Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen
Kabinettssitzung den Jahreswirtschaftsbericht 1999 und
den Entwurf einer Novelle des Atomgesetzes mitgeteilt.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister der Finanzen, Oskar Lafontaine.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wichtigste Herausforderung in Deutschland, aber auch in Europa ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Daß dabei
unterschiedliche ökonomische Konzepte angeboten
werden, versteht sich von selbst. Die Bundesregierung
ist der Auffassung, daß eine Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik versucht werden muß. Diese
Neuorientierung möchte ich so beschreiben, daß zwar
angebotspolitische Strukturreformen nach wie vor notwendig sind, daß aber in stärkerer Form als in der Vergangenheit die Nachfrageseite der ökonomischen Entwicklung beachtet werden muß.
Es geht bei dem Neuansatz also um ein ausgewogenes
Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Wir erinnern hier
immer an den Satz des Nestors der Nationalökonomie,
Paul Samuelson, der sagte: Gott gab uns zwei Augen: eines für das Angebot und das andere für die Nachfrage.
Wenn wir also über die Beschäftigungsentwicklung in
diesem Jahr und in den nächsten Jahren diskutieren, ist
nach unserer Auffassung eine Größe wieder stärker ins
Zentrum der Betrachtung zu rücken, die in den vergangenen Jahren außerhalb der Diskussion war, nämlich die
Entwicklung der wirtschaftlichen Gesamtnachfrage.
Um diese Neuausrichtung durch praktische Politik
vorzunehmen, haben wir zunächst das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit auf den
Weg gebracht. Auf europäischer Ebene versuchen wir,
zu einer gesamtwirtschaftlichen Koordinierung zu
kommen, damit Finanz-, Lohn- und Geldpolitik konfliktfrei zusammenspielen. Ich weise darauf hin, daß
immer dann, wenn die Arbeitslosigkeit in Deutschland
dramatisch angestiegen ist, eine klassische Konfliktsituation insofern vorlag, als Haushalts-, Lohn- und Geldpolitik gegeneinander standen. Das letzte Mal war dies
im Jahr 1992 der Fall: Eine expansive Haushaltspolitik
mit hoher Kreditaufnahme und eine Lohnpolitik, die
über den Produktivitätszuwachsraten abschloß, trafen
auf eine Geldpolitik, die im kurzfristigen Bereich zu
Nominalzinsen in Höhe von 10 Prozent und im langfristigen Bereich von 8 Prozent führte. Das ist die klassische Konstellation, die Arbeitslosigkeit aufbaut. Wir
werden in Zukunft versuchen, solche Konstellationen,
die auch in den zurückliegenden Jahren immer wieder
auftraten, zu vermeiden. Wir ergänzen diese gesamtwirtschaftliche Koordinierung der Finanz-, Lohn- und Geldpolitik durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik und durch
Strukturreformen, wie ich bereits ausführte.
Die Weltwirtschaft ist seit einiger Zeit in Turbulenzen geraten, die bereits im Frühjahr vergangenen Jahres
auf die deutsche ökonomische Entwicklung übergriffen.
Seinerzeit war festzustellen, daß der Ifo-Index die ersten
Zeichen einer zurückgehenden Entwicklung aufzeigte.
Diese Entwicklung hat sich in den darauffolgenden Monaten verstärkt. Zwar wird darauf hingewiesen, daß die
deutsche Exportwirtschaft mit den hauptsächlichen Krisenländern nur zu weniger als 10 Prozent verflochten ist.
Dabei wird aber übersehen, daß die indirekten Auswirkungen dieser weltwirtschaftlichen Entwicklung alle
Handelspartner Deutschlands betreffen und daher nicht
nur die direkten, sondern auch die indirekten Auswirkungen zu sehen sind.
Die konjunkturelle Dynamik hat sich im letzten halben Jahr überall in der Welt abgeschwächt; auch daher
variieren die Prognosen in Deutschland von 1,4 bis 2,8
Prozent. Wir halten an einer Rate von 2 Prozent fest.
Wir weisen allerdings auf die Ausgangsfaktoren hin, die
dieser Prognose zugrunde liegen und sich im Laufe des
Jahres natürlich verändern werden.
Wenn die Exportwirtschaft zurückgeht, dann ist ein
starkes Augenmerk der Binnenwirtschaft zu widmen.
Das tut die Bundesregierung und richtet ihre Politik danach aus.
Positiv an der Prognose ist, daß es in den neuen Ländern wieder stärkere Signale gibt. Das gilt für das verarbeitende Gewerbe. Insgesamt ist die Wachstumsprognose für die neuen Länder etwas stärker als die für die alten Länder.
Für den Arbeitsmarkt ist eine Arbeitslosigkeit von 4,1
Millionen Menschen vorsichtig prognostiziert worden.
Sie wissen: Die Beschäftigungsschwelle liegt bei 2 bis
2,5 Prozent. Je nach Institut wird das Wachstum aber in
diesem Jahr nicht stärker, sondern sogar schwächer als 2
Prozent ausfallen. Auch diese Prognosen werden wieder
in Frage gestellt werden.
Die Preisentwicklung bei den Verbraucherpreisen
wird auf 1 Prozent prognostiziert. Ich weise allerdings
darauf hin, daß für die ökonomische Betrachtung nicht
allein diese Entwicklung, sondern auch die Erzeugerpreise ausschlaggebend sind, die europaweit mittlerweile bei minus 2 Prozent liegen. Ich bitte, dies in die
Debatte mit einzubeziehen.
Die Wirtschaftspolitik braucht eine adäquate Mischung aus Angebots- und Nachfragepolitik. Die Haushaltspolitik versucht, dem Rechnung zu tragen. Ich wiederhole: Es wäre falsch gewesen, jetzt starke Konsolidierungsanstrengungen vorzunehmen, in einer Zeit, in
der sich die Konjunktur nicht klar entwickelt und in der
eine starke Konsolidierung - wie auch immer sie angelegt wäre - zu einer Schwächung der Gesamtnachfrage
geführt hätte.
Hinsichtlich der Lohnpolitik bleibt es bei unserer Aussage, daß die Lohnpolitik produktivitätsorientiert sein muß
und das Preisstabilitätsziel mit einbeziehen muß; insofern
verweise ich auf die Daten des Jahreswirtschaftsberichtes
und gebe den Hinweis, ihn aufmerksam zu lesen.
Die Geldpolitik kann, wie es auch im Vertrag über
die europäische Einigung angedeutet ist, ihre Aufgabe,
auch Wachstum zu unterstützen, dann erfüllen, wenn
Preisstabilität gewährleistet ist und wenn weder von der
Haushaltspolitik noch von der Lohnpolitik inflationärer
Druck ausgeht. Dies ist im Ecofin-Rat mittlerweile die
Meinung einer großen Mehrheit, auch wenn es da oder
dort differenzierte Meinungen geben mag.
Die aktive Arbeitsmarktpolitik beginnt bei der Bildungspolitik und setzt sich bei Strukturreformen fort,
insbesondere im Niedriglohnbereich. Die Strukturreformen begrenzen sich aber nicht nur auf die Arbeitsmarktpolitik, sondern sind auch Aufgabe der Steuerpolitik.
Die Diskussionen sind Ihnen bekannt. Ich möchte sie
nicht wiederholen.
Ein neuer Ansatz ist, daß wir bewußt die europäische
Zusammenarbeit suchen, also nicht den Satz unterschreiben: Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause.
Wir sagen: Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause
und in Europa. So ist unsere Politik angelegt.
Vielen
Dank, Herr Bundesminister.
Als erstem Fragesteller gebe ich das Wort dem Kollegen Koppelin von der F.D.P.-Fraktion. Ich bitte, zunächst
den angesprochenen Themenbereich zu behandeln.
Herr Bundesminister, Sie
sind in Ihren Ausführungen dankenswerterweise gleich
auf die Arbeitslosenzahlen eingegangen. Da sich die
Bundesregierung auch an den Arbeitslosenzahlen messen lassen will, darf ich Sie fragen, wie Sie es beurteilen,
wenn es im Jahreswirtschaftsbericht heißt, daß 1999 mit
einem Jahresdurchschnitt von 4,1 Millionen Arbeitslosen gerechnet werden muß.
Da Sie Ostdeutschland ansprachen, möchte ich Sie
fragen, was Sie zu dem Satz auf der gleichen Seite des
Jahreswirtschaftsberichts sagen: „In Ostdeutschland
kann für dieses Jahr kein Beschäftigungszuwachs erwartet werden.“ Ich bitte um eine etwas ausführlichere
Stellungnahme von Ihnen.
Wir möchten keine Zahlen als Prognosen in die Welt
setzen, die dann nachher nicht eingehalten werden können. Das gilt für das gesamte Datenwerk. Ein solches
Vorgehen würde sich sofort negativ auf die Haushaltspolitik auswirken, da wir oft festgestellt haben, daß Prognosen mit der tatsächlichen Entwicklung nicht in Übereinstimmung waren.
Wir glauben, daß es auch ein Akt der Vertrauensbildung ist, wenn wir bei nüchterner Analyse der Daten
versuchen, Prognosen zu geben, die eben nicht zu optimistisch, aber selbstverständlich auch nicht zu pessimistisch sind; insofern trägt die Prognose, die Sie zu Recht,
was die Entwicklung des Arbeitsmarktes angeht, als
nicht optimistisch bezeichnet haben - so habe ich Ihre
Frage verstanden -, den ökonomischen Rahmendaten
Rechnung. Daß beispielsweise der Export in den Jahren
1997 und 1998 sehr stark die wirtschaftliche Entwicklung bestimmt hat, wissen Sie. Aber wir können bei der
Prognose nicht so tun, als wären wir 1999 weltwirtschaftlich nicht mehr in einer Lage, die diese Entwicklung des Exports nicht mehr erwarten ließe. Bei der
Binnennachfrage muß man von daher, wenn man einen
Beschäftigungsaufwuchs prognostizieren will, begründen, wie dieser zustande kommen soll.
Über die Haushaltspolitik haben wir einiges gesagt.
Die Entwicklung bei der Lohnpolitik müssen wir abwarten. Insofern meine ich, daß es zwar wünschenswert
wäre, hier günstigere Zahlen zu nennen, daß wir aber
realistisch vorgegangen sind und damit zur Vertrauensbildung beitragen.
Vielen
Dank, Herr Bundesminister. Der nächste Fragesteller ist
der Kollege Michelbach.
Herr Bundesminister, Sie haben die Aussage getroffen, es sei mit einer
Mehrung der Arbeitsplätze um 1 Million bis zum Jahr
2002 zu rechnen. Sie wollen dies, wie Sie auch heute
wieder ausführen, insbesondere durch eine Mischung
von Nachfrage- und Angebotspolitik erreichen. Ist es
nicht so, Herr Bundesminister, daß Sie die Angebotspolitik belasten, wenn Sie die Arbeitsplätze in der Wirtschaft - insbesondere im investiven Bereich - dadurch
belasten, daß Sie eine Veränderung bei der Gewinnermittlung im sogenannten Steuerentlastungsgesetz
1999/2000/2002 in Höhe von 40 Milliarden DM vornehmen? Ist es nicht so, Herr Bundesminister, daß Sie
die Nachfragepolitik durch die Ökosteuer zusätzlich belasten? Es ist Ihnen sicherlich bekannt, daß ein vierköpfiger Haushalt durch die Ökosteuer Kosten von 340 DM
und eine Entlastung von lediglich etwa 200 DM bei den
Lohnnebenkosten hat. Ebenso ist Ihnen sicherlich bekannt, daß ein Rentner pro Monat 20 DM für die Ökosteuer mehr aufwenden muß. Das ist etwa doppelt soviel, wie er durch die Rentenreform jemals hätte begleichen müssen. Das heißt also, daß unter dem Strich nicht
von mehr Nachfrage geredet werden kann.
Zunächst zu der Prognose von 3 Millionen Arbeitslosen
im Jahre 2002: Ich will hier nur einmal klarstellen, daß
ich auf die entsprechende Frage eines Journalisten gesagt habe, es wäre sehr wünschenswert, wenn wir solche
Zahlen erreichen könnten. Das wäre ein schöner Erfolg.
Dann kam die Anschlußfrage: Wenn das Absenken der
Arbeitslosigkeit nicht gelingt, ist dann nicht die Regierung gescheitert? Das habe ich bejaht. Ich möchte nur
klarstellen: Ich sehe mich außerstande, für das Jahr 2002
eine exakte Prognose zur Entwicklung des Arbeitsmarktes abzugeben. Wer das kann, den bewundere ich.
Ich kann das nicht.
Zu Ihren konkreten Fragen: Sie sagen, die Wirtschaft
werde durch 40 Milliarden DM belastet. Diese Zahl muß
ich schlicht und einfach bestreiten; denn es hat keinen
Sinn, auf der einen Seite die Verschlechterung bei der
Gewinnermittlung, das Wegfallen von Steuersubventionen und andere Kürzungen in Rechnung zu stellen, auf
der anderen Seite aber nicht etwa das Absenken der Steuersätze usw. gegenzurechnen. Das ist eine unseriöse Vorgehensweise. Die Diskussion, die wir führen, ist eine Diskussion, die die Wirtschaft vom Zaun gebrochen hat, indem sie unter Hinweis auf die nominalen Steuersätze in
konkurrierenden Staaten gesagt hat: Wir wünschen niedrigere nominale Steuersätze und sind im Gegenzug bereit,
der Streichung einer ganzen Reihe von Steuersubventionen zuzustimmen. - Jetzt erleben wir, daß die Wirtschaft
sagt: Wir wünschen nominale Steuersätze, die etwa denen
in den Vereinigten Staaten entsprechen, sind aber nicht
bereit, die Situation bei Steuersubventionen und Gewinnermittlungsvorschriften etwa dem englischen oder amerikanischen Recht anzupassen. - Das geht nicht. Insofern
ist diese Diskussion unredlich. Ich habe deshalb auch klare Gespräche mit den Wirtschaftsverbänden geführt.
Wenn die Wirtschaftsverbände sich etwa zur ökologischen Steuer- und Abgabenreform äußern, ist es ebenfalls nicht zulässig, nur die Belastungen zu erwähnen,
die mit den Lohnnebenkostensenkungen verbundenen
Entlastungen jedoch nicht zu erwähnen. Ein größeres
Unternehmen hat solche Rechnungen aufgestellt und die
Belastungen praktisch über den vollen Satz, der für die
Wirtschaft überhaupt nicht in Ansatz gebracht wird, berechnet - also nicht etwa über einen reduzierten Satz und hat dann die Gegenrechnung der niedrigeren Lohnnebenkosten unterlassen. Solche Diskussionsbeiträge
führen nicht weiter.
Die Salden kann ich Ihnen nennen. Über die ökologische Steuer- und Abgabenreform haben wir im Saldo
keine Schwächung der Nachfrage, weil 1 Milliarde DM
fehlen. Das hat sich ja auch bei Ihnen herumgesprochen.
Insofern ist es eher eine moderate Entlastung. Natürlich
ist es bei allen Strukturreformmaßnahmen so, daß einzelne etwas stärker und andere weniger stark belastet
werden. Das ist nun einmal so. Wenn wir das vermeiden
wollen, dann müssen wir Strukturreformen ganz ausschließen. Es gibt immer Gewinner und Verlierer. Wir
haben bewußt ein Modell ins Auge gefaßt, bei dem diejenigen, die bei Gegenrechnung der Lohnnebenkosten
überproportional belastet werden, Erstattungsmöglichkeiten erhalten.
Herr
Michelbach, Sie wollen eine Zusatzfrage stellen.
Herr Bundesfinanzminister, ich habe eine kurze Zusatzfrage: Sind Sie
mit mir darüber einig, daß in Ihrem Konzept der Steuerentlastung für die Wirtschaft keine Nettoentlastung vorgesehen ist, die für eine Angebots- und Nachfragepolitik
sicher sinnvoll wäre, und sehen Sie nicht, daß bei der
Ökosteuer unter dem Strich auch für die Firmen und
Bürger keine Nettoentlastung vorhanden ist?
Noch einmal: Man kann bei der Wirtschaft nicht sagen:
Für d i e Wirtschaft gibt es keine Nettoentlastung. - Das
ist grundfalsch. Es ist bedauerlich, daß die Diskussion so
geführt wird. Es ist dennoch grundfalsch. Es gibt Betriebe, die nicht entlastet werden, und es gibt Betriebe, die
entlastet werden. Das muß man zumindest unterscheiden.
Auch im Petersberger Konzept der Vorgängerregierung war es so, daß die Körperschaften langfristig belastet werden sollten. Falls Sie das nicht nachgelesen haben, verweise ich auf eine entsprechende parlamentarische Anfrage, die, wenn ich mich recht erinnere, von
Staatssekretär Hauser beantwortet worden ist. Die Anfrage ist jederzeit abrufbar.
Für die Körperschaften hatten Sie Belastungen vorgesehen. Das war sogar vertretbar, weil die Körperschaften
durch die betriebliche Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer überproportional entlastet worden sind.
Wir machen die Steuerpolitik schließlich nicht von einem Tag auf den anderen, sondern man muß sie insgesamt sehen.
Was die Körperschaften angeht, weist der Bericht der
Europäischen Gemeinschaft aus, daß die Körperschaften
in Deutschland realiter mit den niedrigsten Steuern belastet werden. Sie sind niedriger als in Großbritannien, in
Italien und in Frankreich. Das muß man zumindest zur
Kenntnis nehmen. Wenn man die Datenbasis einfach
ignoriert, dann ist keine rationale ökonomische Debatte
möglich. Ich habe auf die Statistik der Europäischen
Gemeinschaft verwiesen.
Bei den kleineren Unternehmen gibt es ebenfalls ein
differenziertes Bild. Bei dem bisherigen Konzept wird
der sogenannte Mittelstand im Saldo um 3 Milliarden
DM entlastet. Es ist richtig, daß die Körperschaften belastet werden. Das ist nicht bestreitbar, und es wäre von
der Sache her auch nicht gerechtfertigt, wenn es anders
wäre.
Insgesamt haben wir eine Nettoentlastung - das gilt
nicht für jeden einzelnen, sondern für die Summe - von
15 Milliarden DM in unserem Steuerreformkonzept geplant. Wir haben keine größere Nettoentlastung versprochen, weil die Staatshaushalte das nicht hergeben. Das
jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat nicht
nur unser Steuerkonzept, zumindest von der Einnahmenund Ausgabenseite, sondern es hätte auch das Ihrige
überarbeitungsbedürftig gemacht. Insofern glaube ich,
daß wir behutsam vorgegangen sind. Wir haben strukturell natürlich dort angesetzt, wo nach unserer Auffassung angesetzt werden mußte, nämlich bei der Entlastung der Familien und der Arbeitnehmer.
Das
Wort hat jetzt der Kollege Henke von der CDU/CSUFraktion.
Herr Bundesminister, ich habe Ihnen intensiv zugehört, als Sie einer
kooperativen Lohn- und Geldpolitik im Zusammenhang
mit der Umsetzung der Erkenntnisse aus dem Jahreswirtschaftsbericht das Wort redeten. Genauso aufmerksam habe ich auch verfolgt, wie Sie im letzten Jahr vor
der Bundestagswahl nachhaltig, nach der Bundestagswahl nicht mehr so intensiv und in diesem Jahr gar nicht
mehr die Gewerkschaften und Tarifpartner zu hohen
Forderungen und möglichst hohen Abschlüssen aufgefordert haben. Sie haben dies erst relativiert und in der
letzten Runde für den öffentlichen Dienst ausdrücklich
zurückgenommen. Ich vermag nun nicht so recht zu erkennen, wo die kooperative Linie Ihres Hauses und Ihrer
Person zu erkennen ist: in den ursprünglichen Forderungen, in der jetzigen Einschätzung, insbesondere für den
öffentlichen Dienst, oder wo auch immer.
Immerhin sind in den nächsten Wochen, beginnend
bei der IG Metall, Warnstreiks zu befürchten. Wenn ich
richtig gehört habe, hat der ÖTV-Vorsitzende Mai gestern noch einmal mit allem Nachdruck die von Ihnen
ursprünglich empfohlene und jetzt geforderte
5,5prozentige Erhöhung der Löhne und Gehälter im öffentlichen Bereich nachhaltig unterstützt und begründet.
Erlauben Sie mir eine zweite Feststellung: Im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht stellt der
Haushalt 1999, so wie er jetzt vorliegt und soweit mir
die Informationen vorliegen, für mich als durchschnittlich Empfindenden
({0})
ebenfalls ein schwieriges Thema dar. Ich sehe und erkenne aus den mir bisher vorliegenden Informationen,
daß erstens der Anteil des von Ihnen vorgelegten Haushalts am Bruttoinlandsprodukt, zweitens die Staatsquote
und drittens die Verschuldungsquote steigt sowie viertens die reale Investitionsquote - gemessen am Gesamtvolumen Ihres Haushaltes - rückläufig ist. Ich vermag
dies im Zusammenhang mit den Eckdaten, die sich auf
Grund einer abschwächenden Konjunktur abzeichnen,
nicht auf eine Reihe zu bringen.
Ich will zunächst auf Ihre Feststellung eingehen, ich
hätte 5 Prozent Lohnerhöhung empfohlen. Diese Äußerung muß Sie während eines Traumes oder sonst irgendwann im Schlaf befallen haben.
({0})
- Sehen Sie, Herr Kollege Repnik, Sie müssen zitieren
und zuhören lernen. Ich kann Ihnen zwar Ihre Vorurteile
nicht nehmen, aber ich lasse mich davon auch nicht beeindrucken. Wenn Sie den Ausspruch von der Bescheidenheit zitieren, der mir oft zugeschrieben wird, dann
wissen Sie, so wie ich Sie kenne, daß das eine Formulierung des Vorsitzenden der IG-Metall ist. Es mag ja sein,
daß Sie sie für falsch halten. Aber es ist schlicht und einfach unredlich, damit gegenüber dem Bundesfinanzminister zu operieren. Da ich in der Regel frei rede, weiß
ich auch, was ich sage. Ich setze auch keine Aufsätze in
die Welt, die andere für mich geschrieben haben. Daher
weiß ich, was da drinsteht.
Im Zusammenhang mit der Lohnpolitik gebrauche ich
immer eine Formel, die Sie ja angreifen können. Diese
steht auch in ungezählten Aufsätzen von mir. Es handelt
sich um die produktivitätsorientierte Lohnpolitik;
manchmal weise ich noch darauf hin, daß die Inflationsrate mit einzubeziehen ist. Ich habe das vorhin wieder
gesagt. Vielleicht machen Sie sich einmal die Mühe, das
nachzulesen.
Außerdem möchte ich Sie noch auf folgenden Sachverhalt hinweisen: Wenn in Gesamteuropa, aber auch in
Deutschland, die Reallohnentwicklung in den letzten
drei Jahren deutlich hinter dem Produktivitätsfortschritt
zurückgeblieben ist, stellt sich natürlich für die Arbeitnehmer die Frage, woher denn die Beschäftigungsgewinne kommen sollen. Da kann es dann manchmal sein,
daß stärkere Lohnforderungen in einem Jahr erhoben
werden, in dem die Prognosen in bezug auf den Produktivitätsfortschritt anders als für die Jahre davor ausfallen.
Das ist aber kein Problem der Bundesregierung. Ich weise nur auf den Zusammenhang hin. Wir haben in dieser
Frage eine klare Haltung: Das Festhalten an einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik steht für uns nicht zur
Debatte. Deshalb möchte ich Sie bitten, an dieser Stelle
der Bundesregierung keine Parolen anzuheften, die von
dieser nicht vertreten werden.
Zum Haushalt haben Sie einige qualifizierende Bemerkungen gemacht. Wenn Sie es lieber anders hätten
- ich habe bisher noch nichts gehört -, dann sagen Sie,
an welcher Stelle. Wenn Sie beispielsweise der Auffassung sind, daß wir die Arbeitsmarktmittel zurückfahren
sollen - es handelt sich um einen Betrag von 6 Milliarden DM -, dann sagen Sie das. Es besteht dann ein Dissens zwischen uns, den wir insbesondere gegenüber den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern rechtfertigen
müssen, die jetzt diese Mittel in Anspruch nehmen.
Wenn Sie beispielsweise meinen, wir sollen das Programm, mit dem 100 000 Jugendlichen eine Lehrstelle
oder ein Arbeitsplatz vermittelt werden soll - das kostet
2 Milliarden DM -, nicht auflegen, dann sagen Sie das.
Dann hätten wir eben in diesem Punkt eine Meinungsverschiedenheit. Wenn Sie glauben, wir sollen die Forschungsmittel nicht aufstocken, dann sagen Sie das.
Dann können wir darüber diskutieren.
Wer allgemein mit irgendwelchen Daten jongliert, aber
nicht sagt, was er will, der hat zumindest in einer Diskussion keine besonders starke Position, Herr Kollege.
({1})
Das möchte ich Ihnen sagen, würde ich aber auch innerparteilich und über Parteigrenzen hinweg sagen.
({2})
Ich kann also Ihrem Beitrag wenig entnehmen.
Das
Wort zu einer Frage hat jetzt der Kollege Brüderle von
der F.D.P.-Fraktion.
Herr Bundesfinanzminister, erstens: Die Stimmung in der Wirtschaft hat sich
ja deutlich verschlechtert. Ich verweise auf die Äußerungen des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks
und auf den Ifo-Konjunkturtest der letzten Tage. Durchgängig ist eine Klimaverschlechterung feststellbar.
({0})
Muß das nicht für die Bundesregierung Anlaß sein, auch
vor dem Hintergrund des Jahreswirtschaftsberichtes und
des selbst eingeräumten Fehlstarts der neuen Regierung,
Konsequenzen zu ziehen, indem sie bei der Steuerreform, deren Ansätze bisher nur andiskutiert wurden, eine
klare Linie verfolgt und keine Verunsicherung entstehen
läßt?
Zweitens. Bei der Entwicklung der Lohnstückkosten
sind zwar Fortschritte und Verbesserungen festzustellen,
wir liegen aber international immer noch zu hoch.
Müßte dies nicht stärker in den Dialog innerhalb des
Bündnisses für Arbeit einbezogen werden? Es hieß ja
zunächst, das sei völlig tabu, und dann, man könne es
vielleicht doch machen. Meines Erachtens kann man
nicht zusammensitzen und über diese Frage nicht reden.
Drittens. Sie haben auch propagiert, daß man die Beschäftigungspolitiken auf europäischer Ebene stärker
synchronisieren solle. Ist es aber, da unbestritten 80 Prozent bis 90 Prozent unserer Problemstellungen struktureller Natur sind und deshalb nur vor Ort gelöst werden
können, nicht eine falsche Erwartung, daß dies auf europäischer Ebene angepackt werden kann?
Letzte Anmerkung. Sie haben angekündigt, daß Sie
die Beteiligungsveräußerung, die Privatisierung von
Unternehmensanteilen fortsetzen werden. Das ist gut so.
Aber ich habe nichts von der Aufgabenprivatisierung
gehört. Auf diesem Feld könnte man gerade mittelständischen Kleinunternehmen neue Chancen eröffnen. Wie
sehen die Vorstellungen zur Aufgabenprivatisierung aus,
die vielleicht auch im Jahreswirtschaftsbericht stehen?
({1})
Damit hätte ich keine Probleme, aber bitte. - Zunächst
zum Handwerk. Es ist richtig, daß sehr kritische Stimmen vom Handwerk kommen. Das können wir nicht bestreiten. Beim Handwerk muß man zunächst einmal auf
die relative Höhe der Lohnkosten hinweisen. Daher haben wir die Initiative ergriffen, die Lohnnebenkosten zu
verringern. Dies ist ein erster Schritt. Wir würden dies
gerne verstärken. Natürlich ist die Belastung aus der
ökologischen Steuerreform dagegenzusetzen. Was Gewinne und Verluste angeht, stellt sich das im Einzelfall
unterschiedlich dar. Aber aus unserer Sicht ist es wichtig, die Lohnnebenkosten zu senken. Dabei betone ich
noch einmal, daß es mit Umfinanzierung alleine nicht
getan ist.
Bezüglich des Handwerks möchte ich Ihnen noch einen wichtigen Hinweis geben. Die Europäische Kommission diskutiert zum ersten Mal die Möglichkeit,
Mehrwertsteuersätze für Dienstleister und Handwerker
gesondert auszuweisen. Diese Neuerung haben Herr
Monti und Herr Santer in der letzten Ecofin-Beratung
vorgestellt. Ich will Ihnen aber auch gleich die Summe
nennen: Etwa 36 Milliarden DM würde das für
Deutschland ausmachen, würden wir diesen Weg gehen.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Maastricht-Restriktionen und die Bestimmungen des Bundeshaushaltes. Wer sagt, diese Summe sollten wir sparen, den bitte ich um Hinweise, wo. Ich bin immer
dankbar für Hinweise. Leider habe ich nicht sehr viele
bekommen.
({0})
- Das ist auch einer, der immer vom Sparen redet, sich
aber dann nicht die Mühe macht, zu sagen, wo gespart
werden soll. Dies ist eine weit verbreitete Krankheit.
Nun zum Ifo-Konjunkturtest. Auch dies ist nicht bestreitbar. Aber im Jahreswirtschaftsbericht können Sie
nachlesen - das sage ich zur Versachlichung der Debatte -, daß das Abknicken im Ifo-Konjunkturtest auf
das Frühjahr letzten Jahres zurückgeht. Insofern können
Sie sich die Debatte des letzten Jahres in Erinnerung rufen.
Wir können das gar nicht bestreiten: Wenn Sie, Herr
Kollege Brüderle, mit den beiden Fragen intendieren,
daß man hier einiges tun muß, um die Dinge zu verbessern, so ist dies völlig richtig. Ich komme gleich noch
auf einzelne Punkte zurück.
Nun zu den Lohnstückkosten. Sie haben - das ist für
die Versachlichung der Debatte wichtig - dankenswerBundesminister Oskar Lafontaine
terweise darauf hingewiesen, daß sie bei uns zurückgegangen sind. Verglichen mit Italien, Großbritannien,
Frankreich und den Vereinigten Staaten und dem europäischen Durchschnitt sind wir in den letzten drei Jahren
das einzige Großindustrieland gewesen, in dem sie gesunken sind. Wenn Sie sagen, in anderen Ländern seien
sie stärker gesunken, so gilt das nur für Holland. - Im
Euroraum, wohlgemerkt. - Das sind die Zahlen, die ich
im Kopf habe.
Was Holland angeht, möchte ich darauf hinweisen,
daß sich ein Land mit einem Exportanteil von etwa 55
Prozent in der Lohnpolitik, auch was die Lohnstückkostenentwicklung angeht, anders bewegen kann als ein
Land, das so wie wir einen Exportanteil von etwa 25
Prozent aufweist. Bei einer solchen Verteilung gilt, daß
Sie bei einem starken Forcieren der Senkung der Lohnstückkosten zwar beim Export gewinnen, aber im Binnenmarkt in einem gewissen Umfange verlieren müssen.
Wir können das nicht zu Ende diskutieren. Insofern bin
ich der Auffassung, daß diese Strategie einer forcierten
Lohnstückkostensenkung, wie sie ein so kleines exportorientiertes Land wie Holland betrieben hat, für die
deutsche Volkswirtschaft nicht zur Verfügung steht und
daß diese Strategie insbesondere europäisch äußerst
problematisch wäre.
Sie haben auch gesagt, 80 Prozent bis 90 Prozent der
Arbeitsmarktprobleme seien strukturell bedingt.
({1})
- Wirtschaftsprobleme. Sie haben gesagt, 80 Prozent bis
90 Prozent seien strukturell bedingt. Ich spreche in diesem Zusammenhang auch die Arbeitsmarktprobleme an.
Diese Debatte führen wir seit fast 20 Jahren. Es gibt
auch andere Untersuchungen, so etwa des Ifo-Instituts in
München. Ich spreche dieses Institut an, damit es nicht
heißt, ich orientierte mich ökonomisch nur an einer Seite. Dieses Institut hat einen konjunkturellen Anteil von
40 bis 45 Prozent ausgemacht, also nicht einen strukturellen Anteil in dieser Größenordnung. Dieser Streit
zieht sich durch die gesamte Wirtschaftspolitik.
Wir brauchen den Streit aber gar nicht zu vertiefen.
Im Dialog mit einem anderen Partner haben wir gesagt:
Selbst wenn es nur 10 oder 20 Prozent wären, die konjunkturell zu steuern sind, wären wir verpflichtet, das zu
tun. Bei uns geht es dabei um immerhin 400 000 bis
800 000 Arbeitsplätze. Insofern brauchen wir uns darüber gar nicht großartig zu streiten.
Das heißt nicht, daß wir keine strukturellen Reformen
machen wollen. Die Frage ist nur, ob Sie bei ökologischen Strukturreformen mitgehen und in welcher Form
der Niedriglohnbereich strukturell neugeordnet werden
muß, wobei ich darauf hinweise, daß die jetzige Novelle
nicht das Ende der Diskussion sein kann. Der Niedriglohnbereich bei uns muß in größerem Umfang neugeordnet werden. Der Bundeskanzler hat dies bereits angedeutet. Aber das läßt sich nicht alles innerhalb von
zwei Monaten realisieren.
Zu den Privatisierungsaufgaben: Was die großen Gesellschaften angeht - dazu haben Sie sich in kleinerem
Umfang geäußert -, bräuchte man eine größere Debatte.
Im Zusammenhang mit der Flexibilität der Gütermärkte
beispielsweise verweise ich auf einen Bereich unseres
Dienstleistungsangebotes, in dem wir normierte Preise
haben. Ich will das nicht vertiefen, aber dort würde ich
eine größere Flexibilität begrüßen. Wenn man versucht,
staatliche Aufgaben zu übertragen, gibt es immer kontroverse Meinungen. Ich meine, daß jetzt im Detail diskutiert werden muß, was die Übertragung kleinerer Aufgaben angeht.
Was die großen Gesellschaften angeht, ist unsere Politik klar, aber bei den Privatisierungen sogenannter
kleinerer Staatsaufgaben müssen wir in einen Dialog
eintreten. Ich stehe dem nicht ablehnend gegenüber. Ich
habe aber schon bei meiner politischen Arbeit in der
Gemeinde die Erfahrung gemacht, daß dann, wenn wir
das gemacht haben, etwa im Versicherungsbereich, quer
durch alle Parteien Widerspruch kam. Also lassen Sie
uns das im Detail diskutieren.
Es verbleiben nur noch wenige Minuten. Deswegen bitte ich
jetzt um kurze Fragen und kurze Antworten.
({0})
Die nächste Frage hat Herr Kollege Fuchtel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Ich komme
zurück auf Ihre Eingangsbemerkung zum Arbeitsmarkt,
Herr Minister. Sie haben verkündet, daß es im nächsten
Jahr im Durchschnitt 150 000 Arbeitslose weniger auf
dem Arbeitsmarkt geben wird. Das ist nichts Neues; das
hätten wir auch unter der Regierung Kohl gehabt. Aber
was hier interessiert und der Öffentlichkeit gesagt werden sollte: Sie pumpen jetzt, wie Sie sagen, 6 Milliarden
DM - wenn Sie den Rückgang um 150 000 Arbeitslose
dazurechnen, sind es insgesamt 10,5 Milliarden DM für Ihre sogenannte aktive Arbeitsmarktpolitik in diesen
Bereich. Wieviel Arbeitslose weniger wird es auf Grund
dieser Maßnahme geben?
Es
kommt darauf an, wie diese Mittel eingesetzt werden.
({0})
- Moment! Ich will hier den Unterschied deutlich machen. Wir halten nichts davon, die Arbeitsmarktmittel
entsprechend der Wahldaten hoch- und runterzufahren.
Das haben wir vor den Wahlen versprochen. Deshalb
haben wir direkt nach Regierungsantritt gesagt: Bei auf Grund Ihrer Entscheidungen - auslaufenden Verträgen wird jetzt die Möglichkeit eröffnet, diese zu verlängern. Aber im einzelnen müssen das die Arbeitsverwaltungen vor Ort aushandeln, denn wir glauben, daß eine
gewisse Dezentralisierung der Entscheidungen hier
durchaus vernünftig ist.
Ich möchte zu den Arbeitsmarktmitteln grundsätzlich
sagen, daß es nicht die Absicht der Bundesregierung ist,
es dabei zu belassen, lediglich den zweiten Arbeitsmarkt
zu finanzieren. Wir brauchen hier Strukturreformen.
Daher ist im Bericht der Bundesregierung ausdrücklich
auf die englische und auf die skandinavische Praxis
verwiesen, wo es in stärkerer Form als bisher darum
geht, eine Struktur der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
zu schaffen, die tatsächlich eine stärkere Verpflichtungskomponente beinhaltet, um den Übergang in den
ersten Arbeitsmarkt zu gewährleisten.
Die genauen Zahlen liegen mir jetzt nicht vor. Wir
werden sie aber gerne nachliefern, wenn Sie dies wünschen. Die Arbeitsverwaltungen können die von Ihnen
vorgeschlagenen Maßnahmen auf Beschäftigungsverhältnisse umrechnen.
Als
nächster Fragesteller hat der Kollege Friedhoff von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Ich habe eine Frage zu
den neuen Bundesländern, Herr Finanzminister. Ist es erstens so, daß Sie das, was Sie hier niedergeschrieben haben, als Konzeption für die neuen Bundesländer ansehen?
Können Sie zweitens vielleicht kurz die Schwerpunkte
erläutern, die anders sind als in der Vergangenheit? Das
würde mich sehr interessieren. Wo würde sich dieses
möglicherweise im Bundeshaushalt niederschlagen?
Zunächst einmal ist im Saldo festgestellt worden, daß
der Bundeshaushalt für die neuen Länder etwa 100 Milliarden DM ausweist; da sind alle Haushalte mit eingerechnet. Das ist eine deutliche Steigerung von etwa
8 Milliarden DM. Da sind eine ganze Reihe von Maßnahmen zusammengerechnet.
Erstens zur Methode. Beginnen wir zunächst noch
einmal bei der Lohnpolitik. Bei dieser Frage kann ich,
soweit ich das recht in Erinnerung habe, Ihrer Partei
keine größeren Vorwürfe machen. Die Plakate: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, prangten in Berlin schon
im Jahre 1990 an den Wänden. Das geht teilweise auch
weiter. Wer also den Menschen in den neuen Ländern
ohne Betrachtung der Produktivität und des Beschäftigungsstandes pro Kopf der Bevölkerung - ich mache
darauf aufmerksam, daß der Beschäftigungsstand pro
Kopf der Bevölkerung dort teilweise höher ist als im
Westen - sagt: Ihr habt innerhalb kürzester Frist auch
die Westlöhne, der gibt völlig falsche Ratschläge. Das
möchte die neue Regierung nicht tun.
Deshalb halte ich es für sinnvoll, den Beschäftigungsstand pro Kopf der Bevölkerung immer in unsere Debatte mit einzubeziehen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an eine Aussage des ehemaligen Mitglieds des
Sachverständigenrates, Pohl, der erklärt hat: Wer sagt
„Westlöhne sofort“, der muß auch sagen: Beschäftigungsstand wie im Westen. Und dann kommt man
gleich in eine Konfliktsituation.
Ich nehme also in Anspruch, daß wir differenzierter
und wahrhaftiger vorgehen und solche Versprechungen,
die ich vorhin markiert habe und die immer noch gemacht werden, nicht in die Welt setzen.
Zweitens. Wir haben gesagt, wir machen etwas gegen
die Jugendarbeitslosigkeit. Das will ich nicht noch einmal wiederholen. Wir haben dort auch im Detail einen
Schwerpunkt im Osten gesetzt.
Drittens. Auch bei den Arbeitsmarktmitteln ist ein
Schwerpunkt im Osten gesetzt. Das brauche ich ebenfalls nicht zu wiederholen. Das ergibt sich aus der Sache.
Viertens haben wir gesagt: Wir konzentrieren die
Mittel, die wir ausweisen, auf die gewerbliche Produktion. Im Jahreswirtschaftsbericht können Sie nachlesen,
daß die gewerbliche Produktion den Produktivitätsrückstand mittlerweile aufgeholt hat. Das war beim Baugewerbe schon seit einiger Zeit der Fall und ist jetzt auch
bei der übrigen gewerblichen Produktion so. Aber die
gewerbliche Produktion insgesamt hat noch nicht die
breite Basis wie im Westen und muß deshalb weiter
ausgebaut werden. An dieser Stelle wollen wir auch die
Förderwege konzentrieren.
Das sind die vier Antworten, die ich kurzfristig geben
möchte. Wenn ich lediglich darauf hinweisen würde,
daß selbst bei Kultur und Sport gewisse Akzente gesetzt
werden, würden Sie das nicht unbedingt als direkt zufriedenstellend ansehen. Aber diese vier Antworten sind,
glaube ich, auch von der Summe her nachvollziehbar.
Ich habe erklärt: Wir werden die Mittel verstetigen. Wir
haben nicht die Aussage gemacht: Wir werden gewaltig
aufstocken. Das ist zu belegen; ich habe Ihnen die Zahlen genannt.
Darf ich noch etwas fragen?
Nein,
ich muß jetzt leider zum Ende kommen.
Ich beende den Themenbereich der heutigen Kabinettssitzung. Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen? Das ist nicht der Fall. Dann beende ich die Befragung der
Bundesregierung. Vielen Dank, Herr Bundesminister.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 14/306 Zunächst kommen wir zum Geschäftsbereich des
Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Die Frage 1 wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur
Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Gerald Thalheim zur Verfügung.
Als erstes wird die Frage 2 der Abgeordneten Ulrike
Flach beantwortet.
Kann die Bundesregierung die Angaben des Bundes für
Umwelt und Naturschutz ({0}) über die deutliche Steigerung
des Anteils der kranken Waldbäume ({1}) bestätigen, und welche
Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung zur Verbesserung des
Waldzustandes zu ergreifen?
Sehr geehrte Kollegin Flach, die aktuellen Ergebnisse der Waldschadenserhebung 1998 deuten im Vergleich zum Vorjahr auf einen leichten Aufwärtstrend bei
der Waldgesundheit hin. Allerdings verläuft die Entwicklung nicht einheitlich. Zuverlässigere Aussagen erlaubt allerdings eine Betrachtung der langjährigen Zeitreihe. Spürbar zurückgegangen sind die sogenannten
deutlichen Schäden von 30 Prozent 1991 auf einen Anteil von 21 Prozent 1998. Nach den Auswertungen der
Waldschadenserhebung 1998 nehmen bei der Kiefer die
deutlichen Schäden seit 1991 kontinuierlich ab. Kiefern
haben unter allen Baumarten den niedrigsten Anteil geschädigter Bäume.
Aufwärts geht es langsam auch bei der Eiche. Nachdem die Schäden bis 1995 noch angestiegen waren, stagnierte zunächst 1996 und 1997 der Anteil kranker
Bäume. In diesem Jahr konnte eine auffallende Bestandserholung registriert werden. Der Kronenzustand
der Buchen hatte sich zwischen 1990 und 1992 erheblich verschlechtert. Seitdem werden keine zusätzlichen
Schäden mehr beobachtet. Buche und Eiche sind aber
nach wie vor die am stärksten geschädigten Baumarten.
Bei Fichten dünnen die Baumkronen seit zwei Jahren
wieder etwas stärker aus.
Die Angaben des BUND zum Waldzustand können
insofern nicht bestätigt werden. Die unterschiedlichen
Aussagen zum Waldzustand sind wie folgt zu begründen: Der Bericht des Bundesernährungsministeriums
über den Zustand des Waldes 1998 beruht in diesem
Jahr erstmals auf einer länderübergreifenden Auswertung im sogenannten 16-mal-16-km-Erhebungsnetz.
Auf dieser Basis berichtet auch die Europäische Union
über den Waldzustand in Europa. In früheren Jahren
waren die Ergebnisse der Bundesländer flächengewichtet zu einem Bundesergebnis zusammengeführt
worden. Mit der Umstellung wird eine weitere, überfällige Angleichung an die europäische Ebene durchgeführt.
Die Umstellung ermöglicht sichere Aussagen zu Veränderungen des Waldzustandes, da immer dieselben
Bäume verrechnet werden. In früheren Berichten änderte
sich die Baumbestandszahl wegen wechselnder Erhebungsdichten in den Ländern stark. Damit die Vergleichbarkeit mit den Ergebnissen früherer Jahre gewährleistet ist, wurden diese nach der 1998 angewandten Methode neu berechnet. Der BUND aber hat bei seiner Darstellung des Waldzustandes die BML-Ergebnisse
1998 mit den für die vergangenen Jahre bereits veröffentlichten Zahlen aus dem Waldzustandsbericht 1997
verglichen. Auf diesen methodischen Bruch hat der
BUND allerdings nicht hingewiesen.
Weiterhin unterscheidet der BUND im Gegensatz
zum BML nicht zwischen Bäumen der Warnstufe, also
Bäumen mit einer Kronenverlichtung von über 10 Prozent bis 25 Prozent, und denen der Schadstufen 2 bis 4,
also Bäumen mit einer Kronenverlichtung von über 25
Prozent. Die sogenannte Warnstufe umfaßt Bäume, deren Kronenverlichtung sich noch in einem natürlichen
Schwankungsbereich befindet und die daher nicht zu
den geschädigten Bäumen gezählt werden. Dies geht auf
eine Empfehlung im 3. Bericht des Forschungsbeirates
Waldschäden aus dem Jahre 1989 zurück. Die Zusammenfassung der beiden Schadstufen durch den BUND
führt zu dem hohen Schadniveau, wie es in der Frage
genannt wird.
Zusatzfrage? - Bitte schön.
Gehen Sie davon aus, daß der
BUND in Zukunft Ihrem Berechnungsmodus folgen
wird? Oder müssen wir damit rechnen, daß auch in Zukunft ganz unterschiedlich argumentiert wird und damit
ganz bewußt eine gewisse Verunsicherung in der Bevölkerung hervorgerufen wird?
Verehrte Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam
machen, daß es sich nicht um unsere Berechnung handelt. Es handelt sich vielmehr um eine Berechnung gemäß einer EU-Verordnung -, um die Ergebnisse hinsichtlich der Schadensbelastungen der Wälder in Europa
am Ende vergleichen zu können.
Natürlich kann ich Sie in Ihrer Meinung nur unterstützen, daß es hilfreich wäre, wenn der BUND die gleiche Berechnungsmethode anwenden würde, damit am
Ende die Ergebnisse vergleichbar sind.
Zweite
Zusatzfrage, bitte schön.
Sehen Sie, ähnlich wie die
Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, ein großes Problem in der Versauerung der Böden? Welche Maßnahmen von Ihrer Seite her sehen Sie in diesem Bereich
vor?
Die sogenannten neuen Waldschäden haben eine
ganze Reihe von Ursachen. Eine Ursache ist natürlich
die Versauerung der Böden. Die Versauerung - das muß
man an dieser Stelle ganz offen sagen - ist die Folge von
jahrzehntelangen Emissionen, vor allen Dingen eine
Folge von Stickstoffemissionen. Die Maßnahmen, die
Versauerung zu beseitigen - zum Beispiel die Kalkung
des Waldes -, werden auch in Zukunft in erheblichem
Umfang durchgeführt. Wir hoffen, daß die Waldschäden
dadurch Stück für Stück zurückgehen. Der Bericht sagt
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ja aus, daß an dieser Stelle am Ende gewisse Erfolge erzielt werden.
Auf den Punkt gebracht: Auf diesem Gebiet wird
weitergearbeitet. Aber die lange Zeit, innerhalb deren
die Schäden entstanden sind, werden wir auch brauchen,
um diese Schäden zurückzuführen.
({0})
Sie haben nur das Recht auf zwei Zusatzfragen, Frau Kollegin.
({0})
Gibt es weitere Fragen von anderen Kollegen? - Das
ist nicht der Fall. Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Gila Altmann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Walter Hirche auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Betriebsratsvorsitzenden des Kernkraftwerks Stade, daß das KKW Stade
,,sicher und betriebswirtschaftlich erfolgreich“ arbeitet und sich
,,jederzeit mit modernen Anlagen vergleichen“ kann, und hält
die Bundesregierung seine Bewertung des angestrebten Ausstiegs aus der Atomenergie als ,,Arbeitsplatzvernichtung“ für
nachvollziehbar?
Die Bundesregierung teilt nicht die hier angesprochene Auffassung des Betriebsratsvorsitzenden des
Atomkraftwerkes Stade. Auch ist die Bundesregierung
der Ansicht, daß die Bewertung des angestrebten Ausstiegs als „Arbeitsplatzvernichtung“ nicht haltbar ist.
Ihre Zusatzfrage, Herr Kollege Hirche.
Frau Staatssekretärin, wie
wollen Sie denn angesichts der vorgesehenen Politik des
Plattmachens von Arbeitsplätzen eine Kompensation in
der Region ermöglichen?
Die Bundesregierung hat in Anerkennung des
Wählerwillens den Ausstieg beschlossen und wird deshalb die gesetzlichen Verfahren dazu einleiten. Die Befürchtungen des Betriebsrates des Atomkraftwerkes
Stade und auch anderer Betriebsräte deutscher Atomkraftwerke in diesem Zusammenhang sind der Bundesregierung bekannt.
Was die Arbeitsplätze in Stade angeht, ist grundsätzlich zu sagen: Durch den Ausstieg aus der Atomenergie
und die Förderung regenerativer Energien, durch Verbesserung der Energieeffizienz und Maßnahmen zur
Energieeinsparung werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Alle relevanten Studien errechnen angesichts des
Ausstiegs aus der Atomenergie einen Zuwachs an Arbeitsplätzen. Der Vorwurf der Arbeitsplatzvernichtung
ist deshalb grundsätzlich nicht haltbar.
Zu Stade kann ich Ihnen sagen, daß im Rahmen der
Stillegung des Atomkraftwerkes seit Jahren als Ersatz
ein modernes Gas-Dampf-Turbinenkraftwerk mit hoher
Energieeffizienz in Planung ist, das vor Ort einen großen
Teil der langfristig wegfallenden Arbeitsplätze kompensieren könnte. Die letzte Diskussion dazu hat es 1997
gegeben. Damals war dieses Gaskraftwerk von der Dow
Chemical zusammen mit einem amerikanischen Investor
geplant. Aus Sicht der Bundesregierung empfiehlt es
sich, in Anknüpfung an die bereits seit Beginn der 90er
Jahre geführte Diskussion die Planung wieder aufzugreifen, einschließlich der Ansiedlung neuer Betriebe.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Hirche.
Habe ich Sie richtig verstanden, Frau Staatssekretärin, daß aus Ihrer Sicht weder
sicherheitstechnische noch betriebswirtschaftliche, noch
volkswirtschaftliche Belange im Zusammenhang mit der
Schließung von Kernkraftwerken eine Rolle spielen,
obwohl die Interpretation der Öffentlichkeit hinsichtlich
der Entscheidungen des Bundeskanzlers in diesen Tagen
eine völlig andere ist? Welche Meinung gilt? Bleiben
Sie bei Ihrer Meinung im Unterschied zu dem, was in
den Begründungen des Bundeskanzlers durchgeschienen
ist?
Herr Hirche, ich habe meinen vorherigen Ausführungen nichts hinzuzufügen.
({0})
Eine
weitere Frage des Kollegen Koppelin.
Frau Staatssekretärin,
gibt es bereits Termine von Ihnen persönlich, bei denen
Sie den Betriebsräten und den Mitarbeitern des Kernkraftwerkes Stade die Auffassung darlegen wollen, die
Sie hier soeben gegenüber dem Kollegen Hirche vertreten haben?
Herr Koppelin, ich kann den Zusammenhang mit
der Frage 3 nicht erkennen.
({0})
Es wurde in dieser Frage
nach der Auffassung des Betriebsrates gefragt. Sie haben dazu eine bestimmte Stellungnahme abgegeben, und
ich habe gefragt, wann Sie dem Betriebsrat diese
Auffassung, die Sie hier dargelegt haben, persönlich
überbringen werden. Der Zusammenhang ist wohl klar,
Frau Staatssekretärin.
Bitte,
Frau Staatssekretärin, Ihre Beantwortung.
Es steht Ihnen natürlich frei, sich in meinem Büro
meinen Terminplan zur Kenntnis geben zu lassen.
({0})
Nichtsdestotrotz sehe ich noch immer keinen Zusammenhang mit der ursprünglichen Frage.
({1})
Gibt es
weitere Fragen zu diesem Punkt? - Das ist nicht der
Fall.
({0})
Wir kommen dann zur Frage 4 des Abgeordneten Dr.
Jürgen Gehb:
Wie schätzt die Bundesregierung die Dauer der behördlichen
Genehmigungsverfahren für und der sich regelmäßig anschließenden verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren gegen die Errichtung und den Betrieb von Zwischenlagern für abgebrannte
Brennelemente am jeweiligen Standort deutscher Kernkraftwerke ein?
Die Genehmigungsverfahren nach § 6 oder § 7
Atomgesetz zur Aufbewahrung von abgebrannten
Brennelementen können nach Einschätzung der Bundesregierung innerhalb von ein bis drei Jahren durchgeführt
werden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Gehb.
Nach dieser erschöpfenden Antwort stelle ich meine erste Zusatzfrage. Ich
habe heute in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen, daß
die Kollegin Heyne nicht damit leben könnte, wenn die
Verfahren vier bis fünf Jahre dauerten. Nun kenne ich
mich aus meiner Tätigkeit als Richter am Hessischen
Verwaltungsgerichtshof bei den Verfahrensdauern sehr
gut aus, und ich stelle erneut die Frage: Was passiert,
wenn alle Träger öffentlicher Belange - vom Ornithologischen Verband bis hin zum Verband zur Rettung der
Kreuzspinne - angehört und mehr als ein Jahr oder drei
Jahre ins Land gegangen sind? Heißt das, daß Sie dann
nach derselben Strategie vorgehen wie jetzt, also die Gefahr in Kauf nehmen, daß die Wiederaufbereitung verboten wird, aber alternative Zwischenlagerungsmöglichkeiten nicht bestehen?
Die Antwort bezieht sich auf den grundsätzlichen
Verfahrensablauf, der auf Erfahrungswerten der Bundesregierung beruht. Die Abwicklung der Genehmigungsverfahren ist zum einen davon abhängig, ob der Antragsteller vollständige Unterlagen eingereicht hat, und zum
anderen davon, ob zum Beispiel die Behälter, deren
Zwischenlagerung beantragt wird, geeignet sind. Für
den Fall, daß das unwiderruflich feststeht, geht man von
einer Verfahrensdauer von ein bis drei Jahren aus.
Da das Thema Streitverfahren die nächste Frage betrifft, wäre meine Frage, ob ich die Antwort darauf mit
einbeziehen kann.
Herr
Kollege Gehb, es könnte gleich die nächste Frage beantwortet werden, und Sie könnten anschließend Zusatzfragen stellen.
Gerne.
Wir
kommen also zur Frage 5 des Abgeordneten Dr. Gehb:
Sieht die Bundesregierung die Gefahr und nimmt sie diese
billigend in Kauf, daß nach einem Ausstieg aus der Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente im Ausland die beabsichtigte Zwischenlagerung des ,,Atommülls“ am Standort der
jeweiligen deutschen Kernkraftwerke durch die zu erwartende
Dauer der behördlichen Genehmigungsverfahren und der sich
regelmäßig anschließenden verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren faktisch verhindert und damit der vorzeitige Ausstieg aus
der friedlichen Nutzung der Kernenergie herbeigeführt wird?
Frau Staatssekretärin, bitte schön.
Die Bundesregierung strebt die geordnete Beendigung der Nutzung der Atomenergie an. Sie sieht in diesem Kontext weder die Gefahr noch würde sie billigend
in Kauf nehmen, daß sich nach einem Ausstieg aus der
Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente im
Ausland durch die Dauer der behördlichen Genehmigungsverfahren und der sich möglicherweise daran anschließenden Streitverfahren eine vorzeitige Stillegung
von Atomkraftwerken ergeben würde.
Herr
Gehb, bitte schön.
Frau Staatssekretärin,
sind Ihnen Fälle bekannt, in denen rotgrüne Landesregierungen bei von ihnen selbst erteilten Genehmigungsbescheiden in Verwaltungsstreitverfahren nicht nur keinen
Klageabweisungsantrag gestellt haben, sondern nachgerade das klägerische Petitum gestreichelt haben?
Diese Frage muß ich in diesem Zusammenhang mit
Nein beantworten, weil Sie sich nicht direkt auf die Frage beziehen. Aber ich würde Ihnen die Antwort gerne
schriftlich nachreichen.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Kollege Gehb. Herr Kollege Gehb hat
insgesamt vier Zusatzfragen, weil er zwei Fragen gestellt hat.
Können Sie sich für
den Fall, daß so etwas in einem Verwaltungsstreitverfahren wieder passierte, daß also das beklagte Land den
eigenen Bescheid aus durchsichtigen Gründen nicht unterstützt, vorstellen, daß Sie den zuständigen Landesatombehörden durch bundesaufsichtliche Weisung mit
auf den Weg geben, wie sie sich im Verwaltungsstreitverfahren einzulassen haben?
Herr Kollege, ich möchte Sie zum einen darauf
hinweisen, daß konkrete gesetzliche Regelungen in den
derzeit laufenden Konsensgesprächen erarbeitet werden,
denen ich nicht vorgreifen möchte. Zum anderen wären
solche Einzelfälle dann auch in Einzelverfahren zu regeln.
Gibt es
weitere Fragen? - Bitte schön, Kollege Hinsken.
Frau Staatssekretärin
Altmann, sind Sie sich bewußt, daß Sie mit Ihrer Kernenergiepolitik viele Mitbürger verunsichern und insbesondere im Tourismusbereich bleibende Schäden verursachen? Das beziehe ich darauf, daß zwischenzeitlich
zum Beispiel Fremdenverkehrsorte wie Saldenburg als
Standorte für Endlagerungsstätten genannt werden.
Weiter möchte ich fragen: Wie wollen Sie diesem Problem begegnen?
Auch bezüglich dieser Frage möchte ich Sie bitten,
die Konsensgespräche abzuwarten. Es ist verfrüht, jetzt
dazu Stellung zu nehmen. Ich bitte um Verständnis.
Eine
weitere Frage des Kollegen Hinsken.
Man muß warten, bis
das Mikrophon Strom bekommt. Wir brauchen ja Strom.
({0})
Er kommt ja nicht aus der Steckdose; deshalb meine
Nachfrage.
Frau Kollegin Altmann, ich möchte Sie nochmals
fragen: Können Sie definitiv ausschließen, daß Saldenburg als Standort einer Endlagerstätte für abgebrannte
Kernbrennelemente in Frage kommt?
({1})
Herr Kollege, ich muß leider darauf verweisen, daß
das nicht Gegenstand der ursprünglichen Frage ist. Sie
können das gern als schriftliche Frage einreichen.
Weitere
Fragen? - Kollege Kubatschka.
Frau Kollegin Altmann,
können Sie bestätigen, daß der Standort Saldenburger
Granit durch die alte Bundesregierung und nicht durch
die jetzige ins Gespräch gebracht wurde?
Ich vermag mich dunkel daran zu erinnern.
({0})
Gibt es
weitere Fragen? - Das ist nicht der Fall. Ich bedanke
mich bei Ihnen, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes auf. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister
Dr. Ludger Volmer zur Verfügung.
({0})
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Cornelia Pieper auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkung der
Nichtauslieferung von Abdullah Öcalan auf die demokratischen
Kräfte innerhalb der Kurden?
Herr Staatsminister, bitte schön.
Die Auswirkung der Nichtauslieferung bzw. der
Ausreise aus Italien von Abdullah Öcalan, dem Vorsitzenden der in Deutschland als terroristische Organisation verbotenen PKK, auf die Kräfteverhältnisse zwischen
verschiedenen kurdischen Gruppen kann zu diesem
Zeitpunkt von der Bundesregierung noch nicht abschließend beurteilt werden.
Frau
Kollegin Pieper, keine Zusatzfrage? - Gibt es weitere
Fragen? - Das ist nicht der Fall.
Ich rufe jetzt die Frage 7 des Kollegen Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig auf:
Welche Fortschritte sind bei dem von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, angekündigten Unterfangen erreicht worden, Abdullah Öcalan vor ein internationales Gericht zu stellen, oder
sind die Überlegungen hierzu auf Grund der Ausreise von Abdullah Öcalan aus Italien eingestellt worden?
Die Bundesregierung hat in den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages ausführlich die
Möglichkeiten und Probleme dargelegt, die mit den verschiedenen Modellen für die Schaffung eines internationalen Gerichts für ein Strafverfahren gegen Öcalan verbunden sind. Die Tatsache, daß Herr Öcalan Italien nun
verlassen hat, ist für uns kein Grund, von diesen Bemühungen abzulassen. Allerdings ist die Lösung des Problems durch seine Abreise nicht leichter geworden.
({0})
Eine Zusatzfrage, Kollege Schmidt-Jortzig.
Ich schicke
voraus, daß die Bundesregierung eben nicht alle Gelegenheiten wahrgenommen hat, die Parlamentarier in den
Ausschüssen zu unterrichten - im Innenausschuß ist das
jedenfalls bisher verweigert worden - , und frage, ob es
denn überhaupt solche Anstrengungen gegeben hat.
Es hat auf der internationalen Ebene intensive Anstrengungen gegeben, mit all den Ländern, die in diesen
Fall involviert waren, zu einer internationalen Lösung zu
kommen. Das setzt allerdings den Kooperationswillen
der beteiligten Länder voraus. Er war leider nicht gegeben.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Schmidt-Jortzig.
Wenn ich
davon ausgehe, daß es ein Ad-hoc-Gerichtshof hätte sein
müssen und der UN-Sicherheitsrat dafür zuständig gewesen wäre, möchte ich fragen: Mit welchem Sicherheitsratsmitglied sind denn Gespräche geführt worden?
({0})
Es sind mit all den Ländern Gespräche geführt
worden, die von Öcalan, seiner Ausreise oder den Anklagen gegen ihn unmittelbar betroffen waren. Einbezogen waren auch die USA, obwohl sie in dem von mir
genannten unmittelbaren Sinne nicht betroffen waren.
Ich kann nur wiederholen, was ich gerade sagte, nämlich
daß es bei anderen Ländern an der Bereitschaft mangelte, zu einer Übereinstimmung in bezug auf ein internationales Verfahren zu kommen.
Zu einer
weiteren Frage die Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Staatsminister, man mag zu
Herrn Öcalan stehen, wie man will. Aber nach Italien zu
gehen war ein Versuch, den friedlichen Dialog nach
Westeuropa zu tragen.
Wie wird sich die Bundesregierung jetzt verhalten,
nachdem Herr Öcalan nicht mehr in Italien ist? Wird es
eine Konzeption geben, was den Frieden im Zusammenhang Türkei, Kurdistan angeht?
Die Beurteilung der Politik von Herrn Öcalan, die
Sie gerade dargelegt haben, teilt die Bundesregierung
nicht.
Die Bundesregierung wird sicherlich mit der türkischen Regierung und mit allen anderen europäischen
Regierungen darüber einen intensiven Dialog führen,
wie erstens die Türkei langsam an die Europäische
Union herangeführt werden kann und wie zweitens die
Türkei in diesem Zuge die Menschenrechtssituation in
ihrem Land verbessern kann.
Zu einer
weiteren Frage der Kollege van Essen.
Herr Staatsminister, welche Logik steckt hinter der Politik der Bundesregierung,
zunächst sehr frühzeitig auf eine endgültige Auslieferung Öcalans aus Italien zu verzichten und nunmehr für
ein internationales Gericht zu plädieren, das seiner habhaft werden und ihn verurteilen soll?
Die Bundesregierung hat nicht endgültig auf die
Auslieferung verzichtet. Sie hat das Auslieferungsbegehren zurückgestellt, um zu einer internationalen Einigung zu kommen.
Die Lage ist durch die Ausreise von Herrn Öcalan
eher noch komplizierter geworden.
Gibt es
weitere Fragen? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich Frage 8 des Kollegen Dr. Max Stadler
auf:
Hat die Bundesregierung nähere Erkenntnisse, um welchen
Verdachtssachverhalt es sich bei dem von Staatsminister Günter
Verheugen am 20. Januar 1999 im Fernsehsender „Phoenix“ angedeuteten EU-Korruptionsfall unter angeblicher Beteiligung
einer deutschen Landesregierung handelt?
Bitte, Herr Staatsminister.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Mit Ihrer Zustimmung, Herr Stadler, würde ich
Ihre beiden Fragen zusammen beantworten, weil sie in
einem unmittelbaren Zusammenhang stehen.
Bitte.
Dann
rufe ich auch die Frage 9 des Kollegen Dr. Stadler auf:
Auf welche Landesregierung hat sich die Äußerung von
Herrn Staatsminister Günter Verheugen bezogen?
Staatsminister Verheugen hat am 20. Januar 1999
im Fernsehsender „Phoenix“ darauf hingewiesen, daß
80 Prozent der Mittel, über die die Kommission verfügt,
in den Mitgliedstaaten ausgegeben werden und daß deshalb der ganz überwiegende Teil der jetzt untersuchten
Betrugs- und Korruptionsfälle zwangsläufig auch in die
Verantwortung der Mitgliedstaaten fällt.
Der in diesem Zusammenhang erwähnte Personalfall
- damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage - steht in
keinerlei Zusammenhang mit den Korruptionsvorwürfen. Ob sich dieser Fall tatsächlich finanziell zum
Nachteil der Steuerzahler auswirken wird, ist Gegenstand einer eingehenden Überprüfung.
Da es sich um einen Personalfall handelt, kann die
Bundesregierung keine näheren Angaben machen.
({0})
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Stadler.
Herr Staatsminister, Sie
haben Frage 9, um welche Landesregierung es sich handelt, noch nicht beantwortet. Ich bitte um die Beantwortung auch dieser Frage.
Mein Kollege Verheugen hatte nicht die Absicht
- dies hat er auch nicht getan -, eine bestimmte Landesregierung zu beschuldigen oder in Mißkredit zu bringen.
Er hat vielmehr darauf hingewiesen, daß all die Fälle,
die vom Europäischen Parlament beklagt worden sind,
nicht nur die Kommission im engeren Sinne betreffen,
sondern auch die gesamte Beamtenschaft, für deren Entsendung Mitgliedstaaten und, was die Bundesrepublik
angeht, einzelne Länder mitverantwortlich sind. Ein
spezifisches Land ist nicht gemeint.
Eine Zusatzfrage, Herr Stadler.
Es ist schwer nachzuvollziehen, daß, wenn man von einem bestimmten Land
spricht, kein spezifisches Land gemeint sein soll. Deswegen frage ich Sie, ob Sie die Darstellung in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom Montag zu diesem Vorgang bestätigen können.
Die Darstellung ist mir persönlich nicht bekannt.
({0})
Eine
weitere Zusatzfrage.
Dann möchte ich Sie
schließlich noch fragen, ob Sie meine Auffassung teilen,
daß es ein eigenartiger politischer Stil ist, einen Verdacht öffentlich in die Welt zu setzen, dann aber nicht
bereit zu sein, klar zu antworten, um was genau und um
wen es sich handelt.
({0})
Die Bundesregierung unterstützt auf der Basis des
Vorschlages, den unter anderem der Bundeskanzler unterbreitet hat, die Bemühungen der Europäischen Kommission, die Vorwürfe rückhaltlos aufzuklären. Wenn es
daneben auch noch Personalfragen gibt, die geklärt werden müssen, dann ist auch dies zu tun. Man muß aber
zwischen diesen beiden Ebenen nicht zwingend einen
Zusammenhang herstellen.
Keine
Zusatzfrage, Herr Stadler? - Eine Frage des Kollegin
Koppelin.
Herr Staatsminister, sind
Sie, nachdem Sie eingestanden haben, daß Ihnen der
Artikel nicht bekannt ist, bereit, ihn nachzulesen und
dann dem Kollegen Stadler auf seine Frage schriftlich zu
antworten?
Ich bin bereit, jeden Zeitungsartikel zu lesen, den Sie
mir vorschlagen, und mit jedem darüber zu diskutieren.
({0})
- Schriftlich zu antworten selbstverständlich auch.
Gibt es
weitere Fragen? - Das ist nicht der Fall. Vielen Dank,
Herr Staatsminister.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zur
Verfügung.
Die Frage 10 des Abgeordneten Benno Zierer soll
schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 11 des Abgeordneten Hartmut
Koschyk auf:
Wie wird gemäß der Ankündigung des Beauftragten der
Bundesregierung für Aussiedlerfragen ({0}) die Zahl der in die Bundesrepublik Deutschland kommenden Aussiedler begrenzt, und wie begründet sich dessen Vorwurf, die vorherige Bundesregierung
habe ,,unbegrenzt neue Aussiedler“ ins Land gelassen?
Ich beantworte die Frage des
Kollegen Koschyk wie folgt: Die Vereinbarungen sind
klar und eindeutig und Ihnen auch bekannt. Im Jahre
1991 wurde die jährliche Aufnahme von 220 000
Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern plus/minus
10 Prozent beschlossen; das ist unstreitig. Die Aussagen
des Aussiedlerbeauftragten, Jochen Welt, bezogen sich
auf die aktuellen Zugangszahlen der zurückliegenden
Jahre, die von diesen Zahlen abweichen. In diesem Zusammenhang ist auch die Zahl 100 000 gefallen und zu
verstehen.
Wenn Kollege Welt zitiert wird, sollte dies vollständig getan werden. Sein Vorwurf in dem besagten Zeitungsartikel, die alte Bundesregierung habe „unbegrenzt
neue Aussiedler ohne Rücksicht auf Integrationsprobleme nach Deutschland gelassen“, zeigt, worum es ihm
gegangen ist, nämlich darum, daß das Problem im Bereich der Aussiedlerpolitik in der unbefriedigenden Integration besteht.
Eine Zusatzfrage, Herr Koschyk.
Herr Staatssekretär,
stehen die Vorwürfe und die Ankündigung des Herrn
Kollegen Welt als Aussiedlerbeauftragten, man wolle
den weiteren Zuzug begrenzen, im Hinblick auf die angepeilte Zahl von 100 000 pro Jahr überhaupt mit der
Wirklichkeit in Einklang, nachdem wir durch die von
Ihnen genannten Maßnahmen im Zuge des Asylkompromisses, aber auch durch Sprachtests in den Herkunftsgebieten vor Eröffnung des Zugangs zur Bundesrepublik Deutschland seit 1995 einen Rückgang der
Aussiedlerzahlen von damals 217 000 auf 103 080 im
Jahr 1998 gehabt haben, also deshalb keine weiteren
Maßnahmen erforderlich sind?
Was die Integrationsanstrengungen der alten Bundesregierung anbelangt: Teilen Sie nicht die Auffassung,
daß das im Konsens auch mit der damaligen Opposition
zustande gekommene Wohnortzuweisungsgesetz zu einer besseren Verteilung und zu Entspannungen in Ballungsgebieten geführt hat und daß gerade von der alten
Bundesregierung im letzten Jahr ein Integrationsfonds
beim Bundesverwaltungsamt geschaffen wurde, aus dem
30 Millionen DM für 1 500 Projekte an 600 Orten der
Bundesrepublik Deutschland ausgegeben worden sind,
wobei 35 Prozent der Fördersumme für Projekte mit
jungen Menschen bestimmt waren? Wenn Herr Kollege
Welt als Aussiedlerbeauftragter hier Kritik übt: Was
sind die Maßnahmen der jetzigen Bundesregierung, um
diese Integrationsanstrengungen der alten Bundesregierung weiter zu verstärken?
Herr Kollege Koschyk, die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die Vereinbarung aus
dem Jahre 1991 in irgendeiner Form beiseite zu schieben. Das von Ihnen angesprochene Wohnortzuweisungsgesetz hat deutlich gemacht, daß wir in der Tat
Integrationsprobleme hatten und haben; sonst hätten wir
ein solches Gesetz nicht beschlossen.
Was will die neue Bundesregierung tun? Wir sind der
Auffassung, daß insbesondere dem Thema „Sprache und
Sprachförderung“ ein sehr großes Augenmerk geschenkt
werden muß; denn ohne die Beherrschung der deutschen
Sprache ist eine Integration nur schwer möglich.
Eine
weitere Zusatzfrage.
Heißt das, Herr
Staatssekretär, daß Sie anstreben, die Dauer der Sprachförderung für Aussiedler, die aus Haushaltszwängen
auch zu meinem Bedauern von der alten Bundesregierung gekürzt werden mußte,
({0})
zu erhöhen?
Heißt der erste Teil Ihrer Antwort, daß Sie den Konsens im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz nicht in Frage
stellen wollen, daß die neue Bundesregierung nicht auf
Überlegungen zurückgreifen will, die das Land Rheinland-Pfalz zur weiteren Begrenzung des Aussiedlerzuzugs in den Bundesrat eingebracht hat und die der Bundesrat mit Mehrheit angenommen hat?
Herr Kollege Koschyk, was das
Kriegsfolgenbereinigungsgesetz anbelangt, haben wir
überhaupt nicht die Absicht, den Konsens aufzugeben.
Das wissen Sie ganz genau; Sie kennen auch die Haltung der Bundesregierung und der SPD-Bundestagsfraktion zu der Initiative des Landes Rheinland-Pfalz.
Was die Notwendigkeit einer Verbesserung der
Sprachförderung anbelangt, kann ich Ihnen nur soviel sagen, daß wir im Rahmen der uns zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel versuchen, die Förderung zu intensivieren und effektiver zu machen. Da sind ein bißchen
Kreativität und Phantasie gefragt. Jedenfalls wird deutlich, daß derjenige, der wirkliche Integration will, der
Sprache einen sehr hohen Stellenwert beimessen muß.
Jetzt rufe ich die Frage 12 des Kollegen Koschyk auf:
Verfügt die Bundesregierung über Daten, die über die amtliche Repräsentativstatistik ({0}) für das Jahr 1997 hinausgehen, über die Zahl und herkunftsmäßige Zusammensetzung
von in Deutschland lebenden deutschen Staatsangehörigen, die
eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen, und, wenn ja, über
welche?
Bitte, Herr Staatssekretär, zur Beantwortung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Der Bundesregierung stehen über die Daten der
amtlichen Repräsentativstatistik aus dem Jahre 1997
hinaus keine weiteren Zahlen zur Verfügung.
Ich möchte aber noch ein paar Hinweise geben, weil
ich annehme, daß Sie aus einem bestimmten Grund gefragt haben. Insbesondere in zwei Fallgruppen, bei denen in großer Zahl Mehrstaatigkeit entstehen kann, läßt
sich nicht feststellen, inwieweit Mehrstaatigkeit tatsächlich entstanden ist. Es handelt sich hierbei zum einen um
die eheliche Abstammung von einem deutschen und einem ausländischen Elternteil und zum anderen um die
Einbürgerung als Deutscher ohne deutsche Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes. Hier geht es um den Bereich der Aussiedler oder
Spätaussiedler. Daher liegt kein aussagefähiges statistisches Material vor.
Eine weitere Information: Nach der vom Statistischen
Bundesamt zusammengestellten Einbürgerungsstatistik
wurden von 1981 bis 1997 insgesamt 158 010 Ausländerinnen und Ausländer unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert. Dieses Kriterium hat vor 1981 keine
Rolle gespielt. Deshalb liegen aus dem Zeitraum vor
1981 keine Zahlen vor. Eine Aufschlüsselung nach Herkunftsstaaten ist nicht sinnvoll, da es in der Vergangenheit im Hinblick auf die Hinnahme bzw. Vermeidung
von Mehrstaatigkeit bei einzelnen Herkunftsstaaten zu
Fehlerfassungen in beträchtlicher Größenordnung gekommen ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Koschyk.
Herr Staatssekretär,
Sie haben ja mit Ihrer Antwort eingeräumt, daß der
Bundesregierung keine anderen Zahlen von deutschen
Staatsangehörigen, die daneben eine andere Staatsangehörigkeit innehaben, vorliegen als die, die das Statistische Bundesamt über den Mikrozensus zur Verfügung
stellen kann.
Den zweiten Teil Ihrer Antwort habe ich zur Kenntnis
genommen, möchte mir aber trotzdem die Nachfrage
erlauben: Wenn im Mikrozensus-Bericht des Statistischen Bundesamtes für 1997 für Deutsche, die neben ihrer deutschen Staatsangehörigkeit über eine andere
Staatsangehörigkeit verfügen, insgesamt die Zahl
544 000 ausgewiesen worden ist, wenn Sie sagen, daß
sich im Hinblick auf Anspruchseinbürgerungen nach
Art. 116 eine größere Zahl ergeben kann und wenn im
Mikrozensus-Bericht für 1997 für Menschen in
Deutschland, die neben ihrer deutschen Staatsangehörigkeit die Staatsangehörigkeit eines GUS-Staates haben, die Zahl 88 000 und für Menschen aus den Staaten
Mittel- und Osteuropas die Zahl 23 000 genannt wird,
dann frage ich mich doch, ob der von Ihnen genannte
Beurteilungsspielraum so weit geht, daß man zu einer
Zahl von 2 Millionen deutschen Doppelstaatlern, die auf
die Anspruchseinbürgerung nach Art. 116 zurückgegriffen haben, kommen kann, wie sie in der politischen Diskussion auch gestern von der Vorsitzenden des Landesverbandes Bayern einer großen Regierungspartei in Anwesenheit eines stellvertretenden Vorsitzenden einer
großen Regierungsfraktion genannt worden ist.
Wenn man in diesem Zusammenhang Zahlen nennt, dann sollte man der Fairneß halber immer von Schätzungen ausgehen. Ich kann Ihnen
jetzt nicht genau sagen, welche Schätzung an welcher
Stelle korrekt ist.
Wichtig ist aber der Hinweis, daß es Mehrstaatigkeit
in Deutschland gibt. Sie wissen auch, daß sich gerade im
Verfahren für Aussiedlerinnen und Aussiedler nach
1981 einiges, was die Hinnahme von Mehrstaatigkeit
anbelangt, verändert hat - das hängt nicht so sehr mit
der Bundesrepublik Deutschland, sondern mit den Entsendestaaten zusammen -, so daß die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß wir mehr Fälle von Mehrstaatigkeit
haben, als man allenthalben nachweist.
Sie haben recht: Statistisch exakt ist dies nicht nachzuweisen. Deswegen habe ich der Fairneß halber an den
zwei Fallgruppen deutlich gemacht, wie schwer es ist,
mit solchen Zahlen zu argumentieren.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr Koschyk.
Herr Staatssekretär,
können Sie bestätigen, daß trotz dieses, wie Sie sagen,
erschwerten Verfahrens für Deutsche, die als Aussiedler
aus den GUS-Staaten zu uns kommen, aus der Staatsangehörigkeit ihres Herkunftslandes entlassen zu werden,
sehr viele Deutsche dieses Verfahren auf sich nehmen
und dafür Kosten in Höhe von 700 DM bis weit über
1 000 DM in Kauf nehmen? Wäre es deshalb nicht sinnvoll und richtig, wenn die Bundesregierung, nachdem
Sie selbst, Herr Staatssekretär, davon gesprochen haben,
daß bis in die 80er und 90er Jahre hinein von der damaligen Sowjetunion und den MOE-Staaten ein anderes
Verfahren praktiziert wurde - bei Verlassen des Herkunftslandes war der automatische Verlust der fremden
Staatsangehörigkeit der Fall -, außenpolitische Anstrengungen unternehmen würde, um mit diesen Staaten wieder zu einem pauschalisierten Entlassungsverfahren ohne Kosten für die Betroffenen und ohne bürokratischen
Aufwand, wie es von den betreffenden Staaten bis Ende
der 80er Jahre praktiziert worden ist, zu kommen?
Lieber Herr Kollege Koschyk,
ich wäre froh gewesen, wenn Sie sich einmal unseren
ersten Entwurf zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts angeschaut hätten. Darin steht unter anderem, daß
wir das Verfahren der Einbürgerung im Aussiedlerbereich vereinfachen und auch verkürzen wollen. Das wäre
im übrigen auch ein Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung.
Ich würde mich freuen, wenn Sie zumindest dies an
diesem Reformentwurf positiv würdigten.
Ich rufe
die Frage 13 des Kollegen Ernst Hinsken auf:
Was will die Bundesregierung dagegen tun, den verstärkt
steigenden Wechsel von illegal in die Bundesrepublik Deutschland Einreisenden an der deutsch-tschechischen Grenze einzudämmen?
Herr
Staatssekretär, bitte schön.
Herr Kollege Hinsken, die Bundesregierung wird verstärkt Personal, aber auch Material
an den deutschen Ostgrenzen, insbesondere an der
deutsch-tschechischen Grenze einsetzen. Der besonders
sensible Abschnitt des Bundesgrenzschutzamtes Chemnitz - ich weiß nicht, ob er Sie interessiert - wird derzeit
mit vier zusätzlichen Einsatzzügen aus den BGSVerbänden verstärkt. Zur Bekämpfung der unerlaubten
Einreise an der grünen Grenze im Lande Bayern im Zuständigkeitsbereich des Bundesgrenzschutzamtes Schwandorf wird neben den Regelkräften zusätzlich ein Einsatzzug der BGS-Verbände für Lageverschärfungen
ständig bereitgehalten.
Darüber hinaus erfolgt die Bekämpfung der unerlaubten Einreise und der Schleusungskriminalität - darauf legen wir sehr viel wert - in enger Abstimmung mit
den Polizeien der Länder, den Einsatzkräften der Bundeszollverwaltung sowie den Bediensteten der tschechischen Grenzbehörden.
Eine Zusatzfrage, Herr Hinsken.
Gerne, Herr Präsident.
Herr Staatssekretär, mit Ihrer Aussage befinden Sie
sich auf dem richtigen Weg. Allerdings würde mich natürlich schon interessieren - ich bin unmittelbar betroffen; mein Wahlkreis befindet sich dort -, wie viele zusätzliche Stellen z. B. in Bayerisch Eisenstein, in
Schwandorf - das haben Sie eben genannt - oder in
Deggendorf gegebenenfalls neu geschaffen werden
könnten, um den Problemen, die augenscheinlich auftreten, begegnen zu können.
Lieber Herr Kollege Hinsken,
Sie müssen hierbei zwischen der Verstärkung des Einzeldienstes und der Unterstützung des Einzeldienstes
durch Verbandskräfte unterscheiden; denn es ist beabsichtigt, daß wir in bestimmten Fällen flexibel reagieren
können. Was die Zahlen bezüglich der Personalsituation
anbelangt: Ich werde Ihnen die Zahlen zu jeder Stelle,
die Sie genannt haben, gerne im einzelnen nachreichen.
Ich denke, daß Sie dann auch zufrieden sind.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr Hinsken, bitte schön.
Herr Staatssekretär, befindet sich die Bundesregierung auf Grund dieser Angelegenheit mit der tschechischen Regierung in Kontakt? Und wenn ja: Ist bei diesbezüglichen Gesprächen
schon etwas herausgekommen?
Der Kontakt besteht. Sie haben
mit Ihrer Frage insofern einen wichtigen Punkt getroffen, als wir zur Zeit die größten Probleme an dem betreffenden Grenzabschnitt haben.
Eine
weitere Frage der Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Staatssekretär Körper, Sie
werden mir sicherlich bestätigen, daß - wie heute in den
Medien zu lesen ist - von den rund 40 000 illegal einwandernden Menschen - das betrifft gerade die deutschtschechische Grenze - viele Flüchtlinge aus dem Kosovo kommen. Beabsichtigt die Bundesregierung, den
Flüchtlingen aus dem Kosovo einen anderen Status zu
geben? Sie wissen wahrscheinlich genauso gut wie ich,
daß diese Flüchtlinge wieder abgeschoben werden. Meines Erachtens besteht ein Regelungsbedarf, um diesen
Menschen einen legalen Aufenthaltsstatus zu ermöglichen. Gibt es dazu irgendwelche Planungen seitens der
Bundesregierung?
Liebe Frau Kollegin Jelpke, erstens ist festzuhalten, daß die Bundesregierung kein Interesse daran hat, mit irgendeiner Maßnahme illegale
Einreisen in die Bundesrepublik Deutschland zu fördern.
Es ist unsere Zielsetzung, illegale Einreisen einzudämmen. Deswegen haben wir beispielsweise auch bestimmte Konzeptionen geändert, was das Thema Bundesgrenzschutz und dessen Tätigkeit an der Grenze anbelangt.
Was das Problem der Flüchtlinge aus dem Kosovo
anbelangt, so ist, wie ich denke, nicht nur die Bundesregierung gefragt. Vielmehr ist auch auf europäischer
Ebene die Frage zu stellen, wie man mit diesem Flüchtlingsproblem umgehen soll und welche Entscheidungen
man zu treffen hat.
Eine
weitere Frage vom Kollegen Rose.
Herr Staatssekretär,
auf Grund Ihrer freundlichen Zusage an den Kollegen
Hinsken, Zahlen zu nennen, darf ich Sie fragen, ob Sie
auch so freundlich wären, dem Kollegen Kalb, der dafür
ebenfalls zuständig ist, und mir selber die entsprechenden Zahlen zum Grenzübergang Philippsreut zu nennen?
Lieber Herr Kollege Rose, Sie
haben schon die Erfahrung gemacht, daß ich, wenn ich
hier die Zusage gegeben habe, eine detaillierte schriftliche Antwort zu geben, dies auch tue. Sie waren mit
meiner Antwort auch zufrieden. Ich hoffe, auch diese
Anfrage befriedigend beantworten zu können; Sie bekommen die Antwort umgehend. Sie sollten mir nur
gemeinsam mit dem Kollegen Hinsken aufschreiben, um
welche Grenzübergänge und -abschnitte es sich genau
handelt. Dann bekommen Sie auch - „in alter Manier“,
möchte ich fast sagen - ordentliches Zahlenmaterial.
Eine
weitere Frage des Kollegen Koschyk.
Herr Staatssekretär,
welche Rolle wird denn die Nähe zur deutschtschechischen Grenze und das Problem der illegalen
Einwanderung bei den Überlegungen der Bundesregierung zur BGS-Strukturreform spielen, und wann wird
die Bundesregierung ihre diesbezüglichen Überlegungen
abgeschlossen haben und die Gremien des Deutschen
Bundestages umfassend unterrichten?
Lieber Herr Kollege Koschyk,
diese Frage habe ich erwartet. Die neue Bundesregierung hatte im Wahlkampf zugesagt, das BGS-Konzept
zu überprüfen. Deswegen haben wir beispielsweise alle
Personalentscheidungen ausgesetzt. Sie wissen, daß das
Personalkonzept in fünf Schritten hätte erfolgen sollen.
Die ersten zwei Schritte waren getan, als das sogenannte
Moratorium erfolgte.
Sie haben mich heute morgen schon einmal danach
gefragt. Ich werde Ihnen auch an dieser Stelle nichts
Genaues zum Standort Bayreuth sagen; denn die Bundesregierung wird ihr Ergebnis in der Woche nach dem
8. Februar ordnungsgemäß bekanntgeben. Ich lade Sie
heute schon ein, sich an diesen Informationen zu beteiligen. Sie werden von mir alle Informationen bekommen,
und ich werde versuchen, Ihnen jede Frage ordnungsgemäß und objektiv zu beantworten.
({0})
Weitere
Zusatzfragen liegen nicht vor.
Der Kollege Zeitlmann bittet, die Frage 14 schriftlich
zu beantworten.
Ich rufe die Frage 15 der Kollegin Pieper auf.
Wie viele Kurden halten sich in der Bundesrepublik
Deutschland gegenwärtig auf?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
Liebe Frau Pieper, ich antworte
wie folgt: Die Herkunftsländer der in Deutschland
lebenden Kurden sind im wesentlichen fünf: Türkei,
Syrien, Irak, Iran und Armenien. Im Ausländerzentralregister werden Ausländer aber nur mit ihrer Staatsangehörigkeit und nicht mit ihrer Volkszugehörigkeit erfaßt.
Aus diesem Grunde ist eine genaue Aussage über die
Zahl der in Deutschland lebenden Kurden nicht möglich.
Wollten Sie diese haben, müßten Sie die gesetzliche
Grundlage zum Ausländerzentralregister ändern.
Eine Zusatzfrage, Frau Pieper.
Trotzdem, Herr Staatssekretär, möchte ich die Bundesregierung gern fragen,
ob ihr die Zahl der sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden Kurden, die als militant eingestuft
werden, bekannt ist.
Herr Präsident, ich habe jetzt ein
Problem.
Die
nächste Frage habe ich gestellt. Ich bitte Sie, sie gleichwohl zu beantworten. Ich werde keine Zusatzfragen
stellen.
Ich rufe also die Frage 16 auf.
Wie viele Kurden schätzt die Bundesregierung als militant
ein?
Ich schließe die Frage des Herrn
Präsidenten, der sie wortwörtlich so gestellt hat, ein. Wir
sind eine gut vorbereitete Bundesregierung, deshalb
kann ich Ihnen auch diese Antwort geben.
({0})
- Ich hoffe, daß Sie überhaupt keine Klagen darüber
haben, was unsere Vorbereitung anbelangt. Der Kollege
Koschyk ist, glaube ich, jedenfalls ganz zufrieden.
({1})
Frau Kollegin Pieper, die PKK verfügt in Deutschland zur Zeit über einen Mitgliederbestand - das sind
natürlich Schätzungen, das sind keine objektiven Zahlen, die statistisch erfaßt sind - von zirka. 11 500 Personen. Aus den europäischen Nachbarländern - Skandinavien, Benelux, Frankreich, Großbritannien, Österreich
und Schweiz - kommen nochmals ungefähr 5 000 Personen hinzu. Eine Aufgliederung dieser Zahl in militante
und nicht gewaltbereite Personen ist schlichtweg nicht
möglich; allerdings ist davon auszugehen, daß die fest in
die Organisation der PKK eingebundenen Personen auf
Anweisung - Sie kennen die Strukturen - auch zu Gewalttaten bereit sind.
Soweit meine Antwort; konkreter ist sie nicht zu fassen.
Eine
weitere Zusatzfrage, Kollegin Pieper.
Ist der Bundesregierung
bekannt, wie viele von den militanten Kurden Mitglied
in der PKK sind?
Ich möchte sagen, daß der
größte Teil dieses Personenkreises auch Verbindungen
zur PKK hat.
Eine
weitere Zusatzfrage, Kollege Ramsauer.
Herr Staatssekretär, ist Ihre vorletzte Antwort so zu interpretieren,
daß die 11 500 in Deutschland plus die 5 000 in den Anrainerländern lebenden Kurden als potentiell militant
einzuschätzen sind?
Ich habe ja eben schon in meiner
Antwort deutlich gemacht, daß es sehr schwierig ist,
diesen Personenkreis in diejenigen, die potentiell gewalttätig sind, und in diejenigen, die es nicht sind, einzuteilen. Das hängt natürlich auch von dem Grade ab,
inwieweit jemand in die Strukturen der PKK eingebunden ist. Im Anschluß an die Frage von vorhin könnte ich
sagen: Nicht jeder Kurde unterrichtet die Bundesregierung über die Mitgliedschaft in der PKK. Das macht es
so schwierig, in dieser Frage eine Beurteilung vorzunehmen. Es gibt aber einen engen Zusammenhang zwischen der Einbindung in die Strukturen der PKK und der
Bereitschaft, zur Durchsetzung bestimmter politischer
Ziele Gewalt anzuwenden.
Gibt es
weitere Fragen dazu? - Das ist nicht der Fall. Damit ist
die Frage 16 ebenfalls beantwortet.
Wir kommen zur Frage 17 des Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig:
Wie beurteilt die Bundesregierung die jüngsten Äußerungen
Abdullah Öcalans im Hinblick auf mögliche gewalttätige Aktionen der PKK im Ausland sowie insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland und gegen sonstige deutsche Einrichtungen,
vor allem durch die Empfehlung Abdullah Öcalans an die PKK,
den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen?
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
eine Ausweitung des bewaffneten Kampfes in der Türkei erscheint insbesondere mit Blick auf die weiterhin
gegensätzlichen Positionen zwischen der PKK einerseits
und der türkischen Regierung andererseits nicht ausgeschlossen. Es gibt derzeit aber keine Erkenntnisse, die
Anlaß zu der Vermutung geben, daß eine Wiederaufnahme von personen- oder objektbezogenen Anschlägen
in Westeuropa, besonders aber in der Bundesrepublik
Deutschland, zu erwarten ist.
Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, das mag so sein. Ich möchte aber doch noch
auf die Person Öcalan zurückkommen. Sie kennen die
Äußerung, die er von außerhalb, nicht auf die Bundesrepublik gemünzt, getan hat. Muß nach dieser Äußerung
die von ihm ausgehende Gefahr für den Rechtsfrieden
anders als bis dato eingeschätzt werden?
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
ich habe die Antwort vor dem Hintergrund der derzeitigen Situation gegeben; darin waren auch die Aussagen
von Herrn Öcalan berücksichtigt. Ich kann hier nicht
mehr als eine Einschätzung der derzeitigen Lage kundtun. Danach haben Sie gefragt; dazu habe ich Ihnen eine
Antwort gegeben.
Zu einer
weiteren Zusatzfrage Herr Kollege Schmidt-Jortzig.
Ich würde
gerne noch einmal nachhaken: Es geht ja bei den Fragen
der F.D.P., die leider etwas auseinandergerissen wurden,
weil sie unterschiedlichen Ressorts zugeordnet wurden,
um den Komplex der Auslieferung Öcalans wegen der
ihm vorgeworfenen Rechtsbrüche. Die Art und Weise,
wie man da reagiert hat, war, wie wir finden, unzulänglich. Danach ist ein neuer Sachverhalt eingetreten, weil
er nach seiner Ausreise aus Italien Äußerungen von sich
gegeben hat, die jedenfalls nicht der Stärkung des
Rechtsfriedens gedient haben. Könnten Sie sich dazu
äußern, ob man bei Kenntnis der Äußerungen, die er
nach seiner Ausreise aus Italien - wahrscheinlich Richtung Nordosten - getan hat, seine Gefährlichkeit anders
eingeschätzt hätte als zu den Zeiten, als man darauf verzichtete, einen Auslieferungsantrag zu stellen?
Ich will jetzt anderen Fragen
nicht vorgreifen, aber ich glaube, daß man bei einer Einschätzung Öcalans vor und nach seiner Ausreise aus Italien nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Ich
glaube auch nicht, daß es im Hinblick auf die Sicherheitssituation der Bundesrepublik Deutschland große
Unterschiede zwischen vorher und nachher gibt.
Gibt es
weitere Fragen dazu? - Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Frage 18 des Kollegen Detlef Parr:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Äußerung des Bundesministers des Innern, Otto Schily, wonach die Auslieferung
Abdullah Öcalans an die Bundesrepublik Deutschland den
„Rechtsfrieden“ gefährdet hätte?
Bundesminister Otto Schily
führte am 25. November 1998 im ZDF zum Fall Öcalan
wörtlich folgendes aus:
… da haben wir zunächst einmal gesagt, wir stellen
das Auslieferungsersuchen zurück, und man muß
prüfen, in welchem Rahmen Herr Öcalan vor Gericht gestellt werden kann. Da gibt es ja verschiedene Möglichkeiten. Sie werden verstehen, daß das
Dinge sind, die einer sehr sorgfältigen Prüfung bedürfen, und auch die Tatsache berücksichtigt werden muß, ob der Rechtsfrieden in Deutschland gefährdet wäre,
ich bitte, den Konjunktiv zu beachten wenn das Verfahren hier stattfindet.
Dieses Zitat zeigt, daß die in der Frage enthaltene Unterstellung so nicht zutrifft.
Ich möchte aber noch ein paar Bemerkungen darüber
hinaus machen:
Die Gesamtzahl der Kurden in der Bundesrepublik
Deutschland beträgt derzeit etwa 500 000. Aber - darüber haben wir ja vorhin geredet - dies ist eine Schätzung. Es wird davon ausgegangen, daß etwa 10 Prozent
der kurdischen Bevölkerung in Deutschland bereit sind,
sich für Belange der PKK in Demonstrationen einzusetzen. Der Mitgliederbestand der PKK in Deutschland beträgt zur Zeit 11 500 Personen. Hinzu kommen - das
habe ich vorhin auch schon einmal gesagt - noch einmal
5 000 Personen aus den europäischen Nachbarländern.
Ich würde mich wiederholen, wenn ich noch einmal etwas zu der Aufteilung in militante und nicht gewaltbereite Personen sagen würde. Aber vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung der Bundesregierung zu beurteilen, von einem Auslieferungsersuchen abzusehen.
Möchten
Sie eine Zusatzfrage stellen, Herr Parr? - Das ist nicht
der Fall. Gibt es weitere Fragen? - Bitte sehr, Herr Professor Schmidt-Jortzig.
Lieber Herr
Kollege Körper, könnten Sie nicht doch noch einmal
erläutern, weshalb es den Rechtsfrieden - ich betone
ausdrücklich: den Rechtsfrieden - in Deutschland beeinträchtigen sollte, wenn ein ordnungsgemäß angeklagter Straftäter, dessen Haftbefehl die zuständige
Staatsanwaltschaft noch einmal ausdrücklich bestätigt
und aktualisiert hat, tatsächlich vor Gericht gestellt würde?
Lieber Herr Kollege SchmidtJortzig, erstens ist es mir bei der Antwort darum gegangen, Herrn Bundesminister Otto Schily korrekt zu zitieren. Das war in der Frage nicht der Fall. Im zweiten Teil
meiner Antwort habe ich versucht, noch einmal deutlich
zu machen, vor welchem Hintergrund sich die Situation
dargestellt hat und mit welchen Motiven beispielsweise
auf das Auslieferungsbegehren verzichtet worden ist. Im
übrigen gehe ich davon aus, daß auf diese Rechtsfragen
bei der Beantwortung weiterer Fragen noch ausführlich
eingegangen werden wird.
Gibt es weitere
Fragen? - Bitte sehr, Herr Gilges.
Herr Parlamentarischer
Staatssekretär, gehen Sie denn davon aus, daß die alte,
die vergangene Bundesregierung unter dem ehemaligen
Justizminister und dem ehemaligen Innenminister eine
Auslieferung beantragt hätte, oder gehen Sie davon aus
- vielleicht wissen Sie es sogar -, daß die alte Regierung
genauso gehandelt hätte wie die neue und dem Opportunitätsprinzip den Vorrang gegeben hätte, um den
Rechtsfrieden zu sichern?
Lieber Herr Kollege Gilges, Sie
wissen, daß ich mich von Berufs wegen im Alten Testament ganz gut auskenne. Aber ich muß Ihnen sagen:
Trotzdem besitze ich nicht die prophetische Gabe, darüber zu entscheiden, ob der Fragesteller in seiner alten
Funktion als Justizminister diese Frage genauso angegangen wäre, wie er es heute tut. Das müssen Sie ihn
wohl selbst fragen.
Vielen Dank,
Herr Staatssekretär Körper.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Verfügung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick.
Ich rufe die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten Dr.
Peter Ramsauer auf:
Billigt die Bundesregierung das Inkasso der Gesellschaft für
musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte ({0}), insbesondere der Bezirksdirektion München,
für Musik anläßlich von Hochzeitsfeiern, und wenn nicht, was
gedenkt sie dagegen zu unternehmen?
Auf welcher Rechtsgrundlage kann die GEMA in Deutschland Gebühren für derartige Veranstaltungen erheben, gerade
auch vor dem Hintergrund der grundlegenden Entscheidung
des Obersten Gerichtshofes Österreichs vom 27. Januar 1998
- 4 Ob 347/97 a - zu Musikaufführungen bei Hochzeiten?
Herr Präsident, Herr Kollege
Dr. Ramsauer, die Wiedergabe von Musikwerken Dritter
durch Aufführungen oder mit Hilfe von Tonträgern ist
generell nur erlaubnis- bzw. vergütungspflichtig, wenn
sie öffentlich erfolgt. Eine Gruppe von Zuhörern ist jedoch nicht öffentlich im Sinne des Urheberrechts, wenn
der Personenkreis abgegrenzt ist und die Zuhörer „durch
gegenseitige Beziehungen oder durch Beziehung zum
Veranstalter persönlich untereinander verbunden sind“;
so § 15 Abs. 3 des Urheberrechtsgesetzes.
In der Regel ist davon auszugehen, daß bei Hochzeitsgesellschaften derartige persönliche Beziehungen
zwischen Gästen und Veranstaltern bestehen. Die
Wiedergabe von Musikwerken auf Hochzeitsveranstaltungen ist daher regelmäßig nicht öffentlich. Im Einzelfall ist es allerdings denkbar, daß eine Hochzeit bewußt
öffentlich veranstaltet wird, zum Beispiel um eine gewisse Werbewirkung zu erreichen.
Der Bundesregierung sind die Umstände des der Frage offenbar zugrunde liegenden Einzelfalles nicht bekannt, so daß zu dem in Ihrer Frage angesprochenen Inkasso der GEMA nicht näher Stellung genommen werden kann.
Sie haben dann nach dem Urteil des österreichischen
Obersten Gerichtshofs gefragt. Wir haben uns bemüht,
dieses Urteil zu erhalten. Es ist heute morgen eingegangen. Nach einer ersten Durchsicht scheint sich auch der
Oberste Gerichtshof in die Richtung zu bewegen, die Sie
mit Ihrer Fragestellung angestoßen haben. Auch hier
ging es um den Fall einer Hochzeit, allerdings mit 120
geladenen Gästen. Davon waren rund 40 Personen Verwandte und rund 80 Personen Berufskollegen, Nachbarn
oder Bekannte des Brautpaares. Die Hochzeitsfeier hat
in einer Gaststätte stattgefunden, die auch öffentlich zugänglich war; sie war also nicht hermetisch abgeschlossen.
Der Oberste Gerichtshof hat auch in diesem Fall die
Öffentlichkeit verneint. Insofern ist er zu dem Ergebnis
gekommen, daß hier keine Zahlungsverpflichtung der
betreffenden Personen bestehe.
Ich darf mit Ihrer Erlaubnis aus dem Urteil zitieren, in
dem es sehr markante Sätze gibt, die auf unsere Situation übertragbar sind:
Eine Hochzeitsfeier ist typischerweise auf einen in
sich geschlossenen, nach außen abgegrenzten Personenkreis abgestellt. Auch im vorliegenden Fall
waren sämtliche Gäste eingeladen worden und daher mit dem einladenden Brautpaar verbunden.
Weiter heißt es:
Eine Hochzeitsfeier dient typischerweise ideellen
Zwecken.
({0})
Das deckt sich, Herr Kollege, völlig mit unserer Auffassung. Ich denke, daß diese Entscheidung in die Richtung
geht, die wir für richtig halten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Ramsauer.
Herr Staatssekretär, angesichts der besonderen Hochzeitsgepflogenheiten im Freistaat Bayern möchte ich nachfragen, ob nach dem, was Sie dargelegt haben - auch bei Hochzeiten mit 500 oder in Einzelfällen sogar mehr Gästen, die
in Bayern durchaus üblich sind, von einer GEMAGebührenfreiheit auszugehen ist?
Herr Kollege Dr. Ramsauer, ich
sagte Ihnen schon: Es kommt immer auf den Einzelfall
an. Das ist sicher die typische Antwort eines Juristen. Es
kommt darauf an, ob eine solche Hochzeitsfeier auf den
Bereich der Familie und der Freunde gerichtet ist oder
ob darüber hinaus, zum Beispiel zu Werbezwecken, die
Öffentlichkeit mit einbezogen wird. Man kann dabei
natürlich keine zahlenmäßige Begrenzung nennen. Ich
denke, daß bei der Entscheidung auch die Ortsüblichkeit
eine gewisse Rolle spielen wird.
Weitere
Zusatzfrage? - Bitte.
Das heißt, die
landesüblichen Gepflogenheiten müßten auch in die
Rechtsfindung mit einbezogen werden?
Ich gehe davon aus, daß nicht
nur die GEMA, sondern auch die Gerichte diese Gesichtspunkte mit würdigen werden.
Dann möchte ich
noch eine zusätzliche Frage stellen. Sehen Sie eigentlich
das faktische Monopol der GEMA durch das Kartellamt
im Sinne des Verbraucherschutzes noch hinreichend
kontrolliert?
Sie wissen, daß die GEMA wie
andere Gesellschaften, die die Interessen von Urhebern
wahrzunehmen haben, dies natürlich auch im Interesse
der Betroffenen machen, die nicht in der Lage sind, im
Einzelfall zu kontrollieren, ob ihre Werke - zum Beispiel musikalischer Art - öffentlich wiedergegeben werden oder nicht. Insofern haben wir diese Konstruktion,
die ja auf gesetzlicher Basis besteht, hinzunehmen. Wir
werden die Entwicklung beobachten. Im Moment sehen
wir keine Veranlassung - wenn das Ihre Frage intendiert -, hier gesetzgeberisch einzugreifen.
Eine
weitere Zusatzfrage des Kollegen Brähmig.
Herr Staatssekretär,
zwei Zusatzfragen, die nicht den Freistaat Bayern betreffen, sondern das gesamte Bundesgebiet: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß Hochzeitsfeiern und
andere Familienfeiern nicht öffentlich im Sinne des § 15
Abs. 3 des Urheberrechtsgesetzes sind - Sie sprachen
davon - und daß die GEMA diese Vermutung widerlegen muß?
Wenn die GEMA Gebühren
einfordert, muß sie natürlich nachweisen, daß eine öffentliche Veranstaltung stattgefunden hat. Insofern, denke ich, habe ich die Frage vorhin schon beantwortet. Es
kommt auf den Einzelfall an. Es kommt insbesondere
bei Hochzeitsfeierlichkeiten darauf an, daß es den familiären und den Freundeskreis betrifft und daß andere Gesichtspunkte - wie gesagt, zum Beispiel der Werbung keine Rolle spielen.
Beabsichtigt die Bundesregierung, insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes und der Familienförderung, Hochzeitsfeiern und sonstige Familienfeiern, wie
nach dem genannten Urteil des Obersten Gerichtshofes
vom 27. Januar 1998 in Österreich bereits praktiziert,
von urheberrechtlichen Vergütungsansprüchen, insbesondere der GEMA, freizustellen bzw. auf die Verwertungsgesellschaften insoweit einzuwirken?
Die Entscheidung des Obersten
Gerichtshofes in Österreich ist eine parallele Entscheidung, die hier nicht unmittelbar Bindungswirkung entfaltet. Sie ist allerdings ein Hinweis, wie man diese Bestimmung auch in Deutschland auslegen könnte. Ansonsten ist es zunächst Sache der GEMA und im Streitfall
der zuständigen Gerichte, über die Grundlage und die
Angemessenheit des Begehrens der GEMA zu entscheiden.
Weitere
Zusatzfrage des Kollegen Hinsken.
Herr Staatssekretär, gilt
das, was Sie ausgeführt haben, jeweils nur für die erste
Hochzeit? Oder wie ist es, wenn jemand - ein Kollege
aus dem Bundestag zum Beispiel - das fünfte Mal heiratet? Können wir dann alle geladen werden? Wird es
dann doch nicht als offizielle Veranstaltung deklariert?
({0})
Herr Kollege Hinsken, bei der
Auslegung des § 15 Abs. 3 des Urheberrechtsgesetzes um diese Bestimmung geht es ja - kommt es nicht darauf an, ob es sich um die erste, die zweite oder im Einzelfall die nachfolgenden Hochzeiten handelt. Entscheidend ist, ob diese Hochzeitsfeier so, wie vorhin beschrieben, im Freundeskreis stattfindet. Wenn ein Ehepaar dann den gesamten Bundestag einlädt, kann das
durchaus noch eine private Feier sein, ohne daß Vergütungen fällig werden.
({0})
Weitere
Fragen? - Das ist nicht der Fall, so reizvoll diese Fragestellung ist.
Wir kommen zur Frage 21 des Kollegen Dr. Martin
Mayer ({0}):
Welche Regelungen hinsichtlich des sogenannten elektronischen Pressespiegels strebt die Bundesregierung im Rahmen der
vorgesehenen Novellierung des Urheberrechtsgesetzes an?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Zur Beantwortung Ihrer Frage,
Herr Dr. Mayer, möchte ich zunächst auf den vom Bundesministerium der Justiz vorgelegten Diskussionsentwurf eines fünften Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes verweisen, welcher den Bundestagsfraktionen bereits im Juli 1998 übersandt wurde.
Nach der derzeitigen Rechtslage dürfen Sprachwerke
wie Rundfunkkommentare und Zeitungsartikel in Zeitungen und in anderen den Tagesinteressen dienenden
Informationsblättern vervielfältigt und öffentlich wiedergegeben werden, soweit sie politische, wirtschaftliche oder religiöse Tagesfragen betreffen; § 49 des Urheberrechtsgesetzes. Vervielfältigen bedeutet dabei allerdings die Herstellung von Papierkopien. Dies betrifft
darüber hinaus nur Beiträge mit einem eigenen, individuell schöpferischen Gehalt. Bloße Nachrichten und Informationen genießen ohnehin keinen urheberrechtlichen Schutz, da sie keine Werke im Sinne von § 2 Abs.
2 des Urheberrechtsgesetzes sind. Zum Ausgleich für
diese Nutzungen der Beiträge haben die Rechteinhaber
grundsätzlich einen Anspruch auf angemessene Vergütung.
Mit der vorgeschlagenen Gesetzesänderung soll im
wesentlichen zusätzlich der sogenannte elektronische
Pressespiegel ermöglicht werden, das heißt die Weiterverbreitung der betreffenden Sprachwerke mit Hilfe von
elektronischen Datenträgern und Datennetzen. Zum
Schutz der Interessen der Rechteinhaber ist jedoch vorgesehen, daß die Online-Übertragung elektronischer
Pressespiegel nur gegenüber der sogenannten kleinen
Öffentlichkeit zulässig sein wird, das heißt nur gegenüber einem bestimmten abgegrenzten Personenkreis. In
diesem Zusammenhang nenne ich das Stichwort „Inhouse-Pressespiegel“. Die Rechteinhaber können außerdem die Nutzung ihrer Beiträge auch künftig durch Anbringung eines entsprechenden Rechtevorbehaltes vermeiden. Insoweit soll die schon derzeit geltende
Rechtslage unverändert bleiben.
Die Einführung dieses elektronischen Pressespiegels
ist nach Auffassung der Bundesregierung erforderlich,
da es angesichts der Fülle der schon jetzt online angebotenen Informationen nicht mehr ausreicht, wenn sich
Nutzer im Wege von Online-Abfragen selbst Inhalte zu
bestimmten Themen heraussuchen können. Der elektronische Pressespiegel entspricht damit auch den Forderungen der Industrie, der Banken und der öffentlichen
Verwaltung. Er wird auch von Journalistenverbänden
akzeptiert.
Zusatzfrage, Herr Kollege Mayer.
Herr
Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß die
gegenwärtige Rechtslage - oder vielleicht besser ausgedrückt: die gegenwärtige Rechtsunsicherheit - hinsichtlich der elektronischen Pressespiegel dazu führt, daß deren Entwicklung in Deutschland wesentlich behindert
wird?
Es ist richtig, daß im Moment
Unsicherheit über die Rechtslage besteht. Deswegen
sieht dieser Entwurf eine entsprechende Regelung vor,
die ich angedeutet habe. Wir wollen mit dieser Regelung
für Rechtsklarheit sorgen.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Mayer.
Herr
Staatssekretär, ist Ihnen bewußt, daß auch die Wiedergabe in öffentlichen Bibliotheken - also nicht nur die
Wiedergabe in Behörden, öffentlichen Einrichtungen
und Betrieben - einer öffentlichen Regelung bedarf?
Diese Rechtssicherheit ist eine wichtige Voraussetzung
dafür, daß die Information für den einzelnen Bürger zugänglich wird.
Herr Dr. Mayer, ich stimme Ihnen zu: Es ist an der Zeit, daß Rechtsklarheit geschaffen
wird. Der Entwurf, von dem ich sprach, versucht, einen
Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen
herzustellen. Er stammt ja bekanntlich von der vorherigen Bundesregierung.
In diesem Zusammenhang wird natürlich auch die
Frage zu klären sein, inwieweit besondere Interessen öffentlicher Einrichtungen, insbesondere Interessen der
Bibliotheken, zu berücksichtigen sind. Die Diskussion
über den entsprechenden Gesetzentwurf wird dies zeigen.
Gibt es
weitere Fragen? - Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Frage 22 des Kollegen Andreas
Schmidt ({0}):
In welcher Weise und wann war die Bundesregierung mitder
angestrebten Auslieferung des im September 1998 in Frankreich
gefaßten, in den Medien als Exterrorist bezeichneten HansJoachim Klein befaßt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Schmidt, das Ersuchen um Auslieferung von Hans-Joachim Klein aus
Frankreich ist zuständigkeitshalber vom hessischen Ministerium der Justiz gestellt worden. Die Bundesregierung hat auf der Grundlage von § 74 Abs. 2 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen die
Ausübung ihrer Befugnis zur Entscheidung über die
Stellung von Auslieferungsersuchen an bestimmte andere Staaten auf die Landesregierungen übertragen. Nach
der Zuständigkeitsvereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder vom 1. Juli
1993 war daher für die Stellung des Auslieferungsersuchens an Frankreich die Hessische Landesregierung zuständig, da der Fahndungsausschreibung im Schengener
Informationssystem ein Haftbefehl des Amtsgerichts
Frankfurt am Main vom 6. Juli 1995 zugrunde lag.
Die Bundesregierung ist von der Festnahme und dem
Auslieferungsersuchen nach Maßgabe von Nr. 7 der Zuständigkeitsvereinbarung unterrichtet worden, die vorsieht, daß sich die Landesregierungen in Fällen besonderer politischer Bedeutung mit der Bundesregierung ins
Benehmen zu setzen haben.
Ihre Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr
Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, wann die Hessische
Landesregierung zum erstenmal mit dem Auslieferungsbegehren befaßt war?
Darüber kann ich Ihnen im
Moment keine Auskunft geben. Ich sage Ihnen aber zu,
daß ich versuche, diese Zusatzfrage schriftlich zu beantworten.
Gibt es
eine weitere Zusatzfrage? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 23 des Kollegen Schmidt
({0}) auf:
Weshalb ist Hans-Joachim Klein bisher nicht nach Deutschland ausgeliefert worden, obwohl seine Festnahme über vier
Monate zurückliegt?
Die französischen Justizbehörden haben die Erteilung einer Auslieferungsbewilligung
nach ihrem innerstaatlichen Recht zu prüfen. Eine Sachstandsanfrage des hessischen Justizministeriums hat ergeben, daß das zuständige Gericht in Frankreich voraussichtlich in Kürze eine Entscheidung fällen werde. Die
mehrmonatige Verfahrensdauer ist im Hinblick auf
Frankreich nicht als ungewöhnlich zu bezeichnen.
Eine Zusatzfrage? - Das ist nicht der Fall. Gibt es weitere Fragen dazu? - Auch das ist nicht der Fall.
Ich rufe die Frage 24 des Kollegen Norbert Geis auf:
Hat die Bundesregierung ein Interesse an einer schnellen
Auslieferung von Hans-Joachim Klein nach Deutschland?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege
Dr. Martin Mayer ({0})
Geis, die Bundesregierung ist an einer zügigen Abwicklung des Auslieferungsverfahrens mit Frankreich
und an einer Überstellung des Verfolgten nach
Deutschland interessiert. Die französischen Justizbehörden und Gerichte haben über die Erteilung einer Auslieferungsbewilligung nach innerstaatlichem Recht zu entscheiden. Dies kann sich erfahrungsgemäß über mehrere
Monate hinziehen. Von hier aus sind die Möglichkeiten,
auf die Dauer des Verfahrens in Frankreich einzuwirken,
begrenzt.
Eine Zusatzfrage, Herr Geis? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 25 des Kollegen Geis auf:
Erwartet die Bundesregierung von der Vernehmung von
Hans-Joachim Klein nach seiner Auslieferung nach Deutschland
eine Aufklärung des Mordes an dem hessischen Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry?
Welche konkreten Erkenntnisse
von einer Vernehmung Hans-Joachim Kleins erwartet
werden können, kann erst nach der Überstellung des
Verfolgten an die dortigen Justizbehörden beurteilt werden.
Herr
Geis, bitte.
Ich habe eine Zusatzfrage: Aus den Medien geht hervor, daß auch Österreich
ein Auslieferungsverlangen gestellt hat. Gibt es insoweit
Gespräche seitens unserer Regierung mit den zuständigen Stellen der österreichischen Regierung und, wenn ja,
seit wann?
Herr Kollege Geis, mir sind
keine Gespräche mit der österreichischen Regierung bekannt. Es ist ja, wie ich soeben ausgeführt habe, das hessische Justizministerium zuständig. Die Bundesregierung ist insoweit im Moment nicht am Zuge, um mit den
österreichischen Behörden oder auch anderen in Kontakt
zu treten.
Gibt es
weitere Fragen dazu? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 26 des Kollegen Jörg van Essen auf:
Welche Begründung gibt es dafür, daß die Bundesrepublik
Deutschland auf Konsultationen mit den Mitgliedstaaten des
VN-Sicherheitsrates verzichtet hat, die über ein Ad-hoc-Tribunal
im Falle von Abdullah Öcalan hätten entscheiden können?
Herr Kollege van Essen, die Errichtung eines Ad-hoc-Tribunals durch den VNSicherheitsrat ausschließlich für ein Strafverfahren gegen Abdullah Öcalan erschien nach eingehender Untersuchung und Gesprächen mit der italienischen Regierung aus zeitlichen, rechtlichen und politischen Gründen
nicht als eine durchführbare Option für ein Strafverfahren gegen Abdullah Öcalan.
({0})
Herr Staatssekretär, hat es
- außer mit der italienischen Regierung, die Sie gerade
erwähnt haben - überhaupt mit einer ausländischen Regierung Konsultationen über die Lösung des Falles gegeben?
Es hat nicht nur mit der italienischen Regierung, sondern auch auf der Ebene des Europarats Gespräche gegeben. Insofern sind auch die Mitglieder des Europarats in diesen Prozeß einbezogen
worden, als es darum ging zu überprüfen, ob ein Gerichtshof verfügbar ist, der in einer überschaubaren Zeit
ein Verfahren gegen Herrn Öcalan betreiben könnte. Es
sind also sehr viele Gespräche mit unseren europäischen
Nachbarn geführt worden.
Weitere Zusatzfrage? - Bitte, Herr Kollege van Essen.
Herr Staatssekretär, teilen
Sie die Auffassung von Staatsminister Volmer, der vorhin in dieser Fragestunde kundgetan hat, daß die Bundesregierung nicht endgültig auf die Auslieferung verzichtet hat? Sind damit die Pressemitteilungen und auch
die entsprechenden Pressemeldungen falsch, nach denen
der, Bundeskanzler dem italienischen Ministerpräsidenten Ende des letzten Jahres mitgeteilt hat, daß die Bundesregierung auf die Auslieferung verzichte?
Zu Ihrer Frage möchte ich sagen, daß der Bundeskanzler gegenüber dem italienischen
Ministerpräsidenten - nach meiner Erinnerung war es
am 27. November letzten Jahres - die Aussage gemacht
hat, daß Deutschland auf ein Auslieferungsersuchen gegenüber Italien verzichte.
Bedeutet Ihre Aussage,
daß Sie die Aussage, die Staatsminister Volmer hier vor
wenigen Minuten gemacht hat, korrigieren?
Die Bundesregierung spricht
mit einer Stimme. Das, was ich gesagt habe, entspricht
meinem Kenntnisstand und übrigens auch meinem Gewissen.
Das provoziert eine
weitere Frage. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, stimmen
Sie mir zu, daß die Aussagen zumindest als unterschiedlich aufgefaßt werden könnten, wenn der Staatsminister
Volmer behauptet, die Bundesregierung habe nicht endgültig auf eine Auslieferung verzichtet, Sie aber behaupten, die Bundesregierung habe dies getan? Stimmen
Sie mir zu, daß man das mißverstehen kann?
Herr Kollege, ich habe ausgeführt, daß der Bundeskanzler - und damit die Bundesregierung - gegenüber seinem italienischen Kollegen die
Aussage getroffen hat, daß das Auslieferungsersuchen
gegenüber Italien nicht mehr relevant ist.
Vielen Dank. - Wir
kommen zur Frage 27 des Kollegen van Essen:
Welche gegenwärtigen Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung, um doch noch eine rechtsstaatliche strafrechtliche
Verfolgung der gegen Abdullah Öcalan erhobenen Vorwürfe zu
erreichen?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
Herr Kollege van Essen, die
Bundesregierung hat sich bis zur Ausreise Abdullah
Öcalans aus Italien darum bemüht, ein Forum für ein
Strafverfahren gegen Herrn Öcalan zu finden. Im Rahmen des Europarats wird derzeit im zuständigen Fachausschuß an Regelungsmechanismen gearbeitet, die für
derartige Fälle Lösungen anbieten.
Möchten Sie eine
Zusatzfrage stellen? - Bitte sehr, Herr van Essen.
Herr Staatssekretär, mit
welchen Vorschlägen nimmt die Bundesregierung an
diesen Beratungen teil?
Wie Sie wissen, gibt es im
Rahmen des Europarats einen Ausschuß, der sich mit
internationalem Strafrecht beschäftigt. Dort wurde in
mehreren Runden - nach meiner Erinnerung zuletzt am
22. Dezember - die Frage erörtert, ob es im Rahmen des
Europarats eine Möglichkeit gibt, Herrn Öcalan vor Gericht zu stellen. Das ist nach den bisherigen Eruierungen
nicht der Fall.
Herr van Essen, eine
weitere Zusatzfrage. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, welches der denkbaren Modelle, zu einer rechtsstaatlichen
strafrechtlichen Verfolgung Öcalans zu kommen, präferiert die Bundesregierung im Augenblick?
Die Bundesregierung überprüfte verschiedene Modelle. Sie wissen, daß es unterschiedliche Möglichkeiten gibt. Vorhin ist schon die
Möglichkeit angesprochen worden, daß auf Grund einer
Entschließung der Vereinten Nationen oder wenigstens
des Sicherheitsrats ein internationaler Gerichtshof eingesetzt wird. Das hat aber die bekannten Schwierigkeiten.
Im übrigen müßten die betroffenen Länder auch entsprechende völkerrechtliche Vereinbarungen treffen.
Es gibt ferner das sogenannte Lockerbie-Modell, das
besagt, daß sich ein Staat bereit erklärt, auf Grund einer
Beschlußfassung der Vereinten Nationen einen solchen
Gerichtshof einzusetzen. Die Bundesregierung hat sich
auch in dieser Richtung bemüht.
Eine weitere Option ist - diese Möglichkeit haben wir
eben diskutiert -, daß man unter dem Dach des Europarates einen Gerichtshof - nicht nur für Herrn Öcalan;
denn das wäre vermutlich ein Sondergericht und mit dem
Grundgesetz sehr schwer zu vereinbaren - einrichtet, der
künftig für solche Fälle zuständig wäre. In diese Richtung
gehen im Moment unsere besonderen Bemühungen.
Eine weitere Zusatzfrage. Herr Schmidt-Jortzig, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn es so schwierig ist - darin stimme ich Ihnen
ausdrücklich zu -, einen solchen internationalen Strafgerichtshof für Herrn Öcalan zu finden - sei es, daß man ihn
ad hoc bildet, dafür aber vorweg alle möglichen Sicherheitsratsmitglieder konsultieren müßte; sei es, daß man
ein entsprechendes Übereinkommen zu einer Errichtung
schließt; sei es, daß erst entsprechende Verhandlungen
seitens des Europarates geführt werden -: Ist es dann
nicht von vornherein ein wenig blauäugig oder zumindest
unrealistisch gewesen, auf diese Karte zu setzen, wo doch
die Frist für eine Auslieferung auf Grund des deutschen
Haftbefehls Ende September ablief? War es überhaupt
möglich, in dieser Zeitspanne die Errichtung eines für
Öcalan zuständigen Gerichts zu erreichen?
Ich glaube, ausschlaggebend
war nicht so sehr der Ablauf der Frist. Diese Frist hätte
von italienischer Seite nach innerstaatlichem Recht Italiens durchaus verlängert werden können. Man hatte die
Hoffnung - auch die italienischen Behörden hatten sie -,
daß es in einer überschaubaren Zeitspanne gelänge,
einen solchen Gerichtshof zu finden. Dann wäre es natürlich auch für die italienischen Behörden leichter gewesen - auch für die Gerichte -, Herrn Öcalan weiter in
Haft zu behalten, und man hätte ihn nicht in eine Art
lockeren Vollzug entlassen müssen.
Ich rufe nun Frage
28 des Kollegen Walter Hirche auf:
Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß der internationale
Haftbefehl gegen den PKK-Führer Abdullah Öcalan aufrechterhalten bleiben soll?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Hirche, gegen Herrn Abdullah Öcalan besteht ein Haftbefehl des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof wegen verschiedener
Tötungsdelikte. Dieser Haftbefehl ist nicht international
zur Fahndung ausgeschrieben.
Eine Zusatzfrage.
Herr Hirche, bitte.
Welche rechtsstaatliche
Konsequenz ziehen Sie, Herr Staatssekretär, daraus, daß
die Bundesregierung, solange Herr Öcalan greifbar war,
auf eine Auslieferung verzichtete und in dem Moment,
in dem er nicht mehr greifbar war, sagte: „Jetzt wollen
wir ihn vor Gericht stellen und möchten darauf bestehen,
daß er hier verurteilt wird“?
Ich glaube, es ist schon ein
Unterschied, ob eine Person auf Grund eines internationalen Haftbefehls zur Fahndung ausgeschrieben
ist oder ob es einen nationalen Haftbefehl gibt, sofern
der Gesuchte sich wieder in dem Land aufhält. Es handelt sich um eine grundsätzliche Entscheidung, ob man
nur mit einem nationalen Haftbefehl arbeitet oder ob
man den Gesuchten international zur Fahndung ausschreibt.
Im übrigen, Herr Hirche, war es ja nicht so, daß
Öcalan auf Grund des internationalen Haftbefehls weltweit zur Fahndung ausgeschrieben war; das hat auch
unsere Vorgängerregierung nicht gemacht. Vielmehr beschränkte sich der Haftbefehl zunächst auf bestimmte
Staaten. Er ist dann in das Informationssystem von
Schengen eingestellt worden, beschränkte sich also auch
von daher auf bestimmte Länder. Ich entnehme diesem
Vorgang, daß auch die Vorgängerregierung den internationalen Haftbefehl ganz bewußt auf bestimmte Staaten
beschränkt hat.
Herr Hirche, Ihre
zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, die
Bundesregierung hat sich bei der Behandlung des Falles
Öcalan in der Vergangenheit immer auf das Stichwort
„Rechtsfrieden“ berufen und deswegen auf einen Auslieferungsantrag verzichtet. Sind Sie mit mir der Meinung, daß nachträglich das Bestehen auf Rechtsverfolgung in Sachen Mykonos genauso hätte in Frage gestellt
werden können?
Ich denke, daß es durchaus
sachlich begründbar ist, einen Haftbefehl nur national
wirksam werden zu lassen; denn es gibt außenpolitische
und auch andere Gründe, die dafür sprechen, daß man
einen Haftbefehl nicht international verankert, sondern
auf den Bereich der Bundesrepublik beschränkt.
Herr Kollege Funke
zu einer Zusatzfrage. - Bitte sehr.
Herr Kollege Pick, ich teile
Ihre Auffassung, daß man dieses Opportunitätsprinzip
anwenden sollte. Warum aber haben Sie diesen Haftbefehl nach der Konkretisierung - schon unter Ihrer Regie
- nicht international erweitert? Er war bereits international ausgeschrieben, beschränkte sich aber auf einige
Länder. Wenn auch die Frage des Rechtsfriedens vielleicht nicht die Rolle spielt wie im Fall Mykonos, so
sind hier in Deutschland doch eine ganze Reihe von
Straftaten begangen worden. Hier leben Kurden, die von
der PKK ganz besonders bedroht sind.
Der deutsche Haftbefehl ist am
19. November auf Antrag des Generalbundesanwalts
vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs erweitert worden. Er ist unter anderem auf weitere Tötungsdelikte erstreckt worden.
Schon damals ist die Diskussion um die Person Öcalans zwischen Italien und Deutschland sehr intensiv geführt worden und die Entscheidung gefallen, ihn noch
nicht in das internationale Fahndungssystem einzustellen. Diese Auffassung hat sich auch durch die acht Tage
später erfolgte Erklärung der Bundesregierung gegenüber Italien bestätigt.
Sie haben noch eine
Zusatzfrage? - Bitte sehr, Herr Schmidt-Jortzig.
Herr Kollege
Pick, ich komme noch einmal auf die Frist zurück. War es
nicht wenig realistisch, darauf zu setzen, daß die Italiener
mit eigenen Mitteln eine Verhaftung Öcalans betreiben
würden, da Öcalan in Italien auf Grund des deutschen
Haftbefehls verhaftet worden ist und er in Italien keine
Straftaten begangen hat, also keine Vorwürfe ihm gegenüber existierten? War es nicht realistischer, weil nur der
deutsche Haftbefehl die Verhaftung ausgelöst hat, daß mit
Ablauf dieser Frist auch die Freilassung erfolgen würde?
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
es bestand von Anfang an Einigkeit zwischen den italienischen und den deutschen Behörden, eine internationale Lösung zu suchen. Auf Grund dieser gemeinsamen
Auffassung sind die unterschiedlichsten Überlegungen
vorgenommen worden.
Im übrigen hätte aus unserer Sicht auch nach dem innerstaatlichen Recht Italiens die Möglichkeit bestanden,
Herrn Öcalan vor ein italienisches Gericht zu stellen.
Wir kommen nun zu
Frage 29 des Kollegen Rainer Funke:
Trifft es zu, daß die Bundesregierung auf ein Auslieferungsersuchen gegenüber Italien verzichtet hat, weil der PKK-Führer
Abdullah Öcalan in keinem Falle einer Strafverfolgung entgehen
werde?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Funke, die Bundesregierung hat auf ein Auslieferungsersuchen an die
italienische Regierung aus einer Reihe von Gründen
verzichtet. Insbesondere sollte der türkischen Regierung
der Vortritt gelassen werden, eine rechtsstaatliche Strafverfolgung Öcalans zu gewährleisten, weil ihm in der
Türkei die schwersten Straftaten vorgeworfen werden.
Darüber hinaus waren Belange der inneren Sicherheit
in Deutschland zu berücksichtigen. Außerdem hat sich
die Bundesregierung gemeinsam mit der italienischen
Regierung darum bemüht, eine internationale Lösung zu
finden, um Herrn Öcalan umfassend zur Rechenschaft
zu ziehen.
Eine weitere Frage,
Herr Kollege Funke.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin ausgeführt, daß es keine realistischen Möglichkeiten gibt, hier einen internationalen Strafgerichtshof einzusetzen. Man ist sich darüber im klaren, daß eine Auslieferung in die Türkei wegen der möglichen
Verhängung der Todesstrafe nur schwer möglich ist. Insoweit verstehe ich nicht ganz die Auffassung der Bundesregierung, daß Herr Öcalan in keinem Fall einer
Strafverfolgung entgehen würde. War es von der Bundesregierung realistisch, zu glauben, daß in irgendeinem
Land der Welt eine Strafverfolgung möglich ist?
Herr Funke, ich sagte Ihnen
schon vorhin, daß in den vergangenen Monaten unterschiedlichste Optionen geprüft worden sind. Die Bundesregierung ist nach wie vor der Auffassung, daß es in
solchen Fällen eine Möglichkeit geben muß, in welcher
Frist auch immer, Personen zur Rechenschaft zu ziehen.
Insofern gehen unsere Bemühungen weiter. Es ist nicht
auszuschließen, daß Herr Öcalan eines Tages etwa vor
einen Gerichtshof zitiert wird.
Eine zweite Zusatzfrage des Kollegen Funke. Bitte sehr.
Sie formulieren sehr hübsch:
Es „muß“ solch eine Möglichkeit der Strafverfolgung
geben. Vielleicht sollte es besser heißen: „müßte“; denn
es gibt noch keine. Die Bundesregierung ist noch im
Dezember davon ausgegangen, daß eine Strafverfolgungsmöglichkeit besteht. Das war auch die Erklärung
gegenüber dem italienischen Ministerpräsidenten. Welche konkreten Strafverfolgungsmöglichkeiten hat der
Bundeskanzler damals gesehen?
Ich weiß nicht, was der Bundeskanzler ansonsten gesagt hat. Er hat für die Bundesregierung gegenüber der italienischen Regierung zum
Ausdruck gebracht, daß die Bundesrepublik Deutschland auf ein Auslieferungsersuchen derzeit verzichtet.
Eine weitere Zusatzfrage. Der Kollege von Klaeden, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, für die Bundesregierung hat in der Debatte zu
diesem Thema Kanzleramtsminister Hombach hier im
Plenum erklärt, daß sich die Alternative „Freilassung
oder Auslieferung“ im Falle Öcalan nicht mehr gestellt
habe. Das ist dem Protokoll zu entnehmen. Deswegen
möchte ich die Frage stellen: Auf welche Annahme hat
sich diese Aussage gestützt, und wie ist es dann doch zur
Freilassung gekommen?
Aus der Sicht der Bundesregierung hätte der Verzicht der Bundesrepublik auf das
Auslieferungsbegehren nicht automatisch die Folge haben müssen, daß die italienischen Behörden Herrn Öcalan freilassen.
Eine weitere Zusatzfrage. Der Kollege Schmidt-Jortzig, bitte sehr.
Da Sie, sehr
verehrter Herr Kollege, einräumen mußten, daß es in der
Tat keine andere realistische Möglichkeit der Strafverfolgung von Herrn Öcalan gab, als die Auslieferung
nach dem deutschen Haftbefehl zu beantragen: Stimmen
Sie mir zu, daß bei der dann sehr schnellen Rücknahme
aller Strafverfolgungsanstrengungen der Bundesrepublik
Deutschland ein Schatten auf Deutschland hätte fallen
können, obwohl wir im Zusammenhang mit dem ständigen internationalen Strafgerichtshof in Rom eine Haltung an den Tag gelegt haben, mit der Deutschland auch
im internationalen Kreise viel Anerkennung gefunden
hat: alles zu tun, um strafbar gewordene Politiker einer
strafrechtlichen Verantwortung zuzuführen?
Zur Beantwortung,
Herr Staatssekretär.
Herr Schmidt-Jortzig, die Bundesregierung befindet sich im Einklang mit ihren Partnern, daß der Terrorismus international geächtet werden
muß und daß entsprechende Straftaten verfolgt und die
Täter verurteilt werden müssen. Insofern sehe ich nicht,
daß ein Schatten auf unser Verhältnis zu den ausländischen Partnern gefallen wäre.
Wir bemühen uns nach wie vor - diese Bemühungen
laufen noch, insbesondere, wie ich sagte, auf der Ebene
des Europarates, weil es uns in dieser Richtung am sinnvollsten erscheint -, hier einen Mechanismus zu installieren, der künftig für solche Fälle zuständig ist. Es ist
also nicht ausgeschlossen, daß sich Herr Öcalan in einiger Zeit einem Forum stellen muß.
Im übrigen weise ich noch einmal darauf hin, daß die
Einstellung eines nationalen Haftbefehls in ein internationales System keinen Anspruch darstellt, daß dieses
Auslieferungsersuchen später auch wirklich geltend gemacht wird. Das ergibt sich aus allen Regeln des Völkerrechts. Es hängt immer von der rechtlichen und politischen Entscheidung der Regierungen ab, ob sie von
einem Auslieferungsersuchen dann auch tatsächlich Gebrauch machen. Es ist also eine eigenständige Entscheidung, ob im Einzelfall an dem Auslieferungsersuchen
festgehalten wird.
Eine weitere Zusatzfrage. - Herr Kollege, bitte sehr.
Würden Sie mir zustimmen,
Herr Staatssekretär, daß die von Ihnen eben geschilderte,
sowohl von der deutschen als auch von der italienischen
Regierung beabsichtigte Befassung der europäischen
Ebene mit der politischen Problematik überfällig war,
weil es auch um die Frage geht, wie die türkische Regierung mit Minderheiten umgeht, und daß es hier erhebliche Versäumnisse in der deutschen Politik zu beklagen
gibt, es sei denn, man betrachtete in diesem Zusammenhang die Lieferung von Waffen in die Türkei als einen
politischen Segen?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, ich mache noch
einmal deutlich, daß die Bundesregierung - wie übrigens auch ihre Vorgängerregierung - auch angetreten
ist, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen.
Insofern stehen wir sicher in einer Kontinuität. Wir werden uns weiter bemühen, den Konflikt, um den es ja
hinter der Person des Herrn Öcalan geht, auch dort zum
Gegenstand zu machen, wo er eigentlich hingehört,
nämlich vor einen international bestimmten Gerichtshof.
Es besteht Einigkeit mit den italienischen Partnern, daß
das zumindest hinsichtlich der Person Öcalans die sinnvollste Lösung des Problems wäre.
Wir kommen nun
zur Frage 30 des Kollegen Rainer Funke:
Sieht die Bundesregierung weiterhin die Voraussetzung für
einen internationalen Haftbefehl gegen Abdullah Öcalan als gegeben an?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Funke, gegen
Abdullah Öcalan besteht ein Haftbefehl des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof wegen verschiedener
Tötungsdelikte. Dieser Haftbefehl ist, wie ich schon gesagt habe, nicht international zur Fahndung ausgeschrieben.
Nachdem die Bundesregierung nach reiflicher Erwägung des Für und Wider eines Auslieferungsersuchens
an Italien der italienischen Regierung mitgeteilt hatte,
auf eine Auslieferung Abdullah Öcalans nach Deutschland zu verzichten, war die Aufrechterhaltung der internationalen Fahndungsausschreibung nicht mehr sachgerecht. Eine internationale Ausschreibung zur Festnahme
ist nur dann zweckmäßig, wenn der ausschreibende
Staat die Absicht hat, um die Auslieferung des Verfolgten zu ersuchen. Mit der Entscheidung, von einem Auslieferungsersuchen in diesem Fall abzusehen, hat sich
insoweit die internationale Fahndungsausschreibung zur
Festnahme erübrigt.
Eine Zusatzfrage,
bitte sehr.
Für den Fall, daß - aus welchen Gründen auch immer - Herr Öcalan in die Bundesrepublik Deutschland kommt, wäre der Haftbefehl in
Deutschland nach wie vor gültig. Würde er hier vollstreckt werden?
Wir haben hier einen nationalen
Haftbefehl. Es wäre Sache der zuständigen Justizbehörden, der Staatsanwaltschaft und des zuständigen Gerichts, Herrn Öcalan hier vorläufig festzunehmen.
Zweite Zusatzfrage,
Herr Kollege. Bitte.
Warum würde die Bundesregierung, falls Herr Öcalan in einem befreundeten ausländischen Staat gefaßt würde, beispielsweise in Italien,
nicht die Überstellung in die Bundesrepublik Deutschland verlangen, um diesen nationalen Haftbefehl hier zu
vollstrecken?
Herr Funke, dann würde sich
dieselbe Situation ergeben, wie sie jetzt gegenüber unserem Partner Italien besteht. Auch in diesem Falle
müßte die Bundesregierung entscheiden, ob sie ein
Auslieferungsersuchen stellt. Im Moment besteht, wie
ich schon gesagt habe, kein internationaler Haftbefehl.
Es müßte gefragt werden, ob dieser Haftbefehl wieder
international eingestellt würde. Es wäre dann wieder
eine Entscheidung der Bundesregierung, ob sie von einem Auslieferungsersuchen Gebrauch macht oder
nicht.
Eine zweite Zusatzfrage. Bitte sehr.
Warum würde die Bundesregierung bei einer Überstellung, zum Beispiel aus
Frankreich, von der Vollstreckung in der Bundesrepublik Deutschland keinen Gebrauch machen wollen? Ich
sehe keinen Unterschied zwischen der Überstellung aus
dem Ausland in die Bundesrepublik, der Verhaftung in
der Bundesrepublik Deutschland und der anschließenden
Vollstreckung. Wo ist der Unterschied?
Herr Funke, ich habe vorhin
darauf hingewiesen, daß einer der wesentlichen Gründe
dafür, den internationalen Haftbefehl zu löschen, war,
daß wir der Auffassung waren, daß eine internationale
Lösung angemessen ist, daß etwa ein internationaler
Gerichtshof die richtige Instanz wäre, um über Herrn
Öcalan, der nach wie vor die Unschuldsvermutung für
sich beanspruchen darf, zu urteilen. Insofern ist die
Situation ähnlich wie die im Falle Italiens zu beurteilen.
Nun kommen wir
zur Frage 31 des Kollegen Detlef Parr. Der Kollege Parr
ist nicht da. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Wir kommen zu Frage 32 des Abgeordneten Dr.
Westerwelle:
Seit wann ist die Bundesregierung darüber informiert, daß
Abdullah Öcalan Italien verlassen würde bzw. verlassen hat?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Westerwelle, zu
Ihrer ersten Frage: Der Bundesregierung ist auf Anfrage
in der Nacht des 16. Januar 1999 von der italienischen
Regierung bestätigt worden, daß Abdullah Öcalan Italien verlassen hat. Zuvor wurde die Bundesregierung
von der italienischen Regierung nicht unterrichtet.
Erste Zusatzfrage,
Herr Dr. Westerwelle. Bitte.
Wenn die deutsche Bundesregierung nicht darüber unterrichtet wurde,
daß Herr Öcalan Italien verläßt: Ist es richtig, daß sich
ein Beauftragter der Bundesregierung am Tag der Ausreise von Herrn Öcalan in Rom zu Gesprächen mit der
italienischen Regierung aufgehalten hat?
Herr Westerwelle, diese Frage
kann ich nicht beantworten; ich kann das nicht bestätigen. Ich weiß nur, daß die Bundesregierung in der Nacht
- möglicherweise von der von Ihnen angesprochenen
Person - unterrichtet wurde. Ich sage noch einmal: Die
Bundesregierung hat diese Frage an die italienische Regierung gestellt.
Zweite Zusatzfrage,
Herr Dr. Westerwelle.
Wenn Sie sagen,
Sie könnten es nicht bestätigen, sagen Sie das dann deshalb, weil Sie es aus eigener Anschauung nicht wissen?
Aber es stimmt, daß Sie es auch nicht ausschließen können? Sie haben darüber also keinen eigenen Erkenntnisstand?
Richtig.
Ich rufe die Frage 33
des Abgeordneten Dr. Westerwelle auf:
Werden Abdullah Öcalan auch in anderen europäischen
Ländern Morde oder andere schwere Straftaten vorgeworfen,
ohne daß diese Länder PKK-Chef Abdullah Öcalan international
zur Festnahme ausgeschrieben hätten?
Zur Beantwortung steht wiederum der Parlamentarische Staatssekretär Pick zur Verfügung.
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Dr. Westerwelle,
der Bundesregierung ist nicht bekannt, ob Abdullah
Öcalan außer in der Türkei in anderen europäischen
Ländern Morde oder andere schwere Straftaten vorgeworfen werden.
Die erste Zusatzfrage, Herr Dr. Westerwelle.
Wenn die Bundesregierung einen eigenen internationalen Haftbefehl ausgeschrieben hat und ihn auch vollstrecken möchte - bislang wollte sie ihn vollstrecken -, wie kann es dann sein,
daß der Bundesregierung keine Erkenntnisse über entsprechende Strafverfolgungsvorhaben in anderen Ländern vorliegen?
Der Bundesregierung wäre es
natürlich ein leichtes, diese Dinge zu klären, wenn
solche internationalen Haftbefehle zum Beispiel in das
Schengener System eingestellt oder über Interpol bekannt geworden wären. Der Bundesregierung ist bis
heute nichts bekannt geworden.
Sie haben noch eine
Zusatzfrage, Herr Dr. Westerwelle.
Wann wird denn
der Bundesregierung voraussichtlich bekannt sein, ob
Herrn Öcalan auch in anderen Ländern - vor allen Dingen in anderen europäischen Ländern - Straftaten vorgeworfen werden? Es ist doch eine außerordentlich relevante Frage, ob man sich mit anderen Ländern abstimmen muß. Ich bin, offen gestanden, ein wenig geplättet,
daß Sie sagen, Sie wüßten nicht, ob Herrn Öcalan auch
in anderen Ländern relevante Straftaten vorgeworfen
werden. Das wäre doch eigentlich das erste, was man
klären müßte.
Herr Dr. Westerwelle, für die
Türkei ist das zweifellos zutreffend. Der Bundesregierung ist im Rahmen ihrer Beratungen, die mit Italien
und, wie schon gesagt, mit der Türkei geführt wurden,
nicht bekannt geworden, daß Herrn Öcalan auch in
anderen europäischen Ländern entsprechende schwere
Vorwürfe gemacht wurden.
({0})
Das schließt nicht aus, daß die Bundesregierung solche
Informationen in Zukunft erhält. Bisher ist das jedenfalls
nicht geschehen.
Jetzt kommt eine
Zwischenfrage des Kollegen Dr. Schmidt-Jortzig. Bitte
sehr.
Herr Staatssekretär, wenn es richtig ist, daß der Bundesregierung
kein anderer Staat bekannt ist, der eigene strafrechtliche
Vorwürfe gegen Öcalan erhebt, wie kann dann der feste
Glaube der Bundesregierung begründet werden, daß es
eine internationale Strafverfolgung von Öcalan geben
wird?
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
die Frage Ihres Kollegen Westerwelle bezog sich auf
Morde und andere schwere Straftaten. Dazu habe ich
ausgeführt, daß der Bundesregierung Begehren anderer
Staaten, außer der Türkei, nicht bekannt sind. Das
schließt nicht aus, daß es diese gibt. Der Regierung sind
sie aber nicht bekannt.
Unabhängig von dieser Frage bemühe sich die Bundesregierung, ein internationales Forum zu schaffen. Bei
einem solchen internationalen Forum würden sich dann
auch die entsprechenden Staaten melden. Bisher sind der
Bundesregierung keine Initiativen in dieser Richtung
bekannt.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Hirche.
Herr Staatssekretär, hat
denn die Bundesregierung im Hinblick auf die Rechtssituation nicht nachgeforscht oder andere Staaten gefragt, ob Haftbefehle vorliegen und wie die juristische
Auffassung zu diesem Fall ist?
Herr Hirche, mir ist nicht bekannt, ob eine solche Frage in irgendeinem Gremium
gestellt worden ist. Ich gehe davon aus, daß in Anbetracht der vielfältigen Bemühungen der Bundesregierung, zum Beispiel auf der Ebene des Europarats, bekannt geworden wäre, wenn es auch von anderen
Staaten entsprechende Haftbefehle geben würde. Ich
bin mir eigentlich sicher, Herr Hirche, daß uns das im
Rahmen unserer Konsultationen bekannt geworden
wäre.
Ich rufe die Frage 34
der Kollegin Ulrike Flach auf:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den gegenwärtigen Aufenthaltsort von PKK-Führer Abdullah Öcalan?
Auch zu deren Beantwortung steht Herr Staatssekretär Pick zur Verfügung. Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Flach, die Bundesregierung hat keine gesicherten Erkenntnisse über
den gegenwärtigen Aufenthaltsort von Herrn Abdullah
Öcalan.
Eine Zusatzfrage,
Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, erlauben
Sie mir als Nichtjuristin die Frage: Warum hat es keinerlei Beschattung gegeben, so daß Herr Öcalan einfach
über Nacht verschwinden konnte?
Frau Kollegin, dafür sind nach
dem Völkerrecht zunächst einmal die italienischen Behörden zuständig. Die Bundesregierung beteiligt sich
nicht an entsprechenden Spekulationen darüber, wer
wen wie überwacht.
Eine zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß es in diesem Falle auch keine Bitte um Amtshilfe gegeben hat?
Der Bundesregierung ist nicht
bekannt, wo sich Herr Öcalan aufhält. Das schließt auch
die Quellen ein, die Sie offensichtlich gemeint haben.
({0})
Vielen Dank.
Die Frage 35 des Kollegen Otto Solms soll schriftlich
beantwortet werden.
Ich rufe jetzt die Frage 36 des Kollegen Eckart von
Klaeden auf:
Bis wann wird nach der Planung der Bundesregierung das
Gesetzgebungsverfahren zu der von der Bundesministerin der
Justiz auf der Justizministerkonferenz am 5. November 1998 erfolgten Ankündigung, durch die unverzügliche Änderung der
bisher entgegenstehenden Vorschriften des Gesetzes über das
Bundeszentralregister für die alsbaldige Übermittlung der für die
Erfassung verurteilter Schwerstkrimineller erforderlichen Daten
für den Aufbau der Gen-Datei beim Bundeskriminalamt zu sorgen, abgeschlossen sein, d. h. bis wann sollen neben Wissenschaftlern auch Landespolizeien bzw. Staatsanwaltschaften beim
Bundeszentralregister einen Suchlauf beantragen können?
Zur Beantwortung steht der Staatssekretär Pick zur
Verfügung. Herr Staatssekretär, bitte.
Herr von Klaeden, die Bundesregierung hat den Entwurf des Bundesministeriums der
Justiz zur Änderung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes am 20. Januar 1999 beschlossen. Die Bundesregierung wird alles daransetzen, daß dieser Entwurf so
schnell wie möglich beraten und verabschiedet wird.
Angesichts der bestehenden Termine im Bundesrat und
im Bundestag sowie in den zu beteiligenden Ausschüssen gehe ich derzeit davon aus, daß eine Verkündung
des Gesetzes etwa um die Jahresmitte erfolgen kann.
Dies setzt allerdings eine zügige Beratung - vor allem in
den Ausschüssen - voraus.
Es gibt keine Zusatzfragen. Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 37 des Kollegen von Klaeden auf:
Wie viele Einzelanfragen insgesamt müßten schätzungsweise
von den Länderpolizeibehörden bzw. Staatsanwaltschaften beim
Bundeszentralregister zur Erfassung der sog. „Altfälle“ zum
Aufbau der DNA-Analyse-Datei gestellt werden, um abzuklären, ob im Zusammenhang mit Straftaten von erheblicher Bedeutung die Möglichkeit und Notwendigkeit einer molekulargenetischen Untersuchung besteht, wenn der Suchlauf im Bundeszentralregister nicht möglich wird?
Auch zur Beantwortung dieser Frage steht Herr
Staatssekretär Pick zur Verfügung. Bitte sehr, Herr
Staatssekretär.
Herr von Klaeden, die
Möglichkeit, daß der Suchlauf im Bundeszentralregister nicht ermöglicht wird, sehe ich derzeit nicht. Der
Frage kommt deshalb eine rein theoretische Bedeutung
zu.
Eine überschlägige Ermittlung des Bundeszentralregisters derjenigen Personen, die mindestens eine Eintragung nach dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen Katalog aufweisen, hat ergeben, daß mehrere hunderttausend Datensätze vorhanden sind. In diesem Umfang müßten nach der derzeitigen Rechtslage in dem von
Ihnen unterstellten Fall Einzelanfragen unter Angabe der
Namen gestellt werden.
Es gibt keine Zusatzfragen.Vielen Dank.
Ich darf mich sicher in Ihrer aller Namen bei Herrn
Staatssekretär Pick für die Mühe bedanken, die er sich
mit der Beantwortung der Fragen gemacht hat. Das ist ja
ein schwerer Job. Herzlichen Dank dafür.
({0})
Ich darf noch hinzufügen, daß die Frage 14 schriftlich
beantwortet wird. Wahrscheinlich ist das schon akten-
kundig, aber ich erwähne es noch einmal.*)
Die Fragestunde ist damit beendet.
--------
*) Die nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die
Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zum Notenwechsel mit Frankreich und Großbritannien
zur friedlichen Nutzung der Kernenergie und
zu seiner rechtlichen Bindungswirkung
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rexrodt. Bitte sehr.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Über den außenpolitischen
und europapolitischen Schaden, den die Bundesregierung mit ihrem unkoordinierten und unverantwortlichen
Vorgehen in Sachen Atomausstieg angerichtet hat, ist in
diesem Haus und vor allem bei unseren europäischen
Partnern schon viel gesagt worden. Da ist ein Flurschaden ersten Ranges entstanden.
Bevor ich darauf eingehe, möchte ich aber zunächst
noch einmal die innenpolitische Dimension darstellen.
Dabei geht es nicht um die Frage „Ausstieg ja oder
nein“. Ich halte den Ausstieg, wie er jetzt angelegt ist,
sowieso für einen Fehler; da die Kernenergie 31 Prozent
Anteil an der Stromerzeugung hat, ist das so gar nicht
machbar. Aber Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, können ja sagen: Wir haben ein Mandat.
({0})
Ich sage hier allerdings mit aller Deutlichkeit: Sie haben kein Mandat für die Szenarien, die Sie hier abgeliefert haben.
({1})
Da kommt der Bundeskanzler und erhebt den Anspruch, der Architekt des Ausstiegs zu sein. Er will die
Auseinandersetzung um die Castor-Transporte beenden,
die Verteuerung des Stroms abwenden und einen
Konsens mit den Beteiligten erzielen. Währenddessen
will Herr Trittin, unbeeindruckt von all dem, zunächst
einmal die Zusammensetzung der Reaktorsicherheitskommission verändern und Atomkraftgegner dort hereinbringen.
({2})
Während das verkündet wird, bereitet Herr Trittin einen vorbereiteten Gesetzentwurf vor, nach dem der Ausstieg in einem Jahr stattzufinden habe. Das ist ein
Crashkurs, ein Kurs des Ausstieges um jeden Preis. Da
sollen die Zwischenlager vollaufen, da wird die sogenannte Verstopfungstheorie gepflegt. So will man ganz
schnell die grüne Klientel im fundamentalistischen Lager bedienen. So geht das aber nicht. Zur gleichen Zeit
sagt der Bundeskanzler im ZDF: Was der Herr Trittin da
erarbeitet, ist so okay. Während dieses gesendet wird,
erhält Herr Schröder per Fax den Gesetzentwurf und
stellt auf einmal fest: So geht das nicht. Ja, meine Damen und Herren, wo leben wir denn?
({3})
Was tut denn diese Regierung? Daß hier jeder tun
kann, was er will, haben wir bei den Gesetzentwürfen zu
den 630-Mark-Jobs und zur Ökosteuer sowie bei den
Stellungnahmen zur NATO-Doktrin und zum Bundeswehreinsatz im Kosovo und sonstwo erlebt. Es kann das sage ich in Richtung des Bundeskanzlers - ja seiner
Seelenlage entsprechen, daß er die Dinge laufen lassen
will, um sie dann als der große Matador wieder einzufangen. Das geht einmal, zweimal und am Anfang auch
dreimal, aber dann geht das nicht mehr. Dieses Land
verlangt nach Berechenbarkeit und Kontinuität.
({4})
- Herr Schlauch, wir sitzen hier nicht in irgendeiner Basisversammlung der Grünen.
({5})
Von unserer Regierungsbank wird das wichtigste
Land Europas regiert. Dort werden Entscheidungen getroffen, auf die unsere Nachbarn schauen, mit denen wir
auf vielfältigste Weise verbunden sind. Da können Sie
hier keine Basisversammlung veranstalten.
Man kann auch nicht, wie das möglicherweise bei Ihnen auf dem Parteitag üblich ist, sagen: Nun haue ich
einmal drauf, und wenn es gutgeht, ist es gut, und wenn
es schiefgeht, habe ich Pech gehabt. - So geht das nicht
auf einer Regierungsbank und in der Regierungsverantwortung, meine Damen und Herren!
({6})
Wie soll denn dieser Atomausstieg überhaupt funktionieren? Die Atomenergie hat einen Anteil von
31 Prozent an der Stromerzeugung. Ich sage ganz ruhig:
Sicherlich gibt es erhebliche Sparpotentiale. Wir können
auch mit regenerativen Energien eine Menge tun.
({7})
Möglicherweise werden wir von jetzt 3 Prozent auf 6 Prozent oder 7 Prozent kommen; aber niemals wird über einen Ausstieg die Situation entstehen, daß wir auf den Zubau oder darauf verzichten können, Atomstrom oder welchen Strom auch immer anderswo zu kaufen. Da ist es
nichts mit Arbeitsplätzen aus deutscher Kohle. Da ist es
auch nichts mit dem Import von Gas. Ich sage auch zu Ihnen, den Grünen: Gas ist eine Ressource, ein Brennstoff viel zu schade, um daraus Strom zu erzeugen.
Herr Kollege, die
fünf Minuten sind um.
Das müßten Sie wissen, meine Damen und Herren. Wir brauchen es für die
chemische Industrie.
({0})
Fünf Minuten sind
um, Herr Kollege. Wir sind in der Aktuellen Stunde.
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluß. - Ich will Ihnen nur sagen: Das,
was von der Debatte der letzten Tage bleibt, ist nicht die
Frage: Atomausstieg ja oder Atomausstieg nicht so? Das
ist vielmehr die Unzuverlässigkeit, das ist die Unsicherheit, die Sie gegenüber den Verbrauchern, gegenüber
unserer Industrie und gegenüber unseren Partnern in Europa haben entstehen lassen.
({0})
So kann man keine Regierungspolitik machen. So kann
man nicht verantwortlich arbeiten. Lassen Sie deshalb
ab von solchem Tun! Das ist im Interesse dieses Landes
und der Arbeitsplätze in Deutschland.
({1})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich möchte darauf aufmerksam machen,
daß wir uns in der Aktuellen Stunde befinden. Ich unterbreche Sie nur ungern, aber ich werde es tun, damit sich
alle gleichbehandelt fühlen.
Jetzt hat Monika Griefahn das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Notenwechsel mit Frankreich
und England stellt eine Verwaltungsvereinbarung mit
beiden Ländern dar.
({0})
Alle Staaten haben durch die Wahl der Form des Verwaltungsabkommens zu erkennen gegeben, daß sie den
innerstaatlichen Gesetzgeber gerade nicht binden wollen.
Schon 1993 wurde in einem Gutachten, das ich in
Vorbereitung auf die ersten Konsensgespräche in Auftrag gegeben habe, festgestellt, daß die Verträge die
Bundesregierung nicht hindern, „Gesetzesinitiativen zur
Änderung des Atomgesetzes zu ergreifen“.
({1})
Das hat die Niedersächsische Landesregierung damals
auch in die Beratungen des Bundesrates zur Atomgesetznovelle eingebracht. Dies ist selbst dann der Fall,
wenn die Rechtsfolgen im Ergebnis den Verträgen zuwiderlaufen. Die innerstaatliche Gesetzesinitiative ist
„völkerrechtlich nicht relevant“.
Die Koalitionspartner der Bundesregierung haben
sich, wie Sie alle wissen, in den Koalitionsvereinbarungen auf einen Ausstieg aus der Kernenergie festgelegt
({2})
und sind im übrigen auch von den Wählerinnen und
Wählern beauftragt worden, dieses politische Ziel zu
verfolgen. Die Forderungen auf Schadenersatz unserer
französischen und britischen Nachbarn müssen natürlich in der Diskussion aufgearbeitet werden. Wir sind
dennoch ein souveränes Staatswesen und müssen in der
Lage sein, unsere Politikziele erstens zu formulieren
und zweitens natürlich auch umzusetzen. Beschlüsse
unserer gesetzgebenden Organe sind durch die bilateralen Vereinbarungen eben ausdrücklich nicht ausgeschlossen.
Natürlich spielen bei diesen Fragen zwei Komponenten eine wichtige Rolle. Das eine ist der Faktor Zeit,
und das andere ist der Stil. Außerdem: In den Verträgen
mit den EVUs und den Wiederaufarbeitungsanlagen
wird dem Recht der Regierungen ausdrücklich zugestimmt. Akte von Regierungen und anderen Organen mit
Gesetzeskraft, also auch eines Parlamentes, werden in
dem Abkommen als „force majeure“ - teilweise ungenau mit „höhere Gewalt“ übersetzt - definiert, die zu einer Unterbrechung des Abkommens führen. Keine der
Parteien ist dann für finanzielle oder andere Konsequenzen verantwortlich.
Ich habe in diesem Zusammenhang bereits mit dem
französischen Botschafter die Frage erörtert, wie das in
der Praxis tatsächlich aussieht. Das heißt, daß in ordentlichen Gesprächen zwischen Frankreich und
Deutschland in einem Zeitraum, der länger sein muß
als ein Jahr, einvernehmliche Lösungen gefunden werden können. Ähnliches, denke ich, wird mit England
möglich sein.
Der Bundeskanzler hat bereits in dieser Woche erneut
Gespräche mit den Energieversorgungsunternehmen geführt. Gestern haben die Konsensgespräche begonnen.
Dort haben die Energieversorgungsunternehmen signalisiert, daß sie erstens den Ausstieg akzeptieren und
zweitens selbst die Vertragsveränderungen auf den Weg
bringen werden. Das ist ein entscheidender Punkt. Wenn
sich diejenigen, die Verträge miteinander geschlossen
haben, darum bemühen, daß die Verträge geändert werden, dann kann man sie auch ändern.
({3})
Es kommt jetzt darauf an, den Verträgen entsprechend Lösungsmöglichkeiten zu finden. Denn eines ist
klar: Der Ausstieg muß sein, und der Stopp der Wiederaufarbeitung ist zwingend. Alleine durch die Wiederaufarbeitung des Atommülls versechsundzwanzigfacht sich
die Menge des radioaktiven Mülls. Außerdem gibt es,
wie es früher angedacht war, keine Verwertungsmöglichkeiten mehr für die Produkte aus den WAAs.
Schnelle Brüter existieren nämlich weder in Frankreich
noch in Deutschland. Dort wurde früher Plutonium eingesetzt. Auch MOX-Elemente wird es bei einem Auslaufen der Kernenergie nicht mehr geben. Außerdem
wird durch die Wiederaufarbeitung die Zahl der Atomtransporte erhöht. Wir wollen sie aber möglichst niedrig
halten.
({4})
Wenn wir uns also das politische Ziel des Atomausstiegs gesetzt haben, dann müssen wir bei der Umsetzung die rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen
beachten. Dabei ist eine ganze Kette von Dingen zu berücksichtigen, und das werden wir auch tun.
Natürlich ist es nicht so, daß Verträge und Vereinbarungen einseitig außer Kraft gesetzt werden können und
sollen. Wichtig ist, daß wir uns mit unseren französischen und britischen Partnern an einen Tisch setzen, das
Problem offen ansprechen und die neuen Bedingungen
in Ruhe verhandeln. Das geht; das ist Ihre Erfahrung mit
den Franzosen und den Engländern, und das wird auch
unsere Erfahrung mit ihnen sein.
Ich denke, daß innenpolitisch in den Gesprächen mit
den EVUs Lösungen gefunden werden. Außenpolitisch
werden wir mit Frankreich und Großbritannien weiterhin die guten Beziehungen pflegen.
({5})
- Nein, das ist nicht wahr. Ich habe das selber nachgeprüft.
({6})
Die Abkommen sprechen eine klare Sprache. Auf deren Grundlage wird verhandelt. Es besteht auch kein
Grund, dies in Zweifel zu ziehen.
Die USA, die immer als großes Beispiel hingestellt
werden, haben schon lange kein neues AKW mehr gebaut, weil die Energieform nicht wirtschaftlich ist. England hat aus denselben Gründen Probleme mit der Privatisierung. Die neue Wiederaufarbeitungsanlage
THORPE ist 1994/95 gegen den Widerstand aller Anliegergemeinden gebaut worden, aber sie ist mit Mitteln
der Bundesrepublik finanziert worden. Sie arbeitet technisch nicht zufriedenstellend und trägt zur Belastung der
Irischen See bei; Leukämiefälle sind dort an der Tagesordnung. Die Folgerung ist: Wir müssen schnellstens
zum Konsens mit den EVUs kommen.
({7})
- Hören Sie einmal zu; das gehört alles dazu. - Wir
brauchen schnelle Anträge sowie die Genehmigung für
die Zwischenlager an den AKWs
Denken Sie an die
Redezeit.
- ich bin gleich am Ende -,
um die Transporte zu vermeiden. Der Rücktransport sowie die Einzelheiten der Änderungen der Verträge mit
den WAAs und den Ländern werden im einzelnen besprochen werden. Ich bin mir ganz sicher, daß wir nach
den ersten Aufgeregtheiten in Ruhe, aber auch mit Bestimmtheit zu einer befriedigenden Lösung für alle Beteiligten kommen werden.
({0})
Nun hat das Wort
Herr Dr. Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Einen „politischen SuperGAU“ hat gestern abend ein bekannter Radiosender aus
dieser Region das genannt, was die rotgrüne Bundesregierung mit ihrem Wiederaufbereitungs- und Ausstiegschaos im In- und Ausland angerichtet hat.
({0})
Zwar ist sie erst einmal auf dem Bauch gelandet, aber da helfen auch keine Beschönigungen von Frau Griefahn
- es ist viel Porzellan zerschlagen worden. Sie hätten
mit den Franzosen und Engländern vorher sprechen
müssen und nicht hinterher, wenn die Scherben am Boden liegen.
Es ist traurig genug, daß Sie, Herr Trittin, für die Erreichung Ihrer Ziele nationales Recht und unsere Verfassung ignorieren. Sie haben aber leider der Welt auch vor
Augen geführt, daß in der neuen Bundesregierung Politiker sitzen, die zur Verfolgung ihrer irrationalen Ideologien
({1})
auch den Bruch internationaler Verträge und des Europarechts billigend in Kauf nehmen.
({2})
Sie, Herr Trittin, haben der Bundesrepublik Deutschland
fahrlässig und inkompetent außenpolitischen Schaden
zugefügt. Dies gilt leider auch für den Bundeskanzler
Schröder.
Diesmal ging des Kanzlers doppeltes Spiel als
Knecht Ruprecht und Heiliger Nikolaus daneben. Herr
Schröder hat zu lange Däumchen gedreht, seinen Umweltminister gewähren lassen und den Unsinn nachgeplappert, trotz der erheblichen Bedenken, die das Justizministerium längst geäußert hatte. Der Scherbenhaufen, den Trittin hinterläßt, ist auch der Scherbenhaufen des Kanzlers. Er kann diese Scherben nicht
mehr so schnell kitten; denn die außenpolitischen Irritationen bleiben nicht auf Frankreich oder Großbritannien beschränkt.
Rotgrün hat uns den Argwohn all unserer Nachbarn
und Freunde in Europa zugezogen. Sie sehen, daß die
traditionellen deutschen Tugenden der letzten Jahrzehnte, wie Vertragstreue und Berechenbarkeit, nun wieder
von politischen Abenteurern und Glücksrittern aufs
Spiel gesetzt werden.
({3})
Ihr Eiertanz um die Kernenergie ist aber nicht nur außenpolitisch, sondern auch umweltpolitisch aberwitzig.
Sie sind von einem schlüssigen umweltverträglichen
Energiekonzept nach wie vor Lichtjahre entfernt. Sie
wollen die sicheren deutschen Kernkraftwerke stillegen,
mit der Folge, daß wir dann in einem liberalisierten europäischen Energiemarkt einen großen Anteil unseres
Stroms aus Kernkraftwerken des Auslands beziehen,
und zwar ohne unsere Sicherheitsstandards. Das ist eine
umweltpolitische Heuchelei.
({4})
Hinzu kommt, daß wir auch keine Chance mehr hätten, zum Beispiel unseren Nachbarn im Osten unsere
deutschen Sicherheitsstandards abzuverlangen. Wir
werden außerdem nicht mehr in der Lage sein, unsere
ehrgeizigen, aber richtigen Klimaschutzziele zu erreichen. Allein die bayerischen Kernkraftwerke ersparen
uns jährlich 740 Millionen Tonnen CO2. Um dies anderweitig einzusparen, müßten Sie beispielsweise den
gesamten bayerischen Straßenverkehr für zwei Jahre
stillegen.
Es ist ebenfalls Heuchelei, den Menschen weiszumachen, daß wir Kernenergie durch regenerative
Energien ersetzen könnten. Dazu bräuchten wir zum
Beispiel mehr als fünfzigmal soviel Windkraftanlagen
wie bisher. Wo in Deutschland wollen Sie die denn hinstellen?
Wie weit bei Ihnen Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, zeigt ein Blick auf Ihren Haushalt für
1999. Für das vollmundig angekündigte 100 000Dächer-Programm haben Sie dabei die stolze Summe
von 1 Million DM ausgegeben. Für die Kohleförderung
aber werden allein für dieses Jahr zusätzlich 700 Millionen DM bereitgestellt. Damit ist Ihr Klimaschutz, meine
Damen und Herren von der rotgrünen Koalition, zur
Farce geworden,
({5})
ebenso wie Ihr Naturschutz, mit dem Sie sich laut Trittin
überhaupt erst im nächsten Jahr befassen wollen, oder
die Ökosteuer, die sich zu einem echten Torpedo gegen
den Umweltschutz entwickelt.
Es ist an der Zeit, daß auch manche Umweltverbände
ihre Neutralität wiederfinden und ihren automatischen
Kniefall vor Rotgrün einstellen.
({6})
Denn was Rotgrün hier vollführt, ist nicht nur eine außenpolitische Irrfahrt und ein ökonomischer Irrsinn; es
ist auch eine Bankrotterklärung gegenüber dem nationalen und internationalen Umweltschutz.
({7})
Das Wort hat nun
die Kollegin Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der
Bundestagswahl haben die Wähler und Wählerinnen mit
der Entscheidung für die rotgrüne Bundesregierung auch
dem Ausstieg aus der Atomkraft eine Mehrheit gegeben.
Aber das ist ein sehr schwieriger Auftrag. Der Atomausstieg ist juristisch, technisch und politisch außerordentlich kompliziert. Wenn wir einen ganzen Technologiebereich beenden wollen, ist das in einer außerordentlich
komplexen Gesellschaft auch ein sehr komplexes Unterfangen.
Die Angriffe und die Schadenfreude der Opposition
sind hier völlig fehl am Platze. Wer 16 Jahre die Probleme in diesem Lande nur ausgesessen hat und wer die
Republik unter dem Motto: Weiter so und nichts ändern!
regiert hat, der hat nur einen einzigen Fehler macht. Dieser war aber um so gravierender. Er hat unser Land in
einen beispiellosen Reformstau geführt und unser Land
zurückgeworfen.
({0})
Wir wollen diesen Reformstau überwinden. Fehler im
Detail machen wir vielleicht, aber Ihre Politik, der Stillstand, das Weiter-so, war insgesamt ein einziger Fehler.
({1})
Die Presse hat über die stattgefundenen Konsensgespräche geschrieben, Gewinner seien die Stromkonzerne. Ich sehe das anders. Sicherlich: Die Wiederaufbereitung wird nicht punktgenau zum Jahre 2000 beendet
werden, aber sie wird beendet werden.
Wenn man den Blick ein bißchen weiter faßt, dann
kann man feststellen, daß es gestern auch etwas ganz
Neues gegeben hat: Der gestrige Tag war ein Wendepunkt in der Geschichte der Energiepolitik in Deutschland; der gestrige Tag war der erste Tag des Einstiegs in
den Ausstieg. Nach 40 Jahren Anti-AKW-Bewegung in
Wyhl, Brockdorf, Grohnde, Gorleben, Wackersdorf,
Kalkar und Hanau haben die Stromkonzerne anerkennen
müssen, daß es ab sofort um den Ausstieg geht, weil es
dafür eine Mehrheit gibt.
({2})
Jahrelang haben sie behauptet, ohne Atomkraft sei die
Energieversorgung in Deutschland nicht sichergestellt.
Jetzt müssen sie das Primat der Politik, das heißt: die
Mehrheitsmeinung, akzeptieren. Es geht ab jetzt um das
Wie und nicht mehr um das Ob.
({3})
Der Kern unserer rotgrünen Ausstiegsstrategie ist dabei
der Kompromiß. Er beinhaltet akzeptable Restlaufzeiten
für das Betreiben der AKWs. Wir sind einer Einigung und
damit auch dem Atomausstieg ein Stück nähergekommen.
Wir müssen in der Wahl des Weges - das haben wir gestern bewiesen - flexibel sein. Aber das Ziel, den
Atomausstieg in diesem Lande durchzusetzen, werden wir
nicht aus den Augen verlieren. Diesem Ziel sind wir - wie
gesagt - gestern ein Stück nähergekommen.
({4})
Ich sage auch in Richtung Umweltbewegung ganz
deutlich: Konsens ist aus meiner Sicht kein Nonsens.
Konsens ist auf Grund der Komplexität der Materie
wahrscheinlich der erfolgversprechendste Weg, den
Atomausstieg zu verwirklichen. Im Gegensatz zur alten
Bundesregierung - auch Sie, Herr Rexrodt, haben immer
wieder Öl ins Feuer gegossen -, die das Thema Atomkraft benutzte, die Gesellschaft immer weiter zu spalten
und die Gräben immer weiter zu vertiefen, polarisieren
wir nicht, wie Sie das mit Unterschriftenlisten gegen die
doppelte Staatsbürgerschaft tun.
({5})
Wir wollen die Gesellschaft zu einem Konsens hinsichtlich einer zukunftsfähigen Energiepolitik führen.
Wir könnten auch anders handeln, wie die Debatte
über die Wiederaufbereitung sehr deutlich gezeigt hat.
Wir könnten den Ausstieg auch im Dissens durchsetzen,
({6})
weil das Fehlen eines soliden Entsorgungskonzeptes die
Achillesferse der Stromkonzerne ist. Die Wiederaufbereitung ist eine jahrzehntelang von Ihnen kaschierte
Zwischenlagerung im Ausland.
({7})
Ich sage ganz deutlich: Die Wiederaufbereitung liegt in
einer rechtlichen Grauzone. Wenn wir die Wiederaufbereitung sofort verbieten würden, dann würde das bedeuten, daß wir auf Grund des fehlenden Entsorgungsnachweises entschädigungslos aus der Wiederaufbereitung
aussteigen könnten.
Wir wollen das nicht tun; wir haben uns vielmehr dafür
entschieden, den Ausstieg im Konsens durchzuführen,
weil wir der festen Überzeugung sind, daß sowohl für die
Bundesregierung als auch für die Stromkonzerne der geordnete Ausstieg im Konsens ein besserer Weg ist als der
ungeordnete Ausstieg im Dissens. Deswegen sage ich:
Gestern hat keiner verloren, sondern alle, die Stromkonzerne und die Bundesregierung, haben gewonnen.
({8})
Gewinner ist auch die Gesellschaft, weil sie auf dem
Weg ist, die Spaltung in der Zukunft zu überwinden.
({9})
Wenn wir die Spaltung überwunden haben, dann können
wir uns gemeinsam der großen Herausforderung des
Klimaschutzes stellen.
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ein letzter Punkt: Gestern haben die Grünen, auch Jürgen Trittin, durch flexibles Handeln gezeigt,
({0})
daß sie bereit sind, auf eine „Verstopfungsstrategie“ zu
verzichten und voll und ganz auf den Konsens zu setzen.
Wir haben den Stromkonzernen die Hand gereicht. Jetzt
ist es an der Zeit, daß die Stromkonzerne diese Chance
ergreifen. Es ist wahrscheinlich die letzte Chance, in
diesem Lande zu einem Energiekonsens zu kommen.
Ich danke.
({1})
Das Wort hat nun
die Frau Kollegin Marquardt, PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für gewöhnlich erwartet man von der Opposition bzw. von uns kritische
Worte. Doch lassen Sie mich an dieser Stelle einfach
einmal feststellen: Ich glaube, die Grünen brauchen sich
für große Teile des Gesetzentwurfes ihres Umweltministers nicht zu schämen. Ich bin zwar nicht mit allen Regelungen dieses Entwurfes einverstanden. Aber es ist
schon deutlich geworden, daß hier ein ernsthafter Versuch eines schnellen Atomausstieges unternommen
wurde. Das sollte man auch einmal anerkennen.
({0})
Doch ich sage ganz deutlich: Das, was jetzt als Kompromiß verkauft wird, ist ein Desaster! Einzig auf der
falschen Seite herrscht Freude. An den Aktienmärkten
werden die Energiekonzerne schon als klare Sieger gefeiert. Schön, daß der Bundeskanzler wenigstens diese
glücklich machen konnte.
Für alle anderen war das gestern ein schwarzer Tag.
Das Ende der Wiederaufarbeitung ist nicht in Sichtweite
gerückt. Auf Akzeptanz seitens der Anti-AKWBewegung zu hoffen ist meines Erachtens illusionär.
Daß die Menschen gestern hier in Bonn mit großem Einsatz für die sofortige Abschaltung aller Atomanlagen
demonstriert haben - ich habe mich mit einigen unterhalten -, zeigt: Dieser Widerstand wird weiter wachsen.
Und, Frau Hustedt: Konsens ist Nonsens, wenn es nur
darum geht, die Profitinteressen der Atomlobby zu berücksichtigen, und wenn damit für viele Menschen das
Risiko, Opfer von Strahlenerkrankungen zu werden, auf
lange Sicht weiter in Kauf genommen wird.
Ich komme zu der Frage der Entschädigungsforderungen. Bei den Noten, die 1990 zwischen der deutschen
Bundesregierung sowie der französischen und der britischen Regierung ausgetauscht wurden, handelt es sich
um Verwaltungsabkommen, an deren Zustandekommen
der Deutsche Bundestag nicht beteiligt war. Solche
Verwaltungsabkommen entfalten gegenüber dem Gesetzgeber keine Bindungswirkung. So sieht es übrigens
auch die Atomindustrie. Einen Teil des Wortlautes der
Wiederaufarbeitungsverträge durften wir ja letzte Woche der Presse entnehmen. Ich zitiere einmal:
Wenn die Wiederaufarbeitungsfirma durch deutsche Gesetze, Verordnungen oder politische Entscheidungen an der Wiederaufarbeitung gehindert
ist, werden dem Vertragskunden die noch nicht
wiederaufgearbeiteten Brennelemente auf dessen
Kosten zurückgeschickt. Die Wiederaufarbeitungsfirma wird dem Vertragskunden alle bereits angezahlten Beträge für noch nicht erbrachte Dienstleistungen dann zurückzahlen.
Ich denke, das macht deutlich, daß die nähere Untersuchung dieser Dokumente offenbar ganz aufschlußreich
sein könnte. Ich fordere daher die Bundesregierung auf,
dem Umweltausschuß unverzüglich Abschriften der ihr
vorliegenden Wiederaufarbeitungsverträge zukommen
zu lassen.
({1})
Auf dieser Grundlage - und nur auf dieser - läßt sich
dann qualifiziert diskutieren.
Zu guter Letzt bleibt natürlich die Frage: Was tun? In
einem Rechtsgutachten wird die Befürchtung geäußert,
daß die Einbringung einer Gesetzesinitiative zum Verbot
der Wiederaufarbeitung durch die Bundesregierung
selbst als Verstoß gegen die Verwaltungsabkommen ihrer Vorgängerin interpretiert werden könnte. Möglicherweise würden dann Schadensersatzforderungen berechtigt sein. Das, denke ich, wollen wir alle nicht. Die
Situation wäre aber eine andere, wenn die Initiative aus
dem Bundestag selbst käme, wobei alles zu vermeiden
wäre, was wie eine indirekte Initiative der Bundesregierung aussähe. Mit anderen Worten: Wir Abgeordneten
sind gefragt. - Das lasse ich einfach einmal so im Raume stehen.
Danke.
({2})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Dr. Gehb, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Bundeskanzler Schröder und
Umweltminister Trittin seien nach 92 Tagen aus der
Traumwelt in die Wirklichkeit zurückgekehrt, ist heute
im „Algemeen Dagblad“ zu lesen. Aber, zu welchem
Preis? Ich konzediere der Bundesregierung - auch wenn
ich es für sachlich falsch halte -, aus der friedlichen
Nutzung der Kernenergie aussteigen zu wollen - aber
nicht unter Mißachtung völkerrechtlicher, verfassungsrechtlicher, gemeinschaftsrechtlicher und einfachgesetzlicher Vorgaben und natürlich nur unter Einhaltung diplomatischen Fingerspitzengefühls.
Genau das scheint bei der gegenwärtigen Bundesregierung nicht selbstverständlich zu sein. Das ist festzustellen, wenn man sich die Äußerungen des Umweltministers Trittin, aber auch die des Bundeskanzlers Schröder anhört, die im Zusammenhang mit dem noch bis
gestern für Ende dieses Jahres geplanten Verbots der
Wiederaufbereitung abgebrannter Kernbrennelemente
allenthalben - leider auch im benachbarten Ausland gemacht worden sind.
({0})
Die Wiederaufbereitung, die nach geltendem Atomrecht - und nicht rechtswidrig - als gleichberechtigter
Entsorgungspfad neben der direkten Endlagerung steht,
beruht auf bilateralen zivilrechtlichen Verträgen zwischen den einzelnen deutschen Energieversorgungsunternehmen einerseits und der französischen Firma
Cogema bzw. der britischen BNFL andererseits.
({1})
Diese zivilrechtlichen Verträge werden durch völkerrechtliche Vereinbarungen und nicht durch irgendwelche
Verwaltungsvereinbarungen - mit dieser Auffassung befinde ich mich in bester Gesellschaft mit einem Rechtsgutachten der Bundesjustizministerin vom 15. Januar
dieses Jahres - abgesichert. In diese vertraglichen und
völkerrechtlichen Abmachungen, die auch die Rücknahme des Abfalls durch die deutschen Betreiber umfassen, kann nicht, jedenfalls nicht folgenlos, durch staatliche Akte eingegriffen werden.
Lassen Sie mich die Konsequenzen eines solchen
Eingriffs kurz darstellen. Entweder löst eine vorzeitige
Kündigung der zivilrechtlichen Verträge eine Schadenersatzpflicht der Energieversorgungsunternehmen aus sei es aus vertraglich vereinbarter Pönale, sei es nach
den Regeln des Zivilrechts wegen Nichterfüllung eines
Vertrages. Dafür könnten sich die Energieversorgungsunternehmen an der Bundesrepublik Deutschland unter
dem Gesichtspunkt des enteignungsgleichen Eingriffs
im Sinne des Art. 14 GG schadlos halten.
({2})
Oder die deutschen Firmen können aus zivilrechtlichen
Verträgen ohne Schadenersatzpflicht heraus, wenn sie ein
Fall der in den Neuverträgen geregelten Force majeure
vorliegt. Aber in diesem Falle müßte die Bundesregierung
aus völkerrechtlicher Verantwortlichkeit Wiedergutmachung an Frankreich und Großbritannien leisten.
({3})
Jenseits dieser auf Entschädigungsfragen verdichteten
Frage müssen natürlich auch die gemeinschaftsrechtlichen Grundsatznormen des EURATOM-Vertrages eingehalten werden.
Nun, meine Damen und Herren, die Rechtslage ist
das eine, die außenpolitischen Auswirkungen des deutschen Vorpreschens das andere. Vor allem durch die
Auftritte des auch in Deutschland wegen seiner - ich
sage einmal: etwas arroganten - Art bei vielen unbeliebten Umweltministers Trittin in Paris und London ist
nun wirklich einiges Porzellan zerschlagen worden.
Aber auch der Kanzler ging auf Vorbehalte Frankreichs
und Großbritanniens nicht ein und stellte den geplanten
raschen Ausstieg aus der Wiederaufbereitung als alleinige Angelegenheit der souveränen und autonomen Bundesrepublik dar.
Also: Selbst wenn sich die Verträge rechtlich einwandfrei beenden ließen, stellt sich doch die Frage nach
der Verläßlichkeit deutscher Politik. Das hinter dem
schroffen Bonner Vorgehen stehende außenpolitische
Kalkül bleibt mir unverständlich.
({4})
Immerhin ist Deutschland nicht nur wegen seiner EURatspräsidentschaft und der bis zum Sommer anstehenden Reformprojekte der Gemeinschaft auf gute Beziehungen angewiesen. So wie Sie, Herr Umweltminister
Trittin, auftreten, mit selbstsicherer Attitüde bei völliger
Ahnungslosigkeit in der Sache, mit vollmundigen juristischen Äußerungen, ohne auch nur den Unterschied
zwischen einem Notenschlüssel und einem Paragraphenschlüssel zu kennen,
({5})
können Sie vielleicht in der Treibhausatmosphäre Ihrer
Parteitage und Ihrer Wahlveranstaltungen noch Beifall
erhaschen, aber nicht in der harten Realität.
Dem Herrn Bundeskanzler werden wir auch nicht gestatten, sich in seiner Lieblingsrolle zu sonnen, nämlich
erst sein Enfant terrible sozusagen als Minensucher voranzuschicken, um dann sich selbst in der ihm eigenen
selbstgefälligen Manier am Ende als Architekt eines historisch-konsensualen Atomausstiegs zu gerieren. Die
Koalition hat sich selbst ein Armutszeugnis ausgestellt
und steht nun sowohl vor den Kernkraftgegnern als auch
vor den Stromerzeugern gleichermaßen blamiert da.
Auf die Frage, die mir neulich jemand gestellt hat,
warum Herr Trittin Herrn Schröder nicht so mag, habe
ich die Antwort gehört, er strahle ihm zu viel.
({6})
Herr Kollege Dr.
Gehb, das war Ihre erste Rede. Ich gratuliere Ihnen dazu, und zwar auch deshalb, weil Sie die Redezeit eingehalten haben.
({0})
Davon können sich ältere Kollegen noch etwas abschneiden.
Nun hat das Wort die Frau Kollegin Lambrecht, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Offensichtlich führen wir hier nun wöchentlich eine Generaldebatte über
den Ausstieg aus der Atomenergie. Das ist auch gut so
und dem Thema angemessen. Sie von der Opposition
scheinen aber nichts als klammheimliche Freude zu
empfinden, wenn Sie von angeblichen Schadenersatzforderungen aus Frankreich oder England hören. Wir
werden in dieser Frage eine rechtliche Klärung herbeiführen, und wir werden einen juristisch wasserdichten
Entwurf für eine Änderung des Atomgesetzes vorlegen.
({0})
Als Rechtspolitikerin bin ich froh, daß nun genügend
Zeit vorhanden ist, die schwierigen privat- und völkerrechtlichen Fragen eingehend zu prüfen. Bevor wir
einen konkreten Gesetzentwurf vorlegen, müssen wir
aber wissen, welche der öffentlich vorgetragenen
Rechtsprobleme tatsächlich bestehen und welche Argumente nur vorgeschoben wurden, um das politische Ziel
zu verhindern. Aber es ist schon ein starkes Stück, wenn
Sie der Auffassung sind, daß das, was eine Bundesregierung Anfang der 90er Jahre festgelegt hat, auf Dauer
bindend sein soll.
Meine Damen und Herren, hinsichtlich der Wiederaufbereitung gibt es lediglich einen Austausch von Noten auf der Ebene von Staatssekretären und Botschaftern
- und zwar ohne Kündigungsklauseln. Diese wurden zu
einem Zeitpunkt ausgetauscht, als die SPD bereits ein
Verbot der Wiederaufbereitung ausgesprochen hatte und
klar war, daß dieses Ziel im Falle einer Regierungsübernahme in Angriff genommen werden würde. Da muß
schon die Frage erlaubt sein, ob solche Notenwechsel
spätere Regierungen auf Dauer binden können oder ob
nicht nach einer bestimmten Zeit der Anspruch auf Anpassung oder Aufhebung der Vereinbarung besteht. Falls
tatsächlich eine völkerrechtliche Bindung bestehen sollte, muß die Frage erlaubt sein, meine Damen und Herren
von der Opposition - es gibt ja entsprechenden juristischen Sachverstand -, ob die damalige Bundesregierung
durch das Eingehen von so weitreichenden Bindungen
ohne Einschaltung des Gesetzgebers nicht Verfassungsrecht verletzt hat. Sie gerieren sich doch immer als Hüter der Verfassung.
({1})
Fragen Sie sich das doch einmal! Ich frage Sie, warum
Sie diese Vereinbarungen damals nicht ratifiziert haben.
Dann hätte es nämlich hier eine Debatte gegeben, und
damit hätten Sie die öffentliche Meinung gegen sich
aufgebracht. Wenn Sie damals ratifiziert hätten, dann
erst hätten Sie die Verfassung beachtet.
Dem Kollegen Grill, der letzte Woche ein Demokratiedefizit festgestellt haben will, weil der Ausstieg aus
der Atomenergie von der neuen Regierung unumkehrbar
gemacht werden soll, kann ich nur entgegnen: In bezug
auf die Ratifizierung haben Sie ein Demokratiedefizit
bewiesen. Bei dieser Frage hätten Sie zeigen können,
daß Sie gute Demokraten sind.
({2})
Es muß auch die Frage erlaubt sein, warum es denn
in den letzten zehn Jahren zu einer solchen Zunahme
von Transporten in die Wiederaufbereitungsanlagen
von La Hague und Sellafield gekommen ist. Das liegt
doch daran, daß die damalige Bundesregierung 1989 in
Wackersdorf gescheitert ist und so der Wiederaufbereitung in der Bundesrepublik ein Ende gesetzt wurde.
Nach dem Sankt-Florians-Prinzip haben Sie gefährliche Wiederaufbereitung, die Sie zu Hause nicht durchsetzen konnten, in Frankreich und England durchführen lassen.
({3})
Als der Kollege Kubatschka in der Debatte am letzten
Donnerstag darauf verwies, daß im Jahr 1997 um die
französische Wiederaufbereitungsanlage in La Hague
herum eine dreifach erhöhte Leukämierate bei Kindern
und Jugendlichen festgestellt wurde, verzeichnet das
Protokoll den Zwischenruf des Kollegen Schockenhoff
von der CDU/CSU - jetzt zitiere ich -: „Das sind Belehrungen!“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU
und F.D.P., aber ganz besonders von der CSU, ich
möchte einmal wissen, ob Sie, wenn die Anlage in Wakkersdorf in Betrieb gegangen wäre und man heute von
Schwandorf bis Regensburg ähnlich hohe Leukäumiewerte bei Kindern und jungen Menschen zu verzeichnen
hätte,
({4})
sich dann noch einen solch zynischen Zwischenruf erlauben würden. Ich glaube, nicht.
({5})
Aber dieser Zwischenruf zeigt die Unbelehrbarkeit, mit
der Sie an der Kerntechnologie festhalten. Sie haben die
Gegnerinnen und Gegner der Atomkraft als „Steinzeitmenschen“ und „technologiefeindlich“ gebrandmarkt.
Dieser Vorwurf fällt jetzt voll auf Sie zurück. Sie vertreten eine energiepolitische Steinzeitideologie;
({6})
an Ihnen sind 30 Jahre gesellschaftliche Diskussion
spurlos vorbeigegangen.
({7})
- Danke für das Kompliment; ich stecke es mir an den
Hut.
Selbst der Sprecher der Kraftwerksbetreiber, Herr
Manfred Timm, hat gestern in der ARD versichert, daß
die Kraftwerksbetreiber das Primat der Politik respektieren und den Ausstieg aus der Atomenergie mittragen
werden. Alle Achtung! Weiterhin hat Herr Timm die
Solarenergie als die Energieform der Zukunft bezeichnet, meine Damen und Herren von der Opposition.
({8})
Sie hingegen haben bis heute nicht begriffen oder begreifen wollen, welche enormen Entwicklungspotentiale
in der Solarenergie liegen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.
Von einer richtigen
Förderung dieser Energie - leider haben Sie dies in den
letzten 16 Jahren nicht betrieben ({0})
könnte ein positiver Einfluß auf Unternehmensgründungen und Beschäftigungsentwicklungen ausgehen. Das
100 000-Dächer-Programm ist zumindest ein Schritt in
die richtige Richtung.
({1})
Bitte kommen Sie
zum Schluß.
Wir werden gemeinsam mit den Betreibern, den Beschäftigten, der betroffenen Wohnbevölkerung vor Ort und unseren europäischen Nachbarn einen Weg finden, der in absehbarer
Zeit einen Ausstieg aus der Atomenergie ermöglicht und
eine Wende in der Energiepolitik einleitet. Ich weiß, daß
das nicht leicht ist. Ich komme aus dem Wahlkreis, in
dem das Kraftwerk Biblis steht. Ich weiß aber auch, daß
man dort auf ein offenes Ohr für zukunftsfähige Konzepte stößt, und diese werden wir vorlegen.
Vielen Dank.
({0})
Auch die Kollegin
Lambrecht hat, etwas die Zeit überschreitend, ihre erste
Rede gehalten. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Nun erteile ich Herrn Bundesminister Trittin das
Wort. Bitte sehr.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der gestrige Auftakt der Konsensgespräche hat gezeigt: Der Ausstieg aus der Atomenergie wird auch von den Betreibern der Anlagen, anders
als von einigen Ewiggestrigen auf den Oppositionsbänken, als eine politische Entscheidung der Mehrheit der
Wählerinnen und Wähler in diesem Lande akzeptiert.
({0})
Darum verhandeln wir seit gestern - falls Sie das noch
nicht gemerkt haben sollten - nicht mehr über das Ob,
sondern über das Wie des Ausstiegs aus der Atomenergie und des Einstiegs in eine andere Energiepolitik.
({1})
Ebenfalls akzeptiert haben die Betreiber das Ende der
Wiederaufarbeitung und damit das Ende der Plutoniumwirtschaft.
({2})
Dies ist notwendig, wenn wir ein weiteres Anwachsen
des Plutoniumbergs verhindern wollen. Das Verbot der
Wiederaufarbeitung soll wirksam werden, ohne daß der
Entsorgungsnachweis - dieser beinhaltet immer die Sicherheit der Entsorgung - für die Restlaufzeit der
Atomkraftwerke willkürlich in Frage gestellt wird. Hierüber besteht Einvernehmen. Die Umsetzung muß nun in
einer Arbeitsgruppe geklärt werden. Ich bin sehr zuversichtlich, daß uns dies gelingt.
({3})
Ich habe gerade gehört, daß manche mit den Paragraphen nicht klarkommen. Ich rate dringend, einen Blick
in § 9a des Atomgesetzes zu werfen, werte Kolleginnen
und Kollegen. Darin werden Sie nicht finden, daß die
Wiederaufarbeitung eine sichere Form der Entsorgung
ist. Die Wiederaufarbeitung ist nur dann eine sichere
Form der Entsorgung, wenn tatsächlich die Verwertung
des dabei angefallenen Materials gewährleistet ist.
({4})
Genau dies ist weder in Frankreich noch in Großbritannien der Fall. Deswegen rate ich Ihnen, ganz still zu
sein, wenn es um die Frage des Rechts, des internationalen wie des nationalen, geht. Wer jahrelang illegale
Zwischenlagerungen im Ausland geduldet hat, der sollte
jetzt bei der Frage von Rechtsbrüchen still sein.
({5})
Zu den - ich hätte fast gesagt: von Ihnen angesprochenen - Notenwechseln: Herr Rexrodt hat es fertiggebracht, eine Aktuelle Stunde zu beantragen und fünf Minuten lang kein Wort zu dem von ihm selbst gestellten
Thema zu sagen. Sie müssen vielleicht doch einmal einen Blick in den sogenannten Notenwechsel werfen. Ich
rate dazu.
Sämtliche dieser Notenwechsel beziehen sich auf
Musterverträge, die bereits vor dem Austausch der Noten vorlagen. Auch wenn es sich nicht, wie hier vielfach
zu Recht angeführt, auch von der Kollegin Lambrecht,
um rein technische Verwaltungsabkommen handelte davon ist allerdings nach unserer Auffassung auszugehen -, können selbst diese Verträge nur absichern, was
in den Musterverträgen vereinbart worden ist. Wenn wir
uns ansehen, was darin steht, dann stellen wir fest, daß
auch die Betreiber der Wiederaufbereitungsanlagen offensichtlich mit einem höheren Maß an Realitätssinn
ausgestattet waren, als Sie es sind.
({6})
Sie haben nämlich Vorsorge für den Fall getroffen, daß
es einmal andere politische Entscheidungen gibt. Deswegen ist in diesen Musterverträgen - das ist keine Erfindung eines Bundesumweltministers - selber das definiert, was „höhere Gewalt“, „Force majeure“, im Sinne
dieser Verträge ist.
({7})
Wenn Sie etwa Ziffer 9.1.2.1 des Mustervertrages mit
Cogema lesen, dann werden Sie feststellen, daß die
Kollegin Marquardt dies korrekt aus dem Englischen
übersetzt hat: Wenn der Wiederaufarbeiter an der Wiederaufarbeitung durch deutsches Gesetz, durch Verwaltung oder auch nur durch politische Willenserklärung
gehindert wird, dann hat der deutsche Versorger das
Material auf eigene Kosten zurückzunehmen. Die Wiederaufarbeitungsanlage hat ihm aber alle Kosten zu erstatten, die er vorab schon gezahlt hat. - Deswegen führen der Ausstieg aus der Wiederaufbereitung und der
Wechsel zur direkten Endlagerung für die deutschen
Energieversorgungsunternehmen und die deutschen
Stromkunden in keinem Falle zu Mehrkosten. Vielmehr
ist dies kostengünstiger.
({8})
Im übrigen, meine Damen und Herren, sollten Sie mit
der Infragestellung der völkerrechtlichen Reichweite
dieser Verträge sehr vorsichtig sein. Denn hier geht es
nicht nur um die Frage des Miteinanders von Staaten;
hier geht es auch darum, wie ernst Sie in Ihrer Regierungszeit den Grundsatz der Gewaltenteilung genommen
haben. Wenn das zutrifft, was Sie heute en passant behaupten, dann haben Sie über Jahre hinweg einen verfassungswidrigen Zustand geduldet, indem Sie dieses
Haus gebunden haben, ohne es vorher gefragt zu haben.
Wie Sie das mit Ihrem Verständnis von Verfassung in
Einklang bringen können, sehe ich nicht.
({9})
Meine Damen und Herren, es ist richtig, daß die Debatte über den Ausstieg aus der Atomenergie in
Deutschland - Deutschland ist eben nicht Österreich;
Deutschland ist nicht die Schweiz - auch in anderen
Ländern eine Reihe von Diskussionen ausgelöst hat.
({10})
Manche Selbstgewißheiten sind auch dort in Frage gestellt worden. Das kann nicht verwundern. Aber ich will
Ihnen eines sagen: Wir legen Wert darauf, daß wir möglichst im Konsens mit den Betreibern aus dieser Energieform aussteigen.
({11})
Wir streben deswegen an, daß die Betreiber von ihren
zivilrechtlichen Möglichkeiten der Kündigung der Wiederaufarbeitungsverträge so schnell wie möglich Gebrauch machen. Daß die Betreiber dann nicht auf den
Begriff „höhere Gewalt“ zurückgreifen müssen, bedeutet nicht, daß es sie nicht gibt.
({12})
- Moment! Ich komme ganz ruhig zum Schluß. - Diese
höhere Gewalt existiert weiterhin.
({13})
In ihr drückt sich, werte Kolleginnen und Kollegen von
der Union und von der F.D.P., nichts anderes aus als die
in Wahlen gefundene Mehrheit der Bevölkerung dieses
Landes.
({14})
Letztendlich materialisiert sich die höhere Gewalt
({15})
in den Gesetzen, die Sie in diesem Hause verabschieden.
({16})
Ich habe letzte Woche gehört, daß der Kollege Grill das ist auch so ein Erfahrungsjurist - unter Rückgriff auf
ein Lexikon „höhere Gewalt“ als Unglück definiert hat.
Werter Kollege Grill, Sie mögen sich selbst für ein Unglück halten. Aber Sie sollten das nicht auf alle anderen
Mitglieder dieses Hohen Hauses übertragen.
({17})
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Haussmann, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, Rotgrün
hat die Bundestagswahl gewonnen, und Unternehmer
akzeptieren das Primat der Politik. Aber sie akzeptieren
nicht die neue Energiepolitik; das ist ein großer Unterschied.
({0})
Richtig ist auch, Herr Trittin - das sage ich Ihnen vor
weiteren Wahlen -, daß Ihr Stil, Ihre Arroganz, Ihre nationalen Alleingänge nicht von der Mehrheit in
Deutschland getragen werden. Das wird zwischen uns
ausgetragen.
({1})
Wer heute den Vorwurf erhebt, daß die frühere Bundesregierung verfassungswidrig gehandelt habe, Herr
Trittin, wird es mit einer weiteren Aktuellen Stunde zu
tun haben; denn darüber muß geredet werden. Es ist ja
auch erstaunlich, daß sich die SPD-Kollegen sehr zurückhalten. Es ist mehr eine Grünen-Veranstaltung.
Herr Fischer ist bezeichnenderweise überhaupt nicht
da. Wir hören von seiner Hundertstundenwoche. Wenn
einem nachts eine dunkle Gestalt mit Rotlicht begegnet,
dann ist es der Außenminister.
({2})
Es wäre gut, wenn der vielbeschäftigte Außenminister
trotz Joggings - ich begrüße, daß er sich fit hält - einmal
die Zeit fände
({3})
- Herr Schlauch, regen Sie sich ruhig auf -, mit seinem
Umweltminister über die europäischen und internationalen Auswirkungen seiner Arroganz und seiner Alleingänge zu reden.
({4})
Herr Schlauch, es ist doch bezeichnend, daß Sie in der
Euro-Stadt Frankfurt am Main einen Europatag abhalten, auf dem der Herr Fischer gar nicht auftritt.
({5})
Dominiert wird dieser Europatag von der innenpolitischen Diskussion, die Herr Trittin führt, und von folgender europapolitischer Programmatik: Forderungen
der Regierung gegen die Zentralbank, Verschiebung der
Osterweiterung. Schließlich benutzt Herr Trittin den
Europatag der Grünen, um seine nationalen Alleingänge
zu rechtfertigen. So sieht derzeit grüne Europapolitik in
der Praxis aus!
({6})
Meine Damen und Herren, man muß schon die Frage
stellen, welche Bundesregierung hier am Werk ist. Zunächst geht Herr Trittin ins Ausland, und anschließend
wird juristisch geprüft. Hier inszeniert die Regierung die
Chaostage selbst. Früher fanden sie auf der Straße statt,
heute werden sie live von der Bundesregierung inszeniert.
({7})
Was Herr Trittin hier verteidigt, verstößt nach vielfältiger Aussage von Fachleuten gegen Europarecht, gegen völkerrechtlich verbindliche Erklärungen früherer
Regierungen. Der Amoklauf von Herrn Trittin ist längst
keine innenpolitische Affäre. Es ist nicht mehr hinzunehmen, daß die rotgrüne Bundesregierung im Stile von
Selbsterfahrungsgruppen von Fehler zu Fehler rast und
dabei die Beziehungen zu unseren wichtigsten Partnern
Frankreich und Großbritannien beschädigt.
Hören Sie sich einmal an, was ein wichtiger Sozialist,
der frühere Kulturminister Jacques Lang, über Ihre Alleingänge sagt: Frankreich kann es nicht mehr hinnehmen, daß „internationale Verträge brutal in Frage gestellt“
werden. Lesen Sie, Herr Trittin, nicht nur deutsche Zeitungen, sondern ruhig auch die „Neue Zürcher Zeitung“,
eine der international angesehensten Zeitungen:
Aus der Sicht der westeuropäischen Nachbarstaaten
geht es nach dem Fauxpas des Außenministers mit
der Ersteinsatzdiskussion der NATO erneut um Berechenbarkeit und Verläßlichkeit deutscher Politik.
({8})
Der eigentliche Skandal ist, daß durch diese Alleingänge
im Jahr der EU-Präsidentschaft unsere bewährte, vertrauensvolle Europapolitik in Frage gestellt wird.
({9})
Das Regierungschaos, die Alleingänge von Herrn Trittin, die Aussage des Bundeskanzlers, der ja nicht nur
SPD-Mann, sondern auch EU-Ratspräsident ist, man
müsse jetzt mit der deutschen Scheckbuchpolitik aufhören, und die Tatsache, daß Herr Lafontaine lieber Ferien
macht, als bei der Einführung des Euro in Brüssel dabeizusein, all dies läßt Schlimmes für die EU-Präsidentschaft erwarten.
An die Adresse der Bundesregierung kann ich nur sagen: Verfolgen Sie eine klare Linie und reden Sie mit
einer Stimme nach außen! Herr Trittin, treten Sie entweder in die Kabinettsdisziplin oder treten Sie zurück!
Europa ist für Ihre Eskapaden zu schade.
({10})
Das Wort hat nun
die Kollegin Margot von Renesse.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Als ich Ihnen, Herr Haussmann, zuhörte, konnte ich wirklich kaum glauben, daß
Sie sich auf einen völkerrechtlichen Zustand berufen,
der noch nicht endgültig geprüft ist, während Sie sich
gleichzeitig auf eine völkerrechtliche Bindung beziehen,
die, falls sie existieren sollte, von Ihrer damaligen Regierung in einer unglaublichen, in einer verantwortungslosen Weise festgelegt worden sein könnte. Das
kommt mir so vor, wie wenn jemand, der Vater und
Mutter umgebracht hat, anschließend sagt: Ich bin doch
eine Vollwaise, bestraft mich billiger.
({0})
Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß sich derjenige,
der Unrecht tut, zu seinem Vorteil darauf auch noch beruft.
({1})
- Wir reden von einem ganz bestimmten Notenwechsel.
- Warum sage ich „Unrecht“? Es ist anerkanntes Recht
- ich rede von formalem Verfassungsrecht -, daß es
zwar möglich ist, sich unter Umständen auch durch Notenwechsel völkerrechtlich zu binden, nicht nur eine Regierung, sondern auch ein Volk, ein Land - unser Land.
Aber je stärker man damit die Möglichkeit des Gesetzgebers ausschließt, sich anders zu entscheiden, um so
dringender ist die Ratifizierung in diesem Parlament
notwendig.
({2})
In diesem Punkt habe ich nichts erfunden. Das ist anerkanntes Verfassungsrecht.
Wenn es darüber hinaus um einen Sachverhalt geht,
der in diesem Lande hochgradig umstritten ist,
({3})
bei dem jede Regierung, die auf diesem Gebiet handelt, weiß, daß sie Macht auf Zeit hat, eine Prokura auf
Zeit - ({4})
- Wir alle haben das nur. - Wenn eine solche Regierung
eine solche Entscheidung mit einem völkerrechtlichen
Dornengestrüpp umgibt, so daß sich derjenige, der sich
aus diesen Fesseln befreit, nur selbst verletzen kann,
dann handelt sie verfassungswidrig, nach dem Prinzip:
Nach mir die Sintflut.
({5})
Laßt doch unsere Kinder, vielleicht unsere Enkelkinder
sich mit dem herumschlagen, was wir ihnen ins Nest legen. - Ich kenne eine solche Haltung bei verantwortlichen Menschen nicht. Schon gar nicht kenne ich bei
verantwortlichen Menschen eine solche Haltung, die sie
anschließend nicht schamrot werden läßt;
({6})
vielmehr erlebe ich hier eine Haltung, deren Vertreter
sich auch noch auf diesen Standpunkt berufen. Das ist
nun wahrlich die Höhe.
Es ist richtig, daß diese Bundesregierung, wie gesagt
worden ist, nicht mehr das Ob zweifelhaft sein läßt. Das
ist ihr gutes Recht.
({7})
Vielmehr redet diese Bundesregierung nur noch über das
Wie - und das im Konsens. Wie haben Sie Ihr Ja zur
Atomenergie umgesetzt? Sie haben bürgerkriegsähnliche Zustände und Glaubenskriege herbeigeführt.
Wir reden im Konsens. Das ist ein großer Unterschied.
Wir werden auch mit denjenigen, die für die Atomenergie
sind, einen friedlichen Ausstieg auf den Weg bringen;
denn diese Leute sind viel vernünftiger als Sie.
({8})
Sie kämpfen hier nur noch um eine Restgröße, von
der niemand mehr wünscht, daß sie bleibt. Weil wir auch was die Entsorgung angeht - vor dem Scherbenhaufen, den Sie geschaffen haben, stehen, werden wir
unseren Kindern, unsern Enkeln und unseren Freunden
sagen müssen: Es ist Ihr Müll, den wir jetzt transportieren, nicht unserer.
({9})
Sie haben dafür gesorgt, daß er transportiert werden
muß. Die Lebenslüge der Atomenergie ist aufgedeckt.
Es ist vorbei mit Ihrem Selbstbetrügen und möglicherweise auch mit Ihren lange geglaubten Erklärungen gegenüber anderen.
Dem Himmel sei Dank. Das Ob steht fest, über das
Wie reden wir im Konsens.
Danke sehr.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Vaatz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Man sieht jetzt ab und zu ein Foto,
das Herrn Trittin hinter den Rotorblättern eines Windgenerators darstellt. Das zeigt, daß sich in Europa etwas
geändert hat: Die Don Quichottes haben nämlich im
Laufe der Jahrhunderte gelernt, die Windkraft nicht
mehr mit Mißtrauen zu betrachten. Das ist die gute
Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: Die neuen
Windmühlen sind die Atomanlagen. Damit müssen wir
uns nun herumschlagen.
Ich gebe zu - wie auch schon viele Vorredner -, daß
sich eine Regierung natürlich ohne weiteres zum Ausstieg aus der Kernkraft entscheiden kann, wenn sie das
will. Das wäre aber eine kapitale Fehlorientierung. Es
wäre ein ziemlich billiger Triumph über den naturwissenschaftlichen Sachverstand. Es wäre ein Schritt gegen
Forschung und Entwicklung und gegen die Stabilität des
Klimas. Aber als Demokrat muß man eine solche Regierung - wenn sie demokratisch zustande gekommen ist natürlich hinnehmen.
Man muß aber nicht hinnehmen, daß diese Regierung
das geltende Recht ignoriert. Wenn eine Regierung etwas tun will, das geltendem Recht widerspricht, dann ist
der erste Schritt, daß sie das geltende Recht ändert, und
der zweite Schritt, daß sie das geänderte Recht vollzieht.
Aber den Anschein zu erwecken, man wolle es ignorieren, stellt in der Tat einen eklatanten Bruch mit demokratischen Prinzipien dar.
({0})
Im übrigen darf ich die sozialdemokratischen Kollegen
daran erinnern, daß die Verträge, über die wir hier reden, Fortsetzungen der Verträge sind, die 1979 von der
Regierung Schmidt vereinbart wurden.
({1})
Die Scherbenhaufen, von denen der Kollege Ruck gesprochen hat, gibt es im Tagestakt. Herr Trittin schafft
sich erst einmal lästigen naturwissenschaftlichen Sachverstand vom Hals und löst nach Gutsherrenart die
Kommission für Reaktorsicherheit und Strahlenschutz
auf. Dann erzählt er seinen Kollegen in Frankreich und
in Großbritannien von seinen Plänen. Dabei meinen Sie,
Herr Trittin, Ihre Kollegen müßten in rotgrüner Solidarität sagen: „Prima!“ und müßten hinnehmen, daß
Deutschland zum Nulltarif internationale Rechtsnormen
ignoriert. Unsere französischen und britischen Freunde
sind aber seriöse Partner und keine Komplizen von deutschen Hasardeuren.
({2})
Sie denken über die Kernkraft nicht in den Kategorien
der K-Gruppen.
({3})
Sie staunen höchstens über den wilhelminischen Gestus,
mit dem höhere Gewalt aus Deutschland in Europa Ordnung schaffen will.
({4})
Sogar der französische Kommunistenchef sagt, Daniel
Cohn-Bendit müsse sich ein für allemal klarmachen, daß
die Franzosen nicht für die Atompolitik des deutschen
Kanzlers gestimmt hätten.
({5})
Ich bin der Auffassung, daß Sie den Eindruck vermitteln wollen, Deutschland sei eine Insel der Weisen.
Sie haben doch selbst gesehen, wie beispielsweise die
japanische Regierung auf die Konferenz in Kioto reagiert hat. Sie hat erklärt, Japan werde als Beitrag zum
Schutz des Weltklimas 20 neue Reaktoren bauen. So
sieht die dortige Meinung aus. Sie wissen, was in Japan
geschehen ist.
Das Schlimmste, was Sie tun, ist: Sie machen den
guten Ruf der deutschen Umweltpolitik in der Welt zunichte.
({6})
Wir haben unsere Entscheidungen immer auf Verläßlichkeit gegründet.
({7})
Wir haben enorme Erfolge vorzuweisen, begonnen von
Friedrich Zimmermann über Wallmann und Töpfer bis
hin zu Merkel. Die deutsche Umweltpolitik hat große
internationale Kongresse über den Klimaschutz - in Rio
und in Berlin - zu Erfolgen geführt. Daran gilt es anzuknüpfen.
Das geht aber mit Ihnen nicht, Herr Trittin. Das
größte Risiko für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist nicht die Kernenergie. Das größte Risiko
ist das verspielte Ansehen in der Umweltpolitik. Dafür
tragen Sie die Verantwortung.
({8})
Das größte Risiko trägt Ihren Namen, Herr Trittin.
Wenn Sie wirklich noch etwas für den Umweltschutz
tun wollen, rate ich Ihnen: Sie sollten die 100 Tage noch
abwarten, dann aber gehen.
({9})
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Herr Kollege Vaatz hat mit Verve und Energie versucht,
einen deutschen Sonderweg zu zeichnen. Von einem
solchen kann natürlich überhaupt nicht die Rede sein.
Wir befinden uns europäisch und international in bester
Gesellschaft, wenn wir umlenken wollen. Das ist doch
offenkundig. Die Beharrungskräfte, die für Sklerose stehen, sind Sie - nicht wir.
({0})
Zunächst einmal muß man sagen: Wenn sich das
drittgrößte Industrieland der Welt entschließt, seine
Energieversorgung schrittweise auf eine neue Basis zu
stellen, dann ist das zwangsläufig - ob wir wollen oder
nicht - ein internationales Ereignis. Ich bin wirklich erstaunt, daß sich darüber jemand wundert. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit: Wenn wir umsteuern, werden
andere das mit besonderer Aufmerksamkeit beobachten.
Das Ziel der neuen Regierung, der neuen Mehrheit,
ist klar: Wir wollen eine zukunftsfähige Energieversorgung, die unseren Kindern weder Strahlenrisiken noch
menschgemachte Klimaveränderungen hinterläßt. Bauen
Sie also bitte keinen Popanz auf! Die Energieversorgung
soll umweltverträglich, wettbewerbsfähig und sicher
sein.
Die Schlüsselbegriffe des neuen Energiekonzepts
sind: Energieeffizienz, Kraft-Wärme-Kopplung, Energieeinsparung, erneuerbare Energien und neue Märkte
für Energiedienstleistungen.
Herr Rexrodt, wenn ich höre, wie Sie jetzt die Energiesparpotentiale preisen, und das mit Ihrer realen Regierungspraxis vergleiche, dann muß ich feststellen, daß
das bitter und dramatisch auseinander fällt. Das wollte
ich gesagt haben.
({1})
In einem solchen Konzept ist für die Atomenergie auf
Dauer kein Platz, und zwar vor allem aus einem Grund:
Sie blockiert neue Märkte und neue Technologien, die
zukunftsfähig sind.
({2})
- Genauso ist es.
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen - denn das
ist interessant -: Die Hälfte der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union ist schon heute kernenergiefrei.
({3})
Ich sagte das bereits: Wir befinden uns mit unserer
Strategie keineswegs auf einem deutschen Sonderweg Herr Haussmann, das war doch Ihre These; Sie sprachen
vom deutschen Alleingang -, sondern wir befinden uns
in guter europäischer Gesellschaft. Man muß schon
wirklich vor der Realität die Augen verschließen, wenn
man das als Sonderweg bezeichnet.
({4})
- Ja, wir werden ja sehen, wie lange das dauert.
Auch in anderen großen Industriestaaten - blicken
wir auf Amerika - hat die Atomenergie ihre Zukunft bereits hinter sich. Wo immer im Strommarkt Wettbewerb
zugelassen worden ist, hat die Atomkraft keine Chance
gehabt.
Herr Rexrodt, natürlich wird das Erdgas eine Rolle
spielen. Das wissen Sie ganz genau. Das Erdgas ist eine
ganz wichtige Energieform für den Übergangszeitraum,
wenn wir aus dem fossilen Energiezeitalter in das Solarzeitalter gehen. Wir brauchen das Erdgas nicht nur für
die Chemieindustrie, sondern wir brauchen es für die gesamte Energiepolitik. Sie wissen das ganz genau.
Es erstaunt auch überhaupt nicht, daß die Auftragsbücher fast aller Atomkraftwerksbauer leer sind. Die Leute
haben nämlich begriffen, daß dort die Musik ganz sicher
nicht spielen wird. Die letzten, die das noch nicht begriffen haben, sind Sie. Sie haben es nicht verstanden.
({5})
Ich möchte jetzt noch einmal zu den Vereinbarungen
zwischen der deutschen Atomwirtschaft und der Cogema und der British Nuclear Fuels eingehen. Einiges ist
dazu bereits gesagt worden. Der Minister und die Kollegin von Renesse haben das Notwendige zur juristischen
Seite gesagt.
({6})
Trotzdem glaube ich, daß man die juristische und die
politische Ebene trennen muß. Es ist vollkommen richtig, daß die politische Ebene gesondert zu betrachten ist.
Wir müssen mit unseren britischen und französischen
Freunden Arrangements treffen; denn wir brauchen einander in vielen Politikfeldern: bei der Agenda 2000 und
bei der einheitlichen Besteuerung von Energie. Insofern
können wir nicht einfach nur sagen: Das ist das juristische Problem, es gibt keine Schadensersatzansprüche. Denn das ist nur die eine Wahrheit. Die andere Wahrheit
lautet: Wir müssen versuchen, uns so gütlich wie eben
möglich zu einigen.
Der Schlüssel könnte vielleicht in dem Vorschlag des
bereits zitierten Kollegen Daniel Cohn-Bendit liegen. Es
war übrigens interessant, daß Sie ausgerechnet Herrn
Hue als denjenigen anführen, der Cohn-Bendit in die
Pfanne haut. Studieren Sie einmal seine Motive, dann
kommen Sie vielleicht zu einem anderen Ergebnis.
({7})
Cohn-Bendit hat einen vernünftigen Vorschlag gemacht.
Er hat das „industrielle Kompensation“ genannt.
Es muß ja nicht so sein, daß in La Hague der deutsche
Atommüll wieder aufbereitet wird, er könnte ja auch
konditioniert, für die Endlagerung vorbereitet werden.
Man könnte das auch „Abarbeiten statt Wiederaufbereitung“ nennen. Das wäre die richtige Devise.
({8})
Auch in einem Europa des zügigen Atomausstiegs, für
das wir streiten, wird es noch Arbeit für die Cogema geben.
Was unsere angelsächsischen Freunde betrifft, so
hängen sie mit ihrer Seele weit weniger an der Atomkraft als unsere französischen Nachbarn. Ich glaube, hier
sollte eine einvernehmliche Lösung möglich sein. Danach strebt die Regierung auch.
Ich will zum Schluß noch zu zwei Punkten kommen,
die mir wichtig sind und die bereits angesprochen wurden, die aber umweltpolitisch noch einmal hervorgehoben werden müssen.
Lieber nur einen,
Herr Kollege.
Ich verbinde die beiden Punkte durch einen Gedanken. - Der erste ist: Durch La Hague und Sellafield
haben wir eine erhebliche nukleare Strahlenbelastung
der Irischen See und des Ärmelkanals. Weil wir hier von
Völkerrecht reden, darf ich darauf hinweisen, daß die
Schließung von Sellafield ein Hauptstreitpunkt zwischen
der Republik Irland und dem Vereinigten Königreich ist.
Es ist also keineswegs irgend etwas Irrationales, was
hier gefordert wird.
Ich komme jetzt zu meinem allerletzten Punkt und
damit zum Ende: Der Zielkonflikt zwischen Klimaschutz und Atomenergie ist nur dann einer, wenn wir
alle Atomkraftwerke ausschalten würden und sie durch
Kohlekraftwerke ersetzen würden. Die Wahrheit ist
aber, daß wir im Laufe der Zeit neue Strategien entwikkeln müssen. Ich nenne Verbesserung der Effizienz und
Einstieg in das Solarzeitalter. Dafür müssen wir kämpfen und dürfen nicht Scheingefechte von gestern führen.
Danke schön.
({0})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Grill, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Dem „Stader Tageblatt“ entnehme ich eine bemerkenswerte Presseerklärung der
Kollegin Wetzel, dort steht:
„Bundesweit ist das alles richtig“, meint Wetzel
zum Atomausstieg.
Sinngemäß heißt es weiter: Wetzel unterstützt aber
natürlich den Stader Verwaltungsausschuß, der mit
Stimmen von CDU und SPD das Ende des Atommeilers
in Stade für das Jahr 2012 fordert.
Meine Damen und Herren, da, wo Sie mit den Arbeitnehmern, die unter Ihrer Politik leiden müssen, konDr. Reinhard Loske
frontiert werden, gehen Ihnen die Mitglieder Ihrer eigenen Fraktion auf Grund einer seltsamen Definition von
Moral und richtiger Politik von der Fahne, weil sie
Angst vor den Folgen Ihrer Politik vor Ort haben.
({0})
Frau von Renesse, ich habe ja mit Interesse gehört,
was Sie über das Verfassungsrecht gesagt haben. Was
Sie aber über den Atommüll gesagt haben, ist an Unverfrorenheit nicht mehr zu überbieten. Jemand, der weiß,
daß die Kernenergie in diesem Lande unter einer SPDRegierung entstanden ist, der kann sich hier nicht hinstellen und sagen, es gehe um den Kernenergieabfall der
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Die Mehrheit der Kernkraftwerke sind von einer
SPD-Regierung genehmigt worden. Die Wiederaufbereitung, über die wir heute reden, ist ein Produkt der
SPD-geführten Regierungen der 70er Jahre. Ich darf Sie
nur daran erinnern, daß Ihre Vorgänger in Gorleben eine
1 400-Tonnen-Anlage bauen wollten. Als Folge davon
organisierten sich diejenigen, die heute mit Ihnen in dieser Koalition sitzen. Sie versuchen sich im Grunde genommen von dem Erbe freizusprechen und beschimpfen
den Erblasser, der in 16 Jahren versucht hat, aus dieser
Politik etwas Vernünftiges zu machen.
({2})
Es geht um zentrale Fragen der Energiepolitik, aber
der Wirtschaftsminister nimmt an der Debatte nicht teil.
Herr Trittin, wenn ich das sagen darf: Ich habe nur das
BGB herangezogen und mich ausdrücklich von Juristen
beraten lassen. Das tun Sie ja nicht. Deswegen bleibe ich
bei meiner Behauptung, daß nach dem BGB eine höhere
Gewalt, die Sie für sich in Anspruch genommen haben,
nur eine Katastrophe ist.
({3})
Ich wiederhole: Die Katastrophe steht außerhalb des
Rechts wie auch Sie. Man könnte auch sagen: Seit
Montag oder Dienstag ist aus der Force majeure Trittin
eine Quantité négligeable geworden.
Man könnte sich, Frau Hustedt, sicherlich darüber
verständigen, daß der Wählerauftrag da ist. Aber durch
den Wählerauftrag haben Sie doch keinen Freibrief für
Rechtsbruch, Arbeitsplatzvernichtung und unglaubwürdige Klimapolitik.
({4})
Ihre Moral, Herr Loske, reicht gerade bis zur deutschen Grenze. Sie und Ihre Parteifreunde bekämpfen die
Konditionierungsanlage in Gorleben. Gleichzeitig besitzen Sie die Unverfrorenheit, zu sagen: Wenn die Franzosen konditionieren, dann ist das richtig. - Was sollen
eigentlich französische Bürger über deutsche Politiker
denken, wenn diese sagen: „Bei uns ist das fürchterlich
und gefährlich und die Menschen leiden darunter, aber
wenn das in Frankreich passiert, dann ist das alles wohlgelitten, weil dort Arbeitsplätze erhalten werden“?
({5})
Die gesellschaftlichen Konflikte, die Sie durch die
Art und Weise, wie Sie vorgehen, hervorrufen,
({6})
sind ein Beispiel dafür, daß Sie nicht gesellschaftlichen
Konsens herbeiführen wollen, sondern den Unternehmen diktieren wollen, was in diesem Lande zu geschehen hat.
Ihnen, Frau Lambrecht, empfehle ich dringend, sich
zu all dem, was Sie hier zur Wiederaufbereitung vorgetragen haben, einmal die Entscheidungen anzuschauen.
Sie werden feststellen, daß sich das Atomrecht in einer
Zeit einseitig auf die Wiederaufbereitung festgelegt hat,
in der Sie die Regierungsverantwortung trugen. Ich füge
hinzu: Die Verträge, die Sie hier kritisiert haben, und der
Notenwechsel sind eine Konsequenz aus dem, was
schon die Regierung Schmidt in die Wege geleitet hat.
Deswegen stehen wir an dieser Stelle in einer guten Tradition. Außerdem haben alle SPD-regierten Länder gewußt, daß es diesen Notenwechsel gibt.
Frau Griefahn, die im Aufsichtsrat der PreussenElektra gesessen hat, hat nicht ein einziges Mal protestiert, als die Castor-Transporte nach La Hague und
Sellafield gingen, aber sie hätte protestiert, wenn sie
nach Gorleben gegangen wären. Das ist ihre Moral.
({7})
Außerdem, meine Damen und Herren, haben wir
niemals behauptet, daß die Wiederaufarbeitung ein Entsorgungsweg sei. Sie ist unter einer Reihe von Gesichtspunkten ein Schritt in die Entsorgung hinein.
Ich schließe mit zwei Bemerkungen. Erstens. Das,
was Sie, Herr Loske, als Energiewende ankündigen, sind
plus 2 Millionen DM gegenüber dem Etat von Herrn
Rexrodt zur Markteinführung, 1 Million DM für Solarstudien, und den Titel „Weltmeister in Windenergie“ hat
Herr Trittin von Frau Merkel übernommen.
Zweitens hat Herr Trittin am Donnerstag letzter Woche gesagt: Wir wollen eine Verdoppelung der erneuerbaren Energien bis 2010. Exakt dies steht im Zukunftsprogramm von Wolfgang Schäuble.
Sie machen keine neue Politik. Sie verursachen nur
Schaden für dieses Land. Die Energiewende jedenfalls
haben Sie diesem Land noch nicht belegbar und nachvollziehbar vorgestellt.
Eines sollten Sie sich im Zusammenhang mit der
Kernenergie abschminken.
Gleichwohl müssen
Sie zum Schluß kommen.
Ja. - Wenn Sie hier
an diesem Pult Amerika als Beispiel für die Nutzung der
Kernenergie anführen, dann frage ich Sie, warum wir
eigentlich bisher gemeinsam mit großem Ärger zur
Kenntnis genommen haben, daß sich auf den internationalen Konferenzen ausgerechnet die Amerikaner der
Konsequenz aus der CO2-Politik verweigern. Wenn Sie
Amerika hier an diesem Pult als Vorbild zitieren, dann
sollten Sie vorher die Fakten prüfen. Ich sage Ihnen und damit schließe ich -: In dem Gutachten des BMJ
steht, daß die völkerrechtlichen Verbindlichkeiten dieser
Regierung ordnungsgemäß zustande gekommen sind
und daß Sie diese Rechtssituation zu berücksichtigen
haben. In Wahrheit ist die späte Einsicht des Bundeskanzlers in diese Rechtssituation die Ursache dafür, daß
Sie am Dienstag noch rechtzeitig die Kurve gekriegt haben.
({0})
Nun erteile ich dem
Kollegen Arne Fuhrmann von der SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einmal versucht,
festzuhalten, wie oft mein Kollege Grill in seiner Rede
das Wort „unverfroren“ benutzt hat. Ich habe es nicht
zählen können; denn es geht immer alles so schnell.
Außerdem hat er in seiner Rede dem Umweltminister
vorgeworfen, er stehe außerhalb des Rechts, und er hat
Mitglieder dieses Hohen Hauses des Rechtsbruchs, der
Arbeitsplatzvernichtung und anderer Dinge bezichtigt.
Ich kann gar nicht alles aufzählen. Das kann jeder nachher im Protokoll nachlesen.
({0})
Mich wundert, daß er nicht sagt, es sei unverfroren
von den Wählern, daß sie uns beauftragt haben, auch in
der Energiepolitik neue Wege zu gehen. Darüber habe
ich gestaunt. In der Chronologie seiner Rede wäre dies
eigentlich logische Konsequenz gewesen.
({1})
- Wissen Sie, Herr Hirche, wenn wir anfangen, uns darüber zu unterhalten, sollten wir uns auch über Ihre Einwürfe unterhalten, die Sie pausenlos machen.
Es gibt grundsätzlich unterschiedliche Vertragslagen.
Im Jahre 1979 gab es Verträge, die die Klausel beinhalteten, daß wir jederzeit aussteigen können. In den Jahren
1990/91 gab es dann Notenwechsel, mit denen das, was
meine Kollegin von Renesse vorhin ausgeführt hat, eingetreten ist, nämlich ein Dickicht um all das herum, was
innen- und außenpolitisch von der damaligen und von
der jetzigen Regierung hätte gemacht werden können,
aber immer unter dem Damoklesschwert eines möglichen Bruchs völkerrechtlicher Art. Sie sollten also stillschweigen, sich ein bißchen zurückhalten
({2})
und ansonsten auf das achten, was geschrieben wurde
und was in diesem Hohen Hause beredet wird.
({3})
Das Erstaunliche ist ja, daß die Diskussion, die heute
aufbricht und gerade von Ihrer Seite mit großer Vehemenz geführt wird - Sie sind ja geradezu ({4})
- Danke. - Diese Diskussion ist in den vergangenen 16
Jahren von Ihrer Seite nicht ein einziges Mal so geführt
worden, daß die Menschen, die sich davon betroffen
fühlen, und die Mehrheit in diesem Lande, die seit Jahrzehnten den Ausstieg aus der Kernenergie wünscht, das
Gefühl gehabt hätten: Hier sind wir an der richtigen
Stelle und werden auch zur Kenntnis genommen. - Nun
passiert das Ihrer Meinung nach viel zu schnell, viel zu
flott. Ja, hol's der Geier! Was hätte denn passieren sollen, als daß der Umweltminister als erstes all das in
Gang setzt, was, nachdem das Kabinett darüber gesprochen hat, in kontinuierlicher Reihenfolge diesem Hohen
Hause in Gesetzesform vorgelegt wird? Wir haben dann
die Möglichkeit, gemeinsam darüber zu beraten und
gemeinsam in das Gesetzgebungsverfahren einzutreten.
({5})
- Wie hätten Sie es denn gern? Hätten Sie gerne, daß es
genauso bleibt, wie es unter Ihrer Ägide war, daß der
Kanzler eine Entscheidung trifft
({6})
und alle, die da sitzen, dazu nicken, während die Opposition nur gelegentlich eine Chance hat, sich an der Beratung über einen Gesetzentwurf oder einen Antrag, den
sie auf den Tisch bekommt, zu beteiligen?
({7})
- Ach, Herr Grill, wissen Sie: Die EVUs, die Engländer
und die Franzosen haben alle ihre durchaus legitimen
und nachvollziehbaren Wünsche.
({8})
- Sie haben Interessen. Mit diesen Interessen kann man
sich identifizieren; man kann das Ganze aber auch im
Interesse der Bundesrepublik Deutschland und der Menschen, die hier leben, sowie im Interesse eines vernünftigen und geregelten Ausstiegs aus der Kernenergie zu
den Akten legen und sagen: Das ist nicht so wichtig;
wichtiger ist das, was wir in den nächsten Jahren zielorientiert hier erreichen werden.
({9})
Wenn das in Ihren Köpfen ist, werden Sie sich auch
dem nicht verweigern und entziehen, was innerhalb der
nächsten Wochen und Monate auch auf Sie zukommt,
nämlich eine konstruktive Mitarbeit, und sich nicht im1244
merfort zurücklehnen und sagen: „Ja, aber in den letzten
Jahren haben wir…“ und „Ja, aber da könnte dieses oder
jenes Risiko entstehen“. Ich denke, daß wir alle die Risiken der Atomenergie einzuschätzen vermögen. Das
Risiko eines Ausstieges aus dieser Energie ist in der
Zwischenzeit von der Mehrheit der europäischen Staaten
erkannt worden. Den Nachweis der Risikolosigkeit einer
weiteren Energienutzung von den EVUs über die AKWs
müßten Sie, Herr Hirche, und die gesamte Opposition
hier erbringen, damit wir uns dann damit auseinandersetzen können. Aber ich denke, diesen Schritt haben wir
gemeinsam schon hinter uns.
({10})
- Herr Rexrodt, die Menschen haben dafür gesorgt, daß
das Theater von Ihrer Seite dadurch zumindest etwas
gedämpft wird, daß Sie nun aus der Opposition heraus
reagieren und nicht mehr in der Regierung sitzen.
({11})
Das Theater, das Sie veranstaltet haben, solange Sie auf
der Regierungsbank saßen, ist allen noch immer in guter
Erinnerung.
Ich komme zum Schluß, Frau Präsidentin. - Worüber
wir hier noch nicht gesprochen haben, was aber dringend in die Köpfe der Beteiligten gebracht werden muß,
sind die Bedürfnisse und die Wunschvorstellungen der
betroffenen Menschen.
({12})
Es geht nicht darum, einen Stecker in die Steckdose zu
stecken, sondern es geht um das Gefühl für eine zukunftsorientierte, sichere Energiepolitik. Wenn Sie einmal hinterfragen, warum so viele junge Leute in diesem
Land heute in Zukunftsängsten leben, werden Sie feststellen, daß das nicht ausschließlich mit der Situation auf
dem Arbeitsmarkt zu tun hat, sondern auch damit, daß
die Perspektiven einer Zukunft, einer zukunftsorientierten Umweltpolitik und damit das Gefühl von Sicherheit
für die Betroffenen eine Rolle spielen.
({13})
Umweltpolitik und Energiepolitik sind nicht nur Aufgabe von Wirtschaftsfachleuten, sondern eine Querschnittsaufgabe, die ebenso etwas mit Familienpolitik und
Sozialpolitik zu tun hat. Wenn dieser Bundestag das endlich begreift, kommen wir gemeinsam einen Schritt weiter.
Schönen Dank.
({14})
Wir sind damit am
Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
morgen, Donnerstag, den 28. Januar 1999, 9 Uhr ein. Ich
wünsche Ihnen allen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.