das Tun bestraft werden, das zum
Zeitpunkt der Tat unter Strafandrohung per Gesetz verboten war.
Für unsere derzeitige Debatte heißt dies: Der Import
embryonaler pluripotenter Stammzellen zum Zweck der
Forschung ist zulässig; denn er ist laut Embryonenschutzgesetz nicht verboten. Die deutschen Forscher - von Kiel
bis München - haben die Rechtssicherheit, Embryonenforschung durchführen zu dürfen. Wer dies verhindern
will, liebe Kollegen von der CDU/CSU, muss das Embryonenschutzgesetz ändern.
({0})
Dass dies zumindest indirekt von allen Antragstellern akzeptiert wird, ist ein erfreuliches Ergebnis der Debatten
der letzten Wochen.
({1})
Es ist vor diesem Hintergrund in hohem Maße unseriös,
Forscher zu diskriminieren, die auf unser Grundgesetz
bauen und die bestehende Rechtslage nutzen.
({2})
Die F.D.P. erwartet von allen Antragstellern, egal, ob sie
für ein Moratorium, ein Verbot des Imports sind oder
nicht, dass sie dies auch akzeptieren und nicht das legale
Verhalten von Wissenschaftlern in eine halbkriminelle
Ecke rücken.
({3})
Die deutsche Wissenschaft hat zu keinem Zeitpunkt der
Debatte über die Nutzung embryonaler Stammzellen
Zweifel daran gelassen, dass ihre Forschungen dem
Zweck der Entwicklung von Therapien für kranke Menschen dienen. Das Interesse der Forscher ist das Interesse
der Kranken. Therapie und Heilung sind auch die primären Ziele, die die F.D.P. leiten. Aus diesem Grunde sind
wir entschieden gegen den Versuch, Forschungen, die unsere Lebensbedingungen verbessern, zu behindern oder
gar zu verbieten.
Die F.D.P. spricht sich deshalb deutlich gegen den Antrag der CDU, Import und Forschung bis zu einer EntMargot von Renesse
scheidung des Bundestages auszusetzen, aus. Wir wollen
kein Moratorium, nicht nur deshalb nicht, weil es sich
um eine rein rhetorische Maßnahme handelt, wie Herr
Lensing gerade sehr deutlich gemacht hat, sondern auch,
weil wir die Forschung auf diesem für die medizinische
Entwicklung so wichtigen Gebiet nicht behindern wollen.
Wer heute ein Moratorium verabschiedet, lähmt einen
ganzen Forschungszweig, liebe Kollegen. Das mag gut
für die Debattenkultur in Deutschland sein - es ist schädlich für die Menschen, die an Krebs, Parkinson, Alzheimer, Diabetes oder Osteoporose leiden und auf Linderung, wenn nicht Heilung hoffen.
({4})
Unsere Aufgabe, liebe Kollegen, ist es nicht, Gräben
zwischen Wissenschaft und Gesellschaft aufzureißen.
Unsere Aufgabe ist es, Gesetze zu verabschieden, die mit
hoher moralischer Verantwortung eine gesicherte Basis
für eine streng kontrollierte, transparente Forschung ermöglichen. Das geht weit - das muss ich auch Ihnen sagen, Frau von Renesse - über ein Moratorium oder das
Warten auf Ethikrat-Entscheidungen hinaus.
Wir sind in der Pflicht, ein Gesetzeswerk zu schaffen,
welches Forschung nicht nur über Gesetzeslücken und
Import aus dem Ausland erlaubt. Import als Ausweg aus
Ihren Koalitionsproblemen - das ist zu wenig. Wir brauchen eine klare gesetzliche Grundlage, gerade weil wir es
mit komplexen ethischen Fragen zu tun haben.
({5})
Dabei können wir uns natürlich von Ethikräten, Kommissionen und Fachgremien beraten lassen, aber das Parlament soll und darf sich nicht den Zeitplan von Gremien
diktieren lassen, die ihre Legitimität nicht vom Volk, sondern aus dem Kanzleramt erhalten haben. Deshalb lehnen
wir auch den Koalitionsbefriedungsantrag der Regierungsfraktionen ab. Auch Sie binden das Parlament, indem Sie die Stellungnahmen der Enquête-Kommission,
des Ethikrates und der DFG zur Vorbedingung einer Befassung des Bundestages machen. Das mag gut für den
Koalitionsfrieden in der Sommerpause sein, aber im
Herbst werden Sie um eine Entscheidung nicht herumkommen. Wir, die F.D.P., werden dann einen eigenen Gesetzesantrag einbringen und wir wünschen auch, dass darüber entschieden wird.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ihre Entscheidung über eine Förderung des Stammzellenprojektes von Oliver Brüstle verschoben. Das ist die freie
Entscheidung der DFG. Dafür erwarten aber die Forscher
zu Recht, dass das Parlament deutlich macht - hier
stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, Frau von Renesse -, ob
es diese Forschung will oder nicht. Sie können nicht einfach halt rufen und glauben, damit sei das Problem
gelöst. Die Forschung im Ausland geht weiter und wenn
es bei uns politisch so weitergeht, gehen unsere Forscher
natürlich ins Ausland.
Wir erwarten von Ihnen, dass Sie nicht den Weg des
kleinsten gemeinsamen Nenners Ihrer Koalition gehen.
Falls Sie auf Zeit spielen und meinen, Querelen dadurch
entgehen zu können, dass Sie die Welt außerhalb Deutschlands Embryonen für deutsche Forschung zur Verfügung
stellen lassen, dann irren Sie sich. Spätestens bei der
Frage, wie man denn mit Medikamenten und Heilungsverfahren umgeht, die im Ausland durch Embryonenforschung entstanden sind, werden Sie Farbe bekennen müssen. Oder wollen Sie den Deutschen erklären, dass wir
dann alle darauf verzichten?
({6})
Die F.D.P. will noch in diesem Jahr eine Novellierung
des Embryonenschutzgesetzes mit dem Ziel der Forschung an überzähligen Embryonen aus der künstlichen
Befruchtung. Dafür werden wir kämpfen, liebe Kollegen,
und ich bin sicher, auf diesem Wege werden uns auch
Kollegen der anderen Fraktionen folgen. Die Freiheit des
Gewissens ist keine Einbahnstraße im Sinne der Forschungsgegner.
Lassen Sie uns nicht noch mehr Zeit verlieren. Nehmen
Sie die Forschungsministerin beim Wort und machen Sie
Tempo für Entscheidungen. Stimmen Sie gegen ein Moratorium und für unseren Antrag.
({7})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Andrea Fischer vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
halte den Koalitionsantrag, den wir heute einbringen und
zur Abstimmung stellen, für die angemessene Reaktion
auf die Entwicklungen der letzten Zeit. Er ist deshalb angemessen, weil sich der Bundestag an die Forscher wendet und an sie appelliert, zu respektieren, dass er der Souverän ist und diese Fragen entscheidet. Zugleich machen
wir deutlich, dass der Bundestag gewillt ist, diesen Entscheidungsprozess voranzutreiben.
Im Ziel gibt es dabei durchaus Übereinstimmung mit
manchem, was im CDU/CSU-Antrag steht. Der Hauptgrund, warum ich glaube, dass dieser Antrag in der jetzigen Form nicht angenommen werden kann, ist, dass es
nach der gegenwärtigen Rechtslage überhaupt nicht erkennbar ist, was die Bundesregierung zur Durchsetzung
eines solchen Moratoriums tun könnte. Um es etwas flapsig auszudrücken: Ich hoffe nicht, dass Sie erwarten, dass
die Bundesregierung eine schnelle Eingreiftruppe in die
entsprechenden Forschungslabors schickt.
({0})
Insoweit ist nach meinem Dafürhalten unser Antrag die
angemessene Reaktion.
Der Bundestag muss sich zu der gegenwärtigen Entwicklung verhalten. Zugleich braucht er Zeit dafür. Ich
selbst habe die Erfahrung gemacht, dass das vergangene
Jahr offenkundig bei allen Fraktionen als zu früh galt,
({1})
sich mit einem Fortpflanzungsmedizingesetz als Weiterentwicklung des Embryonenschutzgesetzes zu befassen.
({2})
Ich will noch etwas zu dem Vorwurf sagen, wer die
Steilvorlage aus unserer guten Debatte vom 31. Mai dazu
gegeben habe, jetzt wieder in ein parteipolitisches Hickhack zurückzufallen. Vollkommen klar ist, dass wir es mit
moralischen Fragen zu tun haben, die in der Politik einen
ganz eigenen Sprengsatz darstellen. Am Ende wird es einige strittige Punkte geben, die nur quer durch die Fraktionen entschieden werden können, weil sie Gewissensfragen sind. Trotzdem sind wir hier nicht im politikfreien
Raum und damit auch nicht im machtpolitisch freien
Raum. Deswegen sollte das auch niemand unterstellen.
Bislang haben wir uns alle mit ziemlich viel Anstand in
dieser Debatte bewegt. Dies sollten wir beibehalten, dürfen aber nicht so tun, als seien sämtliche Regeln der Politik, die sonst gelten, außer Kraft gesetzt.
({3})
Ich möchte mich noch kurz auf die Sache einlassen:
Die Debattenlage spitzt sich nach meiner Wahrnehmung
immer stärker darauf zu, dass vonseiten der Forschung gesagt wird, es könne nicht angehen, dass die Politik erstens
so lange braucht und zweitens, wenn sie einmal entscheidet, sich gegen etwas entscheidet, was die Forschung machen will.
Ich habe viel Verständnis für das Problem des Timelags, der Differenz zwischen der von der Politik für eine
wirklich nicht einfach zu führende gesellschaftliche Diskussion benötigten Zeit und der Ungeduld der Forscher.
Ich kann das gut nachvollziehen. Trotzdem meine ich,
dass es nicht unbillig ist, Respekt vor dieser zeitlichen
Differenz zu verlangen, weil solche Entscheidungen in
einem politischen und parlamentarischen Prozess wirklich schwierig sind.
({4})
Die zweite Frage geht ins Grundsätzliche. Was wäre,
wenn das Parlament - in welcher Form auch immer - eines Tages entschiede, eine bestimmte Form von Forschung nicht zulassen zu wollen, weil sie an einem Material erfolgt, dessen Verwendung wir für ethisch nicht
zulässig halten? Damit kommen wir zu einer Kernfrage.
Heißt das, dass die Politik die Forschungsfreiheit infrage
stellt? - Ich beantworte diese Frage mit Nein. Auch jetzt
schon bewegt sich die Forschung nicht in einem rechtsfreien Raum.
({5})
Das beginnt mit Sicherheitsbestimmungen für die Labors
und reicht bis zum Verbot von fremdnütziger Forschung
und von Menschenversuchen. Das heißt: Wir reden nicht
zum ersten Mal darüber, dass es bestimmte Regeln geben
muss. Daher plädiere ich an diesem Punkt definitiv dafür,
hinsichtlich der in den letzten Wochen deutlich gewordenen Spirale etwas abzurüsten.
Ich will, wie ich das schon vor vier Wochen getan habe,
noch einmal betonen: Es gibt zurzeit eine ausgeprägte öffentliche Wahrnehmung und auch Wertschätzung der
Erfolge der Lebenswissenschaften, der Erfolge der Gentechnologie und der Biotechnologie. Es gibt massive öffentliche Förderung für die Stammzellenforschung. Strittig ist allein ein Bereich, in dem es um Stammzellen geht,
die durch den Verbrauch von Embryonen gewonnen
werden. Das ist ein relativ kleiner Bereich der gesamten
Stammzellenforschung.
Auch das möchte ich noch einmal gegenüber denjenigen betonen, die diese Alternative - entweder Heilung
oder keine Forschung an Stammzellen - aufmachen, die
ich in dieser Entgegensetzung für polemisch halte.
({6})
Ich empfinde es als berechtigt, nicht ganz so schlunzig
darüber hinwegzugehen und von einer Forschung zu sprechen, die als Rohstoff den Menschen in seinem frühesten
Stadium benutzen will. Uns allen sind die philosophischen Auseinandersetzungen der letzten Wochen über die
Frage, ob dieses frühe Stadium denselben Status an Menschenwürde und Lebensschutz wie spätere Stadien verdient, wohlvertraut. Ich habe meine Position dazu deutlich gemacht.
Ich will an diesem Punkt vor allem noch einmal unterstreichen: Wenn wir diese politische Entscheidung treffen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir
damit einen irreversiblen Schritt tun. Es wurde vorhin
schon darauf hingewiesen: Wir werden dann nicht bei den
paar angeblich überzähligen Embryonen stehen bleiben.
Der nächste Schritt wird vielmehr sein, aktiv in die Produktion von Embryonen einzusteigen.
Professor Ganten wies darauf hin, dass es dann auch
kein starkes Argument mehr dafür gibt, nicht mit dem therapeutischen Klonen zu beginnen, was by the way auch
bedeutet, in die massive Gewinnung von weiblichen Eizellen einzusteigen. Die Tatsache, dass das therapeutische
Klonen nur mit dieser Ressource wird funktionieren können, ist ein Aspekt, der meiner Ansicht nach in dieser Diskussion sträflich vernachlässigt wird.
({7})
Aus diesem Grund halte ich es für berechtigt, dies nicht
nur als Appell an den Bundestag, den man, wie ich nach
dieser Debatte meine, nicht mehr davon überzeugen
muss, dass er hierzu gefragt ist, sondern auch an die Gemeinschaft der Forschenden zu richten. Es ist notwendig
und sinnvoll, sich dieser Frage sehr gründlich zu stellen.
Ich meine übrigens auch, dass das Argument, die anderen machten es ja, wenig überzeugend ist. Wir lassen
uns auch bei anderen grundsätzlichen Fragen hinsichtlich
unserer Vorstellung, was die Regeln des menschlichen
Zusammenlebens sein sollen, wie wir zusammenleben
wollen, nicht darauf ein, zu sagen, die anderen haben es
aber so oder so entschieden. Von daher ist die Frage berechtigt: Wollen wir in Deutschland aktiv in die Forschung unter Verbrauch von Embryonen und deren HerAndrea Fischer ({8})
stellung zu diesem Zweck einsteigen? Man könnte auch
sagen: Deutschland beschreitet in der Forschung aktiv einen anderen Weg. Das heißt, diese Entscheidung bleibt
uns nicht erspart. Sie ist auch nicht so leicht, als dass man
sagen könnte: Wir folgen einfach den anderen. Dies gilt
insbesondere, wenn man sich anschaut, dass auch in anderen Ländern, nicht zuletzt in den USA, diese Frage mindestens so umstritten ist wie in der Bundesrepublik.
({9})
Ein weiterer Punkt: Bei der Frage, welchen Sinn und
welche zwingende Begründung es dafür gibt, unbedingt
an menschlichen embryonalen Stammzellen zu forschen,
stellt man fest, dass dies offenkundig in der Community
und auch unter den Wissenschaftlern selber umstritten ist,
nicht nur unter bedenkenträgerischen Politikern. Ich
finde, das gibt allen Anlass dazu, hier mit Bedacht vorzugehen und nicht nur den Stand der Wissenschaft gründlich zu bedenken, sondern dabei auch die grundsätzlichen Fragen zu erörtern.
In diesem Sinne möchte ich sagen: Die Forscher sind
mit ihrer Arbeit ein Teil der Gesellschaft.
({10})
Diese Gesellschaft hat sich bestimmte Regeln gegeben
und nimmt lebhaft Anteil an dem, was die Forschung tut.
Die Forschung und die Forscher sind kein außergesellschaftlicher Bereich, der sich davon irritiert fühlt, dass
andere, die nicht ganz so viel davon verstehen, ihre
Bedenken äußern, diese angemessen erörtern und gegebenenfalls Regeln aufstellen. Das ist eine Form von
Selbstbeschränkung dieser Gesellschaft. Diese Auseinandersetzung ist uns auch in anderen Bereichen nicht unvertraut. Deswegen sollten wir hier nicht so diskutieren,
als wollten wir zum ersten Mal eine Grenze setzen.
({11})
Ich will abschließend noch etwas zum Verfahren sagen.
Wer hier welchen Weg verlassen hat, liebe Frau Kollegin
Böhmer, ist wahrscheinlich schwer festzustellen. Ich
schlage Folgendes vor: Erstens. Da unser Antrag manches
von dem enthält, was auch in Ihrem Antrag steht, könnten
umgekehrt Sie überlegen, ob Sie unserem Antrag zustimmen wollen.
({12})
Zweitens. Wir haben es - das habe ich vorhin schon gesagt - nicht mit einem politikfreien Raum zu tun, in dem
alle sonst geltenden Regeln außer Kraft gesetzt sind. Was
aber gilt, ist, dass wir im Moment eine Art von Debatte
führen, die der Schwierigkeit und auch der Tragweite
dieses Themas meines Erachtens sehr angemessen ist.
Auch die Auseinandersetzung untereinander verläuft gut.
Es wäre schön, wenn das weiterhin so möglich wäre.
Wenn wir ein Interesse daran haben, eine Gewissensentscheidung zu treffen, werden wir überlegen müssen, ob
wir uns an Verfahren, die wir aus früheren Debatten über
moralisch schwierige Fragen kennen, orientieren. Dort
haben wir uns bemüht, bei den unstrittigen Fragen einen
möglichst breiten Konsens herzustellen, sodass sich die
Debatte auf wenige strittige Fragen konzentriert.
({13})
Wir alle sollten die Sommerpause dafür nutzen, darüber
nachzudenken, welche Art von Verfahren das sein kann,
um weiterhin dem Wunsch gerecht zu werden, uns mit
diesem Thema angemessen zu befassen, ohne so zu tun,
als würden wir nun alle keine Parteien mehr kennen.
Letzter Punkt. Zu den vielen Räten, die wir haben. Ich
finde: Bei so einem Thema kann man gar nicht genug
Ratschläge bekommen, aber entscheiden werden wir, der
Deutsche Bundestag.
({14})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen hier vor einer
Richtungsentscheidung, aber wir stehen nicht allein: Die
Menschheit steht vor einer Richtungsentscheidung.
Ausweichen geht nicht. Es scheint so zu sein, als stünde
ewige Gesundheit gegen immer währende Unvollkommenheit.
Aber Richtungsentscheidungen sollte man nicht unter
Zeitdruck fällen. Noch weniger jedoch dürfen wir sie blinden Marktkräften überlassen. Diese Demokratie kennt als
Ort für solche Entscheidungen das Parlament, und zwar
nur das Parlament. In diesem Punkte scheinen wir uns alle
einig zu sein. Das will ich gern hervorheben.
Die Forschung an embryonalen Stammzellen verheißt
sagenhafte Fortschritte: Ersatzorgane, Linderung für
Parkinsonkranke, Heilung von Querschnittslähmung und
andere Dinge. Aber schon mit diesen Hoffnungen, Frau
Flach, verändern wir unser Menschenbild.
({0})
Wenn Sie hier so tun, als ob die Kranken morgen geheilt werden könnten - dieses Bild haben Sie hier vermittelt -,
({1})
dann verunsichern Sie die Menschen in starkem Maße
und machen ihnen Hoffnungen, die nicht erfüllbar sind.
Sie wissen so gut wie ich, dass die ersten Versuche mit
embryonalen Stammzellen an Parkinsonkranken die
Krankheit verschlechtert bzw. dazu geführt haben, dass
die meisten so behandelten Patienten Krebs bekommen
haben. Ich weiß nicht, ob das besser ist.
Ich komme auf das Menschenbild zurück. Bis jetzt ist
die menschliche Unvollkommenheit das Selbstverständlichste von der Welt, egal, ob man das vom religiösen oder
Andrea Fischer ({2})
vom humanistisch-aufklärerischen Standpunkt sieht.
Wenn es aber zukünftig anders wäre, dann wäre die Unvollkommenheit vielleicht ein Makel. Dann muss man
sich vielleicht dafür entschuldigen, nicht einem bestimmten Schönheitsideal - oder gar einer bestimmten
Mode - zu entsprechen, weil angeblich alles reparierbar
sei.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass auch bei uns in der
PDS-Fraktion unterschiedliche Meinungen zu den vorliegenden Fragen existieren. Das ist das Normalste von der
Welt. Aber wir haben auf die Vorlage eines Antrages zur
heutigen Debatte verzichtet, weil wir keine parteipolitische Komponente hineinbringen wollten. Was hätte es
denn genützt, wenn Sie unseren Antrag, auch wenn er
noch so gut gewesen wäre, abgelehnt hätten, nur weil er
von uns gekommen ist?
Noch ist nicht klar, wie die Risiken und die Chancen
der Forschung an embryonalen Stammzellen verteilt sind.
Klar ist nur: Wenn eine solche Forschung in großem Stil
eingesetzt hat, dann ist sie nicht mehr rückholbar. Die
Kollegin Fischer hat eben darauf hingewiesen. Und dann
stehen wir vor vollendeten Tatsachen, die von den freien
Kräften des Marktes oder von dem unbändigen Forschungswillen Einzelner geschaffen worden sind. Man
kann in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung nachlesen, dass sich Frau Kollek und Frau
Schneider nicht des Verdachtes entziehen können, dass
gar nicht die viel beschworene Ethik des Heilens, sondern der Wettlauf um Patente im Vordergrund steht. Das
ist ein gewaltiger Unterschied. Bei Letzterem geht es
nämlich um die Verwertungsrechte. Das ist etwas anderes als der Wunsch, in erster Linie anderen zu helfen.
Wenn uns die Forschung vor vollendete Tatsachen stellt,
dann ist es - quasi unter der Hand - gesellschaftlich akzeptiert, dass Embryonen getötet werden können. Und
zwar für Forschungszwecke. Die ethische Dimension ist
hier wohl unübersehbar.
Wenn wir jetzt einen Moment innehalten, das heißt vier
bis fünf Monate, dann gewinnen wir ein bisschen Muße,
um noch einmal im Rahmen eines breiten gesellschaftlichen Diskurses darüber nachzudenken, ob wir Embryonen opfern wollen, ob wir Organersatzbanken wollen
und ob wir programmiert wachsende Zellen zur Krankheitsbekämpfung implantiert haben wollen. Niemand
weiß, ob solche Zellen aufhören zu wachsen, wenn ihre
Aufgabe erfüllt ist. Niemand weiß heute, ob die Organzüchtung wirklich funktioniert. Aber was, bitte schön,
wird aus den so genannten Zwischenergebnissen? Sind
das dann medizinische Kollateralschäden? Lasten dann
vielleicht nur verbrauchte Embryonen auf unseren Gewissen? Es gibt noch viele andere Fragen, die heute bereits von Frau von Renesse, von Frau Böhmer und von
Frau Fischer gestellt worden sind.
Der politische Begriff für Innehalten lautet Moratorium. Wenn der Bundestag jetzt ein Moratorium beschließt, dann kann es eine starke moralische Wirkung
entfalten. Das ist etwas anderes als nur bitte, bitte zu
machen. Es würde den Zeitrahmen für die Vorbereitung
von Entscheidungen schaffen. Das Parlament könnte
dann seine Verantwortung sachgerecht und bewusst wahrnehmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe auf
eine gute weitere Diskussion sowie auf eine faire Behandlung aller Anträge, egal, wer sie gestellt hat.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich hatte mir so viel zu dem
Thema aufgeschrieben. Nun ist das Meiste schon gesagt
worden. Es sind gute Reden gehalten worden. Die Gemeinsamkeiten wurden betont. Es sind wirklich viele
Gemeinsamkeiten da. Wir alle sind der Meinung, dass der
Deutsche Bundestag zuständig ist. Wir alle wollen uns beraten lassen, von wem auch immer - wir sind da offen -,
und wollen uns die Zeit dafür nehmen. Ich bin nicht der
Meinung, Herr Seifert, dass das Ganze in Muße geschieht.
Wir werden Knochenarbeit leisten müssen. Wir werden
uns daranmachen müssen, um das einzuholen, was wir zu
spät angefangen haben. Ich sage nicht Wir haben schon
vor einem Jahr die Enquête-Kommission eingerichtet,
sondern ich sage Wir haben sie erst vor einem Jahr eingerichtet. Das war ein Fehler. Wir hätten es gleich tun
sollen.
({0})
Die Enquête-Kommission hat Vorarbeit geleistet. Sie
hat sich des Themas der Forschung an embryonalen
Stammzellen gleich zu Anfang angenommen und hat dieses Thema systematisch bearbeitet. Es ist ja auch keine
einfache Frage, die mit Ja oder Nein beantwortet werden
kann. Stammzellforschung ist vielfältig. Stammzellen
können aus Tieren und aus Menschen gewonnen werden.
Sie können von Embryonen gewonnen werden. Sie können Föten entnommen werden, die abgegangen sind. Sie
können, wie wir jetzt gehört haben, sogar Leichen entnommen werden. Es gibt sehr viele Möglichkeiten. Sie
können Patienten entnommen werden, im Labor bearbeitet werden und in veränderter Form als Therapeutikum
demselben Patienten wieder zugeführt werden; das sind
dann die adulten Stammzellen.
In allen diesen Bereichen gibt es weltweit intensivste
Forschungsarbeit. Wir sprechen hier über einen ganz kleinen Ausschnitt dieser Stammzellforschung.
Zur Forschung an embryonalen Stammzellen möchte
ich Professor Markl, den Präsidenten der Max-PlanckGesellschaft, zitieren. Er sagt:
Was die Wissenschaft über die Entwicklung des
Säugetierorganismus zu erforschen sucht, kann sie
viel besser an Mäusen oder anderen Versuchstieren
erarbeiten.
Er sagt das für die Grundlagenforschung. Für die
Grundlagenforschung brauchen wir keine menschlichen
embryonalen Stammzellen, so Professor Markl.
Menschliche embryonale Stammzellen würden wir erst
dann brauchen, wenn wir ganz konkrete therapeutische
Anwendungen für den Menschen ableiten wollten,
wenn sie wirklich konkret da wären.
({1})
Wenn wir das aber wollen und mit embryonalen Stammzellen des Menschen tatsächlich forschen, dann haben wir
ein Problem, das hier auch schon ein bisschen angeklungen ist; Frau Fischer hat es, glaube ich, gesagt. Uns nützt
diese Forschung wenig; denn diese Stammzellen, die wir
dann nutzen, stammen von einem Embryo mit einer ganz
bestimmten genetischen Ausstattung. Wenn wir daraus
Medikamente, Organe und Gewebe für einen Patienten
herstellen wollen, dann haben wir das Problem der Unverträglichkeit. Das heißt: Wir müssen etwas tun, damit
diese Zellen und das Gewebe verträglich sind. Wenn es
wirklich um die Entwicklung von Therapeutika geht,
dann ist also die Diskussion um das therapeutische Klonen angesagt; das ist dann unvermeidbar. Wer da A sagt,
muss automatisch B sagen. Das ist miteinander verbunden. Das wissen alle, die an dieser Thematik arbeiten. Ich
weise jetzt darauf hin; denn wenn wir uns in Richtung der
Forschung an embryonalen Stammzellen entscheiden,
wenn wir dazu Ja sagen, dann werden wir auch dieses
Thema zu behandeln haben, ob wir das wollen oder nicht.
Wenn es um die Grundlagenforschung geht - das muss
hier ganz klar sein -, brauchen wir die embryonalen
Stammzellen nicht.
Ich möchte dann noch ein Thema ansprechen, das noch
nicht behandelt worden ist, was aber drängt. Es geht um
die Frage: Welche Motive können sonst dahinter stehen?
Wie stellt sich die Forschungslandschaft dar? - Da sind
wir einfach verpflichtet, genau hinzusehen. Die Forscher
sind verpflichtet, uns die Hintergründe, ihre Motive, die
Alternativen, die sie kennen, ausführlich zu nennen und
nichts hinter dem Berg zu halten.
({2})
Ich ärgere mich darüber, wenn ich im Nachhinein höre,
dass Forscher, die Forschungsanträge stellen, schon
längst das Feld, die Claims mit Patenten abgesteckt haben, ohne dass sie es von Anfang an gesagt haben. Das
hätte gleich gesagt werden müssen.
Erst gestern wieder hat ein Forscher für einen ganz anderen Bereich - da ging es nicht um Nervenzellen, sondern um Herzmuskelzellen - gesagt: Wenn wir wollen,
dass zur Hilfe für Patienten mit Herzinsuffizienz oder mit
schweren Herzkrankheiten Herzmuskelzellen hergestellt
werden können, dann brauchen wir die Forschung an embryonalen Stammzellen. So hat sich gestern in einem
Presseinterview ein bekannter Herzspezialist geäußert.
Was dieser Herzspezialist gesagt hat, stimmt nicht.
Es gibt bereits Forschungsergebnisse, die besagen, dass
Herzmuskelzellen aus mesenchymalen Zellen des Knochenmarks vom Menschen selbst hergestellt worden sind.
Darüber sagt dieser Herzspezialist kein Wort. Das Ganze
wirkt sehr verdächtig, da der gleiche Forscher - das muss
nachgeprüft werden - sogar Patente über die Herstellung
von Herzzellen aus embryonalen Stammzellen hat.
({3})
Es geht eben nicht um Heilungsversprechen, sondern
darum, wie man sich über das Erwerben von Marktanteilen wirtschaftliche Vorteile verschaffen kann. Uns allen
muss klar sein: Wir können nicht mitmachen, wenn wir so
hinters Licht geführt werden, wenn solche Vorgänge unserer Entscheidung zugrunde liegen, wenn also allein die
Förderung der wirtschaftlichen Interessen Einzelner, die
sich auch noch unfair verhalten, das Ergebnis sein soll.
Ich hoffe, dass wir die Zeit haben, das alles zu durchleuchten.
Wir wollen auch wissen: Woher kommen die embryonalen Stammzellen, die importiert werden? Haben die
Eltern der Embryonen, aus denen diese Stammzellen gewonnen werden, diesem Vorgang wirklich zugestimmt?
Ist das dokumentiert? Oder stimmt vielmehr das Gerücht,
dass die embryonalen Stammzellen, die aus Amerika
kommen, nicht von eingefrorenen, sondern von frischen
Embryonen stammen? Wenn das so ist - darauf gibt es
sehr viele Hinweise -, dann stammen diese Stammzellen
nicht von überzähligen Embryonen, sondern sie sind extra
zu Forschungszwecken hergestellt worden.
Das will ganz Europa nicht. Sogar in der BioethikKonvention des Europarates steht, dass die Herstellung
von Embryonen zu Forschungszwecken in ganz Europa
verboten werden soll. Ich weise darauf hin, auch wenn
wir dieses Dokument aus anderen Gründen - darin ist
nämlich vieles andere nicht erwähnt - nicht unterzeichnet haben.
Wir müssen also ganz viele Fragen beantworten. Wir
werden auch in der Enquête-Kommission unsere Ergebnisse so deutlich aufbereiten, dass wir in den Bericht ein
umfangreiches Kapitel zur Stammzellforschung, mit dem
der Versuch verbunden ist, dem Deutschen Bundestag
Lösungen für die einzelnen Bereiche der Stammzellforschung darzubringen, einfügen. Von diesen Erwägungen werden wir - das wird schon in diesem Herbst
geschehen - einen Teilbericht zum Import von embryonalen Stammzellen sozusagen abzweigen, den wir dem
Deutschen Bundestag vorher präsentieren können. Die
Fraktionen sind sich in diesem Vorhaben einig und das ist
auch möglich. Ich hoffe, dass wir eine Lösung erarbeiten,
die wir gemeinsam tragen können.
Ich brauche die Gründe dafür, warum hier drei Anträge
vorliegen, nicht zu wiederholen. Wir sollten uns auf die
allen Anträgen gemeinsamen Forderungen konzentrieren.
Wir fordern die Wissenschaft auf, nichts gegen die Meinung der Volksvertreter, die für die öffentliche Meinung
stehen - wer sonst soll sie darstellen? -, zu unternehmen.
Wir fordern dazu auf, keine vollendeten Tatsachen zu
schaffen und nicht nur die Embryonen in Forschungsinstituten, sondern auch die in privaten Unternehmen - ich
gehe davon aus, dass es sie gibt; das habe ich schon vorher getan - nicht zu nutzen, bis wir hier eine Entscheidung
getroffen haben.
Wir müssen schnell arbeiten, die entsprechenden Regelungen zügig formulieren und in Gesetzesform bringen, damit die Forschung nicht allzu lang in die falsche Richtung
läuft. Ich glaube, auch darüber sind wir uns einig. Ich hoffe,
dass wir in Zukunft nicht noch einmal erleben - die
CDU/CSU hat damit leider angefangen -, dass das Ziel,
dieses Thema überfraktionell zu behandeln und gemäß unserem Gewissen zu entscheiden, zugunsten von fraktionstaktischen Überlegungen aufgegeben wird. Wenn man
auf Vorgänge reagiert, die aus ganz anderen Motiven und in
ganz anderen Zusammenhängen auf Landesebene geschehen, dann wird das unsere Arbeit verzögern und stören.
Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit.
({4})
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Seehofer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute
erneut unbestritten über eine Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts. Ich möchte mit einer kurzen Betrachtung beginnen, wie die Deutschen in den letzten Jahren mit dem
schwierigen Thema Gentechnik und Biotechnologie
umgegangen sind. Die Debatte darüber war ja oft von
Ängsten bestimmt. Ich denke, wir können heute nach gut
zehn Jahren durchaus festhalten, dass wir in Deutschland
Anfang der 90er-Jahre diesbezüglich ein vorbildliches
Recht geschaffen haben, das für viele andere Mitgliedstaaten in der Europäischen Union zum Vorbild geworden
ist, nachgeahmt und Grundlage für europäische Richtlinien wurde sowie in all den Jahren in Deutschland auch
sehr verantwortungsvoll umgesetzt worden ist.
Was die Umsetzung dieses Themas und die Erfahrungen damit betrifft, befindet sich die Bundesrepublik
Deutschland weltweit im Spitzenfeld. Es wurden viele
Fortschritte erreicht, die heute schon einen Segen für die
Menschen bedeuten, nicht nur im Umwelt- und Nahrungsmittelbereich, sondern auch in der Medizin; ich
denke gerade im Medikamentenbereich an Interferone,
Insulin und Wachstumshormone. Das alles war möglich,
weil diese Debatte in den letzten gut zehn Jahren, jedenfalls ganz überwiegend, ebenso auf blinden Fortschrittsoptimismus wie auf irrationale Technikfeindlichkeit verzichtet hat. Ich möchte festhalten: Es gibt keinen
einzigen Schadensfall, es ist kein einziges neues Problemfeld in den letzten zehn Jahren entstanden. Dem liegt
nicht blinde Fortschrittsgläubigkeit zugrunde, sondern ein
ethisch verantwortlicher Umgang mit diesem sensiblen
Thema.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn man in einer früheren
Bundesregierung fast sieben Jahre federführend für dieses
Thema zuständig war, dann muss es erlaubt sein, zu sagen, dass wir es gerade in der Medizin der Neugier der
Forscher und ihrer beharrlichen Arbeit verdanken, bei uns
im Lande einen medizinischen Fortschritt und einen medizinischen Standard erreicht zu haben, der für viele
schwer kranke Menschen einen Segen bedeutet. Wir sollten dafür den Forschern dankbar sein.
({1})
In der Vergangenheit ging es vornehmlich um die
Frage, Biotechnologie und Gentechnik durch den Menschen zur Anwendung zu bringen. Jetzt geht es verstärkt
um die Frage, diese Technologie beim Menschen zur Anwendung zu bringen. Ich stimme allen zu, die sagen, dabei handele es sich um ethisch, juristisch, wissenschaftlich und medizinisch hochkomplexe Fragen. Ich denke,
dass wir angesichts der Komplexität dieses Themas sehr
sorgfältig, sensibel und ernsthaft damit umgehen sollten.
Herr Dr. Seifert, ich habe als Gesundheitsminister vor
übertriebenen Hoffnungen, was Heilung und Linderung
von Krankheiten betrifft, gewarnt. Ich muss Ihnen aber
ganz ehrlich sagen, dass mich oft Begegnungen bewegt
haben. Ich denke dabei an eine Begegnung im Herzzentrum hier in Berlin, wo ich einem Patienten mit einem
Kunstherzen in der Brust gegenüberstand, der um seine
begrenzte Lebenserwartung ohne ein Spenderorgan wusste und mir sagte: Helfen Sie uns, helfen Sie mir! Da beginnt im Herzen der Traum zu wachsen, vielleicht eines
Tages doch mit den Mitteln der Forschung Lösungen zu
finden, um heute noch nicht beherrschbare Krankheiten
eines Tages zu lindern oder vielleicht sogar zu heilen. Ich
spreche ausdrücklich von einem Traum, nicht von einer
realistischen Hoffnung.
Herr Kollege Seehofer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ilja Seifert?
Ja.
Herr
Seifert.
Herr Kollege Seehofer, Sie haben gerade mit großer Ernsthaftigkeit davon gesprochen,
wie sehr sich Menschen Heilung oder Linderung erhoffen, wenn sie von schweren Krankheiten betroffen sind.
Ich gehe davon aus, dass Sie mir abnehmen, dass ich mindestens genauso oft wie Sie mit solchen Menschen zusammenkomme, die diese Hoffnung haben. Aber muss
uns die Frage, vor der wir heute stehen, nicht mindestens
genauso bewegen: Wie helfen wir ihnen heute, mit ihrer
Beeinträchtigung zu leben? Wie helfen wir ihnen heute,
soviel Bewusstsein zu entwickeln, dass sie mit der Spanne
des Lebens, die ihnen noch bleibt - selbst wenn sie wissen, dass sie sterben müssen; wir müssen auch über das
Sterben reden -, so würdevoll umgehen, wie Sie und ich
das selbstverständlich erwarten?
Ist es in diesem Zusammenhang tatsächlich der richtige
Weg, ihnen etwas zu verheißen, was vielleicht in 20 oder
50 Jahren auf Kosten der von mir vorhin medizinische
Kollateralschäden genannten Dinge Realität sein könnte?
Ich frage das mit so viel Konjunktiven, wie mir überhaupt
nur einfallen.
Herr Dr. Seifert, da
stimme ich Ihnen völlig zu. Mit möglichen Lösungen in
der Zukunft dürfen wir nicht die Gegenwart bewältigen,
sondern wir müssen in der Gegenwart das tun, was mit
den heutigen medizinischen Möglichkeiten und auch unter den sozialen Gegebenheiten erreichbar ist. Aber - und
darauf wollte ich mit dem Ausgangspunkt Herzzentrum
hinaus - für mich gibt es auch eine ethische Verpflichtung,
alles Verantwortbare zu tun, um die Suche der Forscher
nach Möglichkeiten zur Überwindung und Beherrschung
von Krankheiten zu unterstützen. Für mich gibt es auch
eine ethische Begründungspflicht, wenn jemand einen
solchen Weg aus nicht tragfähigen Gründen versperrt.
({0})
Deshalb möchte ich ganz eindeutig sagen: Ich habe,
wie wohl die eindeutige Mehrheit des Hauses, eine klare
Position dazu, was nicht geht, und eine Meinung dazu,
worüber wir ernsthaft weiter debattieren und was wir
weiter untersuchen müssen. Die eindeutige Position ist,
dass wir die Eingriffe in die menschliche Keimbahn
nicht nur heute, sondern auch in Zukunft unterlassen
müssen,
({1})
dass wir keinen Eingriff in die Keimbahn durchführen
dürfen mit Veränderungen, die auf Nachkommen übertragen werden - also nicht das Klonen von Menschen, um
es deutlich zu sagen.
Ich habe eine eindeutige Position, was die Herstellung
von Embryonen zu Forschungszwecken betrifft. Dies
ist übrigens ein Punkt, den die Deutschen, Herr Kollege
Schmidt-Jortzig, bei der Formulierung der Bioethik-Konvention verankert haben: keine Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken. Ich denke, das sollte auch
eine Grenze sein, die wir um Gottes willen nie überschreiten dürfen.
Ich rede heute nicht über die Entstehung des Lebens,
sondern mich beschäftigen bei diesem zweiten Punkt einige Wertungswidersprüche, die für mich noch nicht ausreichend aufgearbeitet sind. Wie wollen wir den Menschen erklären, dass wir als Gesellschaft es akzeptieren,
dass Embryonen, die im Zusammenhang mit der künstlichen Befruchtung hergestellt und nicht gebraucht werden - die so genannten überzähligen Embryonen - konserviert, eingefroren, verworfen werden - verworfen ist
eine Umschreibung für absterben -, die Forschung an diesen überzähligen Embryonen aber unter Strafe stellen?
({2})
Wie wollen wir weiterhin der Gesellschaft den folgenden Wertungswiderspruch erklären - jeder, der sich
mit dem Thema beschäftigt, weiß, dass künstliche Befruchtung heute und in Zukunft nur unter verbrauchender
Embryonenforschung möglich ist und sein wird; denn wir
sind mit den Erkenntnissen dabei noch nicht am Ende -:
dass auf der einen Seite die Anwendung der Forschungsergebnisse in Deutschland von der Krankenkasse finanziert wird, die zugrunde liegende Forschung allerdings in
Deutschland unter Strafe gestellt wird?
Ich kämpfe mit dem dritten Wertungswiderspruch. Es
geht dabei nur um die Forschung an überzähligen embryonalen Stammzellen, nicht um die Herstellung von
embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken. Wollen wir uns wirklich dem Wertungswiderspruch aussetzen, dass wir die Forschung auf diesem Gebiet ins Ausland verlagern und später, nach einigen Jahren, die
Erkenntnisse und den Nutzen aus der Forschung aus dem
Ausland in die Bundesrepublik Deutschland importieren?
Ich weiß aus der jahrelangen Diskussion um die BioethikKonvention: Wenn man sich aus einer Diskussion ausblendet, weil man Fundamentalpositionen vertritt, dann
verliert man auch europa- und weltweit die Gestaltungsfreiheit auf einem wichtigen Feld. Ich möchte nicht, dass
wir in Deutschland bestimmte Regeln aufstellen, aber in
Kauf nehmen, dass die Deutschen - das ist mehrfach gesagt worden - dort hinfahren, wo diese Regeln nicht beachtet werden, weil sie sich einen medizinischen Nutzen
davon versprechen.
({3})
Deshalb müssen wir uns mit vielen juristischen, wissenschaftlichen, medizinischen, aber auch mit vielen Wertungswidersprüchen auseinander setzen. Dafür braucht
man Zeit. Ich empfehle sehr, dass wir Deutschen uns von
der Suche nach Möglichkeiten, heute nicht beherrschbare
Krankheiten eines Tages lindern oder gar heilen zu können, nicht verabschieden - in engen Grenzen, die mehrfach beschrieben worden und in der Öffentlichkeit bekannt sind.
Drittens, Frau von Renesse, bin ich als Politiker, der
gegenüber diesen Dingen offen ist, trotzdem der Meinung, dass der Antrag meiner Fraktion auf ein Moratorium, den ich sehr unterstützt und auch mitformuliert
habe, keine Brandfackel ist, auch keine - Herr Struck ist
nicht da - Verlogenheit, sondern die seriöse und notwendige Konsequenz, wenn man dafür plädiert, über dieses Thema ernsthaft zu diskutieren. Für diese ernsthafte
Diskussion braucht man Zeit, Frau von Renesse.
({4})
Das heißt nicht, dass die Entscheidung auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden soll. Das
muss in absehbarer Zeit entschieden werden. Aber für
die Lösung eines so sensiblen Themas brauchen Sie das
Vertrauen der Bevölkerung und müssen Sie die Menschen mitnehmen. Die Menschen nehmen Sie nur mit,
wenn Sie transparent, offen und mit Argumenten diskutieren.
({5})
- Das tun Sie, das tut das Parlament; aber das wäre nicht
möglich, wenn man - das sage ich an die Adresse der
F.D.P. - ein Moratorium nicht für erforderlich hält.
Vertrauen schaffen Sie nur durch Offenheit und Transparenz. Wir sollten uns ein Beispiel an einem der letzten
Themen nehmen, das ähnlich schwierig war, der Transplantationsmedizin in Deutschland, bei dem es um die
Frage ging, wann ein Mensch tot ist, um die Frage der
Feststellung des Hirntodes, um die Fragen, wer zustimmen muss und unter welchen Voraussetzungen eine Lebendspende möglich sein kann. Ich finde, auch für diese
Diskussion haben wir uns sehr viel Zeit genommen. Wir
haben sie sehr ernsthaft geführt, wir haben sie ohne parteipolitische Schranken geführt und wir haben bis zum
Ende unseren Vorsatz durchgehalten, dass jeder Abgeordnete und jede Abgeordnete so entscheiden muss, wie es
mit dem eigenen Gewissen verantwortbar ist.
Ich wünsche mir das auch in dieser Diskussion; denn
immer wenn sich das deutsche Parlament Zeit genommen
und sich ernsthaft und unter Einsatz des Gewissens mit einer Sache auseinander gesetzt hat, hat das anschließend in
der Bevölkerung Akzeptanz gefunden, hat es befriedet.
All das, worüber damals, 1995/96, heftig, zum Teil auch
mit Emotionen diskutiert wurde, ist in der Bevölkerung
heute akzeptiert.
Deshalb plädiere ich für die Gewissensfreiheit, für dieses Moratorium, für eine ernsthafte Auseinandersetzung
bei sehr schwierigen und sensiblen Fragen, für eine Aufarbeitung der Wertungswidersprüche und möchte uns
auffordern, in den nächsten Monaten Wege zu finden, die
ethisch vertretbar, aber auch wissenschaftlich hoffnungsvoll sind.
({6})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der
Kollege René Röspel von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute wird der Deutsche
Bundestag beschließen, die Frage des Imports embryonaler pluripotenter Stammzellen auf der Grundlage von
Stellungnahmen, unter anderem der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, noch in diesem Jahr zu
entscheiden. Er wird an die Wissenschaftler in diesem
Land appellieren, dieser Entscheidung nicht durch Schaffung von Tatsachen und Fakten vorzugreifen. Infolge unserer Diskussion - das, denke ich, kann man sagen - hat
auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft vorgestern
beschlossen, erst im Dezember eine Entscheidung zu treffen. Der Zeitdruck ist also gemildert und das ist auch gut
so.
Die Enquête-Kommission hat eigens eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich mit den Fragen der Stammzellforschung beschäftigt, übrigens zu einem Zeitpunkt,
als die wenigsten in diesem Lande überhaupt wussten,
was eine Stammzelle ist. In dieser Arbeitsgruppe befassen
sich sachkundige Mediziner, Theologen, Naturwissenschaftler und Philosophen seit Herbst letzten Jahres fast
jeden Montag mit einer Vielzahl von unterschiedlichen
wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Stellungnahmen und Gutachten. Bereits im April dieses Jahres haben
wir unter anderem mit Professor Brüstle in einem sehr
guten Expertengespräch, das ruhig und sachlich verlaufen
ist, diskutieren können. Wahrscheinlich wäre das angesichts des heutigen Zeitdrucks und der jetzt entstandenen
Atmosphäre nicht mehr so einfach möglich.
Wir sind aber noch längst nicht so weit, Empfehlungen
abgeben zu können, weil wir als Enquête-Kommission
den Anspruch haben, dem Parlament und der Gesellschaft
die Möglichkeiten und Konsequenzen beschreitbarer
Wege fundiert aufzuzeigen.
({0})
Nebenbei gesagt: Natürlich stellen wir dem Nationalen
Ethikrat unser Material gerne zur Verfügung. So wird es
ihm dann vielleicht möglich sein, bis zum Dezember dieses Jahres eine ähnlich fundierte Arbeit vorzulegen.
({1})
Trotz sorgfältiger Arbeit - vielleicht sogar gerade deswegen - werden die Kernfragen, um die es sich dreht, der
Spekulation überlassen bleiben. Denn niemand - auch die
Wissenschaftler nicht und schon gar nicht die Politiker kann mit Gewissheit sagen, welcher der richtige Weg sein
wird. Das macht die Sache so ungeheuer kompliziert und
auch nicht einfacher.
Natürlich wollen wir - Herr Seehofer, das ist an Sie gerichtet - alles dazu tun, um Krankheiten zu lindern. Das
ist, so glaube ich, völlig unbestritten. Das eignet sich in
dieser Auseinandersetzung nicht als Argument. Wir müssen uns aber fragen, was wirklich möglich ist und wo
Hoffnungen geweckt werden, die nicht erfüllbar zu sein
scheinen.
Frau Flach, Herr Schmidt-Jortzig, in dem Antrag der
F.D.P. wird zum Beispiel die Möglichkeit genannt, Mukoviszidose mit pluripotenten Stammzellen zu heilen
bzw. Linderungen herbeizuführen. Sie hätten sich einmal,
was diese Aussage anbelangt, mit Ihrem Sachverständigen in der Enquête-Kommission absprechen sollen. Das
ist nämlich eine Frage, die in den Bereich der Präimplantationsdiagnostik gehört. Wenn Sie mir nur ein
Beispiel nennen können - auch wenn es utopisch ist -, wie
gerade Mukoviszidose durch Stammzellforschung
bekämpft werden könnte, so bin ich gerne bereit, das
entgegenzunehmen.
({2})
Ich habe gerade heute mit Pneumologen diskutiert: Es
gibt keine auch nur ansatzweise realistische Möglichkeit.
({3})
Also entweder haben Sie ein bisschen schlampig gearbeitet oder Sie wecken wieder Hoffnungen, die nicht erfüllbar sind. Das ist der falsche Weg und das kritisieren wir.
Wir als Abgeordnete haben nicht nur die Aufgabe, Lösungen für Probleme zu suchen, sondern geradezu die
Pflicht, Fragen zu stellen, die die Zukunft unserer Gesellschaft betreffen. Viele Fragen sind eben noch unbeantwortet: Welche Konsequenzen hat eine Technologie für
die Gesellschaft? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? - Diese beiden Fragen betreffen auch andere Bereiche. - Was passiert, wenn man den Import so genannter
pluripotenter Stammzellen zulässt?
Übrigens, wer noch immer nicht weiß - das ist nachzusehen; denn das ist eine fast akademische Frage -, was
pluripotent und was totipotent ist, dem will ich das an
einem Beispiel klarer machen: Aus einer totipotenten
Zelle entstehen der Embryo und die Nachgeburt, während
aus einer pluripotenten Zelle nur noch der Embryo und
Teile der Nachgeburt entstehen können. Wenn es also den
Forschern irgendwann gelingen wird - im Tiermodell
wird bereits daran gewerkelt -, eine Plazenta, also den
Mutterkuchen, auf künstliche Art und Weise zur Verfügung zu stellen, wird die Diskussion um scheinbar unproblematische pluripotente Zellen, die sich dann nämlich zu
einem Embryo entwickeln können, sicherlich eine andere
Richtung bekommen.
({4})
Zurück zur heutigen Fragestellung: Wozu kann der Import solcher pluripotenter Zellen führen? Ich denke, dass
nach kurzer Zeit unweigerlich die Forderung kommt - das
ist verständlich; auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft sieht dies in ihrer Empfehlung vom 3. Mai 2001
vor -, auch in Deutschland so genannte überzählige Embryonen zu Forschungszwecken zu vernutzen, zu zerstören; ich habe noch immer nicht den richtigen Ausdruck
dafür gefunden. Nach neuesten Erkenntnissen gibt es in
Deutschland etwa 15 eingefrorene überzählige Embryonen. Was passiert denn, wenn noch ein oder zwei oder
vielleicht zehn Embryonen gebraucht werden, um, wie
das in der Forschung häufig üblich ist, die letzten Versuche zu machen, um den Durchbruch wirklich zu schaffen?
Werden wir dann wirklich der Forderung, nicht auch die
Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken zu
erlauben - denn es sind eben nur ein paar, die hergestellt
werden müssen -, standhalten können?
Wir sehen am Beispiel Großbritannien, wo bereits etwa
50 000 Embryonen zu Forschungszwecken genutzt worden sind, dass das Ergebnis und die Erkenntnisse, die aus
dieser Forschung erwachsen sind und die sich therapeutisch nutzen lassen, relativ gering sind.
({5})
Wir haben noch keine eindeutigen Antworten. Im Gegensatz zu anderen, die uns das glauben machen wollen, gestehe ich das zu.
Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft,
Herr Professor Winnacker, hat gestern auf der Jahresversammlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in
Berlin deutlich gemacht, dass die DFG vor drei Jahren
noch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Import von
Stammzellen hatte. Die rasanten Fortschritte aber haben
zu einem Meinungswandel der DFG geführt, die nun den
Import befürwortet.
Die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken, das so genannte therapeutische Klonen, also
die Dolly-Schaf-Methode, und der Keimbahneingriff
werden von der DFG als unethisch abgelehnt. Das ist auch
gut so. Die Frage ist aber: Wie lange noch? Professor
Ganten vom Max-Delbrück-Zentrum, ein Kollege von
Professor Winnacker im Nationalen Ethikrat, wird in der
Financial Times Deutschland von gestern wie folgt zitiert: Er halte die Pläne der DFG, das therapeutische Klonen nicht zuzulassen, für falsch. In zwei oder drei Jahren
werde die DFG diese Entscheidung korrigieren.
Professor Bartram aus Heidelberg plädiert für die Zulassung des therapeutischen Klonens. Michael Kyba vom
Whitehead-Institute in Boston hält therapeutisches Klonen für den aussichtsreichsten Weg, um in der Zukunft
kompatibles Gewebe direkt vom Patienten gewinnen zu
können. Übrigens gibt es kein Wort zu der Frage, welchen Frauen denn die Zehntausenden von Eizellen, die
benötigt werden, entnommen werden sollen.
({6})
Die Frage, die wir stellen müssen, lautet: Wie lange
wird also die Ablehnung solcher Verfahren noch halten?
Bis die nächste Heilung von Krankheiten in Aussicht gestellt wird und wir deshalb wieder unter Druck entscheiden sollen?
Die gute Nachricht lautet - das haben einige Kollegen
schon gesagt -: Wir sind nicht alternativlos. Auch die
DFG gibt den so genannten adulten Stammzellen, die
aus erwachsenen Menschen gewonnen werden, den Vorrang und will die Forschung ausweiten. Das ist nur zu begrüßen. Diese Zellen sind ethisch unproblematisch und
werden wegen ihrer immunologischen Eigenschaften
letztlich die bessere Therapie sein.
({7})
Herr Seehofer, das kann gegenüber dem Ausland ein gewaltiger Vorteil sein.
({8})
Das wird uns nicht zurückwerfen. Wir werden uns auch
nicht aus der Suche nach Heilung verabschieden, sondern
wir werden einen anderen Weg aufzeigen.
Vielen von Ihnen ist sicherlich bekannt, dass aus Knochenmark Blutzellen gewonnen werden können, mit denen die Leukämie bekämpft werden kann. Mittlerweile
kann man daraus auch Knorpelzellen gewinnen. Dies ist
ein guter und richtiger Weg. Beispiele dafür können Sie
auch in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung
lesen, die von Professor Kollek und von Dr. Schneider
stammen. Das ist insgesamt ein lesenswerter Artikel, in
dem auch eine weitere Erklärung für den Zeitdruck genannt wird, unter dem wir heute stehen: der Wunsch, Patente anzumelden und Rechte absichern zu lassen, was
per se nichts Schlechtes ist.
({9})
Letztendlich werden Politik und Gesellschaft über eine
sehr schwierige und spekulative Technologie entscheiden
müssen. Können die Heilsversprechen eingelöst werden?
Sind die warnenden Stimmen zu vorsichtig oder gar unberechtigt? Werden wir die Geister, die wir jetzt rufen, je
wieder los? Ist es nicht besser, den ethisch unproblematischeren Weg zu gehen - auch wenn er vielleicht etwas länger ist -, bevor man Fakten schafft, die nicht mehr rückholbar sind?
Weil diese Fragen so schwer zu beantworten sind, ist
klug beraten, wer sich auf der Suche nach der Antwort
Zeit zur Abwägung nimmt und keine vorschnellen Entscheidungen zulässt. Das wollen wir tun.
({10})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zu dem Antrag der Fraktion der CDU/
CSU mit dem Titel Kein Import von und keine Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland bis
zu einer Entscheidung des Deutschen Bundestages.
Abweichend von der Tagesordnung soll über diesen Antrag heute abgestimmt werden. Wer stimmt für den Antrag
auf Drucksache 14/6314 ({0})? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Zustimmung der CDU/
CSU-Fraktion und bei einer Enthaltung aus der CDU/
CSU-Fraktion abgelehnt.
({1})
- Ich habe nur eine Enthaltung gesehen. Ich werde daher
die Abstimmung wiederholen. Wer stimmt für den Antrag
auf Drucksache 14/6314 ({2})? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Das ist eine gemischte Lage. Im Wesentlichen hat die CDU/CSU-Fraktion bei zwei Enthaltungen zugestimmt. Es gibt Gegenstimmen aus der SPDFraktion, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, der
F.D.P.-Fraktion und einige Gegenstimmen aus der PDSFraktion bei einigen Enthaltungen aus allen Fraktionen
mit Ausnahme der SPD-Fraktion.
({3})
- Dann bitte ich Sie, das Handzeichen so zu geben, dass
man es eindeutig erkennen kann.
({4})
- Trotzdem stimmt das Ergebnis.
Zusatzpunkt 7: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit
dem Titel Für eine sorgfältige und umfassende Prüfung
des Imports und der Forschung mit embryonalen Stammzellen. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/6551? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegen gestimmt haben CDU/CSU und F.D.P. Bei der PDS gab es
unterschiedliche Abstimmungen.
({5})
Wir kommen zum Zusatzpunkt 8: Abstimmung über
den Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel Kein
Verbot und kein Moratorium für den Import embryonaler
Stammzellen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der
F.D.P.-Fraktion bei je einer Enthaltung aus der F.D.P.Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({7}), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnenschifffahrt erhalten und sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Friedrich ({8}), Hans-Michael
Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wasserstraßen ausbauen und Nachteile der
Deutschen Flagge im EU-weiten Wettbewerb der Binnenschifffahrt beseitigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Faße, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter
Danckert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Helmut Wilhelm ({9}), Albert Schmidt
({10}), Kerstin Müller ({11}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Potenziale im Wasserstraßentransport umwelt- und naturverträglich nutzen - Intermodalität stärken
- Drucksachen 14/4387, 14/4602, 14/5667,
14/6503 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Hans-Michael Goldmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens das
Wort.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren -
Frau Kollegin Mertens, eine Moment. Ich bitte die Kolleginnen
und Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen
möchten, den Plenarsaal zu verlassen und die Gespräche
außerhalb des Plenarsaales weiter zu führen.
Frau Kollegin Mertens, bitte schön.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Was ist die Ausgangsposition der heutigen Debatte? Wir können feststellen, dass es einen breiten politischen Konsens über die
Bedeutung der Binnenschifffahrt gibt. Wir alle stimmen
darin überein, dass das Binnenschiff weiter zu fördern ist
und dass die Binnenschifffahrt als Verkehrsträger so auszugestalten ist, dass sie die ökologischen und ökonomischen Erwartungen erfüllen kann.
Alle Prognosen sagen einen erheblichen Zuwachs im
Verkehrsbereich voraus, und zwar im Personen- wie im
Güterverkehr. Wer glaubt, dass diese Zuwächse vor allem
auf der Straße abzufahren sind, der ist blauäugig. Wer
glaubt, dass diese Zuwächse durch Neubau von Straßen
aufzufangen sind, ist ebenso blauäugig. Wer solche Gedanken dann in ein verkehrspolitisches Konzept einfließen lässt, der handelt verantwortungslos, nicht nur,
weil Deutschland ein dicht besiedeltes Land ist, in dem
bei der Verkehrsinfrastruktur immer Nutzerkonflikte entstehen, und nicht nur, weil es in jeder Regierung immer
nur begrenzte finanzielle Mittel gibt, sondern auch, weil
er damit die anderen Verkehrsträger, die es auch noch gibt,
eigentlich nicht ernst nimmt.
({0})
Zu diesen anderen Verkehrsträgern gehört eben auch
das Binnenschiff. In dieser Debatte treffen sich dann wieder die üblichen Verdächtigen, um sich gegenseitig darin
zu bestätigen, wie wichtig die Binnenschifffahrt ist. Diese
Verdächtigen treffen sich seit Jahren, vielleicht sogar seit
Jahrzehnten, aber der richtige Durchbruch ist noch nicht
erzielt worden.
Ich denke, dass wir jetzt mit einer integrierten Verkehrspolitik auf dem richtigen Weg sind. Es ist ein
schwieriger Weg. Ich glaube, wir werden mehr als einmal
dabei mitleidig belächelt werden. Ich könnte mir vorstellen, dass 90 Prozent unserer Kolleginnen und Kollegen,
was die Straße und die Eisenbahn angeht, sicherlich hundertprozentige Experten sind. Ich vermute aber, dass diese
vielen Kollegen nicht unbedingt wissen, dass das Binnenschiff 90 Prozent dessen transportiert, was mit DB Cargo
befördert wird. Sie wissen auch nicht unbedingt, dass eine
Just-in-time-Lieferung nicht so schnell wie möglich, sondern dann, wenn man sie braucht, eintreffen soll. Sie verbinden die Binnenschifffahrt vielleicht mit romantischen
Abenden an Bord und Wäsche auf der Leine. Sie wissen
aber vielleicht nicht unbedingt, dass das Binnenschiff
nach dem Seeschiff der Verkehrsträger mit der ökologisch
günstigsten Bilanz ist.
Ich glaube, hier gilt es anzusetzen. Binnenschifffahrt
ist kein Exotenthema. Wir brauchen die Binnenschifffahrt, um mit dem Verkehr fertig zu werden. Man prognostiziert der Binnenschifffahrt trotzdem ein unterproportionales Wachstum. Wir sollten gemeinsam versuchen,
diese Prognose nicht wahr werden zu lassen.
({1})
Wenig hilfreich ist es, diesen Prozess mit nicht erfüllbaren finanziellen Forderungen zu überfrachten. Ich
denke, damit ist weder dem Gewerbe noch uns gedient.
Ich bin jedenfalls nicht bereit, etwas zu versprechen, was
ich hinterher nicht halten kann.
({2})
Wir können gemeinsam - neben infrastrukturellen
Maßnahmen - alles tun, um das Image der Binnenschifffahrt zu verbessern. Die Bundesregierung wird die Forderungen und die Prüfungsaufträge des Bundestages bei der
Gestaltung der Rahmenbedingungen und Initiativen zugunsten der Binnenschifffahrt im Rahmen der finanzpolitischen Leitlinien berücksichtigen. Sie wird insbesondere
mit Nachdruck dafür eintreten, die nationalen und europäischen Wettbewerbsbedingungen für die Binnenschifffahrt weiter zu harmonisieren, damit der Ausflaggungstrend gestoppt wird und beim anstehenden Beitritt
der MOE-Staaten zur EU keine neuen Verwerfungen zulasten der Binnenschifffahrt entstehen.
({3})
Wir werden die Wasserstraßeninfrastruktur zielgerichtet erneuern und ausbauen und dabei die Belange des Natur- und Umweltschutzes verstärkt integrieren. Wir werden Initiativen ergreifen, um das Güterverkehrswachstum
auf die Binnenschifffahrt zu verlagern; dies gilt insbesondere im kombinierten Verkehr und beim Großraum- und
Schwergutverkehr. Wir werden die Forschung zugunsten
der Binnenschifffahrt stärken, die Strukturbereinigung in
der Binnenschifffahrt vollenden und einen Modernisierungsprozess mitgestalten.
Nach der Sommerpause wird der BMVBW einen Bericht über die Zukunft der deutschen Binnenschifffahrt
vorlegen und dabei auch auf einzelne Forderungen des
Bundestages näher eingehen.
({4})
Ich wünsche mir, dass wir beim nächsten Mal, wenn
wir über die Binnenschifffahrt diskutieren, den Kreis der
sonst üblichen Verdächtigen deutlich erweitern können.
Danke.
({5})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Renate Blank von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatssekretärin, Ihre Worte
hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube; denn mit diesem
Antrag der SPD und der Grünen gelingt der Durchbruch
für die Binnenschifffahrt nicht.
Ich erinnere mich: Als ich vor zehn Jahren in diesem
Hause davon sprach, dass auch in der Binnenschifffahrt
Just-in-time-Lieferungen durchgeführt werden können,
kam großes Gelächter von der SPD-Fraktion.
({0})
Ich freue mich, dass mittlerweile allgemein bekannt ist,
dass dies auch in der Binnenschifffahrt möglich ist.
({1})
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, unser
Antrag datiert vom Oktober 2000. Ihr Antrag, den Sie sich
weiß Gott abgequält haben, datiert vom März 2001.
({2})
Sie hatten also genug Zeit, Ihren Antrag zu formulieren.
Ich weiß, dass Sie eine Einigung zwischen Rot und Grün
herbeiführen mussten,
({3})
aber eigentlich hätte diese lange Überlegungszeit ausreichen müssen, um einen Antrag vorzulegen, der mehr Inhalte aufweist.
({4})
Ihr Antrag ist ohne konkrete Vorschläge, und die dirigistischen Eingriffe, die Sie darin vorschlagen, lehnen wir
natürlich ab. Aus unserer Sicht ist der Wettbewerb auf
dem Markt ein Regulativ, soweit die Rahmenbedingungen stimmen.
Lassen Sie mich auf einige Punkte Ihres Antrags eingehen: Wasserstraßenausbau findet bei Ihnen absolut
nicht statt; es steht nichts davon im Antrag.
({5})
Wenn Sie dauernd von einer Verlagerung des Verkehrs
von der Straße auf die Schiene und auf das Wasser reden,
müssen Sie natürlich auch die Wasserstraßen entsprechend ausbauen, um eine ganzjährige Befahrbarkeit zu
gewährleisten.
({6})
Ich komme nun auf den Donauausbau zu sprechen:
Alle Untersuchungen sind abgeschlossen. Was hindert Sie
eigentlich daran, uns eine Vorlage zum Donauausbau zu
machen? Sie müssen sich doch vertragsgerecht verhalten
und den Vertrag zwischen dem Bund und dem Land
Bayern erfüllen. Mehr Untersuchungen sind im Grunde
genommen nicht möglich.
({7})
Ich wundere mich darüber, dass der Ausschuss zu diesem
Thema noch keine Vorlage hat. Vielleicht liegt das auch
ein bisschen an den Grünen. Ich erinnere mich an den Bau
des Main-Donau-Kanals, bei dem die Grünen massiv dagegen waren. Ich erinnere mich auch daran, dass damals
ein SPD-Verkehrsminister vom dümmsten Bauwerk aller
Zeiten sprach.
({8})
Man muss das alles im Hinterkopf haben. Vielleicht ist es
aber so, dass es beim Donauausbau so geht wie beim Altmühlausbau. Einige Grüne haben, als sie mit dem Hubschrauber geflogen sind, gesagt, so toll wie die Altmühl
ausgebaut ist, sollte es auch bei den anderen Strecken
sein. Dabei war das bereits eine ausgebaute Strecke. Vielleicht passiert Ihnen das Gleiche bei der Donau zwischen
Straubing und Vilshofen.
({9})
Auf jeden Fall ist es ein Unsinn, die fehlenden 69 Kilometer nicht mehr auszubauen. Wir haben eine Verbindung
zwischen Rotterdam und dem Schwarzen Meer mit einer
Gesamtlänge von 7 000 Kilometern.
Ich zitiere den ehemaligen SPD-Wirtschaftsreferenten
der Stadt Nürnberg, der zugleich Vorsitzender des Deutschen Wasserstraßen- und Schifffahrtsvereins war, der
sagte, es sei ein Unsinn, die fehlenden Kilometer nicht
mehr auszubauen. Es ist vor allen Dingen eine Belastung
für die Schifffahrt und ein Kostenfaktor, wenn für die fehlenden 69 Kilometer abgeleichtert werden muss. Es ist
eine unüberbrückbare Belastung für die deutsche
Binnenschifffahrt. Ich mache auch darauf aufmerksam,
dass ein normales Binnenschiff rund 30 LKW ersetzt.
Vielleicht sollten Sie einmal darüber nachdenken, mehr
Verkehr auf das Binnenschiff zu verlagern.
Ein Wort zum Donauausbau in Richtung Jugoslawien:
Wir rechnen damit, dass noch mehr Güter auf Binnenschiffen transportiert werden können. Wenn die Donau
nicht ausgebaut ist - wir brauchen die Verkehre in Richtung Jugoslawien und zum Schwarzen Meer -, wird dort
wesentlich mehr auf den Straßen transportiert, als es eigentlich notwendig wäre.
Nun zum Binnenschifffahrtsfonds: Dieser Fonds ist
keine Erfindung der Bundesregierung, sondern er gründet
sich auf eine europäische Verordnung und ist im Grunde
genommen aus der Abwrackaktion, die Deutschland immer Geld gebracht hat, entstanden.
Ein Wort zu den Verkehren mit Polen: Wir haben vor
Jahren die Aufteilung 50/50 beschlossen, aber diese Aufteilung war schon immer ein Problem. Zu unserer Regierungszeit, bis 1998, gab es eine Aufteilung 80/20, und
jetzt werden nahezu 100 Prozent von der polnischen Seite
transportiert. Die Frage ist: Wo bleibt die deutsche Binnenschifffahrt und wie will die Bundesregierung handeln,
damit die deutsche Binnenschifffahrt auch an diesem
Güterverkehrsaufkommen partizipieren kann?
Wir würden uns sehr darüber freuen, wenn Sie unserem
Antrag Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnenschifffahrt erhalten und sichern im Ausschuss und im
Plenum zustimmen würden.
({10})
All die Wünsche, die in unserem Antrag enthalten sind,
waren nämlich bis 1998 Ihre Forderungen an die damalige
Regierung. Nur für den Donauausbau gilt das nicht; alles
andere waren Ihre Wünsche. Ich wundere mich, dass Sie
jetzt Abstand davon nehmen, denn es entspricht nicht den
Gepflogenheiten, Abschied von den eigenen Forderungen
zu nehmen.
({11})
Aber das müssen Sie verantworten.
Meine Damen und Herren, wir fordern in unserem Antrag auch mehr Geld für den Wasserstraßenausbau.
({12})
Ich glaube, dass Rot-Grün der Wille zum Aufbringen von
Finanzmitteln fehlt. Vielleicht betätigen sich die Grünen
auch als Bremser; das würde ich einmal locker behaupten.
Wir würden mehr Geld für den Wasserstraßenausbau zur
Verfügung stellen;
({13})
denn eine ganzjährige Befahrbarkeit ist dringend erforderlich.
({14})
Sie strecken ja auch Mittel. Wenn ich zum Beispiel an
das Verkehrsprojekt Nummer 17 oder an den Ausbau von
Weser, Elbe oder Saale denke, so sind dies alles Ausbaumaßnahmen, die dringend erforderlich wären, um mehr
Verkehr auf das Binnenschiff zu lenken.
Ich frage mich auch, warum Sie das Thema Schifferkinderheime bei den letzten Haushaltsberatungen so
schlecht behandelt haben. Die Mittel dafür sind gekürzt
worden.
({15})
- Doch, Kollegin Faße, das ist bei den Haushaltsberatungen geschehen.
({16})
Bezüglich der EU-Harmonisierung legen wir großen
Wert darauf, dass auf EU-Ebene im fiskalischen und
sozialen Bereich unter Berücksichtigung der in den Niederlanden bestehenden Staatsgarantien bei der Kreditfinanzierung für die Binnenschifffahrt auch von unserer
Seite etwas geschieht. Das würde ich im europäischen
Kontext Harmonisierung nennen. Hierzu bedarf es noch
großer Anstrengungen der Bundesregierung.
In unserem Antrag reden wir auch von der Vernetzung
der Binnenschifffahrt mit den übrigen Verkehrsträgern.
Das ist durchaus sinnvoll; denn nur durch eine Vernetzung
von Straße, Schiene und Wasserweg fließt mehr Verkehr
zur Binnenschifffahrt.
({17})
Bei der EU-Osterweiterung muss alles dafür getan
werden, dass die Wettbewerbsposition der deutschen Binnenschifffahrt bei einem EU-Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn gehalten und gesichert wird.
Meine Damen und Herren, ein Wort zu den Unfällen,
die auf Donau und Main geschehen sind. Hier besteht
dringender Handlungsbedarf. Ich unterbreite auch Vorschläge dazu: Vielleicht wäre es möglich, bestimmte
Nachweise - zum Beispiel bezüglich Streckenkunde und
Sprachkenntnissen - zu verlangen. Darüber sollten vonseiten der Bundesregierung Verhandlungen geführt werden. Zudem müssen die Unfälle genauestens untersucht
werden; denn es dient der Binnenschifffahrt nicht, wenn
ständig Schlagzeilen über Unfälle in der Zeitung stehen.
Im vergangenen Jahr sind mehr Güter von der Binnenschifffahrt transportiert worden, aber leider nicht von der
deutschen. Wir wollen, dass nicht nur die ausländische
Binnenschifffahrt, sondern auch die deutsche am höheren
Güterverkehrsaufkommen partizipiert. Aussagen und politisches Handeln stimmen bei Rot-Grün nicht überein. Es
genügt nicht, in Sonntagsreden die Bedeutung der Binnenschifffahrt hervorzuheben, aber anschließend nichts
zu tun.
({18})
Meine Damen und Herren von der Koalition und von
der Bundesregierung, handeln Sie jetzt; denn die deutsche
Binnenschifffahrt braucht dringend Hilfe! Stimmen Sie
unserem Antrag zu! Ich habe schon erwähnt, dass diese
Forderungen bis 1998 auch von Ihnen erhoben wurden.
Sie bremsen, wenn Sie unseren Antrag ablehnen, die Binnenschifffahrt aus und treiben sie in den Ruin. Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu.
({19})
Als
nächster Redner hat der Kollege Helmut Wilhelm vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Sicherung und Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Binnenschifffahrt ist der Bundesregierung
und, wie die Anträge zeigen, offenkundig allen hier im
Hause zentrales Anliegen. Weil wir uns gerade im Wettbewerb um die Frage befinden, wer früher dran war,
möchte ich doch an Folgendes erinnern: Bereits in der Koalitionsvereinbarung hat Rot-Grün festgeschrieben, dass
möglichst hohe Anteile des Straßen- und Luftverkehrs auf
Schiene und Wasserstraße verlegt werden sollten und dass
die internationale Marktposition deutscher Unternehmen
insbesondere im Bereich der Binnenschifffahrt gestärkt
werden muss. Ich freue mich, dass wir in dieser Grundtendenz in allen Fraktionen Einigkeit haben. Der Wasserstraßentransport ist Bestandteil eines internationalen
Verkehrssystems. Jede Tonne, die statt auf der Straße auf
dem Wasserweg transportiert wird, ist ein Beitrag zur
Engpassbeseitigung.
({0})
Bei natur- und umweltverträglichem Ausbau ist das
Verkehrssystem Schiff/Wasserstraße in vielen Fällen besonders geeignet, verkehrspolitische, ökonomische und
ökologische Ziele miteinander zu verbinden. Immerhin
kommt die von der Binnenschifffahrt 1999 transportierte
Tonnage der Größenordnung der Bahntransporte nahe.
Dem trägt die Bundesregierung auch Rechnung. Für
Wasserstraßeninvestitionen werden im Haushalt 2001
1,3 Milliarden DM zur Verfügung gestellt, im Investitionsprogramm 1999 bis 2002 für Ersatz und Erhaltung
sowie Ausbau 4,05 Milliarden DM und im Anti-Stau-Programm ab 2003 weitere 900 Millionen DM.
Eines aber darf nicht übersehen werden und einzig der
Antrag von Rot-Grün trägt dem Rechnung: Flüsse reagieren sensibel auf Eingriffe.
({1})
Sorgfältige und ausgewogene Planungen auch in ökologischer Hinsicht sind Voraussetzung.
({2})
- Fragt sich, wie groß die Pötte sind.
({3})
Bei allen Maßnahmen zur Steigerung des Transportanteils der Schifffahrt sind daher ökologische Funktionen der
Fließgewässer zu erhalten oder wiederherzustellen. Diesen Belangen aber wurde in der Vergangenheit nicht immer ausreichend Rechnung getragen. Oft genug haben sich
die Flüsse zum Beispiel durch höheres Hochwasser oder
niedrigeres Niedrigwasser - siehe Überleitung von Donauwasser über den RMD-Kanal - bemerkbar gemacht.
Die Koalition forciert eine integrierte Verkehrsplanung, bei der Straße, Schiene und Wasserstraße unter
Berücksichtigung des Prinzips der Nachhaltigkeit aufeinander abgestimmt sind und der kombinierte Ladungsverkehr eine wichtige Rolle spielt. Dies dient als Grundlage einer intelligenten Vernetzung der Verkehrsträger.
Die Rolle der Häfen als Schnittstellen ist dabei von besonderer Bedeutung, ebenso die Hinterlandanbindung der
Binnenhäfen. Konsens zwischen allen Fraktionen besteht
darin, Wettbewerbsverzerrungen im EU-Bereich insbesondere angesichts der anstehenden Osterweiterung abzubauen bzw. zu vermeiden und die deutsche Binnenschifffahrt in ihrer Wettbewerbssituation zu stärken.
Mit einem Schiff ahoi bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Hans-Michael Goldmann von der
F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich kann man es ganz kurz und knapp machen.
({0})
Sie brauchen nur die Überschrift unseres Antrages in die
Tat umzusetzen.
({1})
Da stehen zwei Dinge: Binnenwasserstraßen ausbauen
- natürlich vernünftig und sachgerecht; das ist überhaupt
keine Frage - und die Nachteile für die deutsche Binnenschifffahrt im EU-Vergleich beseitigen.
({2})
Wenn Sie das machen,
({3})
dann fällt Ihnen im Grunde alles andere, was hier angesprochen wurde, wie reife Früchte in den Schoß. Dann
werden unsere Binnenschiffer wieder Vertrauen in die Zukunft haben. Dann werden sie wieder neue Schiffe bestellen. Dann werden sie auch durchaus Schiffe bestellen, die
neuen Anforderungen gerecht werden, wie das die Niederländer machen. Die haben mittlerweile Schiffe entwickelt, die gerade im schnellen Containerverkehr auch
auf nicht so tief ausgebaggerten Wasserstraßen hervorragende Erfolge haben. Dann werden wieder Menschen
diesen Beruf nachfragen. Dann wird es wieder Auszubildende geben. Dann brauchen wir kein Förderprogramm
mehr, damit Auszubildende in diesen Beruf gehen. Dann
wird die deutsche Binnenschifffahrt endlich wieder Zukunft haben.
({4})
Aber alles Darumherumreden, liebe Freunde, bringt
nichts. Der Antrag von Rot-Grün ist insofern sehr verdächtig. Er bezeichnet in seiner Überschrift nämlich genau die Einschränkungen, die die Zukunftschancen der
Binnenschifffahrt zerstören. In dieser Überschrift sagen
Sie nämlich:
Potenziale im Wasserstraßentransport umwelt- und
naturverträglich nutzen - Intermodalität stärken.
Das ist genau der Punkt. Für Sie hat die Einschränkung
durch die Überbetonung des Natur- und des Umweltschutzes Vorrang vor allen ökonomischen Überlegungen.
Wenn Sie diesen Grundsatz verfolgen, liebe Kollegen von
Rot-Grün, dann hat die deutsche Binnenschifffahrt keine
Zukunft.
({5})
Helmut Wilhelm ({6})
Das beweisen Sie mit Ihrem Umgang mit dem Ausbau
der Donau. Dort sind wir gewesen, Frau Faße. Ich weiß,
dass Ihnen das unangenehm ist, aber immerhin waren Sie
auch mit vor Ort. Wir waren uns völlig einig, dass die ökologischen Staustufen in diesem Bereich eine neue, bessere
Situation schaffen und diese sehr wichtige West-Ost-Verbindung in der Gesamtheit für die deutsche Binnenschifffahrt ein Potenzial eröffnet, das ihr wirklich über die Hürden hilft; denn die Kritik an ihr, dass sie vergleichsweise
wenig Leistung aufweise, ist nicht berechtigt. Sie hat deshalb zum Beispiel auf der Donau so wenig Leistung, weil
man zwischendurch abladen muss. Abladen kostet Geld.
Damit kommen andere Verkehrsträger in die Vorhand.
Deswegen verliert die deutsche Binnenschifffahrt im internationalen Verkehr Zug um Zug an Boden; deshalb
geht es der deutschen Binnenschifffahrt im Grunde genommen schlecht.
({7})
Liebe Frau Mertens, Hilfe für die deutsche Binnenschifffahrt ist wirklich nicht durch Imageverbesserung zu
erreichen, denn das hat etwas mit den harten Fakten zu
tun. Wenn Sie mit einem europäischen Anbieter wie zum
Beispiel den Niederländern im Wettbewerb stehen, die
bessere Rahmenbedingungen haben, und wenn Sie dann
noch unsere potenziellen Wasserstraßen nicht zumindest
ein Stück in Richtung EU-Erweiterung, in Richtung Zukunft öffnen, dann haben wir keine Chance.
Ich verstehe Ihre Position nicht so ganz. In Ihrer letzten Pressemitteilung vom 2. Juli - es gibt dauernd solche
Mitteilungen - steht zum Beispiel:
Short-Sea-Shipping-Promotion-Center Deutschland
eröffnet. Parlamentarischer Staatssekretär Nagel sagt:
Wir wollen weg von der Straße, wir wollen auf den
Wasserweg.
Aber Sie bauen nicht; Sie helfen weder den Häfen noch
den Binnenwasserstraßen, Sie helfen der Binnenschifffahrt nicht. Das, was wir bisher in der Parlamentariergruppe Binnenschifffahrt für die Binnenschiffer auf den
Weg gebracht haben, sind doch noch nicht einmal Peanuts. Diesbezüglich müssen wir doch ehrlich sein, Frau
Faße. Das ist im Grunde genommen nichts Substanzielles.
Wir müssen in den Kernbereich hinein. Der Kernbereich
sind eindeutig der intelligente Ausbau und die Abschaffung der Wettbewerbsverzerrungen zum Nachteil deutscher Binnenschiffer.
({8})
Es ist also wirklich ganz einfach: Nehmen Sie unseren
Antrag an, in dem genau das steht: Wir müssen bauen und
die Nachteile beseitigen. Dann sind die deutschen Binnenschiffer sehr wohl selbst in der Lage, für sich eine gute
Zukunft auszugestalten. Das wird ihnen bestens gelingen;
diesen Weg sollten wir gehen.
({9})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Winfried Wolf von der PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Staatssekretärin Mertens hat richtig begonnen, indem sie sagte, alle
hier Anwesenden seien sich weitgehend einig, dass die
Binnenschifffahrt gefördert werden müsse. Aber die Realitäten sehen eben doch erheblich anders aus.
Die Tonnage auf den Binnenschiffen ist minimal gestiegen; die Tonnage auf den deutschen Binnenschiffen
sinkt kontinuierlich weiter. Der Anteil der Binnenschifffahrt am gesamten Güterverkehrsmarkt sank seit dem
Jahr 1995, als 14,9 Prozent erreicht wurden, bis zum Jahr
1999 kontinuierlich auf 12,8 Prozent.
Das alles ist bemessen auf ein Binnenschifffahrtsnetz
von 7 300 km, das teilweise weiter ausgebaut wurde und
bei dem sich das Bruttoanlagevermögen von 84,5 Milliarden DM auf 88,5 Milliarden DM erheblich erhöhte.
Das führt zu einer strukturell schlechten Gesamtbilanz.
Das führt zum Beispiel dazu, dass die Einnahmen aus der
deutschen Binnenschifffahrt massiv sinken. Allein im
letzten Jahrzehnt sind sie nominal von 3,1 Milliarden DM
auf 2,5 Milliarden DM gesunken; in realen Preisen ist
dieser Rückgang noch größer. Das führt dazu, dass der
Wegekostendeckungsgrad in der Binnenschifffahrt weiterhin dramatisch niedrig liegt, nämlich bei ungefähr
10 Prozent.
({0})
In der Bilanz muss man sagen: Es stimmt, was hier alle
erklären, nämlich dass Schiff und Schiene die umweltfreundlichsten bzw. die am wenigsten umweltschädlichen
Verkehrsträger sind. Es stimmt aber auch, dass ausgerechnet Schiene und Schiff die meisten Subventionen
brauchen, weil der Markt real nicht vorhanden ist, weil es
keine Kostenwahrheit gibt und weil externe Kosten - vor
allem im LKW-Verkehr - nicht inkorporiert sind. Trotz
der hohen Subventionen hat die Politik real versagt. Die
Entwicklung geht bisher in eine negative Richtung: Der
Anteil der Binnenschifffahrt hat sich verringert.
({1})
Das heißt für mich, Herr Kollege Goldmann, dass die
Lösung nicht aus Anträgen bestehen kann, wie Sie sie vorgelegt haben und die zu einem Weiter so! auffordern.
Sie kann auch nicht aus allgemeinen Erklärungen in der
Art von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bestehen, die
zwar sehr nett zu lesen, aber nicht sehr konkret sind. Darin
stimme ich Herrn Goldmann zu.
({2})
Ich meine, dass eine nüchterne Gesamtbilanz gezogen
werden muss: Es darf nicht zu einem vollständigen Dumping im Transportsektor kommen. Die Transportpreise
sind überall und in allen Bereichen real zu niedrig. Es darf
auch nicht sein, dass eine Rede zur Binnenschifffahrt und
eine andere zur Schiene gehalten wird. Schiff und Schiene
müssen eine Einheit, einen Umweltverbund darstellen.
({3})
Wenn wir weitermachen wie bisher, werden die
falschen Signale ausgesandt. Ich befürchte aber, dass gerade im Hinblick auf die Osterweiterung das Preisdumping weitergehen wird - und damit werden diese falschen
Signale weiter ausgesandt werden.
Danke schön.
({4})
Jetzt spricht die Kollegin Annette Faße für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes begrüße ich ganz herzlich den Fanklub der Binnenschifffahrt hier im Bundestag.
({0})
Als Mitglied des Fanklubs der Binnenschifffahrt meine
ich, dass man die Binnenschifffahrt mit ihren Chancen,
ihren Leistungen und Möglichkeiten nicht schlecht reden
sollte.
({1})
Es gehört zu einem echten Fanklub, dass er sich mit den
Punkten sehr sachlich auseinander setzt und darauf hinweist, welche Leistungen unsere Binnenschiffer und die
Reedereien erbringen, und zwar unter nicht einfachen Bedingungen.
({2})
- Auf diesen Satz sage ich Ihnen: Die Binnenschiffer und
die Reedereien haben schon jahrzehntelang darauf gewartet, dass ihre Probleme und Fragen geklärt werden.
Ich halte es für nicht sachgerecht, dass wir die Sorgen
und Nöte der Binnenschifffahrt heute nur in Bezug auf einen Hauptpunkt diskutieren, nämlich den Ausbau der
Wasserstraßen. Dies allein trägt nicht zur Rettung der
Binnenschifffahrt bei.
Ich sage ganz deutlich, dass wir natürlich in den Flussausbau investieren.
({3})
Über 1 Milliarde DM sind im nächsten Haushalt dafür
eingestellt.
({4})
Das ist immer zu wenig. Auch mir ist das zu wenig, Herr
Goldmann.
({5})
Aber man muss sich die Situation insgesamt ansehen.
({6})
Natürlich hätte ich mich gefreut, wenn auch wir Mittel aus
der Versteigerung der UMTS-Lizenzen bekommen hätten, aber das haben wir nicht. Ich habe jedoch eine gute
Nachricht zu vermelden: Aus dem Anti-Stau-Programm
bekommen wir 900 Millionen DM für die Binnenschifffahrt. Ich meine, dies ist eine gute Leistung.
({7})
Eines sollten wir öffentlich ganz laut verkünden - Frau
Mertens hat dies schon gesagt; ich wiederhole es aber
ganz bewusst, weil ich der Ansicht bin, dass das Meinungsbild über die Binnenschifffahrt in der Öffentlichkeit
nicht so ist, wie sie es verdient -:
({8})
Die Binnenschifffahrt transportiert 90 Prozent des Güteraufkommens von DB Cargo. Das möge man sich einmal
vorstellen. Wenn dem nicht so wäre, wäre das Chaos auf
der Straße noch viel größer und die Probleme bei der
Schiene noch schlimmer.
Wir wissen, dass wir auch ohne einen weiteren Flussausbau große Kapazitäten haben, nämlich in der freien
Nutzung durch das Binnenschiff. Natürlich gibt es Entscheidungen, die nicht einfach sind. Das sind nicht die
Maßnahmen zur Unterhaltung, sondern zum Ausbau. Ich
will mich zur Entscheidung über den Ausbau der Donau,
die dieses Jahr ansteht, Herr Goldmann, nicht herumdrücken. Dass Ihnen das zu lange dauert, kann ich verstehen. Auch mir dauert es schon zu lange. Nichtsdestotrotz
wird eine sachliche Entscheidung gefällt werden,
({9})
die sowohl der Binnenschifffahrt helfen wird als auch der
Umwelt gerecht werden wird. Ich gehe davon aus, dass
wir gemeinsam mit dem Land Bayern eine Lösung finden
werden, die diesen beiden Kriterien entspricht. Harren Sie
noch ein bisschen der Dinge! Wir bekommen das schon in
den Griff, Herr Goldmann.
({10})
Flussausbauten alleine lösen das Problem aber nicht.
Darum müssen wir sehen, in welchen anderen Bereichen
wir der Binnenschifffahrt helfen können. Es ist ja nicht so,
dass wir bisher nicht in diesen Bereichen tätig gewesen
sind. Man mag ja der Meinung sein, dass im Bundeshaushalt nicht in ausreichendem Maße Mittel für den Forschungsbereich eingestellt worden seien. Aber ich möchte
auf das Forschungsprogramm der Bundesregierung
Schiffbau und Meerestechnik für das 21. Jahrhundert
hinweisen, wovon sowohl die See- als auch die BinnenDr. Winfried Wolf
schifffahrt profitieren. Wir helfen der Binnenschifffahrt
auch, indem wir für die Ausbildungsförderung 3 Millionen DM in den Haushalt eingestellt haben. Des Weiteren, Frau Blank, haben wir für die Schifferkinderheime
100 000 DM in den jetzigen Haushaltsentwurf eingestellt.
Dieses Jahr muss also kein Antrag auf Erhöhung dieser
Mittel gestellt werden.
Ich sage auch ganz deutlich: Es ist ein ganz wichtiges
Zeichen, dass im Promotion-Center, das von der Bundesregierung geschaffen worden ist und das von den Küstenländern sowie von der Wirtschaft getragen wird, auch
die Binnenschifffahrt ihren Fuß in der Tür hat. Das war
auch eine Aktion für die Binnenschifffahrt. Ich freue mich
sehr, dass sich die beiden großen Verbände der Schifffahrt
zusammengefunden und deutlich gesagt haben: Wir betreiben gemeinsam das Promotion-Center und nutzen die
Chancen. Diese sollte man nicht unterschätzen. Das Promotion-Center in den Niederlanden hat sehr gute Erfolge
vorzuweisen. Dort gibt es jeweils ein Promotion-Center
für die Binnenschifffahrt und die Seeschifffahrt. Wir haben beide Bereiche in einem Center integriert. Ich gehe
davon aus, dass die Binnenschifffahrt davon sehr profitieren wird.
Ich halte nichts davon, dass der Teil unseres Antrages,
in dem wir fordern, mehr Schwerverkehr auf das Wasser
zu bringen, kritisiert worden ist. Schon alleine die Androhung, dass man weitergehen will, als nur die Ergebnisse
eines Projektes abzuwarten und einen Probelauf zu machen, hat dazu geführt, dass sich diejenigen, die Schwergüter zu transportieren haben, schon im Ministerium informiert haben, wie die Zusammenarbeit in Zukunft
besser gestaltet werden könnte. Ich halte das für einen
ganz wichtigen Punkt; denn Schwerverkehre müssen
nicht unbedingt auf der Straße fahren.
({11})
Wir werden außerdem über den Fonds, den wir nicht
erfunden haben, noch in diesem Jahr diskutieren. Wir
werden auch darüber diskutieren müssen, was mit den
Zinsen geschehen soll; denn darüber können wir in
Deutschland selber entscheiden.
Ich sage ganz deutlich: Unser Antrag ist realistisch.
({12})
Wir müssen weiter für die Binnenschifffahrt arbeiten, und
zwar auch in anderen Bereichen. Ich habe mich gewundert, dass heute niemand die Änderung des § 6 des Einkommensteuergesetzes gefordert hat. Hier besteht tatsächlich Handlungsbedarf.
({13})
- Es muss nicht alles im Antrag stehen, Kollege
Goldmann. Man kann sich auch außerhalb der Anträge
noch etwas einfallen lassen.
Alle Kolleginnen und Kollegen, die heute zu diesem
Thema gesprochen haben, gehören der parlamentarischen
Gruppe Binnenschifffahrt an. Insgesamt sind über
70 Abgeordnete Mitglied in dieser Gruppe. Ich meine,
nicht jeder Verkehrsträger hat eine solche Lobby im Parlament. Ich wünsche mir, dass alle 70 zum erweiterten
Fanklub der Binnenschifffahrt gehören und für diese aktiv werden.
Danke schön.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/6503. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/4387 mit dem Titel Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnenschifffahrt erhalten und sichern. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/4602
mit dem Titel Wasserstraßen ausbauen und Nachteile der
deutschen Flagge im EU-weiten Wettbewerb der Binnenschifffahrt beseitigen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch
diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 14/5667 mit dem Titel Potenziale im Wasserstraßentransport umwelt- und naturverträglich nutzen Intermodalität stärken. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen
von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Frieden, Stabilität und Einheit auf der koreanischen Halbinsel
- Drucksache 14/6210 Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Hauses
möchte ich auf der Besuchertribüne eine Delegation der
Koreanisch-Deutschen Parlamentariergruppe der Nationalversammlung der Republik Korea unter Leitung ihres Vorsitzenden Hwa-Kap Hahn herzlich willkommen
heißen.
({0})
Es ist selten genug, dass wir die Gelegenheit haben, zeitgleich zur parlamentarischen Debatte über ein außenpolitisches Thema die entsprechenden Gäste auf der Tribüne
zu begrüßen. Wir freuen uns deshalb ganz besonders, dass
das zeitlich so geklappt hat.
Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier des Deutschen Bundestages begrüßen die Fortschritte, die seit der
gemeinsamen Erklärung der Präsidenten beider koreanischer Staaten vom Juni 2000 erzielt worden sind. Wir unterstützen nachträglich die Berliner Erklärung von Präsident Kim Dae-jung mit dem Aufruf zu ersten Schritten bei
der innerkoreanischen Annäherung mit dem Ziel, die Teilung Koreas zu überwinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen auf der Besuchertribüne, wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit und hoffen, dass Sie einen sehr
interessanten und anregenden Aufenthalt in der Bundesrepublik und in Berlin, besonders im Deutschen Bundestag, haben.
({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hartmut Koschyk.
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag befasst sich heute nach längerer Zeit einmal wieder
mit der Lage auf der koreanischen Halbinsel. Wir wollen
durch diese Debatte unsere besondere Anteilnahme als
deutsches Parlament am Teilungsschicksal des koreanischen Volkes unterstreichen.
({0})
Südkoreas Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger Kim Dae-jung hat bei seinem Besuch in Berlin im
März 2000 die besondere Verbundenheit Deutschlands
und Koreas zum Ausdruck gebracht. In seiner inzwischen
als historisch zu wertenden Berliner Rede vom
9. März 2000 an der Freien Universität Berlin, mit der der
südkoreanische Präsident seinen Wunsch nach einer
Annäherung gegenüber Nordkorea bekräftigt und das historische Gipfeltreffen mit dem Führer Nordkoreas Kim
Jong-il in Pjöngjang vorbereitet hatte, hat Präsident Kim
Dae-jung ein koreanisches Sprichwort zitiert: Die Kranken mit gleicher Krankheit haben füreinander immer das
größte Mitleid. - Deutschland und Korea, so Präsident
Kim Dae-jung, empfänden deshalb füreinander eine besonders große Solidarität, weil die beiden Völker unter
dem gleich starken Schmerz der Teilung des Landes gelitten haben, was unser Volk anbelangt, bzw. noch heute
leiden, was Korea anbelangt.
Mit dem heute zu verabschiedenden interfraktionellen
Antrag begrüßt der Deutsche Bundestag die durch die gemeinsame Erklärung von Süd- und Nordkorea begründete
Perspektive für eine neue Qualität in den innerkoreanischen Beziehungen. Zugleich dankt der Deutsche Bundestag dem südkoreanischen Staatspräsidenten Kim
Dae-jung für seinen beharrlichen Einsatz für Demokratie
und Menschenrechte sowie für die von ihm eingeleitete
mutige Sonnenscheinpolitik.
({1})
Der Deutsche Bundestag gratuliert dem südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-jung zur Verleihung des Friedensnobelpreises sicherlich fraktions- und parteiübergreifend. Es waren gerade Kolleginnen und Kollegen aus
diesem Hause - ich sehe hier den Kollegen Neumann und
andere -, die diesen Vorschlag für den Deutschen Bundestag bereits in einer Zeit begründet haben, als Kim
Dae-jung noch ein verfolgter, inhaftierter und vom Tode
bedrohter Oppositioneller in Südkorea gewesen ist.
({2})
Mit diesem interfraktionellen Antrag wollen wir aber
auch würdigen, dass die Verantwortlichen in der politischen Führung Nordkoreas durch die Erklärung von
Pjöngjang ihre Bereitschaft gezeigt haben, den durch die
gemeinsame Erklärung vorgezeichneten Weg für eine
Annäherung auf der koreanischen Halbinsel zu beschreiten. Innerkoreanische Begegnungen atmen bis heute
immer den Geist des Besonderen und sind noch längst
keine Normalität.
Es war deshalb zu begrüßen, dass die Leitungen des
Deutschen Evangelischen Kirchentages und des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland zum
Evangelischen Kirchentag in Frankfurt jeweils eine Delegation aus dem Norden und aus dem Süden der koreanischen Halbinsel eingeladen haben
({3})
und dass Delegationen aus dem Norden und aus dem Süden der koreanischen Halbinsel an diesem Evangelischen
Kirchentag teilgenommen haben.
({4})
Zu den Besonderheiten der koreanischen Teilungsgeschichte zählt ein vom Hyundai-Konzern betriebenes
Fremdenverkehrsprojekt im Kumgang-Gebirge Nordkoreas. Vor allem im Hinblick auf die Selbstvergewisserung junger Menschen im Süden des Landes
über das Teilungsschicksal spielt dieses Projekt eine
wichtige Rolle. Es ist sicherlich klug und richtig, dass sich
die Regierung der Republik Korea jetzt entschlossen hat,
in dieses Projekt, nachdem es defizitär geworden ist, zu
investieren, weil es ein ganz schmales Tor der Begegnung
von Menschen des geteilten Koreas, von Menschen des
Südens mit solchen des Nordens darstellt. Wir können die
südkoreanische Seite nur ermutigen, auf dem Weg, vor allem menschliche Annäherung und Begegnung zu suchen,
fortzufahren.
Wenn man dieses Projekt als Annäherung im Kleinen
versteht, dann wird man die zwischenstaatliche Politik
mit Blick auf Korea als das Bemühen bezeichnen müssen,
jetzt auch eine Annäherung im Großen zu organisieren.
Wir begrüßen die Bereitschaft der Vereinigten Staaten,
den mehr als fünf Monate unterbrochenen Dialog mit der
nordkoreanischen Seite fortzusetzen. Die Ankündigung
der USA, diesen Dialog wieder aufzunehmen, wird von
südkoreanischer Seite zu Recht begrüßt.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Wir teilen die Besorgnis, die - nicht nur - in der Republik Korea und in den Vereinigten Staaten im Hinblick auf
das Atomprogramm Pjöngjangs herrscht. Auch wir wollen eine nachprüfbare Beschränkung der Weiterentwicklung von Raketen durch Nordkorea und das Ende von Raketenexporten. Darüber - wie auch über andere Fragen;
ich denke zum Beispiel an die Truppenkonzentration entlang der entmilitarisierten Zone - muss mit der nordkoreanischen Seite gesprochen werden. Es ist wichtig und
richtig, dass mit Nordkorea über diese Fragen vonseiten
der Vereinigten Staaten wieder gesprochen wird.
({5})
Die Mitglieder der Deutsch-Koreanischen Parlamentariergruppe des Bundestages hatten im Mai in
Seoul die Möglichkeit, Staatspräsident Kim Dae-jung zu
treffen und mit ihm über die aktuelle Lage auf der koreanischen Halbinsel zu sprechen. Es war für uns sehr beeindruckend, bei dieser Begegnung zu erfahren, wie der südkoreanische Staatspräsident die wirtschaftliche Lage im
Norden einschätzt und für wie wichtig er das wirtschaftliche Engagement der Nachbarn in der Region - dabei
denken wir sicher an die Russische Föderation, an China,
an Japan, aber auch an die Vereinigten Staaten - erachtet.
Wir waren nämlich gerade zu dem Zeitpunkt in Seoul, als
die Delegation der EU-Spitze vom Norden, wo sie wichtige Gespräche geführt hat, in den Süden gereist ist.
Wir haben gespürt, wie wichtig für die südkoreanische
Seite ein Engagement der Europäischen Union und damit
auch der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der
weiteren Annäherung auf der koreanischen Halbinsel ist.
Es ist deshalb wichtig und richtig, dass heute nahezu alle
Mitgliedstaaten der Europäischen Union diplomatische
Beziehungen mit Nordkorea aufgenommen haben und
damit auch vonseiten der Europäischen Union ein Beitrag
zur weiteren Intensivierung des innerkoreanischen Dialogs und der innerkoreanischen Annäherung geleistet
wird. Wir als deutsches Parlament sollten es als unsere
Verpflichtung empfinden, diesen Annäherungsprozess intensiv zu begleiten, auch, indem wir jetzt ganz bewusst
Kontakte zu der obersten Vollversammlung Nordkoreas
suchen.
Wir wollten dies als Parlamentariergruppe bei unserem
Besuch auf der koreanischen Halbinsel tun; wir sind auch
von unseren Parlamentskollegen aus der Republik Korea
und unseren politischen Gesprächspartnern dazu ermutigt
worden. Man hat uns bei unserem Besuch auf der koreanischen Halbinsel die Einreise in den Norden vom Süden
aus noch nicht gestattet; deshalb konnte der Besuch nicht
stattfinden. Wir wollen diesen Besuch aber nachholen und
auch als Deutsch-Koreanische Parlamentariergruppe des
Deutschen Bundestages den Kontakt mit der obersten
Vollversammlung Nordkoreas aufnehmen. Es wäre sicher
gut und richtig, wenn auch Fachausschüsse des Deutschen
Bundestages in einen direkten Dialog mit den Fachebenen
der obersten Vollversammlung Nordkoreas treten würden.
({6})
Wir begrüßen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass sich die deutschen Bundesländer hier zunehmend engagieren und, wie jüngst aus Bayern, Wirtschaftsdelegationen mit dem Wirtschaftsminister nach Nordkorea fahren, um auszuloten, wie sich die deutsche Wirtschaft in
diesen Annäherungs- und Öffnungsprozess einklinken
kann. Auch das war ein Ergebnis, lieber Kollege Pflug,
lieber Kollege Fink, liebe Kollegin Reinhardt und all die
anderen Kollegen, die mit dabei waren; wir sollten allerdings sehr nüchtern sehen, wie die deutsche Wirtschaft die
wirtschaftlichen Entwicklungschancen in Nordkorea zurzeit beurteilt.
Ich glaube, es ist gut und richtig und ein wichtiges Signal, dass wir diesen fraktionsübergreifenden Antrag
heute hier in diesem Hause mit großer Mehrheit verabschieden. Wir erinnern uns, dass es günstige internationale Rahmenbedingungen gewesen sind, die die Herstellung der Einheit Deutschlands in den Epoche
machenden Jahren 1989/90 ermöglicht haben. Warum
sollte dem koreanischen Volk nicht Gleiches widerfahren
dürfen? Günstige politische Rahmenbedingungen entstehen jedoch nicht aus purem Zufall; es gilt, beharrlich auf
sie hinzuarbeiten. Auch die Bundesrepublik Deutschland
sollte das ihr Mögliche und Notwendige tun und zu einer
Verbesserung der internationalen Rahmenbedingungen in
dieser Region beitragen, damit eines Tages auch das geteilte Volk auf der koreanischen Halbinsel seine Einheit in
Frieden und Freiheit finden kann.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die SPD-Fraktion
spricht der Kollege Johannes Pflug.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als wir am 4. Mai dieses Jahres mit der
Deutsch-Koreanischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages im Rahmen unseres Korea-Besuches
die Sokkuram-Grotte in Kyangju besuchten, wurden wir
als Parlamentarier plötzlich von einer großen Schar von
Schulkindern umringt. Die Schulkinder freuten sich über
die Schar von Langnasen und machten sich einen Spaß
daraus, uns um Autogramme zu bitten.
Diese Begegnung erinnerte mich an das Jahr 1957. Damals war ich gerade elf Jahre alt und traf zum ersten Mal
Menschen aus Asien, die in größerer Zahl als Gastarbeiter in meine Heimatstadt Duisburg gekommen waren, um
als Bergleute oder als Krankenschwestern dort zu arbeiten. Meines Wissens waren Koreaner die ersten Gastarbeiter überhaupt, die auf Schachtanlagen in Duisburg arbeiteten.
Diese kleine Anekdote aus meiner Jugend zeigt, dass es
eine langjährige deutsch-koreanische Verbindung gibt,
die auf Arbeitsaustausch und Wirtschaftsbeziehungen beruht. Darüber hinaus gibt es die gemeinsame Erfahrung
von geteilten Vaterländern, die eine enge Beziehung und
gegenseitige Solidarität begründet hat.
Der gemeinsame Antrag, den wir gerade beraten, atmet
genau diesen Geist der Solidarität. Wir als Abgeordnete
des Deutschen Bundestages wünschen uns sehr, dass Südund Nordkorea in nicht allzu ferner Zukunft wieder ein
vereintes Vaterland sind.
({0})
Dazu fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag
auf, das ihr Mögliche zu tun, um beide koreanischen Staaten zu beraten und zu unterstützen. Dies gilt für immaterielle Unterstützung, aber es gilt auch für materielle Hilfen insbesondere für Nordkorea, wenn sich konkrete
Fortschritte auf belastbaren Verhandlungsergebnissen abzeichnen.
Aber die erste Euphorie der Annäherung im Sommer
2000 ist verflogen. Ernüchterung ist eingetreten in der
Einschätzung von Fortschritten auf dem Weg zur Wiedervereinigung der beiden koreanischen Staaten. Das hat
mit mangelnder Reformwilligkeit des nordkoreanischen
Regimes auf dem wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Sektor zu tun. Es hat vor allem zu tun mit dem mangelnden Transformationswillen Nordkoreas hin zu einer
parlamentarischen Demokratie. Nordkorea ist nicht nur
ein armes Land; es ist ein völlig isoliertes Land, das den
Weg der Isolation selbst gewählt hat und nun vor der Entscheidung steht, sich wieder für die internationale Völkergemeinschaft zu öffnen.
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Nordkorea seit dem 1. März dieses Jahres soll dabei helfen. Viele weitere Staaten der Europäischen Gemeinschaft haben auch auf Wunsch
Südkoreas und der Vereinigten Staaten diesen Weg der
Aufnahme diplomatischer Beziehungen beschritten.
Das hatte die neue amerikanischer Regierung zunächst
jedoch nicht davon abgehalten, dem südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-jung am 7. März bei seinem Besuch in
Washington ihre Skepsis gegenüber Nordkorea und ihre
Zurückhaltung gegenüber der Sunshine Policy zum
Ausdruck zu bringen. Zwischenzeitlich - der Kollege
Koschyk hat darauf hingewiesen - hat die Regierung der
Vereinigten Staaten ihre Korea-Politik modifiziert und
korrigiert und unterstützt diesen Prozess wieder.
Aber die mit großem Elan im vergangenen Jahr begonnenen Begegnungen und Gespräche zwischen Südund Nordkorea sind seit Beginn dieses Jahres ins Stocken
geraten. Die Troika-Mission der Europäer am 3. Mai kam
zwar zum richtigen Zeitpunkt, konnte aber auch nichts an
der festgefahrenen Situation ändern. Es gibt Absichtserklärungen des nordkoreanischen Präsidenten Kim Jong-il,
seinen Kollegen in Seoul zu besuchen, aber es gibt keine
Festlegung auf einen Termin.
Beide Seiten sollten ermuntert werden, den einmal beschrittenen Weg des letzten Jahres beharrlich und konsequent fortzuführen.
({1})
Zur dauerhaften Sicherung des Friedens auf der koreanischen Halbinsel und zur Kooperation der beiden koreanischen Staaten bis hin zur Wiedervereinigung gibt es keine
Alternative. Das betonen auch die Unterstützermächte der
Sonnenscheinpolitik von Kim Dae-jung, namentlich
die Vereinigten Staaten, China, Russland, Japan und die
Europäische Union, die ihre Anstrengungen durchaus vergrößern sollte.
Nordkorea ist nicht nur aus wirtschaftlicher und politischer Perspektive ein schwieriges Land, sondern auch wegen seiner Sicherheitspolitik. Nordkorea hat viel Geld in
die Entwicklung von Raketen gesteckt, mit denen es seine
Nachbarn in der Region und militärische Stützpunkte der
Vereinigten Staaten bedrohen kann. Das amerikanische
Vorhaben zum Bau von Raketenabwehrsystemen ist nicht
zuletzt durch nordkoreanische Aufrüstungsprogramme
motiviert worden.
Außerdem hat Nordkorea durch einen massiven Export
von Raketentechnologien zu neuen Bedrohungssituationen in den unterschiedlichsten Teilen der Welt beigetragen.
Nordkorea stand bis Mitte der 90er-Jahre unter dem
Verdacht, Atombomben bauen zu wollen. Es war zwar
Vollmitglied der Internationalen Atomenergiebehörde,
IAEO, weigerte sich aber, die damit verbundenen
Überprüfungen seiner Kernkraftwerke zuzulassen. Nordkorea hat sich die Bereitschaft, auf ein militärisches
Atomprogramm zu verzichten, 1994 abkaufen lassen. Der
Preis bestand in der Schenkung von zwei modernen Kernreaktoren im Werte von 4,6 Milliarden Dollar plus kostenlosen Schweröllieferungen der USA bis zur Fertigstellung der Reaktoren.
An der Organisation KEDO, die diese Vereinbarung
umsetzt, ist inzwischen auch die Europäische Union beteiligt. Nordkorea unterliegt seitdem wieder den Sicherheitskontrollen der IAEO, die ständige Inspektoren im
Lande unterhält. Diese Inspektoren wachen darüber, dass
es bei den alten, in nordkoreanischem Besitz befindlichen
Reaktorkernen zu keinen Veränderungen und Bewegungen kommt. Darüber hinausgehende Kontrollen lässt
Nordkorea nach wie vor nicht zu.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt alle Bemühungen der Bundesregierung und der Staatengemeinschaft, Nordkorea in dieser Frage zu größerer Öffnung zu
veranlassen.
({2})
All dies zeigt, dass es gravierende Probleme, aber zugleich auch existenzielle Interessen nicht nur der Süd- und
Nordkoreaner, sondern auch der internationalen Völkergemeinschaft an Frieden, Abrüstung und Kooperation auf
der koreanischen Halbinsel gibt.
Wenn ich vorhin von Ernüchterung sprach, dann hoffe
ich, deutlich gemacht zu haben, dass die genannten Probleme ohne nüchterne Betrachtung und Handhabung,
aber auch ohne Beharrlichkeit nicht gelöst werden können. Dabei ist neben der deutschen Bereitschaft zur materiellen Hilfe für den Norden bei unseren Freunden in Südkorea natürlich die deutsche Erfahrung auf dem Weg
zur Wiedervereinigung sehr gefragt. Waren es in der
Vergangenheit vor allem Fragen der Angleichung und
Vereinheitlichung des Rechts, der Verwaltungen und der
Lebensbedingungen in West- und Ostdeutschland, die unsere südkoreanischen Freunde interessierten, so sind es
heute immer mehr die Anfänge der deutsch-deutschen
Gipfeltreffen Anfang der 70er-Jahre und die Fragen des
Finanztransfers von West nach Ost.
In der Tat: Deutschland ist nicht ohne weiteres mit
Korea zu vergleichen: Im Gegensatz zu Korea gab es in
Deutschland keinen Bürgerkrieg. Im Gegensatz zu Südkorea gegenüber Nordkorea hat die Bundesrepublik
Deutschland nie eine völlige Abschottungspolitik gegenüber der DDR betrieben. Im Gegensatz zu Korea gab es
bei uns fast immer Kommunikation zwischen den beiden
Deutschlands und bei allen Scheußlichkeiten der ostdeutschen Grenzeinrichtungen eine zumindest für Westdeutsche durchlässige Grenze. Im Gegensatz zu Nordkorea
gab es in der DDR eine hervorragend informierte Gesellschaft und im Vergleich zu Nordkorea war die DDR eine
wohlhabende Gesellschaft.
In Deutschland gab es eine geteilte Stadt Berlin, die
immer wieder Kontakte und Gespräche zwischen den Garantiemächten, aber auch den beiden deutschen Staaten
erforderte. In beiden Teilen Deutschlands standen sich
Ost- und Westblock hoch gerüstet gegenüber. Jeder wusste, dass eine bewaffnete Konfrontation den dritten Weltkrieg und zugleich das Ende der menschlichen Existenz
hätten bedeuten können.
Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Erfahrungen aus den 70er-Jahren weitergeben, dass wir uns mit
unseren europäischen Partnern in Korea engagieren und
dass wir unsere südkoreanischen Freunde unserer Solidarität versichern, bis hin zur Wiedervereinigung.
({3})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Kollegen Koschyk und
Pflug haben hier viel Richtiges gesagt. Ich kann mich dem
anschließen.
Ich will nur auf eines hinweisen: Wir sollten uns keine
Illusionen machen. Wir sind alle in hohem Maße daran interessiert, die Situation in Korea zu verbessern, insbesondere den Dialog zu fördern, der dort dank Kim Jong-il,
dem mutigen Präsidenten von Südkorea, zustande gekommen ist. Aber - der Kollege Pflug hat es eindringlich
dargestellt - die Situation in Deutschland ist mit der in
Korea nicht vergleichbar. Im Vergleich zu dem, was sich
in Nordkorea abspielt, war die DDR - ohne dass ich das
Regime in irgendeiner Weise verharmlosen oder beschönigen will - geradezu ein Paradies der Freiheit.
Ich will es an einem Beispiel klarmachen. Die deutsche
Delegation war im Frühjahr 1991 im Rahmen der Interparlamentarischen Union zehn Tage in Nordkorea. Dabei
war der Kollege Haschke aus der früheren DDR, der
sagte: Um Gottes willen, jetzt merke ich erst, was uns erspart geblieben ist! - Als wir damals auf der Rückreise in
Peking zwischenlanden mussten - das war kurz nach dem
Massaker auf dem Tiananmen-Platz -, sind wir aus dem
Flugzeug gestiegen, haben tief durchgeatmet und gesagt:
Back to the free world again, endlich wieder in der freien
Welt - und das in Peking, anderthalb Jahre nach dem Massaker auf dem Tiananmen!
Man kann sich nicht vorstellen, was das Regime in
Nordkorea mit den Menschen gemacht hat: Sie haben von
nichts Kenntnis. Sie sind völlig abgeschottet und völlig
isoliert. Das Schlimme ist: Sie sind einer sektiererischen
Gehirnwäsche unterzogen worden, und das über Jahrzehnte. Selbst wenn jetzt eine gewisse Auflockerung eintreten sollte, wenn Kontakte in ganz begrenztem Maße ermöglicht werden sollten, wird es Jahrzehnte dauern, bis
diese Fixierung überhaupt aus den Köpfen verschwunden
ist. Damit wird man wohl rechnen müssen.
Es ist ja wunderschön - der Kollege Koschyk hat es gesagt -, wenn der bayerische Minister Wiesheu nach Nordkorea reist und dort eine bayerisch-nordkoreanische
Kommission ins Leben ruft, die nicht nur ausloten soll,
welche gigantischen Wirtschaftspotenziale für bayerische
Unternehmen in Nordkorea bereitstehen, sondern die sich
auch um die politische Annäherung kümmern soll. Nach
dieser Reise hat er dem Bayernkurier anvertraut, er
habe als ersten Schritt gelernt, mit Stäbchen zu essen. Das
ist eine gigantische vertrauensbildende Maßnahme. Ich
wünsche guten Appetit!
Wenn wir als Deutsche - gerade wegen unserer Verantwortung aufgrund unserer geschichtlichen Erfahrung
der jahrzehntelangen Teilung - irgendwie dazu beitragen
können, die Situation auf der koreanischen Halbinsel zu
verbessern, dann sollten wir das tun. Wie dies allerdings
die Bundesregierung im letzten Jahr begonnen hat - diese
kritische Bemerkung müssen Sie mir gestatten -, das, so
fand ich, war kein Gipfel der Diplomatenkunst. Denn hier
ist Deutschland mit einer völlig unnötigen und zunächst
isolierten Anerkennungspolitik vorgeprescht. Ich halte es
für richtig, dass man letzten Endes diplomatische Beziehungen zu Nordkorea aufgenommen hat. Aber ausgerechnet die deutsche Bundesregierung hat es sich zu leicht
gemacht: Sie hat sich nicht in das Konzert der Europäer
eingeordnet, obwohl dies ein klassisches Feld gewesen
wäre, auf dem man gemeinsame europäische Politik hätte
betreiben können.
Sie hat aber auch keine Bedingungen hinsichtlich der
Menschenrechte gestellt. Ich meine, wenn wir in Zukunft
die Beziehungen zu Nordkorea in irgendeiner Weise intensivieren wollen, dann müssen wir das konditionieren.
Es gibt dort die grässlichsten Straflager. Wir verlangen,
dass dort internationale Beobachter endlich Zutritt bekommen.
({0})
Wir verlangen, dass für Journalisten und für Diplomaten,
aber auch für humanitäre Hilfsorganisationen jegliche Beschränkungen der Freizügigkeit endlich aufgehoben
werden. Hier hat man einfach gesagt: Wir präsentieren
euch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen auf dem
Silbertablett, ohne dass man irgendwelche Bedingungen
gestellt hat. Wenn wir in Nordkorea irgendetwas erreichen
wollen, dann müssen wir auch eine gewisse Entschlossenheit und Härte zeigen und dürfen nicht Geschenke machen, die uns dann nicht honoriert werden.
({1})
Das Regime in Nordkorea ist nicht verständigungswillig.
Ob es verständigungsfähig ist, ist eine andere Frage. Nur
unter internationalem Druck wird es gelingen, dort irgendwelche Fortschritte zu machen.
Ich begrüße die Delegation aus Südkorea. Ich wünsche
Ihnen alles Gute. Wir leiden mit Ihnen unter der Teilung
und wir hoffen, dass es eines Tages gelingen wird, die Teilung zu überwinden, zumindest aber, leichte Fortschritte
zu erzielen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der
Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung begrüßt, dass die Kernanliegen der
deutschen Politik gegenüber den beiden koreanischen
Staaten und die Richtigkeit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Nordkorea am 1. März dieses
Jahres - dies haben wir übrigens von Anfang an in enger
Abstimmung mit den anderen Europäern organisiert - von
einem breiten Konsens in diesem Hause getragen werden.
({0})
Die Bundesregierung wird sich im Interesse von Frieden,
Stabilität und der Einhaltung der Menschenrechte auf der
koreanischen Halbinsel auch in Zukunft mit den EU-Partnern sowie den USA, Japan und Südkorea eng abstimmen.
Die Lage dort ist nach wie vor angespannt. Nirgendwo
auf der Welt stehen sich auf engstem Raum so viele Streitkräfte gegenüber wie am 38. Breitengrad. Dies stellt ein
Krisenpotenzial globalen Ausmaßes dar. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, durch ihre Politik zur
Verringerung dieses Potenzials beizutragen.
Wesentliches Ziel ist vor allem die Verhinderung der
Weiterentwicklung und Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen durch Nordkorea. Beim
Besuch der EU-Troika unter Leitung des schwedischen
Ministerpräsidenten Persson hat die nordkoreanische Regierung Anfang Mai eine dreijährige Verlängerung ihres
Raketentestmoratoriums bekannt gegeben und ihre weitere Gesprächsbereitschaft bekundet. Dies ist ein ermutigendes Zeichen.
({1})
Hauptgesprächspartner Nordkoreas in diesen Fragen
ist aus Sicht Pjöngjangs aber Washington. Die USA haben
ihren mehrmonatigen policy review in Bezug auf Nordkorea Anfang Juni abgeschlossen. Derzeit scheinen die
Verhandlungen zwischen den USA und Nordkorea jedoch
noch nicht recht vom Fleck zu kommen. Wir werden mit
den USA bei den G-8-Treffen in Rom und in Genua auch
die Koreapolitik konsultieren und dabei prüfen, ob
Deutschland und die EU einen Beitrag dazu leisten können, wieder Bewegung in diesen Verhandlungsprozess zu
bringen.
({2})
Ein unberechenbares Nordkorea könnte die gesamte
Region gefährden. Die katastrophale wirtschaftliche und
humanitäre Situation des fast völlig isolierten Landes
könnte zu dieser Unberechenbarkeit beitragen. Das Zerbrechen des Wirtschaftssystems, das auf der die Autarkie
betonende Juche-Ideologie beruht, hat für die nordkoreanische Bevölkerung extreme Leiden mit sich gebracht.
Diese werden noch verstärkt durch ein lückenloses Überwachungs- und Kontrollsystem, dessen Bedeutung für
den Systemerhalt durch die Verschlechterung der Wirtschaftslage steigt. Hinzu kommt, dass die perfekte
Weltabgeschiedenheit zu extremer Weltfremdheit geführt
hat.
Niemand weiß, wie viele Tote der Hunger in den letzten zehn Jahren gefordert hat. Es gibt für die Mehrzahl der
Nordkoreaner kaum noch medizinische Versorgung.
Durch die Dürre in den letzten Monaten hat die humanitäre Nothilfe für die hungernden Menschen noch an
Bedeutung gewonnen. Die Bundesregierung wird sich
hier verstärkt engagieren. Aber wir sind der Meinung,
dass die Ernährungskrisen in Nordkorea nicht nur durch
zyklisch eintretende Katastrophen bedingt sind,
({3})
sondern einer strukturellen Fehlorganisation der Wirtschaft und insbesondere der Landwirtschaft geschuldet
sind.
({4})
Wir haben durch die Aufnahme der diplomatischen
Beziehungen unsere Möglichkeiten verbessern können
- Herr Kollege Irmer, das war eine Bedingung, die wir explizit daran geknüpft haben; das haben wir im Auswärtigen Ausschuss vorgetragen und gemeinsam diskutiert -,
in Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des World Food
Programme zumindest in Ansätzen zu kontrollieren, ob
Hilfslieferungen die wirklich Bedürftigen erreichen.
Auch die Verbesserungen bei der Reisefreiheit für die
Angehörigen unserer Botschaft und die Erleichterungen
für die Tätigkeit von Vertretern deutscher Medien, denen
die nordkoreanische Regierung im Zuge der Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zugestimmt hat, werden sich hier positiv auswirken, Herr
Irmer. Die ersten Journalisten haben schon das Land bereisen können.
Die humanitäre Hilfe kann jedoch nur die ärgsten Auswirkungen der Probleme Nordkoreas mildern; sie kann
sie nicht lösen. Wichtig ist vor allem, Nordkorea Schritt
für Schritt zur wirtschaftlichen und auch zur politischen
Öffnung zu bewegen. Jeder Schritt der Öffnung ist ein
Schritt zur Normalisierung.
({5})
Nur so ist zu erreichen, dass in Zukunft mit der nordkoreanischen Führung auch über Themen gesprochen
werden kann, zu denen ein sinnvoller Dialog heute erst in
Ansätzen möglich ist. Dabei denke ich vor allem an die
Menschenrechte. Nordkorea hat bei meinem Besuch in
Pjöngjang einem Dialog über die Menschenrechte mit uns
zugestimmt. Wir werden diesen Dialog suchen.
({6})
Nur über eine Öffnung Nordkoreas kann auch ein verstärkter wirtschaftlicher Austausch in Gang kommen, der
für die Erholung der nordkoreanischen Wirtschaft dringend nötig ist. Die ersten Verhandlungen über ein
Investitionsschutzabkommen in Berlin in der vergangenen Woche haben gezeigt, dass selbst die Schaffung der
rechtlichen Grundlagen für einen solchen Wirtschaftsaustausch mit Nordkorea außerordentlich schwierig ist.
Wichtigster Partner Nordkoreas auf dem Weg zur Normalisierung ist natürlich Südkorea. Im März 2000 hatte
der südkoreanische Präsident Kim Dae-jung in seiner
Berliner Erklärung hier in der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands die Grundzüge seiner Sonnenscheinpolitik gegenüber Nordkorea dargestellt.
Die Wahl Berlins für die Abgabe dieser Erklärung war
ein Symbol für die besonderen Erwartungen Koreas an
Deutschland, die aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen
mit der Teilung bestehen.
Im Ergebnis der Sonnenscheinpolitik entstand auch in
der politischen Führung Nordkoreas die Bereitschaft,
über erste konkrete Schritte der politischen Annäherung
der verfeindeten Nachbarstaaten nachzudenken. Die gemeinsame Erklärung des ersten innerkoreanischen Gipfels vom Juni 2000 war der bisherige Höhepunkt dieser
Entwicklung. Es folgten Familienbegegnungen, die Wiedereröffnung der Verbindungsbüros in Panmunjom sowie
erste gemeinsame Verkehrsprojekte. Die Bundesregierung hat diese Politik Kim Dae-jungs vom ersten Tag an
aktiv unterstützt und wird das auch weiterhin tun, auch
und gerade wenn die innerkoreanische Annäherung gegenwärtig stagniert und Rückschläge nicht auszuschließen sind.
({7})
Wir wissen aufgrund unserer eigenen historischen Erfahrung, dass dieser Weg der einzig richtige ist. Wir wissen jedoch auch, wie lang er ist und welche Widerstände
überwunden werden müssen. Kollege Pflug hat darauf
hingewiesen, worin die Unterschiede zwischen der deutschen und der koreanischen Situation bestehen.
Meine Damen und Herren, eine Vielzahl von Aufgaben
kommt auf uns hier in Berlin und auf unsere Diplomaten
auf dem schwierigen Posten Pjöngjang zu. Es ist gut, dass
mit dem vorliegenden Antrag die parteiübergreifende Unterstützung für die von uns und von den Angehörigen der
Botschaft umzusetzende Koreapolitik der Bundesregierung dokumentiert wird. Dafür möchte ich Ihnen allen
ausdrücklich danken, besonders den Kolleginnen und
Kollegen, die durch eigene Reisen zur Intensivierung der
Beziehungen beitragen.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Dass ich an einer Rede des
Kollegen Koschyk im Wesentlichen nichts herumzunörgeln habe, kommt nicht allzu häufig vor. Ich hoffe, dass
es dem Kollegen Koschyk nicht peinlich ist. Ich habe jedenfalls kein Problem damit.
({0})
Ich möchte meinerseits unsere südkoreanischen Kolleginnen und Kollegen begrüßen. Ich freue mich sehr
über ihren Besuch. Wir haben uns in ihrem Land kennen
gelernt, als ich mit Gregor Gysi zusammen Nord- und
Südkorea besucht habe. Ich weiß, dass man in ihnen sehr
realistische und verlässliche Partner einer auf Entspannung orientierten Politik hat. Wir alle wissen - das
braucht man nicht zu wiederholen -, wie kompliziert und
belastet die Situation auf der koreanischen Halbinsel
noch immer ist.
Wer einmal am 38. Breitengrad in Panmunjom war, der
wird erkannt haben, dass der Frieden noch sehr fragil ist.
Ich weiß gar nicht, ob der Begriff Friede passend ist. Es
ist ein Nicht-Krieg oder Noch-nicht-Friede, also eine
schwierige Übergangssituation. Ich habe mir bei meinem
Besuch vorgestellt, dass die Gebäude und Befestigungen
vielleicht einmal so etwas wie ein Museum des Kalten
Krieges werden könnten. Hinsichtlich der Frage, ob das
allerdings in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen wird, bin ich eher skeptisch. Das, was sich dort ausdrückt, ist aber leider ein Erbe unserer Generation.
({1})
Ich glaube, wir sollten sehr viel tun, damit aus diesem
Zustand des Nicht-Krieges bzw. Noch-nicht-Friedens so
etwas wie ein gesicherter und stabiler Friede wird.
({2})
Deshalb sollten wir den Entspannungsprozess mit
dem, was wir können, unterstützen. Wir sollten beiden
Staatsführern ermutigend sagen, dass wir Schritte der Begegnung, der menschlichen Kontakte, des Austausches,
des Handels - was immer möglich ist - so weit unterstützen, wie es in den Kräften unserer Politik, unseres Landes
steht.
Notwendig ist es, Ängste abzubauen - da bin ich mir
ganz sicher -, und weite Demokratisierung in beiden Ländern einzuleiten und durchzusetzen. Gesetze, die menschliche Kontakte mit Strafe belegen, müssen fallen. Das
passt nicht in unser Jahrhundert.
({3})
Wir werden auch ein Verständnis für einen anderen Zeitfaktor, für das Aufeinandertreffen anderer Kulturen zeigen müssen.
Was können also die deutschen Interessen sein? Da ich
nur noch wenig Zeit habe, nur kurz einige Stichworte.
Deutsches Interesse muss sein, zu Frieden und Stabilität
beizutragen. Es war im wohl verstandenen deutschen wie
internationalen - also auch europäischen - Interesse, die
diplomatischen Beziehungen aufzunehmen. Ich möchte
ausdrücklich dazu sagen: Ich glaube, dass wir in Sprache
und Gestus in hohem Maße ein Fingerspitzengefühl für
das entwickeln müssen, was akzeptiert und was nicht akzeptiert werden kann.
({4})
Wir sollten unsere Erfahrungen mit der deutschen Einheit, die wir selbst ja sehr unterschiedlich bewerten, mit
unseren koreanischen Freunden teilen. Wir müssen begreifen: Der Prozess in Korea muss von den Menschen
auf beiden Seiten beschritten werden. Man kann helfen
- es gibt nichts Vergleichbares - und Rat geben, wenn er
gefragt ist. Man sollte aber seinen Rat nicht aufdrängen,
wenn er nicht erwünscht ist. In einem größeren Maße als
wir stehen die Signatarmächte des Waffenstillstandsabkommens in der Verpflichtung, aus dem Waffenstillstand heraus zu einem gesicherten Frieden und einer Kooperation auf der koreanischen Halbinsel zu kommen.
Das sollten wir einmal deutlich machen, vor allem auch
gegenüber unseren amerikanischen Kolleginnen und Kollegen. Diejenigen, die die besten Beziehungen zu unseren
amerikanischen Kolleginnen und Kollegen haben - andere haben sicherlich bessere Beziehungen als ich -, sollten den Verantwortlichen sagen, dass der Prozess in Korea
nicht misstrauisch beäugt werden sollte, sondern auch
vonseiten der USA gefördert und vorangebracht werden
muss.
({5})
Wir sollten ihnen sagen, dass man nichts tun sollte, was
die Sicherheit im asiatischen Raum insgesamt gefährden
könnte.
Meine Redezeit ist abgelaufen; die Frau Präsidentin hat
schon das Blinklicht am Rednerpult ausgelöst. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich habe auch ganz
diskrete Methoden.
Ich schließe die Aussprache. - Bevor wir zur Abstimmung kommen, bedanke ich mich noch einmal im Namen
aller Kolleginnen und Kollegen des Hauses für Ihr Interesse, liebe Gäste aus Korea. Ich bin mir sicher, dass diese
Debatte eine Anregung für Sie war. Erzählen Sie zu
Hause, dass wir im Parlament die Freundschaft zu Ihrem
Land sehr Ernst nehmen.
({0})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. auf Drucksache 14/6210
mit dem Titel Frieden, Stabilität und Einheit auf der
koreanischen Halbinsel. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
bei einigen Enthaltungen aus der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 9:
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Karlheinz Guttmacher, Hans-Michael
Goldmann, Horst Friedrich ({1}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Mehr Eigentum, mehr private Anbieter und
zielgenaue Hilfen zum Strukturwandel am
Wohnungsmarkt in den neuen Bundesländern
- Drucksache 14/6055 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Christine Ostrowski, Gerhard
Jüttemann, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Maßnahme-Programm zum wohnungswirtschaftlichen Strukturwandel in den neuen Ländern vorlegen
- Drucksachen 14/6051, 14/6565 Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Otto ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die hohen,
flächendeckenden Wohnungsleerstände in den neuen
Bundesländern sind sowohl das Ergebnis der noch nicht
bewältigten Erblasten der DDR
({0})
als auch des wirtschaftlichen Strukturwandels in den
neuen Bundesländern, der sich schwieriger gestaltet, als
wir dies noch vor zehn Jahren geglaubt haben. Besonders
die fehlenden Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern
führen dazu, dass es dort zu einem Rückgang der Bevölkerungszahl kommt. So wohnen nicht mehr 16,7 Millionen, sondern nur noch 15,2 Millionen Menschen in den
neuen Ländern. Heute stehen auf dem dortigen Wohnungsmarkt 1 Million Wohnungen leer. Dieser Markt ist
gekennzeichnet durch zu wenige kleine, private Vermieter sowie zu wenige Eigentümer mit selbst genutztem
Wohneigentum.
({1})
Allein die bei dem GdW erfassten 380 000 leer stehenden Wohnungen führen zu einem jährlichen Mietausfall
von 1,6 Milliarden DM, die der Wohnungswirtschaft, aber
auch vor allem der Bauwirtschaft dringend fehlen. Die
F.D.P. fordert in ihrem Antrag, der heute hier vorgelegt
wird, erneut eine Strukturhilfe für die Wohnungswirtschaft Ost.
({2})
Die Altschulden für dauerhaft leer stehende Wohnungen oberhalb von 5 Prozent des Bestandes müssen bei
Vorlage eines wohnungswirtschaftlichen Konzeptes in
Absprache mit den Kommunen grundsätzlich gestrichen
werden.
({3})
Dringend notwendig erscheint uns auch, dass die Städtebaufördermittel des Bundes und der Länder sowie das
Programm Soziale Stadt mit einem Schwerpunkt zur
Wohnumfeldverbesserung und -gestaltung aufgestockt
werden. Dieser Städtebaustrukturansatz, den wir bereits
im März auf dem von GdW und Deutschem Städtetag in
Leipzig veranstalteten Kongress zum Wohnungsleerstand
vorgestellt haben, fand große Zustimmung.
({4})
Ebenso wurde unsere Vorstellung einer Öffnung des Wohnungsmodernisierungsprogramms der KfW für strukturverbessernde Maßnahmen im Wohnumfeld im Zusammenhang mit einem städtebaulichen Konzept der Kommunen
von der Wohnungswirtschaft als dringend notwendig angesehen.
({5})
Wenn wir den dringenden Aufgaben nachkommen
wollen, die Wohnungswirtschaft und damit den Wohnungsmarkt wieder in Ordnung zu bringen, dann halten
wir die Neuauflage des sozialen Wohnungsbaus durch
die Bundesregierung für kontraproduktiv. Mein Kollege
Goldmann hat unlängst in einer wohnungspolitischen Debatte die Meinung der F.D.P. zu diesem Thema vorgetragen. Dringend notwendig wäre es, die Wohnungsnachfrage wirtschaftlich zu stärken. Wir haben in den neuen
Bundesländern einen großen Überhang an Wohnungen,
aber keine entsprechende Nachfrage.
Zur Erleichterung des Strukturwandels müssen wir in
der Fiskalpolitik auch den Mut haben, Sonderregelungen
wie die befristete Befreiung von der Grunderwerbsteuer,
die ausschließlich der Strukturbereinigung dienen, bei
Verkäufen zuzulassen. Die F.D.P.-Fraktion sieht sich in
ihrer zügigen und konstruktiven Mitarbeit zur Verbesserung der Wohnungswirtschaft durch das in den letzten
Tagen von der Bundesregierung aufgelegte Programm zur
Umsetzung des wohnungswirtschaftlichen Strukturwandels in den neuen Bundesländern in vollem Maße bestätigt.
({6})
Die Finanzierung des 300 Millionen DM schweren Regierungsprogramms ist allerdings eine Mogelpackung;
dabei bleiben wir. So sollen 100 Millionen DM Städtebaufördermittel, die bereits jetzt für strukturverbessernde
Maßnahmen vorgesehen sind, in dieses angebliche Sonderprogramm eingebracht werden.
({7})
Weitere 100 Millionen DM sollen aus der Gemeinschaftsaufgabe - aus Mitteln, die in diesem Jahr, aus welchem Grunde auch immer, nicht abfließen - für die nächsten drei Jahre gebunden werden, um sie in dieses
Programm aufzunehmen.
({8})
So werden lediglich 100 Millionen DM zusätzlich eingebracht. Das Programm zum wohnungswirtschaftlichen
Strukturwandel in den neuen Bundesländern muss unserer Meinung nach aber mit mindestens 300 Millionen DM
jährlich zusätzlich ausgestattet werden.
({9})
Auch fordert die F.D.P. ein Programm im Umfang von
1 Milliarde DM - mit Mitteln aus dem Erblastentilgungsfonds; schließlich geht es um den Abbau von Erblasten
aus der DDR.
So wie beim Altschuldenhilfe-Gesetz kann die Bundesregierung die Wohnungswirtschaft nicht noch einmal
im Regen stehen lassen. Mit dem unzureichend finanzierten Strukturprogramm der Bundesregierung ist es so,
als ob man einem Ertrinkenden eine Badehose zuwirft.
Damit ist der Wohnungswirtschaft Ost nicht geholfen, sie
braucht Boden unter den Füßen.
({10})
Für die SPD-Fraktion
spricht die Kollegin Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde mich freuen, wenn wir uns
über alle Parteigrenzen hinweg darauf verständigen würden, dass der Stadtumbau Ost eine nationale und damit gesamtdeutsche Aufgabe ist.
({0})
Es geht darum, eine Krise zu meistern, die vielfältige
Ursachen hat. Wir müssen verhindern, dass aus dieser
Krise eine Katastrophe wird, denn der Leerstand im Osten
hat schon jetzt verheerende Folgen für die Entwicklung
der Städte und ihrer Quartiere. Wenn der schöne Satz
stimmt, dass in jeder Krise eine Chance steckt und diese
Chance darin besteht, aus Fehlern der Vergangenheit zu
lernen, können wir aus der Leerstandskrise eine ganze
Menge für die Zukunft lernen.
Auch die F.D.P. könnte eine Menge lernen, denn ihr
Antrag ist leider gänzlich frei von jeder Selbstkritik. Sie
formulieren rosa wolkig, dass in der Vergangenheit notwendigen Investitionen im Zweifel Vorrang vor ungeklärten Rückgabeansprüchen eingeräumt worden sei.
Dabei weiß zumindest im Osten jeder - Herr Guttmacher,
Sie wissen es auch -, was das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung trotz aller Vorranggesetze angerichtet hat,
und zwar wahrlich nicht nur beim Wohnungsbau.
({1})
Auch Ihre Ausführungen zum Altschuldenhilfe-Gesetz
sind, freundlich formuliert, eher beschönigend als erhellend. Herr Kollege Guttmacher, wir sind beide 1990 in
den Bundestag gewählt worden. Ich finde es zum Teil fast
erheiternd, was Sie zum Altschuldenhilfe-Gesetz gesagt
haben. Man denke nur daran, wie sich seinerzeit Ihre
Ministerin geziert hat, überhaupt einer Altschuldenhilferegelung für die Wohnungen im Osten zuzustimmen.
Herr Guttmacher, das Altschuldenhilfe-Gesetz ist damals im Rahmen des Solidarpakts durch die SPD-Länder
eingebracht worden. Das ist die Wahrheit.
({2})
Nach Erklärungen für die Ursachen des hohen Wohnungsleerstandes in Ostdeutschland sucht man in
Ihrem Antrag vergebens. Da ist nur die Rede von nicht
näher erläuterten Strukturproblemen. Das klingt ein bisschen, als seien Sie zwischen 1990 und 1998 nicht dabei
gewesen.
Wir können aus der Leerstandskrise eine Menge lernen. Wir können daraus lernen, die Fehler der Vergangenheit künftig zu vermeiden. Damit meine ich nicht nur städtebauliche Sünden, sondern auch eine teilweise verfehlte
Subventions- und Förderpolitik sowie schwerwiegende
Fehler beim Umgang mit den Altschulden der ostdeutschen Wohnungswirtschaft.
Der Leerstand eröffnet darüber hinaus die Chance einer wirklichen Umgestaltung der ostdeutschen Städte.
Beim Stadtumbau geht es nämlich nicht nur darum, zu
entscheiden, ob wir mit Dynamit oder mit der Abrissbirne
arbeiten. Der Stadtumbau ist auch keine Konjunkturspritze für die daniederliegende Bauwirtschaft, obwohl
diese zweifellos davon profitieren wird. Der Stadtumbau
ist auch kein Arbeitsbeschaffungsprogramm nach dem
Motto, das wir zu DDR-Zeiten hatten: Wir bauen auf, wir
reißen nieder - Arbeit gibt es immer wieder. - So kann es
auch nicht sein.
Was wir mit dem Stadtumbauprogramm erreichen
müssen, ist mehr Lebensqualität für Ostdeutschland, sind
lebenswerte Städte ohne hässliche Ruinen und mit einem
spürbar verbesserten Wohnumfeld,
({3})
ist eine kinder- und familienfreundliche Gesamtstruktur
mit kurzen Wegen von der Wohnung zur Arbeit, sind attraktive, lebendige Innenstädte.
Die Bundesregierung ist bis jetzt beileibe nicht untätig
gewesen. Schon jetzt sind wichtige Rahmenbedingungen
für die Erarbeitung von Lösungskonzepten zur Strukturanpassung geschaffen worden. Das darf ich an dieser
Stelle auch einmal sagen: Ich danke dem Parlamentarischen Staatssekretär Achim Großmann für sein anhaltendes Engagement für die neuen Bundesländer.
({4})
Eine der wichtigsten Maßnahmen war die Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes, mit der die notwendige Rechts- und Planungssicherheit für die ostdeutschen
Wohnungsunternehmen hergestellt wurde. Insbesondere
die Verordnung zur Härtefallregelung des § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes ermöglicht eine spürbare finanzielle Entlastung all der Wohnungsunternehmen, die
Altschuldenhilfe erhalten haben und die aufgrund erheblicher Leerstände in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet sind.
({5})
Es ist wichtig und es ist richtig, dass wir diesen
Wohnungsunternehmen helfen. Allein im Rahmen des
§ 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes können 700 Millionen DM Bundesmittel zur Tilgung von Altkrediten für
die vom Markt genommenen Wohnungen in Anspruch genommen werden.
({6})
Die Bundesregierung wird darüber hinaus die notwendigen finanziellen Mittel für den Stadtumbau zur Verfügung stellen. Das ist, wie Sie alle wissen, beschlossene
Sache. In den kommenden drei Jahren sind dies jeweils
300 Millionen DM. Dabei erwartet der Bund - das, finde
ich, zu Recht -, dass die Länder diese Mittel komplementieren und sich hier mit engagieren, denn dies ist eine Aufgabe, die gesamtdeutsch, gesamtstaatlich geleistet werden
muss.
({7})
Mit diesem Programm stehen den ostdeutschen Gemeinden einschließlich der Komplementärfinanzierung
von 2002 bis 2004 insgesamt 1,8 Milliarden DM zur Verfügung. Das Programm soll nach 2004 fortgesetzt werden. Das bedeutet zum einen Geld für den von der Leerstandskommission geforderten notwendigen Abriss von
rund 350 000 Wohnungen, den man von mir aus auch vornehmer als Rückbau bezeichnen kann. Ich halte es allerdings mehr mit den Vokabeln, die sagen, was da ist. Das
bedeutet zum anderen, dass die besonders wichtigen und
für das urbane Leben wertvollen Altbauten saniert werden
können, die jetzt zum Teil schlicht unbewohnbar sind.
Die Städte müssen insgesamt gestärkt werden und auch
dafür wird Geld zur Verfügung stehen; denn eine der
Hauptursachen für den Wohnungsleerstand liegt in der
Abwanderung ins Umland, im Neubau auf der grünen
Wiese. Die Menschen wandern ins Umland ab, weil die
Städte nicht attraktiv genug sind. Mit wachsendem Leerstand werden die Städte noch unattraktiver.
({8})
Dadurch nimmt die Abwanderung weiter zu. Das schaukelt sich immer weiter hoch. Es freut mich, dass wir da
offensichtlich einer Meinung sind, Herr Kollege
Guttmacher.
({9})
Deshalb müssen die Städte insgesamt aufgewertet werden. Das bedeutet Anpassung der städtischen Infrastruktur, Wiedernutzung freigelegter Flächen und Restaurierung von Gebäuden, die das Stadtbild prägen.
Ich mache auf zwei weitere wichtige Programme aufmerksam: zum einen auf das Programm Soziale Stadt,
zum anderen auf das Wohnraummodernisierungsprogramm der KfW. Beide haben eine wichtige Funktion, das
eine im Hinblick auf die Stadtteile, das andere im Hinblick auf die Sanierung des Wohnungsbestandes. Die
Menschen erleben damit nicht nur, dass leer stehende Gebäude abgerissen werden, sondern auch, dass etwas
Neues, Besseres entsteht. Das ist für das Lebensgefühl der
Betroffenen von besonderer Bedeutung.
({10})
Wenn das Stadtumbauprogramm gelingt - davon bin
ich überzeugt -, wird es eine echte Pilot- und Vorbildfunktion auch für den Westen der Republik übernehmen
können; denn das Leerstandsproblem ist kein reines Problem des Ostens. Auch in den alten Bundesländern entsteht zunehmend Wohnungsleerstand.
Wenn der Stadtumbau Ost gelingen soll, müssen die
Städte hierfür schlüssige Gesamtkonzepte entwickeln.
Gefordert sind die Kreativität und Fantasie aller Beteiligten. Ich wünsche uns auf diesem Weg viel Erfolg.
({11})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Norbert Otto.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag beschäftigt sich heute zum wiederholten Male mit der Problematik der Wohnungswirtschaft und speziell mit der
Wohnungssituation in den neuen Ländern. Das ist ein
Zeichen dafür, welche Bedeutung wir dieser Thematik
beimessen.
Lieber Kollege Guttmacher, liebe Iris Gleicke, im
Grunde genommen sind wir ganz dicht beieinander. Die
von Kollegin Gleicke geschilderte Zielstellung ist auch
unsere. Es gibt nur einen einzigen Knackpunkt - zu ihm
komme ich noch -, der uns hinsichtlich der Zielstellung
leider trennt.
Ich bin ebenso wie Iris Gleicke und Karl Guttmacher
seit 1990 dabei und bin stolz darauf. Wir können auf die
Entwicklung auch wirklich stolz sein, die wir im Bereich
des Wohnungswesens zu verzeichnen haben. Nur wer
blind ist, sieht nicht, was sich in unserem Lande, in unseren Städten getan hat: Ganze Stadtteile wurden saniert, Innenstädte vor dem Verfall gerettet und historische Bausubstanz entstand in alter Schönheit. Fielen 1991 noch die
wenigen sanierten Häuser auf, so fallen heute die wenigen
unsanierten Bauruinen auf. Das mag zwar nicht überall so
sein, aber in Thüringen, zum Beispiel in Erfurt, kann Ihnen das unter Beweis gestellt werden.
({0})
- Oder nach Schleusingen.
Wir können mit Stolz auf die Erfolge zurückblicken,
deren Grundlage wir in vielen Bereichen zum Teil im
großen Dialog überparteilich gelegt haben. In diesem Zusammenhang nenne ich ausdrücklich den Kollegen
Achim Großmann.
Wie wir alle wissen, gibt es aber nicht nur die positive
Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt.
({1})
Sprachen wir noch 1990 von einer Wohnungsnot in den
neuen Ländern, so gibt es jetzt mehr als 1 Million leer stehende Wohnungen. 1991 betrug die Leerstandsquote in
den neuen Ländern 2 Prozent; das waren die nicht bewohnbaren Wohnungen. Nunmehr liegt die Leerstandsquote bei durchschnittlich über 14 Prozent. Die Ursachen
dafür sind vielfältig: der Bevölkerungsrückgang, die
Wanderung von Ost nach West, aber auch die Sanierung
und der Wiederbezug von ehemals unbewohnbaren Stadtvierteln insbesondere in den Innenstädten. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang daran, dass am Ende der DDRÄra viele Innenstädte aufgrund der schlechten Bausubstanz entvölkert waren. Diese Innenstädte werden jetzt
langsam, aber sicher wieder bewohnt.
Die Leerstände in den neuen Ländern führen zu erheblichen Problemen, die letztlich einen generellen Strukturwandel in der Wohnungswirtschaft, aber auch in der
Stadtplanung nach sich ziehen müssen.
Die wirtschaftliche Lage der Wohnungsunternehmen
ist zum Teil katastrophal. Die soziale Situation in mancherorts nur noch teilweise bewohnten Gebieten spitzt
sich zu. Leer stehende Gebäude verleiten zu Vandalismus.
Dieser trägt wiederum zur weiteren Entvölkerung von
noch bewohnten Gebäuden bei. Das ist ein Dominoeffekt,
den wir unterbrechen müssen.
({2})
Im Auftrag der Bundesregierung wurde die bekannte
Expertenkommission zum wohnungswirtschaftlichen
Strukturwandel in den neuen Ländern eingesetzt. Diese
Kommission hat ihren Bericht vorgelegt. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat sich mit ihm beschäftigt und entsprechende Konsequenzen vorgeschlagen. Auch die Bauministerkonferenz hat hierzu Beschlüsse gefasst. Deren
Kernstück ist, dass die Finanzhilfen des Bundes zur Förderung des Stadtumbaus erhöht und nicht zulasten anderer bereits laufender Programme gehen. Dies ist aber nach
der jetzigen Finanzplanung der Bundesregierung vorgesehen. Genau das ist der Knackpunkt, den ich vorhin ansprach. Das neue Stadtumbauprogramm Ost soll durch
Einschnitte bei der Städtebauförderung und der Gemeinschaftsaufgabe Ost finanziert werden.
Traurige Tatsache ist auch, dass die bereitgestellten
Mittel bei weitem nicht ausreichen. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe - also nicht die Opposition - hat festgestellt,
dass mit der jetzigen Finanzausstattung 85 000 Wohnungen vom Markt genommen werden können. Angesichts
des Leerstandes im Umfang von 1 Million Wohnungen
kann man sich ausrechnen, welchen Zeitraum wir dafür
benötigen.
({3})
Es kommt aber noch schlimmer. Im Vergleich von
1998 zu 2001 sind die Finanzhilfen für den sozialen
Wohnungsbau, für die Städtebauförderung und für den Titel Soziale Stadt gesunken. 1998 waren das noch
1,9 Milliarden DM; im Jahr 2001 sind es noch 1,2 Milliarden DM. Bezogen auf die neuen Länder entspricht
dies einem Rückgang von 1 Milliarde DM auf 735 Millionen DM. Wir sind sehr gespannt, welche konkreten Programme die Bundesregierung nunmehr auf der Grundlage
der Empfehlung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur
wirksamen Bekämpfung des Wohnungsleerstandes und
des Stadtumbaus vorlegen wird. Das bisher Bekannte ist
jedenfalls nicht ausreichend, wenngleich es in die richtige
Richtung geht.
({4})
Der notwendige wohnungswirtschaftliche Strukturwandel in den neuen Bundesländern kann sich natürlich
nicht allein auf die Leerstandsproblematik beziehen. In
manchen Städten wird es sicherlich zu erheblichen Strukturveränderungen kommen. Leere Plattenbaugebiete an
den Stadträndern müssen durch eine attraktive Gestaltung
des Umfelds und eine gute Infrastruktur aufgewertet und
somit für neue Mieter attraktiv gemacht werden. Demgegenüber sind auch in Zukunft leer stehende Wohngebäude
inklusive der Infrastruktur zurückzubauen. Es hat zum
Beispiel keinen Zweck, in solche Gebiete noch eine
Straßenbahn- oder Buslinie fahren zu lassen oder große
Abwasserkanäle zu haben.
({5})
Wichtig ist auch ein vernünftiger Mix des Wohnungsbestandes aus Sozialwohnungen, Wohnungen des freien
Wohnungsbaus und selbstgenutztem Wohneigentum. Gerade im Bereich des privaten Eigentums gibt es in den
neuen Ländern noch erheblichen Nachholbedarf. Einer
Eigentumsquote West von 43 Prozent steht eine Quote Ost
von 31 Prozent gegenüber. Es ist nicht verständlich, dass
es Absichten gibt, die Eigenheimförderung zu reduzieren. Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern
haben genauso wie diejenigen in den alten den Wunsch,
in einem schönen Eigenheim zu wohnen.
({6})
Wir werden deshalb alle Vorschläge ablehnen, die auf eine
Verschlechterung der Eigentumsförderung abzielen.
({7})
Ebenso lehnen wir eine Reduzierung des Eigenheimneubaus zugunsten des innerstädtischen Bauens ab. Allerdings sollten die Rahmenbedingungen für das Bauen in
der Innenstadt verbessert werden. Wer sieht, was sich
manche städtischen Baubehörden einfallen lassen, der ist
nicht verwundert, wenn manche Investoren Reißaus nehmen und auf der grünen Wiese vor der Stadt anstatt in der
Stadt selbst investieren.
Wir wollen nicht nach hinten schauen. Aber ich spreche jetzt die Regierungsfraktionen an: Ich möchte Sie an
die Forderungen erinnern, die Sie 1998 aufgestellt haben,
als Sie noch in der Opposition waren. Sie forderten von
der damaligen Bundesregierung mehr Mittel. Wenn diese
heute auf dem Tisch liegen würden, wären wir zufrieden.
Ihre genauen Forderungen von damals können Sie in den
Ausschussprotokollen sicherlich nachlesen.
Erinnern Sie aber vor allen Dingen Bundeskanzler
Schröder an die Chefsache Ost und sein Versprechen vor
der Wahl, die Förderung der Wohnungswirtschaft zu verdreifachen und den sozialen Wohnungsbau wieder zu einem schlagkräftigen Instrument zu machen. Im Interesse
der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern hoffe
ich, dass wir am Ende dieser Legislaturperiode feststellen
können: versprochen und gehalten. Ansonsten, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, müssen Sie ein
wohnungspolitisches Fiasko in den neuen Bundesländern
verantworten.
Vielen Dank.
({8})
Norbert Otto ({9})
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal finde ich es sehr gut, dass sich
alle Fraktionen einig sind, dass gehandelt werden muss,
({0})
und anerkennen - auch das habe ich mehr oder weniger
herausgehört -, dass die Koalition, die Regierung und vor
allem Achim Großmann wirklich handeln. Wir sollten
jetzt nicht polemisch Pingpong spielen. Danach ist mir
nicht zumute.
({1})
Wenn ich am F.D.P.-Antrag trotzdem einiges kritisiere,
dann tue ich das nicht, um besserwisserisch zu sein, sondern weil ich es für wichtig halte, dass wir in der Problembeschreibung sehr aufpassen, damit wir bei der Lösung nicht alte Fehler wiederholen. Von daher finde ich
- das sage ich bewusst ohne Polemik -: Es ist an der Zeit,
dass wir einige falsche Weichenstellungen der 90er-Jahre
ernsthaft aufarbeiten. Bei aller Anerkennung - das sage
ich genauso wie Kollege Otto - der Leistungen und der
Errungenschaften - das sollten wir nicht klein reden, damit bin ich absolut daccord - müssen wir bestimmte Fehler, wie etwa die Regelung: Rückgabe vor Entschädigung,
bedenken.
({2})
- Doch, Kollege Guttmacher. Ich nenne diesen Punkt deswegen, weil wir gerade jetzt einen extrem hohen Leerstand bei Altbauten haben. Er hat damit zu tun, dass damals beim Eigentumsrecht die Weichen so gestellt
worden sind.
({3})
Ich sage das ohne Polemik: Eine solche Einheit macht
man nur einmal. Aber es ist wichtig, dass wir richtig an die
Ursachen herangehen.
({4})
Ein zweiter Punkt in Ihrem Antrag, der mir wichtig ist,
ist, dass Sie stark die Eigentumsorientierung betonen
- der Kollege Otto hat vorhin auf Eigentum an Neubauten
abgestellt -, ohne den Zusammenhang zwischen der
Leerstandsproblematik und der wachsenden Stadt-Umland-Wanderung zu thematisieren. Auch dies ist ein
Punkt, zu dem wir alle keine Lösung haben und keinen Joker aus dem Ärmel ziehen können. Hieran müssen wir
sehr ernsthaft arbeiten. Das werden wir nicht in dieser Legislaturperiode schaffen. Das wird uns in der nächsten Legislaturperiode weiter beschäftigen. In dieser Problematik
müssen wir Schritt für Schritt umsteuern, damit wir zu
mehr Bestandseigentum kommen.
Kollege Otto, Sie haben vorhin so nett gesagt: Sie wünschen sich, dass die Bürger Ost das gleiche Recht haben,
in einem schönen Neubau zu wohnen. Ich wünsche den
Bürgern Ost, dass sie das Recht und die Möglichkeit haben, in einem schönen alten, sanierten Fachwerkbau zu
wohnen.
({5})
Auch das gehört für mich dazu. Das ist ökologisch und
städtebaulich und strukturell eine gute Lösung. Ich freue
mich, dass Sie hierzu nicken.
({6})
Wir bekommen diese Probleme nicht so einfach in den
Griff. Es ist sehr viel getan worden - nicht nur während
der Arbeit der Expertenkommission. Iris Gleicke hat darauf hingewiesen, dass es im vorigen Jahr nicht einfach
war, den § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu ändern
und die 700 Millionen DM zur Härtefallregelung für von
der Altschuldenhilfe betroffene Wohnungsunternehmen
auf den Weg zu bringen. Natürlich ist es einfacher, als
Opposition mehr Geld zu verlangen, während die Regierung und die Koalitionsfraktionen die Kassen eines hoch
verschuldeten Staates im Auge behalten müssen. Auch
hier, denke ich, sollten wir das Maß für das Mögliche fair
aushandeln.
({7})
- Ich habe jetzt wirklich keine Lust, darauf einzugehen.
Wir alle wissen, dass der Osten im Hinblick auf die Verschuldung eine große Rolle spielt. Das ist nun einmal so.
Ich wünsche mir bei diesem Thema einfach sehr viel
Gemeinsamkeit.
Ich möchte - da meine Redezeit gleich zu Ende
ist - nur noch kurz auf ein paar wichtige Punkte hinweisen. Es ist so weit, dass wir Ihre zentrale Forderung nach
einem Programm erfüllen und dafür 900 Millionen DM in
drei Jahren zur Verfügung stellen. Sie haben Recht, wenn
Sie sagen, dass das teilweise umfinanziert sei. Aber teilweise handelt es sich auch um fresh money.
({8})
- Okay, aber es ist doch egal, ob man das auf Deutsch oder
Englisch sagt. - Ich finde es wichtig, dass damit den Ländern und Kommunen ein wichtiger Impuls gegeben wird
und ihnen die bundespolitischen Instrumente, mit denen
sie wirklich handeln können, an die Hand gegeben werden.
Ich halte es auch für einen sehr wichtigen Baustein,
dass wir das 16-Millionen-DM-Programm für Wettbewerb im Osten auf den Weg bringen, damit die Kommunen gute Konzepte bekommen. Des Weiteren gibt es
KfW-Kredite für den Abriss von Gebäuden. Außerdem
wird intensiv an der Veränderung der Investitionszulage
in Richtung mehr Selbstbehalt und Anhebung der Kostenobergrenze bei entsprechenden Erneuerungsmaßnahmen
gearbeitet. Auch das wird, glaube ich, ein sehr wichtiger
Punkt sein.
Lassen Sie mich als Letztes etwas zur Änderung der
Eigenheimzulage sagen. Ich meine - ich befinde mich
hier in einem Zwiespalt -, dass es sehr schwierig werden
wird, sie noch in dieser Legislaturperiode ostspezifisch
zu ändern. Ich glaube, wir müssen akzeptieren - so sehr
ich das Problem sehe -, dass wir erst in der nächsten Legislaturperiode eine umfassende Novelle der Eigenheimzulage auf den Weg bringen können, und zwar genau aus
diesem Grund, den Iris Gleicke genannt hat: Wir sollten
nicht denken - auch wenn die momentane Situation im
Osten sehr dramatisch ist und dort schnell gehandelt
werden muss, weil sonst die Wohnungsbauwirtschaft
tatsächlich zusammenbrechen wird und die Städte auseinander brechen werden; die Beschreibung der sozialen
Situation war ja richtig -, dass der Westen angesichts von
stagnierendem oder sogar rückläufigem Bevölkerungswachstum in einer Reihe von Städten und Regionen nicht
vor ähnlichen Problemen wie der Osten steht. Der Westen muss vom Osten lernen, wie man mit solchen Problemen umgeht.
Daher ist es gut, wenn wir das als gesamtdeutsche Aufgabe betrachten und wenn wir entsprechend an die Arbeit
gehen. Die Instrumente sind vom Bund schon weitgehend
vorbereitet. Ein paar Hausaufgaben müssen noch in diesem Sommer erledigt werden. Dann sollten wir alle in die
Hände spucken, die Ärmel hochkrempeln und auf der
Ebene der Länder, der Kommunen und der Wohnungswirtschaft konkret beginnen, und zwar gemeinsam und
ohne Besserwisserei.
Ich danke schön.
({9})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Christine Ostrowski für die
PDS-Fraktion.
Herr Guttmacher, 1 Million leer stehende Wohnungen waren es noch vor einem
Jahr. Heute hat sich die Anzahl bereits erhöht. In diesem
einen Jahr hat es, von Einzelfällen einmal abgesehen,
keine Marktbereinigung auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt gegeben. Frau Gleicke, von den 700 Millionen DM für die Härtefallregelung - in diesem Jahr sollten es 60 Millionen DM sein - ist nicht eine müde Mark
geflossen. Das ist zunächst einmal der Stand. Das liegt
schlicht und ergreifend an der Politik. Das möchte ich
festhalten.
Insofern freue ich mich sogar über den F.D.P.-Antrag,
weil er Anlass gibt, das Problem im Bundestag wieder
einmal zu thematisieren. Ich muss Ihnen allerdings sagen,
dass Ihr Antrag ein merkwürdiges Gemisch aus richtigen
Forderungen und falschen Einschätzungen ist und keine
inhaltliche Stringenz aufweist. Da meine Redezeit nur
drei Minuten beträgt, möchte ich punktuell nur auf die
richtigen Forderungen eingehen. Das ist zum Beispiel die
Forderung nach Streichung der Altschulden auf leer stehenden Wohnungen.
({0})
- Sie können mir eine Zwischenfrage stellen. Ich wäre
dafür sehr dankbar.
({1})
- Schade.
({2})
Die Streichung der Altschulden haben wir schon sehr
lange gefordert. Schön, dass Sie unsere Forderung aufgegriffen haben. Des Weiteren fordern Sie ein Strukturprogramm. Auch das haben wir schon lange gefordert. Die
Forderung nach Befreiung von der Grunderwerbsteuer ist
ein alter Hut. Das können Sie auch bei uns nachlesen.
Wichtiger als Ihr Antrag, der sowieso nicht angenommen werden wird, scheint mir aber das Stadtumbauprogramm der Bundesregierung zu sein. Darüber sind hier
schon viele lobende Worte gemacht worden. Selbst ich
- dazu habe ich mich immerhin durchringen können - habe
vorhin zweimal in die Hände geklatscht, Herr Staatssekretär, weil es besser als nichts ist. Aber bisher sind sozusagen nur Oberflächlichkeiten genannt worden. Ich
möchte Ihnen die Fakten nennen, die hier noch nicht zur
Sprache kamen.
({3})
Erstens. Der Bund gibt 300 Millionen DM, und zwar
über drei Jahre, zusammen 900 Millionen DM.
({4})
Den Rest bis zu 2,25 Milliarden DM zahlen Länder und
Kommunen. Das heißt, auch die finanzschwachen ostdeutschen Kommunen sollen das zahlen.
Zweitens. Das Geld kommt zu zwei Dritteln von Mitteln der Städtebauförderung und der Gemeinschaftsaufgabe. Da beißt sich die Katze in den Schwanz; denn Städtebauförderung und Gemeinschaftsaufgabe sind nun
gerade Fördertöpfe, mit denen verhindert werden soll,
dass die Städte entvölkert werden, die dazu beitragen sollen, die Städte zu beleben.
({5})
Wenn ich Geld daraus nehme, um den Wohnungsmarkt zu
bereinigen, dann, denke ich, mache ich etwas falsch.
({6})
Drittens. Ein Teil dieses Geldes, Frau Gleicke - niemand weiß, wie viel -, ist für den Abriss vorgesehen, nämlich 100 DM pro Quadratmeter. Weil aber 100 DM pro
Quadratmeter nicht reichen, müssen die Wohnungsunternehmen Kredite aufnehmen. Deshalb wird ein Kreditfinanzierungsprogramm der KfW aufgelegt. Nun sind
aber die Wohnungsunternehmen bis zur Halskrause verschuldet.
({7})
Da muss ja wohl die Frage erlaubt sein, ob man die Wohnungsunternehmen überhaupt noch mit neuen Krediten
belasten kann.
Nun kommt das Allerwitzigste. In der Öffentlichkeit
wird es immer so dargestellt, als ob man die ersten
300 Millionen DM im nächsten Jahr einsetzen könne,
etwa nach dem Motto: Jetzt haben wir 300 Millionen DM,
jetzt können wir schön umbauen und abreißen. - Mitnichten! Im nächsten Jahr stehen gerade mal 5 Prozent bereit. Das sind 15 Millionen DM Barmittel, Frau Gleicke.
Während dieser Zeit werden die Wohnungsleerstände
weiter steigen.
Um noch einmal das Verhältnis darzustellen: Der Bund
gibt 900 Millionen DM. Lassen Sie mich dazu bitte aus
dem Gutachten der Expertenkommission zitieren. Da heißt
es: Alle ostdeutschen Vermieter haben erstens Mietausfälle
jährlich - jährlich! - in Höhe von 2,2 Milliarden DM und
zweitens die gleich hohe Belastung durch Kredite, die auf
den Wohnungen liegen. - Das heißt, die ostdeutschen Vermieter haben es mit Belastungen in Höhe von insgesamt
4 Milliarden DM zu tun und der Bund gibt 900 Millionen DM. - Das nur zur Verhältnismäßigkeit der Mittel.
({8})
Wie ich vorhin voller Interesse mitbekommen habe,
entspricht der Betrag, 900 Millionen DM, dem, was für
die Binnenschifffahrt zur Verfügung gestellt wird. Das ist
hochinteressant.
({9})
Ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin. Ich
will noch etwas zur Bedeutung dieses Themas hier im
Bundestag sagen. Dazu zähle ich nur auf: Die PDS-Fraktion hat zu dem Problem Wohnungsleerstand Ost insgesamt elf Gesetze und Anträge eingebracht; die mächtige
CDU/CSU-Fraktion hat sich zu zwei schlappen Anträgen
durchgerungen,
({10})
die F.D.P.-Fraktion ebenfalls zu zwei schlappen Anträgen
und die Fraktionen der Regierungskoalition haben eine
einzige parlamentarische Initiative eingebracht,
({11})
nämlich die von der Regierung übernommene Novelle
des Altschuldenhilfe-Gesetzes. - Das sind die Fakten.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6055 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind, wie man
sieht, damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 14/6565 zu dem Antrag der Fraktion der
PDS mit dem Titel Maßnahme-Programm zum
wohnungswirtschaftlichen Strukturwandel in den neuen
Ländern vorlegen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/6051 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes
- Drucksache 14/5067 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({1})
- Drucksache 14/6500 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Winfried Wolf
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/6554 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege
Reinhold Hiller.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion
stimmt dem heute vorliegenden Gesetzentwurf der Regierung zur Aufhebung des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes zu
({0})
und lehnt gleichzeitig den von den Unionsfraktionen dazu
eingebrachten Entschließungsantrag ab.
Der Gesetzentwurf der Regierung ist notwendig. Wegen der Grundsatzvereinbarung zum Transrapid vom
5. Februar 2000 haben sich die Bundesregierung, die
Bahn AG, Thyssen Krupp und Daimler-Chrysler Rail Systems darauf verständigt, die Magnetschnellbahnstrecke
Hamburg-Berlin nicht mehr zu errichten. Damit ist der
Regelungsbedarf entfallen. Damit hat sich auch gezeigt,
meine Damen und Herren, dass sich ein Bedarf nicht einfach durch ein Gesetz im Bundestag festlegen lässt.
({1})
Die Kritik der Fachleute, aber auch der damaligen Oppositionsparteien bei den vielen Anhörungen zu diesem
Thema hat sich bestätigt. Alle Beteiligten haben diese Tatsache inzwischen registriert. Nur die jetzigen Oppositionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. wollen dies aus
ideologischen Gründen nicht zur Kenntnis nehmen.
({2})
Es ist nicht immer angenehm, Recht zu bekommen. Die
alte Regierung und die jetzigen Oppositionsfraktionen haben mit ihrem Verhalten der hervorragenden Technik
wertvolle Zeit gestohlen; außerdem hat es viel Geld gekostet.
({3})
Gleichzeitig haben sie den auf dieser Bahnstrecke Reisenden einen Bärendienst erwiesen.
({4})
Die rot-grüne Regierung hat den Transrapid wieder auf
die Spur gebracht.
({5})
In China - hören Sie zu, Herr Goldmann - wird bereits,
ohne Bedarfsgesetz, mit Hochdruck gebaut. Stellen Sie
sich das einmal vor!
({6})
Nach Ihrer Ideologie wäre das gar nicht möglich.
Eine Delegation des Verkehrsausschusses ist dort gewesen. Wir hoffen, dass diese Technik nicht nur in China,
sondern auch in Deutschland den Durchbruch schafft.
({7})
Wir wären mit der Strecke Hamburg-Berlin auf den
Bauch gefallen. Diese Technik hätte sich nicht durchgesetzt, weil sich in der Verkehrspolitik nur die Maßnahmen
durchsetzen, die finanziert werden können und für die ein
wirklicher Bedarf vorhanden ist. Genau das gilt für diese
Strecke nicht.
({8})
Die rot-grüne Regierung hat auch etwas für die Reisenden zwischen Hamburg und Berlin getan. Mit dem neuen
Fahrplan ist die Reisezeit fast eine Viertelstunde kürzer
geworden und die bereits beschlossenen Investitionen
werden dafür sorgen, dass die Bahn AG auf dieser Strecke
fast an die Zeit des Transrapids herankommen kann.
({9})
Die Konservativen wollen nur an dem festhalten, was
sie sich irgendwann einmal ideologisch zurechtgelegt haben.
({10})
Nur so kann ich Ihren Entschließungsantrag verstehen. Da
heißt es nämlich:
Mit dem Magnetschwebebahnbedarfsgesetz wurde
der Bedarf für eine leistungsfähige, spurgeführte
Hochgeschwindigkeitsstrecke von Berlin nach Hamburg festgestellt.
Weiterhin schreiben Sie:
Dieser Bedarf ist weiterhin vorhanden.
Sie sagen basta; denn Sie wollen die Realität nicht sehen.
({11})
Sie verhalten sich in diesem Punkt rein ideologisch. Wie
sind Sie überhaupt zu dieser Feststellung gekommen?
({12})
- Ich dachte, dass Ihnen das gefallen würde, weil auch Sie
manchmal entsprechend kritisieren.
Im Übrigen möchte ich Sie daran erinnern: Vor zehn
Jahren haben Sie von einem Investitionsprojekt deutsche
Einheit Hamburg-Berlin gesprochen. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Strecke von Hamburg nach Berlin
jetzt die langsamste ist und dass diese Städte nicht angemessen verbunden sind.
({13})
Sie halten uns vor, die Transrapidstrecke sei aus Kostengründen aufgegeben worden.
({14})
Dabei mussten wir feststellen, dass eine Industriefirma
nach der anderen abgesprungen ist oder abspringen
wollte.
({15})
All diese Firmen haben sich gesagt, dass damit kein Geld
zu verdienen ist. Auch heute wäre es möglich, dort dieses
System zu bauen; doch mir ist nicht bekannt, dass das
- außer Ihnen - irgendjemand ernsthaft in Erwägung
zieht. Es geht nicht nur um Kosten, sondern auch um zu
erwartende Erträge.
({16})
Die Verpflichtung des Bundes, jetzt eine Finanzierungslösung zu finden, die Sie in dem Bedarfsgesetz sehen, ist absurd.
({17})
Reinhold Hiller ({18})
Sorgen wir also dafür, dass das Gesetz aufgehoben wird.
Wenn das geschieht, gibt es keine Verpflichtung des Bundes mehr, den Transrapid-Unsinn auf dieser Strecke zu
finanzieren.
({19})
Die Abkehr davon ist eine Chance, insbesondere für die
Magnetschwebebahntechnik.
In China - das haben wir dort gehört und das können
diejenigen von der CDU/CSU, die dabei waren, auch
nicht bestreiten - wird neben der Referenzstrecke von
Shanghai nach Pudong der Bau von 13 weiteren Strecken,
zum Teil mit einer Länge von mehr als 1 000 Kilometern,
in Erwägung gezogen.
({20})
Hier liegen die Chancen.
Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Goldmann, hat die Industrie nicht gejammert, sondern die Ärmel hochgekrempelt
und im Zusammenwirken mit der Bundesregierung die
Voraussetzungen für einen internationalen Durchbruch
dieser Technik geschaffen. Das ist die Wahrheit.
({21})
Wir begrüßen, dass sich die Industrie im Gegensatz zu Ihnen unideologisch und undogmatisch verhält. Wir sehen,
dass diese Verhaltensweise zum Durchbruch führt.
Der Auftrag aus China, eine 30 Kilometer lange Referenzstrecke zu bauen, wird sich schon zum 1. Januar
2004 bewähren, wenn die ersten Fahrten auf dieser
Strecke stattfinden werden. Dann besteht für diese Technik weltweit ein Demonstrationsobjekt.
({22})
Wenn Sie das in den Zeitungen verfolgen, dann können
Sie feststellen, dass in der ganzen Welt darauf geschaut
wird, ob die Magnetschwebebahn auch vernünftig laufen
wird. Die Terminplanung für diese Strecke ist eine anspruchsvolle Herausforderung für die deutsche Industrie
und ihre chinesischen Partner. Das Bauvorhaben ist auf einem guten Weg; das haben wir kürzlich übereinstimmend
festgestellt. Der Chef von Thyssen Krupp, Ekkehard
Schulz, geht in einem Gespräch mit dem Handelsblatt
davon aus, dass die gegenwärtige Entwicklung den
Durchbruch für die internationale Vermarktung darstellt.
Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal daran
erinnern, dass man, wenn man sich ausschließlich auf Ihre
Pläne konzentriert hätte, diese Ergebnisse nicht erreicht
hätte.
({23})
- Das hat sehr viel miteinander zu tun, Herr Goldmann.
Ich habe aber den Eindruck, dass Sie immer nur dazwischenrufen und nichts zur Sache beitragen.
({24})
- Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie hier in Deutschland ein völlig falsches Instrumentarium anwenden wollten
({25})
und dass man in China diese Strecken ohne Ihre ideologische Scheuklappen Wirklichkeit werden lässt. Das ist der
Unterschied.
({26})
Die Chancen, dass an die deutsche Industrie Aufträge
für den Bau weiterer Strecken in China erteilt werden,
sind gut. Für das große chinesische Interesse spricht das
Ausmaß des für die Erstellung des Fahrweges des Transrapid eingerichteten Werkes. Wenn man das gesehen hat,
wird einem klar, dass man so etwas nicht errichten würde,
wenn man nicht weitere Vorhaben realisieren wollte. Für
Ekkehard Schulz von Thyssen Krupp liegt die Chance,
den Zuschlag für die Strecke Shanghai-Peking zu bekommen, bei 50 Prozent.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das von Ihnen entfachte Störfeuer schadet den deutschen Interessen und
auch der Technik. Wir fordern Sie auf, die Kämpfe der
Vergangenheit, die Sie hier immer wieder ausfechten,
({27})
endlich zu den Akten zu legen und gemeinsam für den
Durchbruch des Transrapid zu kämpfen. Wir begrüßen,
dass die Bundesregierung auch aktiv an der Realisierung
von Transrapidstrecken in Deutschland mitwirkt.
({28})
Sie können sich ja einmal mit dem bayerischen Minister
Wiesheu unterhalten; er wird Ihnen dann etwas über die
Realisierungschancen einer Strecke in Bayern erzählen.
Auch das ignorieren Sie. Ich kann Ihnen schon jetzt
voraussagen: Für den Bau dieser Strecke ist Ihr Bedarfsgesetz nicht nötig. Deshalb werden wir es heute abschaffen.
({29})
- Herr Goldmann, das hat damit zu tun.
({30})
- Mein Gott, können Sie nicht einmal ein bisschen leiser
sein! - Das hat damit sehr viel zu tun: Sie haben versucht,
den Bedarf ausschließlich über ein Gesetz festzustellen.
({31})
Wenn Sie das ignorieren wollen, dann können Sie ja dem
Aufhebungsantrag der Bundesregierung hier und heute
zustimmen;
({32})
Reinhold Hiller ({33})
dann ist das Thema erledigt. Aber da Sie das nicht tun wollen, schaden Sie gleichzeitig den Realisierungschancen
für Transrapidstrecken in Deutschland.
({34})
Meine Damen und Herren, es gibt gute Gründe, das Bedarfsgesetz abzuschaffen. Ich hatte es schon gesagt: Wir
werden dem Antrag der Bundesregierung zustimmen und
lehnen Ihren ideologischen Entschließungsantrag ab.
Herzlichen Dank.
({35})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Georg Brunnhuber.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute trotz des
herrlichen Sommertages ein schlechter Tag für Deutschland,
({0})
ein schlechter Tag für die Technologie in Deutschland und
für den Technologiestandort Deutschland.
({1})
Herr Kollege Hiller, es war schon fast bedauernswert anzusehen, wie hilflos und argumentationslos Ihre Partei ist,
wie sie mit schlechtem Gewissen versucht, uns noch Ideologie bei einer Technik zu unterstellen, die einmal von einem SPD-Bundeskanzler auf den Weg gebracht wurde.
Nur weil die CDU/CSU klare Konzeptionen entwickelt
hat, sind Sie heute in einer sehr schlechten Position; denn
Sie wissen, dass es Leute auch bei Ihnen gibt, die sagen:
Der Transrapid ist wirklich die beste Technik nach der Erfindung des Flugzeugs, die einzige moderne Verkehrstechnikinnovation.
({2})
Diese haben Sie jetzt mit einem Federstrich kaputtgemacht.
Ihr schlechtes Gewissen führt natürlich dazu, dass Sie
hier herumeiern müssen; denn Sie haben in Hamburg
Wahlkampf. In Hamburg gibt es einen rot-grünen Senat,
und dieser rot-grüne Senat kämpft an der Seite der
CDU/CSU und F.D.P. hier im Deutschen Bundestag für
dieses Projekt. Dazu haben Sie keinen Wort gesagt.
Herr Hiller, ich möchte einfach nur ein paar Dinge aufklären, weil Sie so danebenliegen, dass man sagen muss:
So kann man es nicht stehen lassen.
Erstens. Der Transrapid wurde unter einer SPD-geführten Regierung von einem SPD-Verkehrsminister
namens Klimmt kaputtgemacht,
({3})
der sich von einem gewissen Herrn Mehdorn über den
Tisch ziehen ließ, der Sie in diesen anderthalb Jahren
schon fünfmal in anderen Bereichen über den Tisch gezogen hat. Das war der Anfang seiner Tricksereien.
({4})
Er hat Ihnen nämlich ein X für ein U vorgemacht, indem
er sagte: Am 1. Juli 2001 - das war übrigens vor vier Tagen - fährt der ICE, ertüchtigt mit 380 Millionen DM, fast
so schnell wie der Transrapid von Hamburg nach Berlin.
Das garantiere ich. - Das hat er übrigens auch im Ausschuss gesagt. Wir haben das nie geglaubt und Sie doch
eigentlich auch nicht. Aber dieses Argument haben Sie
aufgenommen, um den Transrapid durch Herrn Mehdorn
kaputtmachen zu lassen.
({5})
Ich finde, das ist ein Armutszeugnis für Ihre Partei und für
Ihre Politik.
Genauso ist es ein Armutszeugnis, dass der einzige
Minister, der heute hier sitzt, der Kulturminister ist. Wahrscheinlich ist das der Letzte in der Regierung, der noch an
diese Technologie glaubt; das vermute ich einmal.
({6})
Ein zweites Argument, Herr Hiller! Sie erklären ständig, dass die Strecke Hamburg-Berlin von der CDU/CSU
in Verbindung mit der F.D.P. mit falschen Zahlen entwickelt worden sei, dass die gesamten Wirtschaftlichkeitsberechnungen quasi eine Erfindung des Ministers
Wissmann oder anderer gewesen seien.
({7})
Dabei wissen Sie ganz genau, Herr Hiller, denn Sie sind
schon lange genug dabei - Herr Hilsberg kann das nicht
wissen; der war damals noch nicht aktiv -: Wir haben
sämtliche Untersuchungen von unabhängigen Institutionen und vor allen Dingen von der Bahn AG selber durchführen lassen.
({8})
Die Bahn AG hat noch ein halbes Jahr vor der Absage
durch Mehdorn amtlich festgestellt: Mit etwa 8 Millionen
Fahrgästen ist garantiert zu rechnen, und mit 7 Millionen
fahren wir schon wirtschaftlich. Sie haben also im Grunde
genommen überhaupt kein Argument, das sticht, wenn Sie
sagen: Die Verbindung Hamburg-Berlin war nicht wirtschaftlich und deshalb haben wir das abgesagt.
({9})
Ein Weiteres. Sie erklären hier, die Wirtschaft, die beteiligten Unternehmen, hätten den Transrapid sterben lassen. Das ist absolut falsch. Ich unterstelle Ihnen nicht,
dass Sie hier gelogen hätten; vielleicht wissen Sie es wirklich nicht besser oder verdrängen es. Alle IndustriebeReinhold Hiller ({10})
triebe, die beteiligt waren, haben bis zum Schluss
gekämpft.
({11})
Sie sind in jener Nacht zur Sitzung gekommen und haben
noch Sonderfinanzierungsvorschläge und Alternativvorschläge in Bezug auf die Technik gemacht. Nur Herr
Mehdorn hat am Schluss erklärt: Das interessiert mich alles nicht, ich will den Transrapid nicht. Ich will ihn nicht,
denn - jetzt kommt es - überall, wo parallel eine Schiene
liegt, passt das nicht in mein System.
Jetzt erklären Sie hier an diesem Pult und zum x-ten
Mal, auch mit Herrn Mehdorn zusammen: Aber ich kann
mir vorstellen, dass das in Nordrhein-Westfalen funktioniert. - Dort haben wir mindestens drei Parallelstrecken, neben der Schiene noch zwei S-Bahn-Linien.
Wie soll es denn da funktionieren?
({12})
Wie soll das überhaupt finanziert werden? Da lache ich
wirklich. Das ist ein Treppenwitz, was hier heute erzählt
wird.
Ich möchte Ihnen deutlich machen - das muss man,
weil heute sozusagen notariell beglaubigt werden muss,
wer dafür verantwortlich ist, dass in diesem Land in diesem Jahrzehnt kein Transrapid gebaut werden kann -: Sie
machen hier eine Technik kaputt.
({13})
Sie machen mit einem Federstrich zehn Jahre Planungsaufwand kaputt, nur weil Sie nicht die Kraft hatten, die
6,5 oder 6,6 Milliarden DM zu finanzieren, die man in
Deutschland gebraucht hätte, um die Transrapidstrecke
von Hamburg nach Berlin zu bauen. Jetzt loben Sie sich
noch, dass der Transrapid in China fährt und das deutsche
Steuergeld zur Unterstützung nach China fließt. Es ist geradezu hanebüchen, dass man das hier im Deutschen
Bundestag hören muss!
({14})
Ich möchte kein Sozialminister in dieser Regierung
sein
({15})
und jeden Monat erleben müssen, wie die Arbeitslosigkeit
steigt, statt zu sinken, und Dimensionen annimmt, bei denen Sie selber langsam kalte Füße bekommen - Sie sowieso, Herr Hilsberg, weil Sie davon am wenigsten verstehen; das möchte ich hier einmal deutlich machen. Sie
verstehen von der Verkehrspolitik nicht viel, aber von diesem Thema wahrscheinlich überhaupt nichts. Dass der
Minister nicht eingreift, wundert einen. Denn jetzt hätte
man eine Technik, bei der die ganze Welt darauf wartet,
dass sie endlich eingesetzt wird. Die Planungen waren bis
auf einen kleinen Teil abgeschlossen. Alles werfen Sie
weg; 350 Milliarden DM werden zum Fenster hinausgeworfen, ohne Gegenwert. Anschließend erklären Sie:
Aber in München oder in Nordrhein-Westfalen könnten
wir den Transrapid auf die Strecke bringen.
Ich sage Ihnen hier: Wenn Sie ehrlich gewesen wären
({16})
und gesagt hätten: Wir haben die Strecke zwischen Hamburg und Berlin gestrichen und glauben selber nicht mehr,
dass wir das in diesem Jahrzehnt schaffen, dann hätte ich
noch Hochachtung. Sie erklären aber den Leuten, dass das
Ganze in den nächsten zwei, drei Jahren irgendwie geschehen wird.
({17})
Allein die Planfeststellung für die Strecke zwischen Dortmund und Düsseldorf oder auch für die Strecke zwischen
dem Flughafen München und der Stadt München wird
mindestens drei bis fünf Jahre dauern und dann haben Sie
noch immer kein Baurecht, sondern müssen sich im Zweifelsfall erst mit Klagen auseinander setzen. Dann ist dieses Jahrzehnt vorbei, ohne dass diese moderne Technik in
Deutschland gebaut worden ist.
Wir bedauern das. Die CDU/CSU - das darf ich hier sagen - hat wirklich mit Herzblut für den Transrapid
gekämpft.
({18})
Deshalb haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt, der beinhaltet, warum man dieses Bedarfsgesetz
nicht aufheben darf, nicht zuletzt deshalb, weil dieses Bedarfsgesetz mit der Finanzierung direkt nichts zu tun hat.
Wir haben so viele Autobahnstrecken in Bedarfsgesetzen
enthalten,
({19})
aber kein Mensch käme auf die Idee, zu sagen: Wir streichen all das, weil wir das gerade nicht finanzieren können.
Der Bedarf wurde 1992 festgestellt und Sie heben jetzt ein
Gesetz auf, weil Sie nicht den Mut und auch nicht die
Fähigkeit haben, die Transrapidstrecke zwischen Hamburg und Berlin weiterzuplanen.
Hätten Sie doch wenigstens - wir haben Ihnen diese
Bitte im Ausschuss oft genug vorgetragen - die Planfeststellung bis zum Ende durchführen lassen, damit wir einen kompletten Planfeststellungsbeschluss für die Strecke
zwischen Hamburg und Berlin gehabt hätten, dann hätten
wir nämlich, wenn die Finanzierung in nächster Zeit möglich geworden wäre, tatsächlich bauen können! Jetzt haben Sie das alles kaputtgemacht. Nichts stimmt mehr von
dem.
({20})
Nach all dem, was Sie hier vorgetragen haben, kann
man nur zu folgendem Ergebnis kommen: Wir brauchen
die Aufhebung dieses Bedarfsgesetzes nicht, sondern wir
müssen weiterhin an der Strecke Hamburg-Berlin festhalten. Wir haben dazu einen Entschließungsantrag vorgelegt. Eine Begründung hierfür habe ich vorgetragen. Es
wäre klug von der SPD und den Grünen, wenn Sie sich
durchringen könnten, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen, weil Sie damit für den Technologiestandort
Deutschland etwas Besonderes, etwas Positives schaffen
könnten.
({21})
Wenn es so kommt, wie es in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen ist, dann kann man dazu nur sagen: Armes
Deutschland, was Technologie anbelangt!
({22})
Herr Kollege
Brunnhuber, es gibt noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage.
({0})
Gestatten Sie die? - Bitte.
Herr Kollege
Brunnhuber, ist Ihnen aufgefallen, dass Kollege Hiller hinsichtlich des von uns eingebrachten Entschließungsantrages
mehrfach den Vorwurf einer ideologischen Position erhoben
hat, und wie bewerten Sie diese Auffassung des Kollegen
Hiller unter dem Aspekt, dass jedes Wort unseres Entschließungsantrages identisch ist mit dem Text, den der rotgrüne Hamburger Senat im Bundesrat vorgelegt hat?
({0})
Herr Kollege
Fischer, das ist mir nicht nur aufgefallen, sondern das ist
auch der Beweis dafür, dass das schlechte Gewissen der
SPD so groß ist, dass sie noch nicht einmal richtige Argumente finden konnte. Herr Kollege Hiller musste in seinen Ausführungen dreimal China erwähnen - ich sage
nur: China, China, China -, weil er weiß, dass ihn nachher ansonsten der Hamburger Bürgermeister angerufen
und gesagt hätte, er habe eine schlechte Vorlage für den
Hamburger Wahlkampf gegeben.
({0})
Die SPD und Sie, Herr Hiller, haben eindeutig bewiesen - daher ist die Frage von Herrn Fischer berechtigt -:
Sie haben keine Argumente. Sie haben vielmehr versucht - und das ist Ideologie -,
({1})
mit ideologischen Vorhaltungen eine moderne Technik
kaputtzumachen. Ich sage Ihnen, lieber Herr Hiller:
({2})
Mit dem, was Herr Fischer aufgegriffen hat, hat er nicht
nur Recht. Man kann dies nur ausdrücklich bestätigen. Es
ist schade, dass Sie den Argumenten der rot-grünen Regierung in Hamburg nicht zustimmen können.
({3})
Nächster Redner ist
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege
Albert Schmidt.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müsste hier anstelle dieses
Wassers ein Gläschen Sekt stehen.
({0})
Dann würde ich das Glas erheben, Ihnen freundlich zuprosten und sagen - denn das passiert ja nicht allzu oft im
politischen Leben -: Es ist einfach schön, nach so vielen
Jahren nicht nur Recht zu haben, sondern Recht zu
bekommen. - Ich nehme stattdessen das hier stehende
Glas Wasser. Prost!
({1})
Zum Zweiten beschäftigt uns in der heutigen Debatte
ein Entschließungsantrag der CDU/CSU und ein
Schließungsantrag der Regierungskoalition, der zum
Inhalt hat, die Akte Transrapid Hamburg-Berlin
nunmehr auch formal endgültig zu schließen. Die ist sinnvoll, richtig, notwendig und überfällig. - Da kommt sogar
die Kollegin Altmann und eilt an ihren Abgeordnetenplatz, um dem zu lauschen.
({2})
Kollege Hiller hat es schon ausgeführt: Es nützt doch
nichts, verehrter Herr Kollege Brunnhuber, wenn Sie jetzt
sagen: Lasst uns am Transrapid von Hamburg nach Berlin festhalten - und wenn die Welt in Scherben fällt! - Sie
sollten einfach einmal die Tatsachen zur Kenntnis nehmen: Bereits am 5. Februar 2000 wurde gemeinsam von
der Deutschen Bahn AG und der Bundesregierung, aber
auch von der Siemens AG, von der Thyssen Krupp Industries AG sowie von der Daimler-Chrysler Rail Systems
GmbH in einer Grundsatzvereinbarung zum Transrapid
festgestellt, dass man die Strecke Berlin-Hamburg nicht
realisieren will. Das wurde ausführlich begründet.
({3})
- Um Himmels willen, wollen Sie denn die Fakten ignorieren und wollen Sie immer noch mit der Fahne, dass der
Transrapid zwischen Hamburg und Berlin gebaut werden
sollte, herumlaufen? Das ist doch gespenstisch!
({4})
Wir sind doch hier in keiner Geisterstunde, sondern wir
sind hier in einer Debatte des Deutschen Bundestages.
Herr Kollege
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dirk Fischer?
Ich möchte mit Rücksicht auf die fortgeschrittene Zeit keine Zwischenfragen zulassen. Ich verspreche auch, dass ich meine Redezeit nicht ausschöpfen
werde.
({0})
Der Transrapid wurde in der ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts entwickelt; er wurde 1922 erfunden. Die
Magnetbahntechnik wurde 1937 patentiert.
({1})
Bis zum Jahr 2001 hat er sich weltweit nirgendwo durchgesetzt - außer im letzten totalitären und planwirtschaftlichen System, das es auf dieser Welt noch gibt, nämlich
in der Volksrepublik China. Aber auch dort wird er nur
mithilfe von Subventionen aus dem kapitalistischen
Deutschland gebaut.
({2})
Was will uns das sagen?
({3})
Sie können sich die Antwort selber geben.
({4})
Ich bin zutiefst davon überzeugt: Das Magnetbahnsystem ist an seiner eigenen Innovationsschwäche gescheitert.
({5})
Die Geschwindigkeitslücke ist längst durch die schnellen
Züge geschlossen. Das Gefährt, das noch schneller als der
ICE ist, ist längst erfunden: das Flugzeug. Das Flugzeug
braucht keine Infrastruktur; es kann von dem Transrapid
nicht eingeholt werden.
Es bleibt noch die Frage zu prüfen, inwieweit sich
diese Technik in Nordrhein-Westfalen für den Nahverkehr als ein der S-Bahn ähnliches System und in München als Verbindung vom Flughafen zur Innenstadt eignet. Ich persönlich bin äußerst skeptisch. Ich glaube nicht
an die Zukunft der rasenden Straßenbahnen.
({6})
Aber es muss nicht nach meiner grünen Nase gehen. Ich
bin sehr einverstanden, dass dies einer in der Machbarkeitsstudie nüchtern analysiert und durchgerechnet wird.
Ich sage Ihnen: In absehbarer Zeit sehen wir uns wieder.
Was die Strecke Hamburg-Berlin betrifft: Bitte begreifen Sie endlich! Die Tür zu diesem Projekt ist längst zu.
Heute machen wir auch noch das Licht aus.
({7})
Jetzt erteile ich zu einer Kurzintervention dem Kollegen Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Am
Sonnabendnachmittag des 5. Februar trafen sich Herr
Klimmt, Herr Mehdorn und die Vertreter des Industriekonsortiums. Dabei hat der Bundesverkehrsminister gesagt, die DB AG wolle den Bauauftrag nicht realisieren
und der Bund wolle das Projekt nicht weiter verfolgen.
Darauf haben die Vertreter des Industriekonsortiums erklärt: Wenn der Bund mit der notwendigen Vorfinanzierung des Fahrweges ausscheide, die DB AG die
Baugesellschaft nicht weiter führen wolle und damit folglich die Betriebsführung nicht übernehmen wolle,
({0})
sei es für das Industriekonsortium unmöglich, das Projekt
alleine durchzuführen.
({1})
Der Kollege Schmidt hat nicht zum ersten Mal - eben
wieder - insinuiert, es sei der Wunsch des Industriekonsortiums gewesen, aus dem Projekt Hamburg-Berlin
auszusteigen, weil dieses Projekt vom Industriekonsortium ebenfalls für nicht realisierbar und für nicht wirtschaftlich gehalten werde. Diese Darstellung entbehrt jeder Grundlage. Sie ist eine falsche Inanspruchnahme des
Industriekonsortiums und seiner Absichten und eine völlige Verzerrung der Wirklichkeit.
Es kommt hinzu, dass Herr Mehdorn in unverantwortlicher Weise mit Dumpingangeboten und -preisen ein
Klima geschaffen hat, bei dem man den Eindruck haben
konnte, das Projekt sei gar nicht vonnöten. Lesen Sie im
Stern-Interview vom 3. Februar 2000 nach. Zwei Tage
vor dem Ereignis, das ich eben geschildert habe, sagte er:
Wir brauchen das gar nicht; denn wir fahren in anderthalb
Jahren auf einer für 350 Millionen DM ertüchtigten
Strecke in 90 Minuten zwischen Hamburg und Berlin. Ich stelle hier fest: Nichts von diesen Zusagen ist eingelöst worden. Es ist noch nicht einmal der Versuch gemacht
worden, das gegebene Wort zu halten. Es ist heute bei keinem der 52 Bahnübergänge ein einziger Spatenstich erfolgt. Das heißt, die Öffentlichkeit und das Parlament sind
nach Strich und Faden belogen worden.
Ich halte drittens fest: Die Infrastrukturentscheidung bei Kanälen, bei Schienenwegen, bei Straßen, bei
Bundesfernstraßen und auch bei Transrapidstrecken trifft
immer noch das Parlament.
({2})
Es darf einer einzelnen Aktiengesellschaft nicht erlaubt
sein, Herr Kollege Schmidt, Infrastrukturentscheidungen
des Parlaments, die wir in Form von Bedarfsplänen und
Ausbaugesetzen hier beschließen, zu konterkarieren, sich
oberhalb des Parlaments anzusiedeln und damit auch Entscheidungen des Gesetzgebers zu zerstören.
Dies ist in der deutschen Parlamentsgeschichte ein sehr
skandalöser Vorgang. Deswegen müssen wir wissen, ob
wir als Parlament in Zukunft noch die Entscheidung treffen wollen oder ob wir es einzelnen Aktiengesellschaften
überlassen wollen, dies zu tun.
({3})
Zur Erwiderung Herr
Kollege Schmidt, bitte.
Herr Kollege Fischer, Ihre ganze geheuchelte
heilige Erregung kann nicht darüber hinwegtäuschen,
({0})
dass wir genau heute als Parlament diese Entscheidung
treffen werden und niemand sonst. Sie brauchen hier nicht
irgendeinen Konzernvorstand als den Transrapiddiktator
der Republik zu stilisieren.
Der Vorgang, um den es damals ging, ist völlig anders
gewesen, als Sie es dargestellt haben. Die Industrie war
damals bereit zu investieren. Sie war bereit, erhoffte Erlöse und Gewinne zu kassieren. Aber sie war nicht bereit
- das war der entscheidende Punkt -,
({1})
in einem angemessenen Umfang Risiken zu übernehmen.
Das Risiko sollte bei der Deutschen Bahn AG abgeladen
und damit beim Steuerzahler abgeladen werden. Dem hat
sich die Deutsche Bahn AG mit Recht entgegengestellt.
({2})
Diese Entscheidung bestätigen wir heute.
({3})
- Lieber Herr Kollege Fischer, es hat keinen Sinn. Jedes
weitere Wort zu diesem Thema ähnelt immer mehr einem
Nekrolog. Dafür bin ich nicht der richtige Redner. Sie
sollten sich dafür auch zu schade sein.
Jetzt spricht der Kollege Michael Goldmann für die F.D.P.-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine
Kollege von der SPD meinte eben: Jetzt kriegen wir wieder Schmerzensgeld! Wissen Sie was: Ich fahre am Wochenende ins Emsland. Ich fahre nach Lathen zu Transrapid.
({0})
Wenn sich einer hier hinstellt - ich weiß nicht, wie Sie
das empfinden; ich will keine Worte darum machen, weil
ich sonst gerügt werde - und meint, Sekt trinken zu müssen, weil Arbeitsplätze in Deutschland vernichtet werden,
dann fällt mir nicht mehr viel ein.
({1})
Herr Schmidt, ich schätze Sie sonst sehr; das wissen
Sie. Aber Sie haben sich eben total vertan. Auch ich fand
das, was Herr Fischer eben gemacht hat, nicht besonders
ergebnisorientiert. Sie haben hier von geheuchelter heiliger Erregung gesprochen. Sie selbst sitzen im Aufsichtsrat der Bahn AG. Herr Schmidt, Sie sind in dieser
Sache doch so viel Partei wie kein anderer.
({2})
Wissen Sie, wenn ich - wie Sie - da drin wäre, dann
würde ich mich dazu nicht äußern; denn eines ist so sicher
wie das Amen in der Kirche: Die Bahn wollte den Ausbau
der Strecke Hamburg-Berlin nicht und hat alle Schritte
unternommen, um die Strecke zu beerdigen.
({3})
Das war die Vorgehensweise der Bahn. Ich meine, in
einem solchen Fall sind Sie hier einfach nicht berechtigt,
sich so dazu zu äußern, wie Sie es gerade getan haben.
({4})
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Kollege
Hiller, ich schätze Sie sehr; das wissen Sie. Wissen Sie
was? Ich würde alles das, was Sie eben gesagt haben, einmal dem Europaminister in Niedersachsen, Herrn Senff,
erzählen - nebenbei gesagt, er gehört Ihrer Partei an - und
ich würde es dem Kollegen Reinhold Robbe erzählen.
Dann steht morgen mit Sicherheit in der Zeitung, dass er
weiter für eine echte Anwendungsstrecke für den
Transrapid in Deutschland kämpft.
({5})
Aber Herr Kollege, dass die beste Anwendungsstrecke
im Grunde genommen die Strecke Berlin-Hamburg, weiterführend nach Skandinavien, von Berlin weiter nach
Warschau, von Hamburg über Groningen weiter nach
Amsterdam ist, wissen Sie doch genauso gut wie ich.
({6})
Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Niederländer
Ihr Ballungsproblem in Randstad - das kennen Sie doch,
Sie kommen aus dieser Region; Sie wissen, wovon wir
beide reden - dadurch lösen wollen, dass sie die Metropolregion Amsterdam mit der Metropolregion Hamburg
verbinden und wir die Metropolregion Hamburg-Berlin
Dirk Fischer ({7})
als eine Einheit sehen. Sie fahren doch wie ich mit dem
ICE von Hamburg nach Bremen und wissen, dass derjenige, der in Bremen die Fahrgäste verabschiedet, immer
sagt: Wir bedanken uns bei den Pendlern dafür, dass sie
heute wieder von Hamburg nach Bremen gefahren sind. So hatte ich den Traum und so habe ich nach wie vor den
Wunsch, diese Technologie zwischen Hamburg und Berlin zur Anwendung zu bringen.
({8})
Weil ich die Technologie nun wirklich kenne und
Freunde habe, die neben der Anwendungsstrecke in
Lathen wohnen und dort im Garten sitzen, weiß ich, dass
sie sehr umweltverträglich und sicher und so lärmarm wie
keine andere Technik ist. Herr Schmidt, wenn Sie eine
Verbindung zum Fliegen herstellen und im Umweltausschuss immer wieder darauf hinweisen, wie umweltfeindlich das Fliegen gerade im nationalen Verkehr ist, dann
muss ich wirklich sagen, dass ich mit dem, was Sie hier
vertreten, schlicht und ergreifend nicht mehr klarkomme.
({9})
Dieses Magnetschwebebahnbedarfsgesetz ist die gesetzliche Grundlage für die Realisierung einer bestimmten Maßnahme. Das haben wir in sehr vielen Fällen im
Bereich der Infrastruktur. Ich halte es für einen Fehler,
dass wir uns diese Option nehmen. Dass Sie dies mit dem
Planungsrecht in China vergleichen, ist nun wirklich der
Gipfel, weil man das überhaupt nicht miteinander vergleichen kann. Wenn Sie auf der Grundlage dieses Gesetzes Verbindungen zum Metrocity oder zu Strecken in
München herstellen, muss ich Ihnen sagen, dass das völlig andere Anwendungsformen für eine Technologie sind,
die ihre speziellen Fähigkeiten über längere Zeiträume
entwickeln kann und die auch - das weiß jeder, der hier
sitzt - keineswegs teurer ist als andere Hochgeschwindigkeitsstrecken.
({10})
Ich kann hier nur noch einmal an Sie appellieren: Lassen Sie uns diese Optionskarte, diese Ideenkarte, nicht aus
der Hand geben. Lassen Sie uns weiterhin ein Stück darauf hinarbeiten, irgendwann eine vernünftige Transrapid-Anwendung in Deutschland zu haben.
({11})
Dafür bietet sich die Verbindung zwischen dem Ballungsraum Berlin mit 4 Millionen Menschen und dem Ballungsraum Hamburg sowie dem Ballungsraum Skandinavien und auch den Niederlanden ganz besonders an.
Dies wäre eine großartige Sache für Deutschland. Jeder,
der sich damit befasst hat, weiß, dass das ein Signal für
Zukunft und Entwicklung in die Welt hinaus wäre, die uns
sehr gut anstehen würde. Deswegen bitte ich Sie, Ihre Position noch einmal zu überdenken.
Herzlichen Dank.
({12})
Der letzte Redner dieser
Debatte ist der Kollege Dr. Winfried Wolf für die PDSFraktion.
Sehr geehrte Präsidentin!
Wehrte Kolleginnen und Kollegen! Man könnte sagen:
Spät kommt er, doch er kommt. Wir haben jetzt endlich
das Gesetz, das die Verpflichtung, eine Magnetschwebebahn zwischen Hamburg und Berlin zu bauen, aufheben
soll. Ich möchte nicht in Triumphalismus verfallen, doch
dezent darauf verweisen, dass wir Ende 1998 den ersten
Antrag dieser Art gestellt haben. Danach haben wir noch
zwei weitere gestellt, wobei der letzte Antrag exakt den
gleichen Wortlaut hatte wie der vorletzte. Diese sind trotzdem von allen Parteien abgelehnt worden.
Kollege Hiller sagt, dass am 5. Februar 2000 die Entscheidung gefallen sei, dass man aussteigen müsse. Ich
möchte darauf hinweisen, dass am 28. September 2000
die letzte Debatte zu diesem Thema stattfand, in der unser
Antrag mit den Stimmen der SPD, der Grünen und natürlich auch mit denen der F.D.P. und der CDU/CSU abgelehnt wurde.
Die CDU/CSU stellt nun, nach all dem Hoch- und Herunterrechnen der nicht korrekten - gefälschten - Zahlen
und nach dem Ausstieg der Industrie, fest, dass weiterhin
ein Bedarf für die Strecke Hamburg-Berlin besteht. Ich
glaube, es ist klar: Hier wird eine pure und tumbe Lobbyarbeit gemacht.
Meine Damen und Herren, man könnte sagen: So weit,
so gut. So ist es aber leider nicht. Die Technologie wird
weiterhin mit Steuermitteln gefördert. Es wurde hier groß
dargestellt: An China sollen 250 Millionen DM oder auch
mehr aus dem - wenn ich es richtig verstehe - Entwicklungshilfefonds für eine Flughafenanbindung gezahlt
werden. Es geht hierbei nicht um eine Verbindung zwischen dem Flughafen und der Stadtmitte von Shanghai,
sondern um eine Verbindung zwischen dem Flughafen
und dem Stadtrand von Shanghai. Verkehrspolitisch ist es
völlig unsinnig, eine solche Fahrt zu machen. Herr Hiller
sagt, dass dies in China ohne Bedarfsgesetz gemacht wird.
Ich sage: Das, was in China konkret geplant wird, wird
auch ohne Bedarf gemacht.
Die PDS-Fraktion und ich als Berichterstatter haben in
dem vorliegenden Text erklärt, dass es zu begrüßen sei,
dass ein solches Projekt jedenfalls in Deutschland nicht
geplant sei. Ich muss sagen: Das war eine falsche Annahme. Vor vier Wochen stellte ich in Oberhausen bei einer Veranstaltung fest, dass die Planungen bezüglich des
Metrorapid vor Ort heute viel konkreter sind und dort ein
Projekt läuft, das ähnlich unsinnig ist wie das Projekt
Hamburg-Berlin. Ich stellte fest, dass die Leute vor Ort
sehr beunruhigt sind, wie dieses Projekt durchgesetzt werden soll.
Wir haben nicht nur die CDU/CSU-Hinterlassenschaft
in Form des Magnetschwebebedarfsgesetzes, wir haben
auch die Hinterlassenschaft eines Magnetschwebebahnplanungsgesetzes, in dem geregelt ist, Enteignungen bei
der Planung und dem Bau von Magnetbahnen vorzunehmen. Ich glaube, so wie wir einen kurzen, praktischen und
quadratischen Antrag zur Abschaffung des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes gestellt haben, werden wir auch
einen Antrag einbringen müssen, das Magnetschwebebahnplanungsgesetz abzuschaffen, damit nicht auf diese
Art und Weise die nicht ausgereifte Technik zum Beispiel
im Ruhrgebiet oder in München - zum Flughafen - angewendet wird.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Aufhebung des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes auf
Drucksache 14/5067. Der Ausschuss für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/6500,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P.-Fraktion ange-
nommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
F.D.P.-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den
Ent-schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/6554. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der
CDU/CSU - und der F.D.P.-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 e auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({0}), Dirk Fischer
({1}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der CDU/CSU
Verkehrssicherheitslage 2000 für eine nationale
Verkehrssicherheitskampagne
- Drucksachen 14/3871, 14/5583 -
b) Beratung des Antrags der Abgordneten Wolfgang
Börnsen ({2}), Dirk Fischer ({3}),
Eduard Oswald, weiterer Abeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Frontpartien von Fahrzeugen europaweit fußgängersicher gestalten
- Drucksache 14/6316 Überweisungsvorschlag:
Aussschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({6}),
Eduard Lintner, Dirk Fischer ({7}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Nationale Verkehssicherheitskampagne - Son-
derprogramm für junge Autofahrerinnen und
Autofahrer zur Verhinderung von alkohol- und
drogenbedingten Verkehrsunfällen
- Drucksache 14/659
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Dirk Fischer ({9}),
Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Renate Blank, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Überprüfung von Kraftfahrzeugen nach Un-
fallreparaturen
- Drucksache 14/1207
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Dirk Fischer ({11}),
Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Renate Blank, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen im
Fahrerlaubniswesen
- Drucksachen 14/1209, 14/2187 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({12})
Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der
Fraktion der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die
CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Wolfgang Börnsen.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mehrere Anträge vorgelegt, weil wir der Auffassung
sind, dass wir, die Union - egal, ob in der Regierung oder
in der Opposition -, für die Optimierung der Verkehrssicherheit in Deutschland mitverantwortlich sind. Deshalb haben wir ganz konkrete Anträge vorgelegt, um dafür
zu sorgen, dass mehr Leid, Trauer und Unglück in
Deutschland verhindert werden.
Es lohnt sich, jede Anstrengung zu unternehmen, um
für eine bessere Verkehrssicherheit zu sorgen. Auch wenn
die Anzahl der im Straßenverkehr Getöteten von Jahr zu
Jahr zurückgeht, ist dies noch keine Entwarnung. 1999
verloren 7 700 Menschen auf Deutschlands Straßen ihr
Leben. Das ist die niedrigste Zahl seit drei Jahrzehnten;
vor dreißig Jahren gab es über 21 000 Tote im Straßenverkehr.
Doch nicht allein die Anzahl der Getöteten ist entscheidend, vielmehr ist jeder Verunglückte eine Mahnung
an uns, für mehr Sicherheit auf Deutschlands Straßen zu
sorgen.
({0})
Alarmierend ist die große Zahl der registrierten Unfälle.
Allein 1999 wurden 530 000 Menschen in Deutschland
zum Teil schwer verletzt, fast 5 Prozent mehr als im Vorjahr. Das heißt, während die Schwere der einzelnen Unfälle sinkt, steigt die Anzahl der Unfallopfer. Das muss
uns mahnen.
Das Mehr an Verkehrsunfällen im Jahr 1999 um
6,4 Prozent bedeutet absolut 2,4 Millionen Verkehrsunfälle in Deutschland. Noch nie hat es in der Republik so
viele Verkehrsunfälle gegeben wie im ersten Jahr der alleinigen Regierungsverantwortung von Rot-Grün.
({1})
Abgesehen vom persönlichen Leid der Betroffenen wird
der volkswirtschaftliche Schaden, der durch diese Unfälle entsteht, auf über 70 Milliarden DM beziffert. Das ist
eine Rekordmarke; noch nie war der Schaden so hoch. Jeder Unfalltote und jeder Verletzte mahnen zum Handeln.
Die rot-grüne Bundesregierung schien das 1998 begriffen zu haben; sie hat die Mittel für die Verkehrssicherheit auf 26 Millionen DM erhöht. Doch dieser richtige Anstoß blieb im Ansatz stecken. Schon ein Jahr später
- wie auch in diesem Jahr - wurde wieder an der
Verkehrssicherheit gespart, und zwar insgesamt 8 Millionen DM. Das ist angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten nicht nur eine krasse Fehleinschätzung, sondern
eine eklatante Fehlleistung.
({2})
Noch am 12. Mai 1999 hatte der damalige Verkehrsminister Franz Müntefering die Eckpunkte einer nationalen Verkehrspolitik bekannt gegeben. Der Unfallverhütung wurde oberste Priorität eingeräumt und eine
verbesserte Finanzierung in Aussicht gestellt. Heute müssen wir feststellen: Die Lippen wurden gespitzt, doch gepfiffen wurde nicht - weder von ihm noch von seinem ersten Nachfolger, Herrn Klimmt, noch von seinem zweiten
Nachfolger, Herrn Bodewig.
Es ist schon anzuerkennen, dass die Regierung zumindest zwei Initiativen aus der vorangegangenen Regierungszeit übernommen hat, dass der Entzug der Fahrerlaubnis in einem EU-Staat jetzt allgemein in EU-Staaten anerkannt wird und dass beim Kraftfahrt-Bundesamt
in Flensburg das zentrale Führerscheinregister eingerichtet worden ist. Das ist richtig, das ist notwendig, damit es zu einem effektiven Datenaustausch kommt. Aber
wer eine solche bedeutende Behörde mit mehr Aufgaben
versieht, sollte auch dazu beitragen, dass es nicht gleichzeitig zu einem Abbau von Arbeitsplätzen kommt.
Bei Matthias Wissmann - darauf will ich noch einmal
hinweisen - war die Verkehrssicherheit Chefsache. Dieser
Rang sollte ihr möglichst auch von der jetzigen Regierung
eingeräumt werden.
({3})
Ein Blick auf die Aussagen des Europäischen Sicherheitsrates macht die Notwendigkeit dieser Forderung
deutlich. Einer von drei EU-Bürgern muss im Laufe seines Lebens infolge eines Autounfalls ins Krankenhaus.
Einer von 20 EU-Bürgern wird durch einen solchen Unfall getötet oder Invalide und einer von 80 EU-Bürgern
beendet sein Leben aufgrund eines Unfalls etwa 40 Jahre
zu früh. Jeden Tag sterben in den Ländern der EU
123 Menschen im Straßenverkehr. Im vorletzten Jahr waren es über 42 000.
Was Brüssel des Weiteren ermittelt hat, geht uns ebenfalls alle an: Motorradfahren ist das riskanteste Manöver,
sich im Verkehr durchzusetzen. Zu Fuß gehen ist über
neunmal riskanter als mit dem Auto zu fahren. Alle EUStaaten gemeinsam haben über 160 Milliarden Euro an
Schäden zu beklagen. Das ist das Doppelte des EU-Haushalts. Ich finde schon, dass man auf diese schwerwiegenden und traurigen Zahlen eingehen muss und dass es notwendig ist, neben den europäischen Sicherheitsprogramm
auch dann abzuklopfen, was wir auf nationaler Ebene tun.
Experten sagen: Drei Kritikpunkte gibt es. Der europäische Sicherheitsplan ist nicht mit dem nationalen abgestimmt. Es gibt da eine falsche Strategie. Das europäische Programm ist in seinen Zielen nicht mit dem
nationalen abgestimmt. Das nationale Programm, das
wir haben, ist unzureichend, weil die Kontrolle fehlt. Es
fehlt das, was man im modernen Verkehrsmanagement
braucht, nämlich eine Controlling-Instanz, die abklopft,
ob das, was man tut, auch richtig ist.
Eine solche Kontrolle hat es früher gegeben. Mit dem
Programm für junge Autofahrer unter dem Titel Trinken und fahren könnt ihr euch sparen gegeben. Damit
wurde eine Veränderung der damaligen Situation erreicht.
Dies war richtig so; denn es betraf eine der schwierigsten
Zielgruppen, die wir im Verkehr haben. Jeder vierte Getötete gehört zur Gruppe der 18- bis 24-Jährigen. 8 Prozent
beträgt ihr Anteil an der Bevölkerung, aber mit 22 Prozent
sind sie an den schweren und tödlichen Unfällen beteiligt.
Ich glaube schon, dass es richtig gewesen ist, in den drei
Pilotregionen Flensburg/Schleswig, Saarbrücken und im
Oberlausitz-Kreis klarzumachen, dass ein solch gezieltes
Programm die richtige Maßnahme ist. Die Bundesanstalt
für Straßenwesen hat noch einmal bestätigt. Es ist eine
vernünftige Sache. Um bis zu 40 Prozent wurden die Verkehrsunfälle, an denen junge Fahrer beteiligt waren, reduziert. Leider ist das Programm nur kurze Zeit in
31 Kreisen fortgesetzt worden. Die Pilotprojekte wurden
nicht verlängert. Eine bundesweite Ausweitung der Kampagne hat es nicht gegeben. Es wurden finanzielle Gründe
dafür genannt.
({4})
Wolfgang Börnsen ({5})
Wenn man versucht, von den UMTS-Milliarden nicht
nur Mittel für Bahn und Straße freizustellen, sondern auch
einen Fonds für die Verkehrssicherheit einzurichten,
schafft man die Voraussetzung dafür, dort zielgruppengemäß arbeiten, wo ein Abbau von Unglücken und Verkehrsunfällen erreicht werden kann.
Das dänische Beispiel hat deutlich gemacht: Wenn
man eine solche Aktion gezielt und über viele Jahre
durchführt, dann reduziert man die Zahl der Verkehrsunfälle um mehr als die Hälfte. Dann erzielt man eine Wirkung. Hier ist sie zum Schaden der jungen Fahrer und
letzten Endes auch der Verkehrssicherheit in Deutschland
abgebrochen worden. Das ist schade. Nur weil Christdemokraten und freie Demokraten einmal dieses Programm
aufgelegt haben,
({6})
sollte man es heute nicht mit der Begründung aufgeben,
dass finanzielle Gründe dagegen sprächen.
({7})
Das wäre nicht notwendig gewesen.
({8})
Es ist richtig, darauf erneut aufmerksam zu machen. Es ist
nicht vernünftig und fair, etwas aus parteipolitischen
Gründen zu beenden, wenn sich die Beendigung mit sachlichen Zahlen nicht begründen lässt.
Ich bedanke mich von dieser Stelle aus bei denen, die
sich für die Verkehrssicherheit zuständig fühlen: die
großen Verbände vom Verkehrssicherheitsrat bis hin zur
Verkehrswacht, die Schulen und Kindergärten, die Technischen Überwachungsvereine und auch die Polizei. Sie
leisten eine wirklich hervorragende Arbeit und versuchen
das umzusetzen, was wir alle wollen, nämlich durch Kontrolle, Schulung und Weiterbildung dazu beizutragen,
dass bei uns eine höhere Sensibilität entsteht. Auch bedanke ich mich - das wird selten genug getan; aber hier
sind wir uns alle einig - bei denen, die Rettungsdienste
leisten. Mein Dank gilt sowohl den 25 000 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Rettungsdienst quer durch ganz Deutschland, die bei Unfällen
schnell helfen, als auch den ehrenamtlichen Helfern. Man
muss sich das einmal vorstellen: Von diesen ehrenamtlichen Helfern im Rettungsdienst werden über 4 Millionen
Stunden im Jahr geleistet. Das ist ein großartiger Einsatz
von Mitbürgern unseres Landes.
({9})
Wenn man gezielt bei der Vorbeugung und Prävention
weiterarbeiten will, aber aufgrund der Finanzlage nicht
über ausreichende Mittel verfügt, dann sollte man über einen Vorschlag nachdenken, den ich für ganz klug halte:
Den deutschen Versicherungen kommt es sehr zugute,
wenn man präventiv im Vorfeld tätig ist, weil es dann zu
weniger Unfällen kommt. Daher sollte bei jedem abgeschlossenen Haftpflichtvertrag 1 Euro in einen Verkehrssicherheitsfonds abgezweigt werden, den die Verbände
verwalten sollten, um mit mehr Mitteln gezielt in Kindergärten, in Schulen und bei der Weiterbildung für mehr
Verkehrssicherheit werben zu können. Unabhängig von
der Notwendigkeit, den Verkehrssicherheitsetat im Haushalt 2002 zu erhöhen, wäre dies ein Weg, zu mehr Verkehrssicherheit zu kommen.
({10})
Verkehrspolitik in Deutschland muss Mobilität garantieren, Sicherheit gewährleisten und ein leistungsfähiges
Verkehrssystem schaffen.
Herr Kollege
Börnsen, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Ja, ich
komme zum Schluss. - Dieser in der Vergangenheit gültigen Ausrichtung in der Verkehrssicherheitspolitik sollte
auch die jetzige Bundesregierung folgen. Einen Kurswechsel zu weiterer Einsparung und Reglementierung,
wie er eingeschlagen worden ist, machen wir nicht mit.
Danke schön.
({0})
Das Wort für die SPDFraktion hat die Kollegin Rita Streb-Hesse.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Kollege Börnsen, Sie haben mit einem Zitat geendet. Ich beginne mit einem Zitat aus einer
Erklärung des Verkehrsministers anlässlich der Präsentation des neuen Verkehrssicherheitsprogramms. Sie werden sich wundern, welche Ähnlichkeit beide Zitate aufweisen.
Wir können mit wachsendem Verkehr leben und mobil bleiben, aber Mobilität muss auch sicher sein.
Diese Aussage des Verkehrsministers bekräftigt den hohen Stellenwert der Verkehrssicherheit auch im Rahmen
rot-grüner Politik.
Diese umfasst ein ganzes Bündel von Maßnahmen, um
den Schutz aller Verkehrsteilnehmer zu verbessern. Im
Rahmen dieser Aussprache konzentriere ich mich auf
zwei Punkte: zum einen auf die technische Ausstattung
von Autos und zum anderen auf die jungen Fahranfänger
und Fahranfängerinnen.
Wir alle sind uns insbesondere des Gefährdungspotenzials von Unfällen im Hinblick auf tödliche oder schwere
Verletzungen bewusst. Obwohl es viele technische Verbesserungen - insbesondere im Inneren des Autos - gibt,
müssen wir heute feststellen, dass die Frontpartien unserer Fahrzeuge leider immer noch Mängel aufweisen. Aktuelles Thema sind die Geländewagen mit Frontschutzbügeln. Diese Fahrzeuge sind für das freie Gelände
konzipiert, wobei ich dahingestellt sein lasse, ob es unbedingt immer die Prärie sein muss, wie im CDU/CSU-Antrag dargestellt; in Südamerika heißt das anders. Sie mögen bei uns in der Land- und Forstwirtschaft von Nutzen
Wolfgang Börnsen ({0})
sein. Auf den Straßen aber hat diese Art von Frontschutz,
die auch als Kuhfänger bekannt ist, nur eine Zierfunktion
als zusätzliche Stoßstange. Diese allerdings stellt für
Fahrradfahrer und Fußgänger ein erhebliches zusätzliches
Verletzungsrisiko und aufgrund der Erhöhung und Härte
der Aufprallfläche in Kopfhöhe für Kinder sogar Lebensgefahr dar. Eine solche Gefährdung können und werden
wir nicht zulassen. Gemeinsames Anliegen der Regierung
und aller Fraktionen ist es daher, zusammen mit den Automobilherstellern und auf europäischer Ebene einheitliche Regelungen für eine fußgängersichere Konstruktion
der Frontpartien zu finden und ein Verbot von Kuhfängern
an Geländewagen auf europäischer Ebene zu erreichen.
Die Bundesregierung ist seit 1998 mehrfach initiativ
geworden. Zuletzt hat Bundesminister Bodewig der EUKommission im Januar vorgeschlagen, kurzfristig im so
genannten Anpassungsverfahren zumindest einheitliche
Vorschriften für Frontschutzbügel zu beschließen. Selbstverständlich hat die Bundesregierung auch ein nationales
Verbot in ihre Überlegungen einbezogen. Das bringt aber
nichts, da aufgrund der inzwischen eingeführten EU-Typgenehmigungen von Neufahrzeugen weiterhin Geländewagen mit serienmäßigen Frontschutzbügeln auf unseren
Straßen fahren würden. Das war Ihnen, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, bei der Antragstellung bekannt. Ihre Große Anfrage wurde von der Bundesregierung noch im Monat April ausführlich beantwortet. Im
Mai votierte der Petitionsausschuss dieses Hauses für die
Weiterleitung einer diesbezüglichen Petition an das Europäische Parlament. Er hat damit ebenfalls eine EU-Regelung als notwendig und richtig erachtet.
Vor diesem Hintergrund kann der Antrag Ihrer Fraktion, der nun die Bundesregierung auffordert, die Einführung technischer Vorschriften auf EU-Ebene zügig zu
erreichen - man höre und staune, Kollege Börnsen; Sie
haben sich eben in Bezug auf Europa und nationale Vorstellungen anders ausgedrückt - und in der Bundesrepublik für den Übergangszeitraum ein Zulassungsverbot
vorzunehmen, nur als populistisch bezeichnet werden.
Das haben Ihre Ausführungen gezeigt. Ihr Antrag führt
auf keinen Fall zu dem Ziel, das wir gemeinsam erreichen
wollen.
({1})
Festzuhalten ist: Die EU-Kommission hat das Thema
aufgrund der engagierten Bemühungen der Bundesregierung erneut aufgegriffen.
({2})
Wir alle erwarten, dass baldmöglichst eine kinder- und
fußgängersichere Regelung für alle Menschen nicht nur in
der Bundesrepublik, sondern in Europa kommt.
({3})
Ein weiterer Schwerpunkt der Verkehrssicherheitspolitik war und ist das Fahrverhalten junger Fahranfängerinnen und Fahranfänger. Kollege Börnsen hat ein
Modellprojekt in Bezug auf Alkohol- und Drogengefährdung bei jungen Leuten, das 1997 von der alten Bundesregierung zusammen mit den für Verkehrssicherheit
zuständigen Verbänden gestartet wurde, zu Recht gelobt.
Es ist in verschiedenen Beratungen sehr ausführlich dargestellt worden, sodass ich mir dies hier ersparen werde.
Alle Fraktionen freuen sich darüber, dass der Modellversuch sehr gut verlaufen ist.
Sie wussten aber bei Ihrer Antragstellung 1999, dass
dieses Konzept nur eine zweimonatige Aktion in ländlichen Regionen vorsah. Sie wussten, dass die Kampagne
1998 in 17 Regionen durchgeführt werden und 1999 in
weiteren 14 Regionen laufen sollte. Sie wussten auch,
dass die auf drei Jahre angelegte Kampagne jährlich 2 bis
3 Millionen DM kostet und im Haushalt so etatisiert war.
Wenn Sie - nun in der Opposition - eine bundesweite
Ausrichtung und darüber hinaus eine Verlängerung des
Modellprojektes für alle um vier Jahre fordern und bemerken, das koste nur 4 Millionen DM pro Jahr mehr,
dann kann man auch hier nur sagen: Eigentlich müssten
Sie rechnen können.
Abgesehen von der Tatsache, dass Ihnen auch 1999 bekannt war, dass die Zahl der Handy-Benutzer unter jungen
Menschen ebenso hoch war wie bei den Erwachsenen und
die Telefonkarte sicherlich kein Anreiz mehr gewesen
wäre, wissen Sie selbst, dass die Ausweitung Ihrer Kampagne auf 6,5 Millionen Menschen im Alter von 18 bis
24 Jahren 70 Millionen DM erfordert hätte. Ich glaube,
dem hätte Ihre gesamte Fraktion bei einem Etat von insgesamt 22 Millionen DM für Verkehrssicherheit nicht zugestimmt. Daran sieht man, wie ernsthaft Ihr Antrag gewesen ist.
({4})
Kollege Börnsen, es sind nicht nur die Kosten gewesen. Sie als Fachexperte mit vielen Ihrer Kolleginnen und
Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion wissen: Modellprojekte im Rahmen von Verkehrssicherheitsprogrammen
haben ausschließlich Anstoßcharakter. Sie sollen eine
Verhaltensveränderung erzielen, aber auch Anstoß zu
Handlungsinitiativen vor Ort sein. In diesem Fall wäre das
die Ermöglichung von Verkehrsangeboten wie Sammeltaxis, Nachtbusse und Ähnliches gewesen.
Kollege Börnsen, wenn man zitiert, dann sollte man
richtig zitieren, weil auch die Regierung sehr genau liest,
was Organisationen schreiben. Der von Ihnen zitierte
Deutsche Verkehrssicherheitsrat hat sich für eine Fortführung der Kampagne ausgesprochen, aber in Eigenregie
der Länder und nur in Landkreisen mit hoher Alkoholunfallbelastung.
Ein Verkehrssicherheitsprogramm erschöpft sich nicht
allein in Kampagnen.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Zu den Maßnahmen gegen
Alkohol am Steuer gehört auch die von uns vorgenommene Festlegung von 0,5 Promille und die Verlängerung
des Führerscheins auf Probe für weitere zwei Jahre.
Ansonsten empfehle ich Ihnen, das neue Verkehrssicherheitsprogramm sehr ausführlich zu lesen. Sie werden sehen, dass die Reduzierung des Unfallrisikos junger Fahrerinnen und Fahrer zu Recht weiterhin Priorität hat.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Friedrich von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wir
debattieren heute einen sehr umfangreichen Tagesordnungspunkt mit sehr vielen Einzelpunkten. Die vielen
aufgeführten Einzelpunkte zeigen, wie zersplittert die Arbeit im Zusammenhang mit der Verkehrssicherheit aus
unserer Sicht ist. Es ist müßig, auf die Einzelpunkte einzugehen.
Wenn wir tatsächlich erreichen wollen, dass sich die
Verkehrssicherheit anders darstellt, müssen wir die Debatte wieder auf die Füße stellen und nicht die Auswüchse
bekämpfen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Ursachen
angegangen werden. Sehr verehrte Frau Kollegin StrebHesse, auch das neue Verkehrssicherheitsprogramm des
Ministeriums zeigt nicht sehr viel Neues auf. Es ist eine
Aufzählung bekannter Fakten.
({0})
Die Unfallzahlen in Deutschland sind von drei wesentlichen Kriterien abhängig: Das eine ist die aktive und
passive Sicherheit des Autos. Das andere ist die funktionierende Infrastruktur. Das Letzte sind die mehr oder
weniger gut funktionierenden Rettungssysteme in
Deutschland. Alle drei zusammengenommen haben dazu
geführt, dass in den letzten Jahren die Unfallzahl, die Zahl
der Getöteten und der Schwerverletzten, kontinuierlich
nach unten gegangen ist. Alles andere ist Schaulaufen und
geht an den eigentlichen Ansätzen vorbei. Es ist bestenfalls sektoral und punktuell umzusetzen.
Woran es tatsächlich fehlt, ist eine Konzentration aller
Anstrengungen. Es ist aus unserer Sicht nach wie vor so,
dass die Deutsche Verkehrswacht, der Deutsche Verkehrssicherheitsrat, das Verkehrsministerium und einige
andere Institutionen zwar mit sehr viel Engagement und
auch einigermaßen Geld ausgestattet vorgehen, aber doch
nebeneinander herlaufen. Die Kampagne, die jetzt an den
Autobahnen plakatiert wird - Gelassen läufts, wobei
Tierfamilien gezeigt werden -, ist wunderschön anzuschauen. Die Frage ist aber: Was ist die Botschaft? Wo
fange ich tatsächlich damit an?
Anfangen müsste man grundsätzlich beim Führerscheinrecht. Wir haben mittlerweile offene Grenzen. Wir
haben ein offenes Europa. Wir haben in den europäischen
Ländern verschiedene Führerscheinausbildungen. Wir
haben aber keinerlei Beschränkungen für Bürger aus
anderen Staaten, bei uns zu fahren. Wann beginnt die Bundesregierung endlich damit, das gemeinsame Führerscheinrecht und die Ausbildung in Europa insgesamt auf
den Prüfstand zu stellen?
({1})
Dies gilt logischerweise auch für Deutschland. In
Deutschland muss das Führerscheinrecht untersucht werden. Die Fahrschulausbildung soll die Schule der Nation
sein. Sie soll all die Defizite ausgleichen, die im Elternhaus und in der Schule nicht ausgeglichen werden können. Dafür ist man jedoch nicht einmal bereit, eine Eingangsqualifikation für den Beruf des Fahrlehrers zu
schaffen, sodass wenigstens mittlere Reife vorgeschrieben ist.
Man muss natürlich - das muss man zusätzlich sehen die Frage stellen: Kann es bei der Verkehrsdichte und der
Verkehrsentwicklung auf Dauer dabei bleiben, dass das
Fahrzeug im Schnitt alle zwei Jahre zur technischen
Untersuchung muss, während derjenige, der das Fahrzeug
fährt, ob nun Mann oder Frau, ein einziges Mal, nämlich
zu Beginn seiner Fahrausbildung, zur Prüfung gehen
muss? Wie viele Autofahrerinnen und Autofahrer mit
Brille - auch ich trage eine - fahren nach dem Motto: Die
Augen sind zwar noch gut, aber die Arme sind zu kurz.
Daraus ergibt sich zwangsläufig - man wird zu spät auf
Gefahrensituationen aufmerksam, weil man sie einfach zu
spät sieht - ein Fehlverhalten, das zu Unfällen führt.
Wenn man sich jenseits aller Ideologie die Tabellen in
der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
der Kollegen von der CDU/CSU anschaut, dann stellt man
fest, dass man die Sau Alkohol nicht jeden Tag - man
kann das eigentlich nur aus Horrorgründen tun - aufs
Neue durch das Dorf jagen muss. Die Zahl der Unfälle,
bei denen bei den Fahrern eine Alkoholkonzentration
von über 3 Promille gemessen wurde, geht seit 1991 konsequent zurück. Das ist auch richtig so. Aber auch hier
fehlt die Konsequenz: Es werden nach wie vor viel zu wenige verdachtslose Kontrollen zur Überwachung der
neuen Vorschriften durchgeführt. Das ist der eigentliche
Casus knacksus, die eigentliche Krux.
Des Weiteren werden immer mehr Vorschriften erlassen, zum Beispiel das Verbot des Telefonierens mit dem
Handy am Steuer. Selbst die Polizei räumt mittlerweile
ein, dass ein solches Verbot nicht zu handhaben - weil
nicht zu kontrollieren - ist. Nur, was nützen Gesetze, von
denen jeder weiß, dass sie ein Placebo sind und dass es
sich nur um Schaulaufen handelt? Niemand läuft Gefahr,
bestraft zu werden, weil die Umsetzung der Gesetze nicht
kontrolliert werden kann. Wenn Sie mit offenen Augen
durch die Gegend fahren, werden Sie feststellen, dass sich
niemand an das Handyverbot hält. Nach wie vor telefoniert jede zweite Autofahrerin bzw. jeder zweite Autofahrer mit dem Handy am Steuer und fährt quietschvergnügt
durch die Gegend. Es bedarf also auch einer Sinnhaftigkeit der Gesetzgebung, keines Aktionismus.
({2})
Deswegen haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem das alles in den großen Zusammenhang gestellt wird. Ich bin gespannt, ob wir uns in den Ausschussberatungen auf die in unserem Entschließungsantrag
enthaltenen Forderungen einigen können; denn alles das,
was ich jetzt gefordert habe, steht in unserem Antrag. Ich
bin gespannt, ob die Bundesregierung bereit ist, sich neben dem Verkehrssicherheitsbericht, den sie vorgelegt hat
und der aus unserer Sicht nicht ausreichend ist, mit unseren Forderungen hinlänglich zu befassen. Wenn sie dazu
bereit ist, werden wir im Ausschuss zu entsprechenden Ergebnissen kommen.
Vielen Dank.
({3})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Helmut
Wilhelm vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verkehrssicherheit liegt uns, wie man sieht,
offenbar allen am Herzen. Das begrüße ich natürlich
ausdrücklich. Darum kann ich die von der Union verfolgten Ziele inhaltlich auch unterstützen. Immerhin gilt
es, die Zahl der Unfälle auf unseren Straßen zu reduzieren und damit die Zahl der Ursachen großen menschlichen Leids zu verringern. Dafür ist jede Anstrengung
willkommen.
({0})
Auch die Problemanalyse, die allerdings nichts Neues
enthält, ist zutreffend: Aufklärung hilft, Unfälle zu vermeiden. Hierfür eignen sich Sicherheitskampagnen und
Sonderprogramme, die auf die Gefahren durch Alkohol
und andere Drogen am Steuer gerade auch für junge
Menschen hinweisen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie beschreiben in Ihrem Antrag
drei Modellversuche der verflossenen Bundesregierung,
die diese immerhin erst nach 15 Regierungsjahren auf
den Weg gebracht hat, und das auch nur kleinräumig.
Mehr brauche ich, glaube ich, nicht auszuführen; denn
das hat meine Kollegin Frau Streb-Hesse bereits ausgiebig getan.
Seit Februar 2001 liegt aber ein Verkehrssicherheitsprogramm des Bundesverkehrsministers vor, welches
alle gesellschaftlichen Kräfte zur Mitwirkung an der Verbesserung der Verkehrssicherheit aufruft. Die wesentlichen Säulen sind: Verbesserung des Verkehrsklimas;
Schutz der schwächeren Verkehrsteilnehmer; Reduzierung des Unfallrisikos bei jungen Fahrern; Minderung der
Gefahren bei schweren Nutzfahrzeugen; Erhöhung der Sicherheit auf Landstraßen. Wesentlicher Bestandteil des
Programms ist eine Kampagne zur Verkehrssicherheit, die
zu mehr Gelassenheit im Straßenverkehr beitragen soll.
Bei der überproportional hohen Zahl von Unfällen junger Fahrzeugführer ist das Alkohol- und Drogenproblem natürlich evident. Ob hier allerdings allein auf Aufklärung und freiwilligen Verzicht gesetzt werden kann,
wage ich zu bezweifeln; denn bei Unfällen vor allem junger Menschen ist fast immer Alkohol mit daraus folgender Selbstüberschätzung im Spiel. Wir Bündnisgrünen haben darauf immer schon die wohl verkehrspädagogische
richtige Antwort verlangt: Wer trinken möchte, soll sein
Auto zu Hause lassen.
({1})
Doch der Vorschlag, die Promillegrenze von 0,8 wenigstens auf 0,5 abzusenken, hat in der vergangenen
Wahlperiode unter der CDU/CSU-geführten Regierung
zu schier endlosen Diskussionen und schließlich nur zu
einem sehr halbherzigen Kompromiss geführt, nämlich:
Promillegrenze 0,5 im Prinzip ja, aber richtig ernst wird
es doch erst bei 0,8 Promille. Die SPD-Bündnisgrüne-Regierungskoalition war da schon konsequenter und hat für
eine klare Grenze bei 0,5 Promille gesorgt - mit voller
Sanktionierung bei Überschreitung.
({2})
Unfälle junger Menschen ereignen sich vor allem in
Wochenendnächten, in den Nächten von Freitag auf
Samstag und von Samstag auf Sonntag. Es handelt sich
um die altbekannten Diskounfälle. Oft sind nicht nur die
durch Alkohol, möglicherweise Drogen oder einfach nur
durch gute Stimmung enthemmten Fahrer, sondern gleich
mehrere Mitfahrerinnen und Mitfahrer betroffen.
Woran liegt das? Diskos und ähnliche Lokale sind häufig nur mit dem Auto erreichbar, einfach deswegen, weil
es eine Busverbindung, die eine sichere Heimfahrt oder
Weiterfahrt zur nächsten Disko bietet, nicht gibt. Um dieses Defizit ursächlich zu beheben, bedarf es besserer
ÖPNV-Angebote, vor allem im ländlichen Raum. Bis
heute gibt es leider nur inselhaft gute Angebote von
Nacht- und Diskobussen, eventuell ergänzt durch Anrufsammeltaxis.
Nehmen wir das Beispiel Münsterland, ganz bewusst
ein großes, weithin ländliches Gebiet, in dem angeblich
das Angebot Diskobus nicht machbar oder nicht finanzierbar sein soll. Dort existieren aber in Wahrheit bereits
16 Nachtbuslinien und jede zweite Gemeinde hat ein Anrufsammeltaxi. Nachtschwärmer finden also ein fast
flächendeckendes ÖPNV-Angebot vor.
({3})
Die Finanzierung solcher Nachtbusse ist mit einiger
Kreativität kein Problem. Im geschilderten Beispiel gilt
etwa folgende Faustformel: Ein Drittel der Kosten tragen
die Fahrgäste. Ein Drittel wird von Sponsoren wie
Versicherungen aufgebracht. Das letzte Drittel zahlen die
Kommunen. Letztere zahlen in der Regel nicht mehr als
1 DM bis 2 DM pro Einwohner und Jahr. Dieser Bagatellbetrag rechnet sich schon sehr schnell, wenn nur alle
fünf oder zehn Jahre ein einziger schwerer Unfall vermieden wird.
Was ist die Quintessenz? Es kommt nicht allein auf
Aufklärung und auf freiwilligen Verzicht an; mindestens
ebenso wichtig sind Alternativen. Hierbei ist nicht nur der
Bund, sondern sind auch die kommunale Politik und die
Landespolitik in der Verantwortung.
Horst Friedrich ({4})
Prinzipiell, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, zielt auch Ihr Begehren, eine Überprüfung
von Unfallreparaturen zu verlangen, in die richtige Richtung. Wenn Unfallfahrzeuge in Eigenregie repariert werden, besteht in der Tat die Gefahr, dass das nicht fachgemäß
geschieht. Das erhöht zweifelsohne das Unfallrisiko, wobei
die Schätzungen der Technischen Überwachungs-Vereine
allerdings sehr grob sind und auseinander gehen.
Darüber hinaus wird der Polizei eine neue Rolle bei der
Bewertung und Weitermeldung der Folgen zugewiesen,
ohne dass geprüft ist, ob die Polizei dies überhaupt leisten
kann. Eine automatische Überprüfung durch Sachverständige erscheint zumindest in den Fällen überflüssig, in
denen die Reparatur in einer anerkannten Fachwerkstatt
erfolgt ist.
Die Bundesregierung hat bereits 1999 die Bundesanstalt für Straßenwesen beauftragt, zu überprüfen, inwieweit die Verkehrssicherheit wirklich durch fehlerhafte
Reparaturen gefährdet wird. Abhängig von den Ergebnissen dieser Überprüfung sollte bei einer Bestätigung des
Gefährdungspotenzials in der Tat ein Verfahren zur Überprüfung schwer verunfallter Fahrzeuge entwickelt und gegebenenfalls rasch vorgeschrieben werden. Dabei kann
man sich sehr wohl an dem Verfahren orientieren, das in
den Staaten angewandt wird, die die CDU/CSU aufgelistet hat.
Zusammenfassend Folgendes: Auch in Sachen Verkehrssicherheit kann uns, meine ich, niemand Taten- oder
Konzeptionslosigkeit vorhalten. Immerhin sinken die Unfallzahlen trotz des gestiegenen Verkehrsaufkommens.
Die Bundesregierung ist also offenkundig doch auf dem
richtigen Weg.
({5})
Der Kol-
lege Dr. Winfried Wolf gibt seine Rede zu Protokoll.1) Er
gibt damit ein gutes Beispiel.
({0})
Jetzt hat der Parlamentarische Staatssekretär Stephan
Hilsberg das Wort.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn das Parlament redet, dann darf die Regierung nicht schweigen.
Wenn die kleinste Fraktion nicht redet, dann ist das ihre
Sache. Es handelt sich um ein wichtiges Thema, zu dem
man auch zu dieser Tageszeit durchaus etwas Wichtiges
sagen kann. Es ist immer gut, über Straßenverkehr und
über Sicherheit zu sprechen.
Wir haben in unserem Haus vor allen Dingen drei Probleme ausgemacht, die den Bürgern hinsichtlich der
Straßenverkehrssicherheit große Sorgen bereiten. Es handelt sich zum einen um die hohe Unfallrate der 18- bis
24-Jährigen. Diese Gruppe stellt 20 Prozent all derjenigen, die an Unfällen beteiligt sind. Dieser Anteil ist weit
höher als ihr Bevölkerungsanteil.
Es handelt sich zum anderen um die Gefahren durch
schwere LKW. Viele Menschen, seien es Fußgänger, Radoder Autofahrer, fühlen sich durch sie bedroht. Ob das zu
Recht oder zu Unrecht geschieht, ist hier gar nicht die
Frage. Fakt ist: Es gibt in Deutschland über 2,5 Millionen
LKW und allein 160 000 Sattelzüge. Die Entwicklung ist
rasant; die Anzahl der LKW wird sich weiterhin erhöhen.
Insofern wird dieser Punkt auch in Zukunft ein Bedrohungspotenzial beinhalten.
Es handelt sich zum Dritten um die hohe Aggressivität
im Straßenverkehr: Raserei, verbale Attacken bis hin zu
Handgreiflichkeiten - es ist sogar von Prominenten die
Rede; ich erinnere an einige Schauspieler - sind heute
keine Seltenheit mehr. Die Menschen, die das tun, geben
ein schlechtes Beispiel ab. Wo sind wir hingekommen?
An diesem Punkt setzen wir den Hebel an. Wir haben
ein Programm für mehr Sicherheit im Straßenverkehr aufgelegt. Wir wollen nämlich das Verkehrsklima in
Deutschland verbessern.
({0})
Wir wollen die Schwerpunkte von Unfallursachen entschärfen und wir wollen damit den erfreulichen Trend der
letzten Jahrzehnte fortsetzen. Vor allen Dingen wollen
und müssen wir dabei jeder Verkehrsteilnehmerin und jedem Verkehrsteilnehmer klarmachen: Es kommt auf einen
selbst an. Jeder trägt Verantwortung, und zwar nicht nur
für sich selbst, sondern auch für den anderen, der neben
ihm im Auto oder auf dem Fahrrad fährt bzw. als Fußgänger am Verkehr teilnimmt.
Mit unserer Kampagne Gelassen läufts werben wir
für mehr Geduld und Besonnenheit sowie für weniger
Aggressivität auf unseren Straßen. Meines Erachtens ist
diese Kampagne inzwischen jedem bekannt; das beweisen die zahlreichen Anfragen, die unser Haus bekommt.
Das Echo zeigt: Unsere Arbeit für mehr Sicherheit im
Straßenverkehr wird wahrgenommen.
Dass Sie die Kampagne gelegentlich kritisieren, trägt
zu ihrer Bekanntheit bei. Die Kampagne erfüllt auf diese
Art und Weise ihren Zweck, für mehr Gelassenheit im
Straßenverkehr zu sorgen. Glauben Sie mir: Es gibt viele
Situationen, die man nur mit Gelassenheit bewältigen
kann.
({1})
Sie sehen, dass Regierung und Opposition manchmal auf
erfreuliche Art und Weise zusammenarbeiten.
Diese Kampagne ist aber nur ein Teil unseres Programms für mehr Sicherheit im Straßenverkehr. Wir verfolgen natürlich weitere Ziele. Wir wollen den Schutz der
schwächeren Verkehrsteilnehmer erhöhen. Fußgänger,
Fahrrad- und Motorradfahrer sind immer einem besonHelmut Wilhelm ({2})
1) Anlage 4
ders hohen Risiko ausgesetzt. Sie alle kennen die Zahlen,
die das belegen. Das gilt in besonderem Maße für den
Unfallschwerpunkt Landstraße und für das Gefahrenpotenzial LKW. Von daher sind die Sorgen, die sich die Bürger machen, nicht von ungefähr.
Ich will auch an die Katastrophe im Tauerntunnel erinnern, die bei uns übrigens zu einem großen Forschungsprogramm geführt hat, dessen Ergebnisse inzwischen in
die Verbesserung der Straßensicherheit sowie in den Bau
und in die Pflege von Tunnel eingehen. Das heißt, wir setzen die Analysen, die wir uns mittlerweile erarbeitet haben, um.
Wir haben uns hohe Ziele gesteckt. Natürlich ergreifen
wir mehrere Maßnahmen, um diese Ziele zu erreichen.
Dazu gehört zum Beispiel die verstärkte Überwachung
von Lenk- und Ruhezeiten bei LKW und Bussen. Wir haben das Straßenverkehrsgesetz geändert, indem wir die
0,5-Promille-Grenze eingeführt haben. Meine Damen und
Herren von der Opposition, warum haben Sie dem eigentlich nicht zugestimmt? Diese Maßnahme ist ein wirkungsvolles Instrument, um die Verkehrssicherheit zu
verbessern.
({3})
Dazu zählt auch - ich könnte Ihnen das im Einzelnen
aufführen - die Novelle zur Straßenverkehrsordnung. Es
handelt sich um ein schwieriges, sehr differenziertes Feld.
Wir sind auf all diesen Feldern tätig. Wir haben in den Innenstädten die Einführung von Tempo-30-Zonen ermöglicht und wir haben das Telefonieren im Auto reglementiert. Die Polizei mag gelegentlich feststellen, dass dieses
Verbot schwer kontrollierbar sei. Dennoch ist es richtig,
das Telefonieren ohne Freisprechanlage zu verbieten, weil
es ein enormes Gefahrenpotenzial beinhaltet und weil es
zu einem ungeheuren Stress beim Autofahren führt.
({4})
Ich kann an dieser Stelle nur appellieren: Lassen Sie das
Telefonieren mit dem Handy direkt am Ohr sein. Das
schadet Ihnen!
({5}) - Dirk Fischer [Hamburg]
[CDU/CSU]: Das ist mit keiner einzigen Zahl
zu belegen!)
- Das ist inzwischen mit genügend Zahlen zu belegen; das
kann ich Ihnen durchaus verdeutlichen.
Dazu zählt auch unser Auftrag an die Bundesanstalt für
Straßenwesen, die Verkehrserziehung an den weiterführenden Schulen wissenschaftlich zu unterstützen und
zu untersuchen.
({6})
- Nein, das ist nicht der Fall. Die Bundesanstalt für
Straßenwesen wird das weiter unterstützen. - Wir werden
auch sicheres Fahrverhalten durch finanzielle Anreize
weiter fördern. Das sind nur einige der Maßnahmen, die
wir ergriffen haben.
Insbesondere geht es - das ist ja zu Recht angesprochen
worden - um die so genannten Frontschutzbügel an
Fahrzeugen. Meines Erachtens gehörten diese Bauteile an
Autos in die Pampa oder in die Taiga. Hier bezahlen Kinder mit ihrem Leben dafür. Das geht nicht.
({7})
Diese Vorrichtungen dienen natürlich in erster Linie
dem Showeffekt. Die Leute sollten lieber Mercedes fahren. Damit erzielen sie vielleicht noch mehr Aufsehen
und schaden den Kindern und anderen Fußgängern
nicht so sehr. Diese Frontschutzbügel sind jedenfalls in
hohem Maße schädlich. Deshalb brauchen wir hier eine
europäische Lösung. Das Problem ist nämlich nicht nur
ein deutsches, sondern ein europäisches. Man kann es
nur auf dieser Ebene lösen. Wir begrüßen die entsprechende europäische Initiative und werden uns intensiv
dafür einsetzen, dass sie verabschiedet und umgesetzt
wird.
({8})
- Herr Börnsen -, ich nehme Ihnen Ihr ehrliches Bemühen
um dieses Thema durchaus ab. Das ist gar keine Frage.
Bei der Großen Anfrage, die ja ein Anlass dieser Debatte
ist, kann man sich besonders auf die Antworten verlassen.
Das ist kein Wunder, denn sie sind ja von uns. Die Politik,
die Sie auf dieser Grundlage machen, ist manchmal aber
ein wenig unredlich. Es ist zwar völlig richtig, auf problematische Elemente in der Unfallstatistik hinzuweisen,
aber zu unterstellen, während unserer Regierungszeit sei
die Zahl der Unfälle gestiegen, ist nicht redlich; das Gegenteil ist der Fall.
({9})
- Lesen Sie sich Ihre Große Anfrage durch, Herr Fischer.
Sie sind zwar Sprecher Ihrer Arbeitsgruppe, aber vielleicht haben Sie sie gar nicht gelesen. Ich würde Ihnen das
empfehlen. In allen Fallgruppen hat sich die Unfallstatistik vom Jahr 1999 zum Jahr 2000 erheblich verbessert:
Die Anzahl der Getöteten ist gesunken, sogar auf einen
historisch einmaligen Stand, die Anzahl der Unfälle ist gesunken, die Zahl der Unfälle mit Personenschaden und alles, was sonst noch da hineingehört.
Meine Damen und Herren, mit dieser Art Politik können Sie vielleicht Ihre eigenen Wähler verdummen, ein
Beitrag zur Verkehrssicherheit ist das nur in Maßen.
({10})
Wir lassen uns nicht beirren und gehen den erfolgreichen
Weg, der zu mehr Verkehrssicherheit führt, weiter. Ich
freue mich deshalb, dass wir die Gelegenheit nutzen
konnten, das hier einmal zu thematisieren.
({11})
Als
nächster Redner hat der Kollege Norbert Königshofen das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Verlauf der Debatte
haben wir schon einige wichtige Beiträge zur Bedeutung
der Verkehrssicherheit gehört. Insbesondere die Rede
meines geschätzten Kollegen Wolfgang Börnsen hat uns
eindringlich vor Augen geführt, dass wir bei der Verkehrssicherheit in unseren Bemühungen nicht nachlassen
dürfen.
({0})
Von daher finden wir es geradezu fatal, dass Sie den Etatansatz für die Verkehrssicherheit im Haushalt von 26 Millionen DM im Jahr 1999 auf 22 Millionen DM im
Jahre 2000 reduziert haben.
({1})
Das ist bedauerlich und ist Sparen am falschen Ende, Herr
Staatssekretär.
({2})
Jede Mark, die wir dort sparen, erhöht die Gefahren im
Verkehr.
Es zeigt sich einmal mehr am heutigen Abend, dass wir
in unseren Bekenntnissen weitgehend übereinstimmen.
Wenn gehandelt werden muss, tun Sie sich aber manchmal außerordentlich schwer. Der Teufel steckt ja bekanntlich im Detail.
({3})
Deswegen möchte ich auf die zwei Anträge der
CDU/CSU-Fraktion eingehen, die heute Abend vorliegen.
Zum einen fordern wir mit Antrag vom 22. Juni 1999
- solange hat es gedauert, bis sich das Hohe Haus damit
beschäftigt ({4})
die Überprüfung von Kraftfahrzeugen nach Unfallreparaturen. Ein Großteil der 5 Millionen Unfallwagen
wird in Selbsthilfe repariert. Das gilt insbesondere für
Fahrzeuge, die älter als acht Jahre sind. Von diesen werden 30 Prozent in Selbsthilfe repariert. Nach Erkenntnissen der Technischen Überwachungs-Vereine sind gerade
diese selbst reparierten PKWs an circa 30 000 Unfällen
jährlich beteiligt. Unsachgemäße Reparaturen an Lenkung, Bremsen, Fahrgestell sind häufig unfallauslösend
und ebenso Mängel bei Sitzen, Gurten, Gurtverankerungen und Gurtstraffern.
Deswegen möchten wir, dass sie vor Wiederinbetriebnahme durch einen Sachverständigen geprüft werden und
eine entsprechende Regelung in die Straßenverkehrs-Zulassungsordnung aufgenommen wird. Wenn gesagt wird,
es sei mit der Abgrenzung außerordentlich schwierig, so
müssen wir darauf hinweisen, dass in den EU-Mitgliedsländern Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, den
Niederlanden, Österreich und Spanien und auch in der
Schweiz eine besondere Überprüfung schwer verunfallter
Fahrzeuge nach ihrer Reparatur verlangt wird. Was in anderen Ländern geht, muss auch bei uns möglich sein.
({5})
Zum Zweiten fordern wir mit Antrag vom 20. Juni
1999, dass die Frontpartien von Fahrzeugen europaweit fußgängersicherer gestaltet werden. Andere Redner
haben auch schon darauf hingewiesen und markig gesagt,
diese Kuhfänger müssten weg. Ja, meine Damen und
Herren, dann lassen Sie uns doch etwas dagegen tun!
({6})
- Ich weiß, Frau Hesse: Sie verstecken sich hinter europäischen Regelungen, die natürlich ihre Zeit dauern. Das
wissen wir auch. Aber warum wird denn nicht der Versuch
gemacht, beispielsweise mit den Herstellern über Selbstverpflichtungen zu reden?
({7})
Man kann doch erst einmal versuchen, auf die Einsicht der
Leute zu bauen und zu erreichen, dass solche Dinge beseitigt werden. Denn es ist in der Tat so: Wir haben bei
66 000 Unfällen zwischen Fußgängern und Fahrradfahrern einerseits und PKWs andererseits allein im Jahr 1999
drei Tote bei den PKW-Insassen, aber 868 Tote nur bei
Fußgängern und Fahrradfahrern zu beklagen.
Deswegen muss an der Frontpartie etwas geändert werden. Wir müssen die Frontschutzbügel beseitigen. Wir
müssen auch dazu kommen, dass die Frontpartien elastisch sind, sodass sie nicht einen so großen Schaden anrichten.
({8})
Die Verkehrssicherheit erfordert Anstrengungen in vielen Bereichen. Darauf ist verschiedentlich hingewiesen
worden. Hier liegen Ihnen zwei ganz konkrete Anträge
vor, denen Sie zustimmen können. Sie haben damit die
Möglichkeit, in zwei konkreten Fällen etwas für die Verkehrssicherheit zu tun. Ich fordere Sie auf, nicht nur den
Mund zu spitzen, sondern auch zu pfeifen. Stimmen Sie
unseren Anträgen zu! Sie helfen damit, die Verkehrssicherheit zu verbessern, und Sie helfen auch, Leben zu
retten.
({9})
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Margrit Wetzel von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Chefsache hat einen Namen:
Gelassen läufts heißt die Verkehrssicherheitskampagne,
mit der der Verkehrsminister ein neues Leitbild der Selbstverantwortung, Souveränität und Gelassenheit im Verkehr breit in unserer Gesellschaft verankern möchte.
In aller Gelassenheit deshalb ein kurzes Wort zu Ihren
Anträgen. Sie fordern, was lange Realität ist: die ständige
und beharrliche gemeinsame Arbeit von Regierung, Parlament, Verkehrswacht, Verkehrssicherheitsrat, die an
einem - übrigens zum ersten Mal - aufgelegten Verkehrssicherheitsprogramm 2000 mitgewirkt haben, das gemeinsam mit den Schulen, der Polizei, vielen engagierten
Organisationen aus dem Hilfs- und Rettungswesen, den
Medien, den Ländern und Kommunen umgesetzt werden
soll.
Der Bund stößt Kampagnen an, erteilt viele Forschungsaufträge, um Gefahrenpotenziale zu erkennen,
und greift auch ordnungspolitisch durch. So ist im letzten
Jahrzehnt die Zahl der Unfälle unter Alkoholeinfluss - das
wurde bereits mehrfach erwähnt - um mehr als 30 Prozent
zurückgegangen. Der größte Rückgang wurde 1998 nach
dem In-Kraft-Treten der Absenkung der Promillegrenze
erzielt.
Bei der Kindersicherung im PKW zum Beispiel haben
wir nach erheblichen Anlaufschwierigkeiten inzwischen
Sicherungsquoten von 94 Prozent, auf dem Beifahrersitz
von 98 Prozent erreicht. Damit entspricht die Sicherung
von Kindern endlich der von Erwachsenen,
({0})
ein Erfolg übrigens der gemeinsamen Arbeit von Regierung und Opposition, der guten Kooperation von Parlamentariern. - Herr Börnsen, Sie brauchen nicht wegzuschauen, ich erinnere mich gut an die Zusammenarbeit
und bin Ihnen noch heute dafür dankbar.
Aber wir müssen mit der Zeit gehen. Verkehrssicherheit braucht ständig neue Aufmerksamkeit, neue Vermittlungspotenzen, muss immer wieder neu aktuell bewusst werden. Über die Telefonkarte von gestern sind die
jungen Handybesitzerinnen nicht mehr zu gewinnen; aber
die vorgeschriebene Freisprechanlage im PKW spricht
die Technikfreudigkeit der jungen Generation an und
beugt damit schon auf diesem Weg neuen Gefahrenquellen vor.
Wir wollen die enge Kooperation mit den Ländern und
Kommunen, um die Verkehrssicherheit auf den Landstraßen zu erhöhen. Diese erreichen wir nicht mit nationalen Kampagnen, sondern durch ganz gezielte lokale
Aktivitäten, manchmal sogar durch blöde Sprüche,
wenn sie denn blöd genug sind, um Aufmerksamkeit zu
erzielen und lokal wahrgenommen zu werden.
Wir wollen Anreize versicherungstechnischer Art, freiwillige Weiterbildung und viel Training für junge Fahrer,
aber natürlich auch harte Sanktionen bei Verstößen gegen
die Verkehrssicherheit.
Seit 1995 ist - entgegen Ihren Behauptungen, zumindest denen in den Anträgen - die Zahl der Unfälle mit
Personenschäden - bezogen auf die gestiegene Fahrleistung - durchschnittlich um 4 Prozent, die Zahl der getöteten Menschen um mehr als 20 Prozent zurückgegangen.
Ich denke, das ist ein Erfolg, an dem wir permanent und
täglich weiterarbeiten müssen.
({1})
Das Verkehrssicherheitsprogramm 2000 setzt deshalb auch ganz bewusst auf die Entschärfung erkannter
Unfallschwerpunkte, sei es, dass sich Kampagnen in der
warmen Jahreszeit an die dann besonders gefährdeten
Zweiradfahrer richten, in den Wintermonaten an die
Rücksicht auf Fußgänger appellieren oder aber die technische und ordnungspolitische Risikominimierung bei
LKWs zum Schwerpunkt gemacht wird.
Ich freue mich ganz besonders über die Medien, TV
und Rundfunk, die zu besten Sendezeiten besondere Zielgruppen ansprechen, die Kindern über beliebte Figuren
und Sendungen das Bewusstsein für die Aufmerksamkeit
im Verkehr und die wichtigsten Regeln vermitteln - ich
denke, das ist die geschickteste Art, Kinder anzusprechen -, die Schüler gezielt auf das Verhalten im Schulbus
hinweisen, die Jugendlichen für die Gefahren von Discounfällen sensibilisieren sowie die Folgen überhöhter
Geschwindigkeit und die Selbstverantwortung der Jugendlichen deutlich machen.
Ich denke, wir müssen auch noch viel stärker die alten
Menschen als schwächere Verkehrsteilnehmer im Blick
haben. Alter bringt irgendwann unvermeidbar eine reduzierte Reaktionsfähigkeit, eine Überforderung durch Geschwindigkeiten und das Sehen lässt nach; wir kennen
diese Probleme. Alter fordert einfach unsere Rücksicht.
Deshalb sind wir dem Minister ganz besonders dankbar, dass er sich so intensiv gegen Aggressivität im
Straßenverkehr wendet und ein Klima der Gelassenheit
und Souveränität einfordert. Helfen wir ihm dabei, auch
dadurch, dass wir diese Debatte ohne Aggressivität, sondern in harmonischem Miteinander führen - zumindest
zum Teil ist das ja auch erfolgt -, vor allem aber mit einem gemeinsamen Dank - Herr Börnsen hat die Debatte
damit eröffnet und ich möchte sie gerne so beschließen an und großer Anerkennung für all diejenigen, die täglich
aktiv für die Sicherheit im Straßenverkehr arbeiten und
eintreten.
Ich wünsche dem Minister im Namen der Koalitionsfraktionen allen Erfolg bei der Umsetzung seiner Kampagne und seines Verkehrssicherheitsprogramms 2000!
({2})
Ich
schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 11 a: Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/6584 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss und
an den Innenausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 11 b: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/6316 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 11 c: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 14/6569 zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel Nationale Verkehrssicherheitskampagne - Sonderprogramm
für junge Autofahrerinnen und Autofahrer zur Verhinderung von alkohol- und drogenbedingten Verkehrsunfällen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/659 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 11 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 14/6553 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU zur Überprüfung von Kraftfahrzeugen nach
Unfallreparaturen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/1207 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der F.D.P. und der
PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Tagesordnungspunkt 11 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen im
Fahrerlaubniswesen, Drucksache 14/2187. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1209 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatzpunkt 10
auf:
12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Bodo
Seidenthal, Klaus Barthel ({0}), HansWerner Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef
Fell, Dr. Reinhard Loske, Christian Simmert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
6. Forschungsrahmenprogramm 2002-2006
({1}) - Europäische Forschung stärken
- Drucksache 14/6541 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
6. Forschungsrahmenprogramm 2002-2006
({3}) - Transparenter und unbürokratischer gestalten - KMU besser einbeziehen - Europäische Energieforschung weiter ausbauen
- Drucksache 14/6549 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Alle Redner wollen ihre Reden zu Protokoll geben.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es handelt sich um die Redner Bodo Seidenthal von der SPD,
Erich Maaß ({5}) von der CDU/CSU, Hans-
Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen, Ulrike Flach von
der F.D.P., Maritta Böttcher von der PDS und um den Par-
lamentarischen Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6549 - es handelt sich um Zusatzpunkt 10 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/6541 - es
handelt sich um Tagesordnungspunkt 12 - soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({6}), Dirk Fischer ({7}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Feste Fehmarnbelt-Querung - Klarheit und
Konkretisierung - ökonomisch geboten, ökologisch sinnvoll
- Drucksache 14/6313 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Auch hier sollen alle Reden zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es
handelt sich um die Reden von Dr. Christine Lucyga und
Reinhold Hiller ({9}) von der SPD, Wolfgang
Börnsen ({10}) von der CDU/CSU, Grietje Bettin
vom Bündnis 90/Die Grünen, Jürgen Koppelin von der
F.D.P. und Winfried Wolf von der PDS. 2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6313 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 5
2) Anlage 6
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({11}), Ina Albowitz,
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Kulturföderalismus in Deutschland erhalten
- Drucksache 14/4911 ({12}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier sollen alle Reden zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es
handelt sich um die Reden von Eckardt Barthel ({14})
von der SPD, Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSU,
Dr. Antje Vollmer vom Bündnis 90/Die Grünen, HansJoachim Otto ({15}) von der F.D.P., Heinrich Fink
von der PDS und von dem Staatsminister Professor
Dr. Nida-Rümelin.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4911 neu an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norbert Blüm, Klaus-Jürgen Hedrich, Ingrid
Fischbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
RUGMARK bei geplanter Fusion mit Care &
Fairunterstützen und gleichzeitig Vorsorge für
ein mögliches Scheitern der Verhandlungen
treffen
- Drucksache 14/6317 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({17})
zu dem Antrag der Abgeordneten Erika
Reinhardt, Dr. Norbert Blüm, Klaus-Jürgen
Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Gegen den Missbrauch von Kindern als Soldaten
- Drucksachen 14/2243, 14/6289 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Erika Reinhardt
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({18})
Carsten Hübner
Hier wollen leider nur zwei Kolleginnen und Kollegen
ihre Reden zu Protokoll geben. In Anbetracht der geringen Zahl der Zuhörer wäre es eigentlich angemessen,
auch die anderen würden ihre Reden zu Protokoll zu geben. Aber es steht den Kolleginnen und Kollegen natürlich frei zu reden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Norbert Blüm von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Es ist im Kampf gegen die
Kinderarbeit so spät wie heute Abend im Parlament. Aber
ich würde auch um 2 Uhr nachts noch gegen die Kinderarbeit reden.
({0})
Aus meiner Sicht nimmt die Kinderarbeit eine Schlüsselstelle im Kampf gegen die Armut in der Welt ein. Ich
brauche keine Futurologen: Wie es den Kindern heute
geht, so sieht die Zukunft für die Erwachsenen aus.
Nun gibt es unterschiedliche Mittel. Eines der intelligentesten Mittel - nicht das Patentrezept - ist RUGMARK. Was ist RUGMARK? Teppiche aus Indien, aus
Nepal und aus Pakistan werden mit einem Label versehen,
das besagt, dass sie kinderarbeitsfrei sind. Damit schlägt
man mit der Logik des Wettbewerbs sozusagen ein soziales Schnippchen im Sinne der sozialen Marktwirtschaft.
Ich habe gelernt - das ist auch richtig -, dass der Kunde
König ist. Er kann seine Kundenmacht auch für moralische Ziele einsetzen. Er kann einen Teppich kaufen, der
von Kinderhänden geknüpft ist. Aber er muss es nicht. Es
gab von jeher die Figur des ehrbaren Kaufmanns. Warum
kann es nicht auch den anständigen Kunden geben, dessen Macht im Kampf gegen Ausbeutung eingesetzt wird?
Ich bin mir sicher, dass darin alle übereinstimmen.
Im Tierschutz ist es uns schon gelungen, bestimmte
Angebote sozusagen zu diskriminieren. Es läuft heute
niemand mehr mit Elfenbeinschmuck oder mit einem
Tigerfell durch die Gegend. Was für den Tierschutz richtig ist, das ist für den Kinderschutz dreimal richtig.
({1})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 7
Ich sage es noch einmal: Es ist kein Patentrezept. Aber
es sind die marktwirtschaftlichen Mittel, mit denen klargestellt werden muss: Ausbeutung darf kein Geschäft
sein. So einfach ist das.
({2})
Ich will ausdrücklich die Kunden und auch die Handelshäuser loben, die sich auf RUGMARK eingelassen
haben: Karstadt, Otto-Versand, Teppich Kibeck und viele
andere. RUGMARK verfolgt eine Doppelstrategie, weil
sie einerseits den Kunden Hilfe zur moralischen Orientierung gibt und andererseits dafür sorgt, dass die Exporteure
in Indien 0,25 Prozent des Exportpreises und die Importeure hier 1 Prozent des Importpreises an RUGMARK
zahlen. Davon werden 0,25 Prozent für RUGMARK
Deutschland für Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit abgeführt. Das Geld kommt Hilfsprogrammen für diese
Kinder und ihren Familien zugute. Es ist also eine Doppelstrategie, einerseits abzustempeln - diesmal positiv abzustempeln - und andererseits Geld zu nehmen, um zu
handeln. Das verdient auch die Unterstützung der Bundesregierung.
({3})
Ich sehe aber, dass diese Unterstützung abnimmt.
1999 waren es 265 000 DM, im Jahr 2000 240 000 DM
und im ersten Halbjahr dieses Jahres sind es 80 000 DM.
Es gibt also eine abnehmende Tendenz. Das ist die falsche
Richtung. Dieser Gedanke braucht Unterstützung und
Rückenwind.
Nun ist eine Fusion von RUGMARK und Care & Fair
geplant. Care & Fair ist eine andere Initiative, die ebenfalls eine Abgabe verlangt, die auch Hilfsprogrammen zugute kommt - so weit, so gut. Diese Hilfsprogramme sind
ausdrücklich willkommen. Aber das ist zu wenig. Es ist ja
eine Art Ablasshandel. Damit haben wir schon vor der Reformation schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn RUGMARK und Care & Fair fusionieren, dann nur auf der
Grundlage der sauberen Kriterien von RUGMARK.
({4})
Das Label darf seinen Qualitätsbeweis nicht verleihen.
Nur unter diesem Gesichtspunkt ist eine solche Fusion
herzlich willkommen.
Ich will noch einen institutionellen Aspekt erwähnen.
Ich habe meine Zweifel, ob es der beste Gedanke ist - das
schlagen manche vor -, dieses unter dem Dach des Teppichverbandes zu machen. Die Verbraucherschutzzentrale ist ja auch keine Unterabteilung des Groß- und Einzelhandelsverbandes. Aber das ist eine institutionelle
Frage.
Also: Fusion ja, aber nicht um jeden Preis. Wenn die
Fusion scheitert, darf RUGMARK nicht in der Luft hängen. An der Stelle ist der Geldhahn das falsche Instrument, um Druck zu machen. RUGMARK muss erhalten
bleiben. Immerhin sind die Erfolge ja nicht gering. In
Indien laufen 25 Prozent des Teppichhandels unter diesem
Label, in Nepal sind es sogar 60 Prozent; in Pakistan sind
es mehrere Tausend Webstühle. Ich verspreche mir von
dem Gedanken, dass von ihm eine gewisse Ansteckung
auch auf andere Produkte ausgeht.
Ich sage noch einmal, meine Damen und Herren: Ich
sehe RUGMARK nicht als Patentrezept im Kampf gegen
Kinderarbeit. Wir brauchen weiterhin erstens das Verbot
und zweitens die Hilfe. Wir brauchen weiterhin die Unterstützung der ILO für den Kampf gegen Kinderarbeit,
wobei ich der ILO als Freund vorschlage, weniger Workshops und Meetings abzuhalten und das Geld direkt gegen
die Kinderarbeit einzusetzen.
({5})
Ich habe dafür Beispiele: In Europa ist das Geld genommen worden, um Computer im Ministerium anzuschaffen. Ich habe nichts dagegen, dass Computer gekauft
werden. Aber einen unmittelbaren Zusammenhang mit
dem Kampf gegen die Kinderarbeit sehe ich nicht.
({6})
Also, bürokratisch werdet ihr diese Ausbeutung nicht
bekämpfen. Dafür brauchen wir schon einen etwas handfesteren Ansatz. Weitere Meetings und dicke Bücher brauchen wir auch nicht; denn es ist fast alles gesagt, was zu
diesem Thema zu sagen ist. Man braucht handfeste
Aktionen. Eine der handfestesten und klügsten Aktionen
ist RUGMARK. Ich hoffe, wir stimmen darin überein,
dass RUGMARK erhalten und weiter unterstützt werden
muss, dass die harten, klaren Kriterien der Zertifikation
erhalten bleiben müssen. Eine Fusion ist herzlich willkommen, aber nur unter Beibehaltung der harten Kriterien
von RUGMARK. Eine Geldabgabe allein ist nicht das geeignete Mittel.
Ich wünsche jedenfalls jedem auf einem Teppich, der
mit Kinderhänden geknüpft worden ist, keine fröhliche
Party. Ich wünsche keinem Partygast auf einem auf Kinderausbeutung beruhenden Teppich ein fröhliches Fest.
Das muss man auch unter die Leute bringen.
({7})
Das, Herr Präsident, ist fast alles. Was das Thema Kindersoldaten angeht, so hoffe ich, dass man dazu in diesem Saal nicht viele Worte machen muss und dass die
Philologen jetzt nicht anfangen, an einem Text herumzuarbeiten. Bei Kindersoldaten und Kinderprostitution
würde ich noch nicht einmal das angesehene Wort Arbeit in den Mund nehmen. Das ist einfach ein Verbrechen, ein handfestes Verbrechen.
({8})
Das ist nicht nur Sache des Staates, sondern auch von
Befreiungsaktionen. Das ist Kindersklaverei. Kinder
werden als Minenhunde eingesetzt. Da, wo die Hunde
nicht mehr hingeschickt werden, werden Kinder hingeschickt. Darüber kann es nur eine gemeinsame Verachtung geben. Ich gehe davon aus, dass wir in diesem Haus
in dieser Verachtung ohne Abstriche übereinstimmen und
dass wir uns jetzt nicht an die parteipolitische Feinarbeit
machen und darüber diskutieren, ob man irgendeinen Satz
besser formulieren könnte. Die Absicht muss klar sein.
({9})
Der langen Rede kurzer Sinn - Herr Präsident, auch um
24 Uhr würde ich noch dasselbe sagen -: Kinderarbeit ist
eine Schande in dieser Welt. Kinderarbeit ist die Fortsetzung der Armut: Weil die Kinder nicht zur Schule gehen,
werden sie als Erwachsene arbeitslos sein. Weil sie als
Erwachsene arbeitslos sind, werden deren Kinder wieder
in die Kinderarbeit geschickt. So wälzt sich der Teufelskreis fort.
Deshalb hoffe ich, dass viele mitkämpfen. Wir unterstützen die ILO und wir unterstützen den Gedanken der
RUGMARK, weil er ein intelligenter, marktwirtschaftlicher Gedanke ist.
({10})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Karin Kortmann von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident, Sie haben
eben gesagt, es wäre schön, wenn wir alle die Reden zu
Protokoll geben würden. Das hätte ich gern getan. Aber
Herr Blüm wollte es nicht tun.
Herr Blüm, ich habe ein Problem, wenn Sie hier an die
Moral und Ethik appellieren; denn die Frage ist immer,
welches der richtige Weg des politischen Handelns ist.
Von der Zielsetzung her kann ich Ihnen folgen. Aber ich
verstehe viele andere Dinge nicht, wie unter anderem die
Tatsache, dass Sie im letzten Jahr bei den Haushaltsberatungen im Ausschuss für Menschenrechte unbedingt
eine Kürzung der Unicef-Gelder herbeiführen wollten,
weil sie Ihnen in der politischen Linie nicht gepasst hat.
({0})
Deswegen müssen wir Acht geben, in welchem Kontext
Sie die Moral einfordern.
Frau Kollegin Kortmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Blüm?
Nein, Herr Blüm hatte gerade zehn Minuten und ich habe jetzt noch ganze zwölf.
({0})
- Es mangelt mir überhaupt nicht an Souveränität, sonst
würde ich hier nicht stehen.
({1})
Ich werde die Souveränität inhaltlich unterfüttern, damit
Sie mal wissen, worüber wir überhaupt reden.
In der heutigen Debatte reden wir nämlich über zwei
spezifische Aspekte der Kinderarbeit, einmal - Sie haben
es angesprochen, Kollege Blüm - über Kinder in der Teppichindustrie und zum Zweiten über den Antrag Gegen
den Missbrauch von Kindern als Soldaten. Ich glaube,
wir müssen beide Anträge im Lichte der Bemühungen sehen, bei denen es um die Ratifizierung des Übereinkommens über das Verbot und die unverzüglichen Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der
Kinderarbeit geht. Die Konvention 182 der ILO haben
wir in dieser Woche auch im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beraten. In der
Tendenz sind wir uns einig gewesen und haben einstimmig zugestimmt, dass der Antrag der Bundesregierung
Unterstützung findet und wir diese ILO-Konvention endlich auch in Deutschland ratifizieren können. Der Bundesregierung sei Dank dafür ausgesprochen, dass sie die
Vorarbeiten dafür hervorragend geleistet hat.
({2})
Die ILO-Konvention beschreibt einen doppelten Auftrag: Die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen verpflichten sich einerseits, in ihren jeweils nationalen Bereichen und andererseits im internationalen Kontext dafür
Sorge zu tragen, dass die Beseitigung der Kinderarbeit
vorrangiges Ziel sein muss und dafür unverzügliche und
umfassende Maßnahmen einzuleiten sind.
60 Staaten hatten dieses Abkommen bis Anfang des
Jahres bereits ratifiziert. Indien, ein Land, in dem Kinderarbeit in der Teppichindustrie angeprangert wird, und
Länder wie Angola, Burundi, die Demokratische Republik Kongo oder beispielsweise der Sudan und Uganda, in
denen der Einsatz von Kindern als Soldaten immer noch
möglich ist, fehlen auf dieser Liste. Wir sollten alles dafür
tun, dass auch sie dieses Abkommen ratifizieren.
Trotz vieler Widerstände - auch aus den Entwicklungsländern - bei der Erarbeitung dieses Abkommens
konnten bemerkenswerte Ergebnisse erzielt werden. Das
Wichtigste - ich glaube, das können wir alle begrüßen ist die gemeinsame Definition dessen, was unter den
schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu verstehen ist.
Es wurden vier Kategorien genannt.
Erstens benennt das Abkommen alle Formen der Sklaverei wie den Verkauf von Kindern, den Kinderhandel, die
Schuldknechtschaft, die Leibeigenschaft und die Zwangsoder Pflichtarbeit einschließlich der Zwangs- oder
Pflichtrekrutierung von Kindern für den Einsatz in bewaffneten Konflikten, also den so genannten Kindersoldaten, über die wir hier sprechen.
Zweitens fallen unter die schlimmsten Formen der
Kinderarbeit das Heranziehen, Vermitteln und Anbieten
eines Kindes zur Prostitution und zur Herstellung von
Pornographie. Man mag es kaum glauben.
Drittens wird das Heranziehen, Vermitteln oder Anbieten eines Kindes zu unerlaubten Tätigkeiten, insbesondere zur Gewinnung von und zum Handeln mit Drogen,
genannt.
Viertens ist jede Arbeit verboten, die ihrer Natur nach
oder aufgrund der Umstände, unter denen sie verrichtet
wird, voraussichtlich für die Gesundheit, die Sicherheit
oder die Sittlichkeit von Kindern schädlich ist, wie beispielsweise die Arbeit von Kindern in der Teppichindustrie.
Bemerkenswert ist auch, dass sich die Mitglieder der
ILO auf die Altersschutzgrenze von 18 Jahren einigen
konnten. Damit konnte nämlich der Standard, den die UNKinderrechtskonvention vorgibt, erhalten werden und
auch in diesen Bereichen Anwendung finden. Ich glaube,
es ist in Ordnung, wenn ich hier sage: Wir fordern, dass
diese Schutzgrenze auch in anderen Bereichen, wie zum
Beispiel beim Flüchtlingsstatus und bei der Asylbeantragung, eine ungeteilte Gültigkeit erlangt.
Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich weiter,
Kindern, die aus der schlimmsten Form der Kinderarbeit
befreit wurden, eine freie Grundbildung zu gewähren
und ihnen möglichst auch eine Berufsausbildung zu ermöglichen. Wir wissen, dass die soziale Eingliederung
unter gleichzeitigem Eingehen auf die Bedürfnisse der
Familie eine wirkungsvolle Möglichkeit ist.
Sehr wichtig und besonders zu begrüßen ist die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen in die Planung und Durchführung von Aktionsprogrammen zur
Bekämpfung von Kinderarbeit. Denken wir an die Arbeit
von Misereor, des Roten Kreuzes, von Terre des hommes,
aber auch an diejenigen, die durch faire Handelsbeziehungen mit dazu beitragen, Produkte, die ohne ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt werden, zu vermarkten:
die Welthungerhilfe, die gepa und TRANSFAIR.
Bei allen Bestrebungen, gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit vorzugehen, sind wir uns doch alle
darin einig, dass Kinderarbeit größtenteils durch Armut
verursacht wird.
Mit dem Aktionsprogramm 2015 hat die Bundesregierung einen neuen Weg eingeschlagen. Jenseits aller
Ressortpolitik hat sie die Bekämpfung der Armut zum
Programm der gesamten Regierung erklärt. Dies trägt zu
einer kohärenten und nachhaltigen Zielerreichung, so wie
wir sie immer fordern, bei. Ich freue mich, dass dies erstmals in der Bundesrepublik gelungen ist. Die Zustimmung und aktive Mitarbeit der Kirchen und Nichtregierungsorganisationen zeigt, dass der Weg, den wir
gehen, richtig ist.
Wir setzen auf Bildung und Qualifizierung von Kindern und Erwachsenen. Wir sehen die langfristigen Lösungen in einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum und
einer nachhaltigen sozialen Entwicklung, an der alle Teile
der Bevölkerung partizipieren müssen. Warum erwähne
ich das alles in dieser epischen Breite? Weil wir genau
deshalb die Initiative begrüßen, die 1995 zur Gründung
von RUGMARK, einer internationalen Initiative gegen
Kinderarbeit in der Teppichindustrie, geführt hat. Ich war
damals noch Bundesvorsitzende beim BDKJ, Herr Blüm;
wir haben diese Initiative außerordentlich unterstützt und
tun es bis heute, auch in der parlamentarischen Debatte.
Es war nicht leicht, die Teppichproduzenten und Teppichhändler sowie die Käuferinnen und Käufer von der
Idee zu überzeugen, zwei Strategien unter dem Dach von
Wirtschaftsinteressen zu vereinen. Durch RUGMARK
ist es erstmals gelungen - zuerst in Nepal und dann in
Pakistan -, eine Produktkontrolle und Zertifizierung am
Produktionsstandort zu erreichen sowie einen Teil des
Verkaufserlöses für Sozialprogramme für teppichknüpfende Kinder und deren Familien bereitzustellen. Gleichzeitig ist es durch eine begleitende Öffentlichkeitsarbeit
gelungen, in der indischen, aber auch in der deutschen
Gesellschaft ein Bewusstsein für die Arbeitsbedingungen
von Kindern in den Entwicklungsländern insgesamt und
in der Teppichindustrie im Besonderen zu wecken.
Die Einführung dieses Gütesiegels hat zu mehr
Transparenz und einer Überprüfung der Arbeitsbedingungen geführt; sie hat auch Auswirkungen auf andere Produktionsbereiche gehabt. RUGMARK wurde zu einem
besonderen Gütekriterium, an dessen Erfolg - Herr Blüm,
ich will Ihre Leistung überhaupt nicht schmälern - Sie einen ganz besonderen Anteil hatten, wofür wir Ihnen zu
danken haben.
({3})
Nun weiß aber jeder - damit kommen wir zu Ihrem
Antrag -, der die Bedingungen der Marktwirtschaft kennt,
dass eine solche Initiative nicht nur eine ordentliche Anschubfinanzierung, sondern auch eine kräftige Regelförderung braucht. Diese Regelförderung, Herr Blüm, hat
in dem Haushalt des BMZ bisher mit mehr als 2,5 Millionen Mark zu Buche geschlagen.
({4})
Deshalb ist die Frage - nicht nur unter haushaltstechnischen Gesichtspunkten -, wie RUGMARK seitens des
Bundes weiter unterstützt werden soll,
({5})
absolut zulässig.
Sehr problematisch ist die Forderung der Union nach
einer mittel- und langfristigen weiteren Förderung. Sie
ist weder entwicklungspolitisch sinnvoll noch instrumentell einsetzbar und - Sie wissen das selber - nicht finanzierbar. Außerdem ist ein Siegel entwicklungspolitisch
nur dann wertvoll, wenn es sich als Instrument einer Verbraucherpolitik nach einer gewissen Zeit selber tragen
kann. Nur dann ist die von uns immer so hoch gepriesene
Nachhaltigkeit auch in der Praxis gewährleistet.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - speziell die Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Eid, - ist seit Monaten in intensiven Verhandlungen, um die Idee von RUGMARK
unter neuen finanziellen Bedingungen absichern zu helfen.
Eine Fusion mit Care & Fair unterstützen wir seitens
der SPD-Bundestagsfraktion. Dass RUGMARK damit
seine Grundprinzipien nicht aufgeben darf, aber auch
Verhandlungsbereitschaft mitbringen muss - das Gleiche
gilt für Care & Fair -, liegt auf der Hand. Die Situation ist
ähnlich wie bei Tarifverhandlungen. Sie wissen es ganz
genau: Wer sich in Verhandlungen keinen Millimeter bewegt, ist als Verhandlungspartner schnell am Ende.
Die BMZ-Leitung hat eine wertvolle Vermittlungshilfe
geleistet und tut dies auch weiterhin, kann sich aber nicht
zum Anwalt einer Vertragspartei erklären. Anträge der
Art, wie Sie sie uns vorlegen, helfen in der augenblicklichen Situation wenig weiter.
({6})
Lassen Sie uns aber die Gemeinsamkeiten festhalten,
die auch für das weitere Verfahren wichtig sind:
Erstens. Wir wollen, dass es weiterhin ein Teppichsiegel gibt.
Zweitens. Wir wollen, dass sich die Produktionsbedingungen nach wie vor an vereinbarten, transparenten und
überprüfbaren Kriterien messen lassen.
Drittens. Wir wollen, dass die so genannten Mehreinnahmen weiterhin für Sozialprogramme zur Verfügung
gestellt werden.
Viertens. Wir wollen, dass es zu einer Ausweitung von
fair geknüpften Teppichen und damit zu einer Reduktion
des Teppichhandels ohne Siegel kommt. Wir wissen aber,
dass wir dazu - fünftens - eine intensivere Verbraucherinformation brauchen. Wir wollen die Standards
und die Qualität der Prüfungskriterien von RUGMARK
erhalten. Genau deshalb sind diese Verhandlungen nicht
von heute auf morgen, wie Ihr Antrag es suggeriert, zur
Zufriedenheit aller abzuschließen. Ich sehe es schon jetzt
als einen großen Erfolg der Verhandlungen an, dass sich
Care & Fair der Frage von Prüfungen im Herkunftsland
nicht mehr verschließt.
Offen ist - das können wir hier im Parlament allerdings
nicht klären -: Was ist die geeignetste Rechtskonstruktion
der beiden Organisationen RUGMARK und Care & Fair?
Daraus ergibt sich dann auch, ob und wie eine zukünftige
Förderung über das BMZ sichergestellt werden kann.
Lassen Sie mich die letzten anderthalb Minuten meiner
Redezeit für das Thema Kindersoldaten verwenden. Wir
haben uns mit diesem Thema im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit wahrlich intensiv beschäftigt. Wir sind uns einig, dass der vor kurzem vorgelegte
Bericht zur internationalen Koordination von Kindersoldaten erschreckend ist; denn nach wie vor sind
300 000 Kinder davon betroffen. Die Altersgrenze wird
immer niedriger und man hat den Eindruck, es bewegt
sich kaum etwas, gemessen an dem, was an Hilfeprogrammen notwendig wäre.
Die entscheidenden Punkte aber, Herr Blüm und Kolleginnen und Kollegen von der Union, warum wir Ihrem
Antrag nicht zustimmen können, liegen auf der Hand; das
haben wir deutlich gemacht.
Erstens. Der UN-Generalsekretär, Unicef, der UNHochkommissar für Menschenrechte, der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Kinder in bewaffneten
Konflikten, viele Regierungen, Regionalzusammenschlüsse und Nichtregierungsorganisationen haben immer wieder auf die Schutzaltersgrenze von 18 Jahren
hingewiesen und gesagt: Bitte keine gewaltsame Rekrutierung von unter 18-Jährigen! Das ist der entscheidende
Punkt in unserem Antrag: Wir brauchen die Straight 18Forderung. - Diesen Schritt ist Ihre Fraktion nicht mitgegangen.
Zweitens haben Sie als Ultima Ratio gefordert, die finanzielle Zusammenarbeit mit den Ländern, in denen
keine Veränderungen im Bereich der Hilfe für Kindersoldaten erfolgen, aufzukündigen. Wir sagen nach wie vor:
Wir werden den Kindern, die unsere Hilfe und Unterstützung brauchen, diese auch weiterhin gewähren, wir werden dies so weit wie möglich ausreizen und jede Form von
Verhandlung aufrecht erhalten, um mit den Staaten Einigungen zu erreichen.
Wir werden in der Sache am Ball bleiben. Ich hoffe,
dass Sie die Beschlussvorlage des Deutschen Bundestages von 1999 tatkräftig mitunterstützen.
({7})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Norbert Blüm
das Wort.
Herr Präsident! Frau
Kollegin, ich will nur klarstellen: Mein Antrag, die Mittel
für Unicef zu blockieren, hat nichts damit zu tun, dass ich
womöglich für eine Reduzierung der Mittel für den
Kampf gegen Kinderarbeit wäre. So weit sind wir noch
nicht. Ich habe diesen Antrag gestellt - das würde ich auch
wiederholen -, weil sich Unicef im Sudan gegenüber
Nichtregierungsorganisationen, die im Sudan Impfaktionen durchgeführt haben, schäbig benommen hat. Mein
Antrag hat überhaupt nichts mit Kinderarbeit zu tun. Einen solchen Zusammenhang können Sie nicht herstellen.
Des Weiteren will ich klarstellen: Was die Verhandlungen zwischen Organisationen betrifft - hier ist ja empfohlen worden, sich zu bewegen -, so gibt es bei den Kriterien nicht einmal den Spielraum eines Millimeters. Die
Kriterien müssen bleiben, wie sie sind.
Im Übrigen: Hier wird über 80 000 DM für RUGMARK
diskutiert vor dem Hintergrund des großen Haushalts des
BMZ, der sicher noch größer sein könnte, wenn Sie ihn
nicht gekürzt hätten. Damit wird RUGMARK in Bedrängnis gebracht: Was passiert, wenn die Fusion nicht zustande
kommt und der Bund kein Geld mehr gibt? RUGMARK
darf aber nicht infrage gestellt werden, sondern braucht
Rückenwind. Ehrlich gesagt, Frau Kollegin, in der Verteidigung dieser Maßnahme haben Sie das Soll parteipolitisch
übererfüllt. Das brauchen Sie auch spätabends nicht zu tun.
So muss man sich parteipolitisch nicht verhalten.
({0})
Zur Erwiderung erhält Frau Kortmann das Wort.
Herr Blüm, ich werfe Ihnen
Folgendes vor: Weil Ihnen die Arbeit von Unicef im Sudan nicht gepasst hat, haben Sie mit dem Vorschlag der
Streichung der Haushaltsmittel für Unicef die gesamte
Organisation und deren Arbeit diffamiert. Das nehmen
wir nicht hin und das kritisieren wir weiter, ob es Ihnen
passt oder nicht.
({0})
Jetzt hat
das Wort die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Uschi
Eid.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Das Ziel des BMZ ist die nachhaltige Bekämpfung der Kinderarbeit. Wir unterstützen dieses Ziel mit
großem inhaltlichen und finanziellen Engagement. So
fördern wir zum Beispiel über die Internationale Arbeitsorganisation ein Programm zur Bekämpfung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit mit 100 Millionen DM. Das
alleine reicht aber nicht. Wir müssen uns auf allen Ebenen
engagieren, um gegen die Ausbeutung von Kindern vorzugehen. Dazu gehört auch das Engagement der Verbraucher und Verbraucherinnen, die durch gezielte Nachfrage
zum Kampf gegen die Kinderarbeit beitragen können.
Viele Verbraucherinnen und Verbraucher möchten wissen, ob Produkte wie Teppiche von Kindern unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt worden sind
oder nicht. Damit diese Verbraucher ihren Wunsch nach
nicht von Kindern hergestellten Teppichen umsetzen können, brauchen sie glaubwürdige Informationen. Aufgeklärte Verbraucherpolitik bedeutet heute, dass wir den
Menschen diese Informationen geben. So können sie
durch bewussteres Einkaufen Sozialstandards in Entwicklungsländern fördern.
Zurzeit engagieren sich die beiden Initiativen RUGMARK und Care & Fair gegen Kinderarbeit in der
Teppichindustrie. Heute sind wir endlich in einer Situation, auf die viele schon lange gewartet haben: Beide Initiativen wollen sich zusammenschließen. Die beiden
Initiativen, Vertreterinnen und Vertreter des Teppichhandels und Nichtregierungsorganisationen haben das BMZ
um eine Mittlerrolle gebeten. Ich habe diese Rolle gerne
in mehreren Gesprächen übernommen. Das letzte gemeinsame Treffen fand gerade vor einer Woche statt.
Mit der Fusion von RUGMARK und Care & Fair soll
ein einheitliches Siegel geschaffen werden. Die Zertifizierung gewinnt dadurch an Gewicht und so kann der
Kampf gegen Kinderarbeit verstärkt werden. Gleichzeitig
erlangen kritische Verbraucher und Verbraucherinnen, die
Wert darauf legen, einen Teppich zu kaufen, der ohne ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt worden ist, eine bessere - weil vereinfachte - Marktübersicht.
Die beiden Organisationen haben sich ausdrücklich darauf geeinigt, dass es wirksame Vor-Ort-Kontrollen geben soll. Auch die Träger von RUGMARK, nämlich Terre
des Hommes, Brot für die Welt, Misereor und Unicef, unterstützen den Plan eines gemeinsamen Siegels. Ich bin
davon überzeugt, dass diese Organisationen wie schon
bisher auf die wirksame Umsetzung des Monitoring drängen werden. Auch aus meiner Sicht sind solche Kontrollen unentbehrlich. Deshalb kann ich auch Ihre Sorge entkräften, dass es keine Kontrollen mehr geben soll, das
Siegel also wirkungslos werden würde. Gleichzeitig haben sich die Hilfswerke Unicef, RUGMARK und Care &
Fair darauf geeinigt, dass zukünftig die Hilfsmaßnahmen
aller Träger in enger Zusammenarbeit durchgeführt werden. Wir werden die Organisationen dabei unterstützen.
Das BMZ hat RUGMARK in den vergangenen sechs
Jahren mit insgesamt 2,5 Millionen DM, zuletzt mit
240 000 DM jährlich, gefördert. Die Förderung wird zurzeit fortgesetzt.
({0})
RUGMARK und Care & Fair wollen eine Unterstützung für den möglichen Zusammenschluss, dann aber
weiter ohne öffentliche Zuschüsse arbeiten. Ich bin der
Meinung, dass wir ein solches Vorgehen unterstützen sollten. Mit einem Zusammenschluss von RUGMARK und
Care & Fair entstünde eine viel stärkere Organisation, als
es zurzeit der Fall ist. Sie hätte die Chance, sich in kurzer
Frist selbst zu finanzieren. Durch den geplanten Zusammenschluss nehmen wir aus beiden Organisationen das
Beste: die Vor-Ort-Kontrolle und das Wissen hinsichtlich
des Monitorings von RUGMARK und die finanzielle
Selbstständigkeit und Nähe zum Handel von Care & Fair.
So erzielen wir die beste Wirkungskraft, um das zu erreichen, was hier mein wichtigstes Anliegen ist: Die Anzahl
der Teppiche, die ein Siegel gegen Kinderarbeit tragen,
würde sich verdoppeln oder gar verdreifachen. Dadurch
würde etwa die Hälfte aller Teppichimporte aus Indien
durch eine unabhängige Nichtregierungsorganisation
überwacht. Damit hätten wir einen großen Schritt bei der
Bekämpfung der Kinderarbeit getan.
Ich danke Ihnen.
({1})
Die Rede
von Dr. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für die
F.D.P. und die Rede von Carsten Hübner für die PDS
werden zu Protokoll genommen.1) Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6317 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15 b, zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache
14/6289 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel Gegen den Missbrauch von Kindern als Sol-
daten.
1) Anlage 8
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2243 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, bei Gegenstimmen
der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Wiedererhebung der Vermögensteuer
- Drucksache 14/6112 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
Hier wollen alle mit Ausnahme der Kollegin
Dr. Barbara Höll ihre Reden zu Protokoll geben. Es han-
delt sich um die Redner Lydia Westrich von der SPD-
Fraktion, Gerhard Schulz von der CDU/CSU-Fraktion,
Christine Scheel von der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen und Professor Gisela Frick von der F.D.P.-Frak-
tion.1)
Ich gebe dann Frau Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Inzwischen ist es draußen wieder dunkel. In geübter
Weise diskutieren wir ziemlich spät in der Nacht über einen Antrag der PDS-Fraktion. Aber vielleicht hilft unser
Antrag zur Wiedererhebung der Vermögensteuer, ein wenig Helligkeit in Ihr Denken zu bringen.
({0})
Oder verstehen Sie den Antrag als die Lampe, die Ihnen
helfen soll, Ihre Wahlprogramme von 1998 noch einmal
gründlich zu lesen.
Die SPD schrieb damals: Hohe Privatvermögen an
der Finanzierung der Bildung beteiligen. Bündnis 90/Die
Grünen forderten gar eine Reform der Erbschaft- und
Schenkungsteuer, damit eine größere Verteilungsgerechtigkeit erreicht wird. So heißt es in ihrem Wahlprogramm:
Das Vermögen, das vererbt oder verschenkt wird,
soll nach seinem tatsächlichem Ertragswert besteuert
werden.
Wir befinden uns im dritten Jahr dieser Legislaturperiode.
Es ist abzusehen, dass von Ihrer Seite nichts geschehen
wird.
Wir diskutieren diesen Antrag der PDS heute - ganz
bewusst noch vor der Sommerpause -, um Ihnen Zeit zu
geben, bevor wir in die parlamentarische Beratung des
Haushalts des Jahres 2002 eintreten. Dieser Haushalt soll
ja wieder ein so genannter Sparhaushalt sein. Er wird wieder damit verbunden sein, dass Länder und Kommunen
genau wie der Bund feststellen müssen, dass das Geld
nicht ausreicht, um die öffentliche Daseinsvorsorge
tatsächlich ordentlich realisieren zu können.
Mit unserem Antrag zur Wiedererhebung der Vermögensteuer zeigen wir Ihnen eine mögliche wesentliche
Quelle zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben
auf. Das wäre ein konkreter Beitrag gegen das immer stärkere Auseinanderdriften von Arm und Reich in der Bundesrepublik Deutschland. Gerade die Einkommens- und
Vermögenspolarisierung und ihre Zunahme ist eben kein
Schreckensmärchen vonseiten der PDS, sondern bittere
Realität. Das belegt der jüngste Reichtums- und Armutsbericht.
({1})
Das wirklich Schlimme daran ist, dass auch die rotgrüne Regierung in den Jahren ihrer Verantwortlichkeit
durch ihre Steuerpolitik zu einem weiteren Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich beigetragen hat. Die
Zahlen sind von meiner Seite und vonseiten der PDS in
den letzten Monaten oft genannt worden, aber man kann
sie scheinbar nicht oft genug nennen. Ich will nur zwei
Punkte ansprechen; vielleicht prägen Sie sie sich ein.
Durch die Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf
25 Prozent gehen dem Bund rund 63 Milliarden DM, den
Ländern 57 Milliarden DM bis zum Jahr 2006 verloren,
durch die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen jeweils 7 Milliarden DM seitens des Bundes und der Länder. Das heißt: Es fehlen Ihnen Milliarden in zweistelliger
Größenordnung zur Erfüllung dringender Aufgaben.
Wir lesen, dass Bündnis 90/Die Grünen ein neues Familienprogramm auflegen will. Wir hören - morgen wird es
Realität werden -, wie gern doch die SPD das Kindergeld
erhöhen würde, nicht nur um 30 DM, sondern - wenn sie
könnte - sogar um 40 oder 50 DM. Warum tun Sie es dann
nicht? Sie verzichten freiwillig auf Finanzierungsquellen
und erzählen uns dann, dass für Familienpolitik kein Geld
da ist.
Unser Antrag zeigt Ihnen deutlich auf, wie man es machen könnte, wie man tatsächlich Geld für fehlende Kinderbetreuung, für den Aufbau von Infrastruktur und für die
Beseitigung von grundlegenden Mängeln in der Schulbildung einnehmen würde. Das sind wesentliche Grundlagen
für die Zunahme von Armut in der Bevölkerung und insbesondere von Armut und damit erheblich schlechteren
Startbedingungen für Kinder und Jugendliche.
({2})
Ich sage es noch einmal eindeutig: Dieser Antrag ist
eben nicht die Ausgeburt einer Neiddiskussion. Wir wollen nicht, wie es in der Bild-Zeitung vermutet wurde,
die Perlenkette besteuern oder Oma ihr klein Häuschen
wegnehmen. Das ist alles Blödsinn. Es geht darum, die
wirklich Vermögenden in unserer Gesellschaft entsprechend dem Grundgesetz stärker zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben heranzuziehen.
({3})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 9
Den Handlungsspielraum dafür haben wir, weil Sie mit
Ihrer Steuersenkungspolitik eben nicht nur alle entlastet
haben, sondern Sie haben die Besserverdienenden und die
ertragsstarken Unternehmen überdurchschnittlich entlastet. Damit ist Handlungsspielraum vorhanden.
({4})
- Natürlich ist das wahr; das wissen Sie auch.
In unserem Antrag zeigen wir Ihnen auf, wie eine wirklich maßvolle Besteuerung möglich wäre, von 0,5 bis
3 Prozent. Vermögen bis 200 000 DM pro Person bleiben
steuerfrei. Oma ihr klein Häuschen als selbst genutztes
Wohneigentum bleibt natürlich aus jeglicher Besteuerung
außen vor. Aber aufgrund einer solchen maßvollen Besteuerung wäre es möglich, 15 Milliarden DM bis 20 Milliarden DM jährlich einzunehmen. Nach den Programmen
der SPD und der Grünen würden für den Aufbau einer bedarfsgerechte Kinderbetreuung etwa 15 Milliarden DM
benötigt.
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Höll.
Also: Werden Sie aktiv!
({0})
Entschließen Sie sich zur Vermögensbesteuerung! Entschließen Sie sich zur Verwirklichung Ihres Wahlprogramms! Dann haben Sie für den Aufbau einer ordentlichen Kinderbetreuung auch Finanzierungsquellen.
({1})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6112 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Griefahn, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Grietje Bettin, Kerstin Müller
({0}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Digitale Spaltung der Gesellschaft überwinden eine Informationsgesellschaft für alle schaffen
- Drucksache 14/6374 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Monika Griefahn und Jürgen Tauss von
der SPD-Fraktion, Dr. Martina Krogmann von der CDU/
CSU-Fraktion, Grietje Bettin vom Bündnis 90/Die Grünen, Hans-Joachim Otto ({2}) von der F.D.P.-
Fraktion, Angela Marquardt von der PDS und Staatsmi-
nister Dr. Julian Nida-Rümelin für die Bundesregierung.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6374 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Anpassung bestimmter Bedingungen in der
Seeschifffahrt an den internationalen Standard
({3})
- Drucksache 14/6455 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Auch hierzu sollen alle Reden zu Protokoll gegeben
werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Annette Faße, SPD-Fraktion, Wolfgang
Börnsen ({5}), CDU/CSU-Fraktion, Gila Altmann,
Bündnis 90/Die Grünen, Hans-Michael Goldmann,
F.D.P.-Fraktion, und der Parlamentarischen Staatssekre-
tärin Angelika Mertens für die Bundesregierung.2) Die
PDS hat keine Rede zu Protokoll gegeben. Sie will aber
auch nicht reden, wie ich höre.
({6})
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/6455 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Juli 2001, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.