Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Seit fast vier Legislaturperioden diskutieren wir über eine Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes. Eine solche Novelle legen wir heute vor.
Wir schaffen damit die Grundlagen für den Erhalt der biologischen Vielfalt in einer modernen Industrie- und
Dienstleistungsgesellschaft. Meine Vorgängerin und ihr
Vorgänger sind - ich sage bewusst: leider - an einem solchen Gesetzentwurf, wie er heute dem Bundestag vorliegt, gescheitert. Ich denke, wir sind damit heute einen
großen Schritt weiter.
({0})
Wir stärken den Schutz der Natur, um, wie es Richard
von Weizsäcker einmal gesagt hat, ihrer selbst willen.
Störche, Adonisröschen und andere bedrohte Arten sollen
in Deutschland ein Recht auf Überleben haben. Ich sage
immer: Da, wo Störche leben können, ist mit Sicherheit
auch ein guter Platz für Menschen. Wer als Kind Natur
live erlebt und erfahren sowie die Bereicherung durch Natur empfunden hat, der wird sich als Erwachsener mehr
für Natur, aber auch mehr für Naturschutz und gelegentlich für die Naturwissenschaften interessieren.
Wir schützen mit dem Bundesnaturschutzgesetz die
Natur nicht gegen die Menschen, sondern mit den Menschen. Wir wollen den Naturschutz aus seinem Reservat
herausholen.
({1})
Wir berücksichtigen deswegen auch die Interessen der
Jogger, der Kletterer und der Menschen, die Kanu fahren,
weil wir glauben, dass diejenigen, die in ihrem Sport Natur erleben, potenziell auch Bündnispartner für den Naturschutz sein können.
Gerade mit der Verpflichtung, Naherholungsgebiete
zu schaffen und zu erhalten, wollen wir dazu beitragen,
dass Menschen - seien es alte Menschen, seien es Menschen mit Kindern - eine Chance haben, sich ortsnah zu
erholen. Der Spreewald, das Siebengebirge und die Eifel
sind allesamt ideale Kurzurlaubsorte vor der Haustür.
({2})
- Ich konnte nicht alle aufzählen.
({3})
- Jetzt kommen die ganzen Vorschläge. Sie wissen, was
ich meine. - Wir sind uns einig, dass wir diese Räume erhalten müssen, anstatt eine Tendenz zu befördern, immer
häufiger, für immer kürzere Zeit und immer weiter in den
Urlaub zu fliegen.
({4})
Wir versuchen, die Arbeit der Naturschutzverbände
zu stärken. Was wäre denn Naturschutz ohne die Zehntausende von Jugendlichen und Erwachsenen in den Naturschutzverbänden? Die Naturschutzverbände sind die
Anwälte der Natur. Wir geben ihnen nunmehr auch bundesweit ein Instrument in die Hand, mit dem sie als Anwalt der Natur wirklich tätig werden können. Wir führen
die Verbandsklage ein. Wo auf Auflagen für Schutzgebiete verzichtet werden soll, wo Planfeststellungsverfahren durchgeführt werden, dort können anerkannte Verbände künftig, wenn sie sich vorher an den Verfahren
beteiligt haben, Klage erheben. Wir ziehen damit die Konsequenz aus den guten Erfahrungen, die wir mit der Verbandsklage in mittlerweile 13 Bundesländern gemacht
haben. Die Bayern und die Baden-Württemberger müssen
in diesem Punkt noch ein bisschen geschoben und nach
vorne gebracht werden.
({5})
Wir unterstützen mit diesem Gesetz auch die Agrarwende und die Neuorientierung der Landwirtschaft, die
Verbraucher ebenso wie Landwirte fordern. Ich will an
dieser Stelle mit allem Nachdruck sagen: Ohne landwirtschaftliche Tätigkeit, das heißt ohne die Arbeit von Landwirten, würde die Kulturlandschaft in Deutschland veröden. Aber umgekehrt gilt auch: Bei einer weiteren
Industrialisierung der Landwirtschaft würden nicht nur
die Landschaft und die Natur unter die Räder kommen,
sondern auch das Höfesterben würde sich weiter beschleunigen. Deswegen sage ich mit allem Nachdruck:
Landwirte und Naturschutz haben ein gemeinsames Interesse an einer nachhaltigen Landwirtschaft und an ordentlichen ländlichen Räumen.
({6})
Spätestens dann, wenn ungespritztes Obst, Gemüse und
Fleisch, das von Bioland oder anderen Produzenten erzeugt worden ist, für alle bezahlbar wird, merkt jeder:
Nachhaltige Landwirtschaft, Naturschutz schmeckt gut.
Ich will an dieser Stelle noch einige Bemerkungen zu
den Eckpunkten dieses Gesetzentwurfs machen. Wir definieren das Verhältnis von Naturschutz und Land- und
Forstwirtschaft neu. Das heißt, wir führen erstmals Regeln für eine gute fachliche Praxis aus der Sicht des Naturschutzes ein. Es ist nicht so, wie einige immer befürchten, dass dadurch etwas Schreckliches passiert. Im
Grunde genommen ist es doch selbstverständlich - es sind
die „basics“, Neudeutsch gesagt -, dass Grünland in
Flußauen und an Hängen nicht umgebrochen wird, weil
das zu Erosionen führt. Wir wissen, dass leider nicht danach gehandelt wird; deswegen müssen wir entsprechende Vorschriften in das Gesetz aufnehmen.
Höfe sollen künftig im Verhältnis zum Viehbestand
und zur Fläche ausgewogen bewirtschaftet werden. Wir
Präsident Wolfgang Thierse
wollen, dass in der Forstwirtschaft Kahlschlag untersagt
wird. Wir halten nichts davon, dass überall Fichtenplantagen angelegt werden. Wir wollen vernünftigen Mischwald und eine standortgerechte Bewirtschaftung.
({7})
In der Fischereiwirtschaft erhält der Naturschutz Vorrang
vor der Rendite.
Wir geben es den Ländern mit dem Naturschutzgesetz
in die Hand, dieses Gesetz auszugestalten. Wir setzen bewusst Rahmen, weil wir der Auffassung sind, dass es je
nach Landschaft, je nach Bundesland unterschiedliche
Bedingungen gibt. Dem muss in einem föderalen Staat
von den Ländern Rechnung getragen werden.
Das gilt gerade im Hinblick auf die Ausgleichsregelung. Wir haben mit der von Ihnen vorgelegten Gesetzesnovelle, nach der eine Ausgleichspflicht auch dann bestand, wenn eine Naturschutzbehörde lediglich zur
Verhinderung von Umweltsünden eine gute fachliche
Praxis durchgesetzt hat, Schluss gemacht. Das kann nicht
ausgleichsfähig sein. Den Ausgleich von Leistungen, die
die Landwirte über die gute fachliche Praxis hinaus für
den Naturschutz erbringen, sollen die Länder regeln. Das
ist unser Ansatz für ein neues Miteinander zwischen Naturschutz und Landwirtschaft.
({8})
Wir wollen, dass die Länder auch eine Gesetzlichkeit
für ein Biotopverbundsystem aufbauen, ein System, in
dem sich unterschiedliche Biotope miteinander verbinden. Ich sage an dieser Stelle deutlich, dass es sich hier
nicht um eine Schutzkategorie handelt. Wir haben mit Absicht nicht festgeschrieben, wie die Länder das machen
sollen, sondern wir gehen davon aus, dass dies aufgrund
der jeweiligen regionalen Bedingungen erfolgt.
Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass wir die
Eingriffsregelung des Bundesnaturschutzgesetzes verschärft haben. Künftig gilt die Veränderung des Grundwasserspiegels, eines der Hauptprobleme, das wir haben,
als ein Eingriff. Wir haben sie zwar praktikabler gemacht,
aber gleichzeitig den Schutz von Lebensräumen von
streng geschützten Tier- und Pflanzenarten verschärft.
Darüber hinaus wollen wir nicht mehr, dass bei Eingriffen
Ablasshandel betrieben wird. Ausgleichsmaßnahmen
müssen angemessen und hochwertig sein. Die Naturalkompensation muss im Vordergrund stehen. Die Funktion
des Naturhaushaltes und das Landschaftsbild dürfen nicht
beeinträchtigt werden.
Schließlich sind wir mit dem Naturschutzgesetzentwurf einen weiteren Missstand angegangen, nämlich den
Vogeltod an Hochspannungsleitungen. Bestehende Leitungen sollen innerhalb von acht Jahren so umgerüstet
werden, dass zum Beispiel Uhus und Greifvögel gegen
Stromschlaggefahr gesichert sind.
Ich möchte nun eine Bemerkung zu einem Konfliktfeld
machen, das gerade an der Küste eine besondere Rolle
spielt. Wir beobachten eine steigende Investitionstätigkeit
in Bezug auf die Planung und den Bau und von Offshorewindenergieparks. Als Naturschützer sage ich ganz
deutlich: Wir wollen den Ausbau der Windenergie. Wenn
wir den Klimawandel nicht bekämpfen, wird das gerade
auf die Artenvielfalt, die Biodiversität, Auswirkungen haben. Es ist und bleibt aber richtig, dass die wirklichen Potenziale für den Ausbau der Windenergie beim Windenergieweltmeister Bundesrepublik Deutschland offshore im
Wasser liegen. Das ist der Grund, weswegen wir als für
den Naturschutz zuständiges Ministerium Flächen bestimmt haben, auf denen dieser Ausbau möglich ist. Wir
wollten damit ganz bewusst ein Signal setzen, nämlich
den Naturschutz aus der Rolle des Verweigerers und Verhinderers in eine aktive Mitgestaltung bei der Lösung dieses Problems bringen.
({9})
Außerdem werden wir dafür sorgen, dass innerhalb der
AWZ, der Außenwirtschaftszone, für solche Dinge entsprechende Regeln gelten. Wir verändern die Seeanlagenverordnung und wir schaffen die Grundlagen zur Ausweisung von FFH- und Vogelschutzgebieten.
Meine Damen und Herren, in einem montäglichen
Magazin habe ich auf dem Titelbild Folgendes gelesen:
„Die abgeschlafften Reformer“.
({10})
Ich muss Ihnen sagen: Für die Umwelt- und Naturschutzpolitik dieser Regierung kann ich das nicht nachvollziehen.
({11})
Nach dem Atomkonsens, dem Erneuerbare-EnergienGesetz und dem Modernisierungsgesetz für KraftWärme-Kopplung geht Rot-Grün mit dem Naturschutzgesetzentwurf die nächste große Reform an, eine
Reform, an der Sie 16 Jahre lang gescheitert sind. Ich
kann nur sagen: Von Reformmüdigkeit ist zumindest bei
mir keine Spur.
({12})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Paziorek von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Schutz der Natur ist bei
uns, in Europa und weltweit eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Bei der Festlegung der Kriterien für die Beantwortung der Frage, wie wir die Natur am
besten schützen können, müssen wir zwar von naturwissenschaftlichen Fakten ausgehen; letztlich ist dies aber
eine gesellschaftspolitische Frage. Bei ihrer Beantwortung müssen alle Bürger einbezogen werden. Das bedeutet für die CDU/CSU im Gegensatz zur Regierungskoalition: Naturschutz kann nur mit der Bevölkerung und nicht
gegen die Bevölkerung verwirklicht werden.
({0})
Dies ist einer der wichtigsten Grundsätze in der Naturschutzpolitik. Sagen wir es ganz deutlich: Moderner Naturschutz bedeutet Schutz der Natur vor negativen
menschlichen Einflüssen, aber auch Schutz und Nutzung
der Natur durch den Menschen.
({1})
Daraus folgt für uns ganz wesentlich: Diese Grundfrage mit Generationenbedeutung kann nur im Einvernehmen mit allen gesellschaftlichen Gruppen gelöst
werden. Das wird nur zu schaffen sein, wenn für die Belange des Naturschutzes ein auf Konsens gerichtetes politisches Klima erreicht wird. Dieser Anforderung wird Ihr
Gesetzentwurf, Herr Minister, an keiner Stelle gerecht.
({2})
Voraussetzung für einen Dialog zwischen Naturnutzern und Naturschützern und den Willen aller zu einem
Bündnis für die Natur ist, dass es zu einer gerechten Lastenverteilung im Rahmen der Naturschutzpolitik kommen
muss. Den Nutzen, den die Allgemeinheit von einer intakten Natur hat, dürfen nicht nur wenige, sondern müssen alle bezahlen. Das übersehen Sie - entgegen Ihren
Worten, Herr Minister - eindeutig in Ihrem Gesetzentwurf.
({3})
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen ist der
jetzt von Bundesminister Trittin - nach seiner Rede zu urteilen besteht bei ihm doch eine große politische Müdigkeit - und von den Regierungskoalitionen vorgelegte Entwurf einer Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz eine
herbe Enttäuschung. Er trägt nicht zum Konsens im
Naturschutz bei. Er vertieft vielmehr die Kluft zwischen
den verschiedenen Akteuren, insbesondere zur Land- und
Forstwirtschaft. Diese Kluft haben wir, CDU/CSU und
F.D.P.,
({4})
vor 1998 - da waren Sie, Herr Minister, noch nicht Mitglied dieses Bundestages - durch die letzte Novellierung
des Bundesnaturschutzgesetzes erfolgreich überbrücken
können. Sie schrauben das wieder zurück.
({5})
Sie werden diese Kluft mit diesem Gesetzentwurf wieder
aufreißen, und zwar - das sage ich ganz deutlich - zulasten des Naturschutzes in unserem Land.
Wie bei der Rentendiskussion 1998 und bei der Gesundheitsreform Ende 1998 wird jetzt, natürlich verspätet, auch die Naturschutzdiskussion von der rot-grünen
Bundesregierung mit Themen von gestern und vorgestern
eröffnet. Nicht die Lösung von Zukunftsfragen, sondern
das Rückgängigmachen früherer Beschlüsse des Bundestages steht aus rein ideologischen Gründen im Mittelpunkt dieser Novelle.
Der Entwurf fördert nicht die Lösung von Naturschutzfragen im Konsens mit dem Bürger, er stärkt nicht
den Vertragsnaturschutz, sondern er setzt wieder stärker
auf die hoheitliche und damit auch verwaltungsmäßige
Wahrnehmung, teilweise auch gegen den Willen der örtlichen Bevölkerung.
Der Entwurf hebt die bundeseinheitliche Verpflichtung
der Bundesländer zum finanziellen Ausgleich für Naturschutzauflagen, die über die gute fachliche Praxis hinausgehen, wieder auf und überlässt damit die Regelung der
finanziellen Fragen in Bezug auf die Landwirtschaft
tatsächlich nur den Bundesländern. Es wird nach Ihrem
Gesetzentwurf entgegen Ihren Worten, Herr Minister, keinen gerechten bundeseinheitlichen Lastenausgleich im
Naturschutz mehr geben. Gerade das war ein Erfolg der
letzten Novellierung vor 1998. Sie machen diesen wichtigen Erfolg, die Verankerung des Naturschutzes in der
Bevölkerung, wieder zunichte.
({6})
Wer das nicht glauben will, schaue sich nur die Begründung Ihres neuen Gesetzentwurfes an. Ich darf zitieren, Herr Präsident.
Zwar ist es den Ländern unbenommen, Entschädigungen auch für solche Beschränkungen zu zahlen,
die nur unwesentlich über den Standard der guten
fachlichen Praxis hinausgehen. Aber auf der anderen
Seite sind auch reine Härtefallregelungen denkbar,
die bereits an der Grenze der Sozialpflichtigkeit des
Eigentums angesiedelt sein können. In dieser Bandbreite sind die Länder zukünftig frei, Ausgleichszahlungen zu treffen.
So die Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf.
({7})
Dabei wissen wir doch ganz genau, dass gerade diese
frühere Praxis, die Sie jetzt wieder einführen wollen, zu
unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen in Deutschland geführt hat.
({8})
Sie war doch gerade ein wesentlicher Grund für die Abnahme der Akzeptanz von Naturschutzmaßnahmen in der
Bevölkerung, insbesondere in der Land- und Forstwirtschaft.
({9})
Es ist ein umweltpolitischer Treppenwitz, dass die Bundesregierung diese überholte Praxis, die wir schon längst überwunden hatten, jetzt in Deutschland wieder einführen will.
({10})
Die Konsequenz daraus wird sein, dass damit unter dem
Diktat leerer öffentlicher Landeskassen Naturschutz
künftig wieder zulasten einer Bevölkerungsgruppe betrieben wird, siehe Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.
Ich muss ganz deutlich sagen: Ich halte es für unehrlich, dass bei der Vorstellung des Entwurfs auf frühzeitige
Information und Konsens mit der Bevölkerung hingewiesen wird, dass in den konkreten Regelungen aber - das
stellt man fest, wenn man in den Gesetzentwurf hineinschaut - vieles von dem, was Sie, Herr Minister, heute
Morgen gesagt haben, vom Gesetzes- und Begründungstext leider nicht getragen wird; das waren alles reine Worthülsen.
({11})
Die Anhänger des Naturschutzes werden es noch bereuen. Das Zurückdrängen des Vertragsnaturschutzes in
Deutschland wird nicht dazu beitragen, das zukünftige
Klima - ich sage es noch einmal ganz deutlich - für notwendige Naturschutzmaßnahmen zu verbessern. Man
kann sagen: Der Entwurf hält nicht das, was Sie gerade in
Ihrer Rede versprochen haben.
({12})
Es wird zum Beispiel davon gesprochen, dass ein Biotopverbund notwendig sei - dies ist richtig - und dass die
verschiedensten Naturschutzflächen in Deutschland
grundsätzlich 10 Prozent der Landesfläche umfassen sollen. Wie kommen Sie auf diese Zahl von 10 Prozent?
({13})
Warum nicht in dem einen Land 12 oder 15 Prozent und
in einem anderen 7 oder 8 Prozent? Wieso greifen Sie einfach eine Zahl heraus, obwohl Sie ganz genau wissen,
dass Sie diese Zahl in der konkreten Naturschutzdiskussion überhaupt nicht begründen können. Sie wollen nur
Ihre Klientel zufrieden stellen; das ist völlig falsch.
({14})
Meinen Sie denn wirklich, dass es ein Beitrag zur Bürgerinformation und Bürgeröffentlichkeit ist, wenn Sie die
verschiedensten Biotoptypen und -schutzkategorien jetzt
noch weiter anreichern? Sie führen eine Vielzahl von
Schutzgebietskategorien ein. Der Bürger steht verzweifelt
vor Ihrem Gesetzentwurf und fragt sich, was durch die entsprechenden Typen - Naturschutzgebiete, Naturparke, Nationalparke und Biosphärenreservate - geschützt wird, inwieweit durch den einen Typ in sein Eigentum eingegriffen
wird und wie er sich bei einem anderen Typ tatsächlich verhalten muss. Im Sinne der Entbürokratisierung wäre es ein
Gebot der Stunde, die Schutzkategorien zu vereinfachen,
damit die Bürger wissen, wo es langgeht, und bereit sind,
dort mitzumachen. Das machen Sie leider nicht.
({15})
- Herr Matschie, Sie als Ausschussvorsitzender werden
noch erleben, wie lange die Beratungen im Ausschuss dauern werden. Diesen Zwischenruf werden Sie noch bereuen.
({16})
Sie werden sehen, dass wir gerade diese Punkte im Detail
kritisieren werden.
({17})
Ein wichtiges Thema ist das von Ihnen angesprochene
Verhältnis zwischen Landwirtschaft und Naturschutz.
Wir wissen, dass es notwendig ist, Landwirtschafts- und
Naturschutzpolitik zu harmonisieren. Durch neue Auflagen und Verordnungen sowie durch die Abschaffung von
Regelungen zur finanziellen Entschädigung werden Sie in
diesem weiten Politikfeld nicht erfolgreich sein. Auch die
CDU/CSU ist für standortangepasste Landnutzung, artgerechte Tierhaltung und naturnahe Bewirtschaftung. Die
Anhebung der Standards, von denen Sie gerade gesprochen haben, gehört aber in die einschlägigen Fachgesetze
und nicht in das Bundesnaturschutzgesetz.
({18})
Herr Trittin, man merkt, dass Sie ursprünglich nicht in
der Verwaltung tätig gewesen sind: Alle Fachleute sagen
Ihnen, dass die Naturschutzbehörden vor Ort personell
nicht so ausgestattet sind, dass sie die vielen offenen
Punkte im Natur- und Landschaftsschutz regeln und harmonisieren könnten. Die Verwaltung vor Ort ist überhaupt
nicht entsprechend ausgestattet. Sie befrachten vielmehr
die Naturschutzbehörden mit neuen Aufgaben und wissen
ganz genau, dass die Naturschutzbehörden diese Fragen
vor Ort überhaupt nicht lösen können. Sie werden dadurch
nur große Unsicherheiten und Probleme in der Naturschutzpolitik vor Ort herbeiführen.
Deshalb fordere ich ganz deutlich: Hören Sie auf, in
diesen Fragen die so genannte Agrarwende zu betreiben!
Machen Sie das, wenn Sie wollen, in den Fachgesetzen!
Helfen Sie aber mit, dass der Gedanke des Naturschutzes
an dieser Stelle keinen Schaden leidet!
Ich fasse zusammen: Dieser von Rot-Grün vorgelegte
Entwurf einer Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes wird die Situation des Naturschutzes in Deutschland
leider nicht verbessern. Die CDU/CSU-Fraktion schlägt
vor, den bisher eingeschlagenen Weg des Konsenses
({19})
im Naturschutz weiterzugehen. Dazu muss - im Gegensatz zu Ihrem Entwurf - der Vertragsnaturschutz gestärkt
und die bundeseinheitlich vorgeschriebene Ausgleichsverpflichtung der Bundesländer für Naturschutzauflagen
beibehalten werden. Darüber hinaus ist das Bundesnaturschutzrecht mit einer Vereinfachung der Schutzkategorien
und Veränderungen im Artenschutzrecht für den Bürger
transparenter zu gestalten.
Für solche Regelungen bieten wir in den Ausschüssen
unsere Mitarbeit an. Den Entwurf in der jetzigen Fassung
lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aber entschieden
ab.
({20})
Ich erteile das Wort
Ulrike Mehl, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Paziorek, ich konnte eigentlich nichts anderes erwarten; aber ein bisschen enttäuscht
es mich schon, dass Sie wieder in das altbekannte Horn
blasen. Den Dissens in der Öffentlichkeit, den Sie beklagen, haben Sie erzeugt, und zwar in der letzten Legislaturperiode mit der Diskussion gerade um die Landwirtschaft. Einen Konsens erreicht man nicht mit solchen
Reden, wie Sie eben eine gehalten haben.
({0})
Ich habe gehofft, dass Sie konstruktiv mitarbeiten wollen.
Aber offensichtlich wollen Sie es nicht; Sie wollen das
Thema vielmehr wieder ausschlachten und schaden damit
gerade dem Bestreben, Naturschutz und Landwirtschaft zusammenzubekommen. Sie bringen die Leute auf
die Barrikaden, und das ohne jeden Grund.
({1})
- Ich komme dazu gleich noch. Ich kann überhaupt nicht
nachvollziehen, was Sie an Inhalten kritisieren. Aber vielleicht kommt später mehr Substanz.
Wir debattieren heute - ich hoffe, zum vorletzten Mal für
geraume Zeit - das Bundesnaturschutzgesetz, das wir weit
über zwölf Jahre intensiv diskutiert haben. Aber bis 1998
gab es nur Gesetzentwürfe der Opposition. Auch der frühere
Umweltminister Töpfer, der das Fehlen einer Novelle als
eine klaffende Wunde in der Umweltpolitik der damaligen
Regierung bezeichnet hat, hatte keinen Gesetzentwurf und
er wusste sehr wohl, warum: Er wollte nämlich keinen
schlechten vorlegen. Stattdessen haben Sie 1998 zwei Novellen vorgelegt; die zweite scheiterte. In der dritten haben
Sie dann das geregelt, was Sie in der zweiten nicht durchbekommen haben. Alleine das ist schon ein Grund dafür,
dass das Naturschutzgesetz überarbeitet werden muss.
Dass die CDU jetzt im Bundesrat versucht, zu halten,
was zu halten ist, um dem Gesetz einen eigenen Stempel
aufzudrücken, kann ich zwar nachvollziehen; aber ich
sage Ihnen: Es wird Ihnen nicht gelingen, dieses Gesetz
zu einem zustimmungspflichtigen Gesetz zu machen und
es damit scheitern zu lassen. Das Gesetz wird diesmal beschlossen werden.
({2})
Die Fachwelt ist sich jedenfalls einig, dass, obwohl
schon viele Jahre untätig ins Land gegangen sind, eine
Überarbeitung des Naturschutzgesetzes dringend notwendig ist; denn die Artengefährdung sowie der Lebensraumschwund und die Lebensraumverschlechterung halten ungebremst an. Das kann man in vielen Gutachten, die
in den letzten Jahren erstellt worden sind, nachlesen.
Der Interessenkonflikt zwischen Landwirtschaft und
Naturschutz ist weitgehend unverändert geblieben. Dazu
hat die Diskussion in der letzten Legislaturperiode kräftig
beigetragen. Ich finde das ausgesprochen bedauerlich. Ich
glaube, dass es für die Landwirtschaft eine große Chance
ist, wenn sie von sich aus auf den Naturschutz zugeht.
({3})
Das tut sie ja in weiten Teilen, und zwar auch in der Praxis. Aber mit solchen Reden, wie Sie sie hier halten, tun
Sie das jedenfalls nicht.
({4})
Wir werden mit dem vorgelegten Gesetzentwurf einen
neuen Anlauf nehmen, um endlich das notwendige gesetzliche Fundament für einen wirksamen Naturschutz zu
schaffen. Dieses Gesetz ist im Gegensatz zu dem, was wir
eben gehört haben, eine deutliche Verbesserung gegenüber dem geltenden Recht. Es orientiert sich an dem Prinzip der Nachhaltigkeit, betont nicht mehr so stark die
Interessen der Naturnutzer und berücksichtigt neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus Naturschutz und Landschaftsplanung.
Ich kann in dem Zusammenhang nur begrüßen, dass
die Liste der zu schützenden Biotope erweitert worden ist
und dass beispielsweise auch der Schutz von Gewässern
und Uferzonen als wichtiges Element für ein ökologisches Netz benannt worden ist.
Ich finde die Neuregelung des Verhältnisses von Naturschutz einerseits und Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft andererseits, wie sie jetzt in den Gesetzentwurf aufgenommen worden ist, lobenswert. Die
bestehenden fachrechtlichen Vorschriften für die ordnungsgemäße Bewirtschaftung werden durch naturschutzfachliche Anforderungen ergänzt. Diese geplante Änderung - das ist der Unterschied zu dem, was
in der letzten Legislaturperiode gelaufen ist - flankiert
die ebenfalls überfällige Agrarwende, die den Weg zu
einer nachhaltigen, umweltfreundlichen Landwirtschaft
ebnet. Die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes ist also einer der Bausteine bei der Umsetzung der
neuen Agrarpolitik.
§ 5, um den es hier geht, hat schon im Vorfeld zu heftigen Diskussionen geführt. Allerdings ist das eine Diskussion, die wir schon seit zehn Jahren intensiv führen.
Ich kann heute, da der ausformulierte Text vorliegt, die
ablehnenden Argumente vonseiten der Landwirtschaft
noch weniger verstehen als früher. Es ist für mich nicht
nachvollziehbar, warum die Landwirtschaft glaubt, dass
das, was hier formuliert ist, zum Ruin der Landwirtschaft
führt. Dies haben Sie ja eben heraufbeschworen.
({5})
Ich glaube, das im Gesetz Formulierte ist das Minimum
dessen, was man von der Landwirtschaft erwarten kann.
Die Bauernverbandsvertreter sagen ja selbst, dass sie das,
was in § 5 des Bundesnaturschutzgesetzes formuliert ist,
ohnehin machen, und zwar seit vielen Jahren. Deswegen
erschließt es sich mir nicht, warum sie mit allen Mitteln
dagegen kämpfen.
({6})
Unter den diversen Gegenargumenten gibt es eines, das
ich gerne bereit bin, im parlamentarischen Beratungsverfahren zu untersuchen. In § 5 Abs. 3 Nr. 2 steht, dass die
erforderlichen Elemente zur Vernetzung von Biotopen in
ausreichender Dichte zu erhalten bzw. wieder herzustellen sind. Es wird behauptet, dass dies dazu führen könnte,
dass bestehende Agrarförderprogramme ausgehebelt
würden. Ich glaube nicht, dass dieser Fall eintreten wird,
weil nämlich in dem gleichen Absatz formuliert ist, dass
die Länder die zu erreichende regionale Mindestdichte
hierfür festlegen müssen. Ich bin aber, wie gesagt, gern
bereit, dies zu überprüfen, weil wir natürlich im Interesse
des Naturschutzes eine Bereicherung an Landschaft erreichen wollen. Wenn dies über Agrarprogramme geschieht,
dann soll dies auch weiterhin so sein.
Im Übrigen ist in diesem Themenzusammenhang weiterhin der Vertragsnaturschutz als wichtiges Element
verankert worden. Ich betone aber noch einmal, dass der
Vertragsnaturschutz eben nur ein Instrument unter anderen ist. Dies ist im Gesetzentwurf auch so formuliert. Der
Vertragsnaturschutz ist ein Instrument, das bei der Umsetzung vor Ort sehr flexibel angewendet werden kann,
und zwar dort, wo es Sinn macht. Aber was Sinn macht,
an welcher Stelle und unter welchen Voraussetzungen es
Sinn macht, das entscheiden diejenigen, die für den Naturschutz und für die Umsetzung zuständig sind, und das
sind die Länder. Im Übrigen sind es auch die Länder, die
das bezahlen müssen. Deswegen halte ich es nach wie vor
für richtig, im Bundesgesetz nicht bindend vorzuschreiben, dass der Vertragsnaturschutz das Instrument ist, das
die Länder als erstes anzuwenden haben, sondern dass
dieses Instrument zur Verfügung gestellt und gesagt wird:
Wendet es dort an, wo ihr meint, dass es das richtige und
flexible Instrument ist. Genau das haben wir jetzt gemacht.
({7})
Alles in allem ist festzuhalten: Die Landwirtschaft ist
in die Lage zu versetzen, umweltverträglich zu wirtschaften. Das ist aber nicht Aufgabe des Naturschutzes, sondern Aufgabe der Landwirtschaftspolitik. Genau das wird
die Regierung jetzt mit der Agrarwende tun. Alle über
dieses Maß hinausgehenden Anforderungen und Wünsche vonseiten des Naturschutzes gehören in das Aufgabenfeld des Naturschutzes. Dafür haben wir mit diesem
Gesetz die Grundlagen und die Instrumente geschaffen.
Ein weiterer wichtiger Eckpunkt des Gesetzes ist, dass
die Naturschutzverbände nun endlich durch die Einführung der Vereinsklage auch auf Bundesebene ein
wichtiges Instrument erhalten. Wie wir schon gehört haben, wenden bereits 13 Bundesländer dieses Instrument
seit Jahren an. Während noch vor zehn Jahren heftig lamentiert wurde, dadurch würde der ganze Staat lahm gelegt, weil die Umweltverbände auf Teufel komm raus
klagen würden, hat sich genau das Gegenteil herausgestellt. Es hat sich herausgestellt, dass die Umweltverbände mit diesem Instrument sehr verantwortungsbewusst umgehen. Auf der anderen Seite haben die
Verwaltungen inzwischen festgestellt, dass das die Verfahren eher beschleunigt, als dass es sie verlangsamt, weil
sie nämlich in den Verfahren sehr viel enger und sehr viel
früher zusammenarbeiten. Alle miteinander stellen also
fest: Dies ist ein gutes Instrument. - Das war auf Bundesebene lange überfällig. Wir haben dies ernst genommen
und haben jetzt die Gelegenheit genutzt, es in das Gesetz
aufzunehmen.
({8})
Wir haben das Instrument der Landschaftsplanung
gestärkt, indem wir es als flächendeckendes Instrument in
das Gesetz aufgenommen haben. Die Landschaftsplanung
ist die einzige Fachplanung, die die unterschiedlichen
Nutzungsansprüche an Natur und Landschaft koordinieren kann. Deswegen ist sie ein sehr wichtiges Instrument.
Die Länder werden nun die Aufgabe haben, einen entsprechenden Mindeststandard der Landschaftsplanung
festzulegen. In Teilen ist das ja schon geschehen, aber die
Länder werden auch die Aufgabe haben, mit solchen Mindeststandards der Landschaftsplanung die Bedeutung zu
geben, die sie verdient.
Wir haben außerdem unsere langjährigen Forderungen
nach einem Biotopverbund in diesen Entwurf aufgenommen. Auf mindestens zehn Prozent der Fläche eines
Bundeslandes soll es den Vorrang für den Naturschutz geben. Die Vernetzung der Flächen untereinander setzt nun
endlich schon lange bekannte wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich des Naturschutzes um.
Abschließend möchte ich festhalten: Dieses Gesetz ist
eine sehr gute Grundlage zur Verbesserung des Naturschutzes. Allerdings bietet auch dieses Gesetz nicht die
Lösung aller Probleme; das sollte jedem klar sein. Das
liegt zum einen daran, dass es sich um ein Rahmengesetz
handelt, zum anderen aber auch daran, dass Naturschutz
eine Querschnittsaufgabe ist, die mit vielen Interessen aus
anderen Ressorts kollidiert. Der Erfolg des Naturschutzes
hängt im Wesentlichen davon ab, dass diese anderen Interessenfelder dem Naturschutz die Aufgabe zumessen, die
er hat, nämlich die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen.
Es gibt sicherlich den einen oder anderen Punkt in diesem Gesetzentwurf, der verbesserungswürdig ist. Wir
werden darüber im parlamentarischen Verfahren diskutieren. Das betrifft möglicherweise Regelungen zum
Biotopverbund, zum Thema Meeresnaturschutz und vielleicht auch im Zusammenhang mit Offshore-Anlagen, die
vorhin schon angesprochen worden sind. Wir werden darüber eingehend beraten.
Ich freue mich sehr, Herr Paziorek, dass Sie trotz aller
grundsätzlichen undifferenzierten Beschimpfungen, was
dieses Gesetz angeht, erklären, Sie wollten konstruktiv
mitarbeiten und würden im Ausschuss sehr intensive Vorlagen dazu einbringen. Ich freue mich darauf und hoffe,
dass Sie dann auch konstruktiv nach außen wirken und
nicht so destruktiv, wie Sie es eben getan haben.
({9})
Ich erteile der Kollegin Marita Sehn, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welche Vision hat diese BundesregieUlrike Mehl
rung eigentlich von oder für Deutschland - Industriestandort oder Feuchtbiotop?
({0})
Naturschutz in einer hoch entwickelten Industriegesellschaft, in einem dicht besiedelten Land ist ein dauernder Abwägungsprozess. Auf einem zunehmend enger
werdenden Markt für Fläche ist der Naturschutz neben der
Wirtschaft und dem Wohnungs- und Straßenbau zu einem
weiteren Nachfrager geworden. Da ist es wenig hilfreich,
diesen Abwägungsprozess zu ignorieren und erst einmal
die Abwägungsklausel zu streichen.
({1})
Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie
uns schon nicht glauben, dann sollte Ihnen die gemeinsame Erklärung von BDI, DIHK, DBV und den
kommunalen Spitzenverbänden Anlass zum Nachdenken
sein. Wer den Naturschutz aus sich selbst heraus rechtfertigt, geht zumindest den lästigen Fragen der Landwirtschaft, der Forstwirtschaft, der Grundeigentümer, der
gesamten Bevölkerung des ländlichen Raumes aus dem
Weg.
({2})
Herr Minister, auch wir haben natürlich ein Herz für den
Storch und für das Adonisröschen.
Nachhaltigkeit - dieses wunderschöne Wort! Kaum
ein Antrag, kaum ein Gesetzentwurf, kaum eine Rede der
Regierung, in denen nicht das Leitbild der Nachhaltigkeit
beschworen wird. Aber was ist denn Nachhaltigkeit,
meine Damen und Herren von der Regierung? Nachhaltigkeit umfasst genau das, was Sie mit der Novelle des
Bundesnaturschutzgesetzes verhindern wollen, nämlich
die offene Abwägung von ökonomischen, ökologischen
und sozialen Faktoren.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie erklären
Sie es den Landwirten, wenn Sie ihre wirtschaftliche Freiheit zunehmend einschränken?
({4})
Wie sagen Sie dem Landwirt, dass seine Existenz weniger
wichtig ist als zum Beispiel die einer bedrohten Insektenart? Sie drücken sich vor der Antwort, Herr Schönfeld, indem Sie sagen: Wir schützen die Natur, weil es nun einmal die Natur ist. - Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass
die Betroffenen mit dieser Auskunft sehr zufrieden sein
werden.
Aber die Halbwahrheiten der Regierung gehen noch
weiter. Während Herr Trittin landauf, landab erklärt, dass
der Naturschutz zu einer wichtigen Einkommensquelle
für die Bauern geworden ist, sieht die Wahrheit etwas anders aus. Wohlgemerkt, Herr Trittin: Dies ist die Wahrheit
aus Ihrem eigenen Haus.
Auf meine schriftliche Anfrage an die Bundesregierung vom 7. Juni 2001 habe ich zur Antwort bekommen,
dass der Bundesregierung „keine allgemeinen Erkenntnisse über die Einkommens- und Vermögensentwicklungen der landwirtschaftlichen Betriebe in den verschiedenen Schutzgebietstypen bzw. über die finanziellen Auswirkungen von Schutzgebietsausweisungen vorliegen“.
({5})
Woher nimmt dann bitte schön die Koalition die Dreistigkeit, immer wieder zu behaupten, der Naturschutz sei eine
Einkommensquelle für die Landwirtschaft?
Aber die Antwort auf meine Anfrage enthält ein weiteres Highlight. Schließlich weist die Bundesregierung
ausdrücklich darauf hin, dass den „durch Auflagen verursachten Kosten jedoch auch Ertragssteigerungen entgegenstehen können, wenn landwirtschaftliche Erzeugnisse
aus Schutzgebieten zu einer erhöhten Nachfrage und damit Zahlungsbereitschaft führen“. Während die Einnahmen aus dem Naturschutz also sehr fraglich sind, sind die
Kosten sehr real. Darüber kann man doch nur noch den
Kopf schütteln. Geht es nicht noch etwas praxisfremder?
Wenn man so etwas liest, dann weiß man eines: Herr
Trittin steht mit seiner Novelle mit beiden Beinen fest in
der Luft.
({6})
Aber man muss ihm zu seiner Verteidigung zugestehen:
Er hat schließlich niemanden, der es ihm besser erklären
könnte.
Auf meine Frage nach der Anzahl der Fachkräfte mit
landwirtschaftlicher Ausbildung im Bundesumweltministerium antwortete die Bundesregierung: zehn Mitarbeiter
des höheren und gehobenen Dienstes beim BMU und sieben beim Bundesamt für Naturschutz. - Wenn man das in
Relation zu den 770 Mitarbeitern beim BMU und 220
beim Bundesamt für den Naturschutz setzt, dann versteht
man die Befürchtung der Landwirte, wenn sich Herr
Trittin erst einmal an die Definition der guten fachlichen
Praxis macht.
Beim BMU mag diese personelle Schieflage noch hinnehmbar sein. Vielleicht hilft Frau Künast Herrn Trittin
bei den Hausaufgaben. Ich vermisse übrigens Vertreter
des Landwirtschaftsministeriums bei einer für die Landwirte so wichtigen Debatte.
({7})
Bei dem Bundesamt für Naturschutz habe ich für so etwas kein Verständnis. Wenn Naturschutz tatsächlich auf
100 Prozent der Fläche stattfinden soll, wie es das BfN
immer wieder fordert, dann sollte doch eigentlich
sichergestellt sein, dass diese Behörde in der Lage ist, die
Sorgen und Nöte der größten Flächennutzer, nämlich der
Landwirtschaft, zu verstehen. 97 Prozent der Mitarbeiter
des BfN haben von Landwirtschaft keine Ahnung. Das ist
etwas wenig Fachkompetenz, um zu verstehen, was auf
55 Prozent der Fläche in Deutschland vor sich geht.
({8})
Die gesamte Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes
ist deshalb auch ein Beleg für die landwirtschaftliche Ahnungslosigkeit des Herrn Trittin. Was können Sie nach der
Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes für den Naturschutz tun, was Sie nicht auch heute schon tun können?
Sie wollen einen Biotopverbund auf 10 Prozent der
Fläche. Warum verwirklichen Sie dies nicht gemeinsam
mit den Landwirten über den Vertragsnaturschutz?
Warum brauchen Sie immer gleich ein neues Gesetz?
({9})
Ob dieses Gesetz mehr Naturschutz bringt, ist nicht sicher. Sicher ist aber, dass auch dieses Gesetz weniger
Freiheit bedeutet - weniger Freiheit für die Land- und
Forstwirtschaft, weniger Freiheit für die Grundbesitzer,
weniger Freiheit für das Handwerk und den Mittelstand
und weniger Freiheit für die Bewohner des ländlichen
Raumes. Es ist interessant, dass die ehemaligen Alternativen heute die fleißigsten Gesetzesstricker sind.
Die F.D.P. setzt gerade beim Naturschutz auf Kooperation. Naturschutz ist ein Anliegen der gesamten Gesellschaft. Deshalb ist es nur recht und billig, wenn er auch
von allen mitgetragen wird. Mit dem Vertragsnaturschutz - an dem wir übrigens in der vergangenen Legislaturperiode einen großen Anteil gehabt haben ({10})
gibt es bereits ein hervorragendes Instrument, Naturschutzaspekte auf der einen Seite und die ökonomischen
Belange der Nutzer auf der anderen Seite gleichermaßen
zu berücksichtigen.
({11})
Für uns Liberale ist der Naturschutz kein von der Restgesellschaft losgelöster Monolith, sondern integraler Bestandteil. Deshalb muss ein Abwägungsprozess stattfinden. Wer Naturschutz will - und wir alle wollen ihn -,
muss auch sagen, was er dafür zu zahlen bereit ist. Naturschutz darf nicht per Mehrheitsbeschluss einer Minderheit aufs Auge gedrückt werden. Die F.D.P. will, dass
Grundrechte für alle gelten, auch für Minderheiten. Die
Landwirte sind zu einer Minderheit geworden
({12})
und die Bundesregierung lässt sie dieses deutlich spüren.
Herr Matschie, ich möchte noch einmal fragen: Wer
vertritt das Landwirtschaftsministerium heute auf der Regierungsbank? Ich kann niemanden sehen. Es tut mir
Leid.
({13})
Ich empfinde dies als eine Katastrophe. Es ist ein so wichtiges Gesetz, gerade für die Landwirtschaft. Dafür, dann
hier nicht anwesend zu sein, habe ich kein Verständnis.
({14})
Die Bundesregierung will große Politik machen, hat
aber kein Geld. Also müssen die Landwirte die Zeche zahlen. Vielleicht sollte man Herrn Trittin einmal daran erinnern: Die Qualität einer Demokratie zeigt sich an ihrem
Umgang mit Minderheiten.
Das Recht auf Eigentum ist ein Grundrecht. Es muss
auch für die Landwirte gelten. Die Landwirtschaft darf
nicht mit immer neuen Auflagen belastet werden, die einer schleichenden Enteignung gleichkommen.
Die F.D.P. fühlt sich dem Gedanken der Nachhaltigkeit
verpflichtet, die auch die sozialen und ökonomischen Belange mit in Betracht zieht. Wir Liberale wissen, dass der
Wirtschaftsstandort Deutschland kein Feuchtbiotop ist
und wir neue Konzepte brauchen. Die Realität lässt sich
leider auch nicht per Gesetz wegverordnen. Deshalb brauchen wir neue Strategien, die es ermöglichen, Naturschutz
auch in dicht besiedelten Räumen zu verwirklichen.
Die Grünen haben anscheinend ein Problem mit den
Realitäten eines Industrielandes. Ein Industrieland braucht
eine gewisse Infrastruktur. Dazu gehört natürlich auch eine
flächendeckende Energieversorgung. Aber selbst damit
haben Sie ein Problem. Für die toten Vögel an Hochspannungsleitungen haben Sie ein Herz. Aber sind die, welche
von Windrädern erschlagen werden, weniger wert?
({15})
Was ist übrigens in diesem Zusammenhang mit dem
Landschaftsbild, Herr Kubatschka? Danach muss ich hier
auch einmal fragen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch im Naturschutz brauchen wir eine Verhältnismäßigkeit; wir
brauchen die Abwägung ökonomischer, sozialer und ökologischer Faktoren. Viele Aspekte in unserer Gesellschaft
sind nicht unbedingt angenehm und fast jede Form des
Wirtschaftens ist auch mit einem Ge- und Verbrauch von
Umwelt verbunden. Wenn aber das Streichen der Abwägungsklausel im Bundesnaturschutzgesetz alles ist, was
Ihnen dazu einfällt, dann ist das schon etwas mager.
({16})
An der Realität ändert sich dadurch überhaupt nichts und
Sie bringen die Gesellschaft damit keinen Deut weiter.
Man möchte Sie manchmal fragen: Wissen Sie eigentlich, wo Sie sich befinden? Deutschland ist keine Jägerund-Sammler-Gesellschaft mehr.
({17})
Wir leben in einem hoch entwickelten Industrieland mit einer umfassenden Infrastruktur und dicht besiedelten Räumen. Da kann Naturschutz nur in Abwägung mit anderen
Faktoren stattfinden. Die eigentliche Herausforderung im
Naturschutz besteht nicht darin, ein neues Gesetz zu schaffen. Die große Herausforderung im Naturschutz besteht
vielmehr darin, Wege aufzuzeigen, wie Naturschutz auch
in Ballungsgebieten im Konsens mit allen Beteiligten
({18})
durchgeführt werden kann. Wir Liberale wollen den Naturschutz, Frau Mehl, aber wir wollen den Naturschutz
mit den Menschen und für die Menschen und nicht einen
Naturschutz, der über die Bedürfnisse der Menschen hinweggeht.
Vielen Dank.
({19})
Ich erteile das Wort
dem Umweltminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Wolfgang Methling.
Dr. Wolfgang Methling, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen
und Herren Abgeordnete! Zunächst darf ich mich sehr
herzlich für die Gelegenheit bedanken, als PDS-Umweltminister aus Mecklenburg-Vorpommern in diesem Hohen
Hause zu sprechen.
({1})
Die ersten Diskussionsbeiträge, die ich gehört habe, machen es mir nicht schwer, mich hier ganz wie zu Hause zu
fühlen; denn die Argumente zum Naturschutz, die ich
gehört habe, kenne ich aus ähnlichen Diskussionen in
Mecklenburg-Vorpommern.
({2})
Es mag übrigens sein, dass 97 Prozent der Mitarbeiter
im BfN von der Landwirtschaft keine Ahnung haben. Zumindest mir geht es nicht so; denn ich habe noch bis vor
kurzem in der Lehre und in der Forschung für die Landwirtschaft gearbeitet. Ich glaube, dass ich die Interessen
der Landwirtschaft sehr gut kenne, und dazu will ich mich
äußern.
({3})
- Unser Gesetzentwurf ist gut.
Als ich erfahren habe, dass bereits heute die erste Lesung der Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz erfolgen
würde, war ich, ehrlich gesagt, von dem vorgelegten
Tempo, mit dem der Gesetzentwurf die Ressort-, die Länder- und die Verbandsabstimmungen durchlaufen und das
Bundeskabinett passiert hatte, außerordentlich überrascht. Denn ich hatte das nicht erwartet. - Herzliche Gratulation an die Bundesregierung, dass sie diesen Entwurf
so schnell vorlegen konnte! - Haben sich doch vorangegangene Anläufe zur Novellierung schon mehrfach totgelaufen. Sie waren am Widerstand der Wirtschaft und auch
an dem der Landwirtschaft gescheitert.
Ich weiß sehr wohl - ich selbst habe das vor kurzem sozusagen am eigenen Leibe in Mecklenburg-Vorpommern
anlässlich der Novelle zu unserem Landesnaturschutzgesetz erfahren -, dass ein solches Vorhaben von verschiedenster Seite außerordentlich argwöhnisch beäugt
wird und widerstrebende Interessen abgewogen werden
müssen. Dabei den großen Wurf für den Naturschutz zu erzielen ist höchst schwierig und nach Einschätzung der PDS
mit dem heutigen Gesetzentwurf noch nicht voll gelungen.
Im Vergleich zum geltenden Bundesnaturschutzgesetz
ist der vorliegende Entwurf ein Fortschritt, wenn auch aus
unserer Sicht nur ein relativ bescheidener. Anders als es
aus naturschutzfachlicher Sicht erforderlich wäre und im
Gegensatz zu den Forderungen der Naturschutzverbände
- das ist Ihnen sicherlich bekannt - stellt er leider nicht
den erhofften großen Schritt nach vorne für den Naturschutz dar. Die Fortschritte sind mehr von der Tilgung von
enormen Defiziten - auch das sollte hier einmal erwähnt
werden - des im Kern 25 Jahre alten Gesetzes als von der
konsequenten Umsetzung neuer Ansätze im Naturschutzrecht bestimmt. Dies lässt sich an mehreren Kernpunkten
der Novelle deutlich machen.
({4})
Zweifellos ist es für den ehrenamtlichen Naturschutz
ein Erfolg, wenn anerkannten Naturschutzverbänden erstmals ein Vereinsklagerecht zur Wahrung von Naturschutzinteressen zugestanden wird. Allerdings zeugt der
konkrete Regelungsgehalt nicht von großem Vertrauen zu
den Umweltverbänden; das merkt man dieser Novelle
durchaus an. Die Beschränkung auf eine Klagemöglichkeit bei Planfeststellungsbeschlüssen und Befreiungen
von Verboten und Geboten in Schutzgebieten bleibt deutlich hinter dem zurück, was viele Länder bereits durch
Landesrecht geregelt haben.
({5})
- Ja, mit Herrn Schnappauf lassen sich dazu besonders gut
Gespräche führen.
Insofern ist es tröstlich, dass die Länder weitergehende
Regelungen getroffen haben. Sie tun dies grundsätzlich
auch deshalb, weil dieses Bundesrecht nur ein „Rahmenrecht“ ist. Davon hat auch Mecklenburg-Vorpommern
- ich muss sagen: endlich - Gebrauch gemacht, indem es
seinen Gesetzentwurf so gestaltet hat, dass eine Klagemöglichkeit bei Plangenehmigungen, aber auch bei
UVP-pflichtigen Vorhaben außerhalb von Schutzgebieten
vorgesehen ist.
Was die Eingriffsregelung betrifft, finde ich es richtig,
dass die Koalitionsfraktionen auf dem Vorrang des Ausgleichs vor Ersatzmaßnahmen bestanden haben. Die Ersatzzahlung soll weiterhin nur bei nicht ausgleichbaren
und nicht kompensierbaren Eingriffen in Betracht kommen und wird der Regelungskompetenz der Länder unterworfen. Wir werden dies schon regeln. Dies halte ich
für eine praktikable Lösung.
Gleichwohl wird diese Regelung ebenso wenig wie in
der Vergangenheit Eingriffe in Natur und Landschaft wirklich verhindern können. An der Praxis, dass die Belange
des Naturschutzes bei Bauvorhaben häufig eher „weg“als, wie eigentlich erforderlich, abgewogen werden, wird
durch die Novelle wohl nichts geändert. Das ist eine Einschätzung, die natürlich auch für unser Land zutrifft.
({6})
Durch den Gesetzentwurf soll ferner das Verhältnis
von Naturschutz und Landwirtschaft neu geordnet
werden. Das gesellschaftliche Klima dafür ist nach den
Debatten um BSE und MKS so günstig wie nie, obwohl
ich hier sagen möchte, dass diese beiden Krankheiten nun
wahrlich nichts mit Naturschutz zu tun haben. Es ist
selbstverständlich nicht nur im Interesse des Naturschutzes, sondern aus meiner Sicht auch im Interesse der
Bauern selbst, wenn sie dieses positive Klima aufgreifen
und nicht blockieren und mit eigenen Vorschlägen ihr
- leider - bei großen Teilen der Bevölkerung beschädigtes Ansehen aufwerten würden.
({7})
Es steht völlig außer Frage, dass die so genannte ordnungsgemäße Landwirtschaft zu einer erheblichen Moordegradation geführt hat, die Nährstoffeinträge in die
Gewässer aufgrund der diffusen Austräge aus den landwirtschaftlichen Nutzflächen nach wie vor unzulässig
hoch sind und intensive Tierhaltung ohne die entsprechenden eigenen Flächen zur Gülleausbringung höchst
problematisch ist. Vor diesem Hintergrund ist das, was in
§ 5 des Entwurfs von dem Landwirt verlangt wird - das
ist meine Meinung -, eher als zaghaft und wenig verbindlich zu charakterisieren; denn fast alles, was von ihm gefordert wird, muss er schon aus wirtschaftlichem Eigeninteresse tun.
Die Anerkennung der in § 5 des Entwurfs genannten
Grundsätze als gute fachliche Praxis ist aus meiner Sicht
eher eine Würdigung als eine Forderung an die Landwirtschaft.
({8})
Mir ist deshalb die häufig zu hörende Kritik der Bauernverbände an dieser Definition völlig unverständlich. In
diesem Punkt möchte ich Frau Mehl und Herrn Minister
Trittin unterstützen. Mir ist unverständlich, wie die Anerkennung einer guten fachlichen Praxis aus Sicht des Naturschutzes für die Bauern ein Problem sein kann; denn
sie sagen ja, sie würden eine gute fachliche Praxis üben.
({9})
Will man eine genauere Definition der guten fachlichen
Praxis haben, so kann ich nur empfehlen, in den Entwurf
der PDS-Fraktion, der sich bereits in der ersten Lesung
befunden hat, zu schauen. In diesem Entwurf wird eine
Orientierung gegeben, da er eine klarere und weitergehende Regelung hinsichtlich der Verantwortung der
Landwirtschaft für den Schutz der Natur enthält.
Ich habe viele Gespräche mit Bauern geführt und weiß
daher, dass viele Bauern durchaus bereit sind, freiwillig
zum Naturschutz beizutragen. Es gibt in der Bauernschaft
nicht nur Feinde des Naturschutzes, sondern auch viele
Verbündete. Darauf können wir bauen.
({10})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben hinsichtlich des
Tempos der Novellierung ein beträchtliches Ergebnis zustande gebracht. Dafür gebührt ihnen Dank und Respekt.
Der Gehalt der Novelle dagegen lässt manche Wünsche
offen. Ein - wenigstens heimlicher - Blick in den Gesetzentwurf der PDS-Fraktion vor den Ausschussberatungen
kann sicherlich Anregungen zur Verbesserung des Entwurfs von SPD und Bündnis 90/Die Grünen geben. Dazu
möchte ich Sie - auch im eigenen Interesse - ermuntern,
denn wenn Sie im Bund höhere Maßstäbe setzen, wird es
mir leichter gemacht, eine weitere Anhebung des Naturschutzniveaus in Mecklenburg-Vorpommern zu erreichen.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile dem Kollegen Karsten Schönfeld, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es war eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung, die 1976 das erste Bundesnaturschutzgesetz verabschiedet hat. Trotz einiger Änderungen in den letzten Jahrzehnten ist das bestehende
Naturschutzrecht heute nicht mehr zeitgemäß. Deshalb legen wir diesen Gesetzentwurf vor.
Natur und Umwelt müssen in einem hoch industrialisierten und dicht besiedelten Land - also nicht nur Feuchtbiotope, Frau Kollegin Sehn - wie Deutschland konsequent und wirkungsvoll geschützt werden, dies besonders
auch deshalb, um künftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen. Man muss kein ausgewiesener Umweltpolitiker sein, um das zu erkennen.
In unserem Gesetzentwurf wird die Verantwortung für
die zukünftigen Generationen hervorgehoben und damit
das Nachhaltigkeitsprinzip gestärkt.
({0})
Es wird sichergestellt, dass bei Naturschutzmaßnahmen
die betroffene und interessierte Öffentlichkeit frühzeitig
und umfangreich informiert wird. Außerdem wird die Akzeptanz von Maßnahmen des Naturschutzes durch eine
verstärkte Einbindung der Betroffenen gefördert.
Naturschutz ist in der grundgesetzlichen Ordnung eine
Angelegenheit der Länder; darauf ist bereits hingewiesen
worden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist deshalb als
Rahmengesetz, quasi als Richtschnur, formuliert. Bei seiner Umsetzung spielen die Länder eine entscheidende
Rolle. Gemäß den Regelungen im Grundgesetz sind die
Länder hier in der Verantwortung.
Die Novelle unterstützt die von uns eingeleitete Neuorientierung in der Agrarpolitik. Erst vor wenigen Tagen
haben die Umwelt- und Agrarminister der Länder und des
Bundes diese Neuorientierung eingefordert und unter anderem einen besseren Schutz von Umwelt und Natur verlangt.
Ein wesentliches Anliegen ist uns die Akzeptanz in der
Öffentlichkeit. Es geht darum, das Verständnis für NaturMinister Dr. Wolfgang Methling ({1})
schutz zu verstärken. Der Dialog mit der Land- und
Forstwirtschaft ist mir als Agrarpolitiker dabei ein besonderes Anliegen.
({2})
Landwirtschaftliche Verbände, aber auch einige Agrarminister kritisieren den Entwurf zur Neuregelung des
Bundesnaturschutzgesetzes, weil er - so der Tenor der
Kritik - die Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft über
Gebühr belaste und ihre Rolle bei der Pflege der Kulturlandschaft nicht anerkenne. Diese undifferenzierte Globalkritik trifft so nicht zu,
({3})
auch wenn einige Punkte noch einer eingehenden Prüfung
bedürfen. Die berufsständischen Vertreter kritisieren, die
pauschale Festlegung, dass mindestens 10 Prozent der
Landesfläche als Biotopverbundsystem ausgewiesen werden sollen, berücksichtige regionale Besonderheiten nur
unzureichend. Es besteht die Furcht, dass diese 10 Prozent
Naturschutzfläche auf kleine Regionen oder sogar auf
einzelne Betriebe bezogen wird. Das kann ich dem Entwurf so nicht entnehmen. Vielmehr müssen die Länder
darüber entscheiden, auf welche Weise sie diese Zielvorgabe erreichen. Sollte das unklar formuliert sein, werden
wir das in unserem Gesetzentwurf noch konkretisieren.
Schon heute ist von einigen Ländern - SchleswigHolstein sei hier genannt - zu hören, dass sie diese Zielvorgabe bereits erreicht haben. In anderen Ländern ist das
schwieriger. Die Zahl 10 dokumentiert aber unseren
festen Willen, ein ökologisch sinnvolles Verbundsystem
zu schaffen.
({4})
Lassen Sie mich dazu einige Zahlen nennen, die - so
denke ich - in diesem Zusammenhang wichtig sind: Etwa
2 Prozent der Landesfläche entfallen bereits heute auf Naturschutzgebiete, weitere 2 Prozent auf Nationalparks,
4 Prozent auf Biosphärenreservate, 25 Prozent auf Landschaftsschutzgebiete und 19 Prozent auf Naturparke. Sicher, die Flächenanteile lassen sich nicht addieren und nur
Teile davon sind auch Bestandteil eines zukünftigen Verbundsystems. Aber es sollte möglich sein, 10 Prozent der
Flächen in einem Verbund zusammenzufassen.
({5})
Kritisiert wird außerdem, dass Regelungen zur guten
fachlichen Praxis in der Landwirtschaft in das Bundesnaturschutzgesetz aufgenommen werden sollen. Es ist
aber nun einmal so, dass die Regelungen zur guten fachlichen Praxis im landwirtschaftlichen Fachrecht nicht
ausgereicht haben,
({6})
um negative Folgen für Umwelt und Natur in jedem Fall
zu verhindern. Das ist so.
({7})
Über die Gründe kann man sicherlich streiten; festzuhalten ist aber, dass eine nachhaltige Land- und Forstwirtschaft bereits heute keine Probleme hat, die im Gesetzentwurf definierten Anforderungen zu erfüllen.
Die Aufzählung von Pflichten in § 5 des Gesetzentwurfes lässt sich auch als positive Darstellung der landwirtschaftlichen Tätigkeit in unserem Land lesen: Verantwortungsvolle Landwirte wählen schon immer Bewirtschaftungsverfahren, die die natürliche Ausstattung der
Nutzfläche nicht über das erforderliche Maß hinaus beeinträchtigen. Verantwortungsvolle Landwirte erhalten
schon immer die natürliche Ertragsfähigkeit ihres Bodens. Verantwortungsvolle Betriebsleiter unterlassen
schon immer den Grünlandumbruch auf erosionsgefährdeten Hängen und schon immer treten verantwortungsvolle Agrarpolitiker - auch aus Ihren Reihen - für ein regional ausgewogenes Verhältnis zwischen Tierhaltung
und Pflanzenbau ein.
({8})
Die neuen Anforderungen an die gute fachliche Praxis
im Gesetz sind so streng nicht. Gute Landwirte wirtschaften - ich habe es erwähnt - bereits heute so. Trotzdem ist
die Befürchtung nicht völlig von der Hand zu weisen, dass
einige der staatlich finanzierten Agrarumweltmaßnahmen
gefährdet sein könnten. Werden sie als neuer gesetzlicher
Standard festgeschrieben, so könnte - das ist eine Sorge ihre Förderfähigkeit infrage gestellt sein. Wir wollen die
bisher für die EU-Agrarpolitik verwendeten Mittel in die
zweite Säule umschichten. Modulation ist ein Instrument
dazu. Das heißt, wir verringern die Mittel für Flächenund Tierprämien und stellen sie den Landwirten für Umweltmaßnahmen auf dem Wege der Kofinanzierung wieder zur Verfügung.
Wir werden kein Gesetz verabschieden, das Zahlungen
für Umweltleistungen behindert. Das kann ich unseren
Landwirten von dieser Stelle aus versichern.
({9})
Auch wenn die Ausgestaltung der Vorschriften Ländersache ist, wird unser Bundesgesetz in dieser Frage klar und
eindeutig sein.
Es wird auch bemängelt, dass wir dem Vertragsnaturschutz keinen Vorrang vor anderen umweltpolitischen
Maßnahmen wie Geboten und Verboten einräumen. Auch
dies ist eine Frage, die die Länder in ihrer Verantwortung
zu lösen haben. Wir Sozialdemokraten sind immer dafür
eingetreten, das bewährte Instrumentarium des Vertragsnaturschutzes zu nutzen, weil die Akzeptanz für Umweltmaßnahmen bei den Landwirten gestärkt wird und ihre
aktive Mitwirkung unterstützt wird - auch durch zusätzliche Einkommen. Wir haben uns immer dagegen ausgesprochen, in Bundesgesetzen Regelungen festzuschreiben, die dann die Länder zu finanzieren haben.
({10})
Die Verbesserung des Naturschutzes darf allerdings
nicht gegen die Landwirtschaft, sondern sie muss im Einvernehmen mit der Landwirtschaft geschehen. Ich bitte
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Sorgen Sie mit dafür, dass dieses Einvernehmen hergestellt
wird, und sorgen Sie nicht mit Brandreden, wie wir sie
hier heute schon gehört haben, dafür, dass ein weiterer
Keil zwischen die Politik und die Landwirtschaft getrieben wird!
({11})
Ich scheue mich auch in einer Umweltdebatte nicht,
darauf hinzuweisen, dass in vielen Agrarbetrieben in
Deutschland eine schwierige Einkommenssituation
herrscht. Das haben wir nie bestritten. Deshalb werden
unsere Maßnahmen - in der Form, wie ich sie hier beschrieben habe - dazu führen, dass sich die Einkommenssituation nicht verschlechtert, sondern, im Gegenteil, verbessert werden kann.
({12})
Wir können keinen Subventionsabbau vornehmen und
von den Landwirten verstärkt unternehmerisches Handeln
fordern, ohne gleichzeitig Wege aufzuzeigen, wie sie zusätzliche Einkommen erzielen können. Und das machen
wir.
Öffentliche Mittel für Leistungen im Bereich der Landschaftspflege und im Vertragsnaturschutz sind gut angelegtes Geld. Wir helfen damit der Umwelt, sichern zusätzliches Einkommen und schaffen Akzeptanz bei den
Landwirten. Wir sichern außerdem bei den Bürgerinnen
und Bürgern die Akzeptanz für Direktzahlungen an die
Landwirte.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss
und möchte mit einem Zitat enden:
Einen völligen Ausgleich aller Interessen herbeizuführen und dabei das große Ziel, den Schutz unserer
Natur, nicht aus den Augen zu verlieren, das ist eine
Aufgabe wie die Quadratur des Kreises. Es gibt
kaum einen Bereich, in dem der Anspruch, sachverständig zu sein, in derartiger Breite geltend gemacht
wird wie im Naturschutz. Zumeist verbergen sich
dahinter ziemlich eigennützige Motive, das Festhalten an vermeintlichen Privilegien, die Eroberung
neuer.
Diesem Zitat aus dem Jahr 1997, meine Damen und
Herren, ist fast nichts hinzuzufügen. Es stammt von Frau
Merkel, aus anscheinend noch glücklicheren Tagen in ihrer Zeit als Umweltministerin. Ich kann gut verstehen,
dass Frau Merkel hier heute nicht im Plenum ist.
({13})
Dieses Zitat trifft in wunderbarer Weise die Haltung vieler Oppositionspolitiker - wir haben es heute wieder gehört -, die sich hier als Sachwalter von Interessengruppen
aufführen, anstatt gemeinsam mit uns ein gutes Gesetz
zum Schutz der Umwelt zu verabschieden.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Christian Ruck von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bewahrung
der Schöpfung und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts weltweit
und im eigenen Land eine drängende und zunehmend
schwierigere Aufgabe.
In den Entwicklungs- und Schwellenländern schrumpfen die Tropenwälder als Zentren der Biodiversität unaufhaltsam weiter und gehen ganze Regionen der Verwüstung entgegen. In unserem Land kämpfen wir darum, die
Artenvielfalt und die verbliebenen Naturlandschaften mit
unserem Wohlstand in Einklang zu bringen. Natürlich
kommt der Druck auf unsere Natur von der hohen Siedlungsdichte, unserem engmaschigen Verkehrsnetz und einer intensiven Land- und Forstwirtschaft. Aber all dies ist
auch wesentliche Grundlage für unseren hohen Lebensstandard, auf den wir nicht verzichten wollen.
Die Kunst der Politik besteht darin, die Anforderungen
an eine moderne Industrie- und Technologiegesellschaft
mit unseren Vorstellungen von Natur und Heimat in Einklang zu bringen. Diese Entscheidung findet auf allen politischen Ebenen und auf allen Politikfeldern statt; der Naturschutz ist ein solches wichtiges Politikfeld. Seine
Aufgabe ist es, die Schädigungen der Natur zurückzudrängen, die vorhandenen Schutzgebiete und die schützenswerten Flächen abzusichern und einen großräumigen
Biotopverbund herzustellen.
Meine Damen und Herren, die bisherigen Taten von
Rot-Grün im Naturschutz in Bund und Ländern sind aber
kein Grund, sich selbst zu beweihräuchern. Die Vorredner
von der Koalition - insbesondere Sie, Herr Trittin - haben
so getan, als hätten sie den Naturschutz erfunden. Sie haben zum Beispiel völlig vergessen - das ist allerdings ein
Kunststück -, dass die letzte Novellierung des Naturschutzgesetzes 1998 passiert ist, eine Leistung der damaligen Bundesumweltministerin.
({0})
In dieser Novellierung haben wir den Konsens mit der
Landwirtschaft gefunden. Es wäre sicherlich besser gewesen, erst einmal Erfahrungen mit dieser Novelle zu
sammeln und deren Umsetzung durch die Länder abzuwarten, ehe man eine neue Novelle aus dem Ärmel zieht.
Praktischer Naturschutz findet zum Beispiel im
unionsregierten Bayern statt, wo zehnmal mehr für den
Vertragsnaturschutz als im rot-grünen Nordrhein-Westfalen ausgegeben wird.
({1})
Das rot-grüne Nordrhein-Westfalen hat es bisher auch
nicht geschafft, einen einzigen Nationalpark auszuweisen. Es war ein CSU-Finanzminister, der die milliardenschwere „Bundesstiftung Umwelt“ ins Leben gerufen hat,
die jetzt auch für Naturschutzzwecke geöffnet worden ist.
Auch war es die letzte Regierung, die den ersten Truppenübungsplatz zum Nationalpark erklärt hat, genauso
wie es die Vorgängerregierung war, die den Entwicklungshaushalt ökologisierte. Eben diesen Haushalt streichen Sie jetzt aber zusammen. Herr Trittin, der einzige
Haushaltstitel in Ihrem Ministerium, mit dem Sie auf nationaler Ebene wirklich Naturschutz betreiben können,
der Titel für die gesamtstaatlich repräsentativen Flächen,
stammt ebenfalls von uns.
Ihre Naturschutzpolitik ist bisher nichts als heiße Luft
oder - das muss ich jetzt noch einmal sagen - sie bringt
die Leute gegen den Naturschutz auf. Das gilt auch für die
jetzige Novelle.
({2})
Angesichts der verfassungsmäßigen Kompetenzen ist ein
erfolgreicher Naturschutz nur dann möglich, wenn erstens
die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und
Umweltinstitutionen überlegt und fundiert ist, wenn wir
zweitens ein abgestimmtes Instrumentenbündel aus hoheitlichem und vertraglichem Naturschutz haben und
wenn es drittens zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Staat und Gebietskörperschaft sowie Naturschützern und Land- und Forstwirten kommt. Genau
diesen Anforderungen hält Ihre Novelle nicht stand.
Ihre Vorlage führt zu mehr Verwaltungsaufwand und
bürokratischen Kosten - Geld und Personal, das wir anderswo im Naturschutz besser einsetzen könnten. Die
dem Entwurf fehlende unmittelbare Geltung der Ziele und
Grundsätze für das ganze Bundesgebiet kann zu einem
Bumerang auch für den Naturschutz werden, wenn einzelne Bundesländer in einen Wettbewerb um die geringsten Naturschutzanforderungen eintreten. Statt Kooperation - das wurde von meinem Kollegen bereits gesagt lautet Ihr Motto Konfrontation: Die Verschärfung der
Auforderungen an die gute fachliche Praxis im Naturschutz-, anstatt im Landwirtschaftsrecht und dazu die fehlende präzise formulierte und ausreichende Ausgleichsregelung bei Nutzungsbeschränkungen werden die Forstund Landwirtschaft noch mehr gegen den Naturschutz in
Wallung bringen. Wenn man darauf hinweist, so ist das
nicht etwa eine Brandrede, sondern das ist die Wirklichkeit, wie sie von allen gesehen wird, die sich in der Landund Forstwirtschaft auskennen.
({3})
Meine Damen und Herren, das Gleiche gilt für die Ausgrenzung der Bundesländer im Entscheidungsprozess.
Nach der Verfassung sind vor allem die Bundesländer für
den Naturschutz verantwortlich. Die Umgehung des Bundesrats ist deshalb kein gutes Signal für eine zukünftige
vertrauensvolle Zusammenarbeit.
({4})
Genauso gilt dies für die fehlende Verpflichtung der Bundesbehörden, das jeweilige Landesnaturschutzrecht zu
beachten.
Das sind die Hauptgründe, warum wir den rot-grünen
Entwurf eines neuen Bundesnaturschutzgesetzes in der
jetzigen Form nicht mittragen können, auch wenn er sicherlich positive Regelungen wie die Rückholklausel
oder die Jedermannverpflichtung zum Naturschutz beinhaltet. Aber anstatt die wichtigsten Akteure für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Lösung einer
großen Aufgabe zu gewinnen, wird die vorliegende Novelle, so befürchten wir, mehr teilen statt einen und damit
dem Naturschutz mehr schaden als nützen.
({5})
Wir werden die Novellierung konstruktiv begleiten. In
ihr müssen aus unserer Sicht folgende Elemente stärker
beachtet werden: Erstens. Die wichtigsten Ziele und
Grundsätze müssen in allen Bundesländern gleichermaßen gelten.
Zweitens. Der Bund und seine Einrichtungen müssen
sich stärker engagieren, zum Beispiel auf den bundeseigenen Flächen oder im Haushaltstitel des Bundes für
national bedeutsame Naturräume. Außerdem muss die
Öffnung der „Bundesstiftung Umwelt“ für Naturschutzzwecke als weiteres Instrument des Bundes verstärkt werden, um den Ländern bei der Absicherung wichtiger Naturgebiete zu helfen.
Drittens. Naturschutz muss auch flexibler und effizienter werden, zum Beispiel mit der Aufhebung der unmittelbaren räumlichen Verbindung von Ausgleichsfläche
und Eingriff sowie mit der Verwaltung der Kompensationsgelder über einen Naturschutzfonds und deren regionale Verteilung. Wir sind dezidiert für ein Ökokonto, das
man vorausschauend einrichten kann, sowie für steuerliche Anreize, wenn Privateigentümer freiwillig auf ihrem
Grundstück ökologische Verbesserungen tätigen.
Viertens. Wir treten dafür ein, dass die staatliche Zusammenarbeit mit den Naturschutzverbänden gestärkt
wird. Dazu gehört auch die Übertragung bestimmter
behördlicher Aufgaben, zum Beispiel bei der Pflege von
Schutzgebieten. Dazu zählen auch Umweltpatenschaften,
in deren Rahmen die Verbände wertvolle Liegenschaften
in einer Mischfinanzierung erwerben, mit staatlicher Förderung betreuen und auch selbst mit Privateigentümern
privatrechtliche Schutzvereinbarungen schließen können.
Vor allem aber: Offensive für Naturschutz kann nicht
heißen Offensive gegen Bauern, Kommunen und Waldbesitzer. Natürlich braucht der Naturschutz eine naturverträgliche Bodennutzung, aber nicht über eine kalte
Enteignung. Der Forderung nach einer umweltgerechten
Landwirtschaft muss das staatliche Angebot gegenüberstehen, naturschützerische Leistungen wie die Schaffung
und die Pflege von Hecken, Feuchtwiesen und Gewässerrandstreifen angemessen zu honorieren. Ertragseinbußen, zum Beispiel durch Verzicht auf Düngung, Grünlandumbruch oder Pflanzenschutzmittel, sind fair
auszugleichen.
Jedes neue Windkraftwerk, jede Hochspannungsleitung und jedes neue Gewerbegebiet auf der grünen Wiese
sind für uns einerseits ein Zuwachs an Wohlstand. Andererseits kann es auch Verlust an Heimat sein. Wir müssen
dafür werben: Es ist wichtig, dass unsere Kinder noch
wissen, wie ein Laubfrosch oder eine Feldlerche aussehen. Aber wenn wir unsere Heimat bewahren wollen,
dürfen wir die Kosten dafür nicht einer oder nur wenigen
Berufsgruppen, zum Beispiel den Landwirten, aufbürden.
({6})
Wenn wir das - wofür wir nachdrücklich eintreten - erreichen wollen, dann müssen die Opfer gemeinsam erbracht werden. Erfolgreiches Werben für den Naturschutz
braucht ein Miteinander. Dies ist bei Ihrer Novelle nicht
der Fall. Deswegen fordern wir entsprechende grundlegende Nachbesserungen.
({7})
Ich erteile das Wort
Kollegin Sylvia Voß, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ruck und Herr Dr. Paziorek, ich bin etwas erstaunt
darüber, dass Sie hier immer wieder behaupten, wir würden Gräben aufreißen und für Konfrontation sorgen. Vielleicht ist es Ihnen ja entgangen, dass die Koalitionsfraktionen in Vorbereitung der jetzt vorliegenden Novelle
anderthalb Jahre lang in einem einmaligen Prozess Gespräche mit allen Naturschutzverbänden und Nutzerverbänden geführt haben, von den Bauernverbänden über die
Verbände der Jäger bis hin zu denen der Reiter, also mit
allen, auf die sich das Gesetz auswirken könnte. Von einem Gegeneinander oder von einer Konfrontation kann
überhaupt keine Rede sein.
({0})
Wir haben die Argumente dieser Gruppen wohl vernommen und sie finden sich auch in diesem Gesetzentwurf
wieder. Der Schutz unserer Lebensgrundlagen - das sage
ich ausdrücklich in Ihre Richtung - ist einfach zu wichtig,
um in einem solchen Parteiengezänk und in solchen
Brandreden unterzugehen.
({1})
Ich möchte mich beim Umweltministerium ausdrücklich bedanken, dass es diesen Gesetzentwurf auf den Weg
gebracht hat. Trotz mancher Verbesserungswünsche, die
auch ich habe - sie werden im parlamentarischen Verfahren mit Sicherheit noch zu besprechen sein -, ist dieses
Gesetz tatsächlich ein Meilenstein. Es wird den Weg zu
einem neuen, modernen Naturschutz in Deutschland öffnen. Wir brauchen diesen Naturschutz. Er ist dringender
denn je, denn - das haben Sie selbst konstatiert - unsere
Natur befindet sich in einem Besorgnis erregenden Zustand.
Frau Sehn, ich war echt erschüttert. Vielleicht dämmert
der F.D.P. eines Tages die Erkenntnis
({2})
- vielleicht; man soll die Hoffnung nicht aufgeben -, dass
Landwirtschaft auch vom Wirken von Insekten abhängt
oder dass Feuchtbiotope auch für Industriestandorte
wichtig sind. Ich sage das nur, um Ihrer Polemik einmal
etwas entgegenzusetzen.
({3})
Wer die Bedrohung unserer Lebensgrundlagen ernst
nimmt, dem muss es bei der Lösung von Interessenkonflikten darum gehen, den Stellenwert des Naturschutzes
endlich zu erhöhen. Das tun wir mit dieser Gesetzesnovelle. Die CDU könnte einmal eine andere SOS-Kampagne starten: statt SOS Tourismus SOS Naturschutz. Das
wäre endlich etwas Neues und brächte viel Erfolg.
({4})
Ich möchte auf den Biotopverbund eingehen, weil
diese Regelung einer der wichtigsten Bestandteile dieses
Gesetzentwurfs ist. Herr Paziorek, wir haben - das soll
eine Verpflichtung sein - „mindestens 10 Prozent der Landesfläche“ festgelegt. Die Länder unseres föderalen Staates sind aufgerufen, diese 10 Prozent oder mehr Landesfläche dafür auszuweisen. Das dient uns allen; Herr Ruck
hat eben so schön geschildert, warum. Wie Sie wissen, ist
unsere Verantwortung auch eine internationale, Stichwort
„Natura 2000“. Wir tragen zum Beispiel für wandernde
Vogelarten, die auch in Deutschland Rast- und Nahrungsplätze brauchen, Verantwortung.
Es ist unerträglich, dass sich F.D.P. und CDU/CSU hier
zum Hüter der Interessen der Eigentümer und der Landwirte hochstilisieren. Ich kann es nicht mehr hören! Im Endeffekt haben alle die Verantwortung für den Erhalt unserer
Natur und unserer Lebensgrundlagen zu tragen. Landschafts- und Naturschutz können nur gelingen, wenn man
sie - über das Eintreten für die Belange von Schutzgebieten hinaus - als essenzielle Grundlagen bei allen entsprechenden Entscheidungsfindungen, ob in diesem Hause, in
den Ressorts, in den Ausschüssen, auf Landes-, Kreis- und
Kommunalebene, berücksichtigt. Es darf nicht so sein, wie
es Herr Methling aus Mecklenburg vorhin schon sagte, dass
Landschafts- und Naturschutz in vielen Fällen gewogen
und für zu leicht befunden werden. Wie Sie selbst wissen,
ist der Vertragsnaturschutz auch für uns weiterhin ein
wichtiges Instrument zum Schutz der Natur.
({5})
Herr Paziorek, ich möchte Ihnen noch etwas zu den
Ausgleichszahlungen sagen. Die von Ihnen eingeführten
Ausgleichszahlungen haben eine Belastung der Länder
hervorgerufen. Außerdem haben sie dazu geführt - das
war dann Ihr Erfolg -, dass immer weniger für Naturschutz ausgegeben wurde und dass in Deutschland immer
weniger neue Schutzflächen geschaffen wurden. Vor diesem Hintergrund von einem Erfolg im Hinblick auf den
Naturschutz zu sprechen, ist ja wohl das Letzte.
({6})
Ich bin mir sicher - das wurde schon vorhin angesprochen -, dass wir auch Regelungen für den Meeresnaturschutz finden werden. Es ist ebenfalls hervorzuheben,
dass wir Neuerungen, auch bei den Schutzkategorien
vornehmen. Diese Neuerungen dienen aber keineswegs
einer Überregulierung; vielmehr führen sie einfach dazu,
dass wir zum Beispiel unsere Nationalparke rechtlich
deutlich besser absichern.
Die Koalition hat Wort gehalten: Wir machen den Weg
wirklich frei für einen verbesserten Naturschutz. Ich
möchte nicht, dass Sie sich sagen: „Wir müssen kräftig
dagegenhalten“, nur weil Sie es seinerzeit nicht geschafft
haben. Wir modernisieren den Naturschutz in Deutschland zum Wohle aller in Deutschland. Es geht auch darum,
zu der Erkenntnis zurückzukehren, dass wir die Natur zur
Lebensgrundlage brauchen. Menschen, die sich der Natur
entfremden, werden hart und gefühlskalt. Ich möchte hier
ein Zitat von Antoine de Saint-Exupéry vortragen:
Wenn du ein Schiff bauen willst, lehre die Menschen
die Sehnsucht nach dem weiten Meer.
Wenn wir ein solches Gesetz „bauen“, dann müssen wir
die Sehnsucht nach Natur in allen Ministern und in allen
Kollegen erwecken.
({7})
- Es ist schön, dass Sie Sehnsucht nach den Grünen haben, besser wäre es, Sie hätten sie auch nach dem Grünen. - In unserer immer technischeren, immer hektischeren Welt treibt die Sehnsucht nach Wildnis und nach
Naturerleben immer mehr Deutsche in die Ferne. Wir in
diesem dicht besiedelten Land haben gegenüber unseren
Kindern und unseren Enkeln eine große Verantwortung,
ihnen zum Leben Kulturlandschaften, reichhaltige Natur
und Wildnis zu hinterlassen.
Deswegen müssen wir den Naturschutz wieder zur
Herzensangelegenheit machen. Wir müssen für die Kostbarkeiten unserer Heimat begeistern. Das ist eine Aufgabe, die untrennbar mit dem Gesetz, das wir jetzt auf den
Weg bringen, verbunden ist. Ich erwarte von Ihnen eine
konstruktive Mitarbeit.
({8})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Cajus Caesar von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann diesem vorgelegten Gesetzentwurf keinesfalls zustimmen,
({0})
weil er bürokratisch, unseriös, nicht zukunftsweisend und
deshalb zum Scheitern verurteilt ist.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion kann sich mit dem, was sie in
der Vergangenheit vorgelegt hat, sehen lassen. Wir haben
nicht geredet, sondern gehandelt und Dinge vorgelegt, die
auch praktikabel waren und noch sind.
({2})
Was hat denn die Regierung Schröder/Trittin bisher in
diesem Bereich auf den Weg gebracht?
({3})
Wie in vielen anderen Bereichen wurden Versprechungen
gemacht, die nicht gehalten wurden. Das ist in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, aber insbesondere in der
Umweltpolitik so. Meine Fraktion hätte sich gewünscht,
dass die Kurve auch einmal nach oben zeigt. Aber das ist
auch hier nicht der Fall.
({4})
Herr Minister, Sie haben hier ausführlich die nachhaltige Land- und Forstwirtschaft angesprochen. Offensichtlich jedoch haben Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf nicht
gelesen. Denn in diesem Gesetzentwurf fehlt die Verankerung der nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft. Sie sollten noch einmal genau nachsehen. Vielleicht können Sie
ja den Passus wieder einfügen, der in der bisherigen Regelung verankert ist.
({5})
Ich meine, man sollte sich auch Gedanken darüber machen, wie man Natur- und Umweltschutz auf großer
Fläche verankert. Dazu ist es natürlich erforderlich, dass
man auch europaweite Lösungen vorantreibt. Das ist
allerdings nur möglich, wenn man einen starken Minister,
eine starke Regierung hat. Hier ist bisher jedoch wenig geschehen. Deshalb hat diese Regierung bislang auch im
Bereich des Naturschutzes wenig vorzuweisen.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns den Gesetzentwurf
ansehen, dann stellen wir einen Definitions- und Formulierungsdschungel fest. Sie haben ja schon eine ganze
Reihe von Gesetzentwürfen hier vorgelegt und viel Papier
beschrieben. Dadurch ist es jedoch nicht zu einer Qualitätssteigerung gekommen. Vielleicht haben Sie aber dadurch zur Waldpflege, nämlich durch Papierverbrauch,
beigetragen. Das gestehe ich Ihnen an dieser Stelle zu.
Schaut man sich die Regelungen, insbesondere zum
Beispiel zur flächendeckenden Landschaftsplanung, an,
dann stellt man fest, dass man sich hin zu mehr Bürokratie
und Personal und vor allem zur Verankerung von Kosten
in Verwaltung und Personal bewegt. Das zeigt ja auch Ihr
Haushalt. Ihr Umwelthaushalt entwickelt sich hin zu mehr
Verwaltungsausgaben. Derzeit beträgt der prozentuale
Anteil der Verwaltungsausgaben im Umweltbereich
52 Prozent.
({7})
Das soll Ihrer Meinung nach einen praktischen Umweltund Naturschutz darstellen?
({8})
Diese Novelle lässt viele Fragen offen. Sie geht hin zu
mehr Dirigismus und Verwaltung. Deshalb können wir
eine solche Vorgehensweise - Ähnliches haben wir bei
der letzten Haushaltsberatung festgestellt; als Beispiel
nenne ich die Kürzungen beim Verband des BHU, der im
Bereich der Heimatvereine praktischen Naturschutz voranbringt - nicht mittragen.
Wir finden es auch schade, dass Ansätze guter Regelungen, beispielsweise im Bereich des Ökokontos, wieder zurückgefahren worden sind. Wir hatten gedacht, dass
Minister Trittin hier vorangeht. Leider aber sind gute Ansätze wieder einmal vernachlässigt worden.
Die CDU/CSU-Fraktion will den Naturschutz voranbringen, um unseren Kindern und den zukünftigen Generationen eine intakte Umwelt zu übergeben.
({9})
Wir wollen das aber im Miteinander mit den betroffenen
Menschen und mit denen, die vor Ort wirtschaften. Das
ist nur möglich, wenn auch die Rahmenverträge oder die
einzelvertraglichen Regelungen entsprechend ausgestaltet sind. Um Naturschutz praktisch umzusetzen, darf man
nicht nur Papier voll schreiben. Naturschutz umsetzen,
das ist unser Ziel. Erhalten, schützen, pflegen, entwickeln und wieder herstellen, das muss Naturschutzpolitik sein.
({10})
Meine Damen und Herren, wir haben in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Vorschlägen insbesondere
zum Bereich des Naturschutzes eingebracht. Ich hätte mir
gewünscht, dass Sie zum Beispiel unserem Vorschlag, Patenschaften für Naturschutzverbände zu ermöglichen,
gefolgt wären. Dort besteht die Möglichkeit, am Objekt
mit tätig zu werden; das ist ehrenamtlicher Naturschutz.
Das wäre ein Zeichen hin zu den Naturschutzverbänden
und zu ehrenamtlichem Naturschutz gewesen.
({11})
Vielmehr haben Sie unseren Antrag, 6 Millionen DM
mehr für vertragliche Vereinbarungen bereitzustellen, abgelehnt. Das zeigt doch, was die Regierung wirklich will.
Will sie tatsächlich Vertragsnaturschutz oder will sie ihn
nicht?
({12})
Nein, sie will ihn nicht, sie hat unseren Antrag abgelehnt.
Meine Damen und Herren, stattdessen finden wir unseriöse Kostenberechnungen vor. Bei Kostenberechnungen mit zehn Prozent Wertminderung und zehn Prozent
Ertragsminderung im Schutzgebiet für die Betroffenen
sage ich: Das kann doch nicht wahr sein! Darüber schütteln alle Experten den Kopf. Solche Zahlen nimmt keiner
als wahr hin. So kann man wirklich keinen Naturschutz
im Miteinander mit den Betroffenen machen.
({13})
Sie sagen, 100 DM kostet die Pflege auf reduzierter
Fläche, das heißt, Sie wollen alle zehn Jahre 100 DM pro
Hektar in Schutzgebieten für Pflege ausgeben. Das ist an
jeder Realität vorbei, das muss man ganz deutlich noch
einmal einbringen.
({14})
Wenn Sie die gute fachliche Praxis betrachten, Herr
Minister, dann müssen Sie doch sagen, dass es zwei wesentliche Bereiche gibt. Es gibt Bereiche, in denen man
die Formulierung so unterschreiben kann, und es gibt Bereiche, die unseriös und bürokratisch sind, zum Beispiel
die schlagspezifische Dokumentation, gar nicht zu reden
von dem absoluten Kahlschlagverbot, das weit über Naturschutzverordnungen hinausgeht und wieder die Besitzer kleiner Wälder trifft. Es trifft nicht so sehr, aber auch
den großen Privatwald und den öffentlichen Wald, sondern den kleinen Mann und die kleine Frau vor Ort. Deshalb ist das, was Sie hier einbringen, so misslich.
Durch diese Formulierungen zur guten fachlichen Praxis tragen Sie insbesondere dazu bei, dass die Förderung
durch die EU gefährdet wird. Wir können durchaus das
eine oder andere, wie zum Beispiel die Extensivierung im
Grünland oder das Verbot des Grünlandumbruchs in bestimmten Fällen, unterschreiben, aber das muss über vertragliche Vereinbarungen gehen und darf nicht auf dem
Rücken der Betroffenen ausgetragen werden, indem Ausgleichszahlungen nicht mehr geleistet und EU-Mittel
nicht mehr in Anspruch genommen werden. Sie sollten
schon das nationale Interesse vertreten und in der Tat auch
hier dafür sorgen, dass wir die Mittel, die wir aus dem
Kulturlandschaftspflegeprogramm der EU für Deutschland und für die Bundesländer in Anspruch nehmen können, auch bekommen und dass nicht letztendlich die vor
Ort Wirtschaftenden die Zeche zahlen müssen. Diese
Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden. Sie haben ja
Recht, Sie sollten mehr tun, das gebe ich gerne zu. Das sagen auch die Stellungnahmen von BDI, von DIHK, vom
Deutschen Landkreistag, vom Deutschen Städte- und Gemeindebund und auch vom DBV aus,
({15})
die unsere Argumente gleichfalls unterstützen.
({16})
- Das sind nicht, wie Sie zwischengerufen haben, einzelne Verbandsvertreter, sondern es findet eine breite Basis in den Verbänden und auch bei den Bürgern. Das
wollte ich Ihnen an dieser Stelle noch einmal sagen.
Sie haben auch im Detail gelesen, dass von Naturschutz mit Ausschließlichkeitsanspruch oder von der Abkehr von der Agenda 21 die Rede ist, auch davon, dass Sie
die Menschen im ländlichen Raum mitnehmen sollten. Es
ist aber auch die Rede von viel Bürokratie und von den
fehlenden vertraglichen Vereinbarungen. Ich habe einige
Punkte hier angesprochen und dazu auch Beispiele genannt.
Wir wollen ein Miteinander von Ökologie, Ökonomie
und sozialer Komponente im Sinne einer ökologischen
und sozialen Marktwirtschaft handeln. Wir wollen deshalb die Abwägungsklausel, die bisher in § 1 Abs. 2 des
Gesetzes verankert ist, beibehalten, damit das Miteinander von wirtschaftlicher Betätigung und Umweltschutz
gewährleistet ist.
Wir wollen Naturschutz! Wir wollen Natur auch um ihrer selbst Willen schützen, zugleich wollen wir aber den
Menschen dabei mitnehmen. Deshalb finde ich es schade,
dass Sie die Formulierungen zu den Lebensgrundlagen
des Menschen einfach aus dem Gesetz gestrichen haben.
Das kann nicht im Sinne des Miteinanders von Mensch
und Naturschutz sein.
Ich darf Sie bitten: Seien Sie aufgeschlossen gegenüber
unseren Ideen und unseren stichhaltigen Argumenten.
Das wird der Natur und uns allen gut tun, wenn Sie unsere
guten Vorschläge auch entsprechend mit einbringen.
({17})
Miteinander hat, Herr Hermann, auch etwas mit dem Einbinden der Länder zu tun. Wenn Sie über die Hälfte der
rund 60 Regelungen, von denen in diesem Gesetzentwurf
die Länder betroffen sind, verändern und zudem den Ländern noch Aufgaben bei den Klein- und Saumstrukturen
aufbürden, dann sollten Sie auch so fair sein, die Länder
bei den Beratungen so mit einzubinden, wie es sich gehört. Diese müssen nämlich nachher diese Gesetzesnovelle umsetzen. Wenn ich zunächst gegen die Länder rede
und handle und sie nicht in die Beratungen einbinde, Herr
Hermann,
({18})
dann wird es nicht gelingen, im Sinne des Naturschutzes
zu guten und vernünftigen Umsetzungen zu kommen.
Denken Sie einfach noch einmal darüber nach, ob Sie das
nicht vielleicht doch tun sollten.
Wir jedenfalls sind für ein Miteinander. Wir wollen
eine ökologische und soziale Marktwirtschaft; wir wollen
den Schutz der Kernzonen. Dafür sind natürlich auch hoheitliche Maßnahmen erforderlich. Wir wollen auch die
Biotopvernetzung, wollen sie aber nicht durch irgendwelche beliebig angesetzten Prozentzahlen, die man ins
Gesetz schreibt, sondern durch tatsächlichen Schutz sicherstellen. Dazu muss Vertrauen zu den Betroffenen aufgebaut werden; das gelingt nicht dadurch, indem verlangt
wird, dass auch die an Biotope angrenzenden Gebiete entsprechend bei der Bewirtschaftung Berücksichtigung finden müssen. Da weiß der Betroffene nicht, was an Verboten und Geboten auf ihn zukommt.
Sie sollten im Vertrauen mit den Betroffenen vor Ort
die Dinge angehen, das heißt, Biotopvernetzung in den
fachlich begründeten und schützenswerten Gebietskulissen sicherstellen, so wurde es auch EU-weit formuliert.
Sie sollten vor allen Dingen durch langfristige vertragliche Vereinbarungen Naturschutz voranbringen. Dann
wird es uns gelingen, Artenvielfalt zu sichern, die ländlichen Räume mitzunehmen und dort die Chancen auf Arbeit und wirtschaftliche Teilhabe zu verbessern. Wir wollen Kooperation statt Konfrontation.
Herzlichen Dank.
({19})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Christel Deichmann, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Ruck, Sie haben die DBU angesprochen; ich denke, es ist
Ihnen nicht entgangen, dass der Stiftungsrat der DBU die
Stiftung für den Naturschutz geöffnet hat. Sicherlich gibt
es dadurch jetzt noch eine ganze Menge an weiteren Möglichkeiten. Darüber haben wir, wie ich denke, uns alle gemeinsam gefreut.
({0})
Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die
Bewahrung der Vielfalt des Lebens auch für künftige Generationen - das wurde hier wiederholt betont; auch ich
möchte das noch einmal unterstreichen - zählen zu den
großen Herausforderungen unserer Zeit. Somit gehört
auch die Modernisierung des Bundesnaturschutzgesetzes,
dessen Novellierung wir heute in erster Lesung beraten,
zu unseren zentralen umweltpolitischen Vorhaben in dieser Legislaturperiode. Im Gegensatz zur gescheiterten
dritten Novelle steht nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Diskussionsgrundlage zur Verfügung, die
den Ansprüchen einer modernen Naturschutzpolitik gerecht wird.
Herr Caesar, Sie haben Recht, wenn Sie sagen, Naturschutz brauche Akzeptanz. Die Koalitionsfraktionen haben darum seit Beginn dieser Legislaturperiode dieses
Thema intensiv mit Naturschutzverbänden, mit den
Bundesländern, mit Sportverbänden, mit Nutzerverbänden, auch mit dem Deutschen Bauernverband, mit dem
AbL und der AGÖL, mit Landschaftsplanern und vielen
anderen mehr erörtert. Wir konnten neue Anregungen aufnehmen und im Vorfeld auch einige Konfliktpunkte
klären. Ob es uns gelungen ist, Verständnis für unsere Positionen zu erreichen, werden wir dann feststellen.
Worum geht es jetzt? Unsere Novelle integriert den
Vorsorgegrundsatz und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch für die nachkommenden Generationen. Das können Sie einfach zur Kenntnis nehmen.
({1})
Ein Kernpunkt der Novelle - das ist hier wiederholt angesprochen worden - ist der Biotopverbund, der - das
möchte ich noch einmal unterstreichen - keine neue
Schutzkategorie schafft, sondern dafür sorgt, dass das,
was schützenswert ist, sinnvoll miteinander verbunden
werden soll. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen
Erkenntnissen stellt der Flächenanteil von „mindestens
10 Prozent“, der hier wiederholt kritisiert wurde, einen
Minimalwert für den Biotopverbund dar. Es gibt also
durchaus begründete wissenschaftliche Erkenntnisse für
diese Zahl. Es darf - das sagt das Wort „mindestens“ durchaus auch mehr sein.
({2})
Wie gesagt, die Verbindungsflächen zwischen den
einzelnen Kernelementen müssen nicht zwingend als
Schutzgebiete ausgewiesen werden. Wenn man aber bedenkt, dass bereits 8 Prozent der Landesfläche fachlich
für einen Biotopverbund geeignet sind, haben wir hier
wohl ein realistisches Ziel formuliert. Ich bin sicher,
dass es auch in einem überschaubaren Zeitraum erreicht
wird.
({3})
Ein weiterer wichtiger Punkt, der hier ebenfalls bereits
angesprochen wurde, ist nach unserer Auffassung, dass wir
uns intensiver als in der Vergangenheit mit dem Meeresschutz befassen müssen. Das war bei unseren Diskussionen, die ich erwähnt habe, ein zentrales Thema. Es hat sich
im Verlauf der Diskussionen gezeigt, dass hier noch sehr
viele Fragen offen sind.
Die stetig zunehmende intensive Nutzung unserer
Meeresumwelt ist bisher mit keinerlei raumordnerischen
Kriterien unterlegt. Es mag komisch klingen, doch auf
dem Meer vor unseren Küsten wird es sehr eng. Seeschifffahrt, Fischerei, Tourismus, Kiesabbau, Überseekabel, Ölplattformen, Übungszonen für die Bundeswehr
und anderes mehr konkurrieren auf immer enger werdendem Raum miteinander. Neuerdings meldet auch der
Denkmalschutz in den Gewässern vor unseren Küsten
Ansprüche an.
Wo bleibt da noch Platz für die marine Fauna und Flora
oder gar für deren Schutz? Wie können wir einen geeigneten Weg finden, um unsere sensiblen Meeresökosysteme langfristig zu erhalten und zu schützen? Wir haben
im Gesetz einen Weg aufgezeigt. Ich denke, wir müssen
diesen Punkt noch sehr intensiv diskutieren, weil wir von
unserer Fraktion aus da noch Verbesserungsbedarf sehen.
Die Offshore-Anlagen und die Windenergie wurden angesprochen. Dies hat auch etwas mit Rechtssicherheit für
die Investoren zu tun. Ich denke, das sind wir den entsprechenden Unternehmen schuldig.
Ich verweise an dieser Stelle auch auf internationale
Verpflichtungen, die Deutschland im marinen Bereich
eingegangen ist und die mit dieser Gesetzesnovelle weiter in nationales Recht umgesetzt werden sollen. Ich
nenne nur das OSPAR-Abkommen aus dem Jahr 1992.
Ich erwähne die Jahreszahl bewusst; das ist also keine
rot-grüne Erfindung. Das Abkommen wurde 1998 um
Naturschutzregelungen im marinen Bereich erweitert.
Da gibt es das Seerechtsübereinkommen der Vereinten
Nationen, das dem „Schutz und der Bewahrung der Meeresumwelt“ einen eigenen Teil widmet. Auch hier hat die
Bundesrepublik sich verpflichtet, die Meeresumwelt zu
schützen und zu bewahren und besondere Maßnahmen zu
ergreifen, um dieses Ziel durchzusetzen. Die Europäische Gemeinschaft hat 1992 das fünfte umweltpolitische
Aktionsprogramm beschlossen, das in den Punkten 5.3
und 5.4 dem Naturschutz besondere Aufmerksamkeit
widmet.
An den Jahreszahlen der Vereinbarungen ist zu erkennen, dass Deutschland sich schon lange zu entsprechenden Maßnahmen verpflichtet hat; nur mit der Umsetzung,
zumindest im Meeresbereich, hapert es noch. Darum
richte ich auch an dieser Stelle noch einmal die Aufforderung an die CDU/CSU- und die F.D.P.-Fraktion:
Blockieren Sie nicht, bauen Sie keinen Popanz auf, sondern unterstützen Sie uns bei der Umsetzung dieser Verpflichtungen, die die Bundesrepublik zu Recht eingegangen ist!
({4})
Ich muss zugeben: Ein wirklich komplexes und
schwieriges Thema in der anstehenden Novelle ist die
Frage der Eingriffsregelung. Zu kaum einem anderen
Abschnitt gibt und gab es gegenteiligere Meinungsäußerungen. Bei all der Diskussion um dieses Thema ist klarzustellen: Die Vermeidung von Eingriffen ist oberstes
Gebot. Wir halten also an der Entscheidungskaskade Vermeiden - Ausgleich - Ersatz fest. Übrigens ist die Regelung, die wir Ihnen vorschlagen, näher an der Verwaltungspraxis orientiert. Wir gehen davon aus, dass damit
dann auch Zustimmung gefunden werden kann.
Wir haben mit den Regelungen, wie sie vorgeschlagen
sind, die Naturalkompensation gestärkt, sodass auch
hier der Entwicklung in der Praxis Rechnung getragen
wurde. Von der Möglichkeit der Kompensation durch Ersatzzahlungen ist erst nach dem Abwägungsprozess, das
heißt deutlich hinter Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen,
Gebrauch zu machen, wenngleich man auch Ersatzzahlungen in dem einen oder anderen Ausnahmefall einfach
nicht von der Hand weisen kann.
Wichtig ist auch die Sicherung und Kontrolle der Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen. Dies obliegt dem Gestaltungsspielraum der Länder. Auch das ist an der Praxis
orientiert. Da kann man zum Beispiel an ein Flächenkataster der Dokumentation und auch der besseren Übersichtlichkeit halber denken. Auch andere Maßnahmen
sind durchaus vorstellbar.
Die häufig geäußerten Bedenken zur Verbandsklage
kann ich ebenfalls nicht teilen. Hier wird kein neues Sondervetorecht für die Naturschutzverbände geschaffen,
sondern lediglich das Recht, ein deutsches Verwaltungsgericht zur objektiven Überprüfung der Rechtmäßigkeit
einer Behördenentscheidung anzurufen.
({5})
- Richtig.
Bei der Diskussion um die Belange der Land- und
Forstwirtschaft wird uns immer vorgeworfen, dass der
vorliegende Entwurf zulasten der Flächennutzer gehe. Ich
habe den vielen Vorwürfen, die hier so pauschal erhoben
wurden, kein einziges substanzielles Argument entnehmen können. Ich hoffe doch, dass Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen, uns unterstützen werden, damit wir im Bereich der Vermittlung naturschutzfachlicher Kriterien
auch im Bereich der Land- und Forstwirtschaft und der Fischereiwirtschaft ein Stück weiter kommen.
({6})
Gegenwärtig prüft das Verbraucherschutzministerium,
ob im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ Ausgleichszahlungen für besondere - ich unterstreiche: besondere Naturschutzleistungen möglich sind. Sie sehen also, dass
wir hier einen Instrumentenmix anbieten können, um dem
Naturschutz und auch den Landwirten in die richtige
Richtung zu helfen.
Schließlich wollen wir Naturschutz mit den Menschen in der Kulturlandschaft. Aus diesem Grunde haben
wir den Schutzgebietsteil modernisiert. Das Entwicklungsprinzip wird durchgehend gestärkt, und der Prozessschutzgedanke wird rechtlich abgesichert.
Ein weiteres Element der Novellierung ist die Einführung der Umweltbeobachtung als eine Aufgabe für
Bund und Länder im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten. Der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen
hat schon 1990 in einem Sondergutachten eine entsprechende gesetzliche Regelung gefordert. Zweck dieser Bestimmung ist es, die zahlreichen, leider nur sektorspezifischen Beobachtungsprogramme und Datenbanken für die
Bereiche Luft, Wasser und Boden zusammenzuführen und
im Hinblick auf komplexe umweltpolitische Fragestellungen besser nutzbar zu machen. Also: Effizienz durch Harmonisierung und Verknüpfung, und keine neuen Verwaltungseinheiten, wie Sie hier immer aufzeigen. Da können
Sie uns, denke ich, nur unterstützen. Ausdrücklich wird in
dem Gesetzentwurf unterstrichen, dass die Vorschriften
über Geheimhaltung und Datenschutz unberührt bleiben.
Ich meine, auch da ist umsichtig gehandelt worden.
({7})
Ich bin zuversichtlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass auf der Basis des vorliegenden Gesetzentwurfs
eine effektive Neuregelung des Verhältnisses zwischen
Naturschutz und den Belangen anderer Interessengruppen
formuliert werden kann. Dafür brauchen wir auf allen Seiten Augenmaß und auch Kompromissbereitschaft. Wir
haben einen moderaten Entwurf vorgelegt - das gebe ich
zu - und laden alle Interessierten hiermit ein, im weiteren
Verfahren konstruktiv mit uns zusammenzuarbeiten. Wir
haben daher am Mittwoch im Umweltausschuss den Beschluss gefasst, am 24. September in einer ganztägigen
Anhörung den genannten Themenkomplex mit Experten
zu erörtern, und das ist gut so.
Die Natur braucht den Menschen nicht, aber der
Mensch braucht die Natur. So stellt die Natur insgesamt
einen wichtigen Beitrag für unsere Lebensqualität dar.
Biologische Vielfalt ist Lebensgrundlage, sie ist aber auch
Basis für ökonomische Wertschöpfung. Unterstützen Sie
uns mit konstruktiven Beiträgen, wenn es bei dem diskutierten Gesetzesvorhaben um die Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen geht!
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist eine der
großen politischen Aufgaben der Gegenwart. Naturschutz
hat viel mit Lebensqualität zu tun, denn dort, wo Landschaften schön sind, wo die Tier- und Pflanzenwelt reichhaltig ist, lässt es sich besser leben und lässt es sich besser erholen. Frau Kollegin Sehn, bei allem Respekt ({0})
es geht nicht um die Frage „Feuchtbiotop oder Industriestandort“, sondern es geht darum, wirtschaftliche Entwicklung und landschaftliche Vielfalt zu haben; beides
gehört zusammen.
({1})
Zweitens: Naturschutz hat viel mit Kultur zu tun, auch
viel mit Kulturpolitik,
({2})
denn die meisten Landschaften, die uns ans Herz gewachsen sind, sind Kulturlandschaften, von Menschenhand geschaffen oder beeinflusst. Naturzerstörung ist deshalb immer auch Kulturverlust.
Naturschutz hat viel mit - ich drücke es einmal so aus „harter Ökologie“ zu tun, denn die Diversitätsforschung
hat uns gezeigt, wie engmaschig das Netz des Lebens geknüpft ist, wie sehr alles mit allem zusammenhängt. Noch
einmal, Frau Kollegin Sehn - Sie haben sich so ein bisschen über die Insekten lustig gemacht -:
({3})
Sie wissen doch vielleicht - ich hoffe das -, wie wichtig
die Insektenbestäubung und die Windbestäubung für die
Produktivität der Landwirtschaft sind.
({4})
Immerhin haben Sie es ja geschafft, nur gegen die Insekten zu polemisieren und nicht gegen den Wind, denn der
weht ja bekanntermaßen, wo er will.
({5})
- Der Vergleich war schon zutreffend.
Naturschutz hat auch viel mit Respekt vor der nicht
menschlichen Kreatur zu tun. Deshalb müssen wir auch
Raum für die freie Entfaltung der Natur lassen und nicht
alles muss dem Denken von Nutzen und Nützlichkeit unterworfen werden.
({6})
Wenn man von dieser Einschätzung ausgeht, dass Naturschutz eine Kulturaufgabe ist, dass er eine umweltpolitische Aufgabe ist und dass er eine Zukunftsaufgabe ist,
dann stellt sich die Frage: Was bedeutet das für ein zeitgemäßes Naturschutzgesetz? Diese Frage ist es ja, die uns
heute hier zusammenführt. Nach meiner Meinung bedeutet das vor allen Dingen dreierlei:
Erstens müssen wir von dem alten Denken wegkommen, dass Naturschutz und Naturnutzung unvereinbar
sind. Es geht vielmehr darum, Naturschutzziele durch
eine nachhaltige und sensible Naturnutzung zu erreichen.
Die Menschen sollen nicht ausgesperrt werden, sondern
sie sollen in ihrem Handeln Verantwortung für die Natur
übernehmen. Dafür brauchen wir Regeln, insbesondere
für die Landnutzung, also die Landwirtschaft, die Forstwirtschaft, die Fischereiwirtschaft und auch für den
schnell wachsenden Sektor der Freizeit- und Tourismusaktivitäten. Dies ist keine Bürokratie, sondern es ist
Zukunftsvorsorge.
({7})
Zweitens: Sicherlich ist der Zaun nicht mehr das geeignete Symbol für den Naturschutz - darin sind wir uns
alle einig -, aber es muss selbstverständlich Gebiete geben, in denen der Naturschutz Vorrang genießt, in denen
Nutzungsinteressen zurücktreten müssen.
({8})
Solche Räume haben wir bislang viel zu wenig; es sind
zwei Prozent der Landesfläche. Wir streben zehn Prozent
an, wie Sie wissen. Von solchen Räumen haben wir viel
zu wenige, und sie sind nicht selten viel zu klein; sie sind
sehr häufig kleine Inseln in einem Ozean der Naturzerstörung.
({9})
Dort können Arten nicht überleben. Deswegen brauchen
wir hinreichend große und vor allen Dingen vernetzte Lebensräume für Tiere und Pflanzen; deshalb sind die Biotopverbundsysteme für den Artenschutz auch unerlässlich.
({10})
Drittens: Wir müssen diejenigen gesellschaftlichen
Gruppen, die sich für Naturschutzziele einsetzen, stärken.
Wir müssen ihnen Informationsrechte, Beteiligungsrechte und auch Klagerechte einräumen. Ich nehme an,
im Namen des Hauses zu sprechen, wenn ich sage: Wir
können froh darüber sein, dass sich in Deutschland so
viele Menschen in den Umweltverbänden einsetzen. Sie
sind Anwälte der Natur und ich möchte mich an dieser
Stelle für ihr Engagement ausdrücklich bedanken.
({11})
Der Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen heute
vorlegen, geht von diesen Orientierungspunkten, die ich
genannt habe, aus. Erstmals werden im Naturschutzgesetz
klare qualitative Kriterien für die gute fachliche Praxis
in der Landwirtschaft und Nutzungsregeln für die Forstwirtschaft bestimmt. Ich glaube, man kann sagen: Das ist
ein qualitativer Sprung in der Naturschutzpolitik und eine
wichtige Ergänzung der neuen Agrarpolitik. Das
Umweltministerium und das Landwirtschaftsministerium
- das ist wichtig - haben nicht gegeneinander gearbeitet,
sondern miteinander. Das war nicht immer so. Bei Ihnen
von der Opposition standen Herr Töpfer und Frau Merkel
im Regen. Das hat sich jetzt fundamental geändert. Erstmals wird im Naturschutzgesetz das Ziel formuliert, auf
zehn Prozent der Landesfläche ein Biotopverbundsystem
zu schaffen. Hier sind nun die Länder gefordert, geeignete
Flächen auszuweisen und durch geeignete Maßnahmen
abzusichern. Es muss aber, das will ich gerne zugeben, sichergestellt werden, dass das nicht nur einfach durch
Umdeklarierungen vorhandener Schutzgebietskategorien
stattfindet, sondern dass wirklich neue Qualitäten hinzukommen.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Erstmals wird den Umweltverbänden im Naturschutzgesetz
ein Klagerecht eingeräumt, das ihnen faire Chancen in
der Auseinandersetzung vor Gericht gibt. Damit wird auf
Bundesebene endlich das realisiert, was in den meisten
Bundesländern längst möglich ist. Bei der Anerkennung
dessen, was als Naturschutzverband gilt, müssen allerdings strenge Kriterien angelegt werden, weil sonst dem
Missbrauch Tür und Tor geöffnet wird.
Ich fasse zusammen: Nach einem Jahrzehnt der politischen Abstinenz in Sachen Naturschutz wird mit dem
neuen Gesetz ein klares Signal gegeben. Naturschutz hat
in Deutschland eine Zukunft, und zwar nicht gegen die
Menschen, sondern mit ihnen.
Danke schön.
({12})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent-
wurf auf Drucksache 14/6378 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu an-
derweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 14/4572 zu dem Antrag der Fraktion der
F.D.P. mit dem Titel „Eigentumsrechte nicht durch falsche
Naturschutzpolitik aushöhlen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/1113 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 h sowie die
Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Birgit Homburger, Jürgen W. Möllemann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Verbesserung der internationalen Attraktivität
und Wettbewerbsfähigkeit des Hochschulstandortes Deutschland
- Drucksache 14/3339 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Birgit Homburger, Ulrike Flach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Bildungsschecks für mehr Qualität und Wettbewerb an Hochschulen in Deutschland
- Drucksache 14/3518 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Naturwissenschaftlicher Wettbewerb an deutschen Schulen
- Drucksache 14/4270 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Ökonomische Komponente in der Lehrerausbildung entschieden ausbauen
- Drucksache 14/4271 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Cornelia Pieper, Hildebrecht Braun
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Bessere Rahmenbedingungen für ausländische
Studierende in Deutschland
- Drucksache 14/5250 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper,
Ulrike Flach, Horst Friedrich ({7}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Sonderprogramm zur Sicherung und Erhöhung des Niveaus der Landes- und Hochschulbibliotheken am Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland
- Drucksachen 14/5105, 14/6195 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Eckardt
Norbert Hauser ({8})
Cornelia Pieper
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Dr. Peter Eckardt, Klaus
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Reinhard
Loske, Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Internationale Attraktivität und Leistungsfähigkeit des Wissenschafts- und Forschungsstandortes Deutschland für ausländische Studierende und junge Wissenschaftlerinnen stärken
- Drucksache 14/6209 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Angela Marquardt,
Gustav-Adolf Schur und der Fraktion der PDS
Bericht über die Erfahrungen bei der Anwendungen des Hochschulzeitvertragsgesetzes
- Drucksache 14/6212 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10})
Präsident Wolfgang Thierse
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Hauser ({11}), Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Gerhard
Friedrich ({12}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
„Stiftung Bildungstest“ - Qulität und Effizienz
für den wachsenden Bildungsmarkt
- Drucksache 14/6437 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Horst Friedrich ({14}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Sicherung des Wissenschafts-, Forschungs- und
Wirtschaftsstandorts Deutschland durch Ausbildung hoch qualifizierter Fachkräfte
- Drucksache 14/6445 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({15})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei die
F.D.P. 15 Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Cornelia Pieper von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wissen ist der Rohstoff der Zukunft.
Globaler Wettbewerb, demographischer Wandel und technische Revolution stellen uns vor große Herausforderungen. Wir erleben eine Kulturrevolution wie zu Zeiten der
Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg die Wende von der klassischen Industriegesellschaft zur
Wissens- und Informationsgesellschaft.
Meine Damen und Herren, in der Gesellschaft der Zukunft werden mehr Menschen mit der Informationsverarbeitung und Dienstleistung beschäftigt sein als in der
Industrie. Lebensentwürfe werden im 21. Jahrhundert
durchbrochen sein und nicht mehr mit einer einmaligen
Ausbildung enden. Lebenslanges Lernen und die Bereitschaft, sich ständig weiterzuentwickeln, werden die
Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft bestimmen.
Das alte Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt
Hans nimmermehr“
({0})
ist heute umzukehren in „Hänschen weiß heute schon,
dass er als Hans weiter lernen muss“. Das wird das Prinzip der Zukunft.
({1})
Die Gesellschaft wird stärker von selbstständigen
Existenzen und Beschäftigten geprägt sein. Darauf muss
sich unser Ausbildungssystem insgesamt einstellen. Eine
Kultur der Selbstständigkeit ist gefordert; dies muss in
den Lehrplänen vermittelt werden. Der Selbstständige
oder der Unternehmer hat wohl weltweit kein so schlechtes Image wie in Deutschland, meine Damen und Herren.
Auch das muss sich ändern.
({2}) - Widerspruch bei der SPD)
Dass Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, diese geistige Wende bzw. dieses geistige
Umdenken nicht erkennen, ist für dieses Land bezeichnend.
Wir haben Bildungsreformen verschleppt.
({3})
Wir brauchen aber dringend Bildungsreformen, und zwar
inhaltliche Reformen.
Sie sind gefordert. Sie sind in der Landesverantwortung. Sie sind in Ihren Landesregierungen dazu aufgefordert, dieses Thema aufzugreifen und auch umzusetzen.
Das haben Sie nämlich in der Vergangenheit nicht getan.
({4})
Der Direktor des Medieninstituts in St. Gallen, Professor Glotz, den Sie als ehemaligen Kollegen kennen müssten und nicht kritisieren sollten, spricht sogar von der digitalen Ökonomie in der Zukunft.
({5})
20 Prozent der Bevölkerung werden zukünftig damit beschäftigt sein, Informationen in Wissen zu verarbeiten.
({6})
Ist Deutschland fit für das neue Zeitalter der Wissensgesellschaft? Sind Schulen und Hochschulen ausreichend
auf die Informationsgesellschaft vorbereitet? Sicher sind
deutsche Hochschulen besser als ihr Ruf,
({7})
aber jüngst veröffentlichte internationale Studien und Vergleiche machen deutlich: Deutschland liegt eher im Mittelfeld oder ganz hinten, meine Damen und Herren.
({8})
Seit Jahrzehnten liegt die Bundesrepublik beim Verhältnis
der staatlichen Bildungsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt unterhalb des OECD-Mittelwerts mit 5,5 Prozent
Bildungsausgaben. Die Bund-Länder-Kommission proPräsident Wolfgang Thierse
gnostizierte in ihrem jüngsten Bericht einen enormen Arbeitskräftemangel und forderte zusätzliche Bildungsinvestitionen. Doch die Bundesländer selbst setzen unterschiedliche Prioritäten bei den Bildungsausgaben.
Während beispielsweise Baden-Württemberg und Bayern
8 bis 9 Prozent ihres gesamten Budgets für Bildungsausgaben vorsehen, wenden Hamburg und Nordrhein-Westfalen für ihre Bildungsetats wesentlich weniger auf.
({9})
Nicht nur diese falsche Prioritätensetzung, sondern
auch eine zu starre und ideologisierte Bildungspolitik haben uns im internationalen Wettbewerb zurückgeworfen.
({10})
Meine Damen und Herren, die Grünen hatten noch 1986
in ihrem Programm den Computerboykott stehen. Ich
glaube, wenn man das berücksichtigt, kann man deutlich
erkennen, dass in Deutschland mit einer solchen Programmatik keine Bildungsreformen auf den Weg zu bringen sind.
({11})
Auch die internationale TIMSS-Studie - die Ihnen gewiss bekannt ist: eine Vergleichsstudie mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts - ist niederschmetternd. Nur noch 8 Prozent deutscher Schüler wählen in der
Schule das Fach Physik als Leistungskurs, und das nicht
nur wegen Desinteresses, nein, sondern weil Fachlehrer
fehlen. Die Bundesrepublik liegt mit einer Studienquote
von 28,2 Prozent im unteren Mittelfeld der europäischen
Staaten.
({12})
Der Anteil der berufstätigen Bevölkerung mit Hochschulabschluss liegt mit 13 Prozent im internationalen
Mittelfeld. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr
Studenten in Deutschland, meine Damen und Herren.
({13})
Wir brauchen in Deutschland eine gezielte Hochbegabtenförderung, die frühzeitig, nämlich in der Grundschule,
beginnt. Hochbegabtenförderprogramme für Studierende
sind, gleich ob über private oder öffentliche Stiftungen, zu
verstärken und auszubauen.
({14})
Meine Damen und Herren, die Gründe für den Bildungsrückstand und die Defizite liegen auf der Hand:
ein zu hohes Einschulungsalter, zu lange Schul- und Studienzeiten - Stichwort 13. Schuljahr -, Wehrpflicht und
vor allem Qualitätsdefizite in der Schulausbildung. Wissen Sie, manchmal habe ich den Eindruck, für einige der
rot-grünen Landesregierungen sei das 13. Schuljahr eigentlich eine Art Glaubensbekenntnis, wobei sie total aus
den Augen verloren haben, wohin sich die Bildungspolitik und der internationale Wettbewerb bewegen.
Die Auffassung meiner Fraktion, der F.D.P., ist seit langem: Das 12. Schuljahr bis zum Abitur hätte mit der deutschen Einheit gesamtdeutsch eingeführt werden müssen,
meine Damen und Herren.
({15})
Glaubenskämpfe um die Köpfe der Kinder haben das Bildungssystem in ein Durcheinander halbherziger Konzepte
gestürzt. Das Ergebnis in Deutschland sind heruntergekommene Schulen - Schulwracks -, Gesamtschulen, an
denen Chancen ausgleichende Erziehung an die Stelle von
Leistungsforderungen tritt.
({16})
Im Bildungssystem in Deutschland wird viel zu sehr auf
Gleichmacherei denn auf Leistungsorientierung, Verantwortungsbereitschaft und Differenzierung gesetzt.
({17})
Hauptschulen wurden zu Restschulen degradiert. Dabei
ist die Zahl junger Menschen ohne Berufsabschluss in
Deutschland mit 14 Prozent alarmierend. Es ist Sozialpolitik, die wir mit einer qualitätsorientierten Bildungspolitik in Deutschland machen können, und darauf kommt es
uns an.
({18})
Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Die
Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit sprechen eine klare
Sprache: Je weniger jemand gelernt hat, desto größer ist
die Gefahr der Arbeitslosigkeit. Bildung ist eine
Zukunftsinvestition. Deutschland ist auf seine wichtigste
Ressource, das Humankapital, angewiesen.
Deshalb brauchen wir nach den ideologischen Debatten in Deutschland endlich ein Umdenken. Roman
Herzog, der ehemalige Bundespräsident, hat es in seiner
berühmten Bildungsrede auf den Punkt gebracht: Entlassen wir unsere Bildungseinrichtungen endlich in die Freiheit!
({19})
Wir brauchen mehr Eigenverantwortung für Schulen
und Hochschulen. Schulen und Hochschulen müssen
zukünftig ihre Lehrer bzw. Hochschullehrer selbst auswählen und einstellen können.
({20})
Wir sollten den Wettbewerb stärker fördern, indem
Schulbezirke aufgehoben werden, freie Träger die gleichen Chancen haben wie staatliche Bildungseinrichtungen. Durch eine erweiterte Hochschulautonomie
sollte den Hochschulen bzw. Universitäten das Recht eingeräumt werden, Leistungsstrukturen nach eigenen Bedürfnissen und Erfahrungen zu bestimmen. Schluss mit
der Studentenlandverschickung im digitalen Zeitalter, in
dem sich jeder junge Mensch im Internet an einer Hochschule bewerben kann!
({21})
Das Zeitalter der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen ist vorbei! Die ZVS gehört abgeschafft!
({22})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Ende meiner Rede, Herr Präsident. - Bildung im 21. Jahrhundert ist
ein Freiheitsthema für die Freien Demokraten. Aber es
gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Statt in Industrien von gestern müssen wir in kluge Köpfe von morgen
investieren.
({0})
Deswegen werden wir das bei den bevorstehenden Haushaltsberatungen zum Thema machen. Lassen Sie uns die
Steinkohlesubventionen kürzen!
({1})
Lassen Sie uns diese Subventionen für Zukunftsinvestitionen in die junge Generation verwenden!
({2})
Vielen Dank.
({3})
Für die
Bundesregierung spricht jetzt die Bundesministerin
Edelgard Buhlman.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Frau Pieper, die Statistiken,
die Daten, die Sie hier vorgetragen haben, stimmen leider.
Der OECD-Bericht besagt leider ganz klar, dass wir in
Deutschland nicht an der Spitze liegen, sondern im Mittelfeld, teilweise sogar schlechter. Was Sie allerdings verschwiegen haben, ist, dass der OECD-Bericht die Entwicklung bis 1998 darstellt.
({0})
Bei allem Respekt: So lange liegt das Jahr 1998 noch nicht
zurück.
({1})
Das, womit wir uns heute auseinander setzen müssen,
ist in hohem Maße das Ergebnis der Untätigkeit der letzten Bundesregierung über 16 Jahre hinweg.
({2})
Frau Bundesminister Bulmahn - Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Eine zweite Anmerkung: Frau Pieper, ich
würde mir wünschen, dass die F.D.P. in den Bundesländern, in denen sie die Regierungsverantwortung mitträgt,
all das tut, was Sie hier gefordert haben.
({0})
Dort können Sie es nämlich tun. Dort sollten Sie es machen. Das betrifft isbesondere die Schulpolitik. Sie wissen, dass wir im Deutschen Bundestag kein Jota an der
Schulpolitik ändern können. Dies ist eine klare Länderaufgabe und deshalb wünsche ich mir, dass die jeweiligen
Regierungsparteien ihre Verantwortung in den Ländern
wahrnehmen.
({1})
Sie sind in mehreren Ländern an der Regierung beteiligt.
Tun Sie etwas und sprechen Sie nicht nur darüber!
Frau
Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich stelle zurzeit fest -
Frau
Ich will dies noch ganz kurz ergänzen.
Dann lasse ich die Frage zu und dann antworte ich.
- ich bestimme hier, wer spricht. Ich frage Sie, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper zulassen wollen.
({0})
Ich lasse Zwischenfragen immer zu. Das
wissen doch die Kolleginnen und Kollegen.
Sie lassen
also eine Zwischenfrage zu?
Ja, ich lasse die Zwischenfrage zu.
Bitte
schön, Frau Pieper.
Frau Ministerin, ist Ihnen
aufgefallen, dass ich in meiner Rede bewusst auch auf die
Entwicklung der Schulpolitik in den vergangenen Jahren
hingewiesen habe, insbesondere auf die Schulpolitik in
den Ländern, in denen Rot oder Grün regiert, beispielsweise in Niedersachsen, und ist Ihnen bekannt, dass die
hessische Landesregierung unter Beteiligung der F.D.P.
2 500 neue Personalstellen für Lehrer geschaffen hat bzw.
dass die rheinland-pfälzische Regierung nach der letzten
Regierungsbildung, an der auch Ihre Partei beteiligt ist,
drei staatliche Eliteschulen ins Leben gerufen hat?
({0})
Frau Pieper, erstens habe ich als Ministerin die Initiative ergriffen, weil ich nach den langjährigen
Diskussionen über dieses Thema im Bundestag erkannt
habe, dass es nicht ausreicht, nur über andere zu reden,
sondern dass es notwendig ist, mit den Ländern und denjenigen, die in den Bildungseinrichtungen arbeiten, gemeinsam daran zu gehen, die Situation zu verbessern. Es
ist das Forum Bildung, in dem wir gemeinsam mit den
Ländern - unabhängig von Parteizugehörigkeiten -, mit
Wissenschaftsorganisationen, Jugendlichen und Sozialpartnern wichtige Empfehlungen für die Schulpolitik erarbeitet haben.
({0})
Ich stelle zweitens fest, dass inzwischen gerade die
SPD-regierten Länder - dazu gehört das Land RheinlandPfalz; die jetzige Bildungsministerin ist Sozialdemokratin
und ihr Vorgänger war ebenso Sozialdemokrat - wirklich
vorangegangen sind.
({1})
In den sozialdemokratisch regierten Ländern wurde inzwischen erheblich mehr in Bildung investiert. In den
90er-Jahren ist der Zuwachs bei den Investitionen in Bildung allein von den Ländern geleistet worden. Man muss
das einfach zur Kenntnis nehmen. Der Bund hat seine Bildungsausgaben in den 90er-Jahren - Sie wissen das sehr
gut, denn Sie haben damals mitentschieden - um 4,7 Prozent gekürzt.
In dem Land, aus dem ich komme, haben wir 2 000
neue Lehrerstellen geschaffen. Wir haben das Angebot an
Ganztagsschulen ausgebaut, weil Kinder und Jugendliche
heute mehr lernen müssen und dafür mehr Zeit brauchen.
Wir haben ein breit gefächertes Bildungsangebot unterschiedlicher Typen. Wenn Sie fordern, die Ideologie beiseite zu legen, empfehle ich, diese Forderung an die eigene Adresse zu richten, denn die Ideologie, die Ihre Politik der 90er-Jahre geprägt hat - Kürzungen in der
Bildung und kein Engagement des Staates -, ist falsch.
Der Staat muss sich engagieren, er muss gestalten und damit den Bildungseinrichtungen die notwendigen Entscheidungsfreiheiten geben. Gerade die SPD hat das seit
vielen Jahren gefordert und setzt das auch um. Das ist der
entscheidende Punkt.
({2})
Das Ergebnis einer 16-jährigen Untätigkeit, das viele
Menschen in unserem Land beunruhigt und umtreibt, ist
paradox: Wir haben auf der einen Seite Unterbeschäftigung, während auf der anderen Seite immer mehr Unternehmen - inzwischen jedes zehnte - ihre offenen Stellen
nicht mehr besetzen können, weil die notwendigen Fachkräfte fehlen. Diese paradoxe Situation ist Ergebnis der
Politik des letzten Jahrzehnts und nicht der letzten zwei
Jahre. Das muss man leider so feststellen.
({3})
Zu Recht wird deshalb in der Öffentlichkeit darüber
diskutiert, was getan werden muss, um die Bildungseinrichtungen zu verbessern und den jungen Menschen bessere Bildungsmöglichkeiten zu geben. Der eigentliche Paradigmenwechsel ist nämlich nicht der zu einer
Informationsgesellschaft, sondern der von der Industriegesellschaft zu einer Bildungs- und Wissensgesellschaft.
({4})
Tatsache ist, dass wir schon heute einen weltweiten
Wettbewerb um hoch qualifizierte Fachkräfte - Ingenieure, Informatiker, begabte Studierende und Wissenschaftler - haben. Dafür gibt es zwei Ursachen. Die eine
Ursache ist der demographische Wandel; es gibt weniger
Jugendliche. Die zweite Ursache ist in den eklatanten Versäumnissen der Bildungs- und Wissenschaftspolitik der
90er-Jahre zu sehen, die sich jetzt auswirken.
({5})
Wir brauchen mehr Hochschulabsolventen, die außerdem besser ausgebildet sind. Es war ein fataler Fehler, in
den 90er-Jahren an die Jugendlichen das Signal zu geben,
dass weniger Hochschulabsolventen gebraucht würden.
({6})
Das Gegenteil ist der Fall: Wir brauchen mehr Hochschulabsolventen, die besser und anders ausgebildet sind.
({7})
Die Tatsache, dass sich in unserem Lande nur 28 Prozent
der Jugendlichen für ein Studium entscheiden - in Finnland sind es 58 Prozent und in Israel 49 Prozent -, ist das
Ergebnis der falschen Signale der 90er-Jahre.
Wir brauchen auch mehr internationalen Austausch.
Dabei geht es nicht nur darum, kurzfristig Engpässe auf
dem Arbeitsmarkt zu überbrücken.
({8})
Es geht darum, dass hoch qualifizierte ausländische Wissenschaftler gute Ideen mitbringen, Kontakte erleichtern
und die besten Botschafter für unser Land sind, wenn sie
in ihr eigenes Land zurückkehren.
Lassen Sie mich einen Vergleich ziehen und die Situation in einem anderen Land schildern: Die amerikanische Forschung verdankt ihre Spitzenstellung heute zu
einem ganz wesentlichen Teil ausländischen Wissenschaftlern. In den Vereinigten Staaten kommen 21 Prozent
des wissenschaftlichen Hochschulpersonals aus anderen
Ländern. Bei den Postdoktoranden beträgt der Ausländeranteil sogar mehr als 50 Prozent. Ein Viertel aller Hochschulprofessoren in den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fachbereichen kommt aus anderen Ländern.
Deutschland gehört im Übrigen zu den wichtigsten Entsendeländern. Volkswirtschaftlich betrachtet subventionieren wir also - und zwar nicht unbeträchtlich - die amerikanische Forschung.
({9})
Der Grund dafür ist offensichtlich: Deutsche Hochschulen haben ihren Absolventen in den letzten Jahren
hervorragende Voraussetzungen für den Wettbewerb um
interessante Stellen in anderen Ländern geschaffen und
geboten, aber es gab zu wenig interessante Arbeitsplätze
hier im eigenen Land. Hier haben sich die fatalen Mittelkürzungen durch die alte Bundesregierung verheerend
ausgewirkt. Hier hat sich auch - das sage ich auch ganz
deutlich - Ihre mangelnde Kraft zur Gestaltung und Reformierung des deutschen Hochschulsystems ausgewirkt.
({10})
Dieser jahrelange Stillstand, den wir in der Bildungs- und
Forschungspolitik unter Ihrer Regierungsverantwortung
hatten, war in Wirklichkeit ein Rückschritt, der uns viele
fähige Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler gekostet hat.
({11})
Bei meinem Besuch in Palo Alto Anfang dieses Jahres
habe ich deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in den USA geblieben sind oder bleiben wollen, gefragt, was sie in Deutschland vermissen, wo aus ihrer Sicht Reformbedarf liegt, welche Änderungen sie für
notwendig halten. Die deutschen Wissenschaftler kritisieren einhellig, dass es in Deutschland in den 90er-Jahren
keine oder nicht ausreichende Stellen für eigenständige
Forschung gab. Diese zu schaffen ist Aufgabe des Bundes.
({12})
Sie kritisieren das bestehende Ordinariensystem. Auch da
sind wir gefragt. Sie kritisieren den Mangel an Internationalität im deutschen Hochschulsystem. Dies sind alles
Punkte, wo wir, nämlich der Bund, wirklich handeln können und wo diese Bundesregierung auch handelt.
({13})
Im Zentrum der Kritik steht im Übrigen immer wieder
das Habilitationsverfahren. Von jungen und erfolgreichen Wissenschaftlern, auch zum Beispiel von Nobelpreisträgern, wird kritisiert, dass es zu langwierig und
intransparent sei, dass es hierarchische Strukturen zementiere. Genau an diesen Kritikpunkten setzt das Reformpaket an, das diese Bundesregierung nach dem Regierungswechsel in Angriff genommen hat.
Wir stärken Bildung und Forschung finanziell. So werden wir im kommenden Jahr 16,4 Milliarden DM in Forschung und Bildung investieren. Das sind 15,5 Prozent
mehr als im Jahre 1998, dem letzten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung.
({14})
Zugleich aber schaffen wir durch die notwendigen Reformen und Strukturinnovationen die Voraussetzungen dafür, dass diese Mittel gut eingesetzt werden. Auch das ist
notwendig.
Wir haben das BAföG reformiert und damit echte
Chancengleichheit hergestellt. Niemand muss mehr aus
finanziellen Gründen auf ein Studium verzichten, im
Übrigen auch nicht im Ausland. Wir stärken die Förderung von Nachwuchswissenschaftlern erheblich. Aus
meinem Haushalt werden in diesem Jahr 1,4 Milliarden DM in die Förderung der Nachwuchswissenschaftler investiert. Das ist eine Bestenförderung. Es gilt: Nicht
darüber reden, sondern handeln! Das tun wir.
({15})
Wir haben neue Stipendiensysteme geschaffen. Dies ist
keine Zukunftsmusik, denn wir haben dies bereits eingeleitet bzw. eingeführt. Wir haben die Dienstrechtsreform
auf den Weg gebracht, die ebenfalls die frühe Eigenständigkeit gerade der jungen Nachwuchswissenschaftler
unterstützt.
({16})
Ich würde mich freuen, Herr Rachel, wenn auch alle
CDU-regierten Länder hierbei engagiert mitmachen würden,
({17})
damit wir es nun, nachdem Sie 16 Jahre lang dieses Problem vor sich hergeschoben haben, endlich wie angekündigt in dieser Legislaturperiode hinbekommen.
Wir verfolgen ein ehrgeiziges Programm zur Frauenförderung. Wir stärken Forschung und Entwicklung zum
Beispiel durch den Aufbau von Forschungszentren an
deutschen Hochschulen oder durch Unterstützung des
virtuellen Studiums, mit dem wir die weltweite Vernetzung der deutschen Hochschulen erreichen wollen.
Wir fördern die Internationalisierung der deutschen
Hochschullandschaft, wir werben offensiv um Studierende und Lehrende aus anderen Ländern
({18})
und wir verbessern die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Wirtschaft, damit eine schnellere Umsetzung
von neuen Ideen in Produkte und Verfahren gelingt.
Um Deutschland, meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen, zum bevorzugten internationalen Wissenschaftsstandort zu machen, richten wir auch mehr Studiengänge international aus. Auch das ist ein Teil, ein
wichtiger Teil des kulturellen Wandels in Deutschland.
Wir betreiben die gegenseitige Anerkennung von Studienabschlüssen, die Akkreditierung von Studiengängen
und schaffen damit internationale Vergleichbarkeit.
({19})
- Nein, sorry! - Wir kommen dabei in großen Schritten
voran. Wir haben jetzt nämlich 1 044 Bachelor- und Masterstudiengänge, die hier angeboten werden.
({20})
Ein zentrales Reformprojekt ist die Dienstrechtsreform, die Anfang 2002 in Kraft treten soll. Damit wollen
wir zum einen die Qualität von Lehre und Forschung verbessern und zum anderen dafür sorgen, dass die besten
Köpfe in unserem Land bleiben oder dass die besten
Köpfe auch wieder in unser Land zurückkommen.
Meine Damen und Herren, zeigen Sie Mut und Courage!
({21})
Lassen Sie uns den alten Zopf der Habilitation abschneiden
und es mit der Juniorprofessur den jungen Wissenschaftlern ermöglichen, in Zukunft durchschnittlich zehn Jahre
früher, als das jetzt der Fall ist, eine Professur zu übernehmen, eigenständige Forschung und Lehre zu betreiben!
({22})
Und zeigen Sie auch Courage, mit dem Dienstrecht eine
weitere wesentliche Erneuerung herbeizuführen, nämlich
eine Erneuerung, die Leistung in Lehre und Forschung
honoriert! Ein Besoldungssystem, das so aussieht, dass
vor allem nach Lebensalter besoldet wird, passt nicht
mehr in unsere heutige Wissenschaftslandschaft.
({23})
Deshalb zögern Sie nicht, sondern machen Sie mit!
({24})
Mein Ziel, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist
es, deutsche Hochschulen wieder dauerhaft attraktiver für
ausländische Spitzenkräfte zu machen und den gegenwärtigen Anteil von 6 bis 7 Prozent ausländischer Studierender deutlich zu erhöhen. Eine Erhöhung dieses Anteils
um 50 Prozent ist ein Ziel, das wir auf jeden Fall erreichen
müssten.
Frau Kollegin Bulmahn, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage
der Kollegin Flach?
Ja.
({0})
Frau
Flach, bitte schön.
Danke schön, Frau Bulmahn. Ich möchte Ihnen einfach die rein praktische Frage stellen:
Sie wissen, dass die F.D.P. beim Hochschuldienstrecht
selbstverständlich mitziehen will. Das ist eine Reform, die
dringend notwendig ist. Nur, ich überlege mir, wie werden
Sie mit der Mehrheit Ihrer Landesminister fertig, die natürlich nicht mitziehen werden und genau die Crux nicht beseitigen werden, mit der wir zurzeit kämpfen müssen, dass
nämlich das Geld für die nötigen Fachkräfte nicht vorhanden ist? Ihre Antwort darauf würde mich interessieren.
Am Ende des Jahres werden Sie feststellen, dass die sozialdemokratischen Landesregierungen
und Landesminister diese Reform nicht nur mitmachen,
sondern dass sie sie wollen und dass sie sich auch sehr
engagiert dafür einsetzen, dass diese Reform gelingt.
({0})
Wenn Sie sich die Vorbereitungen für die Änderungen
der Landeshochschulgesetze anschauen, werden Sie zum
Beispiel feststellen, dass die Juniorprofessur im geplanten
niedersächsischen Landeshochschulgesetz bereits aufgenommen worden ist. Sie werden das im Übrigen auch bei
anderen Ländern feststellen. Ich stelle gerade bei sozialdemokratisch regierten Landesregierungen eine große
Nachfrage nach diesen Juniorprofessuren fest und wir
werden sie mit den Stimmen unserer Länder auch durchsetzen. Ich wünsche mir aber - das sage ich auch ganz
klar -, dass diese Möglichkeit nicht nur in den sozialdemokratisch regierten Ländern genutzt wird, sondern in
allen Bundesländern,
({1})
weil ich davon überzeugt bin, dass sie für alle Hochschulen, egal, in welchem Bundesland sie liegen, eine gute
Chance darstellt.
Wir verbessern die Strukturen, wir nutzen die UMTSZinserträge, um unseren Hochschulen einen kräftigen
Schub in diese Richtung der Internationalisierung zu geben, weil das nicht nur ein Defizit und ein Mangel ist, den
unsere jungen Wissenschaftler im Ausland beschreiben,
sondern es ist ein Mangel, den auch viele beschreiben, die
heute an den Hochschulen in Deutschland tätig sind. Wir
stellen - zusätzlich zu den Ausgaben, die wir sowieso tätigen - für die Zukunftsinitiative Hochschule rund 1 Milliarde DM bereit, davon 210 Millionen DM, um unter
dem Stichwort „Braingain“ die Anziehungskraft unserer
Hochschulen im Ausland zu erhöhen. Wir gewinnen so
über die Programme Spitzenwissenschaftlerinnen und
-wissenschaftler und exzellente Nachwuchswissenschaftler aus dem Ausland und wir gewinnen sie teilweise auch
wieder zurück. Die Resonanz, die ich jetzt schon, nach gut
einem halben Jahr, auf diese Programme feststelle, ist einfach herausragend, sie ist toll und zeigt, dass diese Programme genau richtig waren und dass wir damit auch genau einen Schwachpunkt getroffen haben.
({2})
Ich bedanke mich in diesem Zusammenhang ausdrücklich bei der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und
dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, die mit
sehr großem Engagement diese Programme umsetzen und
einfach eine hervorragende Arbeit leisten.
({3})
Wir können durch diese Programme ein Zweites erreichen - auch darüber haben wir schon jahrelang diskutiert -: Der DAAD kann nun Hochschulverbünde aus dem
von uns finanzierten Programm fördern und mit dem Programm „Export deutscher Studiengänge“ erstmals deutsche Studiengänge im Ausland anbieten. Das heißt, wir
diskutieren nicht mehr über Offshore-Ausgründung deutscher Hochschulen im Ausland, sondern die OffshoreAusgründungen deutscher Hochschulen sind bereits in
Vorbereitung. Auch das ist mir ein wichtiges Anliegen,
weil ich der Auffassung bin, dass wir exzellente Hochschulen haben. Ich will, dass diese exzellenten Hochschulen auch international ihre Angebote machen und im
internationalen Wettbewerb hervorragend dastehen können.
({4})
Wichtig sind dabei nicht nur die Strukturreformen und
die Internationalisierung unserer Hochschulen, sondern
auch ein gezieltes Marketing für den Hochschulund Wissenschaftsstandort Deutschland. Deutschland hat
nämlich vielen Forscherinnen und Forschern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus anderen Ländern
durchaus eine ganze Menge zu bieten. Die meisten unserer Hochschulen sind leider noch nicht so bekannt wie einige amerikanische Eliteuniversitäten. Aber die meisten
deutschen Hochschulen sind weit besser als der Großteil
der amerikanischen Hochschulen.
({5})
Die Max-Planck-Gesellschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft haben auch international einen hervorragenden
Ruf. Die Forschungsleistung der deutschen Industrie ist
ebenfalls weltweit anerkannt. Wir können uns also weltweit durchaus sehen lassen. Aber wir tun es zu wenig. Unsere Bildungs- und Forschungseinrichtungen sind bisher
im Ausland eher eigene Wege als gemeinsame Wege gegangen. Ich bin davon überzeugt, dass beides notwendig
ist: dass wir den gemeinsamen Weg genauso wie die Darstellung der eigenen Leistungsfähigkeit brauchen.
({6})
Deshalb hat die Bundesregierung am vergangenen
Freitag mit den Ländern und den Hochschulen - über
80 Hochschulen machen schon mit - sowie mit den
Forschungsorganisationen und -einrichtungen und den
Außenhandelskammern ein übergreifendes Marketingkonzept beschlossen,
({7})
mit dem wir gemeinsam für den Bildungs- und Forschungsstandort werben wollen
({8})
sowie die wissenschaftliche Qualität, die kulturellen Vorzüge und die Lebensqualität unseres Landes im Ausland
darstellen wollen.
({9})
Dies, meine sehr geehrten Damen und Herren, war wirklich überfällig. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt wirklich offensiv arbeiten.
Eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg dieses Konzeptes ist allerdings - auch das lassen Sie mich
ganz klar sagen -, dass unser Land für Menschen aus anderen Ländern offen ist. Die konzertierte Aktion setzt sich
deshalb für ein Aufenthalts- und Arbeitsrecht ein, mit
dem auch bei uns im Vergleich zu anderen Ländern wettbewerbsfähige Bedingungen geschaffen werden.
({10})
Dies bedeutet, dass wir Ausländern mit deutschem Hochschulabschluss eine Perspektive zum Bleiben bieten müssen und dass Menschen mit einem ausländischen Pass,
aber einem deutschen Hochschulabschluss bei uns arbeiten, lehren und forschen können, und zwar nicht nur an
der Hochschule oder in einer Forschungseinrichtung.
({11})
Dies bedeutet auch, dass wir erheblich bessere Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer insgesamt bieten müsBundesministerin Edelgard Bulmahn
sen, etwa für hervorragende Wissenschaftler. Wir müssen
ferner Erwerbsmöglichkeiten für ihre Familienangehörigen anbieten; denn wir können ihnen nicht sagen: Du
bitte ja, aber deine Ehefrau bitte nicht. Das wäre kein
überzeugendes Konzept.
Dazu gehört auch, dass wir ausländischen Studierenden attraktive Rahmenbedingungen bieten: eine bessere
Betreuung, Beratung und Unterbringung. Dafür haben
wir ein Betreuungsprogramm gestartet und es von 3 auf
11 Millionen DM aufgestockt, damit dies nicht nur ein
Appell bleibt, sondern wir diese konkrete Arbeit auch
wirklich leisten können.
({12})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dies alles sind
Maßnahmen, die entscheidend dazu beitragen - die Wirkungen spürt man schon -, dass wir inzwischen Schwung
bekommen haben. Es liegt an uns, diesen Schwung zu
nutzen und weiterzutragen. Dabei dürfen wir eines nicht
vergessen: Wir brauchen qualifizierte Fachkräfte und renommierte Wissenschaftler, die aus der ganzen Welt zu
uns kommen, nicht nur für die Sicherung unseres künftigen Wohlstands. Sie sind auch kulturell und menschlich
eine Bereicherung. Ich bin sicher, wenn wir es schaffen,
ihnen das Gefühl, dass sie für uns eine Bereicherung sind,
zu vermitteln, dann kann und wird Deutschland einer der
gefragtesten Wissenschaftsstandorte auch weltweit werden.
Vielen Dank.
({13})
Als
nächster Redner hat der Kollege Thomas Rachel von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kennen Sie
Günter Grass? - Na klar, den Träger des Nobelpreises für
Literatur von 1999 kennt jeder. Doch kennen Sie auch
Günter Blobel? - Der deutschstämmige Molekularbiologe Günter Blobel bekam, ebenfalls 1999, den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. Doch während der Vater der „Blechtrommel“ in Deutschland gefeiert wurde,
blieb Günter Blobel die öffentliche Anerkennung in seiner
Heimat weitgehend verwehrt. Der Grund für seine hiesige
Anonymität dürfte sein, dass Blobel seit gut drei Jahrzehnten an der US-amerikanischen Rockefeller University in New York lehrt. Damit sind wir bereits mitten in
den Problemen des Hochschul- und Wissenschaftsstandortes Deutschland im 21. Jahrhundert: Das Hochtechnologieland Deutschland verliert seine Koryphäen regelmäßig an ausländische Konkurrenten. Außerdem hat
Deutschland gerade in letzter Zeit Schwierigkeiten, den
geeigneten akademischen Nachwuchs, aber auch ausreichend qualifizierte Fachkräfte aus den eigenen Reihen
hervorzubringen.
Gerade hat EU-Forschungskommissar Busquin in einer Studie belegt, dass der EU „in den Schlüsseltechnologien jährlich rund 50 000 Forscher und Wissenschaftler
fehlen“. Im Jahr 2010 wird es in der EU rund eine halbe
Million Spitzenforscher zu wenig geben. Bei der jährlichen Zuwachsrate an Forschern belegt Deutschland, Frau
Bulmahn, den vorletzten Rang in der EU. Das sind die
Fakten.
Woran liegt das? - Lassen wir einmal die Nobelpreisträger außen vor und kümmern uns um deren potenzielle Nachfolger. Dann scheint die Sache klar zu sein: Es
fehlt an geeignetem akademischen Nachwuchs in
Deutschland. Dies ist eine alarmierende Diagnose; denn
die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationsfähigkeit
eines Landes hängen entscheidend vom Potenzial an hoch
qualifizierten Arbeitskräften ab.
({0})
Frau Bulmahn, Deutschland droht an dieser Herausforderung einer wissensbasierten Industriegesellschaft zu
scheitern.
Die Mängel des deutschen Bildungssystems beginnen früh. Nach einer Umfrage des Instituts der deutschen
Wirtschaft von 1999 hat jeder fünfte Abiturient deutliche
Schwächen im Rechnen. Bei den Realschülern sind es
30 Prozent, bei den Hauptschülern bereits 60 Prozent.
Eine Vergleichsstudie der BASF über die Grundkenntnisse von Ausbildungsplatzbewerbern im Rechnen und
Schreiben hat ergeben, dass über die Jahrzehnte das vermittelte schulische Ausbildungsniveau ständig gesunken
ist. In Deutschland, immerhin das Land, in dem der Verbrennungs- und der Dieselmotor, aber auch die Fotozelle
und das Elektronenmikroskop erfunden wurden, wählen
derzeit nur 9 Prozent der Abiturienten das Fach Chemie
und nur 11 Prozent das Fach Physik als Leistungskurs.
Weil vielen Abiturienten das erforderliche Fundament
fehlt, studieren auch zu wenige diese Fächer.
Von 1988 bis 2001 konnte die stark juristisch und geisteswissenschaftlich geprägte Kölner Universität eine Zunahme der Zahl ihrer Studenten von 38 000 auf 62 000 verbuchen. Im gleichen Zeitraum sank die Studentenzahl
der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in
Aachen von 38 000 auf 26 000. Dieser Rückgang bei technischen und naturwissenschaftlichen Hochschulen droht
zu einer gefährlichen Wachstumsbremse für die deutsche
Wirtschaft zu werden. Dagegen müssen wir gemeinsam
etwas tun.
({1})
Die Reform des Bildungssystems wird darüber entscheiden, ob Deutschland in der globalisierten Welt des
21. Jahrhunderts international wettbewerbsfähig sein
wird. Das Ausland hält uns kritisch den Spiegel vor Augen. Aus US-Sicht verfügt Deutschland zurzeit, Frau Ministerin, über keine einzige Universität von Weltrang. Das
Problem wird so beschrieben: Es gibt eine breite Grundlage und eine solide Mitte; aber es fehlt eine Spitze. - Mit
anderen Worten: Deutschland braucht Spitzenuniversitäten im Weltmaßstab als Ergänzung und als leistungsstimulierendes Vorbild.
({2})
Auch die deutsche Hochschulpolitik muss sich endlich
zu dem Ziel bekennen, Leistungseliten in Deutschland
heranzubilden.
({3})
Niemand stört sich zum Beispiel an Eliten im Sport. Im
Gegenteil: Alles wird dafür getan, um neben dem Breitensport den Spitzensport zu fördern. Auch das Hochschulsystem muss das Spannungsverhältnis zwischen der
Förderung der Breitenausbildung und der Förderung der
geistigen Eliten aushalten und fair organisieren. Die Zugehörigkeit zur Elite beruht dabei auf individueller Leistung, nicht etwa auf Herkunft oder Besitz. Wichtig ist dabei die Durchlässigkeit; neue Aufstiegsgelegenheiten
müssen angeboten werden. Lösungsvorschläge müssen
sich vor allem auf das bestehende Hochschulsystem beziehen.
Gut ist in Deutschland, dass unsere Absolventen in der
Regel fachlich gut ausgebildet sind und im Vergleich zu
anderen Ländern ein besser trainiertes Denk- und Urteilsvermögen besitzen. Nicht gut ist, dass unsere Absolventen meist zu alt sind, wenn sie in das Berufsleben eintreten. Zu wenige von ihnen haben im Ausland studiert. Die
Selbstständigkeit wird zu spät trainiert und nicht positiv
genug bewertet. Nicht ausreichend sind die Betreuungsrelationen zwischen Lernenden und Lehrenden in vielen
Fächern unserer Hochschulen sowie der Zustand von Gebäuden, Labors und Bibliotheken.
Die Hochschulen brauchen mehr Eigenverantwortung.
Künftige Studierende sollen ihre Hochschulen und die
Hochschulen sollen ihre Studierenden selbst auswählen
können.
({4})
Die ZVS ist ein Anachronismus. Ich begrüße deshalb die
Initiative des neuen Wissenschaftsministers des Landes
Baden-Württemberg, Professor Frankenberg, der entschieden hat, aus dem bestehenden Staatsvertrag über die
ZVS auszusteigen. Richtig so, Herr Minister!
({5})
Die Bundesregierung darf dem Braindrain nach Amerika nicht länger tatenlos zuschauen. Im Gegenteil: Es ist
an der Zeit, Deutschland als Hochschul- und Forschungsstandort für die akademischen Eliten Europas, Asiens und
Lateinamerikas auszubauen. Deutschland ist auf dem globalen Bildungsmarkt unterrepräsentiert. Das ist ein Fehler. Führen Sie sich vor Augen, dass die USA auf dem internationalen Bildungsmarkt einen Erlös von 12 bis
18 Milliarden US-Dollar pro Jahr erwirtschaften! Dieser
Erlös ist höher als der der amerikanischen Filmindustrie.
({6})
Die letzte unionsgeführte Bundesregierung hat bereits
entscheidende Weichenstellungen auf dem Weg zur Internationalisierung der Hochschullandschaft vorgenommen.
({7})
Mit der Novelle zum Hochschulrahmengesetz wurden die
international anerkannten Abschlüsse Bachelor und Master eingeführt. Sie persönlich, Frau Ministerin, Rote und
Grüne haben damals versucht, die Reform zu kippen. Gott
sei Dank fehlte Ihnen damals die Mehrheit dazu.
({8})
Sie haben den Gesetzentwurf im Bundestag und im Bundesrat abgelehnt. Wäre dieser Gesetzentwurf nicht verabschiedet worden, dann hätte das einen Stillstand von drei
Jahren nach sich gezogen.
Seit 1998, als wir diesen Gesetzentwurf verabschiedet
haben, haben die deutschen Universitäten und Fachhochschulen bereits 400 neue Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt. Dies ist der Erfolg einer Politik, die
Christdemokraten und Liberale in der vergangenen Legislaturperiode gemeinsam betrieben haben.
({9})
Wir waren es, die den Aufbau international ausgerichteter
Studiengänge auf den Weg gebracht haben. Das ist ein
großer Erfolg. Die Regierung setzt unser Programm fort;
aber die finanzielle Ausstattung stagniert.
({10})
Das sind die Realitäten rot-grüner Bildungspolitik. Es ist
eine Schande, dass Sie die deutschen Schulen im Ausland
kaputtsparen, obwohl sie die Attraktivität der deutschen
Sprache und den Studienplatz Deutschland fördern und
unterstützen.
({11})
Der Hochschulstandort Deutschland muss internationaler werden. Der Anteil der ausländischen Studierenden liegt bei 7 Prozent. Diejenigen Ausländer, die heute
in Deutschland studieren, sind Freunde und Botschafter
unseres Landes von morgen. 50 Prozent der Graduierten
und Postgraduierten in den technischen Fächern der USHochschulen sind keine Amerikaner, sondern Ausländer;
darunter sind viele Deutsche. Frau Bulmahn, es darf die
Bundesregierung nicht zufrieden stellen, dass deutsche
Hochschulabsolventen mit öffentlichen Mitteln ihre
Grundausbildung in Deutschland erhalten, aber im Endergebnis für die USA forschen und lehren. Das geht auf
die Dauer so nicht!
({12})
Wir müssen deshalb für die deutschen, aber auch für
die ausländischen Studenten besser werden. Nicht Abwehr und Provinzialismus sind gefragt. Wir brauchen in
Deutschland eine neue Offenheit für qualifizierte Nachwuchskräfte und die besten Köpfe aus dem Ausland. DesThomas Rachel
halb müssen bestehende Barrieren im Aufenthalts- und
Arbeitsrecht beseitigt werden.
({13})
Viele Bildungsausländer brauchen die Chance, ihren Lebensunterhalt in Deutschland zu finanzieren. Deshalb
müssen wir die so genannte 90-Tage-Frist verändern und
die so genannte Vorrangprüfung zumindest bei studiennahen Tätigkeiten beseitigen.
({14})
Ausländische Studenten sollen in Zukunft nach ihrem
Studium in Deutschland bleiben dürfen. Sie brauchen eine
Arbeitserlaubnis, damit sie in Deutschland Berufserfahrung sammeln können. Es macht keinen Sinn, dass hoch
qualifizierte Akademiker das Land verlassen müssen,
wenn Deutschland in den gleichen Bereichen mit seinen
eigenen Fachkräften den Bedarf nicht decken kann.
({15})
Der Nachzug und die Erwerbsmöglichkeiten der Ehegatten von Wissenschaftlern an Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen ebenfalls verbessert werden. Welcher Wissenschaftler will nach Deutschland
kommen und dort forschen, wenn sein Ehepartner nicht
gleich eine Arbeitserlaubnis bekommt? Nur so werden
wir zeigen, dass Deutschland ein offener und moderner
Wissenschaftsstandort ist.
({16})
Sehr geehrte Damen und Herren, gut ist nicht mehr gut
genug. Deshalb hat der bayerische Wissenschaftsminister
Zehetmair mit Recht gesagt:
Wer sich dem Wandel verschließt, verliert. Wer nicht
danach strebt, besser zu werden, hört auf, gut zu sein.
Lassen Sie uns also gemeinsam die notwendigen Reformen anpacken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort
hat nun die Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, Krista Sager.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir zuerst eine
Bemerkung in eigener Sache.
({0})
Frau Pieper, Ihre Zahlen waren nicht nur in Bezug auf die
Bundesebene, sondern auch in Bezug auf Hamburg
falsch. Hamburg hat in dieser Legislaturperiode den Anteil des Wissenschaftsetats am Gesamtetat von 6,5 Prozent auf 8 Prozent erhöht. Kein Land gibt pro Schüler so
viel Geld aus wie Hamburg.
({1})
Wir haben den Etat auch insgesamt gesteigert. Allein
bei den Investitionen haben wir in dieser Legislaturperiode eine Steigerung um 16 Prozent zu verzeichnen, und
zwar auch dank der Politik der rot-grünen Bundesregierung, die das möglich gemacht hat.
({2})
Frau Pieper, ich möchte noch einen kleinen Beitrag zur
Bildung leisten.
({3})
Sie haben ja vorhin über Hamburg gesprochen. Vor einigen Tagen haben Sie ausgeführt, dass Sie sich elbaufwärts
bewegen müssten, wenn Sie von Dresden nach Hamburg
kommen wollten. Das ist leider falsch. Sie müssten sich
elbabwärts bewegen.
({4})
- Mal so und mal so, und dann der Spruch: Was Hänschen
nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. - Ich habe das verstanden.
({5})
Meine Damen und Herren, die Bundesländer und die
Hochschulen haben in den vergangenen Jahren Erhebliches geleistet, um Deutschland als internationalen
Hochschulstandort attraktiver zu machen. Ich meine,
wenn einige Rednerinnen und Redner so tun, als müssten
sie vom Deutschen Bundestag aus den Hochschulen
Nachhilfe erteilen, dann wissen sie nicht, was in den vergangenen Jahren in den Hochschulen in Deutschland geschehen ist. Sie tragen damit Eulen nach Athen.
Ich bedanke mich bei der Bundesministerin, die diese
Anstrengungen in den Hochschulen und in den Bundesländern ausgesprochen tatkräftig unterstützt hat und die
durch ihren Einsatz, und zwar sowohl durch die
Dienstrechtsreform als auch durch die Steigerung der finanziellen Mittel, dafür gesorgt hat, dass wir endlich die
Rahmenbedingungen haben, um die Reformen voranzubringen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich möchte eines ganz deutlich sagen: Die erfolgreiche Arbeit in den Ländern und in
den Hochschulen droht jedoch in Bezug auf die Internationalisierung dann im Sande zu versickern, wenn es nicht
gelingt, schnell zu Verbesserungen bei den arbeits- und
ausländerrechtlichen Rahmenbedingungen zu kommen.
({7})
Wir brauchen für die ausländischen Studierenden und die
Wissenschaftler schnell Veränderungen, sonst sind wir in
diesem Bereich mit den USA und mit Kanada nicht konkurrenzfähig.
({8})
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass die Wissenschaftsminister der Länder, die Bundeswissenschaftsministerin und die Regierungsfraktionen in diesem Punkt an
einem Strang ziehen. Aber als Landesministerin bin ich
frei und sage eines ganz offen: Hier müssen auch der Bundesinnenminister und der Bundesarbeitsminister mitziehen. Sonst wird es nicht gehen.
Sie von der F.D.P. und von der Union müssen sich an
dieser Stelle fragen lassen, warum Sie es zugelassen haben, dass Parteifreunde aus Ihren Reihen jahrelang in diesem Land ein Klima aufgebaut haben, das eine sachliche
Diskussion über Arbeits- und Ausländerrecht überhaupt
nicht mehr zuließ.
({9})
Dazu erhoffe ich mir in der Tat manchmal auch von den
Ministerpräsidenten und nicht nur von den Bildungsministern klare Aussagen.
Die Hochschulen machen eine ganze Menge, das kann
ich von Hamburg aus tatsächlich beurteilen. Internationale Bachelor- und Masterabschlüsse werden breit angeboten. Credit Point Systems werden ausgebaut. Es wird
intensiv mit internationalen Hochschulpartnern zusammengearbeitet. Englischsprachige Studienangebote werden ausgebaut. Es gibt Sonderprogramme für die Betreuung ausländischer Studierender. Es gibt Public Private
Partnership zwischen staatlichen Hochschulen und privaten Einrichtungen mit Zusatzangeboten für ausländische
Studierende. Es gibt auch eigens entwickelte und zum Teil
preisgekrönte Marketingkonzepte unserer Hochschulen.
Inzwischen haben wir auf Basis der englischsprachigen Masterprogramme zum Beispiel an der Technischen
Universität in Hamburg einen Anteil von ausländischen
Studierenden von 17 Prozent erreicht, liegen also über der
genannten Marge. Jetzt müssen wir feststellen, dass die
besten Absolventen nicht in ihre Heimatländer zurückkehren, sondern in die USAoder nach Kanada gehen. Hier
müssen wir in der Tat schnell handeln. Diese Absolventen
brauchen nicht nur eine Arbeitserlaubnis, sie brauchen
eine dauerhafte Bleibeperspektive für sich und ihre Familien, wenn sie hier bleiben sollen. Da appelliere ich an Sie.
Es geht nicht, dass wir beim Thema Bildung Sonntagsreden zur Internationalisierung halten und am nächsten
Tag in unserem Wahlkreis mit den Ängsten der Bevölkerung Schindluder treiben.
({10})
Das geht nicht. Wenn in der nächsten Woche die Ergebnisse der Zuwanderungskommission vorgelegt werden,
erwarte ich, dass wir genauso dahinter stehen wie in den
wissenschaftspolitischen Debatten und dass die Vorschläge dann auch umgesetzt werden.
({11})
Wir brauchen nicht nur Verbesserungen bei der Handhabe der so genannten 90-Tage-Regelung bei der genehmigungsfreien Teilzeitarbeit, wir brauchen auch den Verzicht auf die so genannte Vorrangprüfung. Ich habe selbst
erlebt, wie Studierende aus dem Ausland, die teilweise
sogar aus gut situierten Familien kamen, plötzlich ihr Studium in Gefahr sahen, wenn in ihren Ländern Währungskrisen auftraten. Deswegen ist es wichtig, dass diese
Studierenden die Möglichkeit bekommen, neben ihrem
Studium eine ordentliche Teilzeittätigkeit anzunehmen.
Frau Bürgermeisterin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dirk Niebel?
Ja, selbstverständlich.
Bitte
schön, Herr Niebel.
Frau Bürgermeisterin, Sie haben
gerade - wie ich finde, nicht zu Unrecht - gefordert, dass
ausländische Studierende hier auch die Möglichkeit haben müssen zu arbeiten. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion
hat 1999 beantragt, die Arbeitsgenehmigungspflicht abzuschaffen, was abschließend im März 2000 in diesem
Haus abgelehnt worden ist.
({0})
Die Roten haben ihre Ablehnung mit dem Argument begründet, man würde Lohndumping fördern. Die Schwarzen haben
sie mit dem Argument begründet, man würde Zuwanderung
fördern. Die Grünen haben sie - sinngemäß - mit dem Argument begründet: Der Antrag ist ja nicht schlecht, aber er
kommt von der F.D.P. und der trauen wir nicht.
({1})
Würden Sie vor diesem Hintergrund Ihr politisches Handeln in diesem Haus mit den Forderungen, die Sie jetzt
aufstellen, als nicht kongruent bezeichnen?
({2})
Senatorin Krista Sager ({3})
Herr Abgeordneter, es mag sein, dass ich mich an vieles nicht mehr so genau erinnere. Wenn ich mich aber nicht arg täusche, ist es
nicht so furchtbar lange her, dass Sie in diesem Land mitregiert haben. Oder sehe ich das falsch?
({0})
Ich frage mich in der Tat: Warum haben Sie in der Zeit, in
der Sie handeln konnten, dies nicht getan und halten stattdessen jetzt nur Volksreden? Das ist doch die Frage.
({1})
Die Grünen treten seit langem für diese Position ein.
({2})
Sie wissen, dass ich die Grünen im Hamburger Senat vertrete. Ich weiß mich mit der Bundesministerin in dieser
Frage völlig einig und unterstütze sie.
({3})
Frau Bürgermeisterin, erlauben Sie eine zweite Zwischenfrage des
Kollegen Dirk Niebel?
({0})
Meine Fraktion
hier sagt jetzt Nein.
({0})
Frau
Sager, das haben Sie alleine zu entscheiden.
Sie dürfen.
Bitte
schön.
Vielen Dank, Frau Bürgermeisterin. Sie haben gerade eben gesagt, Ihre Fraktion und
Ihre Partei träten seit langem für diese Forderung ein.
Warum haben die Grünen unseren Antrag dann abgelehnt?
Wo haben wir ihn
denn abgelehnt?
({0})
- Moment, Sie wissen ganz genau, dass die Grünen schon
seit langem für diese Position eintreten. Ich sage Ihnen:
Wir werden sie auch durchsetzen,
({1})
und zwar gemeinsam mit den Wissenschaftsministern der
Länder, mit der Bundesministerin und mit den Regierungsfraktionen, die sich hier klar positioniert haben.
Darin unterscheiden wir uns von Ihnen.
({2})
Ich bin sehr gespannt, ob Sie sich noch an Ihre schönen
Reden erinnern, wenn die Voten der Zuwanderungskommission vorliegen.
Zum Abschluss möchte ich noch eines sagen: Solche
Debatten über Internationalisierung sind immer sehr
weihevoll. Eines dürfen wir aber nicht vergessen: Wenn
wir es mit der Internationalisierung ernst nehmen, muss
für uns gelten: Jedes Herumzündeln am Thema Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit ist Gift für die Internationalisierung.
({3})
Verschonen Sie uns in Zukunft bitte mit jeder „Kinder
statt Inder“-Debatte und mit jeder Unterschriftensammlung wie in Hessen. Unterstützen Sie uns ernsthaft, wenn
es um die Internationalisierung geht.
({4})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Maritta Böttcher von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zustand von Bildung und Forschung an vielen deutschen Hochschulen ist katastrophal.
Statt sich aber der Misere ernsthaft zu stellen, rüsten sich
die Regierungsparteien für den Wahlkampf. Eine Reihe
von brennenden Problemen bleibt auf der Strecke.
Alle reden von der Internationalisierung der Hochschulen, aber - hier möchte ich wirklich noch einmal
nachlegen - das deutsche Ausländerrecht legt Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus
dem Ausland nach wie vor systematisch Steine in den
Weg. Es fängt damit an, dass Studierende aus Nicht-EULändern häufig gar keine Chance haben, sich an einer
deutschen Hochschule einzuschreiben. Sie müssen den
Behörden im Einzelnen nachweisen, dass Sie für ein Jahr
über Mittel in Höhe des BAföG-Regelsatzes verfügen.
Hat ein Student dann endlich doch eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, wird ihm eine studienbegleitende
Erwerbstätigkeit untersagt. Ihm darf eine Arbeit - beispielsweise als studentische Hilfskraft - in seinem Studienfach nur vermittelt werden, wenn nachweislich
niemand mit deutschem oder EU-Pass zur Verfügung
steht. Das sonst so hochgehaltene Leistungsprinzip ist bei
dieser systematischen Diskriminierung von Ausländerinnen und Ausländern außer Kraft gesetzt.
({0})
Es ist traurig aber wahr: „Arbeit zuerst für Deutsche“ ist
das Leitmotiv dieser Regelung im Sozialgesetzbuch.
Auch nach ihrem Studium an einer deutschen Hochschule erhalten ausländische Hochschulabsolventinnen und -absolventen nicht einmal eine zeitlich befristete Aufenthaltsgenehmigung zur Aufnahme einer
Beschäftigung. Sie werden in ihr Heimatland zurückgeschickt, um Jahre später womöglich als verzweifelt gesuchte Fachkräfte via Green Card wieder angeworben zu
werden.
({1})
Das, meine Damen und Herren von der Regierung, müssen Sie wirklich einmal erklären. Ich jedenfalls finde es
absurd.
({2})
Die Bundesregierung betreibt eine janusköpfige Politik. Auch wenn Frau Bulmahns Blick demonstrativ nach
vorn gerichtet ist, Otto Schily blickt stur rückwärts.
({3})
Die Regierungspolitik könnte zumindest in dieser Frage
etwas weniger Schily und eine Prise mehr Bulmahn vertragen.
({4})
Abgesehen davon, dass alle demokratischen Kräfte
hierzulande gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit kämpfen müssen, muss dieses Thema selbstverständlich auch an deutschen Hochschulen auf der
Agenda stehen. Aber Studentinnen und Studenten, die
eine solche kritische Auseinandersetzung offensiv führen
wollen, wird es nicht leicht gemacht. Es gehört zum Alltag, dass demokratisch gewählte Studierendenvertretungen für antirassistische Aktivitäten vor Gericht zitiert
werden: wegen Wahrnehmung des so genannten allgemein-politischen Mandats.
Die Studierenden erwarten vom Deutschen Bundestag
daher zu Recht eine Absicherung ihrer Politik- und Meinungsfreiheit im Hochschulrahmengesetz.
({5})
Im Herbst soll es zwar novelliert werden, doch die Interessen der Studentinnen und Studenten kommen im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vor. Wenn Sie bei
dieser Abwehrhaltung bleiben, müssen Sie mit einem
heißen Herbst rechnen. Studierende fallen nicht unter die
Hundehalterordnung; sie lassen sich keinen Maulkorb
aufsetzen.
({6})
Die PDS hat einen Gesetzentwurf dazu vorgelegt.
Stimmen Sie doch einfach zu.
({7})
Bei den vergessenen Interessen der Studierenden fällt
mir gleich noch der marode Zustand der Studienfinanzierung ein. Die verabschiedete BAföG-Novelle wollten
Sie uns mit einem Heiligenschein verkaufen; aber die
Leuchtkraft ist viel zu schwach, als dass sich davon jemand blenden ließe. Allen Beteiligten, vom Deutschen
Studentenwerk bis hin zur organisierten Regierungsjugend, ist klar: Eine wirklich durchgreifende Verbesserung
der sozialen Lage von Studierenden haben Sie damit noch
nicht geschafft, sondern allenfalls einen überfälligen
Schritt gemacht.
Studiengebühren schweben wie ein Damoklesschwert
über den Köpfen von Studierenden. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der F.D.P.-Fraktion: Studiengebühren
bleiben Studiengebühren, egal, ob Sie sie beim Namen
nennen oder in „Bildungsschecks“ umbenennen.
({8})
Viele sind verunsichert und entscheiden sich von vornherein gegen ein Studium, dessen Kosten sie nicht kalkulieren können. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland weit zurück, was den Zugang junger Menschen zu
Hochschulen betrifft. Wenn das Hochschulstudium attraktiver werden soll, muss es vor allem für die Studierenden finanzierbar werden. Wir bleiben daher bei unserer Forderung nach einer strukturellen Erneuerung der
Ausbildungsförderung und nach einem Ausschluss von
Studiengebühren ohne Wenn und Aber.
({9})
Die PDS hat bereits vor einem Jahr als erste Bundestagsfraktion ein geschlossenes Reformkonzept vorgelegt.
Kernpunkt: die verknöcherte Personalstruktur an deutschen Hochschulen. Die Dienstrechtsreform der Bundesregierung ist im Wesentlichen eine Reform der Besoldungsstrukturen sowie der Laufbahn von Professorinnen
und Professoren. Ich bestreite nicht, dass diese Reform
notwendig ist und grundsätzlich auch in die richtige Richtung geht. Aber Sie sind drauf und dran, neben den Interessen der Studierenden auch die des akademischen Mittelbaus schlicht zu vergessen.
1985 hat die Regierung Kohl das Hochschulzeitvertragsgesetz durchgesetzt, gegen den Widerstand der Gewerkschaften und der damaligen Oppositionsfraktionen
SPD und Grüne. Damit wurden befristete Arbeitsverträge
von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
legalisiert. Um die Wogen etwas zu glätten, hat der Bundestag wenig später beschlossen, dass die Bundesregierung
einen Bericht über die ersten Erfahrungen vorlegen muss.
Nach ihrer Auswertung sollte entschieden werden, ob sich
das Zeitvertragsgesetz bewährt hat oder nicht.
Heute möchte die Bundesregierung in ihrer Dienstrechtsreform das Zeitvertragsgesetz von 1985 mit einigen
kleinen Änderungen nahezu unverändert fortschreiben.
Den vom Bundestag geforderten Bericht bleibt sie uns
schuldig. Das werden wir nicht akzeptieren.
({10})
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf,
ihrer Berichtspflicht endlich nachzukommen.
Die PDS will eine ergebnisoffene Diskussion über die
Befristungsregelungen des Hochschulrahmengesetzes.
Sie reden viel vom Deregulieren, haben aber an der entscheidenden Stelle nicht den Mut dazu.
Wir meinen, besser als Regierung und Parlament können die Tarifparteien über die Modalitäten entscheiden.
Auch aus diesem Grund ist der Beamtenstatus ein Fremdkörper in einer modernen Hochschulpersonalstruktur.
({11})
Fazit: In den vergangenen drei Jahren hat die PDS als
die entscheidende Triebkraft für eine strukturelle Erneuerung des Hochschulwesens gekämpft.
({12})
Teilweise hat die Regierung unsere Impulse in verwässerter Form aufgegriffen, zum Beispiel bei der Dienstrechtsreform, teilweise widersetzt sie sich bis heute, so zum
Beispiel beim Studiengebührenverbot. - Ich verstehe
schon, dass bei so viel Reformkraft ein bisschen Neid aufkommt!
({13})
- Lassen Sie doch die alten Kamellen von SED oder nicht
SED. Ich spreche heute hier für die PDS und das werde
ich auch bis zum Schluss tun. Das ist gut so.
Allerdings dürfen wir die notwendige Erneuerung des
Hochschulwesens nicht mit deren schrittweiser Zerschlagung verwechseln. Wir demokratischen Sozialisten sagen
Ja zur Innovation in Bildung und Wissenschaft und durch
Bildung und Wissenschaft. Wir meinen damit aber ausdrücklich auch Innovation durch Chancengleichheit und
Demokratie.
Studierende sind keine Kunden, Bildung ist keine
Ware, Hochschulen sind keine Supermärkte. Wenn wir
das berücksichtigen, werden wir wirklich eine fortschrittliche Hochschulpolitik betreiben.
({14})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ernst Dieter
Rossmann von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Pieper, Quantität ersetzt noch keine Qualität. Deshalb
wollen wir gern in Bezug auf die Fülle der F.D.P.-Anträge
sagen: Weniger wäre mehr gewesen. Sie hätten sich ein
bisschen mehr konzentrieren sollen.
Wir möchten uns gerne auf das Thema konzentrieren,
das wir eingebracht haben, das wir gemeinsam ausgestalten möchten, nämlich auf die Stärkung der internationalen
Attraktivität und Leistungsfähigkeit des Wissenschaftsund Forschungsstandortes Deutschland. Wir tun das deshalb, weil wir hier nicht nur ein Schlüsselproblem für die
gesellschaftliche Entwicklung und unsere Standortqualität sehen, sondern weil wir das auch als eine Chance begreifen, dass dies trotz der vielen Streitigkeiten mit
Schlagworten, die hier ausgetragen werden, die wir in diesem Parlament beobachten, vielleicht ein gemeinsames
Anliegen werden kann, das in der Sache etwas bewegt,
das die Bildungspolitik insgesamt nach vorne bringt, wobei sich mit der Regierung und dem ganzen Parlament
eine neue Kraft herausbildet.
({0})
Es ist ja richtig: Zur weltweiten Konkurrenz um Rohstoffe, Produktionsstandorte und Absatzmärkte tritt ein
globaler Wettbewerb um qualifizierte Nachwuchskräfte
an den Universitäten, in Wissenschaft und Forschung.
Mehr internationale Attraktivität ist dabei unabdingbar
auch für die künftige wirtschaftliche Stellung Deutschlands in der Welt, für den Wohlstand und die soziale Sicherheit in unserem Land. Nur, dieses vollkommen berechtigte Eigeninteresse kann nicht alles sein. Es muss uns
bei der Bewältigung der globalen Aufgaben zur Sicherung
von Prosperität, Emanzipation, von Chancengleichheit
und ökologischer Nachhaltigkeit auch immer um die gemeinsamen Gestaltungsmöglichkeiten mit anderen Ländern gehen. Denn sonst passiert Folgendes: Das, was wir
gegenwärtig in manchem als negativ im Verhältnis zu
Amerika erleben, erleben unter Umständen jetzt schon
osteuropäische Staaten als negativ im Verhältnis zu
Deutschland und zu den Industriestaaten, den hoch entwickelten Gesellschaften in Europa.
Wir sollten angesichts unseres Wunsches, nicht zu viel
zu verlieren, auch den Wunsch der anderen erkennen und
deshalb immer beides zusammen sehen. Die Chance, über
mehr Qualifizierung und mehr Internationalität zur Eigenentwicklung in unserem Land beizutragen, muss immer
mit der Chance in Zusammenhang gestellt werden, dass
daraus auch ein Rückfluss, eine Kooperation mit anderen
Ländern erwachsen kann. Sonst produzieren wir Spannungen, die am Ende die Internationalität insgesamt zerstören.
Dieses Ansinnen haben wir, und wir setzen die Hoffnung
darauf, hier zu einem Konsens zu kommen, der in
Deutschland eine Chance haben sollte.
Weil es hier auch manche Polemik gab, lassen Sie mich
zur F.D.P., vor allem aber zur CDU/CSU sagen: Wenn wir
uns jetzt in unserem Land zusammen darum bemühen,
mehr ausländische Studenten und Nachwuchswissenschaftler nach Deutschland zu holen und auch mehr junge
deutsche Studenten und Nachwuchswissenschaftler ins
Ausland zu vermitteln, dann ist das gut. Aber die Situation, wie wir sie vorfinden, ist auch aus dem Zusammenhang von zwei politischen Lebenslügen der konservativen
Seite heraus zu erklären, nämlich der ersten Lebenslüge,
wir hätten in Deutschland zu viele Studenten, und der
zweiten Lebenslüge, wir bräuchten keine Zuwanderung
und wir hätten keine Zuwanderung.
({1})
Natürlich erkennen wir es an, wenn ein Minister wie
Herr Zehetmair in Bayern dies ebenfalls ausdrücklich
selbstkritisch sagt. Es ist gut, wenn dies aus der Spitze heraus gesagt wird. Aber die Lebenswirklichkeit von Studentinnen und Studenten, das, was sie, wenn sie aus dem
Ausland zu uns kommen, in Hochschulstädten - kleineren
oder größeren - erfahren, wird natürlich nicht durch Herrn
Zehetmair wesentlich mitgeprägt. Das wird vielmehr dadurch mitgeprägt, wie sich der Kaufmann an dem Studienstandort verhält, wie sich dort Reinmachefrauen verhalten,
wie Dienstleister, Pförtner, Busfahrer und andere sich verhalten. An dieser Stelle haben wir alle zusammen die Aufgabe, uns von Lebenslügen zu verabschieden und daran
mitzuwirken, ein anderes Klima zu schaffen. Da haben Sie
als Volkspartei eine große Verantwortung. Wir glauben,
dass Sie sich in dieser Verantwortung bewähren können,
und möchten dies dann auch ausdrücklich anerkennen.
Denn das würde uns nach vorne bringen.
({2})
Die vier Zahlen, die wir jetzt in diesem Bereich vorfinden - 7 Prozent ausländische Studenten, 5 Prozent ausländische Professoren, 5 Prozent ausländische Doktoranden und nur 10 Prozent deutsche Studenten, die
Auslandserfahrung haben -, sind zu gering. Wenn wir uns
diese vier Zahlen im Parlament auch parteiübergreifend
merken, dann hat die Opposition das Recht, nach einiger
Zeit zu fragen: Haben sich diese Zahlen verbessert? Aber
wir alle zusammen haben die Pflicht, mit diesen Zahlen in
der Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, welche
großen Reserven dort für uns erschlossen werden müssen.
({3})
Selbstgenügsamkeit und Verharren im eigenen Umfeld
sind nicht mehr angesagt. Statt der nationalen Wagenburg,
in der sich manche von ihrer Mentalität her noch finden,
brauchen wir als Leitbild für die Zukunft einen internationalen Bildungsmarktplatz mit breiten, fairen Zugängen,
mit Vielsprachigkeit und kultureller Vielfalt, mit Spitzenleistungen und hervorragender Grundqualifikation. Frau
Ministerin Bulmahn hat ja mit Recht darauf verwiesen,
dass in einer längeren Linie schon deutliche Entwicklungen eingeleitet worden sind. Aber der politischen Gerechtigkeit halber darf man wohl doch sagen: Unter der neuen
Regierung ist eben ein anderer Zug eingetreten; Bildung
und Forschung haben wieder den notwendigen Stellenwert erhalten, den sie unter dem damaligen Bundeskanzler Kohl leider nicht hatten.
({4})
Die Diskussion um die Green Card hat der Gesellschaft
die Augen geöffnet, wo es vorher an Mut gefehlt hat. Es
gibt eben auch wieder deutlich mehr Geld für Hochschulen und Forschung durch den Bund. Während bei Rüttgers
die Mittel um 700 Millionen DM nach unten gegangen
sind, sind sie bei Frau Bulmahn um 2,4 Milliarden DM
nach oben gegangen. Das dürfen wir wohl doch noch sagen, und zwar selbstbewusst und freudig sagen.
({5})
- Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie sich doch mit
freuen, Herr Hirche.
({6})
Wenn Sie im Übrigen diese Zahl nicht hören mögen,
will ich dem Parlament gerne von dem Erlebnis berichten,
das wir neulich mit dem DAAD-Vizepräsidenten, Professor Huber, im Ausschuss hatten, der von den neuen
finanziellen Ressourcen ganz begeistert war. Sein Kollege von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, Professor Frühwald, hat sogar gesagt, man müsse sich Mühe geben, die Mittel, die jetzt diesen Institutionen zugeflossen
sind, überhaupt seriös auszugeben. Diese Zahl mag sich
das ganze Parlament merken: Die Mittel für die Internationalisierung der Lehre und Forschung sind von 1998 bis
2002 um 140 Prozent gewachsen - eine wirklich eindrucksvolle Zahl.
({7})
Die Fachprogramme sind im Übrigen dabei, sich in der
internationalen Hochschul- und Forschungswelt einen
guten Namen zu machen, vom Graduierten-Kolleg über
das Emmy-Noether-Programm bis zu international ausgerichteten Studiengängen und auch dem neuen Testsystem
für Deutsch als Fremdsprache. Dass die „Zukunftsinitiative Hochschule“ darüber hinaus noch zusätzlich 170 Millionen DM für Exzellentenförderung erhalten hat, darf
man hier ebenfalls erwähnen. Nicht zu vergessen die
BAföG-Reform, mit der wir ja die Schwächen des europäischen Erasmus-Programms ausgleichen.
Unser Ziel muss immer ein doppeltes Ziel sein: mehr
ausländische Studenten und Nachwuchswissenschaftler nach Deutschland zu holen und mehr deutsche Studenten und Nachwuchswissenschaftler ins Ausland zu
schicken. Wir haben uns für die nächsten Jahre 20 Prozent
als Zielgröße gesetzt. Im Übrigen muss diese Verdoppelung nicht nur die Uni-Absolventen erreichen, sondern
auch die Fachhochschulen, denn bei den Fachhochschulen haben wir im Unterschied zu den Universitäten einen
um den Faktor 3 geringeren Austausch. Wir müssen beide
Hochschularten zusammen betrachten.
({8})
Wenn ich mir an dieser Stelle eine Nebenbemerkung
erlauben darf: Internationalität wird gelernt. Sie muss
schon an den Schulen mit der Hinführung zu Fremdsprachen in der Grundschule, mit Mehrsprachigkeit, mit Ausbau von Schüleraustausch, mit internationalen Praktikumsplätzen vorbereitet werden.
({9})
Rund 20 000 deutsche Schüler mit Auslandserfahrung im
Jahr sind uns noch nicht genug.
({10})
Der französische Ministerpräsident Jospin hat in seiner großen Rede über Europa einen, wie ich meine, bemerkenswerten Gedanken geäußert. Er hat die Europäer
aufgerufen, dafür zu sorgen, dass jeder Schüler in EuDr. Ernst Dieter Rossmann
ropa die Chance bekommt, einmal in seinem Schulleben
vier Wochen im europäischen Ausland Erfahrungen
sammeln zu können. Das kann auch als Aufforderung an
uns gelten.
({11})
Auch Frau Süssmuth - ohne die Parteien damit behaften zu wollen - ist ausdrücklich darin zuzustimmen, dass
wir - wie sie kürzlich im „Forum Bildung“ gefordert hat mehr ausländische Lehrer an unseren Schulen brauchen.
Gegenwärtig unterrichtet hier nur eine minimale Zahl.
Das Leitbild für die Zukunft sollte im Übrigen der Europa-Lehrer sein; denn - auch wenn Sie eben sagten, das
wüssten wir doch alle schon, dürfen wir dies doch auch
gemeinsam öffentlich feststellen - wir dürfen uns sicher
sein: Wo Schülerinternationalität in den Schulen schon
praktisch und persönlich erlebt wurde, wächst auch die
Bereitschaft, sich in Studium und Berufsausbildung international zu orientieren.
({12})
Auf der anderen Seite unterstreichen wir ausdrücklich, was
Frau Ministerin Bulmahn und auch Herr Zehetmair kürzlich geäußert haben, nämlich dass die Zahl der ausländischen Studenten um 50 Prozent gesteigert werden soll.
In Deutschland zeigt das zweite Aktionsprogramm des
DAAD zur Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit vom Juni 2000 ein hoch differenziertes und qualifiziertes Handlungsprogramm auf. Wir wünschen uns,
dass viele Punkte daraus in die politische Agenda aller Beteiligten Einzug halten. Denn unsere gemeinsame Arbeit
muss langfristig, kooperativ und auch gleichzeitig komplex angelegt sein. Damit ist gemeint, dass wir vier
gleichwertige Handlungsfelder beschreiben: Hochschulreform im Zeichen von Internationalität, Verknüpfung
von Förderprogrammen und Stipendien mit besseren Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten, soziale Maßnahmen
für ausländische Studenten und auch das internationale
Hochschulmarketing.
Weshalb vier gleichwertige Handlungsfelder? Es nützt
doch nichts, die Strukturen an den Hochschulen zu internationalisieren, wenn die Studenten nicht hierher kommen können, weil sie keine soziale Unterstützung bekommen und keine Arbeit haben.
({13})
Es reicht auch nicht, ein umfangreiches Marketing aufzubauen, wenn die entsprechenden Strukturen an den
deutschen Universitäten nicht ermöglichen, Hochschulsysteme kompatibel zu gestalten.
Wenn deutlich mehr ausländische Studenten zu uns
kommen sollen, müssten sie hier auch entsprechende finanzielle Möglichkeiten bzw. Arbeitsmöglichkeiten in
den Hochschulen selbst vorfinden. Deshalb betone ich
noch einmal ausdrücklich: Man kann sich nicht auf eines
konzentrieren, sondern es muss gleichwertig in vielen
verschiedenen kleinen Schritten wachsen.
Ich möchte abschließend zu den vier angesprochenen
Handlungsfeldern jeweils eine kurze Bemerkung machen.
Wir unterstützen es erstens, wenn die deutschen Hochschulen in die Gründung von Außenstellen und Außenstudiengängen eintreten. Wir wünschen uns, dass diese
Offshore-Hochschulen dann auch die nötige Offenheit
und Zugänglichkeit aufbringen und sich eben nicht als
Elitehochschulen abschotten. Wir sehen große Chancen
der Internationalisierung vor allem auch darin, dass das
breite Netz von qualifizierten Hochschulen bei uns in eine
verstärkte Kooperation, was die Abschlüsse angeht, eintritt. Damit besteht dann ein anderes Fundament als nur
mit Offshore-Gründungen allein.
Zweitens. Weshalb verknüpfen wir die Forderung nach
dem Ausbau von Stipendien für ausländische Studenten
mit der Veränderung bei den Arbeitsmöglichkeiten? Professor Huber hat uns kürzlich im Ausschuss dargelegt,
dass sich im Gespräch mit ausländischen Studenten jede
dritte Frage auf die Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland
bezieht. Dies darf uns auch deshalb nicht wundern, weil
nur jeder vierte ausländische Student über ein Stipendium
verfügt und fast 60 Prozent der Studenten aus wirtschaftlich schwächeren Ländern angeben, das Studium durch
eigenen Verdienst zu bestreiten.
Von diesen Zahlen ausgehend ist es doch klar, dass nur
der bessere Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit und zur
studienbegleitenden Arbeit zusätzliche Studentinnen und
Studenten ausländischer Herkunft zu uns führen wird. Die
Initiative der Ministerin wird von uns ausdrücklich begrüßt. Wir wünschen uns, dass nach der Vorlage des
Süssmuth-Berichtes schnell und einvernehmlich eine gemeinsame Initiative im Parlament zustande kommt, weil
sie auch wegbereitend für andere Fragen sein könnte.
Drittens. Wenn wir die Zahl ausländischer Studenten in
Deutschland um 50 Prozent steigern wollen, müssen wir
besonders bei den sozialen Maßnahmen treffsicher handeln. Ich möchte einen wichtigen Aspekt herausgreifen:
50 Prozent der ausländischen Studenten wohnen in Wohnheimen. Das ist natürlich ein Vielfaches mehr als bei
deutschen Studenten. Wir brauchen einen Ausbau der
Wohnheimkapazitäten, und zwar in Integrationsform.
Außerdem brauchen wir insgesamt mehr Tutorenprogramme in diesen Wohnanlagen.
({14})
Gleichgültigkeit und Distanz der Deutschen bis hin zu
Ausländerfeindlichkeit sind leider auch an unseren Hochschulen nicht ausgeschlossen. Der DAAD-Generalsekretär Bode musste kürzlich vermelden, dass immerhin an
fast einem Drittel der Hochschulen in Ostdeutschland
ausländische Studenten die Situation als bedrohlich empfinden. Gemeinsame kulturelle Initiativen, gemeinsame
Lerngruppen, Mentorenprogramme wie auch persönliche
Hilfen in allen Lebenslagen setzen hiergegen notwendige
Zeichen. Beispielhaft steht hier eine Initiative der Humboldt-Universität in Berlin - „With a little help from my
friends“ -, mit der sich diese Hochschule ihres großen
Namensgebers würdig erweist.
Viertens. Dass dieses soziale Netzwerk notwendig ist,
wird man bei dem erfolgreich gestarteten Programm
„Hochschulmarketing, Werbung für den Hochschul- und
Wissenschaftsstandort Deutschland“ nie vergessen dürfen. Ich sagte schon: Was nützt die beste Präsentation der
leistungsfähigen deutschen Hochschulen im Ausland,
wenn dadurch geworbene Studenten aus Afrika, aus Indien, aus China oder aus anderen Ländern Asiens und
Südamerikas - die dann im Unterschied zu englischen,
polnischen oder italienischen Studenten in Deutschland
auch erkennbar sind als ausländische Studenten - nicht
die soziale, die mentale, die geistige Unterstützung erfahren? Wenn Deutschland die Botschaft aussendet, wir sind
ein weltoffenes deutsches Hochschul- und Forschungsland, dann darf das eben nicht nur Marketing sein, sondern es muss Substanz dahinter stecken.
({15})
In diesem Sinne meine Schlussbemerkung. Frau Ministerin, Sie haben in diesem Jahr an der Stanford-University in Amerika die Vision ausgegeben: Die Hochschulen in Deutschland werden in den nächsten zehn
Jahren in doppelter Hinsicht eine integrative Funktion haben, indem sie Menschen aus aller Welt bei uns zu Forschung und Lehre versammeln und uns zugleich mit aller
Welt verbinden. Wir sollten vom Deutschen Bundestag
aus - und dies möglichst gemeinsam - alles tun, um aus
dieser Vision Wirklichkeit werden zu lassen.
Danke schön.
({16})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Norbert Hauser von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident!
Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte, anders als ich es vorgesehen hatte, Frau Sager ansprechen.
Frau Sager, das, was Sie hier über Kollegen der Union gesagt haben, war eine Unverschämtheit.
({0})
Sie haben behauptet, Kollegen unserer Parteien hätten in
Deutschland ein Klima geschaffen, in dem man über Arbeitsmarkt- und Ausländerpolitik nicht mehr in Ruhe habe
reden können.
({1})
Frau Sager, Sie wissen, dass dies nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.
({2})
Das ist Hamburger Wahlkampf. Damit wären Sie besser
in Hamburg geblieben. Damit haben Sie hier keinen konstruktiven Beitrag geleistet.
({3})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, Sie müssen sich langsam einmal entscheiden, was Sie denn nun wollen: Entweder Sie wollen
Dinge verändern oder sich permanent auf 16 Jahre Regierungszeit berufen. Aber hier Anträge abzulehnen - wie
das von der F.D.P. zu Recht dargestellt worden ist - und
als Begründung zu sagen, es sei ja 16 Jahre lang auch so
gewesen, das reicht nicht mehr aus.
({4})
Sie wollten Verantwortung und haben Verantwortung bekommen. Nehmen Sie diese wahr. Versuchen Sie nicht,
sich permanent hinter anderen zu verstecken. Das funktioniert nicht mehr.
({5})
Meine Damen und Herren, ich möchte versuchen, in
aller Ruhe ein paar Sachpunkte anzusprechen. Wie verfahren die Situation bei mangelnder Vorausschau in der
Bildungspolitik sein kann - wir haben das in den letzten
zwei Jahren gemerkt-, sieht man am bestehenden Fachkräftemangel. Bereits 1995/1996 hatte man festgestellt,
dass im Bereich der Ingenieurwissenschaften etwa 10 000
Fachkräfte fehlen.
({6})
- Ja, Herr Kollege Tauss, etwas Ähnliches habe ich erwartet. Die Antwort des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten, Gerhard Schröder, darauf war, den Studiengang Informatik an der Fachhochschule Hildesheim
zu schließen.
Da sollten Sie also ganz vorsichtig sein.
({7})
Wir haben aber festzustellen, dass dieser Fachkräftemangel nicht nur hier in der Bundesrepublik Deutschland
besteht, sondern dass er auch ein europäisches Phänomen
ist. Deshalb reicht es nicht aus, einmal schnell zum Nachbarn zu gehen und sich ein paar Fachkräfte herüberzuholen.
({8})
Die Green Card, Herr Kollege, war unter diesem Aspekt
tatsächlich nicht mehr als ein Marketinggag von Gerhard
Schröder. Wir haben das dann gemerkt.
({9})
- Eine Lösung der Probleme hat sie zumindest nicht dargestellt.
Deshalb möchten wir Ihnen einen Vorschlag machen
und mit Ihnen über diesen diskutieren. Um in Zukunft
nicht in die totale Fachkräftefalle zu geraten, benötigen
wir eine fundierte Vorausschau. Wir müssen darüber
nachdenken, wie sich die Märkte in Zukunft entwickeln
werden und welchen Fachkräftebedarf wir haben werden.
Wir müssen feststellen, dass die Institutionen, die sich mit
diesen Fragen auseinander setzen - wenn sie bisher überhaupt in diese Richtung geforscht und Untersuchungen
durchgeführt haben -, nicht zu Ergebnissen gekommen
sind, die uns wirklich weiterhelfen.
Deshalb schlagen wir Ihnen ein Gremium vor, das sich
unabhängig von Interessengruppen damit auseinander
setzt, wie die Bildungslandschaft in den nächsten Jahrzehnten gestaltet werden muss. Wir schlagen Ihnen einen
Sachverständigenrat Bildung vor. Aufgabe der Bildungsweisen - so will ich sie einmal nennen - in diesem
Sachverständigenrat soll die Analyse und Bewertung von
Bildungs-, Ausbildungs- und Qualifizierungstrends mit
Blick auf langfristige Entwicklungen einerseits und einem Abgleich mit staatlichen und gewerblich gesetzten
Zielen andererseits sein.
({10})
Ähnlich wie wir es schon von den fünf Wirtschaftsweisen
kennen, sollten von diesem Gremium Gutachten erstellt
werden, in denen Zukunftstrends beschrieben und Strukturempfehlungen gegeben werden. Damit könnte dieser
Sachverständigenrat in unserem Bildungs- und Ausbildungssystem eine Art Frühwarnsystem darstellen.
Wir müssen feststellen, dass sich der Fachkräftemangel auch nicht kurzfristig beheben lässt. Wir
werden aus Ausbildungsgründen und auch aus demographischen Gründen kurzfristig nicht genügend junge Leute
auf dem Arbeitsmarkt haben. Das heißt, wir müssen verstärkt auf die Weiterbildung achten. Nun könnte man fragen: Wird denn dort genügend investiert? Pro Jahr werden
80 Milliarden DM investiert. Auf dem Sektor Weiterbildung gibt es 35 000 Anbieter. Man kann also nicht sagen,
da gibt es zu wenig Angebote, zu wenige, die sich damit
befassen. Das Problem ist eher die fehlende Transparenz.
Man weiß nicht, welche Angebote es auf diesem Markt
gibt. Es existiert keine unabhängige inhaltliche Qualitätskontrolle. Aufgrund fehlender Transparenz kann es auf
diesem Sektor natürlich keinen fairen Wettbewerb geben.
({11})
Deshalb haben wir einen Antrag zur Gründung einer
„Stiftung Bildungstest“ vorgelegt, die Weiterbildungsangebote bewerten und vergleichen, Qualitätsstandards
erarbeiten und festlegen und auf den Kunden ausgerichtet
sein soll, also nicht auf die Anbieter, sondern umgekehrt
auf die, die Angebote abfragen. Sie soll kundenorientiert
sein und die Möglichkeit bieten, festzustellen: Wo ist für
mich das richtige Programm, der richtige Anbieter, in den
ich meine Zeit, mein Geld und letztlich auch meine Hoffnungen investieren will? Nur so wird es möglich sein,
Qualität und Effizienz auf dem Bildungsmarkt zu gewährleisten.
({12})
Wir meinen, eine „Stiftung Bildungstest“ müsste eigenständig sein. Sie sollte nicht in einem vielfältigen Warenkorb bei der Stiftung Warentest angesiedelt sein, in der
man sich neben Windeln und Waschmitteln auch ein bisschen um Weiterbildung kümmert. Der Bedeutung von Bildung und Weiterbildung am Standort Bundesrepublik
Deutschland wird nur dann Rechnung getragen, wenn es
sich tatsächlich um eine eigenständige „Stiftung Bildungstest“ handelt.
({13})
Wir wissen, dass die „Stiftung Bildungstest“ in einem
Antrag, den Sie vorgelegt, aber heute leider nicht zur Debatte gestellt haben, von Ihnen gefordert wird. Das lässt
hoffen, hier zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen.
({14})
Zu dem Antrag bezüglich der Weiterbildung noch ein
Wort. Getreu typisch rot-grünen Strukturen scheint Sie,
ebenso wie in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik,
auch in der Bildungspolitik die Regelungswut nicht verlassen zu haben.
({15})
Sie suchen Ihr Heil in neuen Vorschriften und Paragraphen. Sie sollten sich eines merken: Deregulierung heißt
das Stichwort. Auch Weiterbildung kann nur erfolgreich
sein, wenn man ihr die Luft zum Atmen lässt.
({16})
Ich möchte Sie zum Abschluss - speziell Sie, Herr
Tauss - mit einem Zitat aus der „Berliner Zeitung“ erfreuen:
Die Launigkeit Schröders und die Knauserigkeit
Eichels wären aber nicht möglich, gäbe es nicht eine
Dritte im Bund der Reformschwächlinge: Bildungsministerin Bulmahn. Sie macht nicht überzeugend
und nicht laut genug Werbung für die Wissenschaft,
sucht sich keine starken Bündnispartner und scheut
Konflikte.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({17})
Herzlichen Dank für Ihr aktives Mithören.
({18})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loske vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege Hauser, ich hatte eigentlich in dieser Debatte
nicht vor, Sie anzusprechen. Nachdem Sie aber meine
Parteifreundin Krista Sager angesprochen haben, möchte
ich auf zwei Punkte Ihres Beitrags direkt eingehen.
Norbert Hauser ({0})
Erstens. Wenn ich mir vor Augen führe, was Sie mit Ihrer Kampagne „Kinder statt Inder“ in Nordrhein-Westfalen sowie mit dieser billigen und sehr gefährlichen Unterschriftenaktion in Hessen gemacht haben, und ich mir
weiter vor Augen führe, wie eine Person wie Frau Professor Süssmuth in Ihren eigenen Reihen an den Rand gedrängt wird, kann ich nur sagen: Frau Sager hat auf der
ganzen Linie Recht.
({1})
Zweitens. Sie sprachen davon, wir würden uns herausreden, nur über die vergangenen 16 Jahre reden und sollten lieber über die Zukunft sprechen. Dazu will ich Folgendes sagen: Wenn wir uns unsere Bilanz nach
zweieinhalb Jahren ansehen, haben wir, glaube ich, allen
Grund zum Selbstvertrauen:
({2})
BAföG - bei Ihnen runter, bei uns rauf -,
({3})
Forschungsmittel - bei Ihnen runter, bei uns rauf -, Mittel für das Auslandsstudium - bei Ihnen konstant, bei uns
verdoppelt ({4})
und Dienstrechtsreform - bei Ihnen Stillstand, wir packen
es an.
Wenn ich alles zusammenfasse, kann ich nur sagen:
Wir haben allen Grund zum Selbstvertrauen. Aber - ich
komme auf Ihre Ausführungen zurück - wenn Sie Statistiken aus den Jahren 1998, 1999 heranziehen, um zu belegen, wir würden bildungspolitisch nichts bringen, ist der
Hinweis erlaubt, dass die Ergebnisse der Statistik allein
auf Ihre Kappe gehen.
({5})
Wir sollten versuchen, weil wir in bildungspolitischen
Fragen - zumindest zwischen den Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitikern - mehr oder minder an einem
Strang ziehen, auf die Gemeinsamkeiten hinzuweisen.
Eine Gemeinsamkeit - ich habe das heute Morgen erkannt - besteht darin, dass wir alle der Meinung sind,
dass die Internationalisierung des Hochschulstandortes
Deutschland vorangetrieben werden muss. Ich glaube,
das ist ein bemerkenswerter Konsens, den wir festhalten
sollten.
Drei Themenkreise sollten in das Zentrum der Betrachtung rücken: zum einen die internationale Vergleichbarkeit von internationalen Studien- und Prüfungsleistungen - also die Frage, ob hierzulande erworbene
Abschlüsse und Leistungen im Ausland anerkannt werden und Respekt genießen -, zweitens die Frage nach den
aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Regelungen für ausländische Studierende - letztlich die Frage, ob für sie ein
soziales Umfeld geschaffen wird, in dem sich gut studieren, leben und arbeiten lässt; es ist wichtig, dass sie das
Signal bekommen, sie sind hier willkommen - und drittens die Attraktivität der deutschen Hochschulen für ausländische Lehrende, also die Frage, ob ausländische Wissenschaftler hier eher als Konkurrenz oder eher als
Bereicherung gesehen werden.
Ich komme zum ersten Thema, der internationalen
Vergleichbarkeit von Abschlüssen. Ich glaube, dass mit
den Bachelor- und Masterstudiengängen und den zunehmenden international ausgerichteten Graduiertenkollegs
ein guter Anfang gemacht worden ist. Wir sollten uns politisch vornehmen, vielleicht im Jahre 2003 Bilanz zu ziehen. Die Ministerin sprach davon, dass wir mittlerweile
mehr als 1 000 solcher Studiengänge haben. Wir sollten in
einigen Jahren schauen, wie die Bilanz aussieht, und uns
dann die Frage stellen, ob wir dauerhaft Doppelstrukturen - also B.A. und M.A. auf der einen und Diplom auf
der anderen Seite - wollen oder ob wir uns auf Dauer für
einen der beiden Wege entscheiden. Ich selbst habe mich
hier noch nicht festgelegt. Ich möchte an dieser Stelle aber
eines sagen: Wir sollten hier nicht auf eine bloße Kopie
des angelsächsischen Modells setzen; denn das deutsche
System hat durchaus Vorzüge, die es wert sind, erhalten
und weiterentwickelt zu werden.
({6})
Arbeiten müssen wir vor allen Dingen noch an der zunehmenden Modularisierung von Studiengängen, dass
es also Exit-Optionen gibt, dass man aber trotzdem am
Ende dieser Periode ein vernünftiges Testat in der Hand
hat, und an der Weiterentwicklung der Credit-Point-Systeme.
Ich glaube, dass Europa nun einmal der Kontinent der
Vielfalt ist. Dies schlägt sich selbstverständlich auch im
Bildungssystem nieder. Es kann nicht darum gehen, in Europa Vielfalt durch Homogenität zu ersetzen. Es geht vielmehr darum, einen europäischen Hochschulraum zu schaffen, in dem Studienleistungen wechselseitig anerkannt
werden. Mein Ziel ist, dass eine Studentin, die ihr Grundstudium in Köln und ihr Hauptstudium in Amsterdam und
London absolviert, nach neun bis zehn Semestern fertig
sein kann. Dann hätten wir sehr viel erreicht. Dafür müssen wir politisch arbeiten.
({7})
Über die Schaffung von Rahmenbedingungen für die
Förderung ausländischer Studierender ist schon viel gesagt worden. Ich glaube, es ist wirklich sehr gut, dass sich
die Bildungspolitiker hinsichtlich der aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Regelungen fraktionsübergreifend einig
sind. Es kann nämlich nicht sein, dass wir einerseits
sagen, Deutschland solle für Studentinnen und Studenten
aus aller Welt interessant werden, dass wir ihnen aber andererseits im außeruniversitären Bereich alle nur denkbaren Knüppel zwischen die Beine werfen. Das geht
nicht.
({8})
Es ist gut und richtig - auch darauf wurde hingewiesen -, dass die Bundesregierung zusammen mit den
Ländern und den Hochschulen eine internationale Marketingoffensive für das Studium in Deutschland gestartet hat. Aber die beste Werbung für den Hochschulstandort Deutschland wäre, wenn diejenigen, die hier
studiert haben, zu Hause erzählen: In Deutschland kann
man nicht nur gut studieren, sondern auch gut leben. Darauf sollten wir größten Wert legen.
({9})
Wir sollen dies auch - hier will ich an die Ausführungen des Kollegen Rachel anknüpfen - durchaus aus ökonomischem Eigeninteresse machen. Dies ist völlig legitim. Der globale Markt für Bildungsdienstleistungen ist
schon heute sehr groß und wird noch enorm wachsen.
Wenn wir auf diesem rasant wachsenden Markt mit großer
Konkurrenz dabei sein wollen, ist neben den objektiven
Bedingungen, über die wir hier schon geredet haben oder
noch reden werden, die Gastfreundschaft sicherlich nicht
die unwichtigste Voraussetzung.
({10})
Hinsichtlich der Stellen würde ich noch gerne auf einen
Punkt verweisen: Ich würde mich freuen, wenn die Internationalität auch im Bereich der Hochschullehrer Platz
greifen würde und beispielsweise mehr Ausschreibungen
im „Economist“ zu lesen wären, wie das bei anderen Universitäten längst üblich ist. Bei uns ist es immer noch die
Ausnahme. Man muss aber auch zur Kenntnis nehmen,
dass Voraussetzung dafür wohl die Dienstrechtsreform in
Deutschland ist. Hier sind wir auf dem besten Wege. Wir
werden nach den Parlamentsferien darüber diskutieren.
Es ist nun einmal schlicht und einfach so: Ein Land, in
dem man durchschnittlich 42 Jahre alt sein muss, um Professorin oder Professor zu werden, ist für viele junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Ausland
nur sehr bedingt attraktiv.
({11})
Ich möchte noch kurz auf einen Aspekt der Internationalität eingehen, der bislang noch nicht angesprochen
wurde. Es war hier viel vom Braingain die Rede. Die Ministerin und auch viele Kollegen haben es angesprochen.
Man muss natürlich berücksichtigen, dass dem Braingain
bei uns ein Braindrain, also ein Verlust an potenzieller intellektueller Kapazität, auf der Seite der Entwicklungsländer gegenübersteht. Dies ist ein ernst zu nehmendes
Argument, das man immer häufiger hört.
Daraus darf aber ganz sicher nicht - wie das manche
tun - der Schluss gezogen werden, Menschen aus Entwicklungsländern seien restriktiver zu behandeln als beispielsweise Menschen aus Nordamerika. Ich glaube, gerade Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den
Entwicklungsländern wollen erst einmal hierher kommen, eine Zeit lang hier leben und eine eigene wirtschaftliche Existenz aufbauen. Die Alternativen für sie heißen
meistens nicht, entweder hier zu bleiben oder in ihr Heimatland zurückzukehren, sondern sie heißen, entweder
hier zu bleiben oder nach Nordamerika zu gehen. Ich
glaube, unsere Antwort sollte klar sein.
({12})
Ich komme zum Schluss. In den F.D.P.-Anträgen sind
viele Themen angesprochen worden, die man nicht alle in
einem Redebeitrag abdecken kann. Aber auf eines will ich
noch hinweisen: Die Misere, die wir hier haben und die
anzugehen wir gemeinsam willens und bereit sind, wurzelt vor allen Dingen in den 90er-Jahren. In den 90er-Jahren wurde ein systematisches „cooling out“ betrieben, wie
es der Publizist Reinhard Kahl genannt hat. Wir haben nur
darüber geredet: Muss das denn mit dem Studieren sein?
Wir haben zu viele Studierende. Die Seminare und Hörsäle quellen über. - Das hat natürlich im Ergebnis dazu geführt, dass viele potenzielle Studentinnen und Studenten
abgeschreckt worden sind. Das kann nicht die Perspektive
sein.
Insofern müssen wir das Problem, das wir auch mit
dem Gerede von zu vielen Studentinnen und Studenten
selbst verschuldet haben, jetzt gemeinsam bearbeiten. Ich
glaube, wir sind hier auf einem guten Weg. Wir stehen
allerdings erst am Anfang.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ulrike Flach von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Manchmal habe ich den Eindruck, als gingen
wir wirklich mit sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen
an diese Debatte heran. Herr Dr. Rossmann, Sie haben uns
in wunderschönen himmelblauen Farben erzählt, wie seit
1998 die Forschungslandschaft in diesem Lande aussieht.
Seit zwei Tagen haben wir Zahlen auf dem Tisch liegen,
die deutlich beweisen, dass Deutschland in Europa
den vorletzten Platz - übrigens vor Italien - in der Forschungslandschaft einnimmt. Das sind neue Zahlen,
keine alten.
({0})
Sie belegen, was wir ja eigentlich auch tagtäglich bei der
Debatte über Stammzellen erleben: dass es eben keine
forschungsfreundliche und keine forschungsoffene Landschaft ist, mit der wir hier zu tun haben.
({1})
Deutschland ist übrigens weder das Forschungsland,
das Sie uns hier aufgezeigt haben, noch das Bildungsland
des europäischen Kontinents und es sieht auch nicht so
aus, als würden wir es in nächster Zukunft wieder so
schnell werden. Die Anzahl der Studierwilligen stagniert,
Frau Bulmahn - übrigens auch seit 1998. Darauf hinzuweisen, dass man mit alten Zahlen hantiere, ist - ehrlich
gesagt - zu leicht. Hinzu kommen auch noch ganz neue
Zahlen. Denken Sie daran: Nur 16 Prozent der Deutschen
schaffen einen Studienabschluss. Die Abbrecherquoten in
den Naturwissenschaften belaufen sich auf mehr als
60 Prozent. Gerade hier haben wir einen dramatischen
Nachwuchsmangel. Frau Bulmahn, das sind keine Zahlen, auf denen man sich ausruhen kann.
({2})
Da ist es auch nur wenig beruhigend, dass das Phänomen des Fachkräftemangels keine rein deutsche Erfindung ist. In den USA - das wissen wir alle - geht seit Jahren die Zahl der eigenen Studierenden ebenfalls zurück.
Aber dieses Land hat bei den Post Docs bereits einen Anteil von 60 Prozent Ausländern. Wir haben diese Leute
nicht.
Rund 600 indische Studenten sind derzeit an deutschen Hochschulen eingeschrieben. In den USA sind es
35 000. Es ist deshalb richtig, Frau Bulmahn - Sie haben
dabei unsere ausdrückliche Unterstützung -, dass Sie
außerhalb Deutschlands für das Produkt „deutsche Hochschulstandorte“ werben. Es ist gut, dass Sie zu diesem
Zweck einen Kurztrip in die USA gemacht haben; aber
noch besser wäre es gewesen, wenn Sie und Ihre Leute
wesentlich früher in Asien und in Osteuropa unterwegs
gewesen wären. Am allerbesten wäre es gewesen, wenn
Sie mit Ihren Kollegen Fischer und Schily ein ernsthaftes
Wort gesprochen und sich auch einmal durchgesetzt hätten.
({3})
Werbung ist gut, aber aktives Regierungshandeln ist
besser. Weder das Schließen von Goethe-Instituten noch
das Sparen bei deutschen Schulen im Ausland,
({4})
noch das ungelöste Problem, wie man ausländische Spezialisten nach dem Examen im Land halten kann, trägt
dazu bei, Menschen auf die Vorzüge unseres Standortes
aufmerksam zu machen.
Ich mache das einfach einmal am Beispiel Texas klar.
In diesem Staat der USA, der den größten deutschstämmigen Anteil aufweist, machen Sie die Goethe-Institute
zu. Was ist daran für diesen Standort werbewirksam, Frau
Bulmahn?
({5})
Ich will aber auch ganz klar sagen: Sie ackern sich ab,
während sich Ihre beiden Kollegen ganz offensichtlich als
Bremsfallschirme in dieser Regierung erweisen.
({6})
Ich bin sicher, Sie persönlich werden den Anträgen der
F.D.P. in vielen Punkten folgen können.
({7})
Ich bin umso sicherer, als Ihre Anträge unseren Anträgen,
die seit einem Jahr in diesem Plenum schmoren, fast auf
den Punkt genau ähneln.
({8})
Wo aber hakt es? Seit Monaten diskutieren wir die Notwendigkeit, ausländische Spezialisten nach dem Studium hier zu halten. Immer wieder geben Sie, Frau
Bulmahn, Interviews zu dringend erforderlichen Änderungen des Ausländerrechts. Nur, bewirkt haben Sie
nichts. Herr Kollege Niebel hat eben sehr deutlich gemacht, dass es selbst im Plenum zu Ablehnungen kam.
Die Zögerlichkeit der Regierungskoalition, wenn es darum geht, endlich ein modernes Zuwanderungsgesetz auf
den Weg zu bringen, lässt Ihre höchstpersönlichen Anstrengungen als Flickwerk erscheinen.
({9})
Ich wünsche Ihnen - auch Ihnen, Herr Kollege Tauss -,
dass dieses Gezaudere in der nächsten Woche endlich ein
Ende findet. Sie können sicher sein, dass wir als die Fraktion, die seit langem mit einem Zuwanderungsantrag im
Plenum vertreten ist, Ihre Vorschläge mit großem Ernst
und sehr zielorientiert begleiten werden.
({10})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber auch
etwas zu dem sagen, was wir alle gemeinsam stärken und
werbewirksam für unser Land einsetzen wollen: die deutsche Hochschullandschaft. Es ist in den letzten Jahren viel
geschehen. Unsere Hochschulen haben die Herausforderung zur Innovation angenommen, und dies trotz einer
klaren Unterfinanzierung. Um international zu bestehen,
reicht es aber trotzdem noch lang nicht aus. Wir alle, die
wir hier darüber debattieren, wissen das. Es gibt immer
noch einen deutlichen Bruch zwischen dem, was Sie, Frau
Bulmahn, über die Hochschule der Zukunft sagen, und
der Realität an Universitäten und Fachhochschulen.
An der Uni Potsdam - lassen Sie mich das an diesem
Beispiel festmachen - soll im Wintersemester nicht mehr
geheizt werden. Die Mittel der internationalen EuropaUniversität Viadrina - darüber reden wir heute den ganzen
Morgen - werden massiv gekürzt.
({11})
Wir registrieren einen katastrophalen Zustand der Landes- und Hochschulbibliotheken. Hier zeigt sich ganz
klar der Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit im
Bildungsbereich. Frau Bulmahn, es muss Sie doch geradezu erschrecken, wenn Sie in Amerika in eine Bibliothek
kommen und dort feststellen, dass sie 24 Stunden am Tag,
sieben Tage in der Woche geöffnet ist, und dann, wenn Sie
nach Hause kommen, an den Bibliotheken Schilder mit
der schönen Aufschrift „Öffnungszeiten: 10 bis 16 Uhr“
vorfinden. Das ist der Zustand in Deutschland.
({12})
Hier brauchen die Unis massive Hilfe. Hier muss der
Bund ein Signal setzen, und zwar trotz der Länderministerien, hinter denen Sie sich immer sehr gerne verstecken
und die nicht mitziehen wollen.
({13})
Meine Damen und Herren, die deutschen Hochschulen
sind nach wie vor unterfinanziert. Es ist auch zukünftig
mehr Geld nötig. Aber wenn Effizienz fehlt - das ist heute
wiederholt aufgezeigt worden -, ist Geld nicht alles. Die
Strukturreform der deutschen Hochschulen muss von den
kleinen Trippelschritten endlich in den Galopp kommen.
Das aber heißt - Frau Bulmahn, da hätten Sie sicherlich
die Unterstützung des ganzen Hauses -: Raus aus der
Umklammerung der Länderminister! Mehr Wettbewerb
der Hochschulen! Volle Autonomie bei Haushalt, Personal, Tarif und Organisation!
({14})
Nicht die Kultusbürokratie soll entscheiden, wer eingestellt und was angeboten wird, sondern die Hochschulen
in eigener Verantwortung.
Dazu gehört die konsequente Entrümpelung des Hochschulrahmengesetzes. Was Hochschulen selbst regeln
können, sollten sie tatsächlich selbst regeln. Ich hoffe,
Frau Bulmahn, dass das Hochschulrahmengesetz auch bei
Ihnen noch auf der Agenda steht.
({15})
In diesen Bereich fällt selbstverständlich auch das leidige
Thema „Abschaffung der ZVS“. Baden-Württemberg steigt
auf Druck der F.D.P. aus dem Staatsvertrag aus.
({16})
Dies müssen die anderen Bundesländer endlich ebenfalls
tun. Die Hochschulen müssen sich ihre Bewerber zukünftig selber aussuchen können, und zwar nach Qualifikation
und Motivation, nicht nach bürokratischen Verteilungsriten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „qualified in Germany“ muss ein Markenzeichen werden wie „made in
Germany“. Die gegenwärtigen Maßnahmen der Bundesregierung sind aus Sicht der F.D.P. ein sehr kleiner Schritt
nach vorn; aber sie reichen nicht aus. Wir haben mit unseren Anträgen zahlreiche Vorschläge vorgelegt. Ich bin
da ganz anderer Meinung als Herr Rossmann: Sie waren
dringend erforderlich.
({17})
Eine Zustimmung zu diesen Anträgen wäre ein gutes
Signal für die Bildung in Deutschland, ein gutes Signal
für mehr Leistung und Wettbewerb.
Frau Bulmahn, kommen Sie mit uns - raus aus der
Kreisklasse, rein in die Champions League!
({18})
Herr
Tauss, wenn Sie fertig sind, würde ich gerne den nächsten
Redner aufrufen.
Herr Kollege Peter Eckardt von der SPD-Fraktion hat
das Wort.
({0})
Nein, will er nicht.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu der Aufforderung der Kollegin Flach, den sieben
von der F.D.P.-Fraktion vorgelegten Anträgen zuzustimmen, möchte ich Folgendes sagen: Wenn Sie zum Beispiel
in einem Antrag schreiben, dass die Juniorprofessuren
nicht zielführend seien und die Hochschuldienstrechtsreform nicht geeignet sei, die Probleme an unseren Universitäten zu lösen, Sie aber heute in einer Zwischenfrage
sagen, Sie könnten sich trotzdem damit einverstanden erklären, dann habe ich natürlich große Probleme, zu begreifen, was Sie eigentlich meinen, ob nun das, was in Ihren Anträgen steht, gilt oder das, was Sie sagen.
({1})
Ich neige nicht dazu, eine Debatte über die Hochschulpolitik ausschließlich zur Vergangenheitsbewältigung zu
nutzen. Es ist zwar sinnvoller, über die Zukunft und die
Aufgaben, die vor uns liegen, zu sprechen. Aber ich muss
auf ein paar Punkte eingehen, die Sie vorhin angesprochen haben. Sie interpretieren die in der OECD- und der
TIMSS-Studie, auf die immer verwiesen wird, aufgelisteten Probleme so, als ob diese allgemein gültig seien, und
tun so, als ob erst Sie auf diese Probleme in Ihren heute
vorliegenden Anträgen aufmerksam gemacht hätten und
als ob diese Schwierigkeiten nur entsprechend Ihren Vorstellungen gelöst werden könnten.
Wenn Sie zum Beispiel die von Ihnen zitierten Nobelpreisträger in den USA und die Hunderte von Wissenschaftlern befragen, wann sie denn die Bundesrepublik
verlassen haben, dann werden Sie feststellen, dass sie
nicht erst seit 1998, seitdem die Sozialdemokraten die Bildungsministerin stellen, sondern schon in den 80er- und
90er-Jahren in Richtung Ausland verschwunden sind. Ich
weiß aus eigener familiärer Erfahrung, wie schwer es ist,
jemanden aus den USA zurückzuholen und ihn darum zu
bitten, hier zu bleiben. Das Argument, die meisten Wissenschaftler absolvierten in Deutschland Grundstudien
und verschwänden dann in die USA, um dort zu arbeiten,
ist zwar völlig richtig. Aber wir haben ein Interesse daran,
dass Wissenschaftler, die im Ausland Grundstudien absolviert haben, in die Bundesrepublik kommen und dass
die auf dem internationalen Arbeitsmarkt verfügbaren
Spitzenwissenschaftler nicht nur in einem Land, sondern
in mehreren Ländern gearbeitet haben.
Ich bin dem Kollegen Loske für seinen Hinweis sehr
dankbar, dass sich ein Land wie Südafrika darüber beklagt, dass nicht nur Neuseeland, Australien, die USA und
Kanada, sondern jetzt auch Deutschland um die dort vorhandenen etwa 350 postgradualen Studierenden konkurriert und dass es dadurch Probleme bekommt.
Herr Kollege Dr. Eckardt, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Flach?
Aber ja.
Danke, Herr Kollege Eckardt.
Ich habe eben deutlich gemacht, dass die F.D.P. der
Hochschuldienstrechtsreform selbstverständlich sehr positiv gegenübersteht. Aber Juniorprofessur und Kostenlimit sind genau die Knackpunkte, die in unserem Antrag
angesprochen werden. Deswegen meine Frage an Sie:
Teilen Sie meine Einschätzung, dass mit dem von Bundesregierung und Landesregierungen bisher festgelegten
Kostenlimit eine echte und für alle produktiv wirkende
Hochschuldienstrechtsreform überhaupt keine Chance
hat?
An den Hochschulen, die
ich in letzter Zeit besucht habe, konnte ich beobachten,
wie sich die Hochschulleitungen darum bemühten, sich
um die Teilnahme an einem Modellprojekt für Juniorprofessuren zu bewerben. Das erweckt bei mir den Eindruck,
dass es an den Hochschulen sehr viel Zustimmung zu unserem Vorhaben gibt.
({0})
- Es ist doch nichts Ehrenrühriges, wenn die Universitäten mit Sondergeldern ausgestattet werden, um ein neues
Verfahren zu etablieren, das jungen Wissenschaftlern die
Möglichkeit bietet, zu lehren.
Frau Kollegin, die Länder haben Spielraum - den Begriff „Kostenneutralität“ haben Sie ja nicht benutzt, obwohl Sie ihn eigentlich meinten - und können über das,
was vorgeschlagen worden ist, weit hinausgehen. Kein
Land wird daran gehindert, seinen Professoren mehr zu
bezahlen, als im Hochschulrahmengesetz vorgesehen
ist. Ich habe gehört, dass zum Beispiel 25 Prozent der Kolleginnen und Kollegen in München, die nach C 4 bezahlt
werden - meistens sind es Kollegen -, schon jetzt von der
Ausnahmeregelung des Beamtengesetzes, Bezahlungen
bis B 10 zu ermöglichen, profitieren. Damit wird in den
Konkurrenzkampf zwischen Nord und Süd um Professoren ganz erheblich eingegriffen.
Herr Kollege Dr. Eckardt, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage
der Kollegin Flach?
Bitte.
Bitte
schön, Frau Flach.
Herr Kollege Eckardt, Sie haben mich natürlich neugierig gemacht. Könnten Sie mir
bitte sagen, welche sozialdemokratisch bzw. rot-grün
regierten Länder bereit sind, die Kostenneutralität aufzuheben und entschieden mehr Geld für die Professoren auszugeben?
Frau Kollegin, Sie wissen,
dass in den nächsten Jahren über 60 Prozent des wissenschaftlichen Personals in der Bundesrepublik Deutschland in den Ruhestand treten werden, weswegen die
Länder nach Professoren und nach wissenschaftlichen
Mitarbeitern suchen werden. Wie Sie beschrieben haben,
unterliegt man der internationalen Konkurrenz auf dem
Markt.
Meiner Ansicht nach - ich kenne die Universität von
innen - werden die Länder alle Anstrengungen unternehmen, die notwendigen Finanzmittel für den Wissenschaftsbetrieb, also für Forschung und Lehre, bereitzustellen. Wer das nicht tut, der wird in der Auseinandersetzung der Bundesländer den Kürzeren ziehen. Auch die
so genannten ärmeren Länder müssen wissen, dass sie,
was die Auseinandersetzung mit den so genannten reicheren Ländern angeht, in noch größere Schwierigkeiten geraten, wenn sie ihre entsprechenden Etats nicht aufstocken. Ich bin optimistisch, dass auch diejenigen, die
jetzt pokern und sagen, dass sie so viel nicht geben wollen, nachher mehr zahlen werden. Wenn das geschieht,
dann wird es eine Chance geben, die Kolleginnen und
Kollegen in diesem Bereich ganz gut zu besolden.
({0})
Dass die Universität Hildesheim - übrigens, Herr
Hauser, es war die Universität - einen Informatiklehrstuhl
gestrichen hat, hat nichts damit zu tun, dass es in Niedersachsen keine Informatik mehr gibt; vielmehr ist die Anzahl der Bewerber so dramatisch gesunken, dass das Land
keinen Bedarf mehr für diesen Lehrstuhl sah. Der DIHT,
die Arbeitgeberverbände, Siemens, Bosch, Mercedes und
die damalige Regierung haben gesagt: Eigentlich brauchen wir gar keine Akademiker. Macht lieber eine Berufsausbildung! Ich habe noch das Wort eines Kanzlers im
Ohr:
({1})
1,8 Millionen Studierende sind zu viel; wir brauchen wesentlich mehr als 1,8 Millionen Auszubildende. Man muss
bedenken, was für eine Motivation das auf die Schüler in
den 10. und 11. Klassen ausübt. Es ist doch notwendig,
über die Vergangenheit zu reden. Bildungsprozesse kann
man nicht kurzfristig verändern; vielmehr handelt es sich
um Prozesse, die über einen Zeitraum von zehn bis
15 Jahren andauern. Jetzt haben wir die Folgen davon,
dass in den 80er- und 90-er Jahren so eine Motivation geherrscht hat - und ich denke, das ist nicht richtig.
({2})
Der Kollege hat die Stiftung Warentest - ich erinnere
an Babynahrung und Windeln - angesprochen. Sie sollten
diese Stiftung und ihre Zeitschrift einmal etwas besser unter die Lupe nehmen. Es handelt sich im Wesentlichen um
eine Stiftung, die die gesamte Angebotsbandbreite,
einschließlich Weiterbildungseinrichtungen und Akademien, untersucht. Es ist nicht besonders sinnvoll, sich
über diese Einrichtung kritisch zu äußern.
({3})
Ich habe in dieser Debatte gelernt, dass wir für die Universitäten, die Fachhochschulen und die akademische
Ausbildung insgesamt mehr tun müssen. Ich glaube, diese
Auffassung ist hier weit verbreitet. Die in dieser Debatte
sichtbar gewordenen Differenzen sind vielleicht weniger
groß, als es scheint.
Zum Schluss möchte ich noch eines sagen: Ich fand
es - auch gegenüber meinen Kolleginnen und Kollegen an
den Hochschulen - nicht gut, dass hier unwidersprochen
gesagt wurde, es gebe keine deutschen Spitzenuniversitäten. Das ist mitnichten der Fall.
({4})
Da ich aus der Nähe von Hannover komme, möchte ich
auf Folgendes hinweisen: Forschungseinrichtungen der
Universität Hannover und auch der Medizinischen Hochschule Hannover können in hohem Maße mit internationalen Universitäten, zum Beispiel mit solchen in Amerika, Schritt halten.
Frau Kollegin Flach, Sie haben zu Recht gesagt: Es
gibt im Bildungsbereich nichts, was man nicht noch besser machen kann. Die Ministerin und die Koalitionsfraktionen befinden sich auf einem ganz guten Wege.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Martin Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in diesem
Hause unbestritten, dass Deutschland ein großes Interesse
daran hat, dass mehr junge Ausländer in Deutschland
studieren. Die Worte zur Begründung sind bereits gesagt
worden; ich möchte sie nicht wiederholen. Es ist auch
schon vieles darüber gesagt worden, wie wir Anreize dafür schaffen können. Von daher möchte ich jetzt nur noch
auf einige Punkte eingehen.
Das wichtigste Kriterium für junge Leute aus dem Ausland, in Deutschland zu studieren, ist die Qualität der Ausbildung.
({0})
Am Beispiel amerikanischer Eliteuniversitäten kann man
feststellen, wie junge Leute aus Amerika und aus dem
Ausland in diese Universitäten hineindrängen. Dabei ist
es kein Hindernis, dass diese Universitäten zum Teil sehr
hohe Studiengebühren verlangen. Ich bin der Meinung,
dass der Ansatz der SPD, ein Verbot von Studiengebühren
auszusprechen, absolut falsch ist,
({1})
weil dies die Schaffung von Eliteuniversitäten und neuen
Ausbildungsformen in Deutschland behindert.
({2})
Jedenfalls werden Sie mit dem Verbot von Studiengebühren keinen einzigen zusätzlichen Studenten aus dem
Ausland nach Deutschland holen.
({3})
Die Australier sind im Übrigen so verwegen, dass sie
glauben, mit Studenten aus dem asiatischen Raum viel
Geld verdienen zu können. In Deutschland würde ein solches Vorgehen von den Linken sofort als Kommerzialisierung diffamiert. Ich sage dazu: Es ist zwar sehr schwer,
mit Hochschulausbildung Geld zu verdienen. Es ist aber
nicht unanständig, mit Bildung Geld zu verdienen.
Herr Kollege Mayer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Ja.
Bitte
schön, Herr Tauss.
Lieber Herr Kollege Mayer, ich
habe gerade mit großem Interesse Ihre Bemerkungen und
Anmerkungen zum Thema Studiengebühren zur Kenntnis
genommen. Darf ich aus dem, was Sie gesagt haben,
schließen, dass CDU und CSU in Abweichung von dem,
was beispielsweise beim letzten CDU-Bundesparteitag
diskutiert worden ist, nun für die Einführung von Studiengebühren sind?
Sie
dürfen aus meinen Äußerungen schließen, dass es sowohl
in der CDU als auch in der CSU Leute gibt - ich gehöre
dazu -,
({0})
die Studiengebühren nicht für völlig falsch halten. Jedenfalls sind wir strikt gegen ein Verbot von Studiengebühren,
({1})
weil es die Handlungsfreiheit der Länder und der Hochschulen einengt.
({2})
Mit wachsenden Möglichkeiten, Bildungsinhalte über
das Internet zu vermitteln, wird sich das Angebot von
Aus- und Weiterbildung zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickeln. Fachleute sprechen von einem Billionenmarkt. Die deutschen Hochschulen müssen sich dort
rechtzeitig positionieren.
Für die Frage, ob man in einem anderen Land studiert,
spielt natürlich auch die Stimmung eine große Rolle. In
diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass die
Hälfte der japanischen Studenten, die in Deutschland
studieren, Musik studiert. Warum studieren nicht mehr
Ingenieur- und Naturwissenschaften? Hat das etwa mit
dem geistigen Klima in Deutschland zu tun? Wer möchte
schon in einem Land Biotechnik studieren, in dem es eine
große politische Gruppe gibt, die die Biotechnik verteufelt?
({3})
Ich möchte Ihnen nun mitteilen, was mir eine junge
Frau, die in Amerika einen Graduiertenstudiengang absolviert hat, gesagt hat: Wenn man in Amerika auf einer
Party sagt, man studiere oder arbeite im Bereich Biomedizin und Biotechnik, dann sagen die Leute: Great, das ist
großartig. In Deutschland aber wenden sie sich dann ab.
Dafür, dass diese Stimmung entstanden ist, tragen auch
Sie Verantwortung.
({4})
Wir fragen uns, warum wir in den 90er-Jahren und
auch jetzt noch in Deutschland fast keine ausländischen
Studenten im Fach Informatik haben. Ich frage Sie: Wer
möchte denn in einem Land studieren, in dem es eine
breite Gruppe gibt, von den Gewerkschaften bis zu den
Linken, die in den 90er-Jahren bezüglich Chip und
Computer in erster Linie vom Jobkiller gesprochen haben?
({5})
Wo ist denn in Deutschland Begeisterung für die Möglichkeiten der bemannten Raumfahrt, für die Möglichkeiten der Forschung mit der Neutronenquelle, für den Transrapid oder für die Kernfusionsforschung, die Energie für
die nächste Hälfte des Jahrhunderts liefern kann, zu
spüren?
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Grünen und von Teilen der SPD, Ihre Technikfeindlichkeit
zerstört die Faszination, die junge Menschen brauchen,
um in diesen Bereichen zu studieren.
({7})
({8})
Den Linken dieses Hauses sei deshalb gesagt: Wenn Sie
wollen, dass sich mehr Studenten den Natur- und Ingenieurwissenschaften zuwenden und dass mehr ausländische Studenten nach Deutschland kommen, dann hören
Sie auf, bestimmte Techniken schlecht zu machen und
wecken Sie mit uns gemeinsam Begeisterung und eine
Aufbruchstimmung.
({9})
Ich gebe
dem Kollegen Klaus-Jürgen Hedrich für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon vor längerer Zeit, als wir diese Fragen auf einem Bildungskongress der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung diskutierten, fragte ich einen chilenischen Freund:
Sag mal, Eduardo, wohin schickst du deine Kinder zum
Studium? Die spontane Antwort war natürlich: Der Erste
geht in die Vereinigten Staaten, der Zweite bleibt in Lateinamerika. - In unserer Arroganz haben wir manchmal vergessen, dass es auch in Lateinamerika hervorragende wissenschaftliche Institute gibt. - Weiter sagte er: Der Dritte
geht nach Europa, vielleicht nach Deutschland. Dann
grinste er ein bisschen und sagte: Ich habe aber nur zwei.
({0})
Das berührt ein wenig das Problem, dass Europa und
damit auch Deutschland für viele Ausländer zu wenig attraktiv ist.
({1})
Selbst für die deutschen Minderheiten in vielen Ländern
dieser Erde, zum Beispiel in Lateinamerika, die noch in
den 60er- und 70er-Jahren wie selbstverständlich ihre
Kinder nach Europa und nach Deutschland zum Studium
oder zur Ausbildung schickten - übrigens nicht nur zum
Studium, sondern auch zu einer normalen Ausbildung -,
ist dies heute keine Selbstverständlichkeit mehr. - Vor
diesem Hintergrund, Frau Ministerin, ist es eben keine
Bagatelle, wenn zum Beispiel im Haushaltsentwurf für
das Jahr 2002 im Etat des Auswärtigen Amtes für die auswärtige Kulturpolitik rund 50 Millionen DM für die deutschen Auslandsschulen gestrichen werden.
({2})
Natürlich muss man bei manchen Zahlen in den Statistiken vorsichtig sein. So darf man bei den OECD-Zahlen,
auf die vorhin Frau Pieper, glaube ich, hingewiesen hat,
Dr. Martin Mayer ({3})
eine gewisse Skepsis anmelden. Eine andere Organisation
der Vereinten Nationen, die UNDP, hat vor vier Jahren
einmal eine Darstellung über die unterschiedlichen Bewertungen von Ländern veröffentlicht. Darin wurde zum
Beispiel das berufsbildende Schulwesen in den Vereinigten Staaten als besser dargestellt als das in Deutschland.
Daran kann man auch einmal sehen, wie problematisch
solche internationalen Vergleiche sind.
({4})
Wer sich übrigens ein wenig mit dem College-System in
den Vereinigten Staaten beschäftigt hat,
({5})
weiß, dass man gegenüber den bloßen Zahlen ein wenig
skeptisch sein sollte.
({6})
Der Kollege Eckardt hat vorhin auf das Beispiel der
Schließung des Informatikstudienganges in Hildesheim,
über das wir uns ja schon des Öfteren unterhalten haben,
hingewiesen. Wir führen dieses Beispiel doch nicht an,
weil wir bezweifeln, dass man möglicherweise aus Sparsamkeitsgründen Dinge zusammenlegen muss, sondern
vor dem Hintergrund, dass der damals zuständige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, der Ihnen ja nicht
völlig unbekannt sein dürfte, später in einer anderen politischen Funktion beklagt hat, dass wir zu wenig Informatiker ausbildeten. Als er noch Verantwortung als Ministerpräsident trug, hat er dazu beigetragen, dass dieser
Informatikstudiengang geschlossen wurde. Um diesen
Punkt ging es uns in diesem Zusammenhang.
({7})
- Ein bisschen kenne ich mich in Niedersachsen doch
noch aus. Sie können beruhigt sein.
({8})
- Manchmal muss man ja Dinge wiederholen, weil es so
schwer fällt, sie wirklich richtig zu inhalieren.
Frau Ministerin, Sie haben dann auf die letzten
16 Jahre verwiesen. Ich kann das ja verstehen; das gehört
alles zum politischen Geschäft.
({9})
Sie können sich darauf verlassen, wenn wir nächstes Jahr
wieder an die Regierung kommen,
({10})
werden auch wir immer wieder auf die hinter uns liegenden vier Jahre verweisen. Das gehört ja zum Spiel und
zum Geschäft dazu.
({11})
Sie sagten in diesem Zusammenhang, dass wir nichts
unternommen hätten, um zum Beispiel die internationale
Attraktivität der deutschen Universitäten zu erhöhen.
Ich kann Ihnen dazu aus einem Aufgabenbereich berichten, für den ich früher einmal mitverantwortlich war, nämlich dem der entwicklungspolitischen Kooperation. Wir
haben damals ein Programm zur stärkeren Kooperation
zwischen deutschen Universitäten mit ingenieurwissenschaftlichem Bereich und den entsprechenden sechs indischen ingenieurwissenschaftlichen Instituten auf den Weg
gebracht. Ausgerechnet dieses Programm haben Sie im
ersten Jahr Ihrer Regierungszeit gekürzt.
({12})
Dieses geschah, obwohl zum Beispiel ständig gefordert wird, wir müssten mehr indische Ingenieure nach
Deutschland holen - Indien war ja der Aufhänger. Sie
wussten dabei aber nicht, dass tatsächlich schon längst
Kooperationsmodelle zwischen deutschen und indischen
Universitäten speziell im ingenieurwissenschaftlichen
Bereich auf den Weg gebracht worden waren.
({13})
- Nein, so war es und so ist es. Die Mittelkürzung haben
Sie immer noch nicht zurückgenommen.
Der Kollege Loske - ihn möchte ich jetzt für einen Augenblick kurz ansprechen - hat ja darauf verwiesen, dass
wir stärker in internationale Kooperation einsteigen
müssten und dafür Mittel zur Verfügung stellen sollten.
({14})
Schauen Sie sich einmal den Etat der Entwicklungshilfeministerin für Bildung an! Sie kürzen diesen Etat um
sage und schreibe 400 Millionen DM - das sind 5,3 Prozent -, beklagen aber zum gleichen Zeitpunkt die Reduktion im Bereich der internationalen Kooperation.
({15})
Wenn ich übrigens gewusst hätte - ich hätte es wenigstens
ahnen können -, Kollege Loske, dass Sie dieses Thema
hier ansprechen, hätte ich Zitate aus dem Interview der
entwicklungspolitischen Sprecherin Ihrer Fraktion mitgebracht. Sie sagt zu den Kürzungen in diesem Einzeletat:
eine klare Verletzung der Prinzipien internationaler Solidarität. Das haben Sie mit zu verantworten.
({16})
Meine letzte Bemerkung, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich glaube, es ist trotz allen Streites unstrittig, dass
es eine Übereinstimmung darüber gibt, dass Deutschland
daran interessiert sein muss - ich will es einmal ein wenig
pathetisch formulieren -, dass es von den Besten dieser
Welt für attraktiv gehalten wird, nach Deutschland zu
kommen, hier zu studieren und zu arbeiten. Hierzu sind
wir gemeinsam verpflichtet.
Herzlichen Dank.
({17})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3339, 14/3518, 14/4270, 14/4271
und 14/5250 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit ist das Haus einver-
standen. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung auf Drucksache 14/6195 zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. zu einem Sonderprogramm zur Sicherung und
Erhöhung des Niveaus der Landes- und Hochschulbiblio-
theken am Wissenschafts- und Forschungsstandort
Deutschland. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/5105 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 4 g und h sowie Zusatzpunkt 3
und 4 wird interfraktionell Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/6209, 14/6212, 14/6437 und
14/6445 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. - Auch damit ist das Haus einver-
standen. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis h sowie die
Zusatzpunkte 5 a bis d auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von Kostenregelungen auf dem Gebiet des
geistigen Eigentums
- Drucksachen 14/6203, 14/6449 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 14. Juli 1967
zur Errichtung der Weltorganisation für geistiges Eigentum
- Drucksache 14/6260 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Familienförderung
- Drucksachen 14/6411, 14/6452 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung
Sonderausschuss Maßstäbe-/Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Krankenkassenwahlrechte
- Drucksache 14/6409 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Wohnortprinzips bei Honorarvereinbarungen für Ärzte und Zahnärzte
- Drucksachen 14/6410, 14/6450 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Regelungen über die Festsetzung von
Festbeträgen für Arzneimittel in der gesetzlichen
Krankenversicherung ({5})
- Drucksachen 14/6408, 14/6451 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen Nr. 182 der Internationalen
Arbeitsorganisation vom 17. Juli 1999 über das
Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit
- Drucksache 14/6107 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Carl-Ludwig Thiele, Klaus Haupt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Verbesserung der Familienförderung
- Drucksache 14/6372 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({9})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Iris
Gleicke, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter
Danckert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Albert
Schmidt ({10}), Franziska Eichstädt-Bohlig,
Helmut Wilhelm ({11}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes ({12})
- Drucksache 14/6434 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Küchler, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Reinhard
Loske, Hans-Josef Fell, Grietje Bettin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weiterbildung im Bildungssystem verankern Chancengleichheit stärken
- Drucksache 14/6435 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({14})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tobias
Marhold, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack,
Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({15}),
Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wissenschafts- und Hochschulkooperationen
mit Entwicklungs- und Transformationsländern
- Drucksache 14/6442 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von
Armut und sozialer Ausgrenzung
- Drucksache 14/6134 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({17})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Bei den Tagesordnungspunkten 30 b bis g und 27 handelt es sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 30 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen und
des Finanzverwaltungsgesetzes sowie zur Umrechnung zoll- und verbrauchsteuerrechtlicher EuroBeträge ({18})
- Drucksache 14/6143 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({20})
- Drucksache 14/6458 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Hansgeorg Hauser ({21})
Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
möchten, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 c:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 14/6370 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({23})
- Drucksache 14/6465 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Reuter
Martin Hohmann
Volker Beck ({24})
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/6465, den Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möch-
te, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustim-
men wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 d:
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({25}) zu den Unterrichtungen
durch die Bundesregierung
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Republik Ungarn andererseits eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme von
Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
KOM ({26}) 675 endg.; Ratsdok. 05234/00
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Republik Polen andererseits eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme von Vorschriften zur Koordinierung der Systeme
der sozialen Sicherheit
KOM ({27}) 676 endg.; Ratsdok. 05235/00
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Republik Bulgarien andererseits eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme von
Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
KOM ({28}) 677 endg.; Ratsdok. 05236/00
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Republik Estland andererseits eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme von
Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
KOM ({29}) 678 endg.; Ratsdok. 05237/00
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Slowakischen Republik andererseits
eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme
von Vorschriften zur Koordinierung der
Systeme der sozialen Sicherheit
KOM ({30}) 684 endg.; Ratsdok. 05238/00
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Republik Rumänien andererseits eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme von
Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
KOM ({31}) 683 endg.; Ratsdok. 05239/00
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Republik Slowenien andererseits eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme von
Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
KOM ({32}) 682 endg.; Ratsdok. 05240/00
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Republik Litauen andererseits eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme von
Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
KOM ({33}) 681 endg.; Ratsdok. 05241/00
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Tschechischen Republik andererseits
eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme
von Vorschriften zur Koordinierung der
Systeme der sozialen Sicherheit
KOM ({34}) 679 endg.; Ratsdok. 05242/00
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Standpunkt der Gemeinschaft in
dem durch die Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
der Republik Lettland andererseits eingesetzten Assoziationsrat zur Annahme von
Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
KOM ({35}) 680 endg.; Ratsdok. 05243/00
- Drucksachen 14/3146 Nr. 2.9 bis 2.18, 14/6312 Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Singhammer
Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6312, in
Kenntnis der Unterrichtungen eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 30 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 277 zu Petitionen
- Drucksache 14/6363 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 277 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 278 zu Petition
- Drucksache 14/6364 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 278 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 279 zu Petition
- Drucksache 14/6365 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 279 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 27:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie 2000/52/EG der Kommission vom 26. Juli 2000 zur Änderung der
Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der
finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen
({39})
- Drucksache 14/5956 ({40})
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2000/52/EG der
Kommission vom 26. Juli 2000 zur Änderung der
Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der
finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen
({41})
- Drucksache 14/6280 ({42})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({43})
- Drucksache 14/6460 Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Binding ({44})
Otto Bernhardt
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6460, die Gesetzentwürfe auf
den Drucksachen 14/5956 und 14/6280 als Transparenzrichtlinie-Gesetz in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen Kolleginnen
und Kollegen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zur Welle der
Beitragssatzerhöhungen in der gesetzlichen
Krankenversicherung
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die Antragstellerin zunächst dem Kollegen Wolfgang Lohmann das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es je einen wirklich wichtigen Grund für eine Aktuelle Stunde gegeben
hätte, dann diesen, den wir heute zu besprechen haben. Ich
könnte die Aktuelle Stunde allein damit bestreiten, Ihnen
Balkenüberschriften aus den unterschiedlichen Presseorganen vorzulesen. Dann wüssten Sie schon, was mit dieser Regierung los ist. Ich will Ihnen das aber nicht antun
und mich auf einige wenige Ausschnitte beschränken:
„Sozialdemokraten erhöhen Druck auf SPD-Ministerin
Schmidt“, „Nur noch das Nötigste von der Kasse?“, „Der
Druck auf die Gesundheitsministerin Schmidt wächst“,
„Arbeitspapier scheucht Gesundheitspolitiker auf“.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Das Arbeitspapier stammt aus dem Bundeskanzleramt;
der Kanzler droht jetzt anscheinend damit, dieses Thema
zur Chefsache zu machen.
({0})
Bisher war die Drohung, etwas zur Chefsache zu machen,
mehr an die Beteiligten gerichtet; denn dann gab es meistens nichts. Jetzt habe ich die Befürchtung, Frau Ministerin, dass die Drohung mehr gegen Sie gerichtet ist; denn
offensichtlich sind Sie nicht mehr in der Lage, das Ganze
im Griff zu behalten.
Ich lese Ihnen weitere Überschriften vor:
„Uns droht der Kollaps der Krankenkassen“, „Stückwerk“.
({1})
- Frau Schmidt-Zadel, Sie hören das nicht gern; das ist klar.
Aber da Sie gerne lachen, möchte ich noch die „Frankfurter
Rundschau“ zitieren. Dort steht unter der Überschrift „Ausgelacht“: „Die Offensive des Lächelns ... ist gescheitert.“
Meine Damen und Herren, allen Ablenkungsmanövern
zum Trotz: Die aktuellen Beitragssatzerhöhungen gehen
einzig und allein auf Ihren rot-grünen Murks zurück.
({2})
Es stellt sich wirklich die Frage, ob man diese Dreistigkeit
bewundern, die Ignoranz beklagen oder - man muss es
einfach sagen - die Dummheit aufseiten der Koalition bedauern soll,
({3})
nun auch noch herzugehen und den ehemaligen Gesundheitsminister Seehofer für den heutigen Zustand verantwortlich zu machen.
({4})
Sagen Sie jetzt bitte nicht, das hätte die Frau Ministerin nicht getan. Noch am Montag dieser Woche sagte sie
im „Focus“ - das müssen Sie nachlesen; das ist sehr interessant -:
... aber ich habe die Probleme auch nicht geschaffen,
sondern von der Vorgängerregierung übernommen.
({5})
Wissen Sie, was Sie 1998 von der Vorgängerregierung
übernommen haben?
({6})
Herr Präsident, die Koalition versucht jetzt, mich diese
wichtige Nachricht nicht übermitteln zu lassen. Ich
möchte darum bitten, das nicht zuzulassen.
Wissen Sie, was Sie übernommen haben?
({7})
Sie haben erstens von 1993 bis 1998 - sogar bis in das
Jahr 1999 hinein - eine Beitragssatzstabilität von 13,4
Prozent übernommen.
({8})
Zweitens haben Sie von 1997 und 1998 einen Überschuss
in der gesetzlichen Krankenversicherung von jeweils über
1 Milliarde DM übernommen.
({9})
Und Sie haben versprochen: Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen. Was bei dem Vieles-besser-Machen herausgekommen ist, sehen wir jetzt.
({10})
Wodurch ist das gekommen? Sie haben sich bemüßigt
gefühlt, nach der Wahl erst einmal Wahlgeschenke zu verteilen.
({11})
Damit haben Sie der gesetzlichen Krankenversicherung
Entlastungen, die sie hatte, genommen. Sie haben der gesetzlichen Krankenversicherung durch das Solidaritätsstärkungsgesetz neue Lasten aufgebürdet. - Ich könnte sie
alle aufzählen, aber die fünf Minuten Redezeit, die man in
einer Aktuellen Stunde bekanntlich hat, reichen dafür
nicht aus. - Und Sie haben es verstanden, den Wählern
- und vor allen Dingen den Versicherten - einzureden,
man könne weiterhin alles haben, ohne dabei einmal das
Wort Eigenverantwortung in den Mund nehmen zu müssen.
Nun sind wir in folgender Situation: Plötzlich war gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ von einem Papier die
Rede, das die Ministerin anscheinend nicht kennt.
Zunächst hat das Kanzleramt dies dementiert, dass es
überhaupt ein Papier gebe. - Ähnliche Informationen sind
übrigens schon einmal vor einigen Wochen in einer Zeitung erschienen; dies wurde damals ebenfalls dementiert. Vor dieser Debatte aber habe ich gelesen: Das Kanzleramt
bestätigt,
({12})
dass es dieses Papier gibt. Heute morgen um 8.45 Uhr waren Frau Wester, Ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende, und ich noch zusammen bei einem „Phoenix“-Interview, in dem sie danach gefragt wurde. Sie hat gesagt:
Ich kenne das Papier nicht.
({13})
Ich kann ihr helfen; ich kenne das Papier natürlich und
habe es. Sie können es gern von mir haben. Aber, man
kennt ja kein Papier.
({14})
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Herr Schmidt, sagte gestern, die Frau Ministerin oder
Wolfgang Lohmann ({15})
das Ministerium arbeite an einer grundlegenden Reform
- hört, hört! -, es sei nur noch nicht klar, wann Details bekannt würden, ob vor oder nach der Wahl. So haben wir
nicht gewettet, meine Damen und Herren!
({16})
Frau Ministerin, ich muss Sie jetzt einmal ganz persönlich ansprechen: Sie haben am 7. Mai den ersten Runden Tisch veranstaltet. Danach haben Sie beim Ärztetag,
wo ich mich auf der Seite der Zuhörer befand, ein freundliches Grußwort ausgesprochen. Darin haben Sie unter anderem - auch so ein bisschen mit Blick auf mich - gesagt:
Entgegen allen anders lautenden Meldungen sage ich hier
noch einmal, dass im Ministerium nicht an einem „Konzept
2003“ gearbeitet wird. Na klar, das mussten Sie ja sagen;
was sollen die Teilnehmer sonst am Runden Tisch, wenn im
Ministerium ohnehin etwas anderes erarbeitet wird.
Nun wird im Kanzleramt noch etwas anderes erarbeitet, was hinsichtlich der möglichen Eingriffe teilweise die
Vorstellungskraft übersteigt. Da wird dann natürlich über
Einkaufsmodelle gefaselt
Herr Kollege Lohmann, Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.
- mein letzter Satz! -, da wird den Leuten höchstwahrscheinlich das Recht der freien Arztwahl genommen.
Machen Sie sich Gedanken! Wir werden es Ihnen nicht
durchgehen lassen, dass Sie zwischen Runden Tischen
und lächelnden Grußworten Friede, Freude, Eierkuchen
verbreiten nach dem Motto: Wir werden es schon hinkriegen. Nein, wir wollen ein Konzept sehen - und zwar vor
der Wahl, meine Damen und Herren.
({0})
Das Wort
hat nunmehr die Parlamentarische Staatssekretärin bei der
Bundesministerin für Gesundheit, Kollegin Gudrun
Schaich-Walch.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Lohmann, ich bin doch beruhigt, dass Sie noch so viel Zeit
zum Zeitunglesen haben und es immer wieder schaffen,
einige Dinge zu diesem Thema zu sammeln und zusammenzustellen. Ich bin hierher gekommen, um Ihnen ein
paar Fakten ins Gedächtnis zu rufen.
Unter unserer Regierung sind die Beitragssätze bislang
seit 1998 bei im Durchschnitt 13,6 Prozent geblieben.
({0})
- Die Leistungen haben wir verbessert.
({1})
Wir haben die Zuzahlungen zurückgenommen, mit denen Sie ganz einseitig nur eines getan haben, nämlich
chronisch Kranke drangsaliert.
({2})
Sie waren diejenigen, die den jungen Menschen nicht einmal mehr Zahnersatz zugestehen wollten. Wir haben dies
wieder eingeführt. Es ist kein Fehler, wenn man Menschen in gesundheitlicher Bedrängnis hilft. Wir haben das
alles durch die Mehreinnahmen aus den 630-DM-Beschäftigungsverhältnissen finanziert.
({3})
Was haben wir von Ihnen übernommen?
({4})
Wir haben von Ihnen Ostkrankenkassen mit einer unglaublichen Verschuldungssumme übernommen. Mit den
Schulden hätten die Kassen, wenn sie sie hätten abtragen
wollen, die Versorgung im Osten nicht mehr gewährleisten können. Weil Sie uns das überlassen haben, haben wir
den Risikostrukturausgleich so angepasst, dass wir nach
zehn Jahren endlich einen gemeinsamen Rechtskreis haben
({5})
und dass von den Westkrankenkassen Mittel an die Ostkrankenkassen transferiert werden,
({6})
was, wie uns klar ist, für die jeweilige Kasse nicht unbedingt einfach ist.
({7})
Sie sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die
einzelnen Kassen eine unterschiedliche Politik betreiben.
({8})
Es gibt Kassen, die so kalkuliert haben, dass sie ihre Beitragssätze nicht erhöhen müssen. Es gibt aber auch Kassen, die die Beitragserhöhungen, die sie eigentlich hätten
vornehmen müssen, nicht vorgenommen haben und sich
jetzt in der Situation sehen, die Beiträge drastisch erhöhen
zu müssen. Damit müssen wir uns auseinander setzen.
Aber eine drastische Beitragserhöhung aller Kassen wird
es nicht geben.
({9})
Das aktuelle Problem der Entwicklung der Beitragssätze ist die Arzneimittelversorgung. Sie waren es doch
immer, die sich gewünscht haben, der Selbstverwaltung
Wolfgang Lohmann ({10})
Vorfahrt zu gewähren. Wir gehen dies jetzt an, während
sie mit Ihrem Wunsch nach mehr Vorfahrt für die Selbstverwaltung nicht einmal aus der Garage herausgekommen sind; Sie sind am Garagentor geendet.
({11})
Es gibt in diesem System durchaus Wirtschaftlichkeitsreserven. - Die gibt es in allen Bereichen und ganz
besonders im Arzneimittelbereich. - Wir werden adäquat
damit umgehen.
Wir werden mit dem neuen Gesetz erreichen, dass auf
der jeweiligen Ebene die Menschen sehen können, welcher Versorgungsbedarf tatsächlich besteht und womit
dieser Bedarf gedeckt wird.
({12})
Wenn man das gut macht, nämlich durch eine ordentliche
Beratung von Ärztinnen und Ärzten, werden wir alleine
im Bereich der Me-too-Präparate ein Einsparvolumen in
Höhe von 1 Milliarde DM erzielen. Das haben mir erst
diese Woche einige KV-Vorsitzende bestätigt.
Wir sorgen ferner mit dem Gesetzentwurf über die
Festbeträge im Arzneimittelbereich, der sich auch in der
Beratung befindet, dafür, dass die Preise nicht überborden
und die Krankenversicherungen durch die Reduzierung
der Preise auch einen Teil bekommen. Wir haben es
durchgesetzt; es wird die Festbeträge geben. Es werden
verloren geglaubte Mittel eingestellt. Letztendlich wird
auch die Positivliste, die Sie nicht mögen, was uns bekannt ist, vor allem die Qualität verbessern. Wenn Sie aufmerksam lesen, wie sich die Ärzteschaft dazu verhält,
dann wissen Sie, dass die Ärzte darauf warten, dieses qualitätssichernde Instrument für ihre Arbeit zur Verfügung
zu bekommen.
({13})
Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung ist es meiner Meinung nach absolut unangemessen, nun mit Hektik
zu reagieren.
({14})
Was dabei herauskommt, wenn man mit Hektik reagiert,
sollten Sie doch noch wissen. Sie haben im Reha-Bereich
von heute auf morgen Kürzungen in Milliardenhöhe vorgenommen und damit ganze Ortschaften im Kur- und
Reha-Bereich ruiniert. Sie haben damals Menschen in die
Arbeitslosigkeit getrieben.
({15})
Was Sie damals nicht erreicht haben, ist Folgendes: Sie
haben keine Verbesserung der Struktur erzielt. Aber die
strukturellen Veränderungen sind doch das Problem.
({16})
Das, was jetzt kurzfristig an Maßnahmen ergriffen
werden kann, ist in Vorbereitung; das ist geplant. Dazu
gehören die Neuordnung im Arzneimittelbereich, die
Festbeträge, aber auch der Risikostrukturausgleich, der
dazu beitragen wird, dass Patienten besser versorgt und
Lasten zwischen den Kassen besser ausgeglichen werden.
({17})
Langfristige Konzepte, wie wir sie haben, müssen ausgewogen sein und die Beteiligten einbeziehen. Es wird
auch sehr wichtig sein, das in einem Gesamtkonsens zu
sehen: die Versorgung kranker Menschen, aber auch die
Kalkulierbarkeit der im Gesundheitswesen vorhandenen
Arbeitsplätze.
({18})
Was Sie uns damals vorgemacht haben, war uns eine
absolute Lehre. Wir werden nicht mit Schnellschüssen Arbeitslosigkeit produzieren, wie Sie es getan haben, sondern wir werden sehr konsequent arbeiten. Auf dem Boden der solidarischen Krankenversicherung wird es in
Zukunft um mehr Qualität - denn daran mangelt es uns und um mehr Effizienz in dem gesamten Bereich gehen.
Wenn wir das hinbekommen haben, dann haben wir ein
ganzes Stück Wirtschaftlichkeit erzielt und die Zukunftssicherung unseres Systems gestärkt.
({19})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wenn man Sie von der Regierungskoalition so hört, hat man den Eindruck, sie machen eine
tolle Politik. Eigentlich hätte die Ministerin heute eine Regierungserklärung abgeben müssen
({0})
angesichts der Tatsache, dass die Beiträge nicht nur von
der einen oder anderen Krankenkasse, sondern - wie wir
sehen werden - in den nächsten Wochen und Monaten generell erhöht werden. Die Ankündigungen stehen im
Raum. Also: Die Charmeoffensive der Ministerin ist zusammengebrochen.
Man muss eindeutig feststellen: Man kann ihr nicht alles ankreiden; vieles muss man der Vorgängerin, den Grünen,
({1})
ankreiden, weil sie keine vernünftige Reform eingeleitet
haben.
({2})
Wenn ich jetzt, in dieser aktuellen Situation, die Vorschläge der Grünen höre, dann kann ich nur staunen, dass
sie dies nicht organisiert haben, als sie die Ministerin gestellt haben.
Auch jetzt wird nur hier und da an den Schrauben gedreht und das hilft unserem Gesundheitssystem nicht. Die
Ministerin müsste eigentlich eine echte Reform auf den
Weg bringen. Das aber, meine Damen und Herren, können Sie nicht, dafür sind Sie viel zu kraftlos, und das wollen Sie anscheinend auch nicht.
({3})
Sie sollten sich einmal Folgendes anhören: Wenn das
Kanzleramt jetzt eine Konzeption erarbeitet, in der zwischen Regel- und Wahlleistungen unterschieden wird, ertönt ein großer Aufschrei: „Da tut sich nichts!“ Wir in
Rheinland-Pfalz dagegen haben mit der SPD in der Koalitionsvereinbarung für den Bereich der Gesundheitspolitik definiert - ich war dabei! -:
({4})
In Zukunft wird es gewisse Bereiche geben, die solidarisch finanziert werden.
({5})
Daneben aber wird es auch einen Bereich geben, der vom
Arbeitnehmer allein finanziert wird.
({6})
Eine solche Regelung unterschreibt in Rheinland-Pfalz
Ministerpräsident Beck.
({7})
Und angesichts dessen wollen Sie uns erzählen, das sei
kein Thema, eine solche Diskussion gebe es nicht? Nein,
Sie sind zu feige, dem Bürger zu sagen, wohin der Zug geht.
({8})
Das ist unangenehm, aber es wird so kommen. Ich sage
für die F.D.P.: Wir wollen in diese Richtung gehen, aber
wir wollen gleichzeitig - das betone ich - eine vernünftige Steuerreform, durch die der Bürger entlastet wird, damit er auch finanziell in der Lage ist, sich für diese Wahloder Zusatztarife zu entscheiden. Das sind zwei Punkte,
die zusammengehören.
({9})
Dann hören wir, die Ministerin wolle einiges verändern, der Traum vom Mindestbeitrag werde nicht Realität und dennoch geht das Gesetz zum Risokostrukturausgleich auf den Weg. Wenn dies der Fall sein sollte, werden die Ausgleichsmechanismen dafür sorgen, dass wir
fast bei der Einheitsversicherung landen.
({10})
Von einem Wettbewerb kann überhaupt nicht mehr die
Rede sein.
({11})
Schauen Sie sich einmal an, wie schizophren das mit Ihrer Gesetzgebung ist. Wir sind alle für ein vernünftiges Disease Management. Meinen Sie tatsächlich, das sei ein
vernünftig organisiertes System, wenn der Präsident des
Bundesversicherungsamtes sagt, er brauche mindestens 70
bis 90 neue Mitarbeiter, um allein das Disease-Management-Programm für die bundesweiten Kassen zu überwachen?
({12})
Das ist Bürokratie hoch zwei.
({13})
Ich rede doch gar nicht davon, was Sie in den einzelnen
Ländern machen. Sie müssen den Apparat weiter ausbauen, um solche Disease-Management-Programme organisieren zu können. Sagen Sie einmal: Warum wollen
Sie immer stärker zur Bürokratie, zur Planwirtschaft übergehen? Geben Sie doch den Versicherungen die Chance
einer vernünftigen Vertragsfreiheit, um Wettbewerb dort
zu etablieren, wo es sinnvoll ist!
({14})
Ich füge hinzu: Die sozial Schwachen müssen geschützt
werden. Darüber kann es überhaupt keine Diskussion geben. Aber dort, wo es sinnvoll ist, muss Wettbewerb eingeführt werden. Das tun Sie nicht!
({15})
Von daher stelle ich fest: Wir werden Ihre Gesetzgebung, die jetzt auf den Weg gebracht wird, nicht unterstützen können. Legen Sie noch in dieser Wahlperiode ein
Gesamtkonzept auf den Tisch! Dann können wir miteinander diskutieren. Dann wissen wir, was Sie wirklich
wollen. Sie selber wissen es bisher nicht. Wenn Sie kein
Konzept auf den Weg bringen und wenn Sie den Bürgern
nicht die Wahrheit sagen, werden Sie mit Ihrer Gesundheitspolitik scheitern. Heute stehen wir vor dem Chaos
Ihrer Politik.
({16})
Herr Kollege Thomae, Sie haben Ihr Redemanuskript vergessen.
Oder wollten Sie es für Ihre Nachfolgerin liegen lassen?
({0})
Ich gebe jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
der Kollegin Katrin Göring-Eckardt das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Thomae, es hätte keine Gefahr bestanden; ich hätte
Ihr Redemanuskript nicht verwendet.
({0})
Dies hätte ich auch deshalb nicht getan, weil ich glaube,
dass der Charme, den Sie in Richtung Wettbewerb ausgestreut haben, vor allen Dingen eines ist: das Aus für die
Solidarität, und zwar zulasten der sozial Schwachen.
({1})
Denn die F.D.P.-Position ist nichts anderes als Freiheit
ohne Verantwortung. Das wird mit dieser Bundesregierung nicht zu machen sein.
({2})
Schauen wir uns die Situation einmal realistisch an:
({3})
Wenn wir schon über die Lohnnebenkosten sprechen - Sie
wissen, dass das für uns und für die Bundesregierung nach
wie vor ein zentrales Thema ist -, dann würde ich gerne
einmal in das Jahr 1998 und in die Jahre davor zurückschauen.
({4})
Wenn Sie sich die Kurven der Beitragsentwicklung in der
gesetzlichen Krankenversicherung ansehen, dann stellen
Sie fest, dass die Beiträge bis zum Jahr 1998 angestiegen
sind
({5})
und dass erst durch die Übernahme der Regierung durch
Rot-Grün Stabilität erreicht werden konnte. Die Stabilität
der Beitragssätze ab dem Jahr 1998 ist für die Politik, die
wir in dieser Regierung gemacht haben, ganz zentral gewesen. Das ist ein Erfolg für Rot-Grün und ein Erfolg der
damaligen Ministerin Fischer. Herr Lohmann, wir können
uns gut daran erinnern, wie Sie die Budgetpolitik der rotgrünen Bundesregierung gegeißelt haben und wie Sie
Andrea Fischer dafür angegangen sind. Angesichts dessen
kann ich nicht verstehen, dass Sie, wenn wir einen anderen Weg einzuschlagen versuchen, diese Politik genauso
geißeln. Sie sollten sich einmal ernsthaft entscheiden, wo
Sie überhaupt hinwollen.
({6})
Schauen wir uns einmal die Situation in Deutschland
an: Wir haben weltweit die zweithöchsten Ausgaben im
Gesundheitssystem. Im Hinblick auf die Versorgung haben wir bei weitem noch nicht einen Standard erreicht, der
dies vermuten ließe. 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes fließen in die Gesundheitskosten.
Sie sollten den Menschen nichts vormachen. Natürlich
gibt es im Gesundheitssystem Einsparmöglichkeiten.
Wenn wir doppelt so oft geröntgt werden wie die anderen
Europäer, wenn wir einerseits viel mehr Pillen schlucken
und die Menschen trotzdem nicht gesünder sind und andererseits beispielsweise im Bereich der Krebs- und der
Diabetestherapie Unterversorgung besteht, dann bedarf es
natürlich weiterer Strukturänderungen des Gesundheitssystems.
Bei der Beantwortung der Frage, wie wir weitere Änderungen des Systems erzielen können, möchte ich Sie
bitten, sich einmal an die eigene Nase zu packen. Wer hat
denn die Gesundheitsreform 2000 im Bundesrat gestoppt? Das waren die unionsregierten Länder.
({7})
Die haben verhindert, dass gerade im Krankenhausbereich
entsprechende Reformen angegangen werden können.
({8})
Die haben eine vernünftige Verzahnung des ambulanten
mit dem stationären Sektor verhindert. Die haben verhindert, dass eine ganze Reihe von Vorschlägen, deren Umsetzung wir für eine umfassende Strukturreform dringend
gebraucht hätten, umgesetzt worden ist.
({9})
Dafür tragen Sie die Verantwortung und sonst niemand!
So!
({10})
- Ich glaube nicht, dass das gut so ist. Vielleicht gefällt Ihnen das. Ich denke aber, das wird die Qualität der Versorgung in Deutschland nicht verbessern und vor allem weitere Auswirkungen auf die Beitragshöhe haben.
Was brauchen wir an weiteren Reformschritten und
was ist möglich, um die auf den Weg gebrachte Gesundheitsreform umzusetzen?
({11})
Ich sage Ja - und zwar ein ganz klares Ja - zur Wahlfreiheit für die Versicherten. Auf der anderen Seite aber muss
die medizinisch notwendige Versorgung solidarisch finanziert bleiben. Wir haben in dieser Woche im Ausschuss
über den Armutsbericht der Bundesregierung diskutiert
und übereinstimmend festgestellt, dass Arme in Deutschland kränker sind.
({12})
Ergebnis einer Reform, die wir in weiteren Schritten angehen müssen, darf nicht sein, dass Armut zu Krankheit
führt. Dafür steht, Herr Kollege Thomae, diese Koalition
nicht; dafür stehen Sie vielleicht mit Ihren Vorschlägen
für eine Grundversorgung, bei der das medizinisch Notwendige nicht für alle zur Verfügung steht.
({13})
Was brauchen wir weiter? Wir brauchen eine Positivliste, die zur Transparenz in der Versorgung führt. Wir
brauchen eine Stärkung des Hausarztsystems, was Sie
gerne blockieren wollen, und wir brauchen ein ganzheitliche Versorgung, die ihre Schwerpunkte auf Zusammenarbeit im System - Vorsorge, Behandlung und Reha - legt.
Dafür sind Sie - gerade in den Ländern - in der Verantwortung. Wir brauchen ein System, das die Patienten zum
Mittelpunkt der Versorgung macht und auf Augenhöhe
mit den Leistungserbringern hebt.
({14})
Wenn Sie sich hier hinstellen und nach Ihrem Konjunkturprogramm im Umfang von 92 Milliarden DM, das
Sie nicht gegenfinanziert haben, auch noch Vorschläge
machen, die die Kosten im Gesundheitswesen weiter in
die Höhe treiben, ohne einen einzigen Beitrag zu Strukturveränderungen zu leisten,
({15})
muss ich Ihnen sagen: Sie machen es sich zu einfach, und
zwar auf Kosten der Versicherten und Patienten. Das werden wir nicht mitmachen.
Vielen Dank.
({16})
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Werter Kollege Lohmann, wer so tut, als
seien die Ursachen für die heutigen Beitragserhöhungen
erst in den letzten Monaten entstanden, belügt die Öffentlichkeit.
({0})
Zur Wahrheit gehört: Sie sind das Ergebnis der Politik
von Jahren, und zwar einschließlich Ihrer Regierungszeit.
Es ist eigentlich völlig egal, wer regiert.
({1})
Aufgabe einer vorausschauenden Gesundheitspolitik ist
es immer, solche Erhöhungen möglichst zu vermeiden,
denn sie treffen die Arbeitnehmer und Rentner ebenso wie
die Arbeitgeber.
Allerdings - das vergessen alle - darf man die Gesundheitspolitik nicht isoliert betrachten. Gesundheitspolitik ist auch auf eine entsprechende Haushalts- und Finanzpolitik angewiesen. Beitragserhöhungen können
schon dadurch vermieden werden,
({2})
dass Regierung und Mehrheitsfraktionen dieses Hauses
die Einnahmen, die einzig und allein der gesetzlichen
Krankenversicherung zustehen, nicht ständig zweckentfremden,
({3})
um unter eklatantem Missbrauch der Gesetzgebungskompetenz den Bundeshaushalt zu entlasten.
Am stärksten wirken sich die Folgen der Rentenreform
von 1993 aus. Damals wurden die Krankenversicherungsbeiträge aus Lohnersatzleistungen auf 80 Prozent des
bisherigen Arbeitsentgeltes gesenkt. Die Kassen wiederum
müssen höhere Beiträge aus Krankengeld an andere Sozialversicherungsträger bezahlen. Seit 1996 belastet das die
GKV jährlich - ich betone: jährlich - mit rund 6 Milliarden DM. Gegen diese Politik der so genannten Verschiebebahnhöfe haben SPD und Grüne bis 1998 gekämpft und für
jedermann hörbar eine Änderung gefordert. Kaum an der
Regierung, hatte auch Rot-Grün alles vergessen, und wir
erleben die gleichen Taschenspielertricks.
So mussten 1999 zunächst die Pflegekassen durch die
gesetzliche Begrenzung der Beiträge aus Arbeitslosenhilfe Einnahmeausfälle von rund 400 Millionen DM hinnehmen. Nur ein Jahr später erfolgte der Zugriff auf die
Versichertenbeiträge der GKV. Seitdem fehlen bei der
GKV weitere 1,2 Milliarden DM jährlich. Dafür haben Finanzminister Eichel und Arbeitsminister Riester ihre
Haushalte erfolgreich entlastet. Es gibt noch weitere Entscheidungen von Regierung und Koalition mit ähnlicher
Wirkung, auf die ich aus Zeitgründen hier nicht eingehen
kann.
Meine Damen und Herren - und hiermit meine ich alle
in diesem Hohen Hause -, eines finde ich unglaublich
mies: Auf der einen Seite wird der Öffentlichkeit eine
Kostenexplosion im Gesundheitswesen vorgegaukelt, die
es so eigentlich gar nicht gibt, und auf der anderen Seite
redet kaum jemand davon, dass dieser Beitragsklau seit
Mitte der 90er-Jahre in der Summe den geradezu unglaublichen Umfang von über 50 Milliarden DM angenommen hat.
({4})
Wir fordern, endlich diese verantwortungslose Politik
zu beenden und der Versichertengemeinschaft das willkürlich abgezweigte Geld Schritt für Schritt zurückzugeben. Denn sein legitimer Verwendungszweck besteht einzig und allein in der gesundheitlichen Versorgung der
Versicherten.
Meine Damen und Herren von der Koalition, niemand
von uns leugnet, dass der Abbau bestehender Unwirtschaftlichkeiten im Gesundheitswesen eine ständige und
wichtige Aufgabe ist. Auch wir sagen: Niemand hat das
Recht, die Versichertengelder unnötig auszugeben oder
gar zu verschwenden. Allerdings hat die Gesundheitsreform 2000 erneut gezeigt, dass ein solches Vorhaben Zeit
benötigt und nicht im ständigen Konflikt bewältigt werden kann.
Das Bestreben, die Einnahmeseite der GKV zu stärken,
dürfen Sie aus Ihrer Politik nicht herauslassen. Dafür gibt
es noch weitere Instrumente, und zwar außerhalb von
Zuzahlung oder Wahlleistung. Dies nämlich sind Instrumente, die beide zusätzlich privat, ohne Arbeitgeberanteil, von den Versicherten getragen werden müssen.
Vorschläge, wie das strikt am Solidargedanken orientiert geschehen kann, liegen seit langem auf dem Tisch;
von uns genauso wie von Ihnen seinerzeit in der Opposition.
Jetzt sind Sie als Regierung gefordert, nicht nur verbale
Versprechen abzugeben. Notwendig ist eine gezielte Stärkung der Solidargemeinschaft. Damit würde auch den
Oppositionsparteien auf der rechten Seite des Hauses
eine - wie die heutige Debatte zeigt - äußerst demagogisch gehandhabte Angriffsmöglichkeit genommen.
Eines muss noch gesagt werden: Das Auftreten der
Union ist unverfroren, um nicht zu sagen: heuchlerisch.
({5})
Erstens ist sie für die heutige Situation mitverantwortlich
und zweitens werden ihre Rezepte für ein zunehmend
marktgesteuertes Gesundheitswesen noch viel teurer siehe USA.
({6})
Die Gesamtbelastung der Menschen, die dann aus gesetzlichen und privaten Beiträgen besteht, würde noch viel
größer werden.
({7})
Ich denke, die jetzigen Beitragserhöhungen sind für die
Union nicht mehr und nicht weniger als ein gefundener
Anlass, um davon abzulenken, dass sie eigentlich über
keine eigene und schon gar nicht über eine an den Interessen der Menschen orientierte Gesundheitspolitik verfügt.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile
dem Kollegen Horst Schmidbauer für die Fraktion der
SPD das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung punktueller Beitragssatzerhöhungen
({0})
fordert uns als Sozialdemokraten natürlich auch heraus.
Es ist nicht so, dass wir diese Herausforderung nicht sehen. Wenn ich mir aber die Behandlungskonzepte der Opposition, und zwar vor allem der CDU/CSU und der
F.D.P., anschaue,
({1})
kann ich nur feststellen: falsche Diagnose und falsches
Rezept. Man könnte fast meinen, es wäre ganz gut, Ihnen
einmal ein Qualitätssicherungsprogramm zu empfehlen.
({2})
Die Onkel-Dagobert-Methode, nämlich immer mehr
Geld ins Gesundheitssystem zu stecken, führt nicht zu
dem gewünschten Erfolg. Es ist das falsche Konzept.
Denn mehr Geld macht nicht gesünder. Dies sieht man daran, dass wir mit unseren Gesamtausgaben, gemessen am
Bruttosozialprodukt, in Europa an der Spitze stehen. Ich
denke, wir können den Menschen in Deutschland nicht
mehr zumuten, noch mehr Geld auszugeben, aber weniger Leistungen dafür zu erhalten.
({3})
Wir müssen umgekehrt Verantwortung für das Versichertengeld und die Beiträge übernehmen.
({4})
Wir müssen sorgfältig und erfolgsorientiert damit umgehen.
Wie eine solche Erfolgsorientierung aussehen kann,
wird doch am besten anhand der Feststellungen des Sachverständigenrats sichtbar. Professor Wille hat das ja sehr
schön bildlich dargestellt: Wir bezahlen in Deutschland
im Gesundheitswesen für einen 500er-Mercedes und bekommen als Gegenleistung einen 200er.
({5})
- Nein!
Genau diese Diskrepanz werden wir angehen müssen;
denn das ist das Problem, das uns letztlich herausfordert.
Wo wir stehen, sehen wir doch an den Leistungen: Diesbezüglich sind wir in Europa überall Mittelfeld, sei es gemessen an der Lebenserwartung, den Sterblichkeitsraten,
den Krebserkrankungen, den Herzinfarkten, den Kreislauferkrankungen.
Es geht also nicht mehr darum, mehr Geld in das System zu geben, sondern es geht darum, dafür zu sorgen,
dass wir über ein entsprechendes Qualitätsmanagement
die entscheidende Leistungsverbesserung erreichen.
Wir müssen auch deutlich sehen: Wenn wir Grund- und
Wahlleistungen vornehmen und den Menschen mehr Geld
abnehmen, so bedeutet dies eine Zementierung der überkommenen Strukturen, aber keine echte Reform.
({6})
Ich will an einem Beispiel darlegen, dass es momentan
nicht an den Maßnahmen hängt, sondern an der Geschwindigkeit. Sie von der Opposition könnten natürlich
sehr viel dazu beitragen, die Geschwindigkeit der Reformgesetze und deren Umsetzung zu erhöhen, sodass die
Krankenkassen die Entlastungsmomente zeitnah erfahren, und damit eine Erhöhung der Beträge vermieden
wird.
({7})
Gucken wir uns das am Beispiel der Arzneimittel an: In
dieser Woche haben wir in der Anhörung zu Zielvereinbarungen neuer Lösungen anstelle von Budgets die Vorstellungen der Wissenschaftler gehört: Wir könnten in
Deutschland durch den Einsatz von Analogpräparaten
selbst unter Berücksichtigung des Substitutionseffektes
1,8 Milliarden DM einsparen. Die Ärzteschaft will - so
haben wir es gehört - entschlossen daran mitwirken, dass
wir diesen Einsparungseffekt erzielen.
Wir haben mit dem Gesetzentwurf zu den Festbeträgen
für Arzneimittel die Chance, mindestens 650 Millionen DM zu sparen und das Ganze effektiver zu gestalten.
Mit der Positivliste werden wir nicht nur nachhaltig die
Qualität in Deutschland verbessern,
({8})
sondern auch wirtschaftliche Vorteile daraus ziehen.
Wenn man das zusammen nimmt, stehen rund 4 Milliarden DM zusätzlich zur Verfügung,
({9})
die, wirtschaftlich eingesetzt, zu einer Versorgung führen,
die dem Patienten ein Mehr an Qualität und Effizienz garantiert. Das ist, glaube ich, der Weg, auf den wir uns begeben müssen. Da halte ich es mit Professor Schwartz,
dem Vorsitzenden des Sachverständigenrats: „Das deutsche Gesundheitswesen kann mehr, als es leistet.“ Wir
müssen auf Leistung achten, auf Leistung im gesamten
Gesundheitswesen.
({10})
Für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Horst Seehofer das
Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Das deutsche Gesundheitswesen befindet sich in einer Krise und die Verantwortung dafür trägt allein
({0})
die Bundesregierung.
({1})
Drei Kardinalfehler haben zu dieser Lage geführt. Erster Kardinalfehler: Sie haben die gesetzliche Krankenversicherung 1998 in einer guten Verfassung übernommen,
mit Milliardenüberschüssen in den Jahren 1997 und 1998.
({2})
Der Versicherungsbeitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung ist zwischen dem 1. Januar 1993 und dem
Ende unserer Regierungszeit im September 1998 unverändert geblieben.
({3})
Wenn Sie nicht unsere Gesundheitsreform zunächst im
Wahlkampf attackiert und dann nach der Wahl in ihren
Kernelementen zurückgenommen hätten, hätten Sie jetzt
nicht die Probleme im deutschen Gesundheitswesen.
({4})
Zweiter Kardinalfehler: Mit großem Pomp wurde die
Gesundheitsreform 2000 angekündigt - im einen Teil
rückwärts gewandt, im anderen Teil wirkungslos. Die Reform war rückwärts gewandt, weil Sie wieder auf die Budgets gesetzt haben. Sie müssen jetzt unter dem Druck der
Verhältnisse - weil die chronisch Kranken die notwendige
medizinische Versorgung nicht mehr bekommen - diese
Budgets Stück für Stück aufgeben. Sie sind mit dieser
Budgetpolitik völlig gescheitert.
({5})
Alle anderen Kernelemente der Gesundheitsreform
2000 - das war die Reform mit Pleiten, Pech und Pannen,
über die wir hier im Deutschen Bundestag in einer Fassung abgestimmt haben, die gar nicht dem Willen der Regierung entsprach,
({6})
weil die Seiten in der Nacht ausgewechselt wurden ({7})
sind wirkungslos geblieben, waren Makulatur.
Das Einzige, was jetzt noch in der Selbstverwaltung
vollzogen wird, sind die Fallpauschalen bei den Krankenhäusern.
({8})
Frau Schmidt, ich prophezeie Ihnen, dass das Datum
1. Januar 2003 für die Einführung der Fallpauschalen
nicht zu halten sein wird und dass Sie noch in dieser Legislaturperiode den Termin verändern werden.
({9})
Den dritten Kardinalfehler haben Sie, Frau Schmidt,
persönlich zu verantworten, weil Sie ihn gemacht haben.
Sie haben sich zu Beginn Ihrer Amtszeit in völliger Verkennung der realen Lage entschieden, eine Gesundheitsreform erst nach der Bundestagswahl zu machen. Auch
heute haben Sie wieder geäußert, man brauche Zeit. Man
brauche Zeit bis zum Jahre 2003.
Man muss sich einmal vorstellen, wie ein Mittelständler, ein Handwerker, ein Arbeitnehmer darauf reagiert,
wenn jemand fast drei Jahre an der Regierung ist und
nichts getan hat, sondern nur Schaden angerichtet hat und
dann zur Reparatur des Schadens sagt: Ich brauche noch
Horst Schmidbauer ({10})
zwei Jahre. Meine Damen und Herren, das ist der Inbegriff der Unfähigkeit.
({11})
Nicht Frau Schmidt, die ein halbes Jahr im Amt ist,
sondern Sie, Rot-Grün, sind in Ihrer Gesundheitspolitik
auf der ganzen Linie gescheitert.
({12})
Was wir brauchen, ist ein völliger Neuanfang in der Gesundheitspolitik.
({13})
Ich fordere Sie auf, noch vor der Sommerpause ein Sofortprogramm vorzulegen,
({14})
weil sonst die Flut von Beitragserhöhungen nicht zu stoppen ist. Wir stehen auch für Sondersitzungen in der Sommerpause zur Verfügung, wenn das Zeitargument kommen sollte. Dieses Sofortprogramm muss drei Elemente
beinhalten:
Erstens. Wir brauchen in der Tat mehr Qualität im deutschen Gesundheitswesen. Das heißt, wir müssen die Medizinerausbildung reformieren. Frau Schmidt, sorgen Sie
deshalb dafür, dass die von uns bereits erarbeitete Approbationsordnung für Ärzte, die im Bundesrat liegt, verabschiedet wird!
({15})
In dieser Angelegenheit ist in den zweieinhalb Jahren
nichts geschehen. Sie hat im Bundesrat geschlummert.
Qualität ist nicht nur für die Patienten von Nutzen. Vielmehr führt Qualität im Gesundheitswesen auch zu mehr
Wirtschaftlichkeit.
Zweitens. Befreien Sie die Beteiligten im Gesundheitswesen von all den Fesseln der Reglementierung und
der Listenmedizin! Die Positivliste, von der wir hier jahrelang gehört haben, hat keinen positiven Effekt. Jetzt
wird sie als Mittel zur Lösung der Probleme in der gesetzlichen Krankenversicherung angeboten.
({16})
Befreien Sie die Beteiligten von den Budgets! Geben
Sie Ärzten, Krankenkassen, Selbsthilfegruppen und Patienten die Freiheit, vor Ort mit Verträgen, mit Organisationsmodellen die bestmögliche Form der Versorgung unserer Patienten zu finden! Nicht Budgets, sondern Freiheit
ist die Antwort.
({17})
Drittens: mehr Selbstbestimmungsrecht für die Patienten. Sie sollen in Zukunft selber über die Höhe ihrer
Beiträge und über den Leistungsumfang entscheiden können. Nicht die Funktionäre im Gesundheitswesen müssen
gestärkt werden, sondern die Patienten und die Versicherten.
({18})
Sie, die Sie das alles noch weit wegschieben, werden
erleben, dass die Realität Sie überholt.
({19})
Ich prophezeie Ihnen:
({20})
Spätestens nach dem Befehl aus dem Kanzleramt fallen
Sie wie Dominosteine um.
({21})
Sie werden schweigend - wie SPD und Grüne in den letzten Jahren in vielen Fällen ihre Seele verkauft haben - die
Befehle des Kanzleramtes erfüllen.
Frau Schmidt, handeln Sie jetzt! Sonst werden Sie persönlich verantwortlich für das, was in den nächsten Monaten in der Krankenversicherung geschieht.
({22})
Ich erteile
das Wort nunmehr der Bundesministerin für Gesundheit,
der Kollegin Ulla Schmidt.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Seehofer, ich habe den Vorteil, dass ich ein Ministerium übernommen habe, das Sie einmal geleitet haben,
und daher stehen mir alle Zahlen aus Ihrer Amtszeit zur
Verfügung. Sie und Herr Kollege Lohmann haben gerade
behauptet, dass die Krankenkassen Milliardenüberschüsse aufgewiesen hätten
({0})
und dass Beitragsstabilität geherrscht hätte.
({1})
Ich möchte Sie einmal mit folgenden Zahlen konfrontieren: In der Zeit von Horst Seehofer stieg der durchschnittliche allgemeine Beitragssatz von 12,3 Prozent auf
13,6 Prozent.
({2})
Die jetzige Bundesregierung hat seit 1998, als wir die Regierung übernommen haben, dafür gesorgt, dass sich der
durchschnittliche Beitragssatz bei 13,6 Prozent stabiliHorst Seehofer
siert hat. Herr Kollege Seehofer, die Erhöhungen bis 1998
gehen zu Ihren Lasten.
({3})
Zu Ihrer Behauptung, dass die Krankenkassen Milliardenüberschüsse aufgewiesen hätten, bevor wir die Regierung übernommen haben, möchte ich Folgendes sagen:
Die AOK Hessen oder die AOK Baden-Württemberg zum
Beispiel befinden sich schon seit 1996/97 in einer
prekären Finanzsituation. Sie haben immer wieder versucht, die Aufsichtsbehörden hinzuhalten, und zwar erfolgreich; denn die Aufsichtsbehörden sind selbst dann
nicht eingeschritten, als diese Krankenkassen ein Minus
aufwiesen und nicht mehr über die gesetzlich festgelegte
Mindestreserve verfügten.
({4})
Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem Beitragserhöhungen
unumgänglich sind. Damit die Zahlen, über die wir reden,
relativiert werden, möchte ich Folgendes sagen: Selbstverständlich muss es uns Sorgen machen, wenn die Beitragssätze der Krankenkassen ansteigen. Aber alles, was
derzeit angekündigt ist bzw. bereits beschlossen worden
ist, macht bundesweit nicht einmal 0,09 Prozent aus. Deshalb bitte ich, die Zahlen genau anzuschauen, über die wir
hier reden, und nicht so zu tun, wie es einer Ihrer Kollegen gemacht hat, als würden die Beitragssätze der Krankenkassen um 5 Prozent in den nächsten Jahren ansteigen.
Die bisherigen Planungen würden nicht einmal einen Anstieg der Beitragssätze um 0,1 Prozent rechtfertigen. Ursache ist also nicht, dass man mit der Gesundheitsreform
bis 2003 wartet. Sie wissen doch ganz genau, dass eine
Menge an Schritten notwendig ist, um eine Gesundheitsreform durchzuführen.
Ich möchte jetzt auf das Arznei- und Heilmittelbudget
zu sprechen kommen. Die Ausgaben im Arzneimittelbereich sind von 1993 bis 1999 - das betrifft noch Ihre Regierungszeit - um 41 Prozent gestiegen, und zwar trotz
Budget und Kollektivregress.
({5})
Wir wissen doch, dass es dort Einsparpotenziale gibt. Ich
habe deswegen in der vorigen Woche eine Neuordnung
des Arznei- und Heilmittelbudgets auf den Weg gebracht;
denn ich bin der Meinung, dass eine Deckelung allein
nichts bringt.
({6})
- Das war Ihre Politik und wir haben sie fortgesetzt. Aber
man muss auch aus Fehlern lernen.
Es stimmt zwar, dass die Zahl der Verschreibungen
zurückgeht. Aber offensichtlich sind die Ärztinnen und
Ärzte falsch beraten, weil sie viel zu wenig Analogprodukte verschreiben. Ich bin ja dafür, dass die Patientinnen
und Patienten wirklich innovative Arzneimittel erhalten
und dass diese dann bezahlt werden. Aber immer dann,
wenn es analoge Präparate gibt, die wirkstoff- und wirkungsgleich sind, müssen die Patientinnen und Patienten
- das kann man verlangen - die günstigeren Medikamente
nehmen. Die Krankenkassen werden dann keine anderen
Präparate bezahlen müssen. Die AOK Berlin, die große
Probleme im Arznei- und Heilmittelbereich hat, hat heute
mit der KV Berlin den ersten Vertrag auf der Grundlage
dieser Vereinbarung geschlossen und hat versprochen:
Wir werden die Ärztinnen und Ärzte schon in diesem Jahr
- im Vorgriff auf das im nächsten Jahr geltende Gesetz beraten. Wir werden die Ärzte persönlich haftbar machen,
wenn sie die Wirtschaftlichkeitsreserven nicht ausschöpfen. Wir wollen allgemein über Arzneimittel und darüber
informieren, welche Analogpräparate und gleichwertigen
Billigprodukte es gibt. Wir informieren über wirkliche Innovationen.
({7})
Es wird folgendes Anreizsystem geschaffen: Diejenigen, denen es gelingt, die Kosten der verschriebenen Arzneimittel unter Einhaltung der Versorgungsziele Wirtschaftlichkeit und Qualität zu reduzieren, erhalten einen
Bonus.
({8})
- Das ist nicht unethisch, Herr Kollege.
({9})
- Herr Kollege, schreien Sie nicht so!
Der sozialmedizinische Berater der AOK, Dr. Peter
Schwoerer,
({10})
er hat entsprechende Beratungen bereits durchgeführt
- jeder weiß, was er im Arzneimittelbereich in Südbaden
gemacht hat -, hat gesagt, die Patienten könnten ohne
Einbußen und bei gleicher oder sogar besserer Therapiequalität versorgt werden. Wir werden Einsparungen vornehmen und wir werden die Einsparpotenziale in Milliardenhöhe, die auf dem Gebiet der Analogpräparate
vorhanden sind, nutzen.
Ich weiß, dass derzeit Pressekonferenzen stattfinden,
auf denen die Ärzte zum Ausdruck bringen, dass sie die
Freiheit der Verhandlung wollen und dass sie selbst mit
dafür sorgen werden, dass die Ärztinnen und Ärzte in die
Pflicht genommen werden, damit es zu Fortschritten
kommt.
({11})
Herr Kollege Seehofer hat die chronisch Kranken angesprochen. Wir werden nachher den Risikostrukturausgleich beraten. Das Kernstück unserer Änderung des Risikostrukturausgleichs ist, dass endlich ein Wettbewerb
um die bestmögliche Versorgung der Patienten stattfinden
kann
({12})
und dass die bestmögliche Versorgung von chronisch
kranken Menschen Einsparpotenziale in der gesetzlichen
Krankenkasse mit sich bringt. Durch den von uns beschrittenen Weg fühlen sich die Menschen nicht nur besser, weil wir die Versorgung Multimorbider verbessern,
vielmehr sinken auch die Kosten um bis zu 30 Prozent.
({13})
Diesen Weg können Sie mitgehen. Das, was wir machen,
ist etwas anderes als das, was Sie gemacht haben, Herr
Kollege Seehofer. Sie haben die gesetzliche Krankenkasse
dadurch zu sanieren versucht, dass Sie den chronisch
Kranken immer mehr Belastungen und Zuzahlungen aufgebürdet haben, anstatt ihre Versorgung zu verbessern.
({14})
Ich komme - Sie haben das angesprochen - zur Medizinerausbildung. Sie haben Recht: Die Elemente für mehr
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sind mehr Steuerung, Transparenz, mehr Freiheit in der Verhandlung - da
gebe ich Ihnen Recht - und eine Steigerung der Qualität.
({15})
Um das Ziel der Qualitätssteigerung zu erreichen, brauchen
wir auch eine neue Approbationsordnung. Herr Kollege
Seehofer, Sie sind nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit.
({16})
- Nein. - Die Vorlage zur Änderung der Approbationsordnung liegt beim Bundesrat. Ich habe mit den Vertretern
der Bundesländer, auch mit denen, die von Ihnen regiert
werden, verhandelt. Ich habe mit den Kultusministern der
Länder zusammengesessen
({17})
- nein, die Kultusminister waren nicht dafür, sondern die
Gesundheitsminister; das ist der Unterschied - und wir haben einen Kompromiss gefunden, den wir auf der Gesundheitsministerkonferenz letzte Woche beschlossen haben.
Dieser Kompromiss - ihm haben sich auch die
Vertreter der Kultusministerien der B-Länder angeschlossen - wird dazu führen, dass die Änderung der Approbationsordnung auf den Weg kommt. Ich lade Sie zu unserer
großen Veranstaltung am Montag in Berlin ein. Wir werden
unser Ziel hoffentlich bis zum Ende der Legislaturperiode
erreicht haben. Es geht darum, dass diejenigen Ärzte, die
die Wirtschaftlichkeitsreserven in zehn Jahren erschließen
sollen, heute dementsprechend ausgebildet werden.
Vielen Dank.
({18})
Ich gebe
nunmehr dem Kollegen Ulf Fink für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, an
den Tatsachen führt kein Weg vorbei: Die Menschen müssen für das Gesundheitswesen heute drastisch mehr bezahlen und bekommen weniger Leistung.
({0})
Das Schlimme daran ist, dass kein Konzept der Regierung
erkennbar ist, wie dem Einhalt geboten werden soll.
({1})
Wahr ist auch, dass es entgegen den Aussagen, die Sie
im Wahlkampf 1998 gemacht haben - Sie sagten, dass Sie
sich für eine sozialgerechte Gesundheitspolitik einsetzen
wollen -, dazu gekommen ist, dass unter Ihrer Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland für die Menschen der Begriff „Zweiklassenmedizin“ grausame Wirklichkeit geworden ist.
({2})
Krebskranke Menschen haben wegen des Arzneimittelbudgets die notwendigen Lymphdrainagen nicht bekommen. Diabeteskranke haben die Teststreifen nicht
mehr bekommen.
({3})
Menschen, die aus dem Krankenhaus entlassen worden
sind und auf ein bestimmtes Medikament eingestellt waren, sind in ambulanter Praxis diese Medikamente verweigert worden. Wahrheit ist weiterhin, dass moderne
Medikamente nicht mehr verschrieben worden sind, weil
sie teurer als konventionelle Medikamente waren. Dies
gilt insbesondere für Medikamente bei Schizophrenie,
Epilepsie und Herz-Kreislauf-Krankheiten. Dazu ist es
unter Ihrer Regierungsverantwortung gekommen.
({4})
Wenn Sie gegen die maßvollen Selbstbeteiligungselemente, die wir eingeführt haben, polemisieren, dann sage
ich Ihnen: Die von Ihnen eingeführte Budgetierung ist die
brutalste Form der Selbstbeteiligung, die man sich überhaupt vorstellen kann.
({5})
Es gibt keine Härtefallklausel und keine Überforderungsklausel, sondern die Menschen müssen unabhängig von
der Höhe ihres Einkommens die gesamten Kosten für Medikamente übernehmen, weil es keine entsprechende
Regelung gibt. Das ist soziale Ungerechtigkeit bis zum
geht nicht mehr. Dafür sind Sie verantwortlich.
({6})
Ich sage Ihnen noch ein Weiteres: Das deutsche Gesundheitswesen, das in der Welt einen guten Klang hat, ist
ein Weg zwischen Staat und Markt. Die Frage ist: In welche Richtung soll man ein solches Gesundheitswesen
weiterentwickeln, in Richtung auf mehr Markt oder in
Richtung auf mehr Staat? - Wir haben im Jahre 1998
maßvolle zusätzliche Wettbewerbs- und Marktelemente
eingeführt. Sie hatten jedoch nichts Eiligeres zu tun gehabt, als diese maßvollen Wettbewerbs- und Marktelemente, zum Beispiel Beitragsrückgewähr und Selbstbeteiligung, einzukassieren. Sie sind den Weg in Richtung
mehr Bürokratie, mehr Staat
({7})
und weniger Leistung gegangen.
({8})
Das ist der falsche Weg. Es hat aber gar keinen Sinn
- das sage ich auch in Richtung meines geschätzten Kollegen Professor Pfaff -, wenn man nicht Elemente einsetzt, die den Versicherten, die Versicherung und die
Anbieter von Leistungen dazu drängen, mit den Leistungen sparsam umzugehen und auf möglichst hohe
Qualität zu setzen. Auf einen brodelnden Kessel können
Sie keinen Deckel, kein Budget, mehr setzen. Nein, Sie
müssen das Feuer wegnehmen. Sie müssen dafür sorgen,
dass die Menschen an mehr Qualität, mehr Wettbewerb
und mehr Eigenverantwortung interessiert sind. Dann
brodelt der Kessel nicht so sehr. In diese Richtung muss
man gehen.
(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Wettbewerb um die
billigste Krankheit, oder was?
- Frau Fuchs, es ist unverständlich, dass Sie es wagen, der
Christlich Demokratischen Union irgendwelche Vorhaltungen zu machen. Sie haben in der DDR ein System gehabt, bei dem insbesondere die Allerärmsten, also diejenigen, die sich selber nicht helfen konnten, nicht die
nötigen Medikamente bekommen haben. Das lag in Ihrer
Verantwortung, und Sie wagen es, uns Vorhaltungen zu
machen.
({9})
Frau Fuchs, das lassen wir uns wirklich nicht bieten.
Ich war in Berlin Gesundheitssenator und weiß, dass wir
Medikamente am Tempelhofer Flughafen für Ostdeutsche
ausgegeben haben. Die Menschen waren froh, wenn sie
älter als 65 Jahre waren, weil sie dann in den Westen kommen konnten und ordentliche Medikamente bekommen
haben. Für diesen Zustand hatten Sie doch die Verantwortung!
({10})
Wir brauchen ein Konzept für eine umfassende Gesundheitsreform. Auf der Grundlage der Solidarität müssen wir den Weg hin zu mehr Eigenverantwortung, mehr
Wettbewerb und mehr Transparenz gehen. Das ist der einzig richtige Weg.
({11})
Für die
SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Professor
Dr. Martin Pfaff.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Seehofer, ich kann ja - das
muss ich zugestehen - nachvollziehen, dass Sie eine Aktuelle Stunde zu einem Themenbereich anberaumen wollen, von dem Sie meinen mehr zu wissen. Ich gestehe
neidlos ein: Wenn es um die Anhebung von Beitragssätzen geht, haben Sie mehr Erfahrung als wir, da wissen Sie
mehr. Raten Sie einmal, wie oft in Ihrer Regierungszeit
die durchschnittlichen Beitragssätze der gesetzlichen
Krankenversicherung eines Jahres gegenüber dem Vorjahr angehoben worden sind!
({0})
Zweimal, dreimal, viermal? Nein, zwölfmal in 16 Jahren
hat die vorherige Bundesregierung erleben müssen, dass
die Beitragssätze gestiegen sind.
({1})
Nach Ihrer eigenen Diktion, Herr Seehofer, war das Gesundheitswesen während Ihrer Zeit in der Dauerkrise.
({2})
Demnach sind Sie in keiner Weise eine moralische Autorität, wenn es um Beitragssatzanhebungen in der GKV
geht.
({3})
Wie war es denn mit den Beiträgen? Sie mussten die
Beiträge in einer Zeit, die weniger schwierig war als
heute, um zwei Beitragssatzpunkte anheben. Und was haben Sie getan? Sie haben immer wieder die Zuzahlungen
erhöht.
({4})
Allein in den letzten Jahren Ihrer Regierungsverantwortung haben Sie die Zuzahlungen bei Arzneimitteln von
3 DM, 5 DM und 7 DM je nach Packungsgröße erhöht.
({5})
- Am Anfang waren wir dabei. Sie haben aber die Zuzahlungen im Jahr 1997 auf 4 DM, 6 DM und 8 DM und dann
nochmals auf 9 DM, 11 DM und 13 DM angehoben!
({6})
Und Sie haben die Erhöhung der Zuzahlungen dann noch
an Beitragssatzerhöhungen gekoppelt. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU und F.D.P., lägen die Zuzahlungen der
AOK Hessen heute bei 14 DM, 16 DM und 18 DM und
wären nicht so, wie sie heute sind. Deshalb sage ich: Wer
versucht, den Druck aus dem Kessel zu nehmen, indem er
Leistungen kürzt oder Zuzahlungen erhöht, liefert kein
Beispiel für Regierungskunst im Bereich der Gesundheitspolitik.
({7})
Sie waren Weltmeister, wenn es um Verschiebebahnhöfe ging. Allein seit 1995 haben Sie Maßnahmen auf den
Weg gebracht, die in ihrer Summe 49 Milliarden DM Zusatzbelastungen bis zum Jahr 2000 verursacht haben.
({8})
Deshalb sage ich: Wer im Glashaus sitzt, der sollte wahrlich nicht mit Steinen werfen.
({9})
Sie haben uns einen Schuldenberg von 1,5 Billionen DM hinterlassen. Sie haben Defizite bei den Ostkassen hinterlassen, das wurde schon gesagt. Die Situation
war keineswegs so, wie Sie sie geschildert haben.
Wenn sich die Absenkung der Zuzahlungen und die
Entlastung der chronisch kranken Menschen
({10})
auf die Beiträge auswirken, hat das eine ganz andere soziale und gesundheitspolitische Qualität, als wenn fehlende Strukturreformen und fehlende Steuerungsmaßnahmen dies tun.
({11})
Sie, Herr Kollege Seehofer, haben zeitliche Verzögerungen moniert. Ich erinnere: 1992 haben wir in Lahnstein
die Fallpauschalen im Krankenhaus beschlossen. Das Gesetz trat am 1. Januar 1993 in Kraft. Jahre danach wurden
in Ihrer Regierungszeit die Fallpauschalen auf nur 25 Prozent des Leistungsgeschehens angewandt, Sonderentgelte
auf 5 Prozent.
({12})
Wer solche Verzögerungen zu verantworten hat, darf
wahrlich nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Das
müssen Sie wissen.
Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]: Das ist doch selbstverständlich! - Birgit
Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Sie wollten
doch alles besser machen!)
Dass Sie die Budgetierung hier immer kritisieren, finde
ich wirklich erstaunlich. Eine Forderung im Gesundheitsreformgesetz von Norbert Blüm war die Beitragssatzstabilität, im Gesundheitsstrukturgesetz, Herr Seehofer,
ebenfalls. Wie erreichen Sie denn, um Himmels willen,
Beitragssatzstabilität, wenn Sie nicht sichern können,
dass die Gesamtausgaben nicht stärker steigen dürfen als
die Einnahmen und die Grundlöhne?
({13})
Das ist exakt dasselbe in einem anderen Gewand. Deshalb
ist es wirklich heuchlerisch, wenn Sie die Budgetierung
als Maßstab nehmen.
({14})
Wir haben eine Reihe von Ansatzpunkten zur Verbesserung der Situation begonnen, über eine weitere Reihe
gilt es zu diskutieren. Es gibt die Garantie der Bundesregierung zur Entlastung der GKV als Ausgleich für
Belastungen durch das Rentengesetz über 250 Millionen DM. Es gibt auch die Zusage, dass Belastungen der
GKV, die durch die jüngsten Entscheidungen der Gerichte
entstehen, aufgefangen werden.
Sicher wird man auch über die Frage der Halbierung
des Mehrwertsteuersatzes diskutieren müssen.
({15})
Ich sage das, wir haben es noch nicht getan. Sicher wird
man auch darüber diskutieren müssen, ob gesamtgesellschaftliche Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht über Steuern finanziert werden.
({16})
Das sind weitere Möglichkeiten, die es aber sorgfältig abzuwägen gilt.
({17})
Sicher wird man darüber diskutieren müssen, ob nicht die
Beitragsbemessungsgrenze und/oder die Versicherungspflichtgrenzen an die Rentenversicherung angepasst werden müssen.
({18})
Es ist für mich in keiner Weise einsichtig, warum diejenigen, die breite Schultern haben, diese Zusatzbelastungen nicht tragen sollten, wohingegen die Kranken immer
höhere Zuzahlungen zu tragen haben.
({19})
Im Übrigen: Natürlich wird die Frage der Finanzierungsreform ein Thema sein. Wir werden es diskutieren.
Schon im Herbst diesen Jahres wird es öffentliche VeranDr. Martin Pfaff
staltungen geben, in denen unter maßgeblicher Beteiligung aller hier über die Perspektiven der Weiterentwicklung diskutiert wird. Ein Thema wird dabei die Finanzierung sein. Hier wird man eine Evaluation vornehmen
müssen.
Ich komme zum Schluss: Für mich ist es nicht einsichtig,
({20})
warum wir uns, als wir arm waren, also in den 50er- und
60er-Jahren, die Solidarität in Deutschland leisten konnten, jetzt aber, da unsere Gesellschaft reicher wird, diese
Solidarität nicht mehr möglich sein sollte.
({21})
Ich sage deshalb: Ein solidarisches Gesundheitswesen ist
allemal kosteneffektiver und verteilungsgerechter. Die
Privatisierung ist keine Perspektive für die Zukunft der
gesetzlichen Krankenversicherung.
({22})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Annette Widmann-Mauz für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Professor
Pfaff, wenn all das, was Sie gerade geschildert haben, zuträfe, müssten am heutigen Tag, an dem eindeutige Überschriften in den großen Medien zu lesen sind, draußen vor
der Tür Hunderttausende von Menschen stehen, die Solidaritätsbekundungen für diese Bundesregierung abgeben, weil
sich die Versorgung der chronisch Kranken in unserem Land
in den letzten zweieinhalb Jahren so dramatisch verbessert
habe. Ich vermisse diese. Das, was Sie hier beschreiben,
kann also nicht die Folge Ihrer Politik gewesen sein.
({0})
Rot-Grün ist sich über den Kurs in der Regierungspolitik, was die Gesundheitsfragen angeht, uneins.
({1})
Von Ihren eigenen Beratern wird Ihnen mittlerweile Orientierungslosigkeit, Ratlosigkeit und Konzeptlosigkeit attestiert. Sie haben kein Gesamtkonzept. Sie tun so, als sei
alles wunderbar. Warum haben Sie denn dann Frau
Fischer aus dem Amt gejagt?
Nachdem Frau Schmidt Gesundheitsministerin wurde,
begann eine Hypnosephase. Sie startete mit einer
Charme-Offensive, bunten Trostpflästerchen und Beruhigungspillen.
({2})
Sie ist aber kläglich gescheitert. Frau Schmidt, der Sturm
lässt sich nicht dadurch verhindern, dass man einfach nur
auf das Barometer starrt und es beschwört. Ihre Politik ist
so wechselhaft wie das Wetter: Gestern war ein Mindestbeitrag von 12,5 Prozent im Gespräch, heute sagen Sie,
das sei das Geschwätz von gestern. Die Beiträge sollen
nicht steigen und das Sonderkündigungsrecht bei Beitragserhöhungen soll, wie wir hören, ersatzlos gestrichen
werden. Die Beiträge steigen aber doch und die Kassenwechsler sollen im schlimmsten Fall 18 Monate lang an
die höheren Beiträge gebunden sein.
({3})
Frau Schmidt, letzte Woche sagten Sie, dass es eine
Differenzierung in Grund- und Wahlleistungen mit Ihnen
nicht gebe. Gestern lesen wir in dem Strategiepapier aus
dem Kanzleramt, dass eine radikale Gesundheitsreform
Einsparpotenziale von 30 bis 33 Prozent biete, heute soll
dieses nur noch ein unverbindliches Arbeitspapier sein.
Fallen die Dementis zu heftig aus, wachsen die Zweifel an
der Glaubwürdigkeit Ihrer Aussagen.
({4})
Wie wir aus New York vernehmen konnten, sprechen
Sie mittlerweile auch von dynamischen Leistungskatalogen. Wir erleben eine Politik aus dem Tollhaus. Die Geschwister Chaos und Murks herrschen in dieser Regierung. All das, was sich auch in dieser Debatte abspielt,
sind panische Reaktionen auf das gesundheitspolitische
Chaos und der Beweis für eine von Anfang an falsche Politik. Ob die Beitragssätze steigen, interessiert die Menschen heute; daran entscheidet sich, ob sie im nächsten
Jahr die Möglichkeit haben, Ausgaben tätigen zu können.
Diese Möglichkeit haben Sie beschnitten.
({5})
Die AOK Hessen erhöht ihre Beiträge um 1 Prozent.
Selbst die AOK Baden-Württemberg muss ihre Beiträge
um 0,7 Prozent erhöhen. Die anderen Kassen werden
nachlegen. Auch bei den Ersatz- und Betriebskrankenkassen wird es zu Erhöhungen kommen. Es ist nicht der Anfang, sondern die Fortsetzung der chaotischen rot-grünen
Gesundheitspolitik, die zur Folge hat, dass der GKV das
Wasser bis zum Hals steht.
({6})
Sie haben von uns stabile Beitragssätze und Überschüsse in der gesetzlichen Krankenversicherung durch
Horst Seehofer übernommen. Jetzt, in 2001 und in den
kommenden Jahren, gibt es Milliardenverluste. Diese
sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben hausgemachte Gründe. Die Verschiebebahnhöfe hat selbst die
Kollegin von der PDS genannt. Der gesamtdeutsche
Finanzausgleich kommt hinzu.
Es ist interessant, Sie einmal an dem zu messen, was
Sie in der Koalitionsvereinbarung geschrieben haben.
Diese Vereinbarung ist mittlerweile ein Katalog der gebrochenen Versprechen geworden: Arbeitsplätze wurden
versprochen, Beitragssatzstabilität wurde versprochen,
Sozialversicherungsbeiträge unter 40 Prozent wurden
versprochen. Aber Ihre Versprechen haben kurze Beine.
Die Konjunktur schwächelt, die Arbeitslosigkeit sinkt
nicht, die Inflation beträgt 3,5 Prozent,
({7})
die Lohnnebenkosten steigen auf über 40 Prozent,
({8})
die Menschen haben Monat für Monat weniger Geld und
bekommen schlechtere oder weniger Leistungen. Das ist
die logische Folge politischer Fehlentscheidungen in Ihrer Regierungszeit.
({9})
Ich sage Ihnen eines: Wirtschaftliche Zwänge kennen
nicht die Opportunität von politischen Terminen. Bis zur
Bundestagswahl 2002 kann in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr gewartet werden. Deshalb kommen Sie doch heraus mit Ihren Vorstellungen!
({10})
Herr Pfaff, Sie waren doch schon recht konkret. Warum
bringen Sie Ihre Vorstellungen nicht hier in diesem Hause
ein? Es ist notwendig. Täuschen Sie die Menschen nicht
vor der Bundestagswahl,
({11})
um ihnen nach der Bundestagswahl noch tiefer in die Taschen zu greifen, ohne ein schlüssiges Konzept zu haben.
({12})
Wenn Sie sagen, mit den Maßnahmen, die Sie jetzt auf
den Weg bringen, würde die finanzielle Krise bewältigt,
kann ich nur feststellen: Nein, Sie verschärfen sie sogar
teilweise noch. Sie erzählen uns immer nur, wie Sie die
Arzneimittelausgaben beschränken, aber Sie erzählen den
Menschen nicht, dass Sie auch den Kollektivregress
zurücknehmen und damit wieder Mindereinnahmen in
der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
So kann man mit den Menschen in unserem Land nicht
umgehen. Die Situation ist ernst. Sie haben die Dinge
schleifen lassen und versäumt, rechtzeitig schlüssige Reformen auf den Weg zu bringen.
({13})
Die wirklichen Probleme werden weder angepackt noch
gelöst. Dies ist für unsere Versicherten, die Menschen in
unserem Land, eine Zumutung. Ändern Sie endlich radikal den Kurs; es ist notwendig!
({14})
Ich erteile
das Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es schon richtig, dass hier immer wieder angemerkt
wird, dass wir über weitere Schritte einer qualifizierten
Form des Gesundheitswesens diskutieren müssen und
insbesondere darüber, wie es uns gelingt, auch weiterhin
den Trend der sinkenden Beiträge
({0})
für die Sozialversicherung, das heißt für die Lohnnebenkosten insgesamt, abzusichern.
Aber ich finde, Herr Kollege Fink, Herr Kollege
Seehofer oder Herr Kollege Lohmann, das sollten wir
dann doch auf der Basis der Tatsachen tun. Dann sollten
Sie zum Beispiel nicht, wie Sie das hier getan haben,
verschweigen, dass Sie die Gesundheitsreform 2000 in
ganz wesentlichen Punkten gekippt haben,
({1})
die notwendig gewesen wären, um weitere Reformschritte im Gesundheitswesen voranzubringen.
Sie sollten sich auch nicht hier hinstellen und davon reden, dass Sie das Gesundheitswesen und insbesondere die
Beiträge in einer stabilen Situation hinterlassen haben.
Das ist definitiv die Unwahrheit; das ist falsch.
({2})
Weil das falsch ist, möchte ich Ihnen doch die nüchternen
Zahlen noch einmal nennen.
In den 90er-Jahren
({3})
sind die Beiträge zu den Sozialversicherungen galoppierend gestiegen. Wir haben diesen Galopp beendet. Wir
haben eine Trendwende eingeleitet.
({4})
Wir hatten in den Jahren 1990 bis 1998 eine Steigerung
der Lohnnebenkosten, der Sozialversicherungsbeiträge,
von 35,8 Prozent auf 42,1 Prozent. Wir hatten in dieser
Zeit eine Steigerung der Krankenversicherungsbeiträge
von 12,8 Prozent auf 13,6 Prozent. Auch im letzten Jahr
vor der Regierungsübernahme, von 1997 auf 1998, gab es
noch einmal eine Steigerung der Krankenversicherungsbeiträge um 0,3 Prozentpunkte.
Und da stellen Sie sich hier hin und behaupten im
Ernst, Sie hätten eine stabile Beitragsentwicklung hinterlassen. Das ist definitiv nicht richtig!
({5})
Wir haben heute ein Niveau der Nebenkosten von
40,8 Prozent. Sie haben 42,1 Prozent hinterlassen. Der
größte Beitrag zu dieser Senkung ist durch die Rentenreform,
({6})
ist durch die Beiträge zur Rentenversicherung - Sie haben
Recht, durch die Ökosteuer - erzielt worden. Wir haben
im gleichen Zeitraum die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung stabil gehalten. Das ist vor dem Hintergrund der schwierigen Situation gerade in der Krankenversicherung eine wirklich gute Leistung gewesen. Und
wir haben die Beiträge in der Arbeitslosenversicherung
stabil gehalten.
Meine Damen und Herren, was die Ernsthaftigkeit, den
Willen, die Beitragsentwicklung zu stabilisieren, und
zwar in allen Sozialversicherungssystemen, in der Krankenversicherung, in der Rentenversicherung, in der Arbeitslosenversicherung, anbelangt, können Sie uns nun
wirklich nichts vormachen. Wir haben nicht geredet, sondern in diesen Bereichen gehandelt. Ich sage Ihnen: Wir
werden diese Politik fortsetzen!
({7})
In der aktuellen Situation ist es ganz sicher so, dass die
notwendigen Reformschritte auch im Gesundheitswesen
die Beitragsstabilisierung garantieren müssen und garantieren können.
({8})
In der aktuellen Situation ist es so, dass ein zusätzlicher
Beitrag zur Senkung der Lohnnebenkosten allerdings
über die Arbeitslosenversicherung erbracht werden kann
und erbracht werden muss. Wir haben in den letzten Jahren mit dieser Politik der Beitragssenkung, der Senkung
der Sozialabgaben und der Steuern positive Beiträge
zur Beschäftigungsentwicklung geleistet. Diese Beiträge
werden sich in den nächsten Jahren weiter auszahlen. Wir
haben aufgrund der Arbeitsmarktentwicklung - sinkende
Arbeitslosenzahlen, steigende Beschäftigtenzahlen - Luft.
Auch wenn sich der Trend abschwächt, haben wir diese
positiven Daten.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: In der Krankenversicherung können wir die Beiträge stabilisieren.
Das ist unser politischer Beitrag. In der Arbeitslosenversicherung können wir im nächsten Jahr mit den Beiträgen
heruntergehen. Das wäre die Umsetzung dessen, was wir
an beschäftigungspolitischer Entspannung schon erreicht
haben.
Danke schön.
({9})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Wolfgang Zöller.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich kurz auf
einen einmaligen Vorgang von gestern zurückkommen,
damit man die Art und Weise des Umgangs mit dem Parlament erkennt.
({0})
40 Minuten vor der Regierungsbefragung teilt man uns
mit, dass man das Thema wechseln möchte. Es sollte statt
über den Länderfinanzausgleich über die gesetzliche
Krankenversicherung gesprochen werden, obwohl das
Bundeskanzleramt eigentlich wissen musste, dass a) die
Ministerin zu diesem Zeitpunkt in Amerika war und
b) zum gleichen Zeitpunkt der Gesundheitsausschuss im
Roten Rathaus tagte. Da bedurfte es einer Geschäftsordnungsdebatte, um dieses unsinnige Vorgehen zu verhindern.
Meine Damen und Herren, wenn sich dann noch Ihr
Parlamentarischer Geschäftsführer hier hinstellt und sagt,
warum regt ihr euch überhaupt auf, ihr wolltet doch schon
immer über Gesundheit reden, erkennt man: Die Machtarroganz ist wirklich nicht mehr zu überbieten!
({1})
Nun zu Ihnen, Frau Ministerin: Sie versuchen, sich immer wieder mit der Behauptung herauszureden, dass die
jetzige kritische Situation der gesetzlichen Krankenversicherung eine Erblast von Horst Seehofer sei. Dass diese
Äußerung falsch ist, kann Ihnen jeder seriöse Fachkenner
beweisen und vorrechnen.
Rot-Grün bekam ein Gesundheitssystem übergeben, in
dem die Beitragssätze über sechs Jahre stabil waren. Es ist
doch unredlich, wie Sie mit Zahlen umgehen. Wir haben
1992 gemeinsam mit der SPD eine Reform beschlossen,
und 1993, 1994, 1995, 1996, 1997 und 1998 waren die
Beiträge stabil. Das ist nachzulesen!
({2})
Man sollte wenigstens die Zahlen zur Kenntnis nehmen.
Hinzu kommt - das sage ich, wenn Sie uns vorhalten,
auch wir hätten Fehler gemacht, weil wir Umschichtungen mit versicherungsfremden Leistungen vorgenommen
haben -: Trotz dieser Umschichtungen gab es in der gesetzlichen Krankenversicherung, als sie übergeben wurde, einen Überschuss. Mit anderen Worten: Trotz dieser
Maßnahmen gab es einen Überschuss und über sechs, sieben Jahre hinweg stabile Beiträge.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
({4})
es wäre wesentlich sinnvoller gewesen, diese finanziell
stabile Zeit zu nutzen, um mit allen Beteiligten an einer
wirksamen Reform zu arbeiten. Rot-Grün hat diese große
Chance vertan.
Sie haben sich anscheinend auch viel mehr damit
beschäftigen müssen, ständig neue Ministerinnen einzuarbeiten, neue Staatssekretäre und Abteilungsleiter zu benennen, statt sich um die tatsächlichen Probleme zu kümmern.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dass Krankenkassen jetzt gezwungen sind, die Beiträge sehr drastisch zu erhöhen - zum Teil um 7,25 Prozent -, ist ausschließlich auf Fehlleistungen und Fehlentscheidungen
von Rot-Grün zurückzuführen. Ich nenne jetzt nur einige
Beispiele, die Rot-Grün allein zu verantworten hat.
Erstens. Sie haben den Krankenkassen zusätzlich die
Instandhaltungskosten für die Krankenhäuser aufgebürdet.
({6})
Zweitens. Sie haben die Beitragsbemessungsgrundlagen für Arbeitslose gesenkt - Geschenk an Riester zulasten der Versicherten!
Drittens. Sie haben die Beiträge für den Bezug von Arbeitslosenhilfe gesenkt - Geschenk an Riester zulasten
der Versicherten!
Viertens. Die Minderung der Beiträge für Rentner
durch Ihre willkürliche Absenkung des Rentenniveaus
geht wiederum zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung.
Sie verschlechtern massiv die Einnahmeseite und wundern sich dann, dass die Beiträge steigen.
Ihr Meisterstück, sehr geehrte Frau Ministerin, war
aber die Ankündigung der Arzneimittelbudgetaufhebung,
ohne vorher wirksame Alternativen festzulegen, die eine
Kostensteigerung verhindert hätten.
Neuerdings kann man in der Presse von Plänen des
Kanzleramts lesen, dass die Bürger für ihre Gesundheit
mehr zahlen müssten - allerdings erst nach der Bundestagswahl 2002. Ich habe eine ganz große Bitte: Seien Sie
ehrlich und sagen Sie endlich der Bevölkerung vor der
Wahl, was Sie vorhaben. Sonst müsste man wie der „Kölner Express“ zu der Meinung kommen - mit diesem Zitat
möchte ich schließen -:
Mal spricht Gesundheitsministerin Schmidt von
Mindestbeitrag. Dann ist das wieder „Geschwätz von
gestern“. Nein, die Beiträge sollen nicht steigen.
Dann steigen sie doch, weil die Arzneimittelbudgets
kippen sollen. Mal gibt’s bei der Bundesregierung
Pläne für eine „radikale“ Gesundheitsreform ({7}) und dann ist das wieder nur ein
„unverbindliches Arbeitspapier“. Dann spricht die
Ministerin von „dynamischen Leistungskatalogen“,
die immer wieder überprüft werden sollen. Alles politische Leerformeln. Keiner blickt mehr durch. So,
Frau Ministerin, verspielt man Vertrauen in die
Gesundheitspolitik.
({8})
Als letzter
Rednerin in dieser Aktuellen Stunde gebe ich der Kollegin Marga Elser für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist eben nicht richtig, was Sie sagen,
denn wir hatten an Beitragssätzen in der Krankenversicherung - wir brauchen uns nur die Zahlen genau anzugucken - 1995 13,15 Prozent, 1996 13,48 Prozent, 1997
13,58 Prozent und 1998 13,62 Prozent.
({0})
Im Gegensatz dazu senkt diese Koalition die Lohnnebenkosten
({1})
und das ist nach wie vor richtig. Im Gesundheitsbereich
haben wir ja - das ist etwas anders als bei der Rentenversicherung; das ist völlig richtig - ein Zusammenspiel von
vielen Kräften.
({2})
Das sind alles Leute, die auch mit entscheiden. Es gibt
die Krankenversicherung, die Patienten, die Selbstverwaltung, die Ärzte, die Krankenhäuser, die Pharmaindustrie und die Beschäftigten. Insofern muss man schon
sehen, dass Sie hier etwas verbreiten, das einfach nicht
stimmt.
Natürlich ist es so, dass uns die Situation steigender
Beitragszahlungen nicht passt. Dass wir für die Senkung
der Lohnnebenkosten eigentlich eher eine Minderung gewollt hätten, ist auch richtig. Aber auf der anderen Seite
sage ich Ihnen, dass Sie keinen Grund haben, uns diese
Beitragssatzerhöhung anzukreiden.
({3})
Wir liegen mit den Lohnnebenkosten immer noch besser
als Sie,
({4})
und gleichzeitig werden wir natürlich alles dafür tun,
diese Beitragssatzerhöhung so bald wie möglich obsolet
zu machen.
({5})
Ich möchte nur noch einmal daran erinnern - dabei
gehe ich gar nicht vor das Jahr 1998 zurück, weil ich damals noch nicht hier war -, was Sie beispielsweise in
Ihrem Antrag zum Pflege-Leistungsverbesserungsgesetz
vorgeschlagen haben. Sie wollten 1,5 Milliarden DM aus
der gesetzlichen Krankenversicherung für die Pflege Demenzkranker verwenden.
({6})
- Ja, gut. Aber die Krankenkassen haben es natürlich abgelehnt, dass die Behandlungspflege durch die GKV bezahlt werden soll.
({7})
- Sie haben mit ungedeckten Schecks etwas Gutes tun
wollen.
({8})
Alles, was Sie bisher an GKV-relevanten Maßnahmen
vorschlagen, würde grundsätzlich zur Erhöhung der
Beiträge führen.
({9})
Was gesundheitspolitisch Ihre einzige große Leistung
ist, ist der Vorschlag der Grundversorgung, bei der die Patienten tief in die eigene Tasche greifen müssten.
({10})
Wir wollen, dass es eine gute medizinische Versorgung
aller Patienten in Deutschland gibt. Wir sind auch der
Meinung, dass die Krankenkassenbeiträge insgesamt
nicht steigen werden. Dafür tun wir auch einiges; das ist
schon mehrmals gesagt worden.
Aber wir wollen natürlich auch die Positivliste. Wir
brauchen auch mehr Kontrolle und eine gesicherte Datenlage. Erhebliche Einsparmöglichkeiten gibt es bei den
Medikamenten. Gerade bei den Medikamenten, die
schließlich ein Grund dafür sind, dass die Kosten so stark
gestiegen sind, müssen wir genau nachschauen, was verordnet wurde. Ich meine, dass es sich oft um Pseudoinnovationen oder um umstrittene Arzneimittel handelt, für die
sehr viel Geld ausgegeben wird. Wir merken eben, dass es
Präparate gibt, die nicht besser sind als andere, die aber
beispielsweise 70-mal mehr als andere, gleich viel werte
Medikamente kosten. Hier erwarten wir auch ein Handeln
der Selbstverwaltung. Da muss etwas kommen!
({11})
Ich meine, dass wir eine Medizin brauchen, die für die
Patienten das ausgibt, was diese brauchen, aber nicht für
umstrittene Arzneimittel. Ich appelliere in diesem Zusammenhang natürlich auch an die Krankenkassen, aber auch
an die Kassenärztliche Vereinigung, dass wir auf diesem
Sektor zusammenarbeiten. Dann können wir auch diese
Einsparungen erzielen.
({12})
Die Wirtschaftlichkeit ist gerade in diesem großen Gesundheitsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung
unendlich wichtig. Man kann nicht so, wie Sie es machen,
auf der einen Seite alles fordern, was lieb und teuer ist,
und auf der anderen Seite versuchen, uns vorzuführen,
weil die Krankenversicherungsbeiträge erhöht werden
sollen. Dies ist kein fairer Wettbewerb.
({13})
Die Aktuelle
Stunde ist beendet. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungs-
punkte 5 a bis 5 e sowie den Zusatzpunkt 7 auf:
5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag
von Nizza vom 26. Februar 2001
- Drucksache 14/6146 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Beschluss des Rates vom 29. September
2000 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaft
- Drucksache 14/6142 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({2})
- Drucksache 14/6464 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Fornahl
Ursula Heinen
Dr. Helmut Haussmann
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die
Bemühungen zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Europäischen Parlaments
- Drucksache 14/5221 ({3}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
d) Beratung der Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch,
Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Für eine verbindliche und erweiterbare Europäische Charta der Grundrechte
- Drucksachen 14/4654, 14/5379 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({6})
Peter Altmaier
Claudia Roth ({7})
Uwe Hiksch
e) Beratung der Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({8})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Günter Gloser, Hans-Werner Bertl,
Hans Büttner ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Claudia Roth
({10}), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN
zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum bevorstehenden Europäischen
Rat in Nizza am 7./8. Dezember 2000
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter
Hintze, Peter Altmaier, Rente Blank, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Der Europäische Rat von Nizza muss zum
Erfolg für Europa werden
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Uwe Hiksch, Dr. Klaus Grehn, Dr. Gregor
Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum bevorstehenden Europäischen
Rat in Nizza vom 7. bis 9. Dezember 2000
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Uwe Hiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Die Europäische Union als Zivilmacht ausbauen
- Drucksachen 14/4733, 14/4732, 14/4666,
14/4653, 14/5386 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({11})
Christian Sterzing
Ernst Burgbacher
ZP 7 Beratung des Antrag der Abgeordneten Uwe
Hiksch, Dr. Klaus Grehn, Roland Claus und der
Fraktion der PDS
Vertrag von Nizza nachverhandeln
- Drucksache 14/6443 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst das Wort
für die SPD-Fraktion dem Kollegen Günter Gloser.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Was ist nicht alles über die
Regierungskonferenz von Nizza und deren Ergebnisse
geschrieben worden! Was ist nicht alles kritisiert worden!
In einer Reihe von Debatten haben wir deutlich gemacht:
Wir haben uns mehr erwartet. In einigen Punkten wären
in der Tat weiter gehende Änderungen notwendig gewesen.
({0})
Aber bei aller Kritik dürfen wir doch nicht das große Ziel
aus den Augen verlieren. Es geht um die Einigung unseres Kontinents in Frieden und Demokratie. Welche
Perspektive für diesen Kontinent! Welche Perspektive für
seine Menschen! Welche Perspektive aber auch für unser
Land!
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in Maastricht und in Amsterdam standen die institutionellen Reformen bereits auf der Tagesordnung. Diese Regierungskonferenzen haben darauf keine Antworten gefunden; sie
sind daran gescheitert. In Nizza haben die Staats- und Regierungschefs eine Lösung gefunden. Schon deshalb ist
Nizza bei aller sicher berechtigten Kritik ein Erfolg. Sechs
Monate nach Nizza ist es an der Zeit, eine nüchterne Bilanz zu ziehen. Dies wird offensichtlich auch dem Europäischen Parlament immer bewusster und wenn ich das
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
richtig verstanden habe, ist sogar die F.D.P. dabei, ihre
bislang ablehnende Haltung zu überdenken. Grundsätzlich gilt: Wir brauchen den Vertrag. Ohne ihn können wir
die Erweiterung nicht vollziehen.
In Berlin hat die Europäische Union unter deutscher
Ratspräsidentschaft den finanziellen Rahmen für die Erweiterung beschlossen.
({2})
In Nizza wurden die institutionellen Voraussetzungen für
die Erweiterung geschaffen.
({3})
Damit hat die Europäische Union die beiden zentralen Bedingungen für ihre Erweiterungsfähigkeit erfüllt.
({4})
- Herr Müller, ich weiß, an der Stelle sind Sie nicht lernfähig. Deshalb sind Ihre Zwischenrufe ohne Belang.
({5})
Das sehen die Beitrittsländer genauso. Deren Reaktion auf Nizza, Herr Müller, sollten Sie entsprechend bewerten. Deshalb fällt deren Bewertung der Ergebnisse
von Nizza uneingeschränkt positiv aus. Im Unterschied
zur umfassenden Medienkritik an den Ergebnissen von
Nizza haben unsere Partner aus den Beitrittsländern die
Botschaft von Nizza sehr wohl verstanden.
({6})
In Nizza haben die Staats- und Regierungschefs auch
einen Fahrplan für den Verhandlungsprozess vereinbart.
In Göteborg haben sie den Fahrplan präzisiert. Sie wollen
die Verhandlungen mit den am besten vorbereiteten Beitrittskandidaten bis Ende 2002 abschließen. Wohl wahr,
das ist eine ehrgeizige Zielvorgabe, aber wir wollen es gemeinsam schaffen.
Aber auch für die europäische Integration bringt der
Vertrag Fortschritte. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Vertrag die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nicht so weit gestärkt hat, wie wir - ich
denke, fraktionsübergreifend - bis vor Nizza gefordert
hatten. Der Übergang zur qualifizierten Mehrheit konnte
in vielen politischen, sensiblen Bereichen nicht erreicht
werden. Dafür muss man Gründe nennen: Ausschlaggebend war das Beharren auf nationalen Interessen. Wenn
Europa vorankommen will, muss hier ein Umdenken
stattfinden. Wer für mehr Integration eintritt, muss bei
sich zu Hause - also auch wir bei uns hier - dafür die
Voraussetzungen schaffen. Die Regierungskonferenz in
Nizza war deshalb so schwierig, weil es auch um die Neuverteilung institutioneller Macht ging. Daraus müssen wir
die Lehre ziehen, dass das Machtgleichgewicht zwischen
großen und kleineren Mitgliedstaaten eine elementare Voraussetzung für das Funktionieren der Europäischen
Union ist. Deshalb konnten und wollten zum Beispiel die
kleineren Mitgliedstaaten nicht auf einen eigenen Kommissar verzichten.
Aus deutscher Sicht bleibt festzuhalten, dass die demokratische Legitimation der Ratsbeschlüsse in Nizza
gestärkt wurde. Das gilt vor allem für das Prinzip der doppelten Mehrheit.
Der Vertrag von Nizza darf insgesamt nicht als ein
Rückschritt betrachtet werden. Er ist vielmehr ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu einem vereinten Europa.
({7})
Wir dürfen auch nicht übersehen, dass mit dem Vertrag
von Nizza trotz allem die Integrationsqualität gestiegen
ist: Die Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit im
Rat wurden auf weitere Bereiche ausgedehnt. Die verstärkte Zusammenarbeit ist entschlackt worden. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nimmt
deutliche Konturen an. Die Verabschiedung der Grundrechtecharta ist ein Fundament auf dem Weg zu einer Verfassung der Europäischen Union.
Unsere Aufgabe ist es nun, den Vertrag von Nizza zu
ratifizieren. Bundesregierung und Bundesrat haben bereits ihre Standpunkte bezogen. Die Stellungnahmen zeigen, dass beide Verfassungsorgane an ihren unterschiedlichen Rechtsstandpunkten festhalten. Der Bundesrat
besteht auf einer Ratifizierung des Vertrages von Nizza
mit verfassungsändernder Mehrheit.
({8})
Die Bundesregierung hält eine Ratifizierung mit einfacher Mehrheit für ausreichend.
({9})
Unser politisches Ziel sollte es sein, die Ratifizierung
rechtlich unanfechtbar und rechtzeitig vor dem Europäischen Rat in Laeken im Dezember 2001 abzuschließen.
({10})
- Für uns steht die politische Bedeutung des Vertrages,
lieber Herr Kollege Müller, im Vordergrund.
({11})
Deshalb sind wir der Auffassung, dass sich der Bundestag im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens parteiübergreifend auf die Ratifizierung des Vertrages von Nizza mit verfassungsändernder Mehrheit verständigen sollte.
({12})
Damit wäre eine zügige Ratifizierung des Vertrages
von Nizza gewährleistet und damit erreichen wir
Rechtssicherheit in Bezug auf den Bundesrat. Diese
Rechtssicherheit im Hinblick auf den Vertrag von Nizza
ist von deutschem, aber auch von europäischem Interesse.
({13})
Bei einer umfassenden Würdigung der Ergebnisse von
Nizza darf die Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union nicht fehlen. Mit dieser Erklärung haben
die Staats- und Regierungschefs den Beginn eines verfassunggebenden Prozesses für die Europäische Union eingeleitet. Ich will hier ganz deutlich sagen: Diese zukunftsweisende Erklärung hätte es ohne die intensive
Überzeugungsarbeit von Bundeskanzler Schröder und
Außenminister Fischer bei unseren Partnern und ohne die
intensive Zusammenarbeit mit der damaligen italienischen Regierung nicht gegeben. Deshalb sollten wir
dem Bundeskanzler und auch Ihnen, sehr geehrter Herr
Außenminister, ganz herzlich dafür danken.
({14})
Wo stünden wir denn heute, wenn wir diese Erklärung
nicht hätten? Wo stünden wir heute, wenn wir keine Debatten über die besten Konzepte für Europa, keine Debatte
über eine Verfassung hätten? Die Erklärung zur Zukunft
der Europäischen Union ist ein schlagender Beweis dafür,
dass die Bundesregierung ihr europapolitisches Handwerk versteht.
Besonders wichtig ist, dass es vor der nächsten Regierungskonferenz eine breite öffentliche Debatte über die
Reform der Europäischen Union gibt. Wir stellen uns
damit dem Befund, dass die Zustimmung der Bürgerinnen
und Bürger zum europäischen Projekt in den letzten Jahren ziemlich stetig gesunken ist. Europa ist in die Schlagzeilen geraten - und das nicht nur, seit es BSE oder MKS,
sprich: die Maul- und Klauenseuche, gibt.
({15})
Viele Bürgerinnen und Bürger verstehen Europa nicht
mehr. - Manche verstehen davon aber vielleicht mehr als
Sie, Herr Müller. - Sie haben eben nicht das Gefühl, dass
es auf ihre Stimme ankommt. Brüssel, die europäischen
Institutionen haben für sie kein Gesicht.
Mit der Regierungskonferenz 2004 haben wir die
Chance, Europa den Bürgerinnen und Bürgern zurückzugeben. Kurz: Wir wollen die demokratische Legitimation
in der Europäischen Union stärken. Darum brauchen wir
eine Parlamentarisierung und Demokratisierung der
europäischen Institutionen.
Worum muss es also im Jahre 2004 und vor allem davor gehen?
Erstens. Wenn jeder Bürger im Prinzip verstehen soll,
wie die Europäische Union funktioniert, müssen die europäischen Verträge lesbarer werden.
Zweitens. Verständlich kann die Europäische Union
für die Bürgerinnen und Bürger aber nur dann werden,
wenn klar ist, wer wofür verantwortlich ist.
({16})
Die Aufgabenverteilung zwischen der nationalen und der
europäischen Ebene muss deshalb auf den Prüfstand.
({17})
Drittens. Die demokratische Legitimation auf der europäischen Ebene kann auf absehbare Zeit nicht auf die
Art und Weise erfolgen, wie dies in den Mitgliedstaaten
möglich ist. Deshalb ist es richtig, dass wir uns während
des Reformprozesses auf dem Weg zur Regierungskonferenz 2004 mit der Frage befassen, wie die Rolle der nationalen Parlamente gestärkt werden kann.
({18})
Viertens. Wir müssen klären - da gibt es für uns eigentlich gar keinen großen Klärungszwang -, wie die
Grundrechtecharta in die Verträge integriert und rechtsverbindlich werden kann.
Ich will eine weitere Aufgabe nennen: Wir müssen uns
der Frage stellen, wie das Verhältnis der europäischen Institutionen zueinander weiterentwickelt werden soll. Wollen wir einen immer stärker werdenden Rat auf Kosten der
Europäischen Kommission, das heißt, wollen wir in Richtung auf eine Zusammenarbeit der Regierungen gehen,
oder wollen wir mehr einen Integrationsansatz, das heißt,
die Vergemeinschaftung stärken und damit neben dem Rat
das Gewicht der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments ausbauen? Dies ist sicherlich von
unserer Seite zu befürworten.
Parlamentarisierung heißt aber auch, dass wir die europäischen Verträge nicht mehr so wie bisher reformieren
können. Das Instrument der Regierungskonferenz ist an
seine Grenze gestoßen. Deshalb treten wir mit Nachdruck
dafür ein, für die Reform 2004 ein Gremium, ähnlich dem
Konvent für die Formulierung der Grundrechtecharta,
einzusetzen. In Anlehnung an die Aussage von Willy
Brandt „Mehr Demokratie wagen“ sage ich: Wir müssen
in Europa mehr Parlament wagen.
Aber ich muss dazu sagen: Der Konvent wird kein Allheilmittel für all die vielen Schwierigkeiten sein, die es auf
dem Weg zu einer europäischen Integration immer noch
gibt und auch künftig geben wird. Wer Europa voranbringen will, muss im Zweifel nationale Interessen hintanstellen und für das europäische Interesse eintreten. Das ist die
wichtigste Lehre, die wir aus Nizza ziehen müssen. Wenn
wir diese Lehre verstanden hätten, wäre mir um die Zukunft Europas nicht bange.
Vielen Dank.
({19})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Peter Hintze.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Der Vertrag von Nizza ist
durch das Nein der irischen Bevölkerung neu in den
Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Viele Bürger in
Europa empfinden angesichts der Kompliziertheit und
Undurchschaubarkeit der Brüsseler EntscheidungsGünter Gloser
prozesse Unbehagen. Herr Außenminister, der Vertrag
von Nizza hat dieses Problem leider eher verschärft. Sie
präsentieren uns heute ein ausgesprochen schwaches Ergebnis zur Ratifizierung.
({0})
Europa in der Hand der Regierungen ist weit weg von
den Menschen. Deswegen müssen wir Europa den Bürgern wieder zurückgeben. Das ist die zentrale Aufgabe,
die im europäischen Verfassungsprozess gelöst werden
muss. Wir wollen die Europäische Union so weiterentwickeln, dass sich die Bürger beteiligt fühlen, sie ein echtes Wahlrecht bekommen, das faktisch auch ein Recht zur
Wahl und Abwahl der Kommission, der europäischen
Exekutive, beinhaltet. Das Europäische Parlament soll
der zentrale Ort für wichtige Entscheidungen werden. Europa käme dann den Bürgern viel näher. Nicht zuletzt eine
klar gegliederte Kompetenzabgrenzung trägt dazu bei,
dass Europäische Union und Bürgernähe keine Gegensätze mehr sind.
({1})
Der Vertrag von Nizza muss in allen 15 Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Nun haben die Iren Nein gesagt. Es
stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Ist der Vertrag
von Nizza mit dem irischen Nein tot? Ich sehe für Europa
noch eine gute Chance, die Ratifikation auch in Irland zu
schaffen, wenn die Art und Weise, wie der Vertrag von
Nizza in den anderen europäischen Mitgliedstaaten beraten wird, wie die Ratifizierung dort abläuft und wie die
Perspektiven für die Zukunft sind, die irische Bevölkerung überzeugt.
Ich will eines sagen - Herr Kollege Gloser hat es zaghaft angesprochen -: Deutschland ist jetzt an der Reihe.
Unverständlicherweise hat sich die Bundesregierung dazu
entschlossen, die Ratifizierung auf einer Art „low-level“
durchzuführen, das heißt, auf der niedrigst möglichen
Ebene, nach dem Motto, es reiche, wenn Parlament und
Bundesrat mit einfacher Mehrheit zustimmten.
Nun kann man im Hinblick auf die dürftigen Ergebnisse von Nizza politisch zu dem Schluss kommen, dass
eine einfache Mehrheit vielleicht reicht. Integrationspolitisch, Herr Außenminister, halte ich es aber für einen
schweren Fehler der Regierung, so zu verfahren. Die irische Regierung hört auf ihre Bevölkerung, unser Bundeskanzler Schröder dagegen hört nicht einmal auf seine eigene Fraktion.
({2})
Ich bedaure, dass er heute nicht hier ist. Ausnahmsweise
müssen wir den Außenminister für etwas kritisieren, für
das er zwar als Regierungsmitglied Verantwortung trägt,
das aber nicht aus der Tiefe seines Herzens gekommen ist.
({3})
Im Europaausschuss herrscht unter allen Abgeordneten
eine breite Übereinstimmung darüber, dass das Ratifizierungsgesetz zum Nizza-Vertrag mit einer Zweidrittelmehrheit ausgestattet werden sollte. Ich stehe nicht an zu
sagen: Ich freue mich, dass sich der Kollege Gloser eben
hier hingestellt und gesagt hat, dass diese Überzeugung
auch weiterhin gilt. Ich finde es sehr anständig, dass er das
getan hat.
({4})
In Kenntnis der Stellungnahme des Bundesrates, von
15 Ministerpräsidenten, 15 Justizministern und 15 Europaministern und in Kenntnis der Stellungnahme der Fraktionen des Deutschen Bundestages sagt die Bundesregierung trotzig: Einfache Mehrheit soll es sein. - Was ist das?
Ist das Angst vor dem Parlament oder Ignoranz?
({5})
Was steckt dahinter? Der Bundeskanzler sagt: Basta, einfache Mehrheit, und das ist gut so.
({6})
Ich erinnere mich noch an die Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages. Hier im Haus sitzen einige, die das
auch noch in Erinnerung haben. Die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl hatte ursprünglich die Absicht, den Amsterdamer Vertrag nach
Art. 23 Abs. 1 Satz 2 hier zur Ratifizierung vorzulegen. Es
waren die Vertreter der Grünen - ich glaube, Herr Fischer
war damals Sprecher der Grünen ({7})
und die Vertreter der SPD, die an die Regierung herangetreten sind und gesagt haben: Lasst uns alle juristischen
Fallstricke und Unsicherheiten ausräumen und dies als
eine gemeinsame Aufgabe verstehen. Die Bundesregierung hat das damals aufgegriffen und das Ganze entsprechend eingebracht. Es gab dann eine Zweidrittelmehrheit
für die Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages.
({8})
Deshalb finde ich es einerseits schön, dass sich die Regierungsfraktionen daran erinnern - das erleben wir hier
im Parlament nicht immer; dies ist endlich einmal ein
Fortschritt -, andererseits aber schade, dass der Bundeskanzler, der die Ratifizierung des Vertrages von Nizza für
nicht wichtig genug hält, um hier im Parlament zu sein,
anders entschieden hat. Auch wenn wir das Angebot der
Sozialdemokraten aufgreifen, die Sache zu heilen, wäre
es korrekter und sicherer, die Bundesregierung würde diesen falschen Gesetzentwurf zurückziehen und dem Parlament einen neuen Gesetzentwurf mit einer geänderten
Eingangsformel zuleiten.
({9})
Ich möchte noch etwas sagen: Trotz der in der Sache
unbefriedigenden Ergebnisse besteht eine breite Übereinstimmung, diesen Vertrag wegen der grundlegenden Wirkung für die Osterweiterung, die wir als die große historische und politische Aufgabe verstehen, zu ratifizieren.
({10})
Es ist mir ein völliges Rätsel, wie es eine Regierung
schafft, eine im Parlament vorhandene Zweidrittelmehrheit, die bereit ist, einen solchen Vertrag zu tragen, durch
reine Rechthaberei in Gefahr zu bringen.
({11})
Wenn die Opposition gebeten wird, europapolitisch bedeutsame Dinge mitzutragen und nicht aus taktischen
Gründen Schwierigkeiten zu schaffen, wie wir das in unserer Regierungszeit mit Ihnen bei manchen Themen erlebt haben, muss man mit ihr fair umgehen.
({12})
Es spricht für das Funktionieren des Parlamentarismus,
dass der Kollege Gloser von der SPD erklärt hat, dass Sie
die Auffassung, die Sie im Europaausschuss vertreten haben, trotz des gegenteiligen Votums der Bundesregierung
auch hier im Parlament vertreten. Dies ist ein Zeichen für
die Unabhängigkeit des Parlaments; dies wird unserem
Auftrag gerecht. Insofern halte ich das für eine positive
Sache.
({13})
Der Nizza-Vertrag selbst ist leider ein Beitrag zur Steigerung der Unübersichtlichkeit und zur Absenkung der
demokratischen Kontrolle in Europa. Die Verträge sind
unübersichtlicher geworden. Wir hatten uns eine Vereinfachung gewünscht und es ist eine Komplizierung herausgekommen. Ich bitte den Außenminister, nicht nur
kräftig zu gähnen, was möglicherweise auf Sauerstoffmangel beruht, sondern uns auch dazu ein Wort zu sagen.
({14})
Die parlamentarische Demokratie und die Gewaltenteilung sind auf ziemlich niedrigem Niveau stecken geblieben. Es ist sogar geschafft worden, im Rat für viele
Dinge eine Mehrheitsentscheidung zu beschließen und
gleichwohl das Europäische Parlament an einer Mitentscheidung zu hindern. Dies gilt selbst für ein Kernelement des Parlamentarismus wie das der Haushaltsordnung. Ich habe das Gefühl, dass manche Regierungen das
Parlament als Störenfried ansehen. Insofern wollen wir
unsererseits als Parlament etwas stören, weil wir der Auffassung sind, dass die zentralen Entscheidungen in den
Parlamenten getroffen werden sollten. Das gilt für die nationalen Parlamente wie auch für das Europäische Parlament.
({15})
Das Treffen von Entscheidungen im Ministerrat wird
schwieriger und komplizierter. Man hat es geschafft, dass
in Zukunft, wenn die Erweiterung durchgeführt ist, selbst
bei einfachsten Fragen 74 Prozent der gewichteten Stimmen nötig sind, um überhaupt zu einer Entscheidung zu
kommen. Zusätzlich zu den zwei Hürden hat man eine
dritte Hürde errichtet. Entscheidungen zu treffen wird
noch schwieriger, gerade wenn wir im größeren Kreis
beieinander sind.
Ein ganz bedauerliches Ergebnis dieser Regierungskonferenz ist, dass wir die neuen Partner Tschechien und
Ungarn bei der Sitzverteilung im Europäischen Parlament
diskriminieren und ihnen weniger Sitze geben als Belgien
und Portugal, obwohl sie mehr Einwohner haben. So kann
Partnerschaft in Europa nicht aussehen. Deswegen fordern
wir als CDU/CSU-Fraktion, dass das in den Beitrittsverträgen mit Tschechien und Ungarn korrigiert wird und die
Europäischen Verträge entsprechend geändert werden.
({16})
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion
wird dem Nizza-Vertrag zustimmen, weil er der Schlüssel
für die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union ist.
({17})
Das ist eine große und bedeutende Aufgabe, der wir uns
selbstverständlich stellen wollen. Wir weisen dabei darauf
hin, dass auch der Kommissionspräsident, Herr Prodi, unsere Unterstützung hat, der gesagt hat, dass die Dinge, die
mit der Erweiterung verbunden sind, notfalls im Rahmen
der Beitrittsverträge geregelt werden müssten, und die anderen Dinge im Rahmen des Verfassungsvertrages, wenn
es beim irischen Nein bleibt. Wir können die historische
Aufgabe der Osterweiterung nicht auf Gedeih und Verderb
allein an den Vertrag von Nizza binden. Sie muss auch politisch weitergeführt werden, notfalls über den Weg der
Beitrittsverträge mit den Einzelregelungen oder des Verfassungsvertrags mit den grundlegenden Regelungen.
Eines ist allerdings deutlich geworden - dafür hat die
Konferenz in Nizza ein eindrucksvolles Beispiel geliefert -: Die Methode Regierungskonferenz hat sich erschöpft. Wir brauchen ein neues, kreatives Verfahren. Für
die Erarbeitung des Verfassungsvertrags brauchen wir
eine vorbereitende Versammlung aus Mitgliedern der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments,
der nationalen Regierungen und der Europäischen Kommission, die gleichberechtigt einen Entwurf erarbeiten,
der dann im Rahmen der üblichen Vertragsabwicklung
durch eine Regierungskonferenz beschlossen und in den
Nationalstaaten ratifiziert wird. Dadurch ist man in der
Lage, für die Erarbeitung mehr Kreativität aufzubringen
und mehr Konsens herzustellen, als das mit der üblichen
Methode der Regierungskonferenz bisher der Fall war.
Ich wünsche mir, dass wir dieses umfassende Projekt,
die Weiterentwicklung der Europäischen Union, die Gestaltung eines Verfassungsvertrages mit einer horizontalen und einer vertikalen Kompetenzabgrenzung und die
Erweiterung der Europäischen Union, als die große Aufgabe im beginnenden 21. Jahrhundert angehen. Die CDU/
CSU bietet der Regierung an, sie in den Grundfragen zu
unterstützen. Wir bitten aber die Regierung, ihrerseits das
Parlament und auch uns zu würdigen und diese Themen
in einem fairen Verfahren zu besprechen und auf den Weg
zu bringen, damit der europapolitische Konsens auch integrationspolitisch von der Regierung gestützt wird.
Schönen Dank.
({18})
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Christian Sterzing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, wir müssen zunächst ein Missverständnis ausräumen. Herr Kollege Hintze, ob der Nizza-Vertrag mit einer
Zweidrittelmehrheit oder einer einfachen Mehrheit verabschiedet wird, hat nichts mit der politischen Bedeutung
dieses Vertrags als solchem zu tun. Es gibt, wie beim
Amsterdamer Vertrag, eine juristische Auseinandersetzung über die Frage, ob eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist oder nicht; das hängt mit unklaren Artikeln im
Grundgesetz zusammen. Darüber kann man juristisch
streiten. Aber die Tatsache, dass die Bundesregierung hier
den Vorschlag macht, das Gesetz mit einer einfachen
Mehrheit durch das Parlament und den Bundesrat zu bringen, lässt nun wirklich nicht den Rückschluss zu, dass die
Bundesregierung oder irgendeine der Regierungsfraktionen der Meinung ist, dass der Vertrag von Nizza ohne
europa- oder integrationspolitische Bedeutung sei. Ich
glaube, es steht vollkommen außer Zweifel, dass Nizza
ein wichtiger Schritt im europäischen Integrationsprozess
ist.
Wenn Sie jetzt auf die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit hinweisen, für die vieles spricht, dann trifft
das deutsche Sprichwort zu, das heute schon einmal erwähnt worden ist: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit
Steinen werfen. Vor ein paar Monaten hat auch die CDUOpposition hier im Hause noch die Meinung vertreten,
eine Zweidrittelmehrheit sei nicht erforderlich. Dann gab
es Briefe aus dem Süden der Republik, die bestimmte
Überlegungsprozesse beschleunigten. Das kann ganz hilfreich sein. Insofern sollte man mit Häme vorsichtig sein.
Wir haben hier einen Dissens zwischen großen Teilen
des Parlaments und der Bundesregierung. Das haben wir
in den letzten Tagen deutlich besprochen. Da wir uns hier
aber in einer ganz großen Mehrheit einig sind, dass Nizza
ratifiziert werden soll, gerade auch aufgrund seiner integrationspolitischen Bedeutung, bin ich davon überzeugt,
dass wir einen Weg aus dem augenblicklichen Dilemma
finden
({0})
und den Nizza-Vertrag politisch und juristisch sattelfest
ratifizieren werden.
Die Frage, ob Nizza es angesichts der Kritik, die in den
letzten Monaten an diesem Vertrag immer wieder geübt
worden ist, wert ist, ratifiziert zu werden, sollte nicht zu
parteipolitischen Spielchen verführen. Insofern hoffe ich
sehr, dass sich gerade die F.D.P. noch bewegt und von ihrer ursprünglich ablehnenden Haltung Abstand nimmt.
Das ist nicht ganz einfach.
Ich erinnere daran, dass gerade die F.D.P. in der Europapolitik in den letzten Jahren immer das Hohelied auf die
Notwendigkeit der kleinen Schritte gesungen hat. Ich erinnere daran, dass gerade gestern Herr Möllemann sich
sehr besorgt über die Position der F.D.P. geäußert hat. Er
hat gesagt, es wäre ein Treppenwitz, wenn jene Partei, die
sich immer für eine Politik der kleinen Schritte ausgesprochen habe, jetzt sagte, die in Nizza erreichten Schritte
seien nicht groß genug.
({1})
Insofern stellt sich doch die Frage: Sind in Nizza Fortschritte gemacht worden? Das ist zweifellos der Fall. In
vielen Bereichen sind Fortschritte gemacht worden. Die
Schritte sind nicht groß genug.
({2})
Wir konnten uns immer vorstellen, in Nizza größere
Schritte zu machen, mit größerer Entschlossenheit das
eine oder andere Reformvorhaben anzupacken. Das hat
auch die Regierung nie verschwiegen.
Die Tatsache, dass einige der Schritte sehr klein geblieben sind,
({3})
führt nicht dazu, dass der Vertrag in Gänze abgelehnt werden sollte. Denn eine solche Ablehnung wäre nur gerechtfertigt, wenn Schritte unternommen worden wären,
die in die falsche Richtung gehen. Das kann ich wirklich
nicht sehen. Insofern müsste sich jeder, der diesen Vertrag
ablehnt, fragen lassen, was er damit auslöst, welche Steine
er damit dem Integrationsprozess in den Weg legt.
Diese Steine sind, glaube ich, offensichtlich. Ihr Kollege Möllemann spricht das sehr deutlich aus. Er klagt
eine eindeutigere Position Ihrer Partei zur geplanten EUOsterweiterung ein. Er erinnert damit an ein ganz entscheidendes, wenn nicht das entscheidende politische
Signal von Nizza, nämlich das grüne Signal für die Osterweiterung. Sie und auch die PDS müssen sich klar werden: Wer Nizza ablehnt, wer hier Nachbesserungen verlangt, der zerstört dieses Signal, der setzt den Fahrplan für
die Osterweiterung aufs Spiel. Das können wir uns politisch auf keinen Fall leisten.
({4})
Der zweite Punkt: Nizza ist - dies wurde schon erwähnt - ein wichtiger Schritt auf dem Reformweg der
Europäischen Union. Wir sprechen heute fast schon mehr
über den Post-Nizza-Prozess als über Nizza.
Kollege Sterzing, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin LeutheusserSchnarrenberger?
Ja.
Herr Sterzing, können Sie sich noch an Ihren Antrag erinnern, den Sie am 4. März 1998 zu den Beratungen des
Vertrages von Amsterdam in den Bundestag eingebracht
haben? Ich sage nicht, dass ich die darin vertretene Auffassung teile. Aber Sie sagen dort:
Angesichts der unzureichenden Ergebnisse der
Regierungskonferenz, die nicht zuletzt auf die
falschen politischen Zielsetzungen zurückzuführen
sind, ist die Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages
politisch abzulehnen.
Weil es aber immerhin integrationspolitische Fortschritte
in Teilbereichen gebe, wollten Sie sich damals - das haben Sie dann auch getan - bei der Abstimmung über den
Amsterdamer Vertrag enthalten. Das war Ihre Position zu
einem Vertrag, der eindeutig einen größeren Schritt für die
Integration der Europäischen Union bedeutet hat als der
Vertrag von Nizza. Wie bewerten Sie, Herr Sterzing, Ihre
damalige Position aus heutiger Sicht? Ich finde Ihr Verhalten, Herr Sterzing, widersprüchlich.
({0})
Ich empfehle Ihnen, meine ganze Rede zu lesen, die ich
damals gehalten habe.
({0})
Es muss, glaube ich, zwischen der Frage, ob es große oder
kleine Schritte in die richtige Richtung sind - das ist die
Frage, ob das Glas halb voll oder halb leer ist; darüber
kann man politisch streiten -, und der Frage, ob Schritte
überhaupt in die richtige Richtung gemacht werden, unterschieden werden. Damals waren wir der Meinung, dass
einige der in Amsterdam beschlossenen Schritte - das
habe ich in meiner damaligen Rede auch ausgeführt - in
die falsche Richtung gehen. Diese Beurteilung des Amsterdamer Vertrages hat damals zu unserer Enthaltung geführt.
({1})
Nun müssten Sie mir erklären, ob in Nizza ein Schritt
in die falsche Richtung gemacht worden ist, der eine vollständige Ablehnung des Vertrages rechtfertigt. Dazu habe
ich von Ihnen bislang nichts gehört. Sie beklagen zwar,
dass zu wenige Reformschritte auf den Weg gebracht worden seien. Aber Sie haben nicht gesagt, dass diese vollkommen falsch seien oder in die falsche Richtung gingen.
Ich glaube, wir müssen uns schon der Mühe unterziehen,
die einzelnen Vertragswerke, zu denen das Parlament leider nur Ja oder Nein sagen kann, tatsächlich in ihrer Komplexität zu beurteilen und daraus politische Schlüsse zu
ziehen.
Wenn man den Vertrag von Nizza ablehnt, dann signalisiert man auch, dass man die Osterweiterung ablehnt.
Das darf auf keinen Fall geschehen. Des Weiteren ist mit
dem, was man als Post-Nizza-Prozess bezeichnet, eine
neue Reforminitiative angestoßen worden, gerade auch
durch die Bundesregierung. Wer gegen den Vertrag von
Nizza stimmt, muss auch erklären, was aus der Reforminitiative, die gerade durch den Gipfel von Nizza auf den
Weg gebracht worden ist, werden soll. Darüber debattieren wir bereits. Ich glaube, die Ablehnung des Vertrages
von Nizza wäre für den Reformprozess schädlich und
würde die Debatte über Reformen behindern.
Sicherlich gibt es gute Gründe, den Vertrag von Nizza
zu kritisieren. Aber es gibt bei allen Unzulänglichkeiten
auch gute Gründe, den Vertrag von Nizza zu ratifizieren;
denn damit fördert man sowohl den Erweiterungsprozess
als auch den weiteren Integrations- und Reformprozess in
der EU.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Es hat schon größere
europäische Vertragswerke gegeben als den Vertrag
von Nizza, an denen Redner hätten festmachen können,
ob man ein Bewusstsein für Europa hat oder nicht.
Amsterdam war jedenfalls ein größerer qualitativer
Sprung als Nizza. Damit hat meine Kollegin LeutheusserSchnarrenberger wirklich Recht.
Meine Fraktion möchte zwar aus ganz grundsätzlichen
Erwägungen heraus dem Nizza-Prozess keine Steine in
den Weg legen. Aber der Vertrag von Nizza ist im Vergleich zu anderen europäischen Verträgen nun wirklich
kein großer Wurf. Niemand kann allen Ernstes das Gegenteil behaupten. Es hat sicherlich schon stärkere und
schwächere Gipfel gegeben. Aber die letzten europäischen Gipfel - die einzige Ausnahme ist der couragierte
Beschluss von Göteborg, die Osterweiterung bis zur
nächsten Wahl des Europaparlaments voranzubringen haben keine wirklichen Spitzenleistungen hervorgebracht.
({0})
Das muss hier auch gesagt werden. Es begann mit dem
Berliner Gipfel, auf dem die finanziellen Voraussetzungen für die Aufnahme der osteuropäischen Staaten geschaffen werden sollten. Tatsächlich wurden auf diesem
Gipfel die alte Agrarpolitik fortgesetzt und die Erhöhung
der Mittel aus den Kohäsions- und Strukturfonds für
Westeuropa beschlossen, sodass nur noch 30 Prozent der
Mittel für die Osterweiterung zur Verfügung standen. Das
war unter dem Gesichtspunkt der Nachbarschaft mit den
osteuropäischen Staaten nicht fair. Das war das Ergebnis
des Berliner Gipfels.
({1})
Danach fanden weitere Treffen auf europäischer Ebene
statt. In Porto hat sich die Europäische Union aufgemacht, zu erklären, sie sei einer der größten Globalplayers, sie gehe jetzt entschieden nach vorne, sie privatisiere
die Märkte, sie bringe die Forschung und die Entwicklung
nach vorne, man müsse sie ernst nehmen, sie sei ein starker Wettbewerber. Als man sich in Stockholm traf, ist es
trotz vieler vorbereitender deutsch-französischer Essen
nicht dazu gekommen, dass Märkte wirklich geöffnet
worden sind, dass die Energieversorgung privatisiert worden ist und dass die Verbraucher als die entscheidende
wirtschaftliche Macht gesehen worden sind. Man blieb
genau da stecken, wo wirtschaftliche Dynamik hätte entfaltet werden können.
({2})
Dann folgte Nizza. Jeder in diesem Hause weiß, dass
Nizza gemessen an dem, was es hätte leisten sollen, ein
Fehlschlag war. Alle, die von Nizza zurückkamen, sagten:
Wir mussten zwar verhandeln, es blieb uns nichts anderes
übrig - solche Stimmen gab es auch aus der deutschen Delegation -; aber es war nicht mehr herauszuholen. Wenn
man ein solches, etwas schwächliches Verhandlungsergebnis zu kommentieren hat, dann muss man an diesem
Rednerpult aber nicht dreimal Halleluja schreien. Nizza
und Berlin sind, gemessen an dem notwendigerweise ehrgeizigen Ziel der Osterweiterung der Europäischen
Union, Fehlschläge gewesen.
({3})
Man kann uns gerne fragen, ob man hätte ratifizieren
müssen oder ob es eine Alternative gab. Herr Bundesaußenminister, ich wäre schon dankbar, wenn der Ratifizierungsprozess in diesem Hause mit ruhiger Hand, wie
es beim Bundeskanzler Mode geworden ist, durchgeführt
würde. Das gäbe uns vielleicht ein Stück mehr Hoffnung
auf die belgische Präsidentschaft. Der belgische Premierminister, unser liberaler Kollege, hat in diesen Tagen völlig zu Recht die Bezeichnung „Identitätskrise“ benutzt.
Zwar haben Sie, Herr Bundesaußenminister - ich erinnere
an Ihren Vortrag in der Humboldt-Universität -, der Bundeskanzler und auch Herr Jospin wichtige Reden gehalten;
aber zusammen haben Sie das Entscheidende nicht gesagt.
({4})
So sollte Europa nicht enden. Die Kette der Gipfel der letzten Jahre war hinsichtlich der Erweiterung nicht erfolgreich.
Dem Kollegen von den Grünen, der gesagt hat, dass
sich an der Haltung gegenüber Nizza festmachen lasse, ob
man entschieden für die Erweiterung sei, entgegne ich:
Wenn es nach dem Willen aller Abgeordneten der F.D.P.Fraktion gegangen wäre, dann hätten wir die Erweiterung
schon haben können, bedenkt man, mit welcher Zögerlichkeit die Bundesregierung in die Erweiterungsverhandlungen gestartet ist.
({5})
Dieser Vorhalt erscheint besonders witzig, wenn man
bedenkt, dass dieselbe Bundesregierung die Auffassung
vertritt, man müsse doch die Erweiterung wollen. Das
müssen Sie uns gar nicht vorhalten; denn es ist für uns europäische Verpflichtung und ein Stück Inhalt unserer
Politik, es ist unser Credo. Es ist ein Treppenwitz der
Weltgeschichte, dass diese Bundesregierung, ohne ihre
Hausaufgaben zu machen, über Übergangsfristen von
sieben Jahren verhandelt.
({6})
Herr Bundesaußenminister, mir ist erst jetzt klar geworden, warum Sie eine Übergangsfrist von sieben Jahren
brauchen: weil Ihre Anhänger tatenlos zusehen, wie bei
VW 5 000 Stellen - diese Stellen wären ein Erfolg der Beschäftigungspolitik in Deutschland - nicht zustande kommen.
({7})
Daran wird deutlich, welch krasses Missverhältnis zwischen Ihrer Beschwörung Europas und Ihrer Politik besteht. Die Übergangsfristen im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union nach Osteuropa in dieser
Dimension sind überhaupt nicht motivierend. Diese Fristen sind schlicht der Ausfluss mangelnder innenpolitischer Reformfähigkeit dieser Bundesregierung im Hinblick auf den deutschen Arbeitsmarkt.
({8})
Wir haben in diesen Fragen keinen Nachhilfeunterricht
nötig.
Kern des Problems ist, ob wir überhaupt wieder die
Fähigkeit entwickeln, den Menschen zu vermitteln, worin
die Dimension und die Notwendigkeit europäischer Aufgaben besteht. Mir erscheint es so, dass die Menschen
nach der Katastrophe der deutschen Geschichte davon
noch wussten. Eine solche Kette von Gipfelveranstaltungen hat allmählich dazu beigetragen, dass die Menschen
das völlig vergessen haben. Dem irischen Votum liegt für
mich keine Beliebigkeit zugrunde; vielmehr ist es ein
ganz ernsthafter Hinweis, dass die Fortsetzung dieser Art
von Gipfelpolitik ein Bewusstsein für Europa überhaupt
nicht mehr wecken kann.
({9})
Vor der Herausforderung, dieses Bewusstsein erneut zu
schaffen, stehen wir.
Es wäre gut, wenn wir uns anlässlich der Beratungen
über die in Nizza gefassten Beschlüsse darüber klar würden, dass dort etwas mehr verlangt worden ist, als nur zu
fragen, ob derjenige, der Nizza schon heute zustimmt und
Erklärungen abgibt, ein guter Europäer ist und ob derjenige, der heute sagt: „So kann es einfach nicht weitergehen“, ein schlechter Europäer ist. Jedes Mitglied unserer
Fraktion weiß, dass es zur Politik gehört, manchmal Entscheidungen hinzunehmen, die etwas kümmerlich sind,
um überhaupt weiterzukommen. Wenn Sie Nizza in diese
Rubrik einordnen, dann können Sie mit unserer Fraktion
reden; denn auch wir wissen, was geschichtliche Verantwortung gegenüber europäischen Vertragswerken ist.
Aber unterlassen Sie es, uns Nizza glorios wie ein
Gemälde zu beschreiben.
Die Gipfelveranstaltungen der vergangenen Jahre,
auch die in der Verantwortung dieser Bundesregierung
durchgeführten, verdienen diese Bezeichnung nicht.
({10})
- Herr Kollege, ich muss mich fragen, ob der Euro
- das war eine der psychologisch bedeutsamsten
Entscheidungen - überhaupt zustande gekommen wäre,
wenn die Gipfelvorbereitungen so ausgesehen hätten wie
die dieser Bundesregierung, die die letzten Gipfelveranstaltungen vorbereitet hat.
({11})
Meine Damen und Herren, für meine Fraktion lege ich
Wert auf ein klares, zeitlich nicht beschränktes, jedenfalls
nicht zu schnelles Ratifizierungsverfahren, das auch die
Hürde der Mehrheiten klärt. Wir möchten einen weiteren
Fortgang im Rahmen der belgischen Präsidentschaft. Es
wäre gut, wenn Signale über Nizza hinausgingen. Das
macht eine Ratifizierung einfacher. Ich habe die Hoffnung, dass, wenn im Herbst eine Entscheidung über Nizza gefällt wird, wir sagen können: Wir nehmen das hin. Es
war nicht einer der glanzvollsten Gipfel. Aber wir sind
froh, dass es in der belgischen Präsidentschaft weitergeht.
- Es obliegt der Bundesregierung, das Ratifizierungsverfahren mit Offenheit und strategischer Klugheit zu führen.
Dann stellen sich auch hier ausreichende Mehrheiten heraus. Das gehört auch dazu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Uwe Hiksch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Diskussion
zu einem Gesetzentwurf zum Vertrag von Nizza, die
eigentlich nur unter Vorbehalt stattfindet.
({0})
Denn zwei Verfassungsorgane haben eindeutig klargemacht, dass sie der festen Überzeugung sind, dass dieser
Gesetzentwurf mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet
werden muss. Sowohl der Bundesrat als auch alle
Fraktionen im Deutschen Bundestag haben dies deutlich
ausgesprochen. Die Bundesregierung, das dritte Verfassungsorgan, tut jedoch so, als ob sie das nicht interessieren muss. Herr Außenminister, dieses verfassungsrechtlich äußerst bedenkliche Vorgehen ist zum einen
europaschädlich und zum anderen vor allem ein Zeichen
dafür, dass Sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben.
Haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, dass das Europa, so wie es heute dargestellt wird, nämlich ein Europa,
das nur von den Regierungen diskutiert wird, das für die
Menschen nicht mehr fassbar ist und in dem nicht mehr
die zentralen Themen, zum Beispiel Arbeitslosigkeit,
Strukturpolitik und Entwicklung der Sozialpolitik, im
Mittelpunkt stehen, von den Menschen - wie jetzt in Irland - nicht akzeptiert wird?
Wir erleben in der Bundesrepublik, dass die Bundesregierung verfassungsrechtliche Bedenken zur Seite
schiebt, weil sie von innenpolitischen Problemen ablenken möchte. Deshalb, sehr geehrter Herr Außenminister,
fordere ich Sie im Namen der PDS-Bundestagsfraktion
ausdrücklich auf, alles dafür zu tun, dass nicht nachträglich Menschen, die Probleme mit dem Nizza-Vertrag haben, die Möglichkeit bekommen, verfassungsrechtlich
gegen die jetzige von der Bundesregierung an den Tag
gelegte Art und Weise vorzugehen, sodass eventuell Sie
die Schuld daran tragen, dass Deutschland zu einem
Bremser bei der Ratifizierung des Vertrages von Nizza
wird.
({1})
Wir fordern Sie auf: Legen Sie einen neuen Gesetzentwurf vor. Nehmen Sie die Bedenken von Bundesrat und
Bundestag auf und machen Sie deutlich, dass die Zweidrittelmehrheit eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass
alle Bedenken ausgeräumt sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein Europa, das sich weiterentwickelt. Wir brauchen ein Europa,
das deutlich macht, dass die Demokratisierung aller europäischen Strukturen im Zentrum weiterer europäischer
Politik stehen muss und dass Transparenz von Entscheidungen und dass Mitbekommenkönnen, warum Gesetzentwürfe und Richtlinien verabschiedet werden, zum
Zentrum aller politischen Entwicklungen werden müssen.
Wir alle müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass die Europamüdigkeit - zum Teil ist es sogar Europafeindlichkeit in immer mehr Staaten zunimmt.
Auf der einen Seite treten wir für die Durchsetzung
plebiszitärer Elemente und für direkte Demokratie und
Volksabstimmungen ein. Auf der anderen Seite können
wir aber doch nicht über eine in Irland durchgeführte
Volksabstimmung über ein Europa der Regierungen, ein
Europa, das die soziale Dimension vergisst und ein reines Binnenmarktprojekt werden kann, ein Europa, das
nicht die demokratische Dimension in den Mittelpunkt
stellt, sondern Regierungsgemauschel in internen Gremien für wichtiger hält, hinweggehen und so tun, als
hätte es sie nicht gegeben. Deshalb bitte ich Sie alle:
Nehmen Sie das irische Votum ernst. Nehmen Sie ernst,
dass die Menschen ein anderes Europa wollen, und setzen Sie sich dafür ein.
Ich sage Ihnen, Herr Sterzing: Wenn die PDS-Bundestagsfraktion dafür eintritt, dass der Nizza-Vertrag nachverhandelt werden muss, tut sie das im europapolitischen
Interesse. Wir wissen, dass ein Europa der 28, das sich
weiterentwickelt als heute, ein Europa, das zu einem
Binnenmarktprojekt werden wird ohne jegliche politische, demokratische Legitimierung, ein Europa, das sich
Strukturen schafft, die nicht mehr in der Lage sind, überhaupt noch für die Menschen nachvollziehbar zu handeln,
ein Europa sein wird, in dem die Gefahr des Scheiterns
und übrigens auch des Nationalismus wesentlich größer
sein wird, wenn wir uns heute nicht gemeinsam dazu entschließen, deutlich zu machen, dass wir Europa weiterentwickeln müssen. Der Deutsche Bundestag muss deutlich machen: Nizza muss nachgebessert werden.
({2})
Deshalb ist die Forderung der PDS-Bundestagsfraktion
nach einer Weiterentwicklung des Nizza-Vertrages nicht
europafeindlich. Das kann man nur behaupten, wenn man
sich nur noch im Regierungseuropa bewegt. Wir fordern,
dass wir gemeinsam wieder dafür eintreten, dass Europa
die zivilgesellschaftliche Gegenmacht gegen das reine
Binnenmarktprojekt werden muss, dass Europa die zivilgesellschaftliche Gegenmacht gegen ein Europa werden
muss, in dem Finanz- und Kapitalströme undemokratisch
fließen können, in dem sich die demokratisch legitimierten Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Europäischen Parlament, im Deutschen Bundestag und auch in
den Landtagen für Entscheidungen rechtfertigen müssen,
die sie teilweise selbst nicht mehr vertreten können.
Deshalb lautet die Forderung der PDS-Bundestagsfraktion: Lasst uns Nizza nachverhandeln. Sie ist ein Aufruf, Europa für die Menschen demokratischer zu gestalten.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Herr
Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ratifizierung des Nizza-Vertrages ist von überaus großer Bedeutung. Zu Recht haben wir in verschiedenen Debatten
- mit „wir“ meine ich die Rednerinnen und Redner nahezu aller Fraktionen im Haus - immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich nach dem Ende des Kalten Krieges
bei der Osterweiterung der Europäischen Union - jetzt
über zehn Jahre nach dem Fall der Mauer - in der Tat um
ein historisches Projekt des Zusammenwachsens Europas
handelt. Die Voraussetzungen dafür, dass die EU beitrittsfähig ist, wurden in Nizza gelegt. Deswegen hat die Ratifizierung eine überaus große Bedeutung.
Wenn all diejenigen, die - aus welchen Gründen auch
immer - verlangen, der Nizza-Vertrag solle nachverhandelt werden, diese Forderung nicht als rein innenpolitische und letztendlich unter den Gesichtspunkten praktischer Veränderungen belanglose Forderung aufstellen,
sondern das ernst meinen, bedeutet dies im Klartext eine
Verschiebung der Osterweiterung der Europäischen
Union. Dies hielte ich für grundfalsch.
({0})
Insofern möchte ich mich bei allen Rednerinnen und Rednern, vor allem auch bei denen der Oppositionsfraktionen,
bedanken, die signalisiert haben, dass sie zustimmen.
Ganz besonders möchte ich mich bei dem Redner der
F.D.P.-Fraktion bedanken, in der es eine beeindruckende
Fortentwicklung der Position hin zu einer Ratifizierung
gibt. Ich finde das eine überaus vernünftige Position.
Allerdings möchte ich einige Anmerkungen zum Kollegen Gerhardt machen. Wenn Sie Nizza und Berlin als
Fehlschläge bezeichnen, Kollege Gerhardt, kann ich Ihnen nun weiß Gott nicht folgen.
({1})
Sie haben wirklich kein Argument gebracht, warum die
Erweiterung etwa durch die Finanzvereinbarung der
Agenda 2000, die wir hier in Berlin geschlossen haben,
behindert würde.
({2})
Ich kann Ihnen nur sagen: Bis 2006 - der Finanzrahmen reicht von 2000 bis 2006 - steht die Erweiterung
auf einer soliden Finanzierungsgrundlage.
({3})
Für die Zeit ab 2006 hat diese Bundesregierung in der
Auseinandersetzung mit einem anderen wichtigen Mitgliedsland Festlegungen abgewehrt, damit nicht der Fall
eintritt, den wir alle nicht wollen, dass nämlich in einer
vergrößerten, erweiterten Union die Strukturmittel noch
an die kleine, an die alte Union gebunden werden. Das genau hat diese Bundesregierung abgewehrt. Insofern verdienen wir hier nicht Ihren Tadel, sondern müssten eigentlich Ihr Lob bekommen. Aber das wäre wohl zu viel
der Erwartung.
({4})
Uns zu unterstellen, Kollege Gerhardt, wir seien schuld
daran, dass die Erweiterung noch nicht weiter sei, finde
ich angesichts dessen, was wir vorgefunden haben, ein
starkes Stück.
({5})
Da kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben von der vorherigen Bundesregierung die Verantwortung für Versprechungen übernehmen müssen, nach denen Polen bereits im
Jahre 2000 Mitglied der Europäischen Union sein sollte.
({6})
Das Jahr 2000 ist herum. Es lag nicht an der rot-grünen
Bundesregierung und Bundeskanzler Schröder, dass dieses nicht realisiert werden konnte, da erst unter der österreichischen Präsidentschaft, ein halbes Jahr vor der von
uns dann auszufüllenden Präsidentschaft nach der Bundestagswahl, der konkrete Verhandlungsprozess begann.
({7})
Das heißt, acht Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges
ging es erst konkret voran, vorher gab es nur visionäre
Versprechungen. Dafür müssen Sie, Herr Kollege
Gerhardt, schon selbst die Verantwortung übernehmen.
({8})
- Weiß Gott, doch.
Ich kann Ihnen versichern - im Europaausschuss sind
wir uns darin ja völlig einig -, dass wir alles tun, um diese
Erweiterung möglichst schnell Wirklichkeit werden zu
lassen. Ich verstehe zwar, dass die Liberalen in Fragen der
Marktöffnung eine andere Position vertreten, aber die
Regelungen, die die Kommission jetzt in ihren Vorschlag
übernommen hat, hindern niemand daran, seinen Arbeitsmarkt sofort zu öffnen.
({9})
- Ich will Ihnen sagen, warum: weil wir die Zustimmung
der Menschen brauchen und es Sorgen in den Grenzregionen gibt. Ich habe mittlerweile an vier oder fünf
Bürgerversammlungen in den Grenzregionen teilgenommen; deswegen kann ich Ihnen sagen: Es geht ganz entscheidend darum, dass wir die Menschen mitnehmen.
Bundeskanzler Schröder hat in seiner Weidener Rede
zu Recht vorgeschlagen, eine Übergangsfrist von sieben
Jahren einzurichten, diese aber flexibel zu gestalten: Nach
zwei Jahren wird es die erste Überprüfung geben, nach
fünf Jahren kann die Frist verlängert werden.
({10})
Das heißt im Klartext, dass wir die Erfahrungen, die wir
bei der Süderweiterung der Europäischen Union gemacht
haben, aufgreifen. Die luxemburgische Kollegin - übrigens eine Liberale - hat das dargestellt: Zehn Jahre Übergangsfrist wurden damals beim Beitritt Portugals beantragt, nach fünf Jahren hat Luxemburg darauf verzichtet
und gesagt, diese sei nicht mehr notwendig. Ich gehe
heute fest davon aus, dass wir mit dieser flexiblen Regelung ähnliche Erfahrungen machen werden.
({11})
Nur dieser Bundesregierung vorzuwerfen, sie würde nicht
alles tun, um die Osterweiterung Realität werden zu lassen, geht an der Wirklichkeit nun weiß Gott vorbei.
({12})
Der Vertrag von Nizza wird die Osterweiterung ermöglichen. Ich halte überhaupt nichts davon, wie es hier
teilweise getan wird, ihn herunterzureden. Im Gegenteil:
Es waren sehr schwierige Verhandlungen, aber es sind
entscheidende Überbleibsel der Amsterdamer Verhandlungsrunde beseitigt worden. Dieser Vertrag beinhaltet
vor allen Dingen - das hat diese Bundesregierung durchgesetzt -, dass wir mit der Perspektive 2004 bei der Vertiefung vorangehen, das heißt Demokratisierung, Schaffung von Transparenz und verfassungsmäßige Gestaltung
einer sich erweiternden Europäischen Union. Das ist eines der Ergebnisse von Nizza und für die Zukunft der
Europäischen Union von zentraler Bedeutung.
({13})
Gestatten Sie mir noch einen Satz zur Verfahrensfrage. Aus den Äußerungen der PDS bin ich nicht ganz
schlau geworden. Sie wollen ablehnen, fordern aber zugleich eine Zweidrittelmehrheit für die Annahme.
({14})
Sie tun ja gerade so, als wenn die einfache Mehrheit im
Parlament antidemokratisch oder undemokratisch wäre
und die Bundesregierung das Ratifikationsverfahren abschaffen wollte. Sie tun ja gerade so - das halte ich in der
Tat für bedenklich -, als wäre Europa ein Europa der Regierungen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Der Europäische Rat ist eine demokratisch legitimierte Institution,
dessen Fortentwicklung wir uns wünschen. Ihn aber deswegen populistisch in die Ecke zu stellen und zu sagen, er
sei demokratisch nicht legitimiert, geht nicht.
Man muss wissen, was man tut. Hierbei handelt es sich
um einen entscheidenden Anker des europäischen Integrationsprozesses. Das trifft genauso auf das Europäische
Parlament, die Kommission und die nationalen Parlamente zu. In diesem institutionellen Quadrat wird sich die
institutionelle Zukunft der europäischen Entwicklung
vollziehen müssen. Hier liegt die entscheidende Frage für
die horizontale Kompetenzklärung. Ebenso müssen wir
eine vertikale Kompetenzklärung bezüglich der inhaltlichen Frage vornehmen, wer, was, wo zu entscheiden hat.
Ich möchte noch einmal klar darauf zu sprechen kommen: Bezüglich einer verfassungsrechtlichen Prüfung
mag man höchst unterschiedlicher Meinung sein und zu
höchst unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Hier ist
aber keine Kulanz angebracht. Das wäre falsch. Die Frage
ist, ob eine Zweidrittelmehrheit für Souveränitätsübertragungen da, wo sie unverzichtbar sind, notwendig ist.
Wenn dieses nicht der Fall ist, bitte ich gerade die Kollegen, von denen ich weiß, dass sie nachdrücklich für mehr
Integration eintreten, doch sehr sorgsam darauf zu achten,
dass nicht an falscher Stelle Präjudize geschaffen werden,
die uns an anderer Stelle große Probleme bereiten werden.
({15})
- Das ist doch keine Angst vor dem Parlament; das hat
doch mit dem Parlament nichts zu tun! Mir geht es darum,
dass wir hier meines Erachtens eine klare Stellungnahme
der Bundesregierung haben. Auch das Parlament hat sich
heute geäußert. Ich denke, es wird ein vernünftiges Verfahren geben, sodass wir, ohne dass es hier zu einer Blockade kommt - das ist das Interesse des Außenministers -,
zügig und auf breiter Grundlage - ich würde mir wünschen, weit über die Zweidrittelmehrheit hinaus - die Ratifizierung vollziehen können.
Ich bedanke mich.
({16})
Nächster Redner ist
der Kollege Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Fischer,
ich würde es Ihnen gerne noch einmal erklären und wäre
dankbar, wenn Sie zuhörten.
({0})
Wir befinden uns jetzt in der Phase der Ratifizierung des
Nizza-Vertrages vom Februar dieses Jahres. Wir haben
diesen Vertrag in diesem Haus schon beraten und wir kennen die inhaltlichen Mängel dieses Vertrages. Wir kennen
das gescheiterte Referendum in Irland. Als ob dies nicht
schon genug Probleme im Zusammenhang mit diesem
wichtigen Vertrag wären - der ratifiziert werden muss und
dem wir natürlich zustimmen werden, wie ich hier wiederholen will -, machen die Bundesregierung und das einbringende Ministerium, Herr Fischer, völlig ohne Not ein
neues Problemfeld auf. Dies ist nicht so nebenbei zu behandeln, weil es nämlich im schlimmsten Fall zum Scheitern der Ratifizierung und zum Scheitern des rechtzeitigen In-Kraft-Tretens dieses Vertrags führen kann.
({1})
Deshalb müssen wir über das Thema hier in diesem Haus
reden.
({2})
Ich möchte daran erinnern: Der Bundesrat hat einstimmig, einschließlich aller SPD-Ministerpräsidenten, inhaltlich und politisch seine Auffassung dargetan, dass
dieser Vertrag mit Zweidrittelmehrheit, also mit verfassungsändernder Mehrheit, umgesetzt werden muss.
Auch der Bundestag ist mit allen Fraktionen der Meinung,
dass dieser Vertrag mit verfassungsändernder Mehrheit
umgesetzt werden muss. Aber Sie, Herr Bundesminister,
kratzt das überhaupt nicht. Sie fahren in einfältiger Sturheit Ihren Stiefel weiter
({3})
und beschwören im Wesentlichen drei problematische
Auswirkungen herauf, auf die ich jetzt eingehen möchte.
Sie missachten den Bundestag, einschließlich Ihrer
Koalitionsfraktionen, als Verfassungsorgan. Ich könnte
als Abgeordneter der Opposition notfalls damit leben,
dass die Bundesregierung die Koalitionsfraktionen zur
Opposition macht. Aber in diesem sensiblen Bereich der
Europapolitik, die für die Zukunft unserer Kinder und
Kindeskinder entscheidend sein wird, ist das ein falsches
Signal.
({4})
Das wirklich gravierendste Problem in dieser Angelegenheit: Durch diese Art der Einbringung durch die
Bundesregierung, die juristisch nicht klar ist, wird die
Ratifizierung des Vertrages möglicherweise endgültig
gefährdet. Ich erinnere daran: Die Ratifizierung des
Maastrichter Vertrages 1991 landete vor dem Bundesverfassungsgericht. Es war notwendig, verfassungsrechtlich
zu klären, ob der damals eingeschlagene Weg der europäischen Integration verfassungskonform war. Dieses Verfahren hat dazu geführt, dass die Bundesrepublik Deutschland das letzte Land war, das die Ratifizierungsurkunde in
Brüssel hinterlegen konnte. Jetzt wird völlig ohne Not
- denn die verfassungsrechtliche Klärung ist vollzogen riskiert, dass dieses Gesetz wieder vor dem Verfassungsgericht landet und im günstigsten Fall die Hinterlegung unserer Urkunde erneut lang verzögert wird.
Beim Vertrag von Amsterdam war es in der Tat so, dass
die alte Bundesregierung zunächst der Meinung war, dass
eine Ratifizierung mit einfacher Mehrheit ausreicht. Wir
haben uns damals - ich erinnere an die nachhaltige Forderung der Grünen mit ihrem damaligen Fraktionssprecher, Herrn Fischer, und der SPD - darauf geeinigt,
dass es, wenn nicht eindeutig ausgeräumt werden kann,
dass eine Zweidrittelmehrheit notwendig sein könnte, das
Unschädlichste ist, den Vertrag mit Zweidrittelmehrheit
umzusetzen; denn mit einer größeren Mehrheit darf man
es machen, eine geringere könnte zum Scheitern der Ratifizierung führen.
Jetzt haben wir folgende Situation - da sind wir uns mit
den Fraktionen dieses Hauses wieder einig -: Wir werden
als Parlament versuchen, diesen Fehler zu beheben und
den Vertrag mit verfassungsändernder Mehrheit zu beschließen. Nur ist im Moment juristisch nicht eindeutig
feststellbar, ob dieses Verfahren überhaupt möglich ist.
Ich sage voraus - das ist so sicher wie das Amen in der
Kirche -: Irgendjemand wird sich finden und diese Frage
in Karlsruhe stellen. Dann kann es im schlimmsten Fall
passieren, dass Sie mit der gesamten Nizza-Ratifizierung
an die Wand klatschen. Dann haben wir ein solches Theater, dass sich kein Mensch mehr an das gescheiterte
irische Referendum erinnern wird. Dies steht in der Verantwortung von Ihnen, Herr Fischer. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie meinen Ausführungen, auch wenn
sie Ihnen nicht gefallen, ein bisschen genauer folgen würden. Ich habe Ihnen vorhin auch zugehört.
Das dritte fatale Signal ist auch ganz eindeutig; ich
möchte nur kurz darauf hinweisen. Wir haben mit der so
genannten Europamüdigkeit, Europaskepsis in der Bevölkerung zu kämpfen. Es wird immer lauter gesagt: Wir haben über die Europawahl hinaus nicht genug Einfluss auf
die europäische Politik. Dort wird Politik gemacht von
Regierungschefs und Beamten. In dieser Zeit signalisieren Sie, dass Sie in dieser Frage nicht einmal Rücksicht
auf den Bundesrat und auf den Bundestag nehmen - ein
fatales Signal, das nicht zur Verbesserung des Vertrauens
der Bevölkerung führen wird.
({5})
Noch eine Anmerkung zum Vertrag selber. Herr
Fischer, Sie haben behauptet, mit dem Nizza-Vertrag hätten Sie die Finanzierungssicherheit auch für die Osterweiterung geschaffen.
({6})
- Mit Berlin - das gebe ich zu - haben wir die Finanzierungssicherheit geschaffen. Aber mit Nizza gefährden Sie
diese wieder. Ich will Ihnen auch erklären, warum. Faktisch ist es so, dass die Entscheidung über die finanzielle
Vorausschau bis einschließlich 2013 einstimmig getroffen
werden muss. Herr Fischer, Sie wissen doch ganz genau,
was 2005 passieren wird, wenn die nächste finanzielle
Vorausschau 2006 bis 2013 beraten werden wird und einstimmig verabschiedet werden muss. Da wir natürlich die
Erweiterungspolitik nicht scheitern lassen können, wird
es zwangsläufig so kommen, dass die EU-Finanzmittel
massiv ausgeweitet werden müssen. Da Sie es - im Gegensatz zur Vorbereitung der Erweiterung - in Berlin
1999 nicht geschafft haben, die deutsche Nettozahlerposition substanziell abzubauen, wird die Bundesrepublik
Deutschland in diesem Prozess, der dann notwendig sein
wird, weil anders die Einstimmigkeit nicht zu erreichen
ist, wieder das meiste Geld zahlen müssen, was zu einer
weiteren Verstärkung der Unpopularität der - auch für
Deutschland - wichtigen Europapolitik führen wird. Dies
ist eine gefährliche Zeitbombe, die da tickt. Ich sehe im
Moment überhaupt nicht, wie Sie versuchen wollen, dies
in irgendeiner Weise zu verändern.
Auf einen Punkt will ich noch kurz hinweisen. Alle
Fraktionen dieses Hauses hatten für Nizza gefordert, dass
die Politikbereiche der Mehrheitsabstimmung deutlich
ausgeweitet werden, also der Politikbereiche, in denen
mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird. Dies ist
passiert. Aber ich weiß nicht, ob das unserem Bundeskanzler in den Nachtstunden der Verhandlungen über den
Vertrag nicht aufgefallen ist. Auf der einen Seite werden
die Politikbereiche mit qualifizierter Zustimmung ausgeweitet, auf der anderen Seite wird die Sperrminorität drastisch gesenkt, sodass mit In-Kraft-Treten dieses Vertrages
die Blockadewahrscheinlichkeit in der Europäischen
Union bei qualifizierten Mehrheitsabstimmungen zunehmen wird. Ich sehe auch hier die Gefahr, dass wir mit dieser eigentlich substanziellen Verbesserung - durch Entscheidungen mit qualifizierten Mehrheiten mehr
Flexibilität in der europäischen Politik zu erreichen nicht vorankommen, weil sich die Wahrscheinlichkeit der
Blockade durch wenige Länder in der erweiterten Europäischen Union verstärken wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch kurz auf einen Punkt eingehen, der in Nizza
wirklich hervorragend geregelt worden ist, wo aber im
Moment die Gefahr besteht, dass die Europäische Kommission ihn vermasselt. Die Staats- und Regierungschefs
haben sich in Nizza geeinigt, die Kommission aufzufordern, ein so genanntes Grenzgürtelförderprogramm
aufzulegen. Wir haben in den letzten Monaten viel davon
gehört - vollmundige Erklärungen von Herrn Verheugen und wir wissen jetzt, dass das Programm der Kommission
am 25. Juli dieses Jahres vorgelegt werden soll. Frau
Schreyer, die deutsche Kommissarin, erklärt allerdings, es
werde auf gar keinen Fall zusätzliche Finanzmittel für dieses Programm geben, sodass wir leider jetzt schon davon
ausgehen können, dass dieses Programm nicht mit zusätzlichen Finanzmitteln zur Lösung der ernsthaften, gravierenden Probleme der Grenzregionen Deutschlands und
Österreichs, aber auch Italiens und Griechenlands ausgestattet wird. Wenn das so ist, dann wird dieses Programm
weiße Salbe. Es wird überhaupt nichts bringen.
Ich fordere Sie, Herr Fischer, und die Bundesregierung
auf, sich dafür einzusetzen, dass dieses Grenzgürtelförderprogramm ein substanzielles Programm mit zusätzlichen Finanzmitteln wird.
({7})
Es muss ein Programm werden, das Planungssicherheit
über einen längeren Zeitraum schafft, zum Beispiel sechs
Jahre, und es muss mit ausreichenden zusätzlichen Finanzmitteln umgesetzt werden. Mein Vorschlag ist, einen Vergleich mit den realen Mitteln anzustellen, die in den 80erJahren für das integrierte Mittelmeerprogramm eingesetzt
worden sind, etwa in der Größenordnung von 1 Milliarde
Euro. Wenn die Kommission nicht den Schneid hat, dies in
wenigen Wochen vorzulegen, dann muss - diesmal ausnahmsweise erfolgreich - die Bundesregierung dieses Programm auf europäischer Ebene umsetzen. Denn unsere
Grenzregionen brauchen dringend diese Unterstützung.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlässlich der Ausführungen des Außenministers und auch der
von Herrn Stübgen möchte ich in meiner Kurzintervention
eine Bemerkung zu den verfassungsrechtlichen Fragen
machen, nämlich zu der Frage, welche Mehrheit bei der
Ratifizierung des Vertrags von Nizza zu wünschen wäre.
In derselben Situation, in der sich Bundesregierung
und Bundestag jetzt befinden, befand sich die Bundesregierung auch 1997.
Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger, könnten Sie Ihre Ausführungen kurz unterbrechen? - Herr Außenminister, diese
Kurzintervention bezieht sich auf Ihre Rede.
({0})
Bei der Ratifizierung des Vertrages von Amsterdam befanden wir uns in der vergleichbaren Situation. Damals
wurde im Zusammenhang mit der Einleitungsformel des
Gesetzentwurfs zur Ratifizierung im Bundestag gemeinsam darum gerungen, wie man es am besten macht. Ich
habe mir die damalige Einlassung der heutigen Ministerin
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und damaligen Sprecherin im Europaausschuss, Frau Wieczorek-Zeul, herausgesucht, die in ihrer Rede im Bundestag nach Einbringung
des Gesetzentwurfs zur Ratifizierung des Vertrags sagte:
Wir freuen uns, dass die Bundesregierung endlich
akzeptiert hat ... , dass die Ratifizierung dieses Vertrages
- von Amsterdam Michael Stübgen
in Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit
erfolgen muss.
({0})
Die Begründung dafür war damals , dass es um Fragen der
Mitentscheidung des Parlamentes und um Fragen der qualifizierten Mehrheitsentscheidung gehe.
({1})
Beide Elemente spielen heute auch im Vertrag von Nizza eine Rolle. Wir kritisieren ja, dass das nicht genug ist,
aber es hat in einigen Punkten entsprechende Veränderungen gegeben. Bei allen notwendigen politischen Überlegungen, wie man den Ratifizierungsprozess von Nizza
bei allen beteiligten Verfassungsorganen zu einem Erfolg
machen kann, ist es sehr schade und in meinen Augen
auch ein Mangel des Verfahrensprozesses zur Ratifizierung des Vertrages, wenn wir in diesem Prozess mit möglichen offenen verfassungsrechtlichen Fragen rechnen
müssen, durch die dann, falls sich nachher die Zweidrittelmehrheit als notwendig herausstellt, möglicherweise
denjenigen Vorschub geleistet wird, die vielleicht aus
ganz anderen Gründen ebenfalls Rechtsmittel ergreifen
wollen, um den Integrationsprozess in Europa insgesamt
zu stoppen.
Ich denke, dass wir uns in dieser Frage sehr wohl besinnen sollten. Ich hätte es gut gefunden, wenn man das
noch vor der heutigen Debatte versucht hätte und die Debatte selbst erst in der nächsten Woche hätte stattfinden
lassen. Hier geht es nicht um Rechthaberei, sondern es
kommt darauf an, den klarsten und besten Weg zu finden,
sodass es nachher nur noch um die Inhalte des Vertrages
von Nizza und nicht auch noch um verfassungsrechtliche
Verfahrensfragen geht.
Vielen Dank.
({2})
Das war wieder eine
Punktlandung von drei Minuten.
Herr Außenminister, möchten Sie erwidern? - Das ist
nicht der Fall.
({0})
Dann erteile ich jetzt dem letzten Redner in dieser
Runde das Wort. Es ist der Kollege Jürgen Meyer von der
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger hat sich wie alle vorangegangenen Redner
zur verfassungsrechtlichen Qualität des Zustimmungsgesetzes zum Nizza-Vertrag geäußert. Dazu möchte ich noch einmal feststellen: Wir werden diese Frage in den bevorstehenden Beratungen sehr gründlich prüfen. Dabei wird eine
besondere Rolle spielen, ob der Verzicht auf das so genannte
Vetorecht im Rat durch die von uns allen gewollte Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen ein Stück Souveränitätsverzicht ist. Dies und das Ziel, die Ratifikation mit
großer Mehrheit durchzuführen, sprechen dafür - wie mein
Kollege Günter Gloser schon ausgeführt hat -, das Zustimmungsgesetz als verfassungsänderndes Gesetz zu behandeln und zu verabschieden.
Ich zitiere in diesem Zusammenhang aus dem „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“, das im Jahr 1999 in zweiter Auflage vom Bundesministerium der Justiz herausgegeben worden ist. Darin heißt es:
Die Eingangsformel gibt, obwohl Bundestag und
Bundesrat darüber nicht mit Gesetzeskraft beschließen, die Möglichkeit, im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu erörtern, ob das Gesetz einer
besonderen Mehrheit ... bedarf.
Ich gehe davon aus, dass wir Parlamentarier diese Möglichkeit nutzen und eine klare Stellungnahme zur verfassungsrechtlichen Qualität des Zustimmungsgesetzes abgeben werden.
({0})
Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu dem so genannten Post-Nizza-Verfahren. Es ist ein großes Verdienst der
Bundesregierung, dass auf ihre Initiative hin in Nizza die
Erklärung der Staats- und Regierungschefs zur Zukunft
der Europäischen Union vereinbart worden ist. Das bedeutet, dass sich die Staats- und Regierungschefs darauf
festgelegt haben, im Rahmen einer weiteren Regierungskonferenz im Jahre 2004 Grundsatzfragen der
europäischen Integration, ihrer Institutionen und ihrer demokratischen Legitimation zu behandeln.
Lassen Sie mich dazu feststellen: Ohne die Ratifikation
des Vertrags von Nizza wird es kein Post-Nizza-Verfahren
geben. Das eine baut auf dem anderen auf. Die Ratifikation des Nizza-Vertrages ist - wenn nicht die rechtliche, so
doch ohne jeden Zweifel - die politische Voraussetzung
für die von uns allen gewollte Regierungskonferenz 2004.
({1})
Die Fragen, um die es dabei geht, sind Verfassungsfragen. Ich benutze den Begriff der Verfassung in diesem
Zusammenhang ohne Einschränkung. Es geht zum Beispiel um die Frage, wie die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten zukünftig geregelt werden soll, also um das,
was der Herr Außenminister zutreffend als vertikale Gewaltenteilung bezeichnet hat. Es geht auch um die horizontale Gewaltenteilung auf der Ebene der EU. Dies
nennt man nun einmal Verfassung. Nach der inzwischen
fast übereinstimmenden Auffassung der Staatsrechtslehre
setzt Verfassung keinen Staat voraus und schon gar keinen
Superstaat.
Ob man das Gebilde, von dem wir reden, mit dem
Bundesverfassungsgericht als Staatenverbund oder mit
der immer stärker im Vordringen begriffenen Auffassung
als Föderation von Nationalstaaten bezeichnet, spielt dabei keine Rolle. Es geht um die künftige Verfassung der
Europäischen Union und diese verdient eine öffentliche
Diskussion. Deshalb finde ich es sehr gut, dass die Bundesregierung - mit unterschiedlichen Vorschlägen des
Außenministers und des Bundeskanzlers - und auch Bundespräsident Johannes Rau diese Debatte angeregt haben.
Wir sollten diese Debatte mit Engagement führen.
({2})
Diese Debatte, die zu einer Verfassung der EU führt,
sollte eine besondere Qualität haben. Eine Verfassung
kann nicht von Regierungen entworfen und verabschiedet
werden. Das würde der europäischen Rechtsgeschichte
zuwiderlaufen. Es geht also darum - darüber wird die belgische Präsidentschaft befinden -, wie wir der bekannten
Europaverdrossenheit und dem Menetekel des Volksentscheides von Irland Rechnung tragen und mehr Demokratie und damit mehr Europabegeisterung in der Europäischen Union wecken können.
({3})
In Nizza gab es zwei konkurrierende Verfahren: zum
einen das alte Verfahren, das schließlich zum Vertrag von
Nizza mit allen seinen Stärken, aber auch Schwächen geführt hat, das aber auch Befremden und Verdrossenheit
hervorgerufen hat. Es gab bürgerferne Vorverhandlungen
hinter verschlossenen Türen durch hoch qualifizierte
Bürokraten, die kein Mensch kennt. Am Ende standen
Texte in einer schwer verständlichen Sprache. Dann gab
es die bei solchen Konferenzen so genannte Nacht der langen Messer, in der sich der durchsetzt, der die beste Kondition hat, wenn auch nicht unbedingt die besten Argumente,
({4})
der aber vielleicht auch die größte Hartnäckigkeit hat. Das
hat mit Demokratie nichts zu tun. Die Parlamente bleiben
dabei außen vor.
Zum anderen gab es mit dem Verfahren zur Erarbeitung der in Nizza verkündeten EU-Grundrechtecharta ein
konkurrierendes Verfahren, das nun allseits gelobt wird.
({5})
Die Erarbeitung der EU-Grundrechtecharta erfolgte durch
ein Gremium, das zu drei Vierteln aus gewählten Parlamentariern bestand, in dem öffentlich verhandelt wurde,
in dem jede Initiative über das Internet bekannt gemacht
wurde mit der Möglichkeit, jedem Delegierten auch über
das Internet Anträge mitzuteilen, und in dem die Zivilgesellschaft, die Nichtregierungsorganisationen in Brüssel
und auf nationaler Ebene ausführlich angehört und deren
Vorstellungen auch berücksichtigt worden sind.
({6})
Ich sage ja nicht, dass der Konvent schon die ideale Lösung sei.
({7})
Aber, verehrter Kollege, es ist das Verdienst der Bundesregierung, den Konvent auf der Regierungskonferenz im
Juni 1999 unter deutscher Präsidentschaft durchgesetzt zu
haben. Das sollten wir einmal lobend erwähnen.
({8})
Aber man kann da einiges verbessern. Zum Beispiel
- das ist in Nizza vorgeschlagen worden - brauchen wir
eine intensivere öffentliche Debatte. Ich finde es großartig, dass unsere französischen Nachbarn mit dem, was
sie „grand débat“ nennen, unter Leitung von Guy
Braibant, dem Vizepräsidenten des ersten Konvents, bereits begonnen haben. Eine solche öffentliche Debatte, die
mehr Verständnis für Europa weckt, müssten doch auch
wir hinbekommen.
({9})
Auch die Behandlung der Beitrittskandidaten sollte
besser sein als im ersten Konvent. Ich finde es nicht gut,
dass die Kandidatenländer, in denen die Verfassung ja einmal gelten soll, nur Beobachterstatus haben. Ich halte es
auch für unzureichend, wenn sie nur eine beratende Stimme
haben; denn der Konvent wäre ja nur ein Beratungsgremium. Und in einem Beratungsgremium eine beratende
Stimme zu haben ist schlechterdings unzureichend
({10})
und respektiert nicht genug das, was die Beitrittskandidaten, mit denen Verhandlungen aufgenommen worden
sind, wollen. Man sollte ihnen Gelegenheit geben, sich zu
äußern.
Ich möchte einen weiteren Vorschlag machen, der nach
dieser Sitzung hoffentlich ein Vorschlag aller Fraktionen
sein und in einen Beschluss münden wird, der dann auch
die Bundesregierung über Art. 23 binden wird.
({11})
Der Vorschlag geht dahin, den Wunsch des ersten Konvents, auch über alternative Lösungen abzustimmen, zu
berücksichtigen. Es sollte abgestimmt werden können,
damit klar ist, für welche Alternative eine Mehrheit, für
welche aber auch eine - vielleicht beachtliche - Minderheit ist. Dieser Vorschlag würde dem Wunsch der Regierung, den der Herr Außenminister gelegentlich vorgetragen hat, Rechnung tragen, dass nämlich die Regierungen
nicht nur ein Gesamtwerk nach dem Motto „Friss, Vogel,
oder stirb!“ vorgelegt bekommen - was offenbar gewisse
Frustrationen hervorgerufen hat -, sondern dass den Regierungen ein Entwurf mit alternativen Lösungsvorschlägen präsentiert wird. Aber es muss klar sein: Das sind
keine Optionen, die unverbindlich und gleichrangig nebeneinander stehen;
({12})
sondern: für den einen Vorschlag ist eine - sogar große Mehrheit des Konvents und für den Gegenvorschlag nur
eine Minderheit. - Das müsste den Regierungen dann
auch mitgeteilt werden.
({13})
Dr. Jürgen Meyer ({14})
Ich halte das für ganz wichtig. Ich halte es für völlig indiskutabel, dass vonseiten der - so will ich einmal polemisch formulieren - alten Strippenzieher, die die früheren
Regierungskonferenzen vorbereitet haben, der Vorschlag
gemacht wird, den Konvent durch eine „steering commission“ zu bevormunden, also ein Gremium, das dem
Konvent sagt: „Jetzt prüft ihr das einmal“, „Der Vorschlag
ist inakzeptabel“ und „Hier bekommt ihr eure Schulaufgaben zurück“. Das darf es nicht geben.
({15})
Das entspricht nicht dem Selbstbewusstsein und dem
Selbstverständnis von Parlamentariern. Die Lenkung des
Konvents darf nur durch das aus seiner Mitte gebildete
Leitungsgremium, das heißt: das Präsidium, erfolgen.
Dies ist für uns Voraussetzung dafür, dass man das neue
Gremium, das nun allenthalben schon Konvent heißt,
überhaupt so nennen kann. Ein bevormundeter Konvent
würde schon von seiner Zusammensetzung her
({16})
und der Bereitschaft, darin mitzuarbeiten, ein drittklassiges Gremium sein. Das kann niemand wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Änderungen
gegenüber dem ersten Konvent werden, so denke ich, in
einer gemeinsamen Entschließung des Europaausschusses mit Zustimmung der anderen, mitberatenden Ausschüsse ohne Befassung des Plenums in den nächsten
Tagen festgelegt werden. Ich wünsche, dass sich die Bundesregierung in dieser Richtung engagiert. Sie hat sich ja
bisher um die Einsetzung des Konvents und um mehr Demokratie in Europa Verdienste erworben. Deshalb kann
nicht nur die Koalition, sondern können alle Fraktionen
der Bundesregierung für die Fortsetzung ihrer Initiativen
für mehr Demokratie in Europa allen Erfolg wünschen.
Danke schön.
({17})
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, erteile ich jetzt noch dem Kollegen
Friedbert Pflüger das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Vorsitzender des Europaausschusses möchte ich noch einmal an die
Bundesregierung den Appell richten - ich glaube, im Namen aller Kollegen -, den Verfahrensstreit, den wir derzeit haben, durch eine entsprechende, dem Parlament
Rechnung tragende Entscheidung schnell zu beenden,
und zwar aus folgendem Grund: Wir müssen uns der historischen Bedeutung bewusst sein, welche gerade die
Staaten Mittel- und Osteuropas diesem Vertrag und dem,
was daraus folgt, nämlich der Vereinigung Europas, beimessen. Die Staaten in Mittel- und Osteuropa haben in
den letzten Jahren ungeheuer viel geleistet, um ihre Gesellschaften zu verändern. Sie sehen zum Beispiel jetzt in
Irland, dass ein Referendum den ganzen Vertrag von Nizza infrage stellen kann. Sie haben große Angst, wenn sie
hören, dass wir uns hier mit einem Verfahrensstreit abgeben, anstatt uns mit den großen historischen Aufgaben zu
beschäftigen.
Ich glaube, es ist ganz wichtig, festzuhalten, dass wir in
diesem Haus einen breiten europapolitischen Konsens haben. Wir haben ihn unter Helmut Kohl gehabt und wir haben ihn jetzt. Es gibt zwar in vielen Einzelthemen Streit;
aber in den Grundfragen sind wir uns einig. Selbst die
F.D.P., die sich mit dem Vertrag von Nizza am schwersten
tut, hat heute signalisiert, dass sie mit sich reden lässt.
Es wäre sehr schade, wenn das deutliche Signal des
Parlaments, den Vertrag von Nizza trotz mancher Bedenken zu unterstützen, unbeantwortet bliebe und Verfahrensfragen fortgesetzt im Mittelpunkt unserer Debatten
stünden. Deshalb meine Bitte an den Herrn Außenminister, den Bundeskanzler zu überzeugen, eine andere Position einzunehmen.
Ich möchte dem Kollegen Professor Meyer und dem
Kollegen Gloser für ihre couragierten Reden herzlich
danken.
({0})
Zur Erwiderung der
Bundesaußenminister Fischer, bitte.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das ist heute die erste Lesung. Damit wird das Vertragswerk an die Ausschüsse überwiesen. Es liegt jetzt in den
Händen des Bundestages.
Die Bundesregierung hat nach mehrfacher sorgfältigster Prüfung - das hat auch die letzte Erörterung im Kabinett ergeben - ihre Position gefunden. Diese stößt auf den
Widerspruch eines anderen Verfassungsorgans, auf den
des Bundesgesetzgebers, und zwar quer durch alle Fraktionen. Dies werde ich dem Bundeskanzler übermitteln.
Aber ich denke, was zählt, ist die breite Bereitschaft zu ratifizieren. Unbeschadet der verfassungsrechtlichen Position, die die Verfassungsorgane haben, können Wege gefunden werden, um dem Begehr Rechnung zu tragen.
Als Mitglied der Bundesregierung habe ich selbstverständlich dem Bundesgesetzgeber und dessen Ausschüssen weder Vorschriften zu machen noch Hinweise zu geben. Ich möchte mich für die breite Bekundung zu
ratifizieren recht herzlich bedanken. Ich denke, dass der
Bundesgesetzgeber mit seiner wirklich sehr weit gehenden Erfahrung und umfassenden Kompetenz und getragen von der breiten Unterstützung der Fraktionen einen
Weg finden wird. Die Bundesregierung hält an ihrer
Rechtsauffassung fest und wird sich ansonsten sehr kooperativ verhalten.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Dr. Jürgen Meyer ({0})
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/6146 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem
Beschluss des Rates vom 29. September 2000 über das
System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften auf Drucksache 14/6142. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt auf
Drucksache 14/6464, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5221 ({1}) an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf
Drucksache 14/5379 zu dem Antrag der Fraktion der PDS
mit dem Titel „Für eine verbindliche und erweiterbare Eu-
ropäische Charta der Grundrechte“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4654 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Als Nächstes kommen wir zur Beschlussempfehlung
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europä-
ischen Union auf Drucksache 14/5386. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die An-
nahme des Entschließungsantrags der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Abgabe einer Er-
klärung der Bundesregierung zum Europäischen Rat in
Nizza auf Drucksache 14/4733. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS ange-
nommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksa-
che 14/4732 mit dem Titel „Der Europäische Rat von Niz-
za muss zum Erfolg für Europa werden“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. angenom-
men.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Entschließungsantrags der Fraktion der PDS zur Abgabe
einer Erklärung der Bundesregierung zum Europäischen
Rat in Nizza auf Drucksache 14/4666. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der PDS-Fraktion angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4653 mit dem Titel
„Die Europäische Union als Zivilmacht ausbauen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist ge-
gen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6443 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
ten Paul Breuer, Ulrich Adam, Sylvia Bonitz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
zu der Abgabe einer Erklärung der Bundes-
regierung
Die Bundeswehr der Zukunft, Feinauspla-
nung und Stationierung
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS
zu der Abgabe einer Erklärung der Bundes-
regierung
Die Bundeswehr der Zukunft, Feinauspla-
nung und Stationierung
- Drucksachen 14/5220, 14/5236, 14/6396 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Zumkley
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Ina Albowitz, Hildebrecht
Braun ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Hilfe durch den Bund für die von Reduzierung
und Schließung betroffenen Bundeswehrstandorte ist unverzichtbar
- Drucksachen 14/5467, 14/6397 Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt Palis
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Debatte eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
SPD-Fraktion ist die Kollegin Ursula Mogg.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die den Saal
verlassen wollen, dieses möglichst schnell zu tun, damit
die Rednerin der SPD-Fraktion entsprechende Aufmerksamkeit erhält.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einer schnelllebigen
Zeit. Deshalb ist es sicher hilfreich, in einer Debatte wie
der heutigen einen kurzen Blick darauf zu werfen, welchen Herausforderungen sich die Regierung Schröder seit
ihrem Regierungsantritt vor drei Jahren im Verteidigungsbereich gestellt hat und mit welcher Systematik,
Konsequenz und Zielgenauigkeit der Verteidigungsminister eine Reform angepackt hat, die in ihrer Dimension für
die Bundeswehr ohne Beispiel ist.
({0})
- Sie werden sehen, wie gut das wird.
Die von niemandem bestrittene Notwendigkeit der Reform, der Umbau der Bundeswehr zu einer Armee, die
sich im Rahmen internationaler Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland neuen Aufgaben stellt, wurde
zügig angepackt. Stichworte sind: Bestandsaufnahme,
Rahmenvertrag „Innovation, Investition und Wirtschaftlichkeit in der Bundeswehr“, Bericht der WeizsäckerKommission, Eckwertepapier, Grobausplanung und Feinausplanung, um nur einige wichtige Schritte darzustellen.
({1})
- Wir haben in diesem Punkt sehr unterschiedliche Auffassungen, Frau Kollegin.
Diese Vorgehensweise und die damit verbundenen Reformansätze finden die volle Unterstützung der SPDFraktion. Wir wissen: Wir sind auf dem richtigen Weg.
({2})
Ein Blick auf die Diskussionen der Opposition, Herr Kollege, zeigt zudem überdeutlich, dass die Reform alternativlos ist. Wer sich mit den vorliegenden Anträgen befasst,
stellt fest: Offensichtlich ist die Opposition bemüht, eine
Reihe von Interessen hundertprozentig zu vertreten, obwohl
sie zum Teil in direktem Widerspruch zueinander stehen.
({3})
Nicht nur die Lebenserfahrung lehrt, dass dies nicht gelingen kann. Ein Beispiel dafür ist, Herr Kollege, dass Sie
einerseits wissen, dass die Bundeswehr verkleinert werden muss, andererseits aber die Erhaltung von Standorten
fordern. Das passt nicht zusammen.
({4})
Die Koalition setzt Prioritäten. Einige der wichtigsten
sind die Sozialverträglichkeit der Verkleinerung und die
Investitionen in Menschen und ihre Fähigkeiten.
({5})
Wir wollen, dass die Bundeswehr der Zukunft für Soldatinnen und Soldaten sowie für die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter attraktiv ist.
({6})
Der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bei
den Modernisierungsmaßnahmen unterstreicht in einzigartiger Weise, wie ernst die Bundesregierung ihre Verantwortung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nimmt.
Darauf sind wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehr stolz. Verdi bewertet den Tarifvertrag für
die zivilen Beschäftigten als - Originalzitat wesentlichen Schritt zur sozialverträglichen Bewältigung der anstehenden, politisch gewollten Strukturveränderungen in der Bundeswehr.
({7})
Die Angebote alternativer Arbeitsplätze und kostenfreier Qualifizierung, Einkommenssicherung sowie die
Gewährung von Altersteilzeit und Vorruhestand sind
Ausdruck des Willens, die Reform mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und nicht gegen sie zu verwirklichen.
({8})
- Das weiß ich besser, Herr Kollege.
({9})
Wir wissen, dass die Bundeswehr der Zukunft im internationalen Wettbewerb nur erfolgreich sein kann, wenn
sie in die Qualifikation des Zivilpersonals und der Soldatinnen und Soldaten investiert. Nur der moderne, attraktive Arbeitsplatz ruft das Interesse junger Menschen bei
ihrer Berufsorientierung hervor. Wir wollen die Besten für
die Bundeswehr. Ein Netzwerk von Aus-, Fort- und Weiterbildungskooperationen wird länger dienenden Zeitsoldaten den Erwerb zivilberuflicher Qualifikation ermöglichen. Beispielhaft dafür sind die Vereinbarungen mit den
Industrie- und Handelskammern sowie den Handwerkskammern.
Die Handwerkskammer Koblenz verweist stolz darauf,
dass im Rahmen ihres Pilotprojekts „Beratungszentrum Bundeswehr-Handwerk“ seit Beginn des Projektes vor knapp zwei Jahren 60 Prozent der Auszubildenden
das Beratungsangebot der Bundeswehr angenommen haben, 350 individuelle Beratungen von Zeitsoldaten stattgefunden haben und zwölf Existenzgründer gefunden
worden sind. Das Angebot ist seit dem 1. Mai 2001 auch
im Internet abrufbar.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Die SPD-Fraktion wird diese Aktivitäten strategisch
und politisch unterstützen sowie die aus dem Pilotprojekt
erwachsenen Vorschläge positiv aufnehmen.
({10})
- Vielleicht.
({11})
- Es ist schön, wenn wir über die Pilotprojekte sprechen.
Diese Pilotprojekte, wie etwa die Existenzgründungsprogramme, sind gute Ansätze der Bundesregierung.
An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die Bundeswehrreform im Kontext der Modernisierung unserer Gesellschaft insgesamt und speziell des Bildungssystems zu
sehen ist. Wir wissen: Ein attraktiver Arbeitsplatz definiert sich nicht nur über solide Ausbildung und interessante berufliche Perspektiven, sondern auch über die Entlohnung. Wir wissen, dass die Kritik an der Regierung in
diesem Punkt nachvollziehbar ist. Deshalb werden wir als
Fraktion alles tun, damit wir die entsprechenden Gesetzesvorhaben sehr bald parlamentarisch beraten können.
Wir sind sehr optimistisch.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Wir haben uns der Verantwortung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Bundeswehr und für die Infrastruktur der Regionen gestellt.
({13})
Wir haben gleichzeitig ein Modernisierungskonzept auf
den Weg gebracht, das eine deutliche Effektivierung der
Strukturen und Abläufe bewirkt. Der Fortbestand der
Bundeswehr in der Fläche und der Erhalt der Wehrpflicht
machen deutlich, dass die Bundeswehr auch in Zukunft
eine Armee bleibt, die in der Mitte der Gesellschaft steht.
Wir wissen: Wir sind auf dem richtigen Weg.
({14})
- Herr Kollege, wenn Sie sich mit dem Thema beschäftigt
haben, dann wissen Sie doch, dass die Bundeswehr mit
den vorliegenden Papieren auf eine halbe Milliarde DM
an Effizienzgewinnen zugunsten der Konversion und der
Standorte verzichtet hat. Das ist doch bekannt!
({15})
- Nein, das kenne nicht nur ich; das kennen wir alle im
Parlament, die wir uns ausführlich mit diesem Thema beschäftigen.
Wir werden die Herausforderungen meistern.
({16})
Denen, die gerne etwas schneller zum Ziel gelangen
möchten, sage ich: Der Zug wird weiter deutlich an Fahrt
aufnehmen. Ich werbe ein wenig, wenn es Verzögerungen
gibt: Die besonderen Herausforderungen der Reform bestehen auch darin, dass die Bundeswehr zeitgleich im
Umbau und im Einsatz ist. Denjenigen, die mit großem
Engagement und Einsatz an der einzigartigen Aufgabe
speziell im Verteidigungsministerium, aber auch in vielen
anderen Dienststellen arbeiten, sage ich von dieser Stelle
ein aufrichtiges Dankeschön.
({17})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Paul Breuer.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Kollegin Mogg, ich stimme mit
Ihnen überein, dass die Bundeswehr ein wichtiger Arbeitgeber ist und dass die Sicherheit der Arbeitsplätze und die
Qualität der Arbeitsbedingungen sehr wesentlich sind. Es
wird Ihnen aber nicht gelingen, bei diesem Thema überzeugend zu argumentieren, wenn es Ihnen nicht gelingt,
deutlich zu machen, dass die Bundeswehr ein wichtiger
Faktor der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist,
den man nicht verludern lassen kann.
({0})
Allerdings besteht in der Bundeswehr selbst, aber auch
bei unseren Bündnispartnern der Eindruck, dass genau
dieses geschieht.
({1})
Wir sollten uns vergegenwärtigen, in welcher historischen Phase das passiert: In den letzten zehn Jahren hat
Deutschland eine Zeit der Umorientierung in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik hinter sich gebracht.
({2})
Deutschland war 1990 ein geteilter Frontstaat mitten in
unserem geteilten Kontinent. Heute sind wir das wiedervereinigte Deutschland, das wirtschaftlich stärkste und
bevölkerungsreichste Land in der Mitte Europas. Verbunden mit diesen Veränderungen haben wir Deutsche einen
großen Sicherheitsgewinn erhalten, den wir im Wesentlichen auch der Solidarität unserer Partner in NATO und
Europäischer Union verdanken.
({3})
Parallel zu dieser Entwicklung - Herr Kollege, ich
gehe damit auf Ihren Zuruf ein - haben wir allerdings
mehr Verantwortung für den Frieden in Europa übernehmen müssen, weil nicht nur Europa selbst - das sehen wir
aktuell auf dem Balkan -, sondern die Peripherie Europas
und diese Welt voller Gefahren sind. Ihr Vorschlag, dann
könnten wir ja abrüsten, ist sehr kurzsichtig. Wir müssen
heute darauf achten, dass wir Deutschen entsprechend unUrsula Mogg
serer ökonomischen Potenz für die Sicherheit Europas
und des nordatlantischen Raumes einen angemessenen
und geschätzten Beitrag leisten.
({4})
Die CDU/CSU- und F.D.P.-geführte Bundesregierung
hatte schon begonnen, sich dem neuen Szenario durch den
Aufbau der Krisenreaktionskräfte anzupassen. Damals
musste diese Aufgabe der Krisenreaktionskräfte, die Beteiligung Deutschlands an Auslandseinsätzen, im deutschen Parlament in einer tiefen Auseinandersetzung insbesondere gegen große Teile der Sozialdemokratie und
der Grünen durchgefochten werden. Dass uns dieser Beitrag zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik gelungen ist, darauf sind wir stolz.
({5})
Meine Damen und Herren, wir müssen heute einen wesentlichen Beitrag zur multilateralen Krisenvorsorge
und Konfliktbewältigung leisten. Dabei muss auch gesagt werden, dass wir dies vor dem Hintergrund unserer
Verfassung tun, die uns zunächst einmal dazu verpflichtet - das ist nach wie vor das vorrangige Ziel -, die Landesverteidigung im Rahmen der Bündnisverteidigung zu
sichern. Wir wollen bündnissolidarisch sein.
Herr Kollege Zumkley, ich nehme Ihren Zwischenruf
auf, wir verließen das Ziel, das wir gehabt haben. Bündnissolidarität und Bündnisfähigkeit erweisen sich nicht
darin, bei allen möglichen Einsätzen im Deutschen Bundestag Mehrheiten zu gewährleisten, sondern darin, die
Bundeswehr im Alltag im Hinblick auf Ausrüstung, psychische Stabilität und Nachwuchsgewinnung ordentlich
auszustatten. Sie aber machen derzeit aus der Bundeswehr
ein Abbruchunternehmen.
({6})
Grundlage muss eine solide Finanzierung sein. Nur so
können die von der Bundesregierung beim NATO-Gipfel
in Washington und im Rahmen der europäischen Zielsetzungen, der so genannten European Headline Goals,
eingegangenen Verpflichtungen erfüllt werden. Bündnistreue und Verlässlichkeit bei den Partnern ist gerade uns
von der CDU/CSU nicht nur bei Einsatzbeschlüssen im
Deutschen Bundestag, wie ich gerade sagte, sondern vor
allem im Alltag der Bundeswehr unverzichtbar.
Wegen unserer Verpflichtungen gegenüber dem Bündnis und den Partnern muss Deutschland in der nahen Zukunft erhebliche Investitionen in Personal und Material
innerhalb der Bundeswehr vornehmen.
({7})
Umfangreiche Kapazitäten beim Lufttransport müssen
neu geschaffen werden. Neue Präzisions- und Abstandswaffen, Kommunikations- und Aufklärungstechnologie
werden benötigt. Darüber gibt es eigentlich keinen Dissens. Der Konsens ist aber deshalb gefährdet, Herr Kollege Zumkley, weil es Ihnen nicht gelungen ist, Ihre eigene Fraktion und Ihren Koalitionspartner, die Grünen,
von der Notwendigkeit dieser Investitionen und ihrer Berechenbarkeit zu überzeugen.
({8})
Wenn Sie sagen, dies entspreche nicht der Realität,
dann halte ich Ihnen entgegen, Herr Kollege Zumkley:
Die Bundeswehr ist dramatisch unterfinanziert. Dem werden Sie nicht widersprechen können. Wenn Sie dem jedoch widersprechen wollen, dann
({9})
erinnere ich Sie an eine Aussage von Herrn Scharping aus
dem Jahre 1999, also aus der Zeit, als ihm deutlich wurde,
dass er innerhalb der mittelfristigen Finanzplanung etwa
20 Milliarden DM für die Bundeswehr verlieren würde.
Zum damaligen Zeitpunkt hat Herr Scharping laut „Stuttgarter Zeitung“ vom 27. Juni 1999 ausgeführt:
Kritik der Union, die Bundeswehr sei bereits unterfinanziert, sei keine oppositionelle Attitüde, sondern
die schlichte Wahrheit.
Seitdem hat die Bundeswehr mehrere Milliarden verloren. Wenn sie heute dramatisch unterfinanziert ist, dann
ist das wohl auch die Meinung von Herrn Scharping, sofern er das, was er damals sagte, heute noch ernst nimmt.
({10})
Meine Damen und Herren, die Forderung nach mehr
Geld für die Bundeswehr ist also kein Selbstzweck, sondern eine sicherheits- und verteidigungspolitische Notwendigkeit. Deutschland darf nicht zum Unsicherheitsfaktor in der europäischen und nordatlantischen Verteidigung werden.
Wir sind uns alle einig, dass es jetzt an der Zeit ist, mit
der Umstrukturierung der Bundeswehr zu beginnen
({11})
und mit ihr fortzufahren. Aber wir müssen uns darin einig
sein, dass wir nicht nur große Sprüche klopfen und begeistert davon reden dürfen, wie weit man gekommen sei, sondern die Realität zur Kenntnis nehmen und endlich etwas
tun müssen, damit die Reformen ordentlich angegangen
werden, die wir von den Grundzielen her teilen, die allerdings so, wie sie umgesetzt werden, in einer Katastrophe
enden und die Bundeswehr zu einer Reformruine führen
werden. Der Reformprozess muss an Dynamik gewinnen.
Das aber schaffen Sie nicht. Scharping führt die Bundeswehr in die schlimmste Krise, die diese deutsche Armee jemals erlebt hat.
({12})
Nach dem Beschluss des Bundeskabinetts vom vergangenen Jahr zur Bundeswehrreform musste Herrn
Scharping in der Woche darauf bei der Feststellung des
Haushaltsentwurfs durch das Kabinett eigentlich schon
klar geworden sein, dass das, was er 1999 vorausgesagt
hatte, Wirklichkeit würde.
({13})
Er hat in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ am
25. Juli 1999 Folgendes gesagt:
Niemand sollte übersehen: Deutschland liegt heute
auf dem 17. Platz, wenn wir unsere Verteidigungsaufwendungen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt der NATO-Mitglieder betrachten. Man kann
nicht dauerhaft außenpolitisch Weltliga spielen,
wenn man sicherheitspolitisch in Richtung zweite
Liga rutscht.
Seitdem weist der Verteidigungsetat ein Minus von mehreren Milliarden DM auf. Es stellt sich also die Frage: In
welcher Liga spielen wir eigentlich?
({14})
Das sollten Sie ernst nehmen, meine Damen und Herren
Kollegen von der SPD-Fraktion, aber auch von der Fraktion der Grünen. Innerhalb der NATO - das ist außerordentlich bedauernswert; glauben Sie nicht, dass uns das
freut - ist der Stellenwert Deutschlands in den letzten Jahren dramatisch gesunken.
({15})
Minister Scharping hat es nicht geschafft, die SPDFraktion und den Koalitionspartner, die Grünen, für seine
Ziele zu gewinnen. Er hat die Vorschläge der von ihm
selbst eingesetzten Weizsäcker-Kommission genau wie
die Planungen des ehemaligen Generalinspekteurs General von Kirchbach in den Wind geschlagen und stattdessen ein eigenes Konzept vorgelegt. Er muss jetzt für dieses Konzept geradestehen und seine Ansprüche an der
Realität messen lassen.
({16})
Die Realität, Frau Kollegin Mogg, sieht nicht so aus, wie
Sie sie vorhin in Ihrer Rede dargestellt haben.
Minister Scharping wollte der Öffentlichkeit, aber
auch diesem Parlament weismachen, dass ihm die so genannte Reform der Bundeswehr insbesondere deshalb gelingen könnte, weil durch Veräußerungen, Einsparungen
und Steigerung der Effizienz zusätzliche Einnahmen in
Höhe von - das hat er in diesem Hohen Hause versprochen - 1 Milliarde DM für die Bundeswehr zu
erwirtschaften seien. Der Bundesfinanzminister quittiert
dieses Versprechen mit einem Vorschuss von 100 Millionen DM. So groß ist das Vertrauen des Bundesfinanzministers in die Ankündigungen des Bundesverteidigungsministers. Das ist dramatisch. Sie sollten das zur
Kenntnis nehmen.
Die Finanzen der Bundeswehr, deren Verstetigung
Herr Scharping nach der Bundestagswahl einzuleiten
versucht hat - es ist zu bezweifeln, ob sie überhaupt
kommt -, reichen bei Licht betrachtet noch nicht einmal
aus, um künftige Tarifsteigerungen zu finanzieren. Eine
„normale“ Tarifsteigerung kostet die Bundeswehr etwa
500 Millionen DM. Bisher hat der Bundesfinanzminister
keinen einzigen Beitrag zur Finanzierung solcher Tarifsteigerungen geleistet. Folge: Die Bundeswehr zehrt sich
von Tag zu Tag mehr aus. Die Situation ist dramatisch.
Bundespräsident Rau hat vor wenigen Tagen erklärt,
dass sich die Deutschen der internationalen Verantwortung der Bundeswehr zu wenig bewusst seien. Ich bin davon überzeugt, dass der Bundespräsident Recht hat.
({17})
Aber man sollte noch hinzufügen: Insbesondere sind sich
die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen der Verantwortung der Bundeswehr und damit
der Verantwortung Deutschlands zu wenig bewusst.
({18})
Ändern Sie dies; sonst ist der Schaden erheblich.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat die Kollegin
Angelika Beer.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch in
der heutigen Debatte, die ja nicht die erste über die Reform der Bundeswehr ist,
({0})
ist wieder deutlich geworden - das sage ich im Hinblick
auf den Beitrag des Kollegen Breuer von der CDU/CSUFraktion -, dass Sie sich jenseits jedes Reformansatzes
bewegen, das heißt, Sie klagen im Grunde ein, dass unsere
Koalition die defizitäre Politik der Vergangenheit weiterbetreiben soll. Herr Kollege Breuer, dafür werden Sie
keinerlei Zustimmung von den Grünen oder der SPD bekommen.
({1})
Ihrem Antrag fehlt jegliche zeitgemäße und zukunftsweisende politische Einbettung. In Ihrem Antrag befindet
sich keinerlei Reformperspektive; Ihre einzige Schlussfolgerung ist: Wir brauchen mehr Geld. Ihr grundlegender
Fehler ist meines Erachtens auch dadurch zu erklären,
dass Sie Sicherheitspolitik primär militärisch begründen
und die Einbindung von Sicherheitspolitik in ein außenpolitisches Konzept nicht nur außen vor lassen, sondern
offensichtlich noch nicht einmal in Erwägung gezogen
haben.
({2})
Das Ziel unserer Regierung ist die Verhinderung von
Gewalt; deswegen versuchen wir, die Sicherheitspolitik in
eine präventive Außen- und Sicherheitspolitik einzubinden. Wir wissen, dass man mit militärischen Mitteln allein
nicht in der Lage ist, schwierige politische Konflikte zu
lösen.
({3})
Wir haben uns mit unseren Partnern im Rahmen internationaler Bündnisse abgestimmt, die diplomatischen Mittel verstärkt und den Umbau der Bundeswehr begonnen.
Einige NATO-Partner sind ähnlich vorgegangen. Wenn
Sie noch an der Regierung wären, dann wäre die Personalstärke der Bundeswehr wahrscheinlich unverändert
und die Kannibalisierung würde andauern.
({4})
Wir sehen die Reform der Bundeswehr als einen sehr
komplexen Prozess in diesem Umfeld an.
({5})
Weil dieser Prozess so komplex ist, kann er nicht statisch
sein und bedarf der Nachsteuerung und keiner platten Parolen.
({6})
Im Namen der Grünen sage ich: Unsere Reformvorstellungen reichen weiter. Wir glauben nach wie vor, dass der
Vorschlag der Weizsäcker-Kommission eine in dieser
Gesellschaft konsensfähige Orientierung für die zukünftige Entwicklung liefern wird. Vonseiten der Opposition
bedarf es zumindest der Bereitschaft, sich dem Gedanken
der Reform zu öffnen. Kritisieren Sie doch einzelne Reformschritte, statt immer nur Nein zu sagen! Diese Haltung ist eine Art Sackgasse, die es so schwierig macht,
hier produktive Debatten zu führen. Dennoch werden wir
die Reform der Bundeswehr voranbringen.
({7})
Herr Kollege Breuer, Herr Kossendey - ich kann ihn
im Moment nicht sehen -, erzählen Sie uns doch einmal,
wie Sie Ihre Vorstellungen von der zukünftigen Bundeswehr - ich erinnere an die von Ihnen geforderte Personalstärke von 300 000 - zeitgleich mit der durchaus zugestandenen notwendigen Modernisierung finanzieren
wollen.
({8})
- Ihr Konzept besteht aus Wunschvorstellungen und Träumereien. Das ist keine Grundlage für eine solide Außenund Sicherheitspolitik.
Ihre Kritik an den Standortschließungen ist zwar Ihrer Logik immanent; aber dadurch wird sie nicht richtiger.
Jede Reform, die eine Reduzierung anstrebt - die Kollegin Mogg hat das ausgeführt -, bedeutet, dass wir die Anzahl der Standorte verringern müssen.
({9})
Sicherheitspolitik ist nun einmal nicht nur Strukturpolitik,
wiewohl sie strukturpolitische Folgen hat. Wir sind natürlich für die Sorgen, die Nöte und die Diskussionen in den
Kommunen - ich denke an die Familien, die schon wieder umziehen müssen - offen.
({10})
In Bezug auf die Eckwerte wollen wir Planungssicherheit
schaffen. Wir setzen uns in den Ländern mit den Betroffenen zusammen, um unsere Vorstellungen von Verantwortung auch im Bereich der Konversion umzusetzen.
Wir gestehen zu, dass das ein schwieriger Prozess ist.
Während wir diesen Prozess vorantreiben, wollen Sie stehen bleiben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen - nach Ihrer Rede
möchte ich das ansprechen, Herr Breuer -, es ist weder im
Hinblick auf die Außenpolitik noch auf die innenpolitische Bedeutung der Bundeswehr hilfreich, Themen, die
wenig miteinander zu tun haben, beliebig zu vermischen.
Wenn Sie in jeder Debatte über einen Einsatz der Bundeswehr die Erhöhung des Bundeswehretats um 3 Milliarden DM bis 5 Milliarden DM fordern, dann behindern
Sie eine rationale Diskussion über schwierige außenpolitische Fragestellungen und über notwendige Entscheidungen unseres Parlaments.
({11})
Natürlich müssen Sie uns kritisieren. Ich wünsche mir
nur, dass Ihre Kritik sachbezogen und logisch ist.
({12})
Wir sind kritik- und konfliktfähig.
({13})
Kritik und Konflikt bringen einen weiter. Ihre Kritik besteht allerdings darin, einen Popanz aufzubauen und uns
zu unterstellen, Auffassungen zu vertreten, die keiner von
uns jemals geteilt hat.
({14})
An dem von Ihnen aufgebauten Popanz arbeiten Sie sich
dann ab.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Finanzierung sagen.
Die Bundeswehr hat eine Anschubfinanzierung bekommen. Sie hat aus dem Einzelplan 60 Mittel bekommen, die
auch in die Reform einfließen. Wir nehmen zur Kenntnis
- Sie können das nicht -, dass durch die Gründung der
GEBB - der Reformprozess ist zum Teil auch Wirtschaftspolitik - Rationalisierungsgewinne, Verkaufserlöse usw. wirklich eine neue Bundeswehrstruktur gestalten. Die Bundesregierung hat uns im Hinblick auf die
GEBB zugesagt, dass sie sich innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens bewegt. Dieser Zusage der Regierung vertrauen wir.
({15})
Zu den Finanzen möchte ich noch etwas anderes sagen.
Wir stellen heute eine weit geöffnete Schere zwischen den
Mitteln, die wir für Präventionen und Krisenmoderation
zur Verfügung stellen, und dem Ansatz für das Militär
fest. Wir wollen den Abstand der Scherenflügel verkleinern, indem wir sicherheitspolitische Grundsätze, eingebettet in die präventive Außenpolitik, so verlagern, dass
wir zukünftig sagen können: Wir können Konflikte frühzeitig moderieren, ohne Militär einzusetzen. Damit können wir die Ansätze in den Haushalten ein Stück weit zusammenführen. Dies ist auch im Interesse unserer
Soldaten, die nicht unnötigerweise in den Einsatz geschickt werden sollen.
({16})
Ich möchte jetzt noch etwas zu einer Aussage des Generalinspekteurs hinsichtlich des Reformprozesses und
der Beschleunigung sagen. Der Generalinspekteur hat
neulich gesagt, dass er sich aufgrund der jetzigen finanziellen Situation - auch er hat deutlich mehr Geld verlangt eine lineare zeitliche Verschiebung des Reformprozesses
vorstellen könnte. Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
ich sage ganz ehrlich: Ein Schieben, Strecken und Streichen halten wir für falsch.
({17})
Wir haben eine andere Vorstellung von Nachsteuerungen. Wir sind davon überzeugt, dass die Bundeswehr in
dem Prozess der Modernisierung weiter reduziert werden
kann.
({18})
Natürlich werden wir sehr sachlich und politisch verantwortlich die personelle Reduzierung weiter diskutieren.
Es wird Ihnen nicht gelingen, Rot und Grün gegeneinander aufzuhetzen. Wir werden die gesellschaftliche Debatte über die Wehrpflicht, die zurzeit stattfindet,
insbesondere vor dem Hintergrund, dass jetzt die Frauen
freiwillig ihren Dienst verrichten können, produktiv weiterführen. Dies werden wir im Hinblick auf die zu erwartende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
tun; das weiß unser Koalitionspartner.
({19})
- Nein, das ist die Berücksichtigung von gesellschaftlichen und politischen Prozessen.
Wenn Sie bereit sind, über gesellschaftliche Veränderungen in unserem Land zu diskutieren, werden wir mit
Freude auch mit der Opposition eine sachgerechte und
zukunftsgerichtete Diskussion führen. Dann sind wir an
einem Punkt, an dem wir sagen können, dass das Parlament im Interesse der Gesellschaft, der Soldaten und in
der Verantwortung, die Soldaten für internationale Aufgaben, die sie im Moment hervorragend erfüllen, entsprechend auszustatten, die Dinge weiter vorantreibt.
({20})
Sie verbreiten Panik, stellen infrage und fahren die Strategie der Verunsicherung auf dem Rücken von Leuten, die
wohl mehr davon hätten, wenn dieses Parlament zu einer
gemeinsamen Positionierung käme. Dazu müssten Sie sich
aber bewegen. Deswegen lehnen wir Ihre Anträge heute ab.
({21})
Der nächste Redner ist
der Kollege Günther Friedrich Nolting von der F.D.P.Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Beer, die
F.D.P. hat rechtzeitig ein Konzept zur Bundeswehrreform
vorgelegt.
({0})
Diese rot-grüne Regierung peitscht jedoch ihre Vorstellungen durch, ohne auf die F.D.P. zuzugehen. Die rotgrüne Regierung handelt am Parlament vorbei. Das Parlament ist ihr lästig.
({1})
Gerade in der vergangenen Woche haben wir die Äußerungen von Bundesaußenminister Fischer vor dem Bundesverfassungsgericht zur Kenntnis nehmen müssen.
({2})
Frau Kollegin Beer, vielleicht sollten Sie dies an Ihren
Außenminister weiterleiten
({3})
- ich hoffe, dass er zuhört -: Die Bundeswehr ist nach wie
vor eine Parlamentsarmee und keine Regierungsarmee.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten, dass es dabei
bleibt.
({4})
Ein Minister ist nämlich schnell zurückgetreten und gibt
damit die Verantwortung ab. Das Parlament aber bleibt
und trägt auch weiterhin die Verantwortung.
Frau Kollegin Beer, das, was Sie zur Reform der Bundeswehr gesagt haben, und die Tatsache, dass Sie sich als
Retterin der Bundeswehr aufspielen, ist doch nahezu unglaubwürdig. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf
Reden, die Sie bis September 1998 gehalten haben, als Sie
noch in der Opposition waren.
({5})
Frau Kollegin Mogg, zu Ihrem Beitrag zur Bundeswehrreform kann ich für die F.D.P.-Bundestagsfraktion
nur feststellen: Wir haben eine schlecht laufende Bundeswehrreform. Das, was Sie heute gemacht haben, war
Schönreden wider besseres Wissen.
({6})
Ich sage Ihnen: Die Bundeswehrreform wird den nächsten Wahltag nicht überleben.
({7})
Wir haben eine unausgewogene Personalstruktur, wir
haben eine unbefriedigende Nachwuchslage, wir haben
eine den neuen Aufträgen nicht mehr gerechte Materiallage und wir haben unmittelbar bevorstehende Konversionsmaßnahmen. Das ist die Realität, aber darauf sind
Sie nicht eingegangen.
({8})
Zur Konversion haben Sie heute nicht ein einziges Wort
gesagt.
({9})
Ich denke, die betroffenen Kommunen haben ein Recht
darauf, hierzu etwas zu hören.
({10})
Ich sage für die F.D.P.-Bundestagsfraktion, dass der Umbau der Bundeswehr und die damit einhergehende Umstrukturierung von Standorten eine Bundesaufgabe ist und
Geld kostet.
({11})
Umso unglaubwürdiger ist die Politik dieser Bundesregierung, da sie diesen Zusammenhang zwar sieht und eingesteht - ich hoffe, dass der Staatssekretär darauf gleich noch
eingeht -, in der Ausstattung des Haushalts aber nicht umsetzt. Der vorgelegte Haushaltsentwurf mit 23,6 Milliarden Euro für die Verteidigung ist unzureichend. Herr Kollege Zumkley, das wissen Sie auch; Sie haben sich in der
Öffentlichkeit entsprechend geäußert. Ich kann für die
F.D.P.-Bundestagsfraktion deshalb nur feststellen: Die
Bundesregierung misst der Bundeswehr und ihrem Umbau
und damit der Sicherheitspolitik insgesamt ganz offensichtlich einen äußerst geringen Stellenwert bei.
({12})
Es gibt ständig neue Aufgaben für die Bundeswehr, aber
immer weniger Geld. Das müssen Sie einmal der staunenden Öffentlichkeit erklären.
Mit einem nominal sinkenden Verteidigungsetat ist
die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr gefährdet. Mit einem nominal sinkenden Verteidigungsetat kann keine
Liegenschaft der Bundeswehr so zurückgebaut oder saniert werden, dass sie verkauft werden kann. Personalmaßnahmen können nicht sozialverträglich umgesetzt
werden, geschweige denn, dass etwa ein Sonderprogramm für die von Schließungen und Verkleinerungen besonders betroffenen Kommunen eingeleitet werden kann.
Es gibt einen Ort in Mecklenburg-Vorpommern, der
besonders hart betroffen ist.
({13})
- Nein, ich will jetzt auf Stavenhagen eingehen, Kollege
Breuer. Hier werden 1 240 Dienstposten ersatzlos gestrichen. Der Bürgermeister der Stadt sagt dazu: Es gibt eine
Reihe von Ideen und Vorschlägen, aber wir brauchen zunächst eine Machbarkeitsstudie. Die kostet etwa
150 000 DM, die wir mit Unterstützung des Verteidigungsministeriums auftreiben wollen. - Jetzt kommt der
entscheidende Satz: Leider versuchen wir seit Monaten
erfolglos, einen Kontakt zum Büro von Herrn Scharping
herzustellen.
({14})
Dieses Beispiel zeigt, wie sich die Bundesregierung
aus ihrer Verantwortung für die rund 100 Standorte stiehlt,
({15})
die von einer Schließung oder einer Reduzierung betroffen sind. Deshalb, Herr Kollege Zumkley, sollten
Sie mit dafür Sorge tragen, dass für Reorganisationsmaßnahmen im Bundeshaushalt entsprechend viel Geld
vorgesehen wird. Das ist auch Ihre Aufgabe als Regierungskoalition.
({16})
Es ist festzustellen - und hier frage ich den Staatssekretär -, ob es für die betroffenen Kommunen klare finanzielle Hilfen zur Konversion geben wird.
({17})
Herr Staatssekretär, die F.D.P.-Fraktion appelliert an
Sie: Fordern Sie beim Bundeskanzler die für die Bundeswehr überlebenswichtige deutliche Erhöhung des Verteidigungshaushaltes ein und setzen Sie beim Bundeskanzler eine Anschubfinanzierung und ein Konversionsprogramm durch, damit viele der von Schließung und Reduzierung betroffenen Bundeswehrstandorte überhaupt
eine Überlebenschance haben.
({18})
Wir brauchen ein Sonderprogramm. Wir brauchen ein
überregionales Ausgleichskonzept. Wir brauchen einen
Härtefallfonds.
({19})
Frau Mogg, hier sind die Verträge bezüglich des Abbaus der Stellen von zivilen Mitarbeitern angesprochen
worden. Diese Verträge kommen sehr spät, aber sie sind
immerhin da. Eines fehlt aber noch: Diese Verträge müssen jetzt auch mit Leben erfüllt werden und die Betroffenen müssen endlich wissen, was auf sie zukommt. Wir
müssen mit dafür Sorge tragen, dass den betroffenen zivilen Mitarbeitern Ängste und Sorgen genommen werden.
Auch da sind Sie und die Regierung gefordert. Herr
Staatssekretär, ich hoffe, dass Sie auch dazu Stellung nehmen werden.
Wir haben einen Antrag zur Konversion vorgelegt. Ich
bitte Sie um Unterstützung, damit die betroffenen Regionen und Kommunen endlich Hilfe bekommen. Darauf haben sie Anspruch.
Vielen Dank.
({20})
Die Kollegin Heidi
Lippmann spricht jetzt für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden drei Anträge der
Oppositionsfraktionen sind Ausdruck der fehlenden Mitbestimmung des Parlaments bei der so genannten Bundeswehrreform. Der Antrag der PDS unterscheidet sich von der
Stationierungsplanung der Regierung und den Positionen
von CDU/CSU und F.D.P. allerdings in einem ganz zentralen Punkt: Im Gegensatz zu Ihnen lehnen wir den Umbau
der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee strikt ab.
({0})
Ihre Planung hat mit Abrüstung und Rüstungskonversion
nichts zu tun, sondern ist Ausdruck von Umrüstung und
Rüstungsmodernisierung.
Die PDS tritt dafür ein, die Bundeswehr drastisch zu
reduzieren. Daran halten wir auch fest. Die damit einhergehenden Einschnitte für die betroffenen Soldaten und Zivilbeschäftigten müssen sozialverträglich ausgestaltet
werden. Natürlich muss es entsprechende Unterstützungen für die betroffenen Regionen geben. Wir fordern daher die Einrichtung eines Amtes für Abrüstung und
Konversion, um die institutionellen Bedingungen eines
wirtschafts- und sozialverträglichen Umstellungsprozesses zu gewährleisten.
Ausgehend von diesem grundlegenden Unterschied
fordern wir in unserem Antrag, die Pläne zur Feinausplanung und Stationierung der Bundeswehr abzulehnen und
stattdessen ein Abrüstungs- und Konversionskonzept
vorzulegen, das den notwendigen Abbau der Streitkräfte
mit Maßnahmen gezielter regionaler Wirtschaftsförderung verbindet. In diesem Punkt hat die F.D.P. unseren
Antrag abgeschrieben, sodass wir uns bei eurem Antrag
enthalten werden.
({1})
Dies betrifft insbesondere Standortschließungen in den
neuen Bundesländern, wie zum Beispiel in Eggesin, einer
der strukturschwächsten Regionen in diesem Land. Wir
dürfen die von Standortschließungen betroffenen Menschen, Gemeinden und Regionen nicht alleine lassen, sondern müssen ihnen wirtschaftliche Perspektiven bieten.
Herr Zumkley, dazu bedarf es Strukturfördermittel des
Bundes, die in einen Konversionsfonds eingebettet sein
müssen, der im kommenden Haushaltsjahr mindestens
500 Millionen DM umfassen sollte.
Sie fragten, wie das finanziert werden soll.
({2})
Sie sind bereit, in den nächsten zehn bis 15 Jahren für die
Aufrüstung und den Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee rund 210 bis 220 Milliarden DM zu investieren.
({3})
Sie sind aber nicht bereit, die 500 Millionen DM, die für
den Bereich der Konversionsplanung erforderlich sind, zu
finanzieren.
({4})
Die Freigabe von Liegenschaften und die Aufgabe militärischer Flächennutzung können aber auch neue Entwicklungschancen eröffnen. So können Liegenschaften
im Rahmen regionaler und lokaler Beschäftigungs- und
Qualifizierungsprogramme genutzt werden. Bisher durch
Lärm- und Umweltbeeinträchtigungen gebeutelte Regionen können für Tourismus- und Freizeitangebote erschlossen werden. Ich erinnere nur einmal an das Versprechen von Herrn Scharping, der 1994 in Wittstock
gesagt hat, dass das Bombodrom geschlossen werden
solle. Was glauben Sie, wie dankbar Ihnen die Wittstocker
und die Leute in der Region wären, wenn Sie dort endlich
Konversion betreiben würden?
({5})
In Ballungsräumen kann auf freien Liegenschaften
neuer Wohnraum geschaffen werden und es können Gewerbeflächen-, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen entstehen, alles natürlich unter der Voraussetzung, dass der
Bund die Länder und die rund 100 von den Standortreduzierungen bzw. -schließungen betroffenen Gemeinden
nicht im Regen stehen lässt, sondern sie hinsichtlich der
ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen und
der Nachnutzungsoptionen unterstützt.
Wir haben in unserem Antrag diverse konkrete Angebote gemacht. Immerhin hat er das Lob der Grünen gefunden.
Wie unseriös die gesamte Planung um den so genannten Umbau der Bundeswehr ist, wird am Beispiel der
GEBB deutlich, die Herr Scharping eingerichtet hat. Insider gehen sogar so weit, die GEBB als größte Luftnummer zu bezeichnen, die ein Verteidigungsminister jemals
zur Irreführung von Parlament und Öffentlichkeit erfunden hat. Das ist ein Zitat von der Hardthöhe. Sollte es sich
bewahrheiten, dass die GEBB, wie die „Welt“ gestern berichtet hat, tatsächlich Haushaltsmittel in Wertpapieren
angelegt hat, so sollte dies nicht nur rechtliche, sondern
auch politische Konsequenzen haben.
Abschließend möchte ich noch einmal deutlich machen: Jetzt und auf absehbare Zeit gibt es keine militärische Bedrohung für Deutschland und Europa. Selbst im
Rahmen der Vorsorge in Bezug auf Landesverteidigung
und den Eventualfall Bündnisverteidigung reicht eine
drastisch reduzierte Bundeswehr aus. Keine internationale Verpflichtung zwingt die Bundesrepublik, die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umzubauen. Dazu,
wie unverbindlich die neue NATO-Strategie hinsichtlich
Bündnisverpflichtungen ist, haben der Außen- und der
Verteidigungsminister sich letzte Woche wortreich vor
dem Bundesverfassungsgericht verteidigt.
Nehmen Sie Ihre eigenen Kriterien zur nicht militärischen Friedenssicherung, Frau Beer, als Maßstab! Verzichten Sie auf fragwürdige, rechtswidrige Interventionen
und entsprechende strukturelle Maßnahmen! Wir fordern
Sie auf: Schaffen Sie ein Amt für Abrüstung und Konversion, gehen Sie ernsthaft mit den Problemen in den Regionen um und nehmen Sie Abstand von dem Umbau zur
Interventionsarmee! Dann gewinnen Sie nicht nur das
Vertrauen der Bundeswehrangehörigen zurück, sondern
auch das Vertrauen der betroffenen Menschen in den Regionen und Gemeinden.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bisherigen Einlassungen der
Opposition in dieser Debatte können nichts daran ändern,
dass wir mit der Neuausrichtung der Bundeswehr die seit
Jahren überfälligen und richtigen Antworten auf die
neuen internationalen Anforderungen geben und Versäumnisse Ihrer Regierungszeit in den Jahren 1990 bis
1998 wieder gutmachen.
({0})
Ihre bisherigen Einlassungen können nichts daran ändern, dass wir durch den bislang tiefgehendsten Umbau
der Bundeswehr mit bündnis- und partnerfähigen Streitkräften einen gewichtigen Beitrag zu einem Deutschland
leisten, das in einem handlungsfähigen Europa Verantwortung trägt. Ihre Einlassungen konnten und können
auch nichts daran ändern, dass wir durch unsere politischen Entscheidungen mit unseren transatlantischen
Freunden Frieden und Freiheit in einer Welt der Globalisierung mit ihren neuen Herausforderungen und Chancen
stärken.
Ich habe ja Verständnis dafür, dass Sie in Ihrer Oppositionsnot mit Wortschöpfungen überzeichnen. Aber Sie
sollten, Herr Kollege Breuer, sehr vorsichtig sein, wenn
Sie unsere ausländischen Partner hier im deutschen Parlament als Zeugen anrufen und sagen, dass auch diese sich
äußerten, wir würden mit der Bundeswehr Schindluder
treiben oder sie, wie Sie sich hier ausgedrückt haben, verludern lassen.
({1})
Wir waren gestern mit den niederländischen Kolleginnen und Kollegen zusammen. Ich hatte heute noch einmal
Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen. Von solchen Vorwürfen war keine Rede; stattdessen gab es Aufmerksamkeit für
unseren Weg, Aufmerksamkeit natürlich auch für die
Schwierigkeiten einer so grundlegenden Reform. Wer
wollte das leugnen? Wir packen es an; Sie konnten es nicht.
({2})
Sie sollten auch bei der Wahl Ihrer Worte darüber, in
welcher Liga wir nun spielen, wenn Sie die Soldatinnen
und Soldaten und ihre Leistungsfähigkeit mit einbeziehen,
({3})
sehr vorsichtig sein.
({4})
Überzeugen Sie sich davon, was unsere Marine jüngst
in belgischen Gewässern bei einem NATO-Wettbewerb
geleistet hat: erster Platz! Überzeugen Sie sich davon, was
unser Heer nach wie vor leistet, nicht nur im Einsatz, sondern auch bei den internationalen Übungen, zum Beispiel
bei „Partnerschaft für den Frieden“:
({5})
immer erste Plätze, immer im ersten Drittel! Das wird
nicht verhindert durch unsere Politik, nein, es wird gefördert, weil wir die Soldaten unterstützen.
({6})
Ich sage Ihnen in dieser Auseinandersetzung auf Ihre
Anträge hin, die Anspruch haben, sorgfältig gelesen und
bewertet zu werden - keine Frage -, auch, dass wir diese
Reform unter nicht einfachen Bedingungen der Konsolidierung der Staatsfinanzen ermöglichen. Sie haben uns
Berge an Schulden in Billionenhöhe überlassen, die uns
Zinslasten pro Jahr in fast doppelter Höhe des Verteidigungshaushaltes beschert haben.
({7})
Sie wissen genau, was in Ihrer Regierungszeit - auch
daran haben Sie zu tragen; das muss ich Ihnen immer
wieder vorhalten - dem Verteidigungsetat an Mitteln und
damit an Investitionskraft und Betriebsfähigkeit entzogen
worden ist.
Wir haben die Entscheidungen für diese neue Bundeswehr, für einsatzfähige und für ihre Aufgaben optimierte
Streitkräfte trotz des hohen Entscheidungstempos mit gebotener Sorgfalt getroffen. Dies gilt auch und gerade für
die in den Anträgen immer wieder angesprochene Stationierungsfrage.
({8})
Die Beurteilung von Standorten erfolgte auf der
Grundlage eines ausgewogenen Kriterienkataloges und
eines inneren militärischen Strukturzusammenhangs.
Überdies haben wir, Herr Kollege Nolting, bei den Stationierungsentscheidungen den Belangen der Länder und
der Kommunen sehr stark Rechnung getragen. Wie ernst
es uns damit war, ergibt sich schon allein daraus, dass in
der neuen Struktur mehr als 93 Prozent aller Standorte
- Frau Kollegin Mogg hat darauf hingewiesen - erhalten
geblieben sind. Das ist deutlich mehr - ich muss es noch
einmal herausstellen -, als allein nach militärischen und
wirtschaftlichen Aspekten vorgeschlagen wurde. Dies ist
unser volkswirtschaftlicher Beitrag - wenn Sie so wollen:
das Sonderprogramm des Bundesministers der Verteidigung für die Regionen jenseits des militärischen Optimierens.
({9})
So leisten wir einen Beitrag zur Erhaltung der Wirtschaftskraft in strukturschwachen Gebieten und so halten
wir die Bundeswehr auch künftig in der Fläche umfassend
präsent.
({10})
Erinnern Sie sich doch daran, was Sie bei Ihren Reformen 1994/95 gemacht haben: auf Teufel komm raus in der
Fläche geschlossen! Und jetzt halten Sie uns vor, dass wir
auf der Basis der von Ihnen getroffenen Entscheidungen
zu wenig täten. Sehen Sie diese Reformen auch einmal im
Zusammenhang, berücksichtigen Sie, welche Standorte
geschlossen worden sind und fassen Sie sich unter Würdigung der Texte Ihrer Anträge an Ihre eigene politische
Nase, meine Damen und Herren!
({11})
Auch wenn die Bewältigung des durch die Standortkonversion ausgelösten Strukturwandels in erster Linie in
der Verantwortung der Länder und Regionen liegt, was
ja auch anhand des F.D.P.-Antrages schon diskutiert worden ist
({12})
- es ist gut, Herr Nolting! -, wirkt der Bund gleichwohl
über ein breit gefächertes strukturpolitisches Instrumentarium an der regionalen Entwicklung mit, um die Folgen
struktureller Probleme zu mildern. So wirken zum Beispiel die Maßnahmen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“,
aber auch die Programme der Städtebauförderung, der
Agrarpolitik, der Arbeitsmarktförderung, die Mittelstandsförderprogramme sowie natürlich auch - das ist zu
konstatieren - entsprechende Landesprogramme unterstützend. Wir sind mit den Ländern im Dialog. Mit Bayern haben schon - Herr Kollege Rossmanith, Sie kommen
ja gleich dran, nehmen Sie es bitte auf und würdigen Sie
es - Gespräche stattgefunden. Der Wirtschaftsminister
und die politische Leitung des Bundesministeriums der
Verteidigung sind im Gespräch. Es sind ruhige, es sind
sachliche, es sind konstruktive Gespräche, an denen auch
der Städtebund und der Landkreisbund beteiligt sind. Mithilfe der Bundes- und der Länderprogramme werden wir
zu vernünftigen Lösungen kommen. Wir werden auch belastbare Zeitpläne mitteilen.
({13})
Ich darf darauf hinweisen, dass diese Bundeswehrreform von spürbaren Maßnahmen zur Steigerung der
Attraktivität begleitet wird. Hierzu zählen die Besoldungsverbesserungen, die in den Entwurf des sechsten
Besoldungsänderungsgesetzes aufgenommen werden.
Sie wissen von den Neuordnungen der Laufbahnen sowie
dem Bestreben, den einvernehmlichen Abbau von Personalüberhängen bei den Soldaten durch ein Personalanpassungsgesetz zu ermöglichen. Wir wollen diese Reform mit den Soldatinnen und Soldaten, mit den zivilen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern machen, nicht gegen
sie.
({14})
Sie werden nach der Sommerpause Gelegenheit haben,
sich hier parlamentarisch mit dem diesbezüglichen Gesetzesvorhaben zu befassen. Auf weitere wegweisende
Änderungen wie die Öffnung der Bundeswehr für Frauen
in allen Laufbahnen und Laufbahngruppen sowie die Einführung eines abschnittsweisen Grundwehrdienstes darf
ich im Zusammenhang mit der Vollständigkeit der Reform hinweisen.
Es ist hier auch darauf hingewiesen worden, dass der
Tarifvertrag möglicherweise unzulänglich und nicht zu finanzieren sei. Das wird nicht der Fall sein.
Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Opposition, sollten vor Ort und hier im Hause aber auch
nicht mit gespaltener Zunge auftreten. Ich habe - der Kollege Laumann ist leider gegangen - mit großer Betroffenheit davon gelesen, dass trotz richtiger Information im
Verteidigungsausschuss, bei dem der Partner der Pressekonferenz von Herrn Laumann, Herr Breuer, offensichtlich dabei gewesen sein muss, gesagt worden ist, man
könne den Tarifvertrag noch nicht rechtsverbindlich unterzeichnen, weil der Bundesminister der Verteidigung
nicht so weit sei. Es ist ganz anders: Verdi ist noch nicht
aufgestellt, noch nicht rechtsfähig; deswegen können wir
erst am 18. Juli den Tarifvertrag zugunsten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterzeichnen.
({15})
Ich rufe Sie zu Redlichkeit in der politischen Auseinandersetzung auf, meine Damen und Herren.
({16})
- An mich jederzeit, das wissen Sie. So ein Zwischenruf,
Herr Kollege Siemann, trifft mich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht. Wir können das auch vor Ort austragen.
Somit darf ich sagen: Diese Reform ist auf dem Weg.
Der Zug fährt; er wird an Geschwindigkeit aufnehmen
({17})
und er wird trotz Ihrer Unkenrufe am Ziel angelangen im Interesse unserer Bundeswehr als innenpolitisch und
außenpolitisch wichtiges konstitutives Element unseres
Landes. Ich kann Sie nur einladen, hier nicht nur - aber
das ist Ihre Farbe - schwarz zu malen, sondern der Reform auch politische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
({18})
Ich danke für Ihre Geduld.
({19})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Kurt Rossmanith.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Geschätzter Kollege
Walter Kolbow, sie haben hier ein Bild gemalt. Das einzige, was Sie dabei konstruktiv rübergebracht haben, war,
dass Sie wieder versucht haben, auf die Vergangenheit zu
kommen und vermeintliche Sünden der damaligen Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. im Bereich der Sicherheitspolitik und unserer Streitkräfte anzuprangern. Nur,
da sind Sie, wie Sie das seit 1998 schon machen, wieder
in die gleiche Falle gerannt; denn die Zahlen - ich könnte
Sie Ihnen jetzt vorlegen, aber Sie kennen sie ja - sprechen
eine ganz andere Sprache. Leider Gottes ist es eine Tatsache, dass die Lage der Bundeswehr in der Zwischenzeit
dramatisch geworden ist.
Die sich zuspitzende Lage in Mazedonien zeigt
schließlich - nicht, dass wir sagen, unsere Soldaten seien
schlecht ausgebildet oder ausgerüstet -,
({0})
dass wir auf dem Weg dahin sind. Im internationalen Vergleich sind wir natürlich stolz auf unsere Soldaten. Aber
fragen Sie doch die Soldaten selbst: Wir sind doch auf
dem besten Weg dahin. Das Geleistete ist doch nur noch
möglich, weil man Material zusammensammelt und die
Soldaten mit den letzten Gerätschaften, die einigermaßen
funktionieren, ausstattet. Deshalb können Sie momentan
noch so erfolgreich sein.
Nein, Herr Staatssekretär, die von Ihnen immer wieder
beschworene Bundeswehrreform verdient diese Bezeichnung schlicht und einfach nicht; denn es ist keine Reform,
sondern ein reines Finanzdiktat des Bundesministers der
Finanzen und des Bundeskanzlers zulasten unserer Soldaten, unserer Bundeswehr und unserer Sicherheitspolitik.
({1})
Leider Gottes hat sich dieses sicherheitspolitische
Fiasko schneller eingestellt, als wir selbst dies zunächst
befürchtet hatten. Knapp ein Jahr nach dem Kabinettsbeschluss zur so genannten Bundeswehrreform hat der
Generalinspekteur der Bundeswehr erklären müssen, dass
die Bundeswehr ihre Verpflichtungen gegenüber der
NATO und der Europäischen Union wegen der fehlenden
Finanzmittel kaum mehr erfüllen kann.
Knapp ein Jahr nach dem Beginn der so genannten
Bundeswehrreform sind unsere Streitkräfte nicht mehr in
der Lage, sich an einem begrenzten Einsatz der NATO zur
Entwaffnung albanischer Rebellen in Mazedonien zu
beteiligen.
({2})
- Ich komme noch darauf zu sprechen.
Bereits bei der Verlängerung des KFOR-Mandats haben wir klargestellt, dass wir einer weiteren Ausweitung
des Mandats auf dem Balkan nur dann zustimmen können, wenn die Bundeswehr hierfür auch die zusätzlich
erforderlichen Finanzmittel erhält. Wir werden - damit
Sie sich keinen falschen Hoffnungen hingeben - an dieser
Vorgabe auch festhalten. Wir sind das unseren Soldaten
schlicht und einfach schuldig, die in diesen Krisenregionen ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, um den sicherheitspolitischen Auftrag, den wir ihnen erteilt haben,
zu erfüllen und um einen Beitrag zu Frieden und Stabilität
in dieser Region zu leisten.
({3})
Es kann nicht angehen, dass unsere Soldaten immer
neue Aufgaben von dieser Bundesregierung und den sie
tragenden Parteien erhalten und der Finanzminister
gleichzeitig diesen Streitkräften die Mittel entzieht. Es
ehrt zwar den Staatssekretär Karl Diller, dass er an dieser
Debatte teilnimmt, aber, lieber Staatssekretär Diller,
hören Sie auch zu: Geben Sie sich im Finanzministerium
endlich einen Ruck und geben Sie Ihrem Kollegen, Verteidigungsminister Scharping - sprich: unseren Streitkräften -, das, was nötig ist, um unsere gemeinsame Sicherheitspolitik, zu der wir immer gestanden haben, auch
umsetzen zu können!
({4})
Bundeskanzler Schröder erklärt nun, dass er sich diesem NATO-Einsatz in Mazedonien nicht entziehen will.
Ich will ihn aber schon darauf hinweisen, dass die internationalen Verpflichtungen Deutschlands auch haushaltspolitisch abgesichert sein müssen. Er hat heute gesagt,
natürlich werde er dafür zusätzliche Mittel bereitstellen.
Wörtlich ist heute der Presse zu entnehmen: „Darauf kann
sich der Verteidigungsminister verlassen.“ Bundesminister Scharping wird diese Zusicherung sicherlich mit gemischten Gefühlen und großer Skepsis zur Kenntnis genommen haben. Dafür hätte ich auch volles Verständnis;
denn der Verteidigungsminister hat schließlich in der Vergangenheit seine eigenen negativen Erfahrungen mit den
Zusagen des Kanzlers machen müssen.
Ich erinnere daran, dass Bundeskanzler Schröder noch
sehr lange nach Beginn seiner Amtszeit vollmundige Versprechungen zur finanziellen Ausstattung der Bundeswehr abgegeben hat. Ich finde es schon erstaunlich, meine
sehr verehrten Damen und Herren, mit welcher Gleichgültigkeit und Ignoranz der Bundeskanzler heute auf die
Hilferufe der Bundeswehr reagiert und dass er dem Finanzminister bei seinen Streichungen, Kürzungen und
Reduzierungen auch weiterhin tatenlos zusieht und ihn
gewähren lässt. Es ist ganz sicher, dass die Sicherheitspolitik bei diesem Bundeskanzler keinen allzu hohen Stellenwert besitzt
({5})
und die Probleme der Bundeswehr ihn im Endeffekt völlig kalt lassen.
Ich bin der Meinung, es ist allerhöchste Zeit, dass bei
der gesamten Bundesregierung ein grundsätzliches Umdenken einsetzt. Wir stehen nämlich in der Gefahr - wie
es der Kollege Breuer schon gesagt hat -, unsere Glaubwürdigkeit auf internationaler Ebene, insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich, zu verlieren. Gerade heute
- um auch das einmal mit anzusprechen - hat der amerikanische Präsident Bush erklärt, der amerikanische Verteidigungshaushalt werde im nächsten Jahr um 18,6 Milliarden US-Dollar ansteigen. Das ist ein Anstieg von rund
6 Prozent. Wir hingegen rangieren mit unserem Wehretat
inzwischen an letzter Stelle der NATO-Partner, das heißt,
noch hinter Luxemburg.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt mit ansprechen,
der in den Anträgen enthalten ist: Der Bundesverteidigungsminister und auch Sie, Herr Staatssekretär Kolbow,
haben in der Vergangenheit - wider besseres Wissen,
muss ich heute sagen - erklärt, dass die Bundeswehr auch
nach der Reduzierung in der Fläche präsent bleiben
werde. Das Gegenteil dessen ist eingetreten: Weite Landstriche, vor allem in Bayern, muss man heute bedauerlicherweise als „bundeswehrfrei“ bezeichnen.
({6})
Und dabei wird es ja nicht bleiben: Sollte es bei der derzeitigen Finanzplanung bleiben, so ist - schon aus reiner
Geldnot - die Schließung weiterer Standorte so gut wie sicher.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang mit aller
Emotion sagen: Wir haben vorgestern - das hat mich sehr
berührt und berührt mich immer noch, lieber Herr Staatssekretär Kolbow - in Garmisch-Partenkirchen die dortige
Gebirgsdivision im wahrsten Sinne des Wortes zu Grabe
getragen. Das Gebirgsmusikkorps musste seinen eigenen
Trauermarsch spielen. Eine leistungsfähige, hoch motivierte und traditionsreiche Division, die nicht nur eine
enorme sicherheitspolitische Bedeutung hatte, sondern
darüber hinaus in der Bevölkerung fest verwurzelt war,
wird mit einem Federstrich ausgelöscht.
({7})
Wir erleben hier die schmerzhafte Konsequenz einer sinnlosen Kahlschlagpolitik, die auch auf gewachsene Strukturen, die traditionelle Verankerung der Bundeswehr in
den Regionen, keinerlei Rücksicht nimmt. Deshalb können Sie, die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien, sich nicht aus der Verantwortung stehlen.
({8})
Zu den Standortschließungen: Es ist ja gut, dass Sie
jetzt endlich, nachdem Sie bisher alle unsere Anträge abgelehnt haben, einmal Gespräche führen wollen. Nur, wir
wollen Fakten sehen. Der Kollege Nolting und der Kollege Breuer haben ja Beispiele gebracht - ich sage nur:
Stavenhagen -, wo Handeln geboten ist: Ich erinnere an
die vielen Frauen, die in den Küchen der Bundeswehr arbeiten, die nicht die Möglichkeit haben, von diesem Prozess, den Sie angesprochen haben, zu profitieren, weil sie
auf ihre Region angewiesen sind. Diese wird es besonders
treffen.
Auf das Argument, das die Bundesregierung immer
wieder geltend macht, dass die Länder seit 1993 einen um
2 Prozent höheren Anteil an der Mehrwertsteuer erhalten,
will ich nicht weiter eingehen. Das wird zwar von Ihnen,
Herr Staatssekretär Kolbow, landauf, landab verkündet,
aber das ist völliger Unfug. Sie wissen, wie es sich seinerzeit damit verhielt: dass hier ein Gesamtpaket geschnürt
wurde, dass die Konversion in dem Zusammenhang nur
ein nebensächliches Faktum war und dass der damalige
Ministerpräsident von Niedersachsen, Gerhard Schröder,
das Gesamtpaket aus diesem Grunde mit abgelehnt hat.
Damals ging es um die Kosten für die deutsche Einheit
oder, besser gesagt, um die Kosten für die Überwindung
der Hinterlassenschaft des Sozialismus.
Es ist noch nicht zu spät. Wir werden im Herbst mit den
Beratungen für den Bundeshaushalt 2002 beginnen. Besinnen Sie sich wieder! Der Bundeskanzler, die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien, die ab September die Haushaltsberatungen anführen, weil sie sowohl im
Haushaltsausschuss als auch im Parlament mehrheitlich
vertreten sind, sollten diese Korrektur aufgrund der Hinterlassenschaft, die der Finanzminister in Bezug auf den
Bundeshaushalt angerichtet hat, wirklich vornehmen.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Arnold.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Es waren schon ziemlich starke
Worte, die Sie, Herr Breuer, heute hier gewählt haben:
zum Beispiel „verludern“ und „Abbruchunternehmen
Bundeswehr“. Glauben Sie eigentlich, dass Ihr Heiligenschein umso heller leuchtet, je scheinheiliger Ihre Argumente sind? Sie kennen sich beim Thema Bundeswehr gut
aus; auch Herr Rühe, der sich in den letzten Wochen gelegentlich wieder zu Wort meldet. Zu Ihrer Zeit ist doch
die Bundeswehr ausgeblutet! Sie haben die Investitionen
auf 21,1 Prozent der Gesamtinvestitionen heruntergefahren. Sie wissen, dass wir wieder Richtung 25 Prozent
kommen.
({0})
Sie wissen auch, dass wir gerade in den nächsten Wochen
eine ganze Reihe von wichtigen Investitionsvorhaben im
IT- und Kommunikationsbereich auf den Tisch legen und
positiv entscheiden werden. Dies werden wir im Gegensatz zu Ihnen umsetzen.
({1})
Die Bugwelle an Mängeln, die wir bei der Materialunterhaltung vor uns herschieben, ist natürlich 1994 aufgebaut worden und nicht in den letzten Jahren. Auch das
Wort „Kannibalisierung“ haben nicht wir erfunden. Das
stammt vielmehr aus der Zeit, in der Sie Verantwortung
tragen.
({2})
- Herr Rossmanith, bevor Sie hier dazwischenschreien,
ist festzustellen: Sie haben von einer Parlamentsarmee
gesprochen. Dann verhalten Sie sich doch bitte in Zukunft
entsprechend!
({3})
Übernehmen Sie als Parlamentarier Mitverantwortung für
die Reform dieser Parlamentsarmee!
({4})
Es ist schon spannend: Herr Rossmanith sagt, er wisse
gar nicht, was das solle, das sei gar keine Reform.
({5})
Herr Breuer sagte vorhin - ich zitiere -: „Die Eckpunkte
dieser Reform sind eigentlich richtig.“
({6})
Was ist nun Sache? Sprechen Sie sich zwischen CDU und
CSU doch einmal ab, wie Sie sich eine Reform überhaupt
vorstellen!
({7})
Das Dilemma ist doch jedem aufmerksamen Beobachter offenkundig: Wir haben derzeit 320 000 Soldaten.
Wenn es die Bundeswehr aber nur mit großer Anstrengung und großer Mühe schafft, von diesen 320 000 Soldaten 7 500 für einen Auslandseinsatz bereitzustellen,
dann merken wir doch, wie überfällig eine Reform
tatsächlich ist.
({8})
Alle Experten, auch der von Ihnen zitierte Richard von
Weizsäcker, sind der Meinung: Wir werden in Zukunft
- um den Aufgaben gerecht zu werden - 150 000 einsatzfähige Soldaten und einen entsprechenden logistischen
Unterbau brauchen. Genau dies werden wir im Laufe der
nächsten Jahre aufgrund der jetzt vorgesehenen Reform
erreichen.
Wo bleiben Sie? Die CDU/CSU sagt nach wie vor:
330 000 Soldaten sind notwendig. - Wo ist Ihre sicherheitspolitische Analyse, um zu solch einer Zahl zu kommen? Ich habe auch angesichts der von Ihnen geführten
Diskussion im Rahmen der Schließung von Standorten
den Eindruck: Teile von Ihnen haben überhaupt noch
nicht kapiert, dass die Bundeswehr kein Selbstzweck ist,
sondern dass sie den politischen Rahmen ausfüllt, den wir
ihr in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Landesund Bündnisverteidigung, im Hinblick auf unsere europäischen Aufgaben und unsere Zusagen gegenüber den Vereinten Nationen geben.
Dies scheint bei Ihnen noch nicht angekommen zu
sein. Sie sprechen stattdessen fast immer nur - egal, welche Vorlage wir zurzeit haben - über das Geld.
({9})
- Sie sagen genau das Richtige: weil es nicht da ist. Sie
haben nicht Unrecht.
({10})
Angesichts unserer leeren Kassen ist eine Reform der
Bundeswehr - das wissen wir natürlich - in der Tat nicht
einfach. Doch auch die Bundeswehr muss ihren Beitrag
zur Konsolidierung der Staatsfinanzen leisten. Glauben
Sie wirklich - ich bitte Sie, einmal darüber nachzudenken -, dass eine Bundeswehrreform, die auf neuen Schulden aufgebaut wird, unserer Bundeswehr bzw. den Soldatinnen und Soldaten langfristig hilft?
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rossmanith?
Ich möchte meinen Gedanken
kurz zu Ende bringen. - Die großen Investitionsvorhaben
bei den Streitkräften standen exakt Ende der 90er-Jahre
an. Wenn wir es nicht schaffen, den Trend im Bundeshaushalt umzukehren, das heißt, weniger Schulden zu machen und am Ende zu einem ausgeglichenen Haushalt zu
kommen, muss ich mich fragen: Wie soll die uns nachfolgende Politikergeneration die Weichen richtig stellen und
die neuen Herausforderungen für die Bundeswehr bewältigen können? Letztlich versündigen Sie sich nicht nur an
der Zukunft der jungen Generation, sondern auch an der
Zukunft der Bundeswehr, wenn Sie sagen: Wir geben
mehr Geld aus und nehmen dabei eine höhere Verschuldung in Kauf. Sie haben das viele Jahre so gemacht, aber
das ist völlig unsolide.
({0})
Herr Kollege, sind
Sie der Meinung, dass wir eine Sicherheitspolitik nur nach
Kassenlage machen können? Sind Sie weiter der Meinung, dass Anhebungen in anderen Bereichen des Bundeshaushalts durchaus ihre Berechtigung haben, wir aber
den Haushalt des Bundesministers der Verteidigung, zulasten unserer Streitkräfte, überproportional kürzen müssen?
Herr Kollege, Ihr Reden von
einer „Sicherheitspolitik nach Kassenlage“ ist - auf gut
bayerisch - ein richtiger Schmarren. Die Sicherheitspolitik dieser Koalition orientiert sich an den neu erkannten Aufgaben sowie an dem, was der Außenminister und
der Bundeskanzler den Partnern unseres Landes zugesichert haben. Mit einem Betrag von 46,2 Milliarden DM
im Haushalt und den zusätzlichen Effizienz- und Veräußerungsgewinnen können wir in den nächsten Jahren
auf einen Gesamtbetrag von 48 Milliarden DM kommen.
({0})
Wenn wir genau hinsehen, stellen wir fest, dass wir von
Ihrer Forderung gar nicht mehr so weit weg sind.
({1})
- Ich weiß natürlich, dass Sie permanent Zweifel daran
schüren, ob wir es tatsächlich schaffen, die Erträge aus einer Effizienzsteigerung in die Scheuer zu fahren.
Natürlich ist es nicht einfach, einen so großen Apparat wie die Bundeswehr zu modernisieren. Es gibt viele,
die diesem Vorhaben Steine in den Weg legen. Es ist
aber richtig: Die Kooperation mit der Wirtschaft, die
Gründung der Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb, ist ein neuer und wichtiger Ansatz. Gelegentliche Widerstände sind für mich eher
normal. Ich versuche, sie mit guten Argumenten auszuräumen, sage allerdings dazu: Wenn das Beharrungsvermögen von Kollegen bzw. des einen oder anderen in
der Beamtenschaft gelegentlich zu stark ist, muss es
durchbrochen werden. Deshalb ist es sehr gut und ein
deutliches Zeichen, dass sich mit dieser Frage in den
vergangenen Wochen nicht nur der Verteidigungs- und
der Finanzminister, sondern auch der Bundeskanzler
befasst hat. Sie werden sehen: Auch Ihre Zweifel werden in den nächsten Tagen, vielleicht sogar Stunden,
deutlich ausgeräumt.
({2})
Wir sollten den Weg der GEBB konsequent zu Ende
denken. Ich bin sehr dafür, dass wir diese Gesellschaft
zukünftig von unnötigen Fesseln befreien. Ich wünsche
mir diese Eigentümergesellschaft und ich wünsche mir,
dass die GEBB am Kapitalmarkt aktiv werden kann, um
eine Brücke für nötige Neuinvestitionen und Sanierungen
der Liegenschaften zu bauen.
({3})
Dies ist vor allem für den Zeitraum wichtig, bis wir die Erlöse aus der Veräußerung der Liegenschaften haben. Alleine in Bayern werden sich - Sie wissen das doch - aus
Grundstücksverkäufen 300 Millionen DM erzielen lassen; aber das braucht Zeit.
Die GEBB kommt voran, die Ausschreibungen sind
vorbereitet, die GEBB hat in den Bereichen Flottenmanagement, Bekleidung, Liegenschaften und Kommunikationstechnik Prioritäten gesetzt. Wir werden nächste Woche im Ausschuss feststellen können: Schritt für Schritt
wird dieses Projekt erfolgreich.
({4})
Alles in allem: Die Reform ist auf einem guten Weg. Sie
umzusetzen ist ziemlich schwer, das ist klar. Aber deshalb
sind wir gewählt worden, weil Sie mit derart schweren
Herausforderungen in der Vergangenheit eben nicht fertig
geworden sind. Am Ende dieses Prozesses steht eine neu
ausgerichtete Bundeswehr. Sie wird mobil und im gesamten Einsatzspektrum durchhaltefähiger sein. Sie wird über
eine technisch aktuelle Ausrüstung sowie ein qualifiziertes
und weiterhin hoch motiviertes Personal verfügen.
Meine Beobachtung bei meinen gelegentlichen Standortbesuchen ist: Die Soldatinnen und Soldaten sind im
Prinzip viel ideenreicher, viel mutiger und sehen die
Neuausrichtung der Bundeswehr - im Gegensatz zu Ihnen
von der CDU/CSU - eher als Chance.
({5})
Vielleicht sollten Sie bei Ihren Standortbesuchen in
den nächsten Wochen ein bisschen sorgfältiger zuhören,
anstatt immer wieder zu versuchen, die betroffenen Soldaten und auch die Zivilbeschäftigten in Ihrem ganz offensichtlich vordergründigen parteipolitischen Interesse
in Stellung zu bringen.
({6})
Das ist nicht gut für die Bundeswehr und es ist nicht gut
für ein gedeihliches Zusammenführen der gemeinsamen
Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik, die
ein Stück Markenzeichen in den letzten 40 Jahren in dieRainer Arnold
ser Republik war. Sie sind dabei, diesen wichtigen Konsens - das wiegt angesichts der kommenden schwierigen
Debatten besonders schwer - Stück für Stück zu zerstören.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 14/6396. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 14/5220 zur Abgabe einer
Erklärung der Bundesregierung mit dem Titel „Die Bundeswehr der Zukunft, Feinausplanung und Stationierung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des
Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrages der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/5236 zu der oben genannten Regierungserklärung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS
angenommen worden.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 14/6397 zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Hilfe durch den
Bund für die von Reduzierung und Schließung betroffenen Bundeswehrstandorte ist unverzichtbar“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5467 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes
- Drucksachen 14/6121, 14/6261 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- Drucksache 14/6325 Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller ({2})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Parlamentarischen Staatssekretär Siegmar Mosdorf das
Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es passiert mir ganz selten, dass, wenn ich aufgerufen werde, der Saal sich leert.
Dieses Mal ist es offensichtlich der Fall.
Nehmen Sie es
nicht persönlich. Ich glaube, es war nicht so gemeint.
Danke schön,
Frau Präsidentin, Sie machen mir Mut.
Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst die
Gelegenheit nutzen, den Prozess noch einmal darzustellen, den wir seit der Privatisierung der Deutschen Post im
Jahre 1995 durchlaufen haben. Es war ein schwieriger, ein
wichtiger Weg, der uns gleichzeitig in die Lage versetzt
hat, diesen wichtigen Sektor, der in vielen Ländern noch
staatlich organisiert ist, in Deutschland in eine moderne
Form zu bringen.
Lassen Sie mich zu Beginn ein herzliches Dankeschön
an die Arbeitnehmer sagen, die diesen Prozess des aktiven
Strukturwandels mitgetragen haben.
({0})
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass es wichtig
ist, dass wir jetzt versuchen, diesen Prozess weiter zu begleiten. Wenn wir uns die Globalisierung, die sich auf
dem Postmarkt, auf dem Logistikmarkt abspielt, einigermaßen realistisch betrachten, dann wissen wir, dass dieser
Markt schwer umkämpft ist und einem massiven Wettbewerb unterliegt. Deshalb müssen die Unternehmen auch
stark sein, um in diesem Wettbewerb bestehen und sich
entsprechend behaupten zu können. Ich glaube, dass der
Sektor, den man klassisch Post nennt, in Zukunft der entscheidende Transport- und Logistikmarkt sein wird. Es
wird für moderne Volkswirtschaften eine Schlüsselfrage
sein, wie sie auf diesem Markt weltweit aufgestellt sind.
Ich danke sehr herzlich den Kolleginnen und Kollegen,
die sich im Unterausschuss mit diesem Thema sehr intensiv beschäftigen.
Die Bundesregierung hat, wie Sie wissen, im Telekommunikationsministerrat den Kurs der weiteren Liberalisierung auch in Europa unterstützt und nachdrücklich
darauf gedrängt; ich selber habe das bei mehreren Telekommunikationsministerräten für die Bundesregierung
tun dürfen. Die einhellige Antwort der südeuropäischen
Länder darauf war immer - das wissen natürlich auch Sie,
Herr Müller -, dass sie dargestellt haben, dass sie große
Probleme damit haben, und gesagt haben: Wenn ihr einen
gleichmäßigen Liberalisierungsfortschritt in Europa und
eine Öffnung der Märkte erreichen wollt, dann sprecht mit
uns im Jahr 2010, 2011 oder später. Andere Länder,
wie Griechenland oder Frankreich, hatten noch andere
Vorstellungen. Wir haben intensive Diskussionen darüber
geführt.
Am 22. Dezember 2000 hatten wir, auch das wissen
Sie, eine Pattsituation im Ministerrat und kamen bei dieser Entscheidung deshalb nicht voran. Meine persönliche
Einschätzung ist - ich selbst war gestern im Telekommunikationsministerrat -, dass das ein langwieriger Prozess
sein wird. Es gibt viele Länder, die nach wie vor auf eine
staatliche Post Wert legen und nicht bereit sind, diesen
Weg, den wir gegangen sind, jetzt schnell nachzuvollziehen. Da wir aber dafür eintreten, die Strategie der Marktöffnung in Europa gemeinsam umzusetzen und nicht nur
bei uns durchzuführen, müssen wir in Europa weiter auf
die Liberalisierung drängen. Zugleich müssen wir aber
alles tun, um uns selbst auf dem Markt stark zu positionieren.
Das geschieht gegenwärtig. Für weitere Marktöffnungsschritte brauchen wir in Europa eine Mehrheit von
62 Stimmen von insgesamt 87 Stimmen. Diese Mehrheit
haben wir nicht, und sie ist auch nicht absehbar. Deshalb
haben wir uns dazu entschlossen, jetzt die Exklusivlizenz
bis zum 31. Dezember 2007 zu verlängern. Damit geben
wir der Deutschen Post AG die Möglichkeit, aktiv international zu agieren, aber gleichzeitig nicht in die Situation
zu kommen, wie wir sie von manchen anderen Branchen
kennen, wo wir uns bereits in einem liberalisierten Markt
befinden und andere aus Monopolsituationen heraus versuchen, sich bei uns die Rosinen herauszupicken. Das
geht nicht. Wir wollen eine Marktöffnung und wollen
gleichzeitig einen fairen Wettbewerb. Deshalb haben wir
jetzt diese Lösung vorgeschlagen.
Ich möchte mich herzlich bei den Kollegen bedanken,
die daran mitgewirkt haben, dass wir bei den parlamentarischen Beratungen so zügig vorangekommen sind und
dass wir im Wirtschafts- und im Rechtsausschuss eine
schnelle Entscheidung getroffen haben, um die zweite
und dritte Lesung vorzubereiten.
Die Entscheidung der Bundesregierung ist auch deshalb so wichtig, weil damit Klarheit und Sicherheit für die
Wettbewerber herrscht. Wer sich ein bisschen in der Branche auskennt, der weiß, dass es eine Reihe von Wettbewerbern und Lizenznehmer gibt, für die der Punkt der Exklusivlizenz gar nicht so wichtig ist. Sie haben sich sehr
genau Marktnischen herausgesucht. In diesen Marktnischen sind sie zum Teil sehr erfolgreich. Weil sie dort
erfolgreich sind, wollen sie auch weiterhin dort agieren.
Die Deutsche Post AG hat 240 000 Arbeitsplätze. Das
sind wichtige Arbeitsplätze. Was den Transport- und Logistikbereich angeht, ist das eine der wichtigsten Zukunftsunternehmungen überhaupt für Deutschland. Ich
glaube, das Unternehmen Post hat sich gut aufgestellt und
organisiert sich gut. Wenn wir unseren Gesetzentwurf umsetzen und gleichzeitig auf eine signifikante Marktöffnung in Europa drängen, dann haben wir eine gute
Chance, diesen Weg weiterzugehen. Wir gehen aber nicht
naiv in ein Rennen, bei dem andere aus Monopolsituationen heraus versuchen, uns in eine schwierige Situation
zu bringen.
Wir werden deshalb die Verlängerung der Exklusivlizenz vornehmen. Ich bitte Sie deshalb, den Gesetzentwurf der Bundesregierung und die Beschlussempfehlung
des Ausschusses zu unterstützen, weil das die Voraussetzung dafür schafft, dass wir auf diesem wichtigen Zukunftsmarkt auch in Zukunft erfolgreich sein werden.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Elmar Müller.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! In diesen Tagen erlebt die Bundesrepublik
Deutschland einen Pleiterekord ganz besonderer Art: Die
Arbeitslosenzahlen steigen saisonbereinigt und die Verbraucherpreise steigen in einem Maße, dass es dem Bürger schwindlig wird, wenn er in seinen Geldbeutel schaut.
Man sollte meinen, dass die rot-grüne Bundesregierung in
einer solchen Zeit Entscheidungen trifft, die der wirtschaftspolitischen Vernunft entsprechen. Aber sie tut das
Gegenteil, indem sie zum gleichen Zeitpunkt das Betriebsverfassungsgesetz verschärft, unverdrossen weiter
an der Erhöhung der Ökosteuer festhält und jetzt den Bürgern sogar beichten muss, dass trotz höherer Steuern nicht
mit einer Senkung der Abgabenquote im sozialen System
gerechnet werden dürfe und nicht einmal mit einem Stillstand, sondern sogar mit einer Abgabenerhöhung zu rechnen sei.
In dieser wirtschafts- und arbeitsmarktspolitisch kritischen Zeit wird mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten das Postgesetz geändert, das bisher das Auslaufen des Postmonopols zum Ende des nächsten Jahres
vorsieht. Dieses von uns beschlossene Ende des Postmonopols sollte dem Verbraucher günstigere Posttarife bringen; der Markt sollte mit mehr und qualitativ höherwertigen Produkten ähnlich wie in der Telekommunikation
eine neue Dynamik erhalten und es sollten vor allem neue
Arbeitsplätze geschaffen werden.
({0})
Meine Damen und Herren, in den vergangenen drei
Jahren haben sich mehr als 800 Firmen auf diese Chance
vorbereitet. Obwohl sie nur in einem engen Bereich reservierter Postdienste arbeiten durften, haben sie bei einem Marktanteil von nur 1,5 Prozent 30 000 Arbeitsplätze
geschaffen.
Die Verlängerung des Postmonopols um weitere fünf
Jahre, die die Regierung mit ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Postgesetzes beabsichtigt, muss man zumindest einen gravierenden Vertrauensbruch nennen. Etliche der betroffenen Firmen und vor allem viele
Arbeitnehmer in diesen Firmen nennen es inzwischen sogar einen Betrug.
({1})
In den vergangenen Jahren hat die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post insgesamt
906 Unternehmen Lizenzen für die Beförderung von
Briefsendungen erteilt. Rund 600 Unternehmen davon
sind heute am Markt tätig, der überwiegende Teil im Bereich qualitativ höherwertiger Dienstleistungen, also in
den Bereichen, in denen es Produkte ohne diese Unternehmen gar nicht gäbe, weil sie von der Post überhaupt
nicht oder nur unzureichend angeboten werden.
Der Kurs der Postaktie ist seit der Erstausgabe um
20 Prozent gefallen, wie wir nach der gestrigen ersten
Hauptversammlung heute den Zeitungen entnehmen
können. Der erste Grund dafür ist, dass, wie die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz sagt, die
politische Situation über das Briefmonopol der Aktie
schade. Der zweite Grund ist die Absicht des Bundes,
im nächsten Jahr weitere Aktienanteile der Post zu verkaufen. Dann wurde in der gestrigen Hauptversammlung die Frage gestellt, wer denn diese Aktie überhaupt
noch kaufen solle. Das schlechte wirtschaftspolitische
Image, das diese Regierung inzwischen hat, wird sogar
auf die Post übertragen. Das hat die Post wirklich nicht
verdient.
({2})
Meine Damen und Herren, auch die ständig vorgetragene Kritik der SPD und der Gewerkschaften, wonach die
neuen Wettbewerber der Post Arbeitnehmer beschäftigten, die völlig ohne Arbeitnehmerrechte seien, ist lediglich bösartig und durch die Praxis längst widerlegt. Die
Regulierungsbehörde hat bei bisher 450 der insgesamt
600 am Markt tätigen Unternehmen Überprüfungen vor
Ort durchgeführt. Diese Regelüberprüfungen haben insgesamt ein positives Bild ergeben. Offensichtliche Verstöße gegen die Lizenzbestimmungen wurden in diesem
Bereich bisher nicht festgestellt. Bei den 450 bisher überprüften Lizenznehmern sind rund 19 000 Arbeitskräfte beschäftigt, davon 2 550 im Vollzeitbereich und 4 500 Teilzeitkräfte; von den rund 10 500 geringfügig Beschäftigten
stehen immerhin 9 000 in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Damit werden - gemessen
an der Gesamtarbeitszeit - 95 Prozent der lizenzpflichtigen Tätigkeiten in sozialpflichtigen Arbeitsverhältnissen erbracht.
Noch immer gibt es - auch das muss gesagt werden rund 500 Klagen der Post AG gegen die Erteilung von Lizenzen an Unternehmen für höherwertige Dienstleistungen, wobei ein Großteil der verklagten Firmen inzwischen
vom Markt verschwunden ist, weil sie wegen der hohen
Anwaltskosten die Segel gestrichen haben. Es handelt
sich um Lizenznehmer, die in der taggleichen Zustellung
eine Rolle gespielt haben, also die Post wirklich nicht tangiert hätten. Das klingt zwar salopp. Aber dahinter steht
eine ganze Reihe von Entlassungen in die Arbeitslosigkeit.
Der AZD, der Alternative Zustelldienst, rechnet damit,
dass ihm durch die Verlängerung des Briefmonopols, wie
sie im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen
ist, allein in den neuen Bundesländern 5 000 Arbeitsplätze
verloren gehen. Das alles interessiert diese Regierung aus
rot-grünen Genossen nicht im Geringsten. Zumindest
habe ich bisher keinerlei Proteste gehört, weder vom Arbeitsminister noch vom Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Herrn Staatsminister
Schwanitz, der sich eigentlich aufregen müsste, dass rund
5 000 Arbeitsplätze allein in den neuen Bundesländern,
für die er zuständig ist, in den nächsten Monaten verloren
gehen werden.
({3})
Es ist offensichtlich etwas anderes, ob IBM nach Arbeitskräften aus dem Ausland ruft, die Firma Holzmann
vor dem Konkurs steht oder ob kleine und mittelständische Unternehmen Arbeitsplätze abbauen müssen. Diese
Regierung mag die Worte „Wettbewerb“ und „Mittelstand“ noch so oft als Propagandaworte in ihren Sonntagsreden in den Mund nehmen: Am praktischen Beispiel,
wenn es darum geht, konkret etwas für den Mittelstand zu
tun, versagt das Wirtschaftsministerium und nicken die
Abgeordneten der rot-grünen Koalition ergebenst und
huldvoll das nur noch ab, was die Regierung ihnen abverlangt.
({4})
Wo sind denn Ihr Abgeordnetenverständnis und Ihre Sorgen um die Arbeitsplätze geblieben?
Die Beiträge der Grünen in dieser Frage kann man im
Übrigen nur noch als humoristische Einlagen bezeichnen.
Frau Hustedt, ich bin überzeugt, Sie meinen es ernst,
wenn Sie sagen, dass Sie gegen die Verlängerung des
Postmonopols oder gegen die verhinderte Senkung der
Beförderungspreise seien. Aber irgendwann müssen Sie
doch einmal beweisen, dass Ihr Wort in der Koalition etwas gilt und dass Sie etwas bewegen können. Wenn dem
nicht so ist, dann sollten Sie Ihre gut gemeinten Beiträge
künftig einfach bleiben lassen.
({5})
Sie wissen es doch selbst: Opfer der Entscheidung, die
Sie jetzt zu treffen beabsichtigen, wären zudem die neu
gegründeten mittelständischen Firmen im Briefmarkt, die
Sie in Existenznöte bringen werden. Diese hatten im Vertrauen auf die im Postgesetz für Ende nächsten Jahres vorgesehene Beendigung des Briefmonopols in den privaten
Zustellmarkt investiert. Alle privaten Zustellunternehmen
müssen als Folge der Verlängerung des Briefmonopols
um ihre wirtschaftliche Basis fürchten. Für sie stellt sich
die Änderung des Postgesetzes als enteignungsgleicher
Eingriff dar. Ohne Wettbewerbsalternative sind Wirtschaft und Handel dem Preisdiktat der Deutschen Post
ausgesetzt.
Das Briefmonopol wurde der Post für einen Übergangszeitraum verliehen, in der sich das Unternehmen auf
den Wettbewerb vorbereiten sollte. Das hat die Post,
denke ich, in ausreichendem Maße getan. Im Vertrauen
auf das gesetzlich festgelegte Enddatum des Briefmonopols haben die privaten Briefdienste erhebliche Vorleistungen erbracht, Strukturen aufgebaut und ein neues Qualitätsbewusstsein im Briefdienst geschaffen. Vollends
unverständlich ist daher die dafür gegebene Begründung
- die auch der Herr Staatssekretär vorhin angeführt hat -,
dass es - angeblich - Liberalisierungsdefizite auf europäischer Ebene gäbe.
Sie, Herr Staatssekretär, mögen sich ja in einigen Runden um die Liberalisierung der europäischen Postmärkte
Elmar Müller ({6})
bemüht haben. Aber die Tatsache, dass der Wirtschaftsminister sein Engagement darauf beschränkt hat, dem
EU-Kommissar Bolkenstein einen Brief zu schreiben,
diesen darin zu bitten, er möge in dieser Frage tätig werden, und ihm mitzuteilen, er stünde hinter allem, ist das
Eingeständnis, dass der Wirtschaftsminister nichts tun
wollte. Ich erinnere daran, dass der ehemalige Postminister Bötsch - die Situation war so, dass wir vor den letzten
EU-Verhandlungen über eine einheitliche Regelung standen - innerhalb von zehn Tagen alle Hauptstädte der Europäischen Union abgefahren hat. Er erzielte am Ende
eine Lösung - 350 Gramm -, die keiner für möglich gehalten hätte. Ein ähnliches Engagement hätte ich von diesem Bundesminister erwartet.
({7})
Ich möchte daran erinnern, dass der EU-Kommissar
für Wettbewerb, Monti, einen Tag, bevor der Minister
Ende Mai in der „Welt am Sonntag“ seine Begründung für
die Monopolverlängerung gegeben hat, in der „Welt“ geschrieben hat:
Sich dafür zu rächen - dass es keine einheitliche europäische Lösung gibt - ist aber kein guter Weg in die
Zukunft. Ich warne davor.
Wenn dieser Minister dieses Gesetz nun großzügig verändern will, dann nimmt er den Mittelständlern und vor
allem den Arbeitnehmern eine Chance, die wir ihnen
eröffnen wollten. Ich möchte in diesem Zusammenhang
abschließend sagen, dass die Unionsfraktionen wegen der
schlecht vorbereiteten Gesetzesberatungen und auch wegen der wirklich schlampig vorbereiteten Anhörung letzte
Woche für Montag nächster Woche nochmals diejenigen
Firmen eingeladen haben, die jetzt wahrscheinlich vor
dem Konkurs stehen, um ihnen die Gelegenheit zu geben,
ihre Sorgen vorzutragen. In der letzten Sitzung des Wirtschaftsausschusses haben wir einige Anträge eingebracht,
die im Hinblick auf die Folgegesetzgebung ein Vermittlungsverfahren vorbereiten. Das Gleiche hat die hessische
Landesregierung getan.
Herr Kollege,
denken Sie jetzt bitte an die Zeit.
Deshalb
stimmen wir gegen die Verlängerung des Postmonopols.
Ich denke, dass ich ausreichend begründet habe, weshalb
wir das tun.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Michaele Hustedt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat sich auf europäischer Ebene sehr intensiv darum bemüht, dass im Postbereich weiter liberalisiert
und auch im Hinblick auf die Postdienstleistungen ein
einheitlicher Wettbewerbsrahmen geschaffen wird. Sie
wissen sehr wohl, dass sich die Bundesregierung trotz ihrer Bemühungen auf europäischer Ebene nicht hat durchsetzen können. Die Bundesregierung hat sich entschieden, nicht einseitig vorzupreschen, sondern zu versuchen,
dafür zu sorgen, dass Europa zumindest ein Stück weit im
Gleichschritt vorangeht.
Dazu, dass die Opposition als Reaktion darauf sozusagen die Backen aufbläst, sage ich Folgendes: Als wir über
diese Frage hier das letzte Mal debattiert haben, habe ich
sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich die Entscheidung im Bundesrat sehr genau beobachten werde.
Das habe ich getan. Der Bundesrat hat keinen Beschluss
gegen die Verlängerung des Briefmonopols gefasst. Obwohl Sie im Bundesrat über eine Mehrheit verfügen, haben Sie sich anscheinend nicht durchsetzen können. Das
heißt, Sie haben für die Position, die Sie hier vertreten, bei
den Ländern keine Mehrheit finden können.
({0})
Vor diesem Hintergrund sollten Sie hier nicht so die
Backen aufblasen, sondern zumindest versuchen, die Argumente, die die Bundesregierung zu diesem Schritt bewogen haben, zu verstehen.
({1})
Bedenken Sie, dass auch ich persönlich in dieser Angelegenheit eine eher skeptische Haltung habe.
Wir haben uns mit der SPD-Fraktion zusammengesetzt
und einen gemeinsamen Entschließungsantrag erarbeitet,
in dem wir auf bestimmte Begleitumstände der Verlängerung des Monopols besonders hingewiesen haben.
({2})
Wir bringen in diesem Antrag zum Beispiel sehr deutlich
zum Ausdruck - dazu haben Sie eben nichts gesagt -, dass
wir durchaus Spielräume für Portosenkungen in diesem
Bereich sehen. Wie wir alle wissen, sind Portosenkungen
eine Aufgabe der Regulierungsbehörde und nicht des
Staates. Nach Angaben der Post entfällt zwar nur rund ein
Drittel des Umsatzes auf den Briefbereich, er trägt aber zu
drei Vierteln des Betriebsergebnisses bei.
Im Briefbereich wurden im vergangenen Jahr Gewinne erzielt. Die Gewinne haben sich innerhalb eines
Jahres verdoppelt. Das wird unter anderem mit den nicht
mehr notwendigen Pensionszahlungen begründet. Es ist
aber auch egal, warum. Es gibt eine Verdopplung der Betriebsrendite. Deswegen sehe ich sehr wohl - auch wenn
Herr Zumwinkel dazu öffentlich eine andere Position vertritt -, dass Spielräume für Portosenkungen gegeben sind.
Das wird auch in unserem Entschließungsantrag sehr
deutlich zum Ausdruck gebracht.
({3})
- Ich rede von dem Entschließungsantrag der Fraktionen.
Elmar Müller ({4})
Ein Weiteres ist - auch dies wird im Entschließungsantrag der Fraktionen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht -: Wenn man auf der einen Seite Monopolbereiche - wie wir sie in den nächsten Jahren noch vorfinden
werden - und auf der anderen Seite Bereiche hat, die im
Wettbewerb stehen, dann muss man verhindern, dass es zu
einer Quersubventionierung kommt und dass die Post
im Monopolbereich Gewinne einfährt, die sie dafür einsetzt, mit Dumpingpreisen in anderen Bereichen die weiteren Wettbewerbsteilnehmer kaputtzumachen. Im Postgesetz gibt es hiergegen schon gute Vorkehrungen. Auch
die EU hat entsprechende Beschlüsse gefasst. Die EU
wird also sehr stark darauf achten. Wir sagen nunmehr
sehr deutlich, dass für die Regulierungsbehörde und für
das Wirtschaftsministerium eine große Aufgabe darin besteht, die buchhalterische Trennung von Wettbewerbsund Monopolbereichen durchzusetzen.
Zum Schluss möchte ich etwas aufgreifen, von dem ich
glaube, dass ich hierzu Ihre Zustimmung bekommen
werde. Der Bundesrat hat in seinem kleinen Beschlüsslein
angemahnt - das finde ich richtig -, dass einige Bereiche,
die mit der Verlängerung der Lizenzen zusammenhängen,
zum Beispiel die Postdienstleistungsverordnung, nachträglich geändert werden müssen. Ich meine, es ist den
Bürgern nicht zu vermitteln, dass man einerseits das Monopol verlängert und andererseits - das hört man vonseiten der Post - den Service verringern will. Dies ist wohl
nicht zu akzeptieren. Ich hoffe, hierfür werden wir im
nachfolgenden Verfahren Ihre Zustimmung bekommen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Änderung des Postgesetzes wird von uns entschieden
abgelehnt. Ich garantiere Ihnen: Nach der nächsten
Bundestagswahl wird die Zahl 2007 unverzüglich in 2003
geändert werden.
({0})
- Uns wird nicht passieren, was Ihnen passiert ist, nämlich voll einzuknicken. Das sage ich Ihnen schon jetzt.
({1})
Allein die Vorgehensweise der Bundesregierung, nämlich den Gesetzentwurf im Hauruckverfahren vor der
Sommerpause durchzupeitschen, ist in unseren Augen unakzeptabel und bestätigt wieder einmal mehr, dass sich
unser Wirtschaftsminister nicht von ausgewogener Sachkompetenz, sondern vielmehr von einseitigen Gewerkschaftsinteressen leiten, ich sollte vielleicht besser sagen:
verleiten lässt.
({2})
- Natürlich glaube ich das, Herr Kollege. - Denn es waren ausschließlich die Gewerkschaften, die das Postmonopol verlängert haben wollten. Selbst Ihr Wirtschaftsminister wollte - im Übrigen im Einvernehmen
mit seinem Staatssekretär Mosdorf - diese Änderungen
nicht. Auch Sie und Ihre Bundestagsfraktion - genauso
wie Frau Hustedt - sind noch lange herumgeeiert.
({3})
Anschließend haben Sie sich auf Druck der Gewerkschaften dazu entschieden. Das ist doch überhaupt keine Frage.
Eine Verlängerung des Postmonopols über das
Jahr 2000 hinaus ist nicht nur aus wettbewerbspolitischen
Gründen inakzeptabel. Auch ordnungspolitisch ist eine
solche Entscheidung nicht tragbar. Das hat - das ist auch
in der Anhörung sehr deutlich geworden - überhaupt
nichts mit Europa zu tun. Sowohl aus europarechtlichen
als auch aus wettbewerbsrechtlichen Gründen ist eine
Verlängerung der Exklusivlizenz nicht notwendig.
({4})
Ich möchte in Erinnerung rufen, dass es die SPD gewesen ist, die die Postreform II mit Art. 87 f in Verbindung
mit Art. 143 b des Grundgesetzes auf den Weg gebracht
hat, wo ausdrücklich steht, dass die Postdienstleistungen
im Wettbewerb zu erbringen sind. Die SPD hat dem mit zugestimmt, und bei der Beratung des Postgesetzes im Vermittlungsausschuss haben Sie unter Federführung von
Herrn Bury diesem Datum 2002 zugestimmt. Was soll man
da noch sagen? Wenn man für die Post ist - und diese Post
agiert gut am Markt, das ist überhaupt keine Frage -, aber
gleichzeitig auch die Verbraucherinteressen vertritt, muss
man sagen: Wer hat uns verraten? - Sozialdemokraten!
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Jüttemann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, meine Besuchergruppe auf der Tribüne zu begrüßen.
Man erlebt die Situation hier im Plenum ja selten. Sie haben in Nordthüringen sicher auch schon gehört, wie stark
das Plenum bei solchen Spitzenthemen besetzt ist. Sie
wollen ja eine andere Regelung haben, aber viel Unterstützung haben Sie in diesem Bundestag nicht.
({0})
Die PDS-Fraktion wird dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verlängerung der Exklusivlizenz zustimmen. Wenn wir trotzdem einige Bauchschmerzen dabei haben, dann deshalb, weil die Motive unserer
Zustimmung völlig andere sind als die von der Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf verfolgte Absicht.
Der Bundesregierung geht es vor allem um Standortgründe. Sie will Wettbewerbsvorteile einiger großer Konkurrenten der Deutschen Post in Ländern, die es mit der
Liberalisierung nicht so eilig haben, verhindern. Was sich
in dieser Debatte als großer Konflikt zwischen CDU/CSU
und F.D.P einerseits und der Regierungskoalition andererseits darstellt, sind in Wirklichkeit marginale Meinungsverschiedenheiten.
Einig sind und waren Sie sich Mitte der 90er-Jahre darüber, dass das Dienstleistungsprinzip der Post, also ein
von Angestellten des Bundes in geschützten Arbeitsverhältnissen zu erbringendes breites Leistungsangebot,
schnellstmöglich durch das Verwertungsprinzip zu ersetzen ist.
Auf der Strecke blieben bei dieser konzertierten Aktion
150 000 Arbeitsplätze, sozialverträglich abgebaut, wie es
heißt, weil niemand betriebsbedingt entlassen wurde. Das
ist zwar richtig, aber die Arbeitsplätze sind trotzdem ein
für alle Mal vernichtet. Zehntausende weitere Arbeitsplätze wurden in ungeschützte Arbeitsverhältnisse umgewandelt, teils bei den Konkurrenten der Post, teils auch
bei den posteigenen Tochterfirmen. Übrigens sind von
den 30 000 bei den Konkurrenten entstandenen Arbeitsplätzen weit mehr als die Hälfte lediglich Arbeitsplätze
für geringfügig Beschäftigte ohne Sozialversicherungspflicht; das nur zur Richtigstellung, weil dazu ja besonders bei der CDU/CSU ganz abenteuerliche Zahlen kursieren.
({1})
Auf der Strecke blieb aber nicht nur das Beschäftigungsniveau, sondern auch das Leistungsniveau der Post.
Zehntausende Filialen wurden geschlossen und durch so
genannte Postagenturen ersetzt, bei denen jetzt auch
schon wieder das Massensterben einsetzt, weil sie sich angeblich nicht rechnen.
Diese Probleme werden sich naturgemäß mit zunehmender Liberalisierung, auch wenn sie heute ein bisschen
gebremst werden, weiter verschärfen. Der Brief von der
Hallig ins Alpendorf rechnet sich natürlich auch nicht und
wird irgendwann deshalb so teuer sein, dass ihn niemand
mehr abschickt.
Schon heute ist absehbar, dass der Universaldienst, der ja
schon heute nur einen ganz und gar unzureichenden Katalog postalischer Mindestleistungen darstellt, nach 2007
weiter ausgedünnt werden wird. Wir werden das konsequent bekämpfen und wenden uns deshalb schon heute
mit aller Entschiedenheit gegen die Ankündigung der
Bundesregierung, noch in diesem Jahr ein Gesetz auf den
Weg zu bringen, das die Aufgabe der Kapitalmehrheit an
der Deutschen Post AG ermöglicht.
Solange dieses Unternehmen den Universaldienst zu
erbringen hat, so lange muss nach unserer Auffassung
auch der Bund die Kapitalmehrheit behalten, schon deshalb, weil er nach Art. 87 f des Grundgesetzes verpflichtet ist, flächendeckend angemessene und ausreichende
Dienstleistungen im Bereich des Postwesens zu gewährleisten. Schon heute funktioniert das nicht mehr; ich habe
dazu einiges gesagt.
Wenn der Bund nun aber seine Einflussmöglichkeiten
als Eigentümer der Deutschen Post AG verliert, die er
zwar schon heute bei der Beantwortung Kleiner Anfragen
regelmäßig bestreitet, aber dennoch hat, würde das den
Abbau bei den postalischen Leistungen und bei der Qualität der Arbeitsplätze im Postbereich, den wir mit der heutigen Entscheidung ein wenig abbremsen können, erneut
beschleunigen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Barthel.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute
vollziehen wir einen entscheidenden Schritt
({0})
zu mehr Berechenbarkeit und Klarheit auf dem deutschen
Postmarkt. Wir beenden damit das unverantwortliche Getue von Union und F.D.P., dass es nicht sinnvoll, nicht notwendig und nicht möglich wäre, die Exklusivlizenz für
die Deutsche Post AG zu verlängern. Seit einigen Wochen
tun Sie so, als wollten oder könnten Sie diesen Schritt
tatsächlich noch aufhalten oder verhindern. Sie machen
das aber nicht mit Argumenten, sondern mit gezielter
Desinformation über die vorher im Ausschuss verabredeten parlamentarischen Vorgehensweisen. Sie haben sich
in einen Widerspruch verwickelt: Sie reden von Vertrauensschutz und Planungssicherheit für die Unternehmen,
aber gleichzeitig sprechen sich führende Vertreter der
Union auch in der Sache für und gegen die Verlängerung
der Exklusivlizenz aus. Sie desinformieren die Medien
über das Beratungsverfahren.
Jetzt legt auch noch das Land Hessen ein so genanntes
Kompromissangebot vor. All dies dient nur dem Zweck
der Verzögerung und der eigenen Profilierung in der Öffentlichkeit. Sie tun damit nichts anderes, als die, die Sie
zu schützen vorgeben, an der Nase herumzuführen. Hören
Sie endlich auf, der Öffentlichkeit und den Marktteilnehmern vorzugaukeln, Sie könnten in der Sache noch etwas
ändern! Wir werden heute Klarheit schaffen. Das tun wir
auch, um die den Ländern gegebene Zusage, die Folgeänderungen zeitnah auf den Weg zu bringen, einzuhalten.
({1})
Im Übrigen lohnt sich die Debatte über den hessischen
Vorschlag schon deswegen nicht, weil er per se einen weiteren Kahlschlag bei den Filialstandorten und einen weiteren Arbeitsplatzabbau beinhaltet. Er bezieht sich außerdem auf Vorschläge der EU-Kommission, die eindeutig,
sowohl im Ministerrat als auch im EU-Parlament, keine
Chance auf eine Mehrheit hatten und deswegen abgelehnt
wurden. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass der Bundesrat im Interesse der Klarheit den Weg für ein verkürztes
Verfahren und für die notwendigen Folgeänderungen
noch vor der Sommerpause freigemacht hat.
Wir halten fest: Die Verfassungsrechtler haben in der
Anhörung gesagt, dass sowohl bei der Verfassungsänderung 1994 als auch beim Vermittlungsverfahren zum Postgesetz 1997 gezielt und bewusst offen gelassen wurde,
wann die Exklusivlizenz endgültig ausläuft. Außerdem
geht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
dahin, dass Vertrauensschutz schon ab der Ankündigung
einer Gesetzesänderung durch einen Minister nicht mehr
reklamiert werden kann. Von daher ist es aberwitzig, zu behaupten, die Arbeitsplätze und Existenzen von Lizenznehmern auf dem Postmarkt seien gefährdet. Die Lizenzen beziehen sich doch ausdrücklich nicht auf den reservierten
Bereich. Sie wurden an Nischenunternehmen vergeben,
die niemals vorhatten und niemals die Kapitalkraft hatten,
sich in einem total liberalisierten Markt zu behaupten.
Es gibt auch Unternehmer, die das ganz offen aussprechen, indem sie sagen, dass ihre Existenz bei einer sofortigen Marktöffnung gefährdet ist. Es gibt auch Unternehmer, die ganz offen sagen, dass sie aufgegeben haben,
weil sie, als sie eigentlich auf ein Nischenprodukt setzten,
von der Nachfrage überrollt wurden und gar nicht genug
Kapital hatten, um entsprechend zu investieren. Deswegen sollten sich alle, die Post von der Aktion „Mehr Farbe
im Postmarkt“ bekommen oder von deren Veranstaltungen hören, einmal erkundigen, wer diese Aktion steuert
und finanziert. Man wird dann sehr schnell bei einer einzigen Farbe landen.
({2})
Ich möchte auch noch einmal festhalten: Wir haben
überhaupt nichts gegen starke ausländische Wettbewerber
auf dem Postmarkt. Diese belegen genauso wie auch die
Direktinvestitionen anderer die Attraktivität des von
Union und F.D.P. ständig schlecht geredeten Standort
Deutschland. Ich frage mich nur, warum sie nicht den Mut
haben, offen aufzutreten und zu sagen, wer sie sind und
was sie wollen. Klar, emotional gefärbtes, verquastes
Mittelstandsgerede mag sich besser anhören,
({3})
aber man wird doch schon einmal fragen dürfen, warum
die kleinen und mittleren Unternehmen mehr Angst vor
der Post AG als vor den Globalplayern mit Quasimonopolen im Stammland und ihren Töchtern in Deutschland
haben sollen.
({4})
Ihre Beispiele Schweden und Finnland sprechen dieselbe Sprache, nicht nur, weil die Exmonopolisten dort
noch 95 oder sogar 100 Prozent Marktanteil haben. Der
schwedische Hauptkonkurrent City Mail zum Beispiel
gehört mehrheitlich der britischen Post und teilt sich die
Aktivitäten schiedlich-friedlich mit der schwedischen
Staatspost. In Finnland müssen die Wettbewerber 20 Prozent ihres Umsatzes als Universaldienstabgabe bezahlen.
Ich bin gespannt, ob die Propagandisten des finnischen
Vorbildes auch diesen Teil des Modells in der Bundesrepublik übernehmen wollen.
Damit sind wir beim Universaldienst. Den fordern die
Union und die CDU- und CSU-Länder zwar, aber sie
drücken sich konsequent um die Frage, wer das bezahlen
soll. In nahezu allen Ländern der Welt geschieht das über reservierte Bereiche. Andere Modelle funktionieren nicht; das
hat auch unsere Anhörung gezeigt. Aber vielleicht gilt hier
ja ebenfalls das Merz-Merkel-Modell des Zehnpunkteprogramms: heute bestellen, die Rechnung jetzt offen lassen
und die Nachfolger beschimpfen, wenn sie das bezahlen
müssen.
({5})
Dann sind wir beim nächsten Widerspruch der Union, den
Arbeitsplätzen. Elmar Müller hat auch heute wieder zu Protokoll gegeben, dass durch unser Vorhaben 30 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei den Post-Wettbewerbern zerstört würden. Diese sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsplätze sind eben nicht von der Exklusivlizenzverlängerung bedroht, sondern vom Zehnpunkteprogramm der
CDU/CSU. Dort wird nämlich ausdrücklich die Abschaffung der 630-Mark-Regelung gefordert. Wenn das geschähe,
fiele die Sozialversicherungspflicht für über 20 000 dieser
Arbeitsplätze auf einen Schlag weg, weil nämlich nur
8 000 dieser 30 000 Arbeitsplätze normale Teilzeit- oder
Vollzeitstellen sind.
({6})
Das bedeutet also 22 000 ungeschützte Arbeitsverhältnisse nach dem Zehnpunkteprogramm der Union.
Dann profilieren Sie sich als Panikmacher. Das Scheitern von einzelnen Unternehmen wird zur Branchenkrise
umstilisiert. Die Zahlen und Fakten belegen aber eine
ganz andere Rechnung. In den letzten drei Jahren haben
sich die Umsätze der Lizenznehmer im Briefbereich von
151 Millionen DM auf 385 Millionen DM mehr als verdoppelt. Die Zahl der Lizenzanträge und Lizenzvergaben
steigt kontinuierlich an.
Auch in der Postpolitik stimmen also bei der Union und
bei der F.D.P. Realität und Wahrnehmung nicht überein.
Dem stellen wir ein Gesamtkonzept gegenüber, das Sie in
unserem Entschließungsantrag nachlesen können. Wir sagen auch ganz klar, wo unsere Sorgen liegen. Wir schauen
es uns nicht mehr an, dass wieder eine Welle von Agenturschließungen durchs Land rollt und die Leistungen
Qualitätsverschlechterungen erfahren,
({7})
sondern wir werden, auch mit einer Verlängerung der Universaldienstauflagen, Sorge dafür tragen, dass die Qualität gesichert wird und die Folgeänderungen auf den Weg
gebracht werden.
All dies steht in unserem Entschließungsantrag. Es
lohnt sich, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Dann kann auch
nicht hinterher wieder irgendjemand sagen, er habe nichts
davon gewusst und irgendeine Entwicklung komme völlig überraschend und breche den Vertrauensschutz.
({8})
Ich schließe damit die Aussprache.
Klaus Barthel ({0})
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Postgesetzes, Drucksachen 14/6121, 14/6261 und
14/6325. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Lesung mit dem eben festgestellten
Stimmverhältnis angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des
Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen
Krankenversicherung
- Drucksache 14/6432 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Untersuchung zu den Wirkungen des Risikostrukturausgleiches in der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksache 14/5681 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch; dann haben wir so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun SchaichWalch. Bitte, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung
orientiert ihre Gesundheitspolitik an drei Zielen. Das ist
einmal der Ausbau der Prävention, das ist zum anderen die
Steigerung der Qualität der Versorgung, und das ist
schließlich der effiziente Mitteleinsatz durch mehr Wettbewerb, das aber bei Beibehaltung des Prinzips der Solidarität. Deshalb muss die Devise auch lauten: Wettbewerb zwischen den Krankenkassen: Ja, aber nur unter
fairen Bedingungen. Das heißt Wettbewerb um die besten
Versorgungskonzepte. Das heißt nicht Wettbewerb ausschließlich um gesunde Versicherte. Deshalb müssen wir
den Wettbewerb neu regeln.
Wir haben den Risikostrukturausgleich, um den es
heute geht, 1992 fraktionsübergreifend geschaffen. Wir
haben es damals gemacht, um Risikoselektion zu vermeiden. Jetzt müssen wir feststellen, dass das, was wir uns
damals vorgenommen hatten, so nicht hinreichend funktioniert hat. Deshalb müssen wir den Risikostrukturausgleich um weitere Elemente ergänzen. Ich glaube, wir
sind uns ziemlich einig darüber, dass das notwendig ist.
Ich hoffe sehr, dass es uns im Laufe der Beratungen gelingt, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, die, wie
damals 1992 beim Risikostrukturausgleich, auch diesmal
die Opposition mittragen kann.
({0})
Es kann doch einfach nicht sein, dass Marketingprogramme für Gesunde finanziert werden und ein hoch qualitatives Versorgungsmanagement nicht zu dem Bereich
gehört, der für die Kassen ohne Risiko einsetzbar ist.
Wir haben als Grundlage die Wechsler-Analysen und
wissen, dass unter den 1,2 Millionen Kassenwechslern im
letzten Jahr nur etwa 800 chronisch kranke Menschen waren. Das ist der Punkt, von dem ich einfach glaube, dass
wir ihn verändern müssen. Solidarität zwischen Kranken und Gesunden lebt - davon bin ich fest überzeugt vom Ausgleich. Es kann nicht funktionieren, wenn in einem Teil der Kassen immer mehr Alte und Kranke und in
einem anderen Kassenbereich immer mehr Junge und Gesunde sind.
Deshalb werden wir den Wettbewerb verändern. Wir
werden kurzfristige, mittelfristige und langfristige Elemente einführen. Zu den kurzfristigen Elementen gehört,
dass wir in 2002 mit Disease-Management-Programmen starten wollen. Bei diesen Disease-ManagementProgrammen ist vorgesehen, dass man sich auf sie einigt,
dass sie inhaltlich ausgefüllt werden - dabei wird uns der
neu eingerichtete Koordinierungsausschuss hilfreich sein und dass die Kassen dann, wenn sie diese Programme
durchführen, einen Ausgleich von anderen Kassen für
diese Programme bekommen.
Ein zweiter Punkt, um wieder zu mehr Solidarität im
Wettbewerb zu kommen, ist die Einrichtung des Risikopools. Bei dem Risikopool haben wir vorgesehen, dass
die Kassen das Krankheitsrisiko bei einzelnen Versicherten bis 40 000 DM bezahlen, dass dann aber, wenn die
Kosten darüber liegen, die Versichertengemeinschaft einen Ausgleich zahlt, und zwar in Höhe von 60 Prozent der
Kosten, die entstehen.
Ich bin überzeugt, dass wir mit dem Einsatz dieser Elemente - es kann durchaus sein, dass im Laufe der AnVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
hörung noch ein weiteres Element hinzukommt - kurzund mittelfristig die Weichen gut stellen können.
Auf dieser Basis werden wir dann das Ziel in den Blick
nehmen können. Das Ziel, das wir ansteuern müssen, ist
- das haben auch alle Gutachten der Wissenschaftler gesagt - die Morbiditätsorientierung im Risikostrukturausgleich. Das heißt, die Verteilung der Mittel muss sich
daran ausrichten, wie viele kranke und gesunde Patientinnen und Patienten eine Kasse hat und wie sie diese zu versorgen hat. Wenn wir dieses Ziel dann im Jahre 2007 erreicht haben, werden wir das eine Instrument, den
Risikopool in Höhe von 40 000 DM, wohl in einen Hochrisikopool umwandeln können - das wird vertretbar sein -,
wovon die Krankenkassen und ebenso die Kranken mit
Krankheiten, die sehr viel teurer sind, profitieren.
In dieser Woche und in der vorigen Woche hat es eine
heftige Debatte darum gegeben, wie es mit dem einen
Element aussieht, das weggefallen ist. Herr Lohmann, ich
habe bei Ihnen noch einmal nachgeschaut - auch bei der
F.D.P. -: Es war eine unglaubliche Kritik.
({1})
Es wurde behauptet, es seien 12,5 Prozent Mindestbeitrag. Dabei war dieser Beitrag als Solidarbeitrag von
Anfang an auf zwei Jahre festgelegt und nicht als ein Dauersatz geplant.
({2})
- Nun, das sage ich Ihnen jetzt gleich. Sie sollten sich
doch einfach einmal freuen.
({3})
- Sehen Sie, da bin ich Ihnen richtig dankbar, Herr Wolf.
({4})
Sie wissen doch genau, dass Freude, Gelassenheit und ein
befreiendes Lachen sehr zur Gesunderhaltung beitragen.
({5})
Ich möchte von Ihnen gern einmal wissen, mit wie vielen
Gesetzentwürfen Sie in Ihrer Zeit gestartet sind, die dann
am Ende nicht so aussahen, wie Sie sie ursprünglich angedacht hatten.
({6})
Wir haben kein Gesetz geändert; wir haben nicht einmal
einen Gesetzentwurf geändert. Wir haben die Überlegungen zu einem Entwurf geändert, und die haben wir nach
eingehender und reiflicher Debatte innerhalb unserer
Fraktion und mit den Kolleginnen und Kollegen aus der
Koalition geändert.
Wenn man jetzt die Entwicklungen betrachtet, sieht
man, dass das ein vertretbarer Schritt ist. Aber nach meiner Überzeugung macht auch die Tatsache, dass wir dieses Element für den Gesetzentwurf nicht beibehalten haben, sehr deutlich, dass wir gemeinsam die anderen Elemente, die wir in den Gesetzentwurf aufgenommen
haben, kurz- und mittelfristig sehr schnell und sehr konsequent zur Anwendung bringen müssen, um mit Hilfe
dieser Elemente den Ausgleich zwischen den Kassen herbeizuführen.
Es ist schwierig, einen solchen Konsens zu finden. Die
Ministerin hat versucht, diesen Konsens zu finden, um
auch die Kassengemeinschaft beieinander zu halten und
die verschiedenen Ausgangssituationen und Problemsituationen der einzelnen Kassen zu würdigen. Wir stehen
jetzt mit dem Ergebnis: Disease-Management, Risikopool, Morbiditätsausgleich in der Debatte; wir sind bereit,
Anregungen, die in der Debatte gemacht werden - wie das
üblich ist -, aufzunehmen und sie gemeinsam zu diskutieren. Ich hoffe sehr, dass wir auch für diesen Bereich
eine gemeinsame und tragfähige Lösung finden, wie es
uns 1992 gelungen ist.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich,
Frau Schaich-Walch, hier heute schon wieder stehen und
den Versuch machen zu können, einen Teil Ihrer Gesundheitspolitik zu würdigen. Wenn ich das tue, sage ich zunächst einmal: Die Wirkung der von mir etwas flapsig so
genannten „Beruhigungspille Ulla Schmidt“ ist verpufft.
Bürgerinnen und Bürger, Journalisten, Ärzte, Krankenkassen sprechen auf diese Beruhigungspille nicht mehr
an. Die Krankenkassen haben in der vergangenen Woche
begonnen, ihre Beiträge auf breiter Front zu erhöhen.
Viele werden in den nächsten Monaten - vor allen Dingen
auch im Wahljahr 2002 - folgen.
Auch in der Ärzteschaft, die die Ministerin unmittelbar
nach ihrem Amtsantritt in die Arme geschlossen hatte,
wächst das Misstrauen. Ursache für das Abrücken von der
Ministerin ist die Konzeptionslosigkeit ihrer Gesundheitspolitik.
Frau Ministerin Schmidt - es ist gut, dass es zeitlich gerade so passte, dass Sie dazugekommen sind -, es sind
eben kein Konzept und keine klare Linie zu erkennen. Daran liegt es.
({0})
Sie lassen, um das heutige Thema zu nehmen, von Beteiligten Konzepte erarbeiten und übernehmen diese dann
als eigenes Konzept. Das gilt für die Festsetzung der Festbeträge, bei der die pharmazeutische Industrie und die
Krankenkassen den Kompromiss geschmiedet haben, und
es gilt auch heute für die Neuregelung des Finanzausgleichs - so kann man ihn auch nennen - der Krankenkassen, nämlich den Risikostrukturausgleich.
Statt nun mit einem eigenen Konzept aufzuwarten,
übernehmen Sie den Kompromiss, den die Krankenkassen
unter Ihrer Beteiligung geschlossen haben - einige würden
sagen: zu dem Sie sie gezwungen haben; ich würde zurückhaltender sagen: zu dem Sie die Krankenkassen überredet
haben. Nun holen Sie, Frau Schmidt, Ihr mangelnder Gestaltungswille und die Substanzlosigkeit rot-grüner Politik
- jedenfalls in diesem Bereich - ein. Der von Ihnen eingebrachte Gesetzentwurf zur Abschaffung des Arzneimittelbudgets wird von der Bundesregierung infrage gestellt, bevor er überhaupt verabschiedet worden ist.
Patienten, vor allem die chronisch Kranken, die in den
vergangenen zwei Jahren die Folgen der Rationierung der
medizinischen Leistungen doch wirklich zu spüren bekamen, verstehen die Welt nicht mehr. Auch die Ärzte wissen nicht mehr, woran sie bei Ulla Schmidt sind.
Der Risikostrukturausgleich und vor allem der Mindestbeitragssatz - den Sie, Frau Staatssekretärin, eben
noch einmal genannt haben - sollten zur Finanzierung der
Disease-Management-Programme, also der Versorgungsund Managementprogramme für chronische Erkrankungen, dienen. Er ist noch vor einer guten Woche als Kernstück bezeichnet worden. Da darf man sich - zumal wir
von Anfang an gegen die Lösung eines Mindestbeitrags in
Höhe von 12,5 Prozent waren - wohl einerseits darüber
freuen, dass er nun weggefallen ist, aber man kann sich
andererseits nicht darüber freuen, dass nun der Rest ohne
das Kernstück - ich fühle mich fast an die GentechnikDiskussion mit der Frage, was ist Anfang und was ist
Ende, erinnert - alles zum Guten richten soll.
Um nicht missverstanden zu werden: Wir halten den
Wegfall des Mindestbeitrags, der letztlich wettbewerbswidrig ist, für richtig, aber mit dem übrigen Teil können
wir uns nur sehr schwer anfreunden. Es ist deswegen auch
nicht verwunderlich, dass nun auch die Kassen wieder im
Clinch liegen; denn auch sie - das war schließlich nicht
unsere Feststellung - haben in dem Kompromiss, den Sie
in Gesetzessprache umgesetzt haben, geschrieben: Dies
ist ein Gesamtkonzept, und wenn nur ein Element herausgenommen oder hinzugefügt wird, dann wird das Gesamtkonzept von uns nicht mehr mitgetragen. - So genau
ist das dort beschrieben.
Nun haben Sie - nicht Sie persönlich, sondern die Regierung - offensichtlich inzwischen die Orientierung insofern verloren, als Sie nicht mehr genau wissen, was der
Risikostrukturausgleich eigentlich soll und welche Aufgaben er von Anfang an hatte, die ihm eigentlich auch
wieder zuerkannt werden müssten, wenn man ihn entsprechend reformiert.
Besinnen Sie sich doch bitte darauf, dass der Risikostrukturausgleich, dieser Finanzausgleich, unter allen
Umständen nachrangig zu Versichertenwahlrechten geordnet werden muss. Er dient dazu, bei der Inanspruchnahme des Versichertenwahlrechts unerwünschte Erscheinungen zu neutralisieren, aber nicht dazu, die
Wahlrechte abzusprechen, um damit die Unzulänglichkeit
des Risikostrukturausgleichs zu kaschieren. Das ist nicht
der Sinn der Sache. Das haben Ihnen auch hochmögende
Professoren in der öffentlichen Anhörung gesagt. Darauf
müsste das Ganze wieder zurückgeführt werden.
Das heißt, wenn ich Erscheinungen beobachte, deren
Wirkungen in der gesetzlichen Krankenversicherung
nicht so sind, wie ich mir das wünsche, und die möglicherweise bald neutralisiert werden müssen, um den
Wettbewerb auch fair zu gestalten, dann muss ich den Risikostrukturausgleich entsprechend regeln, aber ich darf
nicht den Versicherten Rechte absprechen, wie Sie es getan haben. Das haben Sie, Frau Staatssekretärin, ja vorhin außer Acht gelassen; das haben Sie nicht erwähnt. Zu
diesem RSA-Paket gehört im Grunde genommen auch
das Paket hinsichtlich der Veränderung der Kassenwahlrechte, das Sie ja bereits eingebracht haben. Das gehört
ja mit dazu. Insofern nehmen Sie den Versicherten nun
die Möglichkeit, zum 30. September zu kündigen. Sie
nehmen den Versicherten auch das Sonderkündigungsrecht. Das alles gehört mit hier hinein. Das Einzige, was
dann noch bleibt, ist im Bereich der Kassenwahlrechte
der Vorschlag, dafür häufiger als bisher, beispielsweise
sechs Wochen zum Quartalsschluss, eine Kündigung aussprechen zu können.
Wir sehen - das habe ich heute Nachmittag in einem
anderen Zusammenhang schon gesagt; ich will die Zitate
jetzt nicht noch einmal bringen -, es ist offensichtlich
Feuer unter dem Dach des „Hauses der GKV“, aber auch
im Ministerium. Sie sind dazu da, diesen Brand zu löschen. Wenn sogar Professor Rürup, der Berater der
Bundesregierung, heute in der „Berliner Zeitung“ sagt:
„Jede Woche, die die Reform früher beginnt, ist eine gewonnene Woche“, dann hat er nicht den RSA, die Kassenwahlrechte oder andere Kleinigkeiten, wie das Wohnortprinzip und viele andere Dinge, mit denen die
Öffentlichkeit nichts anfangen kann, gemeint, sondern er
bringt zum Ausdruck: Bringen Sie endlich ein in sich geschlossenes und mit Perspektiven versehenes Konzept. An diesem Konzept könnte man sich dann mit unseren Argumenten messen.
({1})
Der Präsident des Bundesversicherungsamtes - also
jener Herr, der der durchführenden Behörde für die Weiterentwicklung dieses Monstrums vorsteht - äußert, der
Risikostrukturausgleich werde mit der Verbindung von
Chroniker-Bonus und Einschreibung in ein akkreditiertes
Programm mit gesundheitspolitischen Steuerungsaufgaben überfrachtet. Das haben wir bei anderer Gelegenheit
auch gesagt. Selbstverständlich ist es richtig, wenn sich
- möglichst mehr als weniger - Krankenkassen mit der
Frage der Disease-Management-Programme, also der
Sonderregelungen und umfänglicher qualitätsorientierter
Regelungen für chronisch Kranke, befassen und diese besondere Leistung ihren Mitgliedern anbieten. Aber dies
gehört eben nicht in den Risikostrukturausgleich, sondern
das ist eine Aufgabe, die die Kassen wahrzunehmen haben und die man durchaus fördern kann, auch über Sonderregelungen oder Modellvorhaben.
Wir sind der Auffassung, dass es beim Risikostrukturausgleich - in dem schon heute sage und schreibe 23 Milliarden DM umverteilt werden, und etwa 20 Milliarden DM, also der größte Teil davon, entfallen auf die
AOK - nicht verwunderlich ist, dass die AOK in besonderem Maße daran interessiert ist - Sie sagten: darauf anWolfgang Lohmann ({2})
gewiesen ist -, diese Beträge noch weiter zu erhöhen. Wir
meinen, das ist nicht der richtige Weg für uns alle.
({3})
Denn der Risikostrukturausgleich droht im Grunde genommen einer weit zurückliegenden, noch vor 1992 geltenden Regelung wieder nahe zu kommen: dass er nicht
mehr und nicht weniger als ein primitiver Ausgabenausgleich ist. Genau das sollte der Risikostrukturausgleich
nach den Erfahrungen der Jahre 1992/1993, also nach der
Einführung, seinerzeit gemeinsam mit der SPD-Fraktion,
nicht sein und nicht wieder werden.
({4})
Meine Damen und Herren, nun soll bald - am nächsten
Mittwoch - die Sachverständigenanhörung sein, nachdem man eineinhalb Jahre nichts getan hat, die Vorschläge
von Herrn Seehofer nicht akzeptiert und die Auftragsvergabe an die Sachverständigen wieder zurückgenommen
hat. Jetzt wird es plötzlich unheimlich eilig, wie wir auch
an der Entwicklung des Beitragssatzes und Ähnlichem
sehen. Ich prophezeie Ihnen bereits jetzt, dass die Sachverständigenanhörung zeigen wird, dass Ihr Vorhaben
nicht durchführbar ist. Das politische Kalkül von RotGrün, diese Neuregelung des Finanzausgleiches der Kassen als Verbesserung für chronisch Kranke zu verkaufen,
wird nach meiner Auffassung nicht aufgehen.
Nun fragen sich Krebskranke, Alzheimerpatienten,
MS-Kranke, Diabetiker usw., was das eigentlich soll. Sie
sollten aufhören, den Leuten insofern etwas vorzumachen, als Sie beispielsweise die Abschaffung der Budgetierung der Arznei- und Heilmittelausgaben ankündigen,
aber die Abschaffung gleichzeitig wieder infrage stellen.
Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Schwerstkranke,
Patienten und Versicherte Ihnen bei Ihrem Schlingerkurs
noch abnehmen, dass ausgerechnet die Neugestaltung des
Finanzausgleiches der Kassen chronisch Kranken und Patienten eine Wohltat bringen soll. Das wird nicht der Fall
sein.
Wir fordern noch einmal von Ihnen - wie heute schon
bei anderer Gelegenheit - eine konsequente Politik, wir
fordern, vom Lächeln und Überspielen Abstand zu nehmen, ein Konzept vorzulegen und dann weiter zu diskutieren und mit dem Kurieren an Symptomen aufzuhören.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Lohmann, Sie haben gerade den Risikostrukturausgleich als Kleinigkeit bezeichnet.
({0})
- Doch, Herr Lohmann, Sie haben vom „Risikostrukturausgleich und anderen Kleinigkeiten“ gesprochen. Sie
sollten das noch einmal im Protokoll nachlesen. Ich
glaube, der Risikostrukturausgleich ist keine Kleinigkeit.
Aber wenn Sie mir da zustimmen, dann brauchen wir
nicht weiter darüber zu streiten.
„Was lange währt, wird endlich gut“, könnte man fast
sagen.
({1})
Beim RSA kann man das aus meiner Sicht mit Fug und
Recht sagen, insbesondere deswegen, weil wir jetzt eine
Langzeitperspektive haben, aufgrund derer der Finanzausgleich zwischen den Kassen bis zum Jahr 2007 tatsächlich geregelt wird. Sie haben darauf verwiesen, dass auch
die Union hier Änderungsbedarf sieht. Ich hoffe, dass wir
diesen im Laufe des parlamentarischen Verfahrens in Form
von Vorlagen konkret auf den Tisch bekommen und wir
tatsächlich, so wie das die Staatssekretärin hier angeboten
hat, zu einer gemeinsamen Lösung kommen.
Die Situation innerhalb der Krankenkassen, vor der wir
heute stehen, ist ja alles andere als erfreulich. Besonders
die großen Kassen sind es, die darunter zu leiden haben,
dass sie einerseits viele Versicherte haben, die wegen geringer Verdienste nur niedrige Beiträge leisten können,
und dass sie andererseits viele ältere Menschen und Menschen mit hohen Risiken, zum Beispiel chronisch Kranke,
die hohe Kosten verursachen, versichern.
Nun ist es aus meiner Sicht richtig, dass Kassen unterschiedliche Angebote machen können, was Service, Geschäftsstellen und Beratung angeht. Ich glaube, dass es den
Versicherten überlassen bleiben muss, ob sie sich persönlich in einer Geschäftsstelle beraten lassen oder ob sie sich
im Zweifelsfalle über das Internet informieren. Den Kassen
muss es ebenfalls in bestimmten Grenzen überlassen bleiben, wie sie ihre Verwaltung organisieren. Auch auf dieser
Ebene sollte aus meiner Sicht Wettbewerb stattfinden.
({2})
Wettbewerb ist es auch, die Versorgung der Versicherten - hier gerade im präventiven Bereich - und die der Patienten optimal zu gewährleisten. Der Wettbewerb um die
beste Versorgung muss das Ziel eines fairen Finanzausgleichs zwischen den Kassen sein. Ich glaube, wir können
gemeinsam unterschreiben: Es geht nicht um den Wettbewerb um die niedrigsten Beiträge.
Genau das ist es, was wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg bringen wollen. Dort, wo Programme der Qualitätssicherung durchgeführt werden sollen, wie das im Gesetzentwurf vorgesehen ist, geht es um
echte Verbesserungen für die Patientinnen und Patienten.
Der Ausgleich zwischen den Kassen muss auch dafür sorgen, dass es sich nicht mehr lohnt, um die Patienten mit
den niedrigsten Risiken zu werben. Auch das soll mit diesem Gesetzentwurf der Koalition auf den Weg gebracht
werden. Ich kann nur hoffen, dass wir dieses Problem gemeinsam lösen werden.
({3})
Wolfgang Lohmann ({4})
Ein erster Schritt ist die Einrichtung eines Risikopools
für solche Versicherten, die bei den Kosten mit mehr als
40 000 DM zu Buche schlagen. Mit der Regelung, 40 vom
Hundert durch die Krankenkassen tragen zu lassen und
60 vom Hundert durch den gemeinsamen Risikopool, besteht, so glaube ich, auch hier eine gute Chance für einen
echten Ausgleich. Ich bin auf die entsprechenden Anhörungen und Diskussionen gerade über diese Frage im
Gesundheitsausschuss gespannt.
Dennoch bleibt langfristig die Notwendigkeit, verwertbare Daten zur Morbidität zu erheben. Die Staatssekretärin hat dazu, wie sich die Auswertung dieser Daten auf den
Ausgleich zwischen den Kassen auswirken soll, Ausführungen gemacht. Ich persönlich glaube, dass solche Datenerhebungen dazu beitragen können, tatsächlich zu einer
umfassenden Gesundheitsberichterstattung zu kommen,
die ganz neue Möglichkeiten der Vorsorge und der Gesundheitsförderung eröffnet. Gerade in Regionen, in denen
wir es zum Beispiel mit hoher Arbeitslosigkeit oder anderen Faktoren, die die Gesundheit beeinträchtigen, zu tun
haben, kann das Grundlage für Handlungsoptionen sein,
bei denen es tatsächlich um die Erhaltung von Gesundheit
und nicht erst um die Bewältigung von Krankheit geht.
Das kann ein sinnvoller und guter Nebeneffekt der Erhebung solcher Daten sein, den ich für sehr wünschenswert
halte.
Natürlich wollen wir in den Anhörungen für weitere
Optionen eines kurzfristigen Ausgleiches offen bleiben,
zum Beispiel was die Verpflichtung kleiner Kassen, auch
die der BKKen, angeht, Disease-Management-Programme aufzulegen.
Wir halten und hielten - Sie wissen das - den Mindestbeitrag nicht für ein wirksames Instrument. Herr
Lohmann, Sie haben sich darüber ausgelassen, dass - ({5})
- Nein, so meine ich das nicht.
Sie haben darüber gesprochen, die Regierung wandle
nur noch Papiere externer Experten in Gesetzestext um.
Ich halte das für eine Unterstellung, die in keiner Weise
gerechtfertigt ist. Ich glaube, wir haben sowohl an dieser
Stelle als auch anderswo deutlich gemacht: Es ist Aufgabe
der Fraktionen, Gesetzentwürfe miteinander zu beraten.
Dabei ist es sehr sinnvoll, sich mit allen Beteiligten vorher an den Tisch zu setzen und abzuwägen, welche Möglichkeiten bestehen.
({6})
- Auch in der eigenen Fraktion, Herr Kollege.
Ich kann Ihnen von diesem Pult aus mitteilen: Der Gesetzentwurf ist in der Form, wie er jetzt vorliegt, einstimmig in meiner Fraktion verabschiedet worden.
({7})
Ich will an dieser Stelle auch betonen, dass es bei der
Frage des Mindestbeitrags darum ging, ein Instrument zu
finden; es ging nicht um die Zielstellung. Bei der Frage
der Zielstellung waren wir uns in der Fraktion von Anfang
an einig. Natürlich ist es so, dass der Abstand zwischen
Kassen mit hohen Beiträgen und dem beabsichtigten
Mindestbeitrag so groß geblieben wäre, dass Versicherte
aus meiner Sicht nicht von einem Kassenwechsel abgehalten worden wären. Auch aus dem Blickwinkel der Beitragszahler ist es richtig, auf die Einführung eines Mindestbeitrags zu verzichten.
Nicht verzichten können wir aber - dabei bleibt es auf das grundlegende Ziel, zu einem Ausgleich zu kommen, der den Wettbewerb um junge, gesunde Versicherte
beendet. Es geht um die beste Versorgung und um Wirtschaftlichkeit, auch bei den Krankenkassen. Herr
Lohmann, ich hoffe, dass es auch um Ihre konkreten Vorschläge geht, um den Risikostrukturausgleich miteinander zu beraten und auf den Weg zu bringen. Ich hoffe, dass
wir in dieser Frage die Unterstützung des ganzen Hauses
haben. Dieses Projekt ist für die solidarische Versorgung
in der Krankenversicherung langfristig zu wichtig, als
dass wir uns mit parteipolitischem Geplänkel aufhalten
sollten.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Frau Ministerin, ich habe Ihrer grünen Vorgängerin zweimal ein Zitat Robert Musils vorgehalten,
das die damalige gesundheitspolitische Einstellung der
Bundesregierung zutreffend beschrieb: „Wir irren vorwärts“.
Mit Ihrem Amtsantritt verband sich die Hoffnung auf
ein Ende dieses Irrwegs. Sie war trügerisch. Auch Sie haben trotz manch akzeptabler Ansätze den konsequent
richtigen Weg noch nicht gefunden. Auch Sie irren weiter
vorwärts - orientierungslos und ohne ein schlüssiges Gesamtkonzept.
Ihre Staatssekretärin hat heute Morgen das Bild einer
Garage bemüht und uns vorgeworfen, wir seien bei unseren Bemühungen nur bis zum Garagentor gekommen,
während Sie herausgefahren seien. Wer aber beim Vorwärtsfahren immer wieder den Rückwärtsgang einlegt,
darf sich nicht wundern, dass Getriebeschäden eintreten.
Sie bleiben auf der Strecke liegen, und genau das ist
Ihnen heute passiert.
({0})
Wie können wir das Gefährt wieder flott machen? Wir
Liberalen predigen es seit Jahr und Tag: Wir müssen das
System wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Wir brauchen mehr Eigenverantwortung, mehr Wahlfreiheiten,
mehr Transparenz und mehr Wettbewerb. Die Bundesregierung tut sich mit diesen Grundregeln schwer.
Stichwort „Wettbewerb“: Über Wochen hinweg hieß
es, die großen so genannten Versorgerkassen könnten
ohne einen Mindestbeitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht leben. Dieser Teil des Kompromisses
sei deshalb unverzichtbar. Nun soll es doch ohne den Mindestbeitrag gehen. Es ist gut, dass er gestrichen worden
ist; er war von Anfang an ein Missgriff und war mit dem
Gedanken des Wettbewerbs unvereinbar.
Frau Schmidt-Zadel, ich frage mich, ob jetzt wirklich
das eintritt, wovor Sie vor ein paar Tagen gewarnt haben,
nämlich, dass dieser Schritt das Ansehen der Koalition beschädigt. Ist das eigentlich Ihre einzige Sorge? Die Konzeptionslosigkeit dieser Koalition beschädigt ganz andere
Dinge, zum Beispiel das Ziel der Bundesregierung, die
Sozialversicherungsbeiträge unter 40 Prozent zu drücken.
Den Gesundheitsmarkt mit seinem großen Arbeitsmarktpotenzial in Schwung zu bringen, davon sind wir weit entfernt.
Meine Damen und Herren, das, was von der Reform des
Risikostrukturausgleichs übrig geblieben ist und was im
Zusammenhang mit dem bereits eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung der Kassenwahlrechte zu sehen ist,
ist aus unserer Sicht ein buntes Sammelsurium unterschiedlichster Ideen zur Eindämmung des Wettbewerbs
und der Wahlfreiheit.
Sie haben zwar die Möglichkeit der Kündigung auf das
laufende Jahr erweitert, legen aber gleichzeitig eine Bindung an eine solche Entscheidung auf eineinhalb Jahre
fest. Sie lassen das besondere Kündigungsrecht bei Beitragssatzerhöhungen wegfallen. Eine solche Möglichkeit
ist in allen anderen Bereichen der Versicherungswirtschaft selbstverständlich.
Die erhöhte Zuschreibung standardisierter Ausgaben
für Krankenkassen mit speziellen Programmen für chronisch Kranke gehört ebenfalls zu dieser Aufzählung. In
der Begründung dazu heißt es:
Damit wird erstmals Sorge dafür getragen, dass den
Krankenkassen, die sich um eine gezielte Verbesserung der Versorgung ihrer chronisch Kranken
bemühen, kein finanzieller Nachteil entsteht, sondern sie im Vergleich zum Status quo deutlich besser
gestellt werden.
({1})
Das ist doch nur dann, Frau Schmidt-Zadel, der Fall,
wenn die standardisierten Ausgaben, die für chronisch
Kranke gezahlt werden, den tatsächlichen Ausgaben entsprechen. Anderenfalls ist es für die Krankenkasse immer
noch von Vorteil, sich um gesunde Versicherte zu kümmern und diese aufzunehmen. Es ist richtig, wenn man
den Risikostrukturausgleich will, auch Anreize zu schaffen, zum Beispiel chronisch kranke Menschen zu versichern. Wenn jedoch der bürokratische Aufwand so groß
wird, dass die Kosten in keiner Relation mehr zum zu erzielenden Nutzen stehen - so sehen wir es -, ist dieses Ziel
schwerlich zu erreichen. Sie müssten nämlich, wenn Sie
in dieser Richtung konsequent weiterdenken, bei der Erfassung der Erkrankungen immer stärker differenzieren.
Ein Diabetes-Patient, der frühzeitig zum Arzt geht und
eine große Bereitschaft zur Mitarbeit mitbringt, verursacht wesentlich weniger Kosten als der Diabetiker, der
seine Krankheit verschleppt und nicht einsieht, dass auch
er zur Stabilisierung seiner Gesundheit beitragen muss.
Das, was Sie sich von dieser höchst aufwendigen Maßnahme versprechen, indem Sie die standardisierten Ausgaben erstatten, wird also nicht eintreten oder nur dann,
Frau Schmidt-Zadel, wenn Sie sich zu einer Neudefinition
von solidarisch finanzierten Kernleistungen wie diesen
durchringen und Wahlleistungen zulassen.
Ich appelliere deshalb an Sie: Geben Sie den Gedanken
auf, eine Optimierung der Versorgung mit dem Risikostrukturausgleich verknüpfen zu wollen. Das wird nicht
gelingen.
({2})
Oder es wird nur um den Preis eines gigantischen Verwaltungsapparates gelingen.
({3})
Das Geld, das wir dafür ausgeben müssten, können wir
anderswo sinnvoller einsetzen. Unsere Meinung ist: Wir
brauchen nicht mehr, sondern weniger Risikostrukturausgleich.
({4})
Irgendwann muss Schluss damit sein, dass ein immer
größeres Geldvolumen umverteilt wird. Einige Krankenkassen müssen bereits jetzt spürbar mehr als die Hälfte ihrer Beitragseinnahmen zur Subventionierung anderer
Kassen - ihrer Mitbewerber nämlich! - abführen. Stellen
Sie sich einmal vor, BMW müsste von jeder verdienten
Mark 50 Pfennig an Daimler-Chrysler abführen.
({5})
Das würde jeder für völlig absurd halten. Bei den Krankenkassen ist es Realität.
({6})
Zu schützen sind unserer Meinung nach, Frau Fuchs,
nicht die Krankenkassen, sondern die Versicherten. Es ist
nachvollziehbar, dass die Manager der von Abwanderung
betroffenen Krankenkassen das anders sehen. Gleichwohl
bleibt festzuhalten: Die Versicherten sind durch Wahlfreiheit und Kontrahierungszwang ausreichend geschützt.
Niemand ist gezwungen, bei einer Krankenkasse mit
höherem Beitragssatz versichert zu bleiben. Niemand
- auch nicht die schwer und chronisch Kranken - ist gehindert, sich schlau zu machen und andere Angebote zu
nutzen.
({7})
Glauben diejenigen, die einer Ausweitung des RSA das
Wort reden, im Ernst, in unserer Gesellschaft könnte sich
der Versuch auszahlen, kranke Versicherte an den Pforten
einer gesetzlichen Krankenversicherung abzuweisen?
Das wäre doch am nächsten Tag eine Seite-Eins-Meldung
in Boulevardzeitungen. Das wird sich niemand erlauben
können. Ich bin davon überzeugt: Bewusste und aktive
Risikoselektion hat auch ohne RSA keine Chance.
Eine letzte Bemerkung zum ab 1. Januar 2003 vorgesehenen Risikopool: Die dahinter stehende Idee ist an
sich sinnvoll. Ob ein solcher Ausgleich allerdings tatsächlich kassenartenübergreifend erfolgen muss oder ob es
nicht sinnvoller wäre, den schon heute existierenden kassenarteninternen Finanzausgleich verbindlicher zu gestalten, wird in der Anhörung und den weiteren Beratungen
zu klären sein. Wir freuen uns auf diese Beratungen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Das Kassenwahlrecht 1992 für alle Mitglieder - freiwillig Versicherte, Angestellte und Arbeiter - einzuführen war ein politischer Fortschritt. Der damit verbundene Wettbewerb um Mitglieder sollte die Kassen zu mehr
Wirtschaftlichkeit und besserem Service anregen. Ein guter
Vorsatz, aber klar war, dass dieser Wettbewerb auch zu Risikoentmischung und Entsolidarisierung führen könnte.
Um das zu verhindern, wurde der Risikostrukturausgleich eingeführt. Er sollte Nachteile beseitigen, die sich
für die Kassen aus unterdurchschnittlichen Einnahmen
und ungleicher Risikostruktur ergeben. Das ist aber nicht
erreicht worden. Obwohl über den RSA etwa 25 Milliarden DM jährlich umverteilt werden, ist es für eine Kasse
vorteilhaft, möglichst viele junge, gesunde und gut verdienende Mitglieder zu gewinnen. Siehe die so genannten
virtuellen Betriebskrankenkassen. Die sich so ergebenden
Beitragsunterschiede haben nichts mit wirtschaftlichem
Handeln zu tun. Sie gehen in erster Linie zulasten der vielen AOKn und großer Ersatzkassen. Besonders benachteiligt sind die AOKn in Ostdeutschland, weil sie eine extrem ungünstige Risikostruktur aufweisen.
Im Ergebnis eines solchen Wettbewerbs können Kassen mit niedrigen Beiträgen diese sogar weiter absenken
und Kassen mit hohen Beitragssätzen müssen noch mehr
zulegen. Zugleich werden dem Gesundheitssystem zunehmend Mittel entzogen. Das kann keiner wollen. Ein
sozial gerechtes Gesundheitswesen ist so nicht aufrecht
zu erhalten.
Wir begrüßen es, dass die Regierung mit der Reform
des RSA dieser Entwicklung Einhalt gebieten will. Der
vorliegende Gesetzentwurf ist aber nicht überzeugend. So
ist auf der Einnahmenseite noch immer kein vollständiger
Risikoausgleich vorgesehen. Unberücksichtigt bleiben
die erheblichen Aufwendungen der Kassen, die diese bei
Härtefällen und chronisch Kranken anstelle der Zuzahlung der Versicherten aufbringen müssen.
Aber auch die Härtefälle sind in hohem Maße ungleich
verteilt, was wiederum die AOKn in Ostdeutschland besonders trifft. Wir halten es für richtig, dass die entsprechenden Mehraufwendungen dieser Kassen von ihren
Beitragseinnahmen abgezogen werden.
Ein weiterer Kritikpunkt. Richtig ist, die so genannten
Risikofälle gesondert auszugleichen. Aber die Schwellenwerte der Aufwendungen für die Versicherten und die
Selbstbehalte der Kassen dürfen auf keinen Fall zu hoch
sein, wenn die gewünschten finanziellen Qualitätswirkungen eintreten sollen.
Sehr geehrte Frau Ministerin Schmidt, das Gesetz folgt
einer richtigen Grundidee und es ist dringend notwendig.
Vieles ist aber noch nicht zu Ende gedacht und die Debatte
über die sachgerechtesten Lösungen muss noch gründlich
geführt werden.
Leider haben die Grünen mit der Streichung des Mindestbeitrages kräftig dazu beigetragen, das ganze Paket
infrage zu stellen. Verheerend ist, dass sie diese Streichung deshalb verlangt haben, um den Kassenwettbewerb
nicht zu behindern.
Werte Kollegin Göring-Eckardt, Sie sagen zwar, es
handele sich nur um ein Instrument, aber anscheinend sehen Sie nicht mehr - oder Sie wollen es einfach nicht mehr
sehen -, dass Sie damit den Vorteil und die Freiheit der
Starken auf Kosten der Schwachen verteidigen. Sie merken nicht einmal, dass der Beifall von der verkehrten Seite
kommt und Sie das Solidarsystem damit zum Abbau freigeben. Mit uns jedenfalls wird das nicht zu machen sein.
({0})
Wir vertreten die Auffassung, dass bei allen Entscheidungen zum Risikostrukturausgleich dem Schutz und der
Stärkung des Solidargedankens höchste Priorität zukommen muss.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Hildegard Wester.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Seit der Einführung des RSA 1992
haben eine Reihe von Beteiligten immer wieder die Auffassung vertreten, dass der Risikostrukturausgleich nur
ein Übergangsinstrument für einige Jahre sei und dann
zurückgeführt werden könne oder gar ganz abgeschafft
gehöre. Diese Stimmen sind jetzt, nach zehn Jahren, fast
ganz verstummt.
({0})
- Bis auf Herrn Parr. Ja, ich habe das zur Kenntnis genommen.
Der damalige Bundesgesundheitsminister Horst
Seehofer hat einmal gesagt, es gebe nur wenige, die den
Risikostrukturausgleich in Gänze und mit seinen ganzen
Wirkmechanismen verstünden.
({1})
Das hat auch immer wieder dazu geführt, dass man in
ihm ein reines Subventionsinstrument für Not leidende
Kassen gesehen hat oder sogar ein gnädiges Brot reicher
Kassen für arme Kassen.
Aber, meine Damen und Herren, gerade die zahlreichen Gutachten und Stellungnahmen vieler Akteure im
Gesundheitswesen der letzten Monate, aber auch der letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass dem nicht so ist. Sämtliche Gutachten, sämtliche Experten - auch diejenigen,
die vor Jahren noch die Abschaffung des Risikostrukturausgleichs gefordert haben - sind sich heute einig, dass er
in einer wettbewerblich ausgerichteten Krankenversicherung zwingend notwendig ist.
({2})
Diese Einschätzungen nehmen wir sehr ernst und legen
nun - nach zehn Jahren - einen Gesetzentwurf vor, der die
veränderten Bedingungen berücksichtigt. Wir haben gesehen, dass der heutige Risikostrukturausgleich immer
noch zu viele Anreize bietet, sich nicht um die Versorgung
der kranken Menschen zu kümmern. Es ist für eine Krankenkasse einfacher und finanziell attraktiver, gesunde und
junge Mitglieder anzuwerben, als in die bessere Versorgung
der kranken Versicherten zu investieren. Genau hier müssen
wir ansetzen und haben das im vorliegenden Entwurf auch
getan. Wir richten den Risikostrukturausgleich zukünftig so
aus, dass die jeweilige Krankheit mit dem entsprechenden
Schweregrad genauer im RSA abgebildet wird.
Gegen diesen Weg, die so genannte Morbidität stärker
zu berücksichtigen, sehe ich keinen ernst zu nehmenden
Widerstand. Wenn alle Beteiligten die Notwendigkeit sehen, die Versorgung und auch die Vergütung im ärztlichen
Bereich und im Krankenhaus viel stärker an den tatsächlichen Krankheitsbildern auszurichten, dann ist nicht nur
folgerichtig, sondern geradezu zwingend, auch den RSA
zukünftig darauf auszurichten. Deshalb haben wir klare
Schritte im Gesetz definiert, bis zum Jahre 2007 einen
morbiditätsorientierten RSA zu erreichen. Bis dahin haben wir vorgesehen - das wurde schon mehrfach angesprochen -, einen Ausgleich besonders teurer Behandlungsfälle zwischen den Krankenkassen durch einen
Risikopool vorzunehmen.
Mit dem dritten Instrument im Gesetzentwurf, den Disease-Management-Programmen, schaffen wir Anreize
für die Krankenkassen, sich mehr als bisher um die Qualität und Effizienz der Versorgung chronisch Kranker zu
kümmern. Bisher wurden Kassen für dieses Engagement
oft bestraft, jetzt setzen wir Anreize, dass Qualität auch
belohnt wird.
Das sind die drei Kernelemente des neuen RSA und
nicht der Mindestbeitrag, Herr Lohmann.
({3})
Es war auch nicht so gedacht, dass diese Programme
durch den Mindestbeitrag finanziert werden sollen, sondern sie sollten aus dem RSA finanziert werden. Das wird
in Zukunft auch so geschehen.
({4})
Weiterhin halte ich Ihre fundamentale Kritik und Ihre
Rufe nach einer Gesamtkonzeption in dieser Debatte für
verfehlt. Eine Weiterentwicklung des RSA macht die Diskussion um die Weiterentwicklung der Gesundheitspolitik nicht überflüssig.
({5})
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, eine
Diskussion um die Weiterentwicklung der Gesundheitspolitik ohne eine zeitnahe Weiterentwicklung des RSA
macht erstere vielleicht überflüssig; denn dann wollen Sie
den radikalen Weg der Marktwirtschaft gehen und die Privatisierung von Risiken in der gesetzlichen Krankenversicherung zulassen. Diesen Weg gehen wir Sozialdemokraten nicht mit.
({6})
- Sie bemühen jetzt wieder das Papier aus dem Kanzleramt. Solange ich es offiziell noch nicht gesehen habe, ist
es für mich ein nicht existentes Papier.
({7})
- Ich spreche für die SPD-Fraktion. Die Haltung der SPDFraktion habe ich gerade dargestellt.
({8})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch mit einer Mär aufräumen: Es wird immer wieder gesagt, dass
das so genannte Transfervolumen, also die Summe, die
im RSA bewegt wird, ständig steige und der RSA damit
seine Steuerungswirkung verfehle. Genau das Gegenteil
ist der Fall: Die gestiegenen Transferzahlungen zeigen gerade, dass eine Weiterentwicklung zwingend notwendig
ist; denn je höher das Volumen ist, desto ungleicher ist die
Verteilung der Risiken auf die Krankenkassen. Das ist eigentlich eine ganz einfache Rechnung, die auch Sie verstehen müssten.
({9})
Um es noch einmal klar zu sagen: Unser Ziel ist nicht die
Erhöhung der Transferzahlungen. Unser Ziel ist es, sinnvolle
Anreize im RSA zu setzen, sich um die bessere Versorgung
der chronisch und schwerkranken Menschen zu kümmern.
Mit den in dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagenen Instrumenten sind wir auf dem richtigen Weg.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Aribert Wolf.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Das, was Rot-Grün in
der Gesundheitspolitik vorzuweisen hat, ist insgesamt
kläglich, dürftig und bedauerlich. Ich bräuchte das an dieser Stelle auch gar nicht weiter auszuführen;
({0})
denn die Menschen draußen im Land können das Tag für
Tag in den Zeitungen lesen. Sie spüren, wenn sie sich in
den Arztpraxen und Krankenhäusern behandeln lassen,
was Ihre Gesundheitspolitik angerichtet hat. Künftig können sie auf ihren Lohnzetteln schwarz auf weiß nachlesen,
was Ihre Gesundheitspolitik bewirkt hat.
({1})
Vor diesem Hintergrund kann ich verstehen, dass Sie eine
solche Minireform wie die Neuregelung des Finanzausgleichs zwischen den Krankenkassen als rettenden Strohhalm feiern wollen, wenngleich ich ehrlicherweise sagen
muss: Ein bisschen mehr Leidenschaft wäre bei diesem
Thema auch nicht schlecht gewesen.
({2})
- Sie vermissen bei mir Leidenschaft? Keine Sorge, die
kommt noch.
Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die von Ihnen
jetzt vorgelegte Reform des Finanzausgleichs etwas an
der Versorgungslage chronisch Kranker, der schlechten
Finanzlage der großen Versorgerkassen und der Jagd der
Krankenkassen vorwiegend nach Jungen und Gesunden
in den nächsten ein bis zwei Jahren ändern wird. Ich rate
Ihnen: Haben Sie einmal den Mut, den Realitäten ins
Auge zu sehen! Dann werden Sie feststellen, dass Ihre Reform den großen Versorgerkassen in den nächsten Jahren
gar nichts bringen wird. Man wird feststellen - das sage
ich voraus und gebe ich gerne zu Protokoll -, dass nach
wie vor fast nur Junge und Gesunde trotz Ihres neuen Gesetzes im nächsten und im übernächsten Jahr die Möglichkeit nutzen werden, die Krankenkasse zu wechseln.
Ich gebe zwar zu, dass ich dem inzwischen von Ihnen
aufgegebenen Vorhaben, einen Mindestbeitragssatz von
12,5 Prozent einzuführen, in keiner Weise nachtrauere;
denn ein solcher Mindestbeitragssatz hätte nur dazu geführt, dass junge Leute scharenweise zu den privaten
Krankenversicherungen abgewandert wären und dass der
solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung dadurch
Milliarden an Einnahmen verloren gegangen wären. Aber
mich erstaunt schon ein bisschen das Tempo, in dem die
Ministerin den noch gestern so hoch und heilig beschworenen Mindestbeitragssatz plötzlich gekippt hat. Darauf
möchte ich näher eingehen.
Frau Ministerin, Sie haben in einem Interview mit der
„Ärztezeitung“ am 27. April 2001 Folgendes gesagt:
Für die Übergangsfrist muss eine Lösungsmöglichkeit geschaffen werden. Dies ist der Solidarbeitrag
von 12,5 Prozent.
Wenn dieser nicht käme, so haben Sie, Frau Ministerin,
weiter ausgeführt,
können wir uns über vieles unterhalten, aber nicht
mehr darüber, wie dieses Gesundheitswesen zu annehmbaren Preisen funktioniert.
Auf den Tag genau zwei Monate später, am 27. Juni
2001, zitiert dieselbe Zeitung das Bundesgesundheitsministerium mit folgenden Ausführungen: Für dieses Ziel
sei die Einführung eines Mindestbeitragssatzes, der am
Widerstand der Bündnisgrünen gescheitert sei, „völlig unwichtig“. Wer so Politik betreibt, verspielt Glaubwürdigkeit und macht deutlich - das ist noch viel schockierender -, dass diese Regierung kein Konzept und keinen
Kompass hat, nach dem gesegelt wird.
({3})
Das Schiff „Gesundheitswesen“ ist in stürmische See
geraten und beginnt zu schlingern. Die Beitragssatzwellen klatschen nur so aufs Deck.
({4})
Ich verweise nur auf Bayern, Hamburg, Hessen und Baden-Württemberg. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von Rot-Grün, voraus, dass trotz Ihres Gesetzes zur
Neuregelung des Risikostrukturausgleichs noch kräftigere Wellen an Bord aufschlagen werden, wenn erst die
großen Ersatzkrankenkassen ihre Beitragssätze erhöhen.
Diese haben schon lauthals mitgeteilt, dass ihnen das
Wasser bis zum Hals stehe. Ihre Politik stößt ja bei diesen
Kassen auf heftige Kritik. Dieser Bundesregierung fehlt
es an Orientierung. Ihr fehlt ein Plan, wie das Schiff Gesundheitswesen an das rettende Ufer gebracht werden
kann.
Es mag sein, dass das Kippen des Mindestbeitragssatzes nur ein Racheakt der Grünen war - manche munkeln
das -, weil der Kanzler die grüne Ministerin nicht gerade
gentlemanlike entlassen hat.
({5})
Das mag glauben, wer will. Ich glaube, das Hauptproblem
ist, dass Sie keinen Plan haben, wie das Gesundheitswesen wieder auf die wesentlichen gesundheitspolitischen
Ziele hin ausgerichtet werden kann. Sie wissen überhaupt
nicht, wie Sie die Finanzierung, die angesichts der demographischen Probleme in unserem Land eine immer dramatischere Herausforderung darstellt, sichern und wie Sie
breiten Bevölkerungsschichten den medizinischen Fortschritt noch zugänglich machen wollen. Allein eine Reform des Risikostrukturausgleichs wird diese Probleme in
keiner Weise lösen.
({6})
Das Gebäude Gesundheitswesen wird immer baufälliger; seine Risse werden immer größer und immer deutlicher. Wenn Sie jetzt nicht darangehen, die dringend nötigen Reparaturarbeiten durchzuführen, dann werden Sie
erkennen: Sie werden das Gebäude nicht retten, indem Sie
die Fassade immer wieder mit neuer Farbe anstreichen.
Die Ministerin hat trotz aller Freundlichkeiten und trotz
aller Beruhigungspillen vergessen, ihren Job zu machen.
Auf Geheiß des Kanzlers lässt sie die Dinge treiben. Die
von Rot-Grün vertändelte Zeit kommt die Bundesbürger
damit teuer zu stehen; das kann jeder am eigenen Geldbeutel nachprüfen.
Wer die Verwerfungen im Gesundheitswesen nicht
rechtzeitig und tatkräftig anpackt, der wird nicht für Ruhe
sorgen, sondern er produziert täglich neue Hiobsbotschaften für Patienten, Beitragszahler und für Leistungserbringer. Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie endlich
auf, mit Minireformen an die Probleme im Gesundheitswesen heranzugehen!
Frau Ministerin, machen Sie endlich Ihren Job, damit
unser Gesundheitswesen wieder auf die richtige Bahn
kommt! Dazu brauchen Sie aber als Erstes ein Konzept.
Wir sind gespannt, ob Sie den Mut haben, ein solches
Konzept den Menschen noch vor der Wahl zu präsentieren, oder ob Sie glauben, Sie könnten sich bis nach der
Wahl mit internen Diskussionen, mit Strategiepapieren
- der eine erzählt etwas, der andere widerspricht und der
Nächste erzählt das Gegenteil - über die Runden retten.
({7})
Lesen Sie nur einmal, was alle rot-grünen Gesundheitspolitiker der Reihe nach erzählt haben. Sie werden sich
wundern und Sie werden keine gemeinsame Linie feststellen. Das ist schade.
({8})
Jetzt hat der Abgeordnete Martin Pfaff das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wolf, ich kann mir
nicht verkneifen, Folgendes zu sagen: Sie haben unserer
Ministerin doch gerade in beredten Worten Lernfähigkeit
bescheinigt. Ich denke, man kann Schlimmeres über Menschen sagen, vor allen Dingen dann, wenn sie für einen so
schwierigen Bereich wie das Gesundheitswesen Verantwortung tragen. Ich kann nur sagen: Danke, machen Sie
weiter so! Wir jedenfalls sind mit unserer Ministerin sehr
zufrieden und wir sind gerne bereit, sie zu verteidigen.
({0})
Die Wellen, die Sie angesprochen haben, schrecken
uns nicht. Als langjähriger passionierter Segler weiß ich:
Die Wellen tun dem Schiff nichts, solange der Kurs
stimmt. Wir wissen, dass der Kurs in der Gesundheitspolitik stimmt.
({1})
Es ist wichtig, einiges über die Funktionsweise, die
Instrumente und die Wirkungen des Risikostrukturausgleichs zu sagen. Herr Kollege Lohmann, Sie haben ein
Konzept, eine klare Linie vermisst. Wir verfolgen mehrere Ziele gleichzeitig. Wenn man mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt, dann braucht man mindestens so viele
Instrumente wie Ziele. Dass das Gesetz ein Bündel von
Maßnahmen enthält, ist die logische Konsequenz dessen,
was wir wollen.
Es gibt mehrere Missverständnisse. Das erste Missverständnis besteht darin, dass man glaubt, der Risikostrukturausgleich habe allein die Funktion, Chancengleichheit im Wettbewerb herzustellen.
({2})
Das ist in der Tat eine Zielsetzung. Es ist richtig, dass wir
ursprünglich nicht angetreten sind, um den Risikostrukturausgleich zu reformieren oder für Chancengleichheit
im Wettbewerb zu sorgen, sondern um den Arbeitern und
den Angestellten gleiche Chancen bei der Kassenwahl zu
verschaffen.
({3})
Wir wollten endlich die Situation beenden, dass Arbeiter
in Kassen mit geringeren Grundlöhnen mit demselben
Versicherungsanspruch wie Angestellte versichert waren
- sie hatten weniger Kassenwahlchancen -, gleichzeitig
aber höhere Beiträge zahlen mussten. Das war ungerecht
und entsprach nicht einem modernen gesellschaftspolitischen Leitbild.
({4})
Diese Ungerechtigkeit zu beseitigen war unsere gesellschaftspolitische Zielsetzung. Die Ausweitung der
Kassenwahlrechte war eine Konsequenz. Der Risikostrukturausgleich war ein Ergebnis der Ausweitung des
Wettbewerbs.
Unser zweites Ziel - das möchte ich ganz deutlich betonen - war und ist die Ausweitung der Solidarität der
Starken gegenüber den Schwachen. Der Risikostrukturausgleich hat den Effekt, dass Gesunde für Kranke, Junge
für Alte, Männer für Frauen und, sofern Frauen erwerbstätig sind, umgekehrt, Kinderlose für Paare mit Kindern
und Menschen mit breiteren wirtschaftlichen Schultern
für solche mit schmaleren Schultern einstehen.
({5})
Das ist das Herzstück dessen, was man als Sozialstaat bezeichnet. Das ist das Herzstück dessen, was soziale
Marktwirtschaft ist.
Das zweite Missverständnis lautet, dass der Risikostrukturausgleich nur auf Zeit und übergangsweise erforderlich ist. Mit Ihren eigenen Worten haben Sie gesagt,
dass dieser Ausgleich Faktoren neutralisieren soll, die die
einzelne Kasse mit eigener Kraft nicht verändern kann,
nämlich zum Beispiel die Altersstruktur, die Geschlechtsstruktur, die Zahl der Mitversicherten und die Grundlöhne. Vor dem Hintergrund, dass man diese nicht kurzfristig verändern kann, kann man auch nicht fordern, dass
der Risikostrukturausgleich nur übergangsweise stattfindet. Stellen wir uns doch einmal vor, wir hätten in den
vergangenen Jahren keinen Risikostrukturausgleich gehabt. Die Gutachter haben gesagt, dass dann die Beitragssatzspanne zwischen 7 Prozent und 21 Prozent liegen
würde. Wir hätten eine Risikoentmischung in einem Umfang, die das ganze System gefährden würde.
Ich komme nun zum dritten Missverständnis. Herr Parr,
Sie sagen, wir brauchen nicht mehr, sondern weniger Risikostrukturausgleich. Andere sagen wiederum, dass die
durch den Risikostrukturausgleich bewegte Summe in
Höhe von 23 Milliarden DM zu hoch sei. Hier handelt es
sich um eine klassische Verwechslung von Ursache und
Wirkung. Wenn Sie eine perfekte Risikomischung haben
und keine private Krankenversicherung - ({6})
- Nein, ich rede über Risikomischung und nicht über
Strukturen.
({7})
Selbst eine private Krankenversicherung könnte niemals
überleben, wenn sie nicht gute und schlechte Risiken
hätte. Wie hoch ist denn das Finanzvolumen des Risikostrukturausgleichs, wenn man eine perfekte Risikomischung hat?
({8})
- Das beträgt null, genau. Deshalb ist der Anstieg der
Transferzahlungen ein Reflex der Tatsache, dass eine Entsolidarisierungswelle und eine Risikoentmischung stattfinden. Der Risikostrukturausgleich funktioniert wie ein
Stabilisator, ein Stoßdämpfer.
({9})
Je unebener die Straße ist, desto mehr bewegt er sich.
Herr Parr, die Forderung, den Risikostrukturausgleich
zurückzuführen oder abzuschaffen, ist ungefähr genauso
intelligent - Entschuldigung, das ist nicht persönlich,
sondern fachlich gemeint - wie der Ausbau der
Stoßdämpfer, wenn man in eine Region mit schlechten
Straßen kommt, um diese zu schonen.
({10})
Das vierte Missverständnis lautet: Die bestehenden
Ausgleichsfaktoren wie zum Beispiel Alter und Geschlecht reichen aus, um einen für alle Gruppen chancengleichen Wettbewerb zu sichern. Wir haben festgestellt,
dass dies eben nicht ausreicht. Es gab zwei Fehlentwicklungen, und zwar zum einen die Diskriminierung der
chronisch Kranken und zum anderen die Entsolidarisierung durch Polarisierung, nämlich Kassen für Junge und
Gesunde mit niedrigen Beitragssätzen und Versorgungskassen für Alte und Kranke mit höheren Beitragssätzen.
Ich frage Sie: Wie lange könnte eine solche Entwicklung
dauern, bis das System zusammenbricht? Was ist gewonnen, wenn das System zusammenbricht? Die Menschen
bleiben doch.
({11})
Wir haben in Lahnstein den Risikostrukturausgleich
gemeinsam eingeführt.
({12})
Auch das GKV-Finanzstärkungsgesetz zugunsten der
Ostkassen haben wir gemeinsam durchgesetzt. Wir tragen
gemeinsam die Verantwortung für die Fehlentwicklungen. Deshalb appelliere ich an Sie: Lassen Sie uns in den
Anhörungen Anregungen aufnehmen und diese umsetzen.
({13})
Ich bin fest davon überzeugt, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition: Die großen Stunden des Parlaments kommen nicht dann, wenn man sich in Parteienstreit ergeht. Die großen Stunden des Parlaments kommen
dann, wenn zugunsten der Menschen in unserem Lande
eine Gemeinsamkeit über Parteien hinweg stattfindet.
({14})
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tagungsordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/6432 und 14/5681 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichtes des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
({1})
- Drucksachen 14/542, 14/2007 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg van Essen
Joachim Hörster
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es hier-
gegen Widerspruch? - Nein. Dann ist das so beschlossen.
Sind Sie damit einverstanden, dass wir die Rede der
Abgeordneten Heidi Knake-Werner zu Protokoll neh-
men? - Das ist der Fall.1)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Uwe Küster.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Es geht um einen Antrag
der CDU/CSU-Fraktion aus dem Frühjahr 1999. Der Antrag ist somit über zwei Jahre alt. Das ist für den politischen Bereich eine sehr lange Zeit. Ich glaube daher, dass
ich den wesentlichen Inhalt kurz darstellen sollte.
Die CDU/CSU möchte zusätzlich zu den bestehenden
drei Möglichkeiten zur Durchführung einer Aktuellen
Stunde eine vierte einführen. Nach ihrem Willen soll es
möglich sein, im Anschluss an die 30-minütige Befragung
der Bundesregierung in eine allgemeine Aussprache des
Deutschen Bundestages nach den Regeln für eine Aktuelle Stunde einzutreten. Damit wäre einer Fraktion die
Möglichkeit gegeben, aus der zeitlich und thematisch in
der Regel sehr eng begrenzten Regierungsbefragung unmittelbar eine zeitlich und thematisch ausufernde Debatte
zu entwickeln.
Es wird sofort klar: Dieser Antrag ist ein typischer Oppositionsantrag.
({0})
Grund des Antrags ist nicht etwa die Erweiterung des
Rechts der Opposition und der Öffentlichkeit auf Information und Transparenz. Nein, das Gegenteil ist der Fall.
Hier wird versucht, das Parlament zu einem schon in der
Sache fragwürdigen Schlagabtausch über den Regierungsalltag zu nutzen.
({1})
Der Parlamentsablauf würde hierdurch unberechenbar.
Ich vermag in diesem Versuch keinen konstruktiven parlamentarischen Gedanken zu erkennen. Im Gegenteil: Mit
diesem Antrag leistet die Union einem transparenten und
offenen Parlamentarismus einen Bärendienst.
Lassen Sie mich dies begründen. Bereits jetzt stellt die
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages drei Möglichkeiten bereit, Aktuelle Stunden herbeizuführen. Aktuelle Stunden dienen dazu, den notwendigerweise langfristig geplanten Plenarablauf sehr kurzfristig aktuell gestalten
zu können. Die Debatte soll hierdurch lebhafter und interessanter werden. Der Öffentlichkeit soll deutlich gemacht
werden, dass die Themen, die sie beschäftigen, auch von
der Volksvertretung beraten werden.
Eine Aktuelle Stunde ist notwendig. Andernfalls
könnte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass
das Parlament seine Debatten unbeeinflusst von den aktuellen Themen der unmittelbaren Gegenwart führt. Das
Instrument der Aktuellen Stunde ist daher - dies möchte
ich als Parlamentarier selbstkritisch anmerken - auch ein
Tribut an ein schnelllebiges Medienzeitalter. Auch das
Parlament muss auf aktuelle gesellschaftliche Themen
schnell reagieren können. Sonst bestünde die Gefahr, dass
sich zu wichtigen Themen zwar die Bundesregierung, die
Parteien, Fachleute aller Art und letztlich auch noch die
Feuilletonisten äußern, aber nicht die demokratisch legitimierte Vertretung des Volkes.
Wird ein wichtiges Thema in der Öffentlichkeit kontrovers behandelt, muss das Parlament zeitnah hierzu
Stellung beziehen können. Dass von diesem Instrument
naturgemäß die Oppositionsfraktionen mehr Gebrauch
machen als die Regierungsfraktionen, ist nur allzu verständlich. Schließlich hat die Opposition keine Regierungsmitglieder, die ihre Politik erläutern könnten. In Bezug auf die Union möchte ich sagen: Und das ist auch gut
so. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass die von Ihnen beantragten Aktuellen Stunden regelmäßig zu einem zusätzlichen Forum für die überzeugende Darstellung unserer
Regierungspolitik werden.
({2})
Ich bin ganz und gar nicht gegen eine Vielzahl von Aktuellen Stunden.
({3})
Sie nützen schließlich unserer und nicht Ihrer Politik.
Ich wende mich nicht gegen das Instrument der Aktuellen Stunde. Ich wende mich aber ganz entschieden gegen den Versuch, diese gute parlamentarische Einrichtung
zu einem Exerzierfeld von taktischen Spielchen zu machen.
({4})
Genau dies ist die Stoßrichtung Ihres Antrags.
Es besteht keine Notwendigkeit für eine Aktuelle
Stunde im Anschluss an die Befragung der Bundesregierung. Sie wäre auch nicht sinnvoll. Die gegenwärtig in
Anlage 5 der Geschäftsordnung geregelten Tatbestände
über Aktuelle Stunden sind völlig ausreichend. Dass Sie
das auch so sehen, Herr von Klaeden, zeigt sich bereits daran, dass Sie die Beratung Ihres Antrags zwei Jahre lang
nicht vermisst haben.
({5})
Die Entbehrlichkeit Ihres Antrags wird augenfällig, wenn
man sieht, wie oft überhaupt von der Möglichkeit einer
Aktuellen Stunde im Anschluss an eine Fragestunde
Gebrauch gemacht wird. Das ist nämlich nur sehr selten
der Fall. In der gesamten bisherigen Wahlperiode wurden
bisher insgesamt nur zehn Aktuelle Stunden aus der Fragestunde heraus entwickelt.
({6})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
1) Anlage 2
Eine Dringliche Frage war sogar - darauf komme ich
noch zurück - in nur einem einzigen Fall Anlass; und dies
bei bisher insgesamt 57 Sitzungswochen mit insgesamt
108 Aktuellen Stunden.
({7})
- Im Gegenteil. Diese Zahlen belegen nicht gerade das
dringende Bedürfnis nach der Einführung neuer Tatbestände. Vielmehr zeigen sie, dass die Entwicklung einer
Aktuellen Stunde aus der Fragestunde heraus nicht gerade
der Regelfall ist. Es handelt sich hierbei um Ausnahmefälle.
Wieso wird nur so selten eine Aktuelle Stunde auf diesem Wege beantragt? Die Antwort ist sehr einfach: Wir
alle wollen unsere Themen aktuell, aber auch fundiert beraten sehen. Dies gilt für uns ebenso wie für die
Oppositionsfraktionen. Daher ist es Vorschrift, die Themen der gewünschten Aktuellen Stunde einen Tag zuvor
beim Präsidenten einzureichen. Nach guter parlamentarischer Übung hat jede Fraktion Gelegenheit, ein von ihr
gewünschtes Thema auf die Tagesordnung zu setzen.
Die wirklich bedeutenden Themen - ich nenne hier als
Beispiel die Rentenreform - sind keine Eintagsfliegen.
Sie behalten für eine längere Zeit ihre Aktualität. Möchte
eine Fraktion ein solches Thema in herausgehobener Art
und Weise angesprochen haben, kann sie dies zumindest
einen Tag vorher wissen. Ich glaube nicht, dass die Frist
von einem Tag unzumutbar ist.
Diese Regelung hat aus meiner Sicht einen entscheidenden Vorteil: Die Fraktionen und die Bundesregierung
können die Debatte seriös vorbereiten. Die Öffentlichkeit
bekommt ein präzises Bild der politischen Standpunkte
vermittelt. Dies ist nach meinem Verständnis ein wesentlicher Sinn von Plenardebatten. Das können Spontandebatten - so lebhaft und notwendig sie auch sind - nicht
leisten.
Die Analyse trifft, wenn auch eingeschränkt, auch auf
die Aktuellen Stunden zu, die sich aus der Fragestunde
entwickeln. Sie werden naturgemäß von der Opposition
beantragt. Die Opposition macht dies, um ein Thema aus
der Fragestunde heraus aufzublähen. Meine Damen und
Herren von der Opposition, die Erfahrung zeigt, dass Ihre
Bemühungen an dieser Stelle vergeblich sind. Ich habe
von den bisher von Ihnen beantragten Aktuellen Stunden
im Anschluss an eine Fragestunde keine einzige mehr als
wesentlich in Erinnerung. Auch dies zeigt, dass kurzfristig und inhaltlich eng angelegte Debatten nicht das
leisten können, was eine Aktuelle Stunde leisten soll: aktuelle Themen in einem transparenten Verfahren umfassend zu beraten.
Im Übrigen: Das Verfahren garantiert bereits ein
Höchstmaß an Aktualität. Ein bis 12 Uhr am Vortag eingereichtes Verlangen auf Aufsetzung einer Aktuellen
Stunde auf die Tagesordnung des Folgetages reicht bereits
aus. Darüber hinaus kann sich eine Aktuelle Stunde auch
aus einer Dringlichen Frage im Anschluss an die Fragestunde ergeben. Man sieht hier die verschiedenen geschäftsordnungsrechtlichen Möglichkeiten, flexibel auf
aktuelle Fragestellungen zu reagieren.
Der von Ihnen vorgeschlagene Weg ist aufgrund seiner
Anknüpfung an die Befragung der Bundesregierung
bedenklich. Die Befragung der Bundesregierung ist vorrangig dazu da, Erkenntnisse aus der vorangegangenen
Kabinettssitzung zu gewinnen. So soll der Opposition
zum Beispiel die Möglichkeit gegeben werden, Einzelheiten über Kabinettsbeschlüsse zu erfahren. Im Regelfall
ist der hierfür vorgesehene Zeitraum von 30 Minuten völlig ausreichend. Bei Bedarf kann der amtierende Präsident
die Debattenzeit über diese Zeit hinaus verlängern.
Sie argumentieren nun, dass es aufgrund der mündlich
gegebenen Antworten der Bundesregierung oftmals „das
dringende und unaufschiebbare Bedürfnis“ gebe, die erteilten Auskünfte zu debattieren. Weitere Sachaufklärung
kann dies aber nicht bringen. Aber das wollen Sie auch gar
nicht. Sie wollen in der Sache gar keine Aktuelle Stunde
mit dem Ziel der Information der Öffentlichkeit. Sie wollen die Bundesregierung aus rein taktischen Gründen in
formale Schwierigkeiten bringen.
({8})
Inhaltlich möchten Sie nicht diskutieren. Auch Sie
bräuchten ja eine Vorbereitungszeit für Ihre inhaltlichen
Anliegen. Oder wissen Sie die richtigen Antworten bereits
im Voraus?
({9})
Das ist natürlich nicht so. Sie wollen vielmehr die Möglichkeit haben, gleichsam ein bisschen aus der Hüfte zu
schießen.
({10})
Sie suchen den kurzfristigen, schnellen Erfolg im Formalen. Das Parlament soll in eine unvorbereitete Debatte
über offensichtlich herbeigeredete Themen hineingehetzt
werden.
({11})
Ein Bezug zu einer öffentlichen Diskussion erscheint entbehrlich. Seriöse parlamentarische Arbeit kann so nicht
geleistet werden. Ich kann nicht ausschließen, dass Sie
das auch so wollen. Ich jedenfalls erkenne in Ihrem Antrag keine inhaltlichen Anliegen. Sie wollen nur taktieren.
({12})
Sie wollen Opposition um des Opponierens willen betreiben. Dies lehnen wir ab.
({13})
Lassen Sie mich zuletzt noch auf einen weiteren Grund
eingehen, der die Ablehnung Ihres Antrags schon für sich
genommen nötig macht. Wir müssen uns bei jeder Änderung der Geschäftsordnung fragen, welche Auswirkung
sie für die Arbeit des gesamten Parlamentes hat. Die
hier vorgeschlagene Änderung würde bei ihrer Verwirklichung zu einer Zerfaserung der Sitzungswoche führen;
denn die Durchführung einer Aktuellen Stunde im direkten Anschluss an die Befragung der Bundesregierung
hätte eine Verlegung der meist an die Fragestunde anschließenden Aktuellen Stunde zur Folge.
({14})
Diese Notwendigkeit ist zwar schon heute manchmal
gegeben, doch wäre die Ausweitung dieser Konfliktfälle
der Öffentlichkeit wenig vermittelbar. Es könnten dann
gleich drei Aktuelle Stunden miteinander konkurrieren,
wobei die eine die andere verdrängen würde.
({15})
Die nachfolgende Aktuelle Stunde soll dann weniger aktuell sein? Sie müssten erklären, warum durch diesen Mechanismus plötzlich etwas Aktuelles verdrängt wird. Das
kann so nicht richtig sein.
Die Aktuellen Stunden würden im Übrigen die Planungen hinsichtlich der weiteren Debatten zusätzlich belasten. Der ohnehin übervolle Plenardonnerstag wäre
dann weniger planbar. Sie würden die Qualität der Debatten mindern und die Belastung der Parlamentarier erhöhen. Das alles wollen wir nicht.
Ich möchte jedoch keinen falschen Eindruck aufkommen lassen. Meine Fraktion hat sich in der Vergangenheit
niemals dem Wunsch verschlossen - das wissen Sie, Herr
van Essen, Herr von Klaeden -, vereinbarte Debatten zu
aktuellen Themen durchzuführen. Wir haben uns auch
und gerade gegenüber den Wünschen der Minderheiten
immer aufgeschlossen gezeigt. Wir werden das auch in
Zukunft so kooperativ handhaben.
Aber wir wollen hochwertige und aktuelle Debatten.
Wir begrüßen die Durchführung von Aktuellen Stunden
ganz ausdrücklich. Wir wollen die Debattenkultur stärken
und die Plenardebatten lebhaft gestalten. Der Vorschlag
der CDU/CSU-Fraktion zur Änderung der Geschäftsordnung widerspricht unseren Bemühungen. Er ist nicht hilfreich, er ist unnötig und stellt für die Debattenkultur in
diesem Hohen Hause einen Rückschritt dar.
Wir teilen das ablehnende Votum des Geschäftsordnungsausschusses zu diesem Antrag. Meine Fraktion
lehnt den Antrag daher ab.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Eckart von Klaeden.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kollegen! Lieber Herr Küster,
dass Sie unseren Antrag ablehnen, erstaunt mich nicht.
Mich enttäuscht allerdings ein wenig, dass Sie das nicht
wenigstens mit einem kleinen Augenzwinkern tun; denn
einerseits malen Sie hier das Szenario an die Wand, dass
die parlamentarischen Beratungen durch die Auseinandersetzung in der Aktuellen Stunde unberechenbar
werden würden, und andererseits wollen Sie gleichzeitig
die freie Rede und die Debattenkultur hochhalten. Ich bin
erstaunt, welch gestörtes Verhältnis zur politischen Auseinandersetzung und zur parlamentarischen Debatte und
welche Angst Sie letztlich vor der freien Rede und der
offenen Auseinandersetzung hier zum Ausdruck bringen.
({0})
- Ich kann nicht gegen Sie anschreien, meine Damen und
Herren von der SPD; ich bin etwas erkältet. Deswegen
bitte ich Sie, ein bisschen Rücksicht zu nehmen.
({1})
Wenn Sie zum Beispiel meinen, Herr Kollege Küster,
der Regierung sei es nicht möglich, sich auf eine Aktuelle
Stunde, die sich aus der Regierungsbefragung entwickle,
seriös vorzubereiten
({2})
- das hat doch der Kollege Küster gerade ausgeführt -, so
will ich Sie doch wenigstens darauf hinweisen, dass das
Thema der Regierungsbefragung von der Regierung selber festgelegt wird. Die Vorstellung, dass die Regierung
unvorbereitet in eine Aktuelle Stunde hineingehen müsste
bei einem Thema, das sie selber für die Regierungsbefragung ausgewählt hat, finde ich doch reichlich absurd.
Wir alle führen immer wieder Klage über den angeblichen oder tatsächlichen Verlust der Bedeutung des Parlaments. Wir haben im aktuellen „Focus“ auf dem Foto
der Woche einen kaum besetzten Plenarsaal bei der
Regierungsbefragung gesehen. Ihnen, Herr Küster, will
ich wenigstens zugestehen, dass Sie einer von den beiden
Abgeordneten der SPD waren, die bei den Ausführungen
des Bundesfinanzministers anwesend waren. Allein dieses Foto zeigt doch, dass wir uns alle darüber Gedanken
machen müssen, wie wir die Regierungsbefragung interessanter und abwechslungsreicher gestalten können;
denn dass von Ihrer Seite nur zwei Kollegen anwesend
waren, zeigt doch, dass das auch für Sie kein Ort der vernünftigen politischen Auseinandersetzung ist.
({3})
Deswegen wollen wir in einer ganz dezenten Art und
Weise die Möglichkeit der politischen Auseinandersetzung erweitern. Ich wünschte mir, dass Sie sich als Abgeordnete der Mehrheit und nicht nur als Erfüllungsgehilfen
der Regierung verstehen, und sich auch der Frage widmeten, ob nicht auch ab und zu mit der Regierung eine Frage
im Parlament kontrovers diskutiert werden kann.
({4})
Wenn Sie weiterhin die Sorge haben, dass die politische Auseinandersetzung im Wesentlichen nur den Zweck
hat, unsachlich zu sein, die Bevölkerung zu verwirren
({5})
und die sachliche Auseinandersetzung zu vernebeln, dann
sagt das mehr über Ihr Parlamentarismusverständnis als
über unseren Antrag aus.
({6})
Meine Damen und Herren, wir wollen die Möglichkeit
schaffen, aus der Regierungsbefragung eine Aktuelle
Stunde zu entwickeln. Die Aktuelle Stunde wurde einmal
eingeführt, um den Abgeordneten, die mit einer Antwort
der Regierung in der Fragestunde nicht zufrieden waren,
die Gelegenheit zur weiteren Bewertung und Diskussion
eines politischen Sachverhalts zu geben. Schließlich
kommt es häufig vor, dass die Bundesregierung auf Anfragen erkennbar nicht vollständig und nicht zutreffend
antwortet.
({7})
Bislang kann eine Aktuelle Stunde nur zu einer mündlichen Antwort der Bundesregierung in der Fragestunde
verlangt werden, nicht jedoch zu der mündlichen Antwort
auf eine Frage in der Regierungsbefragung. Die Parlamentspraxis zeigt, dass es immer häufiger vorkommt,
dass sich aus der Regierungsbefragung ein Bedarf nach
einer Aussprache ergibt, der dringend und nicht aufschiebbar ist. Es ist schlicht nicht einzusehen, dass der
Antragsteller für eine Aktuelle Stunde nach der geltenden
Rechtslage auf das allgemeine Antragsrecht verwiesen
werden muss, was zur Folge hat, dass die Aktuelle Stunde
zu diesem Thema dann, wenn überhaupt, erst am
übernächsten Tag stattfinden könnte, sofern nicht der Antrag einer anderen Fraktion vorgeht. - Dies als erster
Punkt zur Begründung unseres Antrages.
Der zweite Punkt: Die Einreichung einer mündlichen
Anfrage liegt zeitlich immer viel weiter zurück als die
aktuelle Kabinettssitzung vom Vormittag oder andere
aktuelle Meldungen über Beratungen der Bundesregierung, zu denen dann auch nachgefragt werden kann. Die
Themen der Regierungsbefragung sind also mindestens so
aktuell, häufig noch aktueller als die mündlichen Anfragen,
zu denen nach der Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde
beantragt werden kann. Deshalb wäre es doch nur folgerichtig, dem allgemeinen aktuellen Interesse an einer Aussprache im Anschluss an eine Regierungsbefragung noch
am selben Tag, am Mittag oder Nachmittag, zu folgen und
die Gelegenheit zu geben, dazu eine Aktuelle Stunde zu beantragen. Die Regierung selber betont ja die Wichtigkeit
und die Aktualität des Themas dadurch, dass sie dieses
Thema für die Regierungsbefragung ausgesucht hat.
({8})
Wenn wir als Parlament aktuell und zeitnah zu den Entscheidungen der Bundesregierung handeln und unsere
Kontrollfunktion auch wahrnehmen wollen, halte ich es
geradezu für zwingend, dass wir unsere Möglichkeiten,
aktuell zu sein, auch wirklich wahrnehmen und sie dort erweitern, wo es nötig ist. Deshalb möchte ich alle Fraktionen ausdrücklich auffordern, unserem Antrag zu folgen.
Schließlich müssen wir doch mit Sorge die Entwicklung
beobachten, dass die aktuellen politischen Auseinandersetzungen immer weiter weg vom Parlament und immer
mehr hinein in Fernsehtalkrunden verlegt werden.
({9})
Das Bedürfnis nach Aktuellen Stunden aus den Reihen
der Abgeordneten wird übrigens immer größer. Aus den
25 Fragestunden im ersten Halbjahr 2001 wurden vier Aktuelle Stunden entwickelt. 1999 gab es - auf das ganze
Jahr gerechnet - nur zwei Aktuelle Stunden aus Fragestunden. Wäre es möglich, eine Aktuelle Stunde aus der
Regierungsbefragung zu verlangen, gäbe es - so meine
Prognose - einige Aktuelle Stunden mehr. Zudem könnte
das Verlangen zur Durchführung einer Aktuellen Stunde
auch auf unzureichende Antworten der Regierung in der
Regierungsbefragung gestützt werden.
Ich will für diese unzureichende Beantwortung von
Fragen bzw. die unzureichende Vorbereitung darauf nur
ein Beispiel nennen - eines von vielen -, nämlich den
Auftritt der Staatssekretärin Hendricks am 5. Juli 2000 in
der Regierungsbefragung im Bundestag, zu der sie von
Herrn Bundesminister Eichel geschickt wurde, um von
der vorangegangenen Kabinettssitzung zu berichten.
Durch unsere Frage an sie kam heraus, dass sie an der Beratung des Kabinetts zu dem in der Regierungsbefragung
genannten Thema überhaupt nicht teilgenommen hatte.
Es ist nicht nur peinlich, wenn man zugeben muss, über
eine Kabinettssitzung zu berichten, bei der man nicht einmal zugegen war. Dies zeigt auch, wie ernst die Bundesregierung ihre parlamentarischen Pflichten nimmt.
Zu beklagen ist auch immer wieder, dass die Bundesregierung auf schriftliche Fragen nicht in der vorgeschriebenen Wochenfrist antwortet und häufig nicht einmal den Grund mitteilt, warum die Frist immer wieder
und immer mehr nach hinten gezogen wird. Besonders
krass fallen da das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium auf. Die krassesten Fälle, die wir in
diesen Wochen haben erleben müssen, betreffen Fristüberschreitungen um fünf, vier und drei Wochen. Ich
meine, dass das nicht sein darf und wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir auch zu aktuellen Themen
die Debatte erleichtern und bereichern können.
({10})
Deswegen darf ich Sie herzlich bitten, diesem Antrag
zuzustimmen. Wenn Sie schon Ihr Kritikvermögen bezüglich der Regierungspolitik an der Mehrheitspforte abgegeben haben, so will ich doch wenigstens den einen
oder anderen von Ihnen - insbesondere die Kollegin
Rennebach, die sich ja gerade durch außerordentlich qualifizierte Zwischenrufe ausgezeichnet hat,
({11})
von denen ich hoffe, dass sie alle ins Protokoll gelangt
sind -, an die Initiativen Ihrer Fraktion zur Änderung der
Geschäftsordnung in der letzten Legislaturperiode erinEckart von Klaeden
nern. Vielleicht wahren Sie ja in diesem Falle - wenn Sie
sich schon bei den großen Themen nicht an Ihre eigenen
Anträge erinnern - eine gewisse Kontinuität und tun das,
was Sie vor der Wahl versprochen haben.
In diesem Sinne darf ich Sie bitten: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
({12})
Gehen Sie
milde mit dem Kollegen von Klaeden um; er hat zweieinhalb Stunden Redezeit eingespart.
({0})
- Was habe ich gesagt?
({1})
- Zweieinhalb Stunden? Nein, das wäre wirklich zu viel.
Aber immerhin zweieinhalb Minuten!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Werte Kollegen und Kolleginnen! Ich hoffe, daraus wird dann nicht der nächste Geschäftsordnungsantrag,
die Redezeit der CDU generell auf zweieinhalb Stunden
auszudehnen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lehnt den Geschäftsordnungsantrag der CDU/CSU-Fraktion ab. Ich
möchte diese Ablehnung auch begründen:
Sie haben vorgetragen, dass es ein dringendes Bedürfnis Ihrer Abgeodneten für eine Erweiterung der Möglichkeit, Aktuellen Stunden im Deutschen Bundestag durchzuführen, gibt. Nun möchte ich nicht in Abrede stellen,
dass wir im Parlament gemeinsam immer wieder diskutieren und nach Möglichkeiten suchen sollten, unsere eigene Arbeit hinsichtlich Transparenz, Bürgerfreundlichkeit, auch der Herstellung von Öffentlichkeit von
Debatten und natürlich auch von Aktualität zu verbessern.
Aber wenn Ihr Antrag, Herr von Klaeden, bereits vor zwei
Jahren hier im Plenum in das Verfahren eingebracht worden ist - und dies auch noch auf den dringenden Wunsch
der Abgeordneten Ihrer Fraktion hin -, dann frage ich
mich, worin die Aktualität des Themas besteht.
({0})
- Nein, nein; es geht auch um die Aktualität von Anträgen, die wir hier im Plenum behandeln, und ich frage
mich, ob dieser Antrag Ihrer Fraktion auf Änderung der
Geschäftsordnung dadurch eine neue Aktualität bekommen hat, dass der Wahlkampf für den nächsten Bundestag
vor der Tür steht.
({1})
Meine zweite Begründung für die Ablehnung dieses
Antrages beruht auf meiner Befürchtung, dass wir durch
diese Möglichkeit eine Verschlechterung der Qualität
der Debatten bewirken. Wenn ich mir anschaue, wie sich
die Fragestunden hier im Parlament - und teilweise auch
die Aktuellen Stunden - in der Vergangenheit entwickelt
haben, dann glaube ich nicht, dass es gerade dies ist, was
die Bürger manchmal an der politischen Arbeit stört, nämlich dass zu wenig Debatten dieser Art geführt werden, die
einen kurzfristigen aktuellen Schlagabtausch ermöglichen. Mein Eindruck bei der Arbeit vor Ort, wenn ich mit
den Bürgern darüber diskutiere, ist vielmehr, dass sie sich
mehr vertiefende, grundsätzliche Debatten, die manchmal
auch von ein bisschen mehr Nachdenklichkeit geprägt
sind - wie beispielsweise beim Thema Gentechnik -, und
nicht das oftmals doch etwas stark auf den politischen
Schlagabtausch zielende Debattieren in den Aktuellen
Stunden wünschen.
({2})
Die Kurzfristigkeit, die mit der Debattenform, die Sie
hier vorschlagen, verbunden ist, impliziert, dass sich die
Abgeordneten auf diese Art von Debatten nicht ausreichend vorbereiten können. Das unterscheidet die Möglichkeit, eine Aktuelle Stunde aus der Regierungsbefragung heraus zu entwickeln, von der Möglichkeit, eine Aktuelle
Stunde aus der Fragestunde heraus zu entwickeln. In den
Fällen ist natürlich die Vorbereitungszeit für die Abgeordneten vorhanden. Man führt in der Regel eine Recherche
durch, um eine Frage einzubringen. Auch bei dringlichen
Fragen habe zumindest ich das bisher immer getan.
({3})
Hierfür ist eine Vorbereitung notwendig, die die Abgeordneten bei der Form, die Sie vorschlagen, nicht mehr
leisten müssten. Diese mangelnden Recherchen und Vorbereitungen würden zu einem relativ flachen Niveau in
diesen Debatten führen.
Ein weiterer Grund, den ich anführen möchte, ist, dass
die Möglichkeit der Entwicklung von Aktuellen Stunden
aus der Fragestunde heraus bisher überhaupt nicht ausgeschöpft worden ist. Der Kollege Küster hat Ihnen die entsprechenden Zahlen genannt; ich möchte sie nicht wiederholen. Es gab sehr wenige Aktuelle Stunden zum einen
aus der Fragestunde und zum anderen aus den dringlichen
Anfragen heraus.
Das ging sogar so weit, Herr von Klaeden, dass Sie bei
einem Thema, bei dem Ihre Fraktion sehr viele Fragen für
die Fragestunde eingereicht hatte und bei dem Sie auch in
der Fragestunde immer wieder insistiert hatten, die Regierung würde nicht ausreichend oder ausweichend antworten und Ihnen würden die Antworten nicht gefallen, mit
dieser Begründung sehr wohl die Möglichkeit gehabt hätten, eine Aktuelle Stunde anzuschließen. Ihre Geschäftsführung hat aber bewusst auf diese Möglichkeit verzichtet,
({4})
weil Ihnen gar nicht an einer Aktuellen Stunde zu diesem
Thema gelegen war.
Von daher meine ich, dass die Geschäftsordnung ausreichend Möglichkeiten vorsieht, solche Debatten zu
führen. Ich plädiere dafür, dass wir unser Augenmerk bei
der Weiterentwicklung der parlamentarischen Arbeit darauf richten, die Debatten in der Qualität und nicht unbedingt in der Quantität zu verbessern.
Danke.
({5})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Jörg van Essen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gerade aufmerksam zugehört
({0})
und überlegt, ob es irgendein Argument gegen den Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion gegeben hat, das wirklich
überzeugt hat. Wenn man das Ganze wertet, muss man
feststellen: Dieses gibt es nicht.
({1})
Denn all die Gefahren, die aufgezeigt worden sind
- Missbrauch oder man könne sich nicht vorbereiten -,
sind doch Argumente, die nicht wirklich überzeugen.
({2})
Denn die Bundesregierung bestimmt Themen für die Regierungsbefragung, die in der öffentlichen Diskussion stehen. Deshalb gibt die Bundesregierung schließlich bestimmte Themen in die Kabinettsberatungen und legt dann
auch Wert darauf, darüber intensiver zu informieren. Daher
erwarte ich von jedem Regierungsmitglied, dass es in der
Lage ist, frei dazu zu reden, wie wir es als Abgeordnete nach
unserer Geschäftsordnung schließlich auch tun müssen.
({3})
Deshalb erwarte ich auch, dass die Abgeordneten den
Stoff beherrschen und dazu etwas sagen können. Ich
meine auch nicht, dass die Gefahr eines Missbrauchs
wirklich besteht.
Alle Fraktionen überlegen sich zu Beginn der Woche,
welches Thema sie gegebenenfalls zum Gegenstand einer
Aktuellen Stunde machen. Deshalb wird sehr sorgfältig
überlegt, aus einer Regierungsbefragung eine neue Aktuelle Stunde zu entwickeln, die nicht vorgeplant ist. Das
wird nur in Ausnahmefällen geschehen. Das heißt also,
dass für ein solches Vorgehen schon eine vernünftige Begründung dafür vorliegen muss.
Deshalb ist das, was ich als Vertreter der F.D.P.-Fraktion im Geschäftsordnungsausschuss vorgeschlagen habe,
nach meiner Auffassung vernünftig: Es hat sich im Bundestag immer wieder bewährt, dass wir neue Formen einfach einmal ausprobiert haben.
({4})
Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass wir das machen,
was wir bei vielen anderen Änderungen auch gemacht haben, nämlich eine Erprobungsphase, einen Zeitraum von
einem halben oder ganzen Jahr, festzulegen und anschließend zu entscheiden; ob das gut war bzw. sich nicht bewährt hat.
({5})
Sie alle wissen, dass es Dinge wie die Kurzintervention
gegeben hat, bei denen wir nachher alle der Auffassung
waren, dass sie gut waren, und sie deshalb fortgesetzt haben.
Es ist interessant, dass es gerade Kollegen von der
SPD-Fraktion waren, zum Beispiel der Kollege Conradi,
die immer wieder für diese Möglichkeit gefochten und
beispielsweise auf die guten Erfahrungen damit in Großbritannien hingewiesen haben.
Ich bin dafür, dass wir es auch probieren. Deshalb werden wir gegen die Beschlussempfehlung stimmen, die das
Ganze ablehnt. Wir sind für eine Erprobung neuer Formen
im Deutschen Bundestag.
({6})
Es kann uns nur dienen, wenn wir aktuelle Themen aufgreifen und die Bevölkerung das Gefühl hat, wir diskutieren aktuelle und nicht nur solche Themen, die möglicherweise schon ein paar Mal durchgekaut worden sind.
Es tut uns und vor allen Dingen auch unserem Ansehen
gut, dass wir etwas ausprobieren.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung
der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages auf
Drucksache 14/2007. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/542 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heide
Mattischeck, Reinhard Weis ({0}), HansGünter Bruckmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Winfried Hermann, Marieluise Beck ({1}),
Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90 /DIE GRÜNEN
Fahr Rad - für ein fahrradfreundliches
Deutschland
- Drucksache 14/6441 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst der Kollegin Heide Mattischeck für die Fraktion der SPD das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Meine Herren und Damen!
Ich möchte ganz kurz auf den Aufruf des Tagesordnungspunktes durch den Herrn Präsidenten eingehen. Der Titel
des Antrags heißt bewusst nicht „Fahrrad - für ein fahrradfreundliches Deutschland“, sondern „Fahr Rad - für
ein fahrradfreundliches Deutschland“. Das hat einen
Grund. Das soll keine Kritik an Ihnen sein, Herr Präsident. Ich wollte nur darauf hinweisen.
Die Entwicklung des Fahrrades von dem hölzernen
Laufrad des Karl Friedrich Drais Freiherr von Sauerbronn
aus dem Jahre 1817 über den normalen Drahtesel hin zu
einem Hightechverkehrsmittel ist gerade in den letzten
Jahren und Jahrzehnten rasant vorangegangen. Wir haben
leider nicht entdecken können, dass dem Fahrrad als Verkehrsmittel und gerade als Alltagsverkehrsmittel die
Anerkennung zuteil wird, die es eigentlich verdient. Seit
der Durchsetzung des Autos als Massenverkehrsmittel
stand das Fahrrad immer weiter in dessen Schatten.
Während der Autoverkehr unsere Städte immer mehr
verstopfte und die Atmosphäre durch die Abgase schädigte, hat es die Politik auf allen Ebenen, jedenfalls zum
größten Teil, viel zu lange vernachlässigt, das Fahrrad als
Alternative zum Auto entsprechend zu fördern. Dabei
stellt das Fahrrad, wie wir alle aus Statistiken und zum
Teil aus eigener Erfahrung wissen, in vielerlei Hinsicht
auf kurzen Strecken ein ideales Verkehrsmittel dar. Es
schützt die Umwelt und das Klima, weil es keine Abgase
und kein CO2 freisetzt. Außerdem stinkt es nicht, wie dies
die Autos immer noch tun.
({0})
Es schützt die Menschen, weil es keinen Lärm macht. Es
macht unsere Städte lebenswerter, weil es unnötigen
Flächenverbrauch durch parkende Autos verhindert.
({1})
- Herr Goldmann, das können Sie alles nachher erzählen.
Ich höre Ihre Stimme ausgesprochen gern, aber vielleicht
kann ich Sie besser verstehen, wenn Sie nachher von hier
vorn sprechen.
Es nützt - wir waren vorhin gerade bei dem wichtigen
Thema Gesundheit - der Gesundheit, weil es ein Mittel
gegen den Bewegungsmangel ist. Ich denke mir, das ist
ein Problem, das gerade uns als Abgeordnete besonders
betrifft, die wir den ganzen Tag sitzen. Das Fahrrad entlastet damit auch die Krankenkassen. Es nützt im Übrigen
- das wird viel zu selten beachtet - auch der Wirtschaft;
denn Fahrradherstellung und -handel sind wachsende
Branchen mit überwiegend mittelständischen Strukturen.
Nicht zuletzt profitiert vom Radfahren auch noch der Tourismus in Deutschland, weil ganz Deutschland ein attraktives Gebiet für den Radtourismus ist.
({2})
- Genau, da sind wir uns ja alle einig. Das finde ich ganz
prima.
Alle dieses Vorteile sind in der Vergangenheit durch die
Politik bedauerlicherweise sträflich vernachlässigt worden, gerade weil sich die Aufmerksamkeit so stark auf das
Auto konzentrierte.
Seit dem Regierungswechsel im Jahre 1998 hat es hier
einen deutlichen Wandel hin zu einer Verkehrspolitik gegeben, das Potenzial des Fahrrades stärker auszuschöpfen. Ein erster Schritt auf diesem Weg war der noch in der
alten Legislaturperiode beschlossene und dann nach dem
Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung bereits im
März 1999 veröffentlichte 1. Fahrradbericht einer deutschen Regierung. Im Mai 2000 wurde dieser Bericht im
Kabinett verabschiedet und hier im Plenum beraten.
Ebenfalls eine Premiere in diesem Zusammenhang war
die am 24. Januar dieses Jahres durchgeführte Anhörung
im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages. Gerade auf dieser Anhörung haben wir von den Fachleuten
und von den Verbänden wichtige Informationen erhalten.
An dieser Stelle möchte ich mich besonders herzlich beim
ADFC bedanken, der sich sehr stark daran beteiligt und
sehr viele Anregungen gegeben hat, die wir künftig umsetzen werden.
({3})
Im Zentrum der Forderungen praktisch aller anwesenden Expertinnen und Experten stand die Verabschiedung
eines nationalen Radverkehrsplanes. Auch unser Bundesminister hat sich inzwischen sehr stark hinter diese Sache gestellt. Ich denke, dass wir zusammen eine ganze
Menge in diesem Bereich erreichen werden.
Wir haben das Anliegen der Experten aufgegriffen und
in unserem Antrag konkretisiert. Er stellt damit einen ersten - und nicht den letzten - Höhepunkt - das kann ich Ihnen versprechen - in den Bemühungen der Koalition zur
Stärkung des Verkehrsmittels Fahrrad dar. Ich will in diesem Zusammenhang erwähnen, dass auch die CDU/CSU
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
einen Antrag vorgelegt hat; allerdings leider schon vor der
Anhörung, Herr Börnsen. Aber nach nochmaligem
Durchlesen habe ich festgestellt, dass es sehr viele Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte gibt, sodass wir
hier sicherlich gemeinsam weiterarbeiten können.
Im Fahrradverkehr stecken sehr große Wachstumspotenziale. Diese sind unübersehbar. Wir müssen gar nicht
weit über unsere Grenzen blicken, um zu sehen, was
schon heute in unseren Nachbarländern möglich ist: Zum
Beispiel in den Niederlanden deckt das Fahrrad mehr als
ein Viertel des gesamten Verkehrsaufkommens ab. In
Deutschland sind es gerade einmal 12 Prozent. Während
die Fahrradhochburgen Münster und Borken mit einem
Fahrradanteil von etwa 40 Prozent mit den fahrradfreundlichen niederländischen Städten beinahe mithalten können, liegt der Fahrradanteil in vielen deutschen Großstädten zwischen 5 und 10 Prozent. Ich meine, das ist in einem
sehr starken Maße ausbaufähig.
({4})
Selbst eine ausgewiesene Fahrradstadt wie die Stadt
Erlangen, aus der ich komme, hat mit einem Fahrradanteil
von 28 Prozent - für die man allerdings auch etwas tun
musste - noch deutliche Entwicklungsspielräume, vor allem wenn man bedenkt, dass dort im Berufsverkehr noch
mehr als die Hälfte aller Fahrten unter vier Kilometern mit
dem PKW zurückgelegt wird.
({5})
- Ich kann Ihren Zuruf leider nicht beantworten. Melden
Sie sich zu einer Zwischenfrage! Dann antworte ich Ihnen
gerne.
({6})
Wir haben also ein ideales Verkehrsmittel, das nicht
nur emissionsfrei, sondern auf kurzen Strecken im Stadtverkehr auch noch wesentlich schneller ist als die Konkurrenz, das Auto. Das zeigt die Erfahrung. Es bestehen
in Bezug auf dieses Verkehrsmittel unübersehbare Potenziale und auch ein steigendes Gesundheitsbewusstsein der
Bürgerinnen und Bürger, das wir nutzen und an dem wir
ansetzen sollten.
({7})
Jetzt muss die Politik in diesem Bereich einen Durchbruch schaffen und alle gesetzlichen, technischen, stadtplanerischen und nicht zuletzt auch psychologischen Hindernisse aus dem Weg räumen, die uns von einer besseren
Nutzung dieses Verkehrsmittels trennen. Genau das soll
unser Antrag und vor allem der darin geforderte „Masterplan Fahr Rad“ erreichen.
Einen Vorzug des Fahrradfahrens habe ich in meiner
Aufzählung vorhin noch nicht erwähnt; denn er ist eigentlich gar kein gesellschaftlicher, sondern ein individueller. Wer es noch nicht entdeckt haben sollte: Fahrrad
fahren macht ausgesprochen Spaß.
({8})
Es ist auch viel kommunikativer als jede andere Art der
Fortbewegung.
Aber ich muss das einschränken: Fahrrad fahren macht
nur dann Spaß, wenn auf allen politischen Ebenen Maßnahmen ergriffen werden, die das Fahrradfahren sicher,
bequem und unkompliziert machen, was man beispielsweise von der Umgebung des Reichstages nun wahrlich
nicht behaupten kann. Trotzdem sehe ich hier immer wieder eine ganze Menge Kolleginnen und Kollegen mit dem
Fahrrad. Es ist nicht ganz ohne Abenteuer, was sich hier
manchmal abspielt.
Um die Attraktivität des Fahrradfahrens in Deutschland zu steigern, braucht es einen Qualitätssprung - so
will ich das nennen - im Hinblick auf die Infrastruktur.
Eine funktionstüchtige Fahrradinfrastruktur muss die
Sicherheit und die Mobilität der Fahrradfahrerinnen und
Fahrradfahrer gewährleisten und unnötige Umwege vermeiden. Vor allem im Vergleich mit anderen Verkehrsmitteln erfordert die Infrastruktur für das Fahrrad keine
großen Investitionen; auch das sollte man betonen. Man
kann hier mit sehr wenig Geld eine Menge tun. In vielen
Fällen ist es mit einigen Linien auf der Straße und einer
besseren Ausschilderung getan. Eine generelle Trennung
des Fahrradverkehrs vom motorisierten Verkehr ist häufig
nicht notwendig. Das gilt zum Beispiel für Tempo-30-Zonen oder auf wenig befahrenen Straßen. Überhaupt ist ein
Mischverkehr sinnvoll.
Wer gestern die „Berliner Zeitung“ gelesen hat, konnte
darin einen Artikel über die Sicherheit des Fahrradverkehrs finden. Durch vielerlei Untersuchungen ist statistisch erwiesen, dass gerade Radwege unter Umständen
eine Sicherheit vortäuschen, die nicht besteht. Gerade
beim Abbiegen von den Radwegen auf die Straße passieren eine Menge Unfälle, die vermeidbar sind, wenn der
Radfahrer auf der Straße fährt und er dabei mit den Autofahrern kommunizieren kann.
Ein wesentlicher Punkt ist für uns eine Änderung des
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes. Es geht hier
nicht um mehr Geld, sondern darum, die vorhandenen
Mittel anders zu verteilen. Das Gesetz müsste in Bezug
auf die Bedürfnisse der Fahrradfahrer einfacher handhabbar werden. Heute werden sinnvolle Verkehrsinfrastrukturprojekte häufig durch Bagatellgrenzen und die Verknüpfung von Radwegebau und Straßenbau blockiert.
Grundlage jeder Förderung durch das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz müssen nach unseren Vorstellungen künftig aktuelle Radverkehrsbedarfspläne sein.
Die Förderung darf auch nicht bei den Radwegen Halt
machen, denn zur Radinfrastruktur gehören auch Fahrradstationen, sichere Fahrradabstellplätze und Ähnliches
mehr. Diese Aufzählung könnte ich beliebig fortsetzen.
Gemeinsam - der Bund kann und will bei diesem
Thema nicht alleine handeln - mit den Ländern und Kommunen wollen wir darüber hinaus die Möglichkeiten eines
Sonderprogramms im Rahmen des „Masterplans Fahr
Rad“ prüfen. Auch dieses sollte über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz finanziert werden.
Neben diesen wichtigen Maßnahmen, die im Wesentlichen die Kommunen umsetzen müssen, gibt es auch überHeide Mattischeck
regionale Aufgaben, die sich dem Bund stellen. Als touristisches Fernverkehrsmittel hat das Fahrrad eine sehr
große Bedeutung gewonnen; diese Tatsache bestätigt uns
immer wieder der Tourismusausschuss. In diesem Punkt
ist der Bund gefragt: Er muss für ein nationales Radroutennetz sorgen, das an entsprechende Vorarbeiten des
ADFC für ein Radfernwegenetz Deutschland anknüpft.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schmidt?
Ja.
Frau Kollegin Mattischeck, würden Sie mir
darin zustimmen, dass es nicht schaden könnte, wenn vor
dem Deutschen Bundestag ein paar Fahrradständer mehr
stehen würden?
({0})
Herr Kollege Schmidt, ich
stimme Ihnen voll und ganz zu. Diese Sache ist eines von
den schlechten Dingen, die ich vorhin nannte. Ich möchte
daran erinnern - ich setze große Hoffnungen auf das, was
jetzt in Berlin passieren soll -: Wir haben uns vor fünf Jahren gemeinsam für ein fahrradfreundliches Regierungsviertel eingesetzt und sehr viele Vorschläge gemacht, wie
man den so genannten Binnenverkehr im Regierungsviertel fahrradfreundlicher gestalten kann. Leider sind wir damals weder beim Bund noch bei der Landesregierung auf
offene Ohren gestoßen.
({0})
Ich gehe davon aus, dass wir die Situation in den nächsten Monaten - ich habe vorhin schon entsprechende Gespräche geführt - stark verbessern können.
({1})
Es geht bei dem Radfernwegenetz Deutschland um
die Verknüpfung bestehender regionaler und touristischer
Radrouten. Wenn man im Urlaub mit dem Fahrrad unterwegs ist, erlebt man es oft, dass es in einem Landkreis
wunderbare Fahrradwege gibt, aber keine entsprechenden
Verbindungen mit dem Netz anderer Landkreise vorhanden sind. Oft fehlen auch nur entsprechende Hinweise.
Hier ist großer Handlungsbedarf vorhanden. Unser Ziel
ist der Ausbau von mindestens zwölf nationalen Fahrradrouten mit etwa 8 000 Kilometern Streckenlänge bis
zum Jahre 2010.
Weitere Schritte sind bei der Erhöhung der Sicherheit
des Radverkehrs zu gehen. Hier gibt es noch eine ganze
Menge zu tun wie zum Beispiel die bestehende Straßenverkehrsordnung anzupassen. Auch das ist Bestandteil
unseres Antrags.
Eines will ich noch erwähnen: Was ich im Moment besonders ärgerlich finde, ist das Verhalten der Bahn, was
den Transport von Fahrrädern im Fernverkehr angeht. Im
Nahverkehr kommt man einigermaßen zurecht, aber was
die Fernverkehrsstrecken betrifft, ist die Situation ganz
miserabel.
({2})
Auch hierzu haben wir uns in unserem Antrag geäußert.
Wir wissen, dass wir diesbezüglich auf Gespräche und
anderes angewiesen sind. So könnte man beispielsweise
über eine Ausdehnung der Beförderungspflicht von Personen und Reisegepäck auf Fahrräder reden. Ich hoffe,
dass die Bahn durch diesen Hinweis zu einer vernünftigen
Lösung zu bewegen ist; denn auch sie müsste langsam erkennen, dass Personen, die ihr Fahrrad in den Urlaub mitnehmen - auch dies kann man statistisch belegen -, häufiger Bahn fahren als andere und auch die potenteren
Geldausgeber sind. Das haben inzwischen auch Hotels
und Gasthäuser zur Kenntnis genommen, die früher nicht
gern Radler aufnahmen, inzwischen jedoch wissen, dass
diese Menschen auch ganz gern Geld ausgeben.
Wir haben auch etwas zur Imagepflege gesagt und aufgezeigt, wo wir noch eine ganze Menge tun müssen. In Zusammenarbeit von Bund, Land und Kommunen sowie allen beteiligten Verbänden werden wir in den nächsten
Jahren einen ganz großen Schritt im Sinne der Gesundheit,
der Umwelt und auch des Spaßhabens vorankommen.
Herzlichen Dank.
({3})
Nun kommt
ein Radfahrer von der Küste. Ich gebe dem Kollegen
Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe etwas
mitgebracht, was der jetzige Verkehrsminister, Kurt
Bodewig, und der frühere Verkehrsminister, Matthias
Wissmann, in der Öffentlichkeit zu tragen propagiert haben, was ich anerkennenswert finde, nämlich einen Fahrradhelm.
({0})
Dies sollte vor allen Dingen den Radrennfahrern einmal
unter die Haut gehen - sie sind für die Kids oft Vorbilder -, die bei den Rennen nicht den Helm benutzen. Wir
alle sollten dazu beitragen, bei allen Radfahrern stärker
für die Helmpflicht zu werben.
({1})
Meine charmante Kollegin Heide Mattischeck hat aufgezeigt, wie viele Gemeinsamkeiten es im Radverkehr
gibt. Das ist richtig; nur, diese Politik, auf die sie mit der
Frage des Radverkehrs abgestellt hat, ist nicht 1998 erfunden worden. Den Drahtesel gab es vorher schon.
({2})
Heute geht es ums Rad, aber auch - nun wird es ernster - um die Produktpiraterie. Vor genau zwölf Monaten
haben wir von der Union einen Antrag mit dem Titel „Für
ein fahrradfreundliches Deutschland“ gestellt. Dessen
Eckpunkte waren: Realisierung eines nationalen Radverkehrswegeplanes, Schaffung eines Fahrradforums in
Deutschland, Verbesserung der Steuergesetzgebung zur
Beförderung des Umsteigens auf das Fahrrad, Anhebung
der Mittel nach dem Bundesfernstraßengesetz auf den
Stand von 1999, um mehr Radwege bauen zu können, Anhebung der GVFG-Mittel auf die Höhe der 90er-Jahre, um
mehr Ländern und Gemeinden zu mehr Radwegen zu verhelfen, Verdoppelung der Bundesradtouren, Erweiterung
der Fahrradmitnahme bei der Bahn auch bei Schnellzügen, Optimierung der Verkehrssicherheitsmaßnahmen für
Radfahrer, Vernetzung von Radwegen und ein besseres
Dienstleistungsangebot der DB auf den Bahnhöfen mit einem gesonderten Service fürs Rad.
({3})
Herr Kollege Börnsen, geben Sie Ihrer niedersächsischen Kollegin
die Chance zu einer Zwischenfrage?
Gerne.
Herr Kollege Börnsen, wäre es
nicht möglich, da auch Abgeordnete leicht stürzen können, dass Sie Ihre Rede heute mit dem Helm auf dem Kopf
halten?
({0})
Verehrte Kollegin, ich bedanke mich für die Frage. Aber wir
haben hier kein Kabarett. Bei Kopfverletzungen hört der
Spaß auf. Der Helm ist nicht dazu da, etwas zu karikieren.
Mir wäre lieber, wenn Sie als Vertreterin der früheren Opposition, die die Helmpflicht gefordert hat, jetzt auch dazu
stehen würden. Von der Helmpflicht findet sich in Ihrem
Konzept überhaupt nichts mehr.
({0})
Ich habe Ihnen eben das Zehn-Punkte-Konzept der
Union vorgetragen.
({1})
Dadurch sollte die Attraktivität des Fahrradverkehrs gefördert, die Renaissance des Rades verstärkt, zu einem
Umstieg auf das Fahrrad beigetragen, die Umwelt geschont, die Gesundheit gefördert und der Nahverkehr entlastet werden. Aber mit der Mehrheit von Sozialdemokraten und Grünen ist dieser wirklich fundierte Antrag vor
zwölf Monaten abgelehnt worden.
({2})
Man hat die Diskussion einer Thematik verhindert, die zu
forcieren wichtig ist. Die Mehrheit beider Fraktionen hat
dazu beigetragen, dass ein Jahr für die Arbeit, zu mehr
Fahrradförderung zu kommen, verstrichen ist.
({3})
Man war Bremser, aber nicht Forcierer.
Zwölf Monate später legen beide Fraktionen selbst einen Antrag vor; er war zwar noch nicht in einem Ausschuss, aber dafür in der Presse. Die Parlamentsprozedur
interessiert wenig, allein die öffentliche Wirkung. Der
Titel des Antrages ist besonders bemerkenswert: „Fahr
Rad - für ein fahrradfreundliches Deutschland“. Die
Überschrift unseres Antrages vor zwölf Monaten lautete:
„Für ein fahrradfreundliches Deutschland“.
({4})
Aber nicht nur die Schlagzeile wurde kopiert, auch die Inhalte sind fast wortwörtlich übernommen. Das nennt man
Produktpiraterie.
({5})
Doch es ist hier wie in der Schule: Abgeschrieben wird
stets bei Besseren. Wenn es der Sache dient, okay. Wir lassen mit uns reden.
Aber ich muss mich korrigieren: Nicht alles ist abgeschrieben. Von unseren zehn Punkten fehlen die, bei denen es konkret wird, die Geld kosten. Da beugt man sich
dem Diktat des Finanzministers.
({6})
Für Radfahrer wird seit der Regierungsübernahme durch
SPD und Grüne weniger Geld ausgegeben als in den 90erJahren. Es werden auch weniger Radwege gebaut. Damals wurden 350 Kilometer Fahrradwege an Bundesstraßen gebaut, heute nur noch 300 Kilometer. Damals
wurden die GVFG-Mittel für den Radverkehr in Gemeinden und Ländern konstant bei 3,28 Milliarden DM stabilisiert. Dieses Niveau ist seit dem Regierungswechsel
nicht mehr erreicht worden.
({7})
Man fordert Vernetzung, aber kürzt die Mittel. Das nenne
ich Bürgertäuschung.
Auch aus den UMTS-Milliarden ist kein Sonderfonds
für den Radwegebau geschaffen worden, obwohl die Radfahrverbände dafür plädierten. Auch hier Fehlanzeige bei
mehr Radförderung.
Das gilt auch für die Entfernungspauschale. Auf unserer von Heide Mattischeck vorgestellten öffentlichen
Anhörung zum Fahrradverkehr rechnete ein Repräsentant
der Fahrradklubs unwidersprochen vor, dass man täglich
Wolfgang Börnsen ({8})
43 Kilometer Rad fahren muss, um in den Genuss der
Segnungen der Entfernungspauschale zu kommen.
({9})
Herr Kollege Börnsen, die Kollegin Iwersen möchte eine Frage
stellen.
Ich
möchte jetzt erst einmal im Zusammenhang vortragen.
Auch die Forderung des ADFC, statt 300 Kilometer
jährlich 600 Kilometer Radwege zu bauen und 3 Prozent
der Mittel des Verkehrshaushalts für den Radverkehr vorzusehen, findet im Haushalt keinen Niederschlag. Nicht
ein Boom für mehr Fahrrad wird angestoßen, sondern es
wird ein Bluff produziert.
({0})
Als Radfahrer würde ich anmerken: Plattfuß prägt derzeit
die Fahrradpolitik der Bundesregierung. Wir erwarten,
dass man mit den Bürgern ehrlich umgeht.
Neue Radstreifen obligatorisch auf den Fahrbahnen zu
schaffen stellt sich wie eine Strafaktion gegen Autofahrer
dar. Eine Fahrbahnverengung presst den Verkehr durch
ein Nadelöhr und dient weder der Sicherheit der Radfahrer noch dem Verkehrsfluss. Mehr Stress für alle entsteht.
({1})
Wir müssen das Verkehrsrisiko für Radfahrer weiter senken, so wie es in den 90er-Jahren praktiziert wurde. Die
Zahl der Unfälle ist von 74 000 am Anfang des Jahrzehnts
auf 68 000 gesunken - trotz einer Zunahme des Radverkehrs. Das war eine richtige und vernünftige Radverkehrspolitik.
Radfahrer haben keine Knautschzone. Ihre Sicherheit
muss unser oberstes Gebot sein. Dennoch haben Sozialdemokraten und Grüne die Mittel für die Verkehrssicherheit gegenüber 1999 um 4 Millionen DM gekürzt. Das
nenne ich unverantwortlich.
({2})
Zu wenig berücksichtigt bleibt auch der Tatbestand,
dass das Unfallrisiko von Radfahrern mehr als doppelt so
hoch ist wie das von PKW-Fahrern und Fußgängern. Je
mehr wir die Sicherheit verbessern, umso größer ist die
Bereitschaft, auf das Rad umzusteigen. Deshalb benötigen wir nicht weniger, sondern mehr Mittel für die Verkehrssicherheit.
({3})
Doch auch die passive Sicherheit von Radfahrern
muss gewährleistet sein. Bei der Konstruktion von PKWund LKW-Karosserien ist dem Schutz der schwächeren
Verkehrsteilnehmer, insbesondere dem von Kindern,
mehr Gewicht zu geben. Das gilt vor allem für die gefürchteten „Kuhfänger“. Doch die Bundesregierung lehnt
es derzeit ab zu handeln: National soll nichts getan werden; man will auf die EU warten. Das nenne ich unverantwortlich.
12 Prozent beträgt der Anteil des Radverkehrs am Verkehrsaufkommen bei uns in Deutschland. Das ist eine
gute Zahl; gemessen aber an den Niederlanden, wo der
Anteil bei 27 Prozent liegt, ist es immer noch zu wenig.
Seit der Zeit der unionsgeführten Bundesregierung gilt
für die DB AG die Regelmitnahme für Fahrräder. Das haben wir erreicht.
({4})
Gut 2,5 Millionen Fahrgäste haben im vergangenen Jahr
das Angebot angenommen. Es sollte aber auch auf
Schnellzüge ausgedehnt werden.
Völlig unberücksichtigt bleibt bei der Regierung der
Sachverhalt, dass es circa 420 000 Fahrraddiebstähle
pro Jahr in unserem Land gibt.
({5})
Die Aufklärungsquote beträgt 9 Prozent, der Versicherungsschaden, den wir alle zu tragen haben, etwa 130 Millionen DM, legt man einen Wert von nur 300 DM pro
Fahrrad zugrunde.
({6})
Wenn Jahr für Jahr fast eine halbe Million Menschen bittere Erfahrungen mit dem Fahrradklau macht, fördert das
nicht die Attraktivität dieses Verkehrsmittels. Wir brauchen eine verbesserte Diebstahlsicherheit fürs Fahrrad.
({7})
Aufwärts geht es nicht nur mit den Fahrraddiebstählen,
sondern auch, was erfreulicher ist, mit dem Fahrradtourismus. Ernst Hinsken und andere engagieren sich stark
auf diesem Gebiet. Schleswig-Holstein, mein Heimatland, hat beim Fahrradtourismus einen Marktanteil von
11 Prozent. Es führt damit in Europa noch vor den Niederlanden mit 10 Prozent und Spanien mit 7,5 Prozent. Es
tut uns allen gut und es ist prima, dass so etwas passiert.
Wenn mehr als 2 Millionen Deutsche im vergangenen
Jahr Radurlaub gemacht haben, ist das unterstützenswert
und förderungswürdig; denn das hat zu einem Umsatz von
8 Milliarden DM und zur Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze geführt.
Arbeitsplätze werden auch in der Industrie geschaffen; das wird immer wieder ignoriert. Die Radproduktion
in Deutschland stieg von 2,82 Millionen im Jahr 1997 auf
3,4 Millionen im Jahr 2000 an. 30 000 Arbeitsplätze gibt
es allein in der Fahrradindustrie.
Die Bundesregierung trägt dieser Entwicklung noch zu
wenig Rechnung. Selbst nach der jüngsten Steuerreform
lohnt sich das Umsteigen auf das Rad nicht. Trotz
Angleichung des Freibetrages muss ein Radfahrer
nach Berechnungen von Steuerexperten täglich mindestens 15,65 Kilometer zur Arbeit zurücklegen, um den
Wolfgang Börnsen ({8})
Freibetrag überhaupt geltend machen zu können - eine
Entfernung, die die Ausnahme, aber nicht die Regel ist.
Das ist kein Anstoß zum Umstieg aufs Rad.
Doch gerade mehr Radnutzung sollte unser gemeinsames Ziel sein; da stimme ich meiner Vorrednerin zu. In der
Praxis haben wir, die Union, eine Pro-Fahrrad-Politik an
den Tag gelegt. Sie fing nicht erst 1998 an, sondern sie
konnte sich schon die ganzen 90er-Jahre über sehen lassen. Der erste - viel gelobte - Fahrradbericht der Bundesregierung war kein sozialdemokratischer und kein
grüner Bericht, sondern ist in der Zeit der Union und der
F.D.P. entstanden. Dieses Erstgeburtsrecht werden wir
uns auch nicht wegnehmen lassen.
({9})
Das gilt auch für den Ausbau von 15 000 Kilometern Radwegen an Bundesstraßen. Diese Leistung der früheren
Koalition kann sich wirklich sehen lassen. Das gilt ferner
für eine fahrradfreundliche Straßenverkehrsordnung und
auch für die Vernetzung von Schiene und Rad.
Alle Fraktionen haben in den 90er-Jahren mächtig
Druck für mehr Radpolitik gemacht. Wir, die Union, bleiben dieser Ausrichtung treu. Wir erwarten, dass die Bundesregierung das weiterführt, was in den 90er-Jahren vernünftig, reell und seriös begonnen wurde. Doch dazu sind
mehr Mittel notwendig. Deshalb appellieren wir von dieser Stelle aus noch einmal an die Bundesregierung, die
UMTS-Milliarden auch für einen Sonderfonds für die
Förderung des Radverkehrs zu verwenden. 60 Millionen
Radfahrer in Deutschland wollen Taten und keine Trugbilder.
Danke schön.
({10})
Jetzt spricht
der Kollege Winfried Hermann für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Börnsen, herzlichen Dank für Ihre Rede. Sie werden
jetzt von mir sicherlich keinen Schlagabtausch erwarten.
Ich finde, Sie haben mit Ihrer Rede deutlich gemacht,
dass es in diesem Hause eigentlich keine Parteien gibt,
sondern nur noch Radfahrer und Nichtradfahrer. Wir
sind uns einig, dass Radfahren lange Zeit politisch, und
zwar von allen Parteien, in seinen Möglichkeiten unterschätzt wurde.
({0})
- Auch Sie haben das Radfahren unterschätzt. Sie haben
Ihren ambitionierten Antrag in der Opposition gestellt
und ihn jetzt wieder hervorgeholt, weil Sie stolz darauf
sind, die Ersten zu sein, die einen solchen Antrag eingebracht haben. Aber wenn Sie sich die Anträge der Oppositionsfraktionen aus der letzten Legislaturperiode anschauen, dann werden Sie feststellen, dass diese schon
viele Ihrer Ideen, die angeblich so originell sind, enthalten haben.
({1})
Das wird uns nicht weiter führen.
Ich bin froh, dass heute alle Fraktionen sagen: Das
Fördern des Radfahrens ist wichtig. Es muss mehr getan
werden; bisher war es zu wenig. - Keine Frage, das ist gut
so. Alle Fraktionen fordern ein ambitioniertes politisches
Programm für das Fahrrad, einen Masterplan „Fahr Rad“.
Aus meiner Sicht sind bei einem solchen Masterplan folgende Eckpunkte von absoluter Bedeutung: Wenn wir das
Radfahren nach vorne bringen wollen, dann dürfen wir
nicht nur vom Radfahren reden, sondern müssen die Infrastruktur entsprechend verbessern. Keine Frage, wir
brauchen mehr, bessere und vor allen Dingen breitere
Radwege. Das ist wichtig, damit mehr Menschen Rad fahren können.
({2})
Die Kommunen, die Länder und auch der Bund müssen
Radwege bauen. Alle müssen mehr tun.
({3})
Wir brauchen keine teuren Radwege auf schmalen
Gehwegen, wodurch womöglich Konflikte mit den
Fußgängern geschaffen werden. An den Stellen, wo es auf
dem Gehweg zu eng ist, um einen Radweg einzurichten,
muss auf die Straße ausgewichen werden. Ich bin der
Meinung, dass am einfachsten durch einen Pinselstrich
auf der Straße eine Spur für die Radfahrer geschaffen werden kann, wie man es aus der Schweiz und anderen Ländern kennt.
({4})
Das sind preiswerte und schnelle Lösungen, die dem Radfahren dienen.
In Tempo-30-Zonen, in denen der Verkehr langsam ist,
ist ein Mischverkehr ohne weiteres möglich. Dort müssen
gar keine Radwege eingerichtet werden. Aber das gilt nur
- das sage ich ganz klar - für den langsamen Verkehr.
Überall dort, wo der Verkehr schnell ist, sind Radwege
notwendig.
Wir müssen natürlich auch durch geeignete Maßnahmen die Infrastruktur für das Fahrrad verbessern. Mein
Kollege aus Münster sagt mir immer: Schau dir unsere
Radstationen am Bahnhof an, dann weißt du, warum bei
uns so viele Menschen Rad fahren. Das ist wahr: Je besser die Infrastruktur ist und je besser zum Beispiel die
Möglichkeiten sind, Fahrräder sicher abzustellen, umso
mehr Menschen fahren Rad, weil sie keine Angst mehr
Wolfgang Börnsen ({5})
haben müssen, dass ihr Fahrrad gestohlen wird. Das sollten wir politisch unterstützen.
({6})
Wenn wir fordern, dass der Bund eine Initiative für
das Fahrrad starten soll, dann ist uns völlig klar, dass der
Bund keine zentrale Radfahrpolitik machen kann. Aber
der Bund soll initiieren, koordinieren und moderieren, damit die verschiedenen Ebenen zusammenarbeiten, sodass
zum Beispiel Lücken im Fahrradwegenetz geschlossen
werden können. Oft werden die schönsten Fahrradwege
auf einer Strecke von zehn Kilometern unterbrochen. Das
verhindert, dass mehr Menschen Fahrrad fahren. Es wäre
wichtig, die bestehenden Lücken im Fahrradwegenetz zu
schließen.
Außerdem müssen Verbindungen zu anderen Verkehrsmitteln hergestellt werden. Es ist einfach ärgerlich
- meine Kollegin hat es schon angesprochen -, wenn die
Bahn das Fahrrad im Fernverkehr im Prinzip „hinausschmeißt“. Das ist nicht akzeptabel.
({7})
Die Bahn und alle anderen Träger der öffentlichen Verkehrsmittel müssen dafür sorgen, dass Räder genauso wie
Kinderwagen problemlos mitgenommen werden können
und dass man ungehindert einsteigen kann. Alle Fahrradzuwege der Bahn, die ich kenne, sind so, dass man nur
schlecht mit dem Fahrrad einsteigen kann.
Wir brauchen auch solche Einrichtungen wie „Call a
bike“ an den Bahnhöfen, damit man Bahn- und Radfahren
miteinander kombinieren kann. Es gibt also schon gute
Ideen und Konzepte.
Sie haben zu Recht gesagt: Ohne Moos nix los; man
muss mehr tun! Wir sagen klipp und klar: Wir wollen in
den nächsten Jahren den Radwegeausbau nicht nur fordern, sondern auch fördern. Die Mittel dafür sollen in relativ kurzer Zeit prozentual verdoppelt werden, nämlich
von 1,2 auf 2,4 Prozent. Wir wollen, dass der Bau von
Radwegen zukünftig unabhängig vom Vorhandensein einer Bundesstraße möglich ist. Endlose Diskussionen über
den - am Ende oft nicht stattfindenden - Bau von Straßen
({8})
sind für die Schaffung von Radwegen häufig eine
Blockade.
({9})
Auch wenn Sie immer dazwischenreden: Ich erkenne,
dass Sie zumindest eine gewisse Sympathie für eine radfreundliche Politik haben. Rot-Grün nimmt das Radfahren ernst. Ich hoffe auch, dass die rot-grüne Regierung
in Berlin die Defizite im Regierungsviertel der letzten
Jahre endlich beseitigt.
({10})
Mit dem Rad in Berlin-Mitte unterwegs zu sein ist nämlich wirklich grauenhaft.
Unser Antrag heißt: „Fahr Rad - für ein fahrradfreundliches Deutschland“. An alle Politiker ist die Aufforderung gerichtet, regelmäßig Rad zu fahren. Das haben
heute circa 50 Abgeordnete getan, um damit deutlich zu
machen: Wir fahren Rad, auch hierhin, durch das Regierungsviertel auf dem Weg zum Bundestag. Ich hoffe, Sie
tun das Gleiche und fahren in Ihrem Wahlkreis bzw. anderswo mit dem Rad. In diesem Punkt sind wir auch als
Vorbilder gefragt. Es ist wichtig, dass Menschen, die Anzug und Krawatte tragen und von denen man daher nicht
glaubt, dass sie Rad fahren, im Alltag das Fahrrad benutzen, damit auf diese Art und Weise deutlich gemacht wird:
Das Rad ist nicht nur ein Freizeit-, sondern auch ein Alltagstransportmittel.
({11})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Hans-Michael
Goldmann, Emsland.
({0})
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit das klar ist: Ich
rede von etwas, wovon ich richtig Ahnung habe. Ich bin
eigentlich an jedem Wochenende mit dem Fahrrad unterwegs. Spätestens sonnabends zeige ich mich damit dem
Volk.
({0})
- Jawohl. - Es geht mir zwar nicht ganz so wie dem Kollegen von der PDS; aber auch ich bin mit der Resonanz
durchaus zufrieden.
({1})
- Sie haben Recht: Die haben wir. Wenn Sie wüssten, welche Wahlergebnisse ich vor Ort erzielt habe, dann würden
Sie blass werden.
Herr Kollege Goldmann, Sie haben etwas mehr Redezeit als Prozente.
({0})
Nein, das stimmt
nicht, Herr Präsident; da sind Sie im Irrtum. Im Übrigen
finde ich das nicht besonders witzig; aber jeder kann hier
seinen eigenen Beitrag leisten.
Keine Frage: Fahrradfahren ist eine sehr intelligente
und gesunde Art des Sichfortbewegens. Hier ist auch
schon davon gesprochen worden, dass Fahrradfahren
richtig Spaß macht. Ich hatte schon deutlich gemacht,
dass ich mir diesen Spaß am Wochenende gönne. Ich halte
es für besonders bemerkenswert, dass sich unheimlich
viele Menschen in unserer Region diesen Spaß aus tourisWinfried Hermann
tischen Gründen verschaffen und dass wir damit einen
enormen wirtschaftlichen Erfolg erzielen.
Auf einer ernst zu nehmenden Fahrradkarte von
Deutschland kann man feststellen, dass unsere Region darauf mit vier Fernradwegen vertreten ist. Liebe Kollegen,
diese Wege sind nicht von Ihnen gebaut worden; sie sind
vielmehr den Anstrengungen der Kommunen vor Ort zu
verdanken. Die alte Bundesregierung hat die Bereitstellung der Mittel auf den Weg gebracht.
({0})
- Frau Iwersen, Sie wissen es besser; deswegen gehe ich
auf Ihre Zwischenbemerkung nicht ein.
Sie wissen ganz genau, dass die alte Bundesregierung
in diesem Bereich hervorragende Weichenstellungen vorgenommen hat.
({1})
Die Straßenverkehrsordnung ist 1997 novelliert worden.
Die Radfahrstraßen sind geschaffen worden. Außerdem
sind die Einbahnstraßenregelung und die Radwegebenutzungspflicht eingeführt worden. Wir haben für den Radwegebau wirklich etwas getan, was man von Ihnen
schlicht und ergreifend nicht sagen kann.
({2})
Herr Hermann, es stimmt nicht, dass der Allgemeine
Deutsche Fahrrad-Club - auch ich schätze diesen Verband
sehr - Sie lobt. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club
hat in einer Presseerklärung, die sicherlich auch Ihnen
vorliegt, erklärt, dass Sie 1,5 Milliarden DM fordern.
({3})
- Herr Hermann, es ist eher witzig, wenn Sie erst im Deutschen Bundestag einen entsprechenden Antrag stellen und
dann im Hinblick auf alle politischen Ebenen 1,5 Milliarden DM fordern, wobei Sie mit 50 Millionen DM oder
mit 20 Millionen DM - wie viel wollen Sie zur Verfügung
stellen? - dabei sind. Diese Bemerkung kann doch nicht
Ihr Ernst sein.
Außerdem fordern Sie, nehme ich an, zusätzlich die
Unterstützung der Kommunen. Sie versuchen, in die
Kommunen hineinzuregieren, indem Sie den Kommunen
vorschreiben, auf der Straße einen Strich zu ziehen,
({4})
um den Autoverkehr vom Fahrradverkehr zu trennen.
Herr Hermann, ich als Verkehrsteilnehmer halte das, was
Sie hier fordern, für aberwitzig, für brandgefährlich und
für überhaupt nicht erfolgreich.
({5})
Sie kennen doch die Ergebnisse: In Bonn sind diese Dinge
auf den Weg gebracht worden und in Bonn sind auch unter diesem Gesichtspunkt die damals führenden Persönlichkeiten und Parteien abgewählt worden.
({6})
Das Modell, das Sie vorschlagen, taugt nicht; das wissen Sie ganz genau. Deswegen sind die Forderungen, die
Sie in Ihrem Antrag stellen, für mich - das habe ich schon
gesagt - ein geistiger bzw. ein fahrradpolitischer Plattfuß.
Es steht nichts Inhaltliches drin. Die Hinweise auf die Finanzausstattung sind mit heißer Nadel gestrickt. Das ist
klar; denn in Hamburg und Berlin stehen Wahlen an. Sie
fahren - es waren weniger als 50Abgeordnete; ich war dabei - klingelnd durch die Gegend und erklären: Hurra,
endlich haben wir eine fahrradpolitische Botschaft. Das
ist nicht der Fall.
Bei der Anhörung - das war eine gute Anhörung - haben Sie von allen Beteiligten gehört, dass wir uns auf den
Weg zum Masterplan „Fahr Rad“ machen müssen. Das ist
überhaupt keine Frage; ich kenne diese Idee. Sie ist abgeleitet von dem Masterplan „Fiets“ aus den Niederlanden.
Ich bin dafür. Aber dafür braucht man ein ganzheitliches
Konzept. Es reicht nicht aus, ein bisschen in der Gegend
herumzupinseln. Dafür muss man Geld bereitstellen und
man sollte nicht den Kommunen vor das Schienbein treten; denn sie sind die entscheidenden Weichensteller für
die besseren Verkehre, nämlich für Radfahrer in den Innenstädten.
Ich finde, wir sollten über diesen Antrag ausführlich
reden und ihn in den Fachberatungen gründlich überarbeiten. Dazu sind wir bereit. In der jetzigen Form lehnen wir ihn entschieden ab.
({7})
Der nächste
Kollege ist besonders dafür prädestiniert, zu diesem
Thema zu sprechen. Ich gebe das Wort dem Kollegen
Gustav-Adolf Schur von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bei mir kommt auch ein freudiges Gefühl auf, insbesondere in diesem Hause, wenn ich
ans Radfahren denke. Ich muss Ihnen sagen: Bei diesem
Thema ist Ernst wirklich angesagt. Stellen wir uns einmal
vor, wir fahren wie Hunderttausende unserer Bürger tagtäglich bei jedem Wetter herum, rumpeln über Unebenheiten, uns stehen Abfalltonnen im Weg und uns laufen
Leute über den Weg. Beim Fahrradfahren werden Leistungen vollbracht, die gleichzeitig der Gesundheit unseres Volkes zugute kommen. Wenn hier über Autos diskutiert würde, wären alle mucksmäuschenstill. Es ist ein
Unterschied, in einem Auto zu sitzen und in Sicherheit zu
sein oder auf einem Fahrrad zu sitzen und aufgrund der
Autos mit breiten Reifen Angst um sein Leben zu haben.
Aus diesem Grunde sage ich: Wir müssen uns wirklich
ernste Sorgen machen und uns ernsthaft für den Fahrradsport einsetzen,
({0})
aber nicht im Sinne von „nach oben buckeln und nach unten treten“, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vor acht Monaten habe ich hier schon einmal für ein
fahrradfreundliches Deutschland plädiert. Ich bekräftige
heute, was ich das letzte Mal gesagt habe. Wir sind selbstverständlich für alle Anträge, die den Benutzern von
Fahrrädern Vorteile sichern. Ich konnte sogar schon in einigen ICEs erleben, dass Fahrräder mitgeführt werden
dürfen, aber - wie gesagt - nur in einigen. Viel Neues hat
sich also nicht getan, abgesehen von zwei Fakten.
Den ersten Fakt lieferte der Kölner Mediziner
Professor Uhlenbruck, der nachwies, dass Fahrradfahren
- wie alle Langzeitausdauersportarten - das Risiko von
Herzinfarkten, Schlaganfällen, Diabetes und - so die
neuesten Erkenntnisse - sogar Krebs reduziert. Ich habe
schon als Student an der legendären, aber leider abgewickelten Deutschen Hochschule für Körperkultur in
Leipzig vor Jahrzehnten von den Sportmedizinern in Vorlesungen und Seminaren erfahren, wie wertvoll es für die
allgemeine Volksgesundheit ist, möglichst viele Menschen für das Fahrradfahren zu begeistern, bei dem bekanntlich auch die Überlastung des Stützapparates vermieden wird.
({1})
Der zweite Fakt, der mir diskutabel erscheint, sind die
Finanzierungsvorschläge der Antragsteller, deren Umsetzung zu wünschen ist. Ich befürchte aber, der Finanzminister wird die 100 Millionen DM für den Radwegebau
wohl nicht mehr erhöhen, höchstens reduzieren können.
Ich bitte um Nachsicht, wenn ich hier auf persönliche
Erfahrungen verweise, die man prinzipiell ablehnen kann,
die aber unglaublicherweise hin und wieder sehr nützlich
sind. Damals hat man die Kommunen mobilisiert und
nicht unbedingt darauf bestanden, dass die Fahrradwege
nach der jetzt gültigen Norm installiert werden.
({2})
Ein Fahrrad ist robust und auf Sandwegen wird der Kreislauf noch intensiver belastet als auf Asphalt- oder Pflasterwegen.
Mein Vorschlag: Nicht unbedingt eine Norm, das eine
tun und das andere nicht lassen. Die berühmtesten Profirennfahrer der Welt stampfen jedes Jahr in Frankreich
durch die „Hölle des Nordens“ über hartes Kopfsteinpflaster. Das ist für sie eine Herausforderung. Ich plädiere
nicht für Kopfsteinpflasterstraßen für die Rad- und Rennfahrer, aber für Einfallsreichtum. Lieber einmal ein kurzes Stück Knüppelweg fahren, wo notwendig und Natur
und Umwelt zuliebe, als absteigen und schieben müssen.
({3})
Übrigens: Als fahrradfreundliche Städte mit hohem
Radverkehrsanteil werden im Antrag die Städte Münster,
Borken, Erlangen, Freiburg und Troisdorf genannt.
Dessau im Land Sachsen-Anhalt ist auch eine.
Ich bedanke mich.
({4})
Ich schließe
die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 14/6441 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das
Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu der Unterrichtung durch
die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im
Jahr 1999 ({1})
- Drucksachen 14/4179, 14/5671 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Heidi Lippmann, Wolfgang Gehrcke,
Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Transparenz und parlamentarische Kontrolle
bei Rüstungsexporten
- Drucksachen 14/4349, 14/5810 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
Ursprünglich war eine halbe Stunde für die Aussprache
vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Ditmar
Staffelt, SPD, Erich G. Fritz, CDU/CSU, Angelika Beer,
Bündnis 90/Die Grünen, Hildebrecht Braun, F.D.P. und
der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf aus
dem Ministerium für Wirtschaft und Technologie geben
ihre Reden zu Protokoll.1)
Ich gebe das Wort der Kollegin Heidi Lippmann für die
Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Kollegen
und Kolleginnen! Dass Sie in einer so wichtigen Debatte
über Rüstungsexporte jetzt alle Ihre Reden zu Protokoll
geben, spricht für sich.
({0})
Der letzte Rüstungsexportbericht wurde für das Jahr
1999 herausgegeben. Der Bericht für das Jahr 2000 liegt
noch nicht vor. Von daher können wir nicht darüber
verhandeln. Der letzte Bericht wurde im September des
vergangenen Jahres vorgelegt, ist also noch gar nicht so
alt. Unser Antrag zur Transparenz und für eine demokra-
tische Beteiligung bei Rüstungsexportentscheidungen
stammt aus dem Herbst vergangenen Jahres, liebe Frau
Kollegin.
Wenn Sie aber überfordert sind, zum Thema Rüstungsex-
porte überhaupt etwas zu sagen, ist das ein Armutszeugnis
1) Anlage 3
und ein Beweis dafür, wie unwichtig der rot-grünen Bundesregierung der Bereich der Rüstungsexporte ist.
({1})
In Karlsruhe hat der Bundesaußenminister in der vergangenen Woche das Bundesverfassungsgericht ganz
nachdrücklich gewarnt, der PDS-Klage wegen der fehlenden parlamentarischen Mitbestimmung bei der neuen NATO-Strategie stattzugeben. Die Begründung des
Außenministers lautete, ein zu großes Mitspracherecht des
Parlaments in der Außen- und Sicherheitspolitik schränke
die Handlungsspielräume auf internationaler Ebene ein.
({2})
Herr Rupert Scholz ging als Vertreter der vier Bundestagsfraktionen sogar noch einen Schritt weiter und erklärte,
das Parlament sei hemmungslos überfordert, wenn es in
solche weit reichenden Entscheidungen einbezogen würde.
({3})
Ihre heutige Entscheidung, sich zu weigern, über Rüstungsexportentscheidungen und eine parlamentarische
Beteiligung daran überhaupt zu diskutieren
({4})
- ich danke Ihnen, Frau Kollegin, für Ihre verbalen Ausfälle -, zeigt ganz deutlich, dass Sie sich scheinbar überfordert fühlen, über dieses Thema zu sprechen.
Wir haben lediglich beantragt, die Ausschüsse, die sich
mit zentralen Fragen von Krieg und Frieden, Außen- und
Sicherheitspolitik, Menschenrechten und Entwicklungspolitik befassen, an der Debatte zu beteiligen. Wir fordern
lediglich eine Mitberatung, eine Information in den Ausschüssen, noch nicht einmal ein Entscheidungsrecht.
({5})
Damit sind Sie überfordert. Das zeigt, welchen Stellenwert demokratische Beteiligung und parlamentarische
Kontrolle für Sie haben.
Wir halten an unserem Antrag fest und appellieren an
Sie, ihn zu unterstützen, unabhängig von Ihrer Fraktionszugehörigkeit,
({6})
weil Sie dadurch die Chance haben, die Regierung zu kontrollieren, Entscheidungen herbeizuführen bzw. Entscheidungen zu überprüfen, die im Zusammenhang mit dem
Kriegswaffenkontrollgesetz stehen, und insbesondere der
Friedenspflicht, die im Grundgesetz verankert ist, den
entsprechenden Nachdruck zu verleihen.
({7})
Kollegen und Kolleginnen, Rüstungsexporte finden
nach wie vor statt,
({8})
zum Beispiel in die Vereinigten Arabischen Emirate. Atomar bestückbare Boote werden nach Israel geliefert,
Kleinwaffen in nahezu alle Länder und bürgerkriegsgefährdeten Regionen dieser Welt, Munitionsfabriken in
die Türkei und vieles mehr. Wenn Sie weiterhin daran
festhalten, dass Sie davon nichts wissen wollen, und lediglich im Nachhinein durch den nächsten Rüstungsexportbericht dokumentieren, dass das Volumen der Rüstungsexporte unter Rot-Grün wieder gestiegen ist - wie
das wahrscheinlich der Fall sein wird -, dann, muss ich sagen, entmachten und entmündigen Sie sich als Parlamentarier und kommen dem vom Wähler erteilten Auftrag
nicht mehr nach.
({9})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zum Rüstungsexportbericht 1999 der Bundesregierung auf Drucksache
14/5671. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des Berichts auf Drucksache 14/4179, eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache
14/5810 zu dem Antrag der Fraktion der PDS zu Transparenz und parlamentarischer Kontrolle bei Rüstungsexporten. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/4349 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze
- Drucksache 14/5680 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Rolf Kutzmutz,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Insolvenzordnung ({1})
- Drucksache 14/2496 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 14/6468 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Volker Beck ({4})
Dr. Evelyn Kenzler
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
das Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, erteile ich dem Berichterstatter, dem Kollegen Alfred Hartenbach, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der
Rechtsausschuss hat in seiner 90. Sitzung am 27. Juni
2001 den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung beschlossen. Bestandteil dieser Abstimmung war eine Synopse, die in der richtigen Fassung vorlag. Bei Umsetzung dieser Synopse in
Beschlussempfehlung und Bericht ist ein Kopierfehler
aufgetreten. In Art. 1 ist zwischen den Ziffern 18 und 20
die Ziffer 19 entfallen. Ich bitte daher, bei den Beratungen zu berücksichtigen, dass es auf der linken Seite,
Entwurf, heißt: „19. § 300 Abs. 3 Satz 2 wird aufgehoben“. Auf der rechten Seite der Synopse bitte ich aufzunehmen: „19. unverändert“.
Dies war eine offensichtliche Unrichtigkeit, ein Fehler.
Ich bitte, dies heute mit zu berücksichtigen. Ich darf Ihnen, dem Präsidium, den Wortlaut vorlegen.
Danke
schön, Herr Kollege Hartenbach.
Wir treten in die Aussprache ein. Ich gebe zunächst
dem Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Professor Dr. Eckhart Pick, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung
den ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt. Zum
Thema Überschuldung finden Sie dort die folgende zentrale Aussage:
In dem Maße, in dem private Haushalte durch Überschuldung an wirtschaftlicher und personaler Handlungsfähigkeit einbüßen und Prozesse einer zunehmenden Verarmung erleben, ergibt sich politischer
Handlungsbedarf. Vor dem Hintergrund von knapp
2,8 Millionen überschuldeten Haushalten liegt es daher im gesellschaftlichen Interesse, Überschuldungsprozessen präventiv entgegenzuwirken und eingetretene Überschuldung als Ausdruck einer Armutskrise
aktiv überwinden zu helfen.
({0})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf hat die Bundesregierung diesem Handlungsbedarf Rechnung getragen.
Ich darf hinzufügen, dass Überschuldung sicher eine
rechtliche Seite hat, mit der wir uns heute beschäftigen.
Überschuldung hat unterschiedliche Ursachen und auch
zum Teil sehr einschneidende Auswirkungen im subjektiven, personellen Bereich, in der Familie und im Kontakt
mit anderen Menschen. Insofern ist hier ein genereller Ansatz notwendig. Die Möglichkeit, diesem Phänomen
rechtlich entgegenzutreten, ist zwar eine wichtige, aber sicher nicht die einzige oder wesentlichste. Vor diesem Hintergrund sollten wir auch diese Debatte führen.
Aus justizpolitischer Sicht sind das Verbraucherinsolvenzverfahren und die Restschuldbefreiung wesentliche
Ansätze, um eingetretene Überschuldungen zu beseitigen.
Insofern war es ein erster wichtiger Schritt, dass der
Gesetzgeber mit der im Jahre 1999 in Kraft getretenen Insolvenzordnung die rechtlichen Rahmenbedingungen für
einen wirtschaftlichen Neuanfang geschaffen hat. Allerdings ist in der Zwischenzeit eine ganz entscheidende
Frage aufgetreten: Was nützt das ausgefeilteste Verfahren,
wenn es denjenigen, für die es eigentlich bestimmt ist,
verschlossen bleibt, weil sie die Verfahrenskosten nicht
aufbringen können? Erst mit der im vorliegenden Gesetzentwurf geregelten Stundung der Insolvenzkosten werden
die Vorschriften über die Restschuldbefreiung abgeschlossen und das Verfahren praktikabel ausgestaltet.
Ich bedaure es, dass gegen die im Gesetzentwurf konzipierte Stundungslösung polemisiert wird und man behauptet, sie sei rein fiskalisch begründet. Ich weiß, dass
wir bei der Verabschiedung der Insolvenzordnung alle gemeinsam von der Vorstellung ausgegangen sind, dass im
Insolvenzverfahren selbstverständlich Prozesskostenhilfe
gewährt werden kann, da das Verfahren eigentlich für diejenigen gedacht ist, die die wenigsten Mittel zur Verfügung haben. Wir haben uns geirrt. Die Rechtsprechung
hat die einzelnen Verfahrensabschnitte sehr unterschiedlich beurteilt. Deswegen muss der Gesetzgeber korrigierend eingreifen.
Ich wiederhole noch einmal das, was ich im Rechtsausschuss gesagt habe: Die Insolvenzordnung erfüllt, so
glaube ich, ansonsten durchaus die Erwartungen, die man
an sie setzt bzw. gesetzt hat. Wir korrigieren hier in einem
Teilbereich. Deswegen bitte ich, dass wir gerade diese
Stundungslösung mit entsprechender Aufmerksamkeit
begleiten.
Mit der Stundungslösung wird eine Maßnahme zulasten der Länder durchgeführt; das ist klar. Das wäre aber
auch bei der Prozesskostenhilfe in ihrer reinen Form so
gewesen. Der Unterschied besteht darin, dass der Staat
- ich sage: theoretisch - die Chance hat, die gestundeten
Prozesskosten eines Tages zurückzubekommen. Natürlich sind die Berechnungen, wie hoch der Rückfluss bei
den Ländern ist, ausgesprochen unsicher; sie sind nur gegriffen. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass die
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Länder auf einem Großteil dieser gestundeten Kosten sitzen bleiben. Deswegen ist es uns natürlich darum gegangen, mit den Ländern zu einem Kompromiss zu kommen.
Ich gebe zu, dass die gefundene Lösung möglicherweise
nur die zweitbeste ist. Im Interesse der Länder ist sie aber
zu vertreten.
Mit dieser Insolvenzkostenhilfe steht nun ein effektives Instrument zur Verfügung, das nahtlos in das Verbraucherinsolvenzverfahren und die Restschuldbefreiung
eingepasst wurde. Mit einer bloßen Verweisung auf die
§§ 114 ff. ZPO wären mit Sicherheit zahlreiche Zweifelsfragen geblieben, wie sie zum Beispiel die Rechtsprechung aufgeworfen hat: Für welche Verfahrensabschnitte
wird die Prozesskostenhilfe gewährt? Wann besteht hinreichende Aussicht auf Erfolg? Welche Obliegenheiten
hat der Schuldner zu erfüllen? Es gibt also eine ganze
Reihe von Fragen, die nicht durch eine bloße Verweisung
auf die Prozesskostenhilfevorschriften hätten beantwortet
werden können. Insofern wären wir wahrscheinlich jahrelang in einer Phase der Rechtsunsicherheit geblieben.
({1})
Ich bin sicher! Zudem begrüße ich es, dass es im Gesetzgebungsverfahren gelungen ist, auch bezüglich der
Wohlverhaltensperiode zu einer Verbesserung zu kommen. Ich finde, wir haben durch die Verkürzung um ein
Jahr dem entsprochen, was uns insbesondere auch die
Schuldnerberatungsstellen gesagt haben, nämlich dass
diese siebenjährige Wohlverhaltensperiode allzu lang ist.
Wir haben auch eine durchaus fundierte Grundlage; denn
durch das Gutachten, das das Ministerium eingeholt hat,
ist klar, dass die ökonomischen Folgekosten doch erheblich geringer sind, als man das annehmen konnte. Deswegen halten wir eine Verkürzung der Wohlverhaltensperiode für möglich und im Sinne der Betroffenen. Wir tun
ein Übriges, indem wir die Dauer dieser Periode zugunsten der Schuldnerinnen und Schuldner dadurch verkürzen, dass wir den Beginn der Laufzeit auf den Termin der
Verfahrenseröffnung vorverlegen.
Natürlich mussten wir auch die Lohnabtretungsfrage
entsprechend regeln; denn es kann nicht sein, dass der ungesicherte Gläubiger künftig noch weniger zu erwarten
hätte als bei der jetzigen Regelung.
In diesem Sinne, so meine ich, haben wir einen guten
Schritt nach vorne getan und im Interesse der überschuldeten Menschen eine Möglichkeit eröffnet, tatsächlich
in das Verbraucherinsolvenzverfahren hineinzukommen
und sich letztlich ihrer Schulden zu entledigen.
Vielen Dank.
({2})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Freiherr von
Stetten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Aktuell in diese Debatte über die Änderung der Insolvenzordnung fiel in dieser Woche die Meldung, dass im ersten
Quartal dieses Jahres ein Negativrekord an Insolvenzen
aufgestellt wurde, der höchste Stand seit sieben Jahren.
Zehntausende von Arbeitsplätzen wurden dadurch vernichtet.
Das war natürlich nicht der Grund für die Regierung,
einen Gesetzentwurf zur Änderung der Insolvenzordnung
vorzulegen, aber es zeigt - ich will das einmal so deutlich
sagen -, wie leichtsinnig diese Regierung mit Wirtschaft
und Preisstabilität umgeht und wie schnell die guten Rahmenbedingungen, die die Regierung aus CDU/CSU und
F.D.P. hinterlassen hat, ins Negative gekehrt werden.
({0})
Wir werden im Jahr 2001 nicht nur die höchste Zahl an
Insolvenzfällen haben, sondern wir werden auch die
höchsten Inflationsraten seit Anfang der 90er-Jahre und
die niedrigsten Wachstumswerte der letzten Jahre haben.
Dies sollte nicht verschwiegen werden bei einem Gesetz,
durch das man wirtschaftlich gestrandete Menschen wieder in den normalen Wirtschaftskreislauf zurückholen
will.
Die Insolvenzordnung, die wir in diesem Hohen Hause
gemeinsam verabschiedet haben, hatte eine lange Vorlaufzeit und dennoch ist die Restschuldbefreiung von
Privatpersonen nicht so richtig ins Laufen gekommen.
Insbesondere fiel die von den Ländern befürchtete Restschuldbefreiungslawine aus. Die Schuldnerberatungsstellen haben uns wertvolle Anregungen gegeben. Die Kosten, die durch das neue Gesetz auf die Länder zukamen,
sind wesentlich geringer als prognostiziert; wir hätten das
Gesetz viel früher in Kraft treten lassen können.
Ein Mangel des bisherigen Gesetzes war, dass mittellose Schuldner nicht die Verfahrenskosten aufbringen
konnten und deshalb sehr häufig die Verfahrenseröffnung wegen fehlender Kostendeckung abgelehnt wurde.
Einige Oberlandesgerichte haben diesen Mangel pragmatisch behoben und die in der ZPO vorgesehene, wohl
durchdachte Prozesskostenhilfe gewährt. Andere haben
dies, wie Herr Staatssekretär Pick ausführte, nicht getan,
meiner Ansicht nach aus nicht überzeugenden Gründen,
nämlich mit Hinweis auf die Dogmatik.
Nun wäre es trotz Ihrer Bedenken, Herr Staatssekretär,
das Einfachste gewesen, die unterschiedliche Handhabung zu beseitigen, indem wir einen Satz in das Änderungsgesetz eingefügt hätten: „Es gelten die Bestimmungen der Prozesskostenhilfe.“ Gegebenenfalls auftretende
Zweifelsfragen hätten wir einfach mit einem weiteren Absatz beseitigen können. Dies ist keine Polemik; ich finde,
wir hätten dies wahrlich tun sollen.
Dies war, wie ich in der Diskussion festgestellt habe,
eigentlich Konsens, aber die Kostenlamentiererei der
Länder hat diese vernünftige Lösung verhindert. So
kommt es zu einer verkrampften Lösung der Stundung der
Verfahrenskosten, die allein wegen ihrer neuen Bestimmungen durchführende Gerichte und Rechtspfleger und
damit Beauftragte unnötig belastet. Genauso wenig wie
die Kostenlawine wegen befürchteter zehntausendfacher
Verbraucherinsolvenzen auf die Länder zukam, wäre es
zu einer Kostenlawine gekommen, wenn wir die vernünftige Lösung der Prozesskostenhilfe übernommen hätten.
Man kann über die Verbraucherinsolvenz streiten, darüber, ob sie sinnvoll ist oder nicht, aber der Gesetzgeber
hat meines Erachtens zu Recht beschlossen, jedem, der
überschuldet ist - ob verschuldet oder unverschuldet; es
gibt relativ wenige, die nicht zumindest ein Mitverschulden trifft -, die Chance zu geben, erneut von vorn anzufangen. Wenn dieser Weg aufgezeigt wird, sollte er nicht
zu steinig sein, damit er auch beschritten werden kann.
Ausgenommen sind richtigerweise Verschuldungen wegen vorsätzlich begangener unerlaubter Handlungen, wobei die Hinweispflicht des Gerichts, die neu aufgenommen wurde, sicherlich sehr nützlich sein kann.
Wir hatten seinerzeit eine Wohlverhaltensperiode
von sieben Jahren für richtig gehalten, die sich aber durch
die Länge der Verfahrensdauer bis zur Eröffnung des Verfahrens auf acht, neun oder sogar zehn Jahre verlängerte
und sich nunmehr durch die vorgesehene Stundungslösung sogar auf zehn bis zwölf Jahre hätte verlängern können. Dies ist eine finanzielle Bevormundung über eine zu
lange Zeit, als dass jemand motiviert würde, in ein solches
Verfahren einzutreten und es letztlich auch durchzuhalten.
Über die Fälle des Durchhaltens haben wir noch keine
Zahlen, weil die Zeit dafür bisher zu kurz ist. Aber es wird
interessant sein, zu erfahren, wie viele Schuldner diese
lange Zeit letztlich durchhalten.
Deswegen bin ich froh, dass unsere Anträge, sozusagen
fast in letzter Minute, noch die Zustimmung der Koalitionsparteien gefunden haben
({1})
und die Wohlverhaltensfrist ab Antragstellung und nicht
erst ab Verfahrenseröffnung gilt - das ist schon ganz wichtig; das sind ein Jahr oder zwei Jahre - und zudem auf
sechs Jahre verkürzt wird. So dauert in Zukunft ein
Verfahren ohne Stundungsmodell etwas über sechs Jahre,
mit Stundung acht, maximal neun Jahre. Dadurch ist meines Erachtens ein Anreiz geschaffen worden, in das persönlich unangenehme Verfahren einzutreten.
Für einen Schuldner ist es ja nicht gerade angenehm,
sich der Öffentlichkeit zu stellen. Deswegen ist es bedauerlich, dass sich die Koalitionsmehrheit nicht dazu durchringen konnte, die Veröffentlichung ausschließlich ins
Internet zu verlegen, weil für viele Schuldner die Veröffentlichung des Insolvenz- und Schuldnerbefreiungsverfahrens in der örtlichen Presse eine gesellschaftlich tödliche Wirkung haben kann und der Schuldner gelegentlich
deswegen nicht in ein solches Verfahren eintritt. Lieber
lässt man geschäftliche Tätigkeiten weiterhin über Frau,
Kinder oder Freunde laufen, um nach außen nicht als Pleitier dazustehen.
Es gibt im Übrigen nur wenige - deswegen teile ich
diese Sorge nicht -, die im Internet surfen, um Konkursund Insolvenzverfahren zu erkunden. Dagegen werden
die Veröffentlichungen in der Ortspresse über Insolvenzen höchst fleißig gelesen und bilden das Tagesgespräch.
Deswegen reicht die Änderung des § 9 nicht aus und
zeigt der heute hier eingebrachte Entschließungsantrag
der SPD und der Grünen ein bisschen - lassen Sie es mich
so ausdrücken - das schlechte Gewissen der Koalition:
Man fordert die Regierung auf, zu prüfen, zu eruieren und
Vorschläge zu machen. Es ist in gewissem Sinne schon ein
Armutszeugnis, heute ein Gesetz zu verabschieden und
sogleich einen Entschließungsantrag hinterherzujagen,
damit dieses Gesetz möglichst bald wieder korrigiert
wird.
({2})
- Doch, er hat Ahnung, lieber Kollege Hartenbach, er hat
viel Ahnung.
Ich teile auch nicht die Sorge, dass nach Beendigung
eines Insolvenzverfahrens die Daten nicht rechtzeitig
gelöscht werden können, genauso wenig wie die Sorge
um den Missbrauch von im Internet bereitgestellten Daten. Denn ebenso wäre es jederzeit möglich, das Register
einzusehen oder Zeitungsveröffentlichungen zu kopieren,
aufzuheben und später zu verschicken.
Auch die übertriebene Sorge um den Datenschutz teile
ich nicht; denn wenn wir dieses Gesetz schon mit der
Maßgabe verabschiedet hätten, dass nur im Internet veröffentlicht wird, wären wir frühestens in sechs oder sieben Jahren gefordert gewesen, die notwendigen Löschungssicherungen erreicht zu haben, gegebenenfalls
auch mit gesetzlichen Vorschriften. Bei der jetzigen Regelung werden wir jahrelang an Lösungen arbeiten, auf Bedenkenträger aller Art hören, aber die Schuldner weiterhin einer Prangerwirkung aussetzen.
Ich denke natürlich auch an die Gläubiger, die ihr Geld
- oder Teile ihres Geldes - endgültig verlieren. Aber bei
der derzeitigen, regelmäßig fast 30-jährigen Lösung mit
einem gerichtlichen Titel haben die Gläubiger durchweg
nicht mehr bekommen; denn nur relativ selten hat ein
Schuldner nachträglich so viel Geld verdient, dass er die
Verbindlichkeiten zahlen konnte.
Einem Schuldner mit früher selbstständiger Tätigkeit
wird das Schuldnerbefreiungsverfahren dann ermöglicht,
wenn er bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens weniger
als 20 Gläubiger hat und keine Forderungen aus Arbeitsverhältnissen bestehen. Hier ist der Gesetzentwurf wohl
zu kurz gesprungen, denn 20 Gläubiger sind schon im Bereich des täglichen Lebens nicht übermäßig viel.
Wir werden die Entwicklung abwarten und die Schuldnerberatungsstellen um Informationen bitten; gegebenenfalls müsste hier eine andere Lösung gefunden werden.
Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen, auch
weil wir der Meinung sind, dass er eine partielle Verbesserung bedeutet. Aber der ganz große Wurf ist ausgeblieben, Herr Hartenbach.
Auch Ihrem Entschließungsantrag werden wir zustimmen. Wir hätten die Regelung zwar lieber gleich mit diesem Gesetzentwurf verabschiedet, aber wir hoffen, dass
eine vernünftige Lösung dabei herauskommt.
Danke schön.
({3})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf den heutigen Tag haben viele überschuldete Menschen in unserem Land gewartet. Mit der rot-grünen Reform der
Insolvenzordnung erleichtern wir ihnen endlich den Weg
aus der Schuldenfalle.
Wir schaffen die gesetzlichen Bedingungen dafür, dass
viele der rund 2,8 Millionen verschuldeten Haushalte in
Deutschland auf einen Neuanfang hoffen können. Wir erleichtern ihnen den Einstieg in das Verbraucherinsolvenzverfahren. Zugleich verkürzen wir die Dauer des Verfahrens erheblich. Die Reparatur des Insolvenzrechtes war
dringend erforderlich. Das ursprüngliche Ziel des Gesetzgebers, den Betroffenen nach rund sieben Jahren einen
schuldenfreien Neuanfang über eine Restschuldbefreiung
zu ermöglichen, ließ sich mit der alten Regelung nicht erreichen.
Für viele Schuldner scheiterte der Weg aus der Schuldenfalle schon an der Hürde der hohen Verfahrenskosten.
Die Gerichte bewilligten in der Mehrzahl keine Prozesskostenhilfe. Es entstand eine absurde Situation: Das Verbraucherinsolvenzverfahren, das gerade den Menschen,
die über keine Mittel verfügen, helfen sollte, blieb diesen
Menschen deshalb versperrt, weil sie über keine Mittel
verfügen. Das war, meine Damen und Herren, die Quadratur des Kreises.
Wir haben diesen Missstand, wie ich meine, jetzt mit
dem Stundungsmodell gut gelöst, obwohl - daraus mache ich keinen Hehl - auch meiner Fraktion eine klarstellende Regelung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe lieber gewesen wäre. In diesem Punkt aber war, wie
wir alle wissen, Herr Kollege von Stetten, der Widerstand
der Länder - und zwar der A- wie der B-Länder - zu groß.
Mit ihnen war das schlichtweg nicht zu machen.
({0})
Ich bedauere das. Aber wer hier die Backen aufbläst, muss
erst einmal seine Länderstimmen auf den Tisch des Hauses legen, bevor er hier so tun kann, als ob Rot-Grün nicht
gekämpft hätte.
({1})
Ein weiteres Dilemma der alten Rechtslage war die
tatsächliche Dauer bis zur Entschuldung. De facto waren
es nicht sieben, sondern manchmal sogar mehr als zehn
Jahre, die es bis zur Schuldenfreiheit gebraucht hätte.
Auch in diesem Punkt haben wir Abhilfe geschaffen. Wir
haben die bislang siebenjährige Wohlverhaltensperiode,
in der verpfändbares Einkommen abgetreten werden
muss, auf sechs Jahre verkürzt. Wir haben auch den Beginn dieser Periode vorverlegt. Allein dies kann zu einer
Verkürzung des Gesamtverfahrens um zwei bis drei Jahre
führen.
Vor allem für den letzten Punkt hat meine Fraktion von
den Schuldnerberatungsstellen Lob erfahren. Wir haben
darauf gedrängt, in puncto Verfahrensdauer nachzubessern. Ich bin auch sehr zufrieden darüber, dass es gelungen ist, so eine erhebliche Verbesserung des eingebrachten Gesetzentwurfs zu erreichen.
In den alten Bundesländern sind konstant etwa 1,9 Millionen Privathaushalte überschuldet. In den neuen Ländern sind es rund 800 000; dort ist die Tendenz steigend.
Diese Zahlen sind umso alarmierender, wenn man bedenkt, dass jeder dritte überschuldete Haushalt sogar mit
mehr als 50 000 DM in der Kreide steht. Für viele Menschen sind solche Beträge keine Peanuts.
Überschuldung kann die unterschiedlichsten Ursachen
haben: Arbeitslosigkeit, aber auch plötzliche Schicksalsschläge wie Unfälle, Krankheit, Tod eines Partners, das
Scheitern einer Beziehung und auch - darauf haben die
Schuldnerberatungsverbände vor einigen Tagen zu Recht
hingewiesen - die Unerfahrenheit und Naivität der Verbraucher gegenüber so manchen verlockenden unverantwortlichen Kredit- und Konsumangeboten.
Wenn in der Nachbarschaft ein großes Versandhaus
wöchentlich anliefert und dieselben Mieter eines Tages
ausziehen müssen, weil sie nicht mehr in der Lage sind,
ihre Wohnungsmiete zu bezahlen, dann hat der bunte Katalog den Geldbeutel gesprengt. Mit anderen Worten:
Nicht nur bei den Essgewohnheiten müssen wir anscheinend viele Bürgerinnen und Bürger noch von einem anderen Konsumverhalten überzeugen.
({2})
Verantwortlich für ihre Misere sind aber keineswegs
immer die Betroffenen selbst. Auch Kredithaie, die die
Notlage der Betroffenen ausnutzen, um über horrende
Zinsen abzukassieren, sind oft Ursache der Verschuldung.
Und auch die Banken müssen sich einmal fragen, ob sie
nicht vielleicht künftig weniger aggressiv mit vermeintlich problemlosen Konsumentenkrediten werben sollten,
wenn doch der Verdacht nahe liegt, dass viele der Kreditnehmer das Geld später nicht zurückzahlen können.
Meine Damen und Herren, die Arbeitsgemeinschaft
der Schuldnerberatungsverbände hat die Koalition von
Anfang an in ihrem Vorhaben bestärkt und hat diese Reform der Insolvenzordnung begrüßt. Zu Recht: Für viele
Menschen bietet diese Reform eine wirkliche Chance
zum Neuanfang: Sie ermöglicht ihnen eine Rückkehr ins
Wirtschafts- und Arbeitsleben. Das ist ein enormer gesellschaftlicher und sozialer Gewinn; denn Überschuldung ist
für Menschen nicht nur eine erhebliche psychische Belastung. Sie verhindert auch die Wiedereingliederung in das
Erwerbsleben und zementiert den Bezug von Sozialleistungen.
Herr Kollege von Stetten, Sie haben die Internetveröffentlichung angesprochen. Dies ist zu Recht ein großes
Problem. Deshalb haben wir gesagt, wir wollen diesen Entschließungsantrag einbringen. Aber das ist ein Problem,
dem nicht nur im Zusammenhang mit der Veröffentlichung
dieser Daten im Internet eine Bedeutung zukommt. Wir haben es auch in vergleichbaren Bereichen durch die Möglichkeit des Internets oftmals erlebt, dass solche Daten allgemein verfügbar sind, dass sie eine Prangerfunktion haben
und dass sich bei Spiegelung oder Einscannung dieser Daten aus den gedruckten Exemplaren der Veröffentlichungen
das Problem ergibt, dass sie in den gespiegelten Dateien
nicht gelöscht werden, auch wenn sie im Verzeichnis
gelöscht worden sind.
({3})
Nach Ansicht unserer Fraktion brauchen wir ({4})
- lassen Sie mich meinen Satz bitte beenden
Herr Kollege Beck,
Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.
- eine Bußgeldvorschrift, die untersagt, dass diese Daten
nach der Löschung in der Quelldatei von Dritten weiterverwendet werden dürfen, damit diese Prangerfunktion
entfällt, weil diese verhindert, dass diese Menschen einen
wirtschaftlichen und sozialen Neustart bekommen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zugrunde liegende Insolvenzordnung ist 1993 mit den Stimmen aller Mitglieder dieses
Hauses - ich glaube, mit einer Ausnahme - beschlossen
worden. Ich bin froh darüber gewesen, dass wir diese Einhelligkeit haben feststellen können; denn bei der Insolvenzordnung - darauf hat der Kollege Beck hingewiesen - handelt es sich um eine wesentliche gesellschaftspolitische Tat, die wir 1993, damals allerdings noch,
glaube ich, inAbwesenheit der Grünen, beschlossen haben.
({0})
Wir hätten gern auch der Novellierung der Insolvenzordnung zugestimmt. Hierzu sehen wir uns leider nicht in der
Lage. Ich will das kurz begründen. Wir werden uns der
Stimme enthalten.
({1})
Die F.D.P.-Fraktion lehnt das neu erfundene Stundungsverfahren für die Kosten des Insolvenzverfahrens
statt des üblichen Prozesskostenhilfeverfahrens ab. Es
war stets Auffassung aller Bundestagsfraktionen, auch
1993, dass das bewährte - ({2})
- Herr Kollege Beck, ich weiß nicht, ob es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen ist: Wir sind hier im Deutschen
Bundestag und der Deutsche Bundestag hat immer wieder
großen Wert darauf gelegt, seine Meinung eigenständig zu
äußern.
({3})
Wir haben das Prozesskostenhilfeverfahren damals, 1993,
als richtig angesehen. Später sind die Urteile einiger
Oberlandesgerichte nicht zu demselben Ergebnis gekommen, aber einige haben dieser Auffassung des Bundestages Rechnung getragen.
Jetzt aber dafür ein Stundungsverfahren einzuführen,
das viel komplizierter ist als das Prozesskostenhilfeverfahren, vermag ich nicht als Fortschritt zu erkennen.
({4})
Hier werden wir neue Schwierigkeiten haben, insbesondere in der Umsetzung. Der Kollege von Stetten hat darauf aufmerksam gemacht.
Eines der Prinzipien - das ist der zweite Grund, aus
dem wir nicht zustimmen können - der neuen Insolvenzordnung war die verstärkte Gläubigerautonomie.
Die nunmehr gefundene Lösung bei der Abwahl eines Insolvenzverwalters durchbricht dieses Prinzip der Gläubigerautonomie.
Meine Damen und Herren, ich will betonen, dass ich
für die sachliche und vernünftige Art der Beratung im
Rechtsausschuss und auch im Rahmen der Berichterstattergespräche dankbar bin. Aber ich will eines deutlich
machen: Nach Abschluss der Beratungen unter den Berichterstattern und nach den Anhörungen sind zwei grundlegende Änderungen vorgenommen worden, ohne dass
diese mit Sachverständigen oder mit den Berichterstattern
in Ruhe und Gelassenheit hätten beraten werden können.
Es handelt sich dabei erstens um die Verkürzung der in
§ 114 Abs. 1 ZPO enthaltenen Frist, wonach Dienstbezüge bislang für drei Jahre abgetreten werden können.
Jetzt wird eine Verkürzung auf zwei Jahre vorgenommen.
Das klingt ganz harmlos. Herr Beck hat das zwar sehr nett,
aber, wie ich meine, aus wirtschaftlicher Sicht völlig verdreht dargestellt. Denn beispielsweise junge Eheleute, die
für die Haushaltsgründung ein Darlehen aufnehmen wollen, oder junge Start-up-Unternehmer, die von einer Bank
bzw. der Sparkasse ein Darlehen benötigen, müssen Kreditsicherheiten geben. Diese sind nun einmal gerade in
jungen Jahren die Dienstbezüge. Indem ich die Abtretbarkeit von drei Jahren auf zwei Jahre senke, senke ich
gleichzeitig das Kreditvolumen auf zwei Drittel - und das
kann doch nicht im Sinne zum Beispiel junger Eheleute
sein, die einen Kredit aufnehmen wollen.
({5})
Volker Beck ({6})
Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, was hieran sozial oder
gar sozialdemokratisch sein soll.
({7})
Herr Funke, auch Sie
muss ich jetzt ermahnen, was die Redezeit betrifft.
Wenn ich noch zwei Sätze sagen darf?
Die dürfen nur nicht
von Thomas Mann sein.
({0})
Mit Sicherheit nicht! Das ist
auch nicht meine Art.
Die zweite Änderung betrifft die Verkürzung der
Wohlverhaltensperiode von sieben auf sechs Jahre. Wir
hätten dieser Änderung zugestimmt. Das ist gar keine
Frage; das habe ich immer erklärt. Aber diese Änderung
erst in der Nacht vor der endgültigen Beratung nachzuschieben, halte ich für einen schlechten parlamentarischen Stil, und dafür sind Sie, Herr Beck, verantwortlich.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der in den letzten
zehn Jahren dramatisch ansteigenden Zahl von überschuldeten Haushalten und der massiven Probleme bei
der praktischen Handhabung der Verbraucherinsolvenz in
den letzten zweieinhalb Jahren ist es höchste Zeit, dass
wir uns heute in zweiter und dritter Lesung mit der Änderung der Insolvenzordnung befassen.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die PDSFraktion bereits vor anderthalb Jahren einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung eingebracht hat,
({0})
unter anderem mit klarstellenden Regelungen zur Prozesskostenhilfe, zur Absenkung der Wohlverhaltensperiode
und zur Aufnahme des Vollstreckungsschutzes für das
Verfahren der außergerichtlichen Einigung.
Mit Befriedigung habe ich deshalb festgestellt, dass einige unserer Vorschläge auf durchaus fruchtbaren Boden
gefallen sind,
({1})
denn die Bundesregierung geht mit ihrem Entwurf zum
Teil in die gleiche Richtung. Das betrifft zum einen die
Absenkung der Wohlverhaltensperiode von sieben auf
sechs Jahre. Wir hatten eine Absenkung von sieben auf
fünf Jahre vorgeschlagen. Das betrifft zum anderen die
Ausdehnung des Vollstreckungsschutzes auf das Verfahren der außergerichtlichen Einigung, das heißt die Rückschlagsperre für drei Monate. Wir hatten hier eine ausgiebigere Regelung vorgeschlagen, die sich leider nicht in
diesem Umfang wiederfindet. Aber immerhin, im vorgeschlagenen § 765 a Abs. 4 ZPO sind sogar einige Formulierungen zu finden, die unseren Vorschlägen zumindest
nahe kommen. Das freut mich ebenfalls.
({2})
- Sie loben uns ja nicht; dann muss ich es selber tun.
({3})
Der Regierungsentwurf enthält weitere begrüßenswerte Vorschläge: so zum einen die Einführung eines fakultativen gerichtlichen Schuldenbereinigungsverfahrens
und zum anderen die Senkung der Kosten, beispielsweise
die für die Internetnutzung, die Verringerung der Zahl der
zuzustellenden Unterlagen oder auch die Einführung
einer Notfrist von einem Monat für Gläubigerstellungnahmen.
Aber bei zwei Punkten haben wir ernsthafte Probleme.
Das betrifft zum einen die Finanzierung der Kosten des
Insolvenzverfahrens über das Stundungsmodell. In diesem Fall favorisieren wir das von uns vorgeschlagene
PKH-Modell, so wie es im ursprünglichen Insolvenzverfahren vorgesehen ist. Unbestritten ist, dass die Stundung
möglich ist. Das erweiterte Berichterstattergespräch hat
aber gezeigt, dass im Grunde genommen alle Fraktionen
die Finanzierung über die Prozesskostenhilfe für besser
und einfacher als das jetzt vorgeschlagene kompliziertere
Stundungsmodell halten.
({4})
Lediglich die Länder sind leider aus Kostengründen
dagegen. Ob es tatsächlich eine Ersparnis geben wird,
wage ich in Anbetracht der vielen mittellosen Schuldner
zu bezweifeln. Auf jeden Fall wird es bei nicht wenigen
Schuldnern zu einer Verlängerung der Phase bis zur entgültigen Entschuldung auf mehr als zehn Jahre kommen.
Zum anderen haben wir Probleme hinsichtlich des Anwendungsbereichs des § 304 der Insolvenzordnung. Die
beabsichtigte Änderung hat zur Folge, dass viele wirtschaftlich Selbstständige, das heißt Kleinunternehmer,
durch die engeren Anwendungsgrenzen weitgehend aus
der Verbraucherinsolvenz herausfallen und mit deutlich
höheren Kosten konfrontiert werden.
({5})
- Ich komme auch zum Schluss.
Wir werden uns deshalb enthalten. Wir lehnen den Entwurf nicht ab, da er in die Richtung geht, in die wir ebenRainer Funke
falls gehen wollen. Eine Zustimmung ist aber aus den beiden genannten Gründen leider nicht möglich.
({6})
Letzter Redner für die
SPD-Fraktion ist der Kollege Alfred Hartenbach.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe von 1985 bis 1994
als Amtsrichter die Aufgabe gehabt, Konkursverfahren
durchzuführen und war dabei auch für die Fragen der
Zwangsvollstreckung zuständig. Verehrter Kollege von
Stetten, diejenigen, die damals die politischen Rahmenbedingungen gesetzt haben, haben in meinem Register
immer dafür gesorgt, dass sowohl die Anzahl der Zwangsvollstreckungsverfahren - Steigerungsraten von 10 Prozent pro Jahr - als auch die Anzahl der Konkursverfahren,
die heute „Insolvenzverfahren“ heißen, von Jahr zu Jahr
zunahmen.
Ich finde es daher ein bisschen billig, wenn Sie meinen
in Ihrem Entrée zu Ihrer Rede sagen zu müssen, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seien Schuld daran,
dass wir 2,8 Millionen überschuldete Haushalte haben.
Ich finde es dramatisch, dass wir so viele überschuldete
Haushalte haben, und wir sollten uns alle als politisch Verantwortliche an die Nase fassen und erkennen, dass hier
etwas geändert werden muss.
({0})
- Mensch, Norbert, halte doch einmal den Mund!
({1})
Ich will mit aller Deutlichkeit sagen: Nachdem Sie in
der 12. Legislaturperiode mit dem Insolvenzverfahren
und der Möglichkeit der Verbraucherinsolvenz ein wirklich gutes Gesetz gemacht haben, haben wir heute die Gelegenheit, dieses Gesetz zu verbessern. Sie selbst haben
gesehen, dass das Gesetz unvollständig ist und nicht so
gegriffen hat, wie Sie sich das vorgestellt haben. Wenn Sie
damals der Meinung gewesen sind, dass es besser ist, das
Insolvenzverfahren mit den Vorschriften der Prozesskostenhilfe zu koppeln, dann hätten Sie das ja tun können.
({2})
Dann würden wir heute dieses Thema nicht angehen müssen.
({3})
- Ich habe dich doch eben um etwas gebeten.
({4})
Nun müssen wir das heute korrigieren und ich denke,
dass dies fast unbemerkt von der Öffentlichkeit geschieht.
Wir beraten heute über einen Entwurf, den ich zu den
wirklich guten Entwürfen zähle, denn wir geben durch die
Umsetzung dieses Entwurfs vielen Menschen die Möglichkeit, nach einer kurzen Zeit wieder in das Wirtschaftsleben zurückzukehren, anstatt zu wissen, dass sie,
wie bisher, alles, was sie über den pfändungsfreien Betrag
hinaus verdienen, über einen Zeitraum von 30 Jahren an
ihre Gläubiger abführen müssen.
Wir wissen auch - Herr von Stetten und Herr Funke
haben es erwähnt -, dass die Gläubiger in aller Regel
keine Befriedigung gefunden haben. Wir wissen alle, dass
die meisten Menschen, die überschuldet waren, die gepfändet wurden, die Konkurs anmelden mussten, kein Interesse mehr daran hatten, wieder am Wirtschaftsleben
teilzunehmen. Dies ist einer der wesentlichen Punkte: bei
diesen Menschen wieder Interesse zu wecken, am Wirtschaftsleben teilzunehmen.
Davon haben die Menschen etwas; denn es steigert ihr
Selbstwertgefühl. Die Kinder dieser Menschen haben etwas davon; denn es ist, glaube ich, eine der schlimmsten
Erfahrungen, wenn man als Kind in Armut, in einem überschuldeten Haushalt aufwachsen muss. Die Städte und
Kommunen haben etwas davon, weil sie weniger Sozialhilfe zahlen müssen. Die Länder und der Bund haben auch
etwas davon, weil wieder Steuern eingenommen werden.
Also haben wir hier ein rundherum vernünftiges Gesetz
geschaffen.
({5})
Wir kommen den Menschen noch weiter entgegen, indem wir - ich bin froh, dass sich das aus den Beratungen,
die wir mit Experten geführt haben, ergeben hat - die
Wohlverhaltensphase abkürzen und einen festen Zeitpunkt festsetzen, der sicher bestimmbar ist, ab dem die
Wohlverhaltensphase beginnt.
Nun haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, neben
anderen Problemen auch das der so genannten Kleingewerbetreibenden. Sicherlich ist die Zahl - ob 10, 20 oder
30 Gläubiger - gegriffen, aber wir wissen, dass wir eine
Zahl greifen mussten; denn das Verbraucherinsolvenzverfahren soll - insbesondere für die zuständigen Stellen, die
Schuldnerberatungsstellen - überschaubar sein. Es soll
schnell gehen. Die Menschen sollen schnell in die Wohlverhaltensphase kommen. Je höher die Zahl der Gläubiger wird, desto geringer ist die Chance, dass es zu einer
Einigung kommt, desto geringer ist die Chance, dass die
Restschuldbefreiung erteilt wird.
Wir haben auch - und das ist richtig so - die modernen
Medien für Veröffentlichungen genutzt. Aber wir mussten
auch erkennen - ich bin dem Bundesbeauftragten für den
Datenschutz dankbar dafür, dass er uns darauf hingewiesen hat -, dass die neuen Medien datenschutzrechtliche
Probleme in sich bergen. Wir alle wissen, wie schwer man
sich immer wieder tut, vernünftige, griffige und vor allen
Dingen verständliche datenschutzrechtliche Regelungen
zu finden. Uns ging es - darum finde ich die Kritik nicht
angebracht - darum, über das Thema „Stundungsmodell“
und das Thema „Verkürzung der Restschuldbefreiung“
so schnell wie möglich das Verfahren der Verbraucherinsolvenz für viele Menschen zu eröffnen. Daher ging es
nicht an, noch lange darüber reden, wie man dies datenschutzrechtlich abklären kann. Daher haben wir die
Verordnungsermächtigung in den Gesetzentwurf aufgenommen und unseren Entschließungsantrag eingebracht.
Wir bitten, hier eine vernünftige Regelung zu finden.
Ich denke, kurz vor der Sommerpause sollte man hier
versöhnliche Töne finden, nachdem wir gerade bei diesem - ich sage es noch einmal - so wichtigen Gesetz gut
zusammengearbeitet haben. Lassen Sie mich Ihnen für die
Art der Beratung, für den Umgang miteinander danken.
Wir haben gemeinsam etwas Gutes geschaffen und ich
würde mich freuen, wenn Sie alle zustimmen würden.
Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen, Herr Professor Pick, und Ihrem Hause, dem Bundesjustizministerium, bei Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die
guten Beratungen. Ich darf hier die Länder mit einschließen, von denen einige sicherlich über ihren Schatten gesprungen sind.
Bei Ihnen, Frau Präsidentin, bedanke ich mich für die
Großmut hinsichtlich der Überziehung.
({6})
Die galt in dieser Debatte nun wirklich allen. Da war ich sehr neutral.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
der Insolvenzverordnung und anderer Gesetze auf Drucksache 14/5680. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6468 die Annahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Korrektur zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
bei Enthaltung der Fraktionen der F.D.P. und der PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist damit bei Enthaltung der Fraktionen der F.D.P. und der
PDS angenommen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 14/6473. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der
F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung der Insolvenzordnung
auf Drucksache 14/2496. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6468, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Hermann Bachmaier, Doris Barnett,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Volker Beck ({0}),
Grietje Bettin, Rita Grießhaber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der vertraglichen Stellung von
Urhebern und ausübenden Künstlern
- Drucksache 14/6433 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich ver-
künde aber jetzt schon, dass die Kolleginnen und Kolle-
gen Dirk Manzewski, Dr. Antje Vollmer1), Rainer Funke
und die Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin1)
ihre Reden zu Protokoll gegeben haben.
Ich eröffne die Aussprache für die restlichen Rednerinnen und Redner und erteile zunächst dem Kollegen
Dr. Norbert Röttgen das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSUFraktion hat sich in dem letzten halben Jahr, in den vergangenen Monaten intensiv mit dem Urheberrecht und
der Reform des Urhebervertragsrechts beschäftigt. Wir
haben das getan, weil das Urheberrecht eine entscheidende Rahmenbedingung für das kulturelle Leben in unserem Land bildet, für seine Vielfalt, für die Chancen, für
die Entfaltungsmöglichkeiten, die Künstler in unserem
Land haben, für seine internationale Ausstrahlung, aber
auch für die Chancen der Kulturwirtschaft in Deutschland.
({0})
Auch die Bundesregierung und die Bundesjustizministerin weisen diesem Vorhaben einen hohen Stellenwert zu.
Darum bitte ich Sie, es mir nicht übel zu nehmen, wenn ich
mein Unverständnis darüber äußere, dass die Bundesjustizministerin dieses Projekt in der Öffentlichkeit propagiert, hier im Plenum des Deutschen Bundestages aber weder die Bundesregierung noch die Bundesjustizministerin
noch der Parlamentarische Staatssekretär noch ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete der Koalition zu diesem
Projekt das Wort ergreift, meine Damen und Herren.
({1})
1) Anlage 6
Ich finde es einen unmöglichen Stil, in der Öffentlichkeit
wichtige Projekte zu propagieren und jetzt im Bundestag - auch wenn es spät ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen und auch von den anderen Fraktionen - nicht mehr Stellung zu beziehen.
Unsere Fraktion hat nicht dafür plädiert, dass wir dieses wichtige Projekt noch in letzter Minute in dieser vorletzten Sitzungswoche platzieren. Wir sind nicht dafür
und halten es dem Stellenwert dieses Themas nicht für angemessen, dass wir es um halb zehn in einer halbstündigen Debatte mehr oder weniger abhaken. Das entspricht
auch nicht dem Stellenwert, den Sie diesem Thema öffentlich einräumen.
Ich komme gerade von einer Veranstaltung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Wir erkennen in diesem Thema leider auch ein Muster rot-grüner Rechtspolitik. Wie bei der Schuldrechtsreform, die bei dem größten
Teil der Rechtswissenschaft wie der Wirtschaft auf große
Ablehnung stößt, wie bei der Ziviljustizreform, die auf erbitterten Widerstand der Richterschaft, der Anwaltschaft
gestoßen ist, die am Ende auch erfolgreich Widerstand geleistet hat, findet auch dieses Vorhaben absolut geschlossenen Widerstand bei der betroffenen Kulturwirtschaft.
Die Verlage - ob es Zeitungsverlage sind, Zeitschriftenverlage, Buchverlage, Musikverlage -, Filmwirtschaft,
Fernsehen: Alle sind geschlossen gegen dieses Projekt,
meine Damen und Herren. Und Sie - ich begrüße Ihre jetzt
laufenden Konsultationen - halten es nicht für nötig, hier
im Bundestag dieses Projekt, das die betroffene Wirtschaft
mit Empörung ablehnt, zu verteidigen. Diesen Stil empfinde ich als nicht in Ordnung. Das ist der Grund, warum
ich hier das Wort ergreife, meine Damen und Herren.
({2})
Bevor ich zur Sachkritik im Einzelnen komme, betone
ich, dass die CDU/CSU-Fraktion selbstverständlich auch
in dieser rechtspolitischen Frage zur konstruktiven Mitarbeit bereit ist und diese anbietet. Ich sehe den Sinn dieser Debatte am heutigen - etwas späteren - Abend im Wesentlichen in der Bitte, uns mitzuteilen, ob dieses Angebot
von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen
angenommen wird. Sind Sie zu einem konstruktiven Dialog mit uns und den Beteiligten in dieser Sache bereit, um
am Ende zu einem gemeinsamen Vorschlag zu kommen?
Wenn Sie unser Angebot annehmen, dann können wir
nicht hopplahopp nach der Sommerpause zur zweiten und
dritten Lesung kommen und dieses Gesetz verabschieden,
sondern dann müssen wir miteinander intensiv beraten.
Ich komme zum Gesetzentwurf.
({3})
- Die Bemerkungen zuvor waren angemessen. Im Übrigen bitte ich Sie, wenn Sie zu meinen Ausführungen Stellung nehmen wollen, sich auf die Abgeordnetenbank zu
begeben. Auch das ist eine Stilfrage, wie sich die Mitglieder der Bundesregierung gegenüber dem Parlament benehmen.
({4})
- Herr Kollege Bachmaier, wenn Sie dieses Stilempfinden
nicht teilen, sagt das mehr über Sie als über mich aus.
Die Fraktion der CDU/CSU ist der Auffassung, dass es
im Bereich des Urheberrechts einen punktuellen Handlungsbedarf gibt: dass es Einzelbereiche gibt, bei denen
wir durch die Verbesserung der Rechtsstellung die wirtschaftliche Situation von Künstlern verbessern müssen.
Aber es gibt eben nur punktuellen Handlungsbedarf. Der
grundlegende Strickfehler Ihres Gesetzentwurfs liegt
darin, dass Sie diesem punktuellen Handlungsbedarf nicht
mit punktuellen Regelungen entsprechen, sondern dass
Sie alles reglementieren wollen, jedenfalls mehr, als reguliert werden muss. Das führt zwangsläufig dazu, dass
Sie mit diesem Gesetzentwurf viel mehr Probleme schaffen - selbst dort, wo es noch gar keine gibt -, als Sie überhaupt lösen können.
Der rote Faden, der sich durch diesen Gesetzentwurf
zieht, ist die konsequente Beschneidung der Vertragsfreiheit als Ausdruck privater und gesellschaftlicher Lebensgestaltung. Es ist ein freiheitsfeindlicher Gesetzentwurf; Sie setzen auf staatliche oder kollektive Reglementierung von Vertragsverhältnissen. Das ist verfassungsrechtlich hoch problematisch. Die Instrumente sind
altmodisch. Für die Vielzahl der kleinen und mittleren Betriebe, die die deutsche Kulturwirtschaft prägen, ist es
wirtschaftlich existenzbedrohend und es ist international
nicht wettbewerbsfähig.
Ich komme zu einigen wenigen Einzelbestimmungen,
die im Zentrum der Kritik stehen. An erster Stelle ist der
vorgeschlagene § 32 des Urheberrechtsgesetzes zu nennen, der gesetzliche Anspruch auf angemessene Vergütung. Das ist staatliche Preisfestsetzung: Nicht der Markt,
nicht Angebot und Nachfrage sollen entscheiden, es soll
auch nicht nur eine Preisaufsicht, eine Missbrauchskontrolle geben, sondern Gerichte sollen den Preis festsetzen.
Das ist unserer Auffassung nach ordnungspolitisch verfehlt und beruht auf einer Fiktion: Was ist denn der angemessene Preis für ein Drehbuch, für einen Beitrag in einer
Zeitung? Wie soll das Gericht das erkennen und diesen
Preis festsetzen, wenn es sich um einen kleinen Verlag
handelt, der in zehn junge, noch unbekannte Autoren investiert, von denen neun keinen Erfolg haben, während
der zehnte erfolgreich ist? Also muss doch aus den Gewinnen dieses zehnten Autors die Investition in die neun
anderen Autoren, denen eine Chance gegeben wurde, bezahlt werden. Diese Mischkalkulation muss ein Verlagsunternehmen anstellen können.
Wie sollen Gerichte also den angemessenen Preis festlegen?
Die gesetzliche Festlegung eines Anspruchs auf angemessene Vergütung führt zu einer existenzbedrohenden
Rechtsunsicherheit. Das ist ein Damoklesschwert, das
über jedem Vertrag schwebt. Es sollen sogar rückwirkend,
bis zu 20 Jahre vor In-Kraft-Treten des jetzt vorliegenden
Gesetzes, Verträge erfasst werden. Damit besteht auch
Rechtsunsicherheit für jeden Werknutzer, also für jeden
Lizenznehmer. Sie bringen eine totale Rechtsunsicherheit
in die gesamte Kulturbranche, insbesondere in die Verlagsbranche, hinein, die gerade für kleinere und mittlere
Betriebe existenzbedrohend sein kann, weil sie ihre kalkulatorische Basis für Investitionen verlieren.
({5})
Sie wollen in § 32 Abs. 5 des Urheberrechtsgesetzes
beiden vertragsschließenden Seiten das Recht einräumen,
nach mehr als 30 Jahren zu kündigen. Die Verleger der
Musikbranche, insbesondere diejenigen, die ernste Musik
verlegen, sagen, dass ihre Investitionszyklen 30 bis
60 Jahre umfassen; denn so lange kann es dauern, bis ein
Stück der ernsten Musik erfolgreich ist. Aber Sie haben
vorgeschlagen, dass der Urheber schon nach 30 Jahren
kündigen kann. Das wird dazu führen, dass kleinere Verlage investieren, dass aber dann, wenn sich ein Erfolg
nach 30 oder 40 Jahren einstellt, große Verlage die erfolgreichen Produkte kaufen werden und die kleinen Verlage
auf ihren nicht erfolgreichen Investitionen sitzen bleiben
werden. Das, was Sie betreiben, ist mittelstandsfeindlich.
Das wird von den kleinen Verlagen ganz nüchtern auch so
vorgetragen.
({6})
Die in § 39 Abs. 3 vorgesehene Gestattungsbedürftigkeit jeder Änderung und die Widerruflichkeit von Änderungen bringen Rechtsunsicherheit mit sich, die insbesondere für die Filmwirtschaft, aber auch für die Verlage
sehr problematisch ist. Ein Film zum Beispiel setzt sich
aus vielen Werken zusammen. Wenn jede Änderung gestattungsbedürftig und widerruflich ist, dann können
Filme praktisch gar nicht mehr hergestellt werden.
Ich möchte auf einen letzten sehr problematischen
Punkt eingehen, nämlich § 36, der verbindliche Vergütungsregeln vorsieht. Das sind kollektivistische Regelungen. Das ist schon im Ansatz falsch, weil allgemeine,
abstrakte Regelungen der die deutsche Kulturlandschaft
prägenden Vielfalt nicht gerecht werden können. Eine
kollektive Regelung ist das falsche Instrument, weil sie
nicht einzelfallgerecht sein kann. Besonders abstrus ist,
dass die Verbände der Verwerter nicht gezwungen sind,
Vergütungsregeln miteinander zu vereinbaren, zugleich
aber die Verbände der Urheber einzelne Unternehmen zur
Annahme solcher Vergütungsregeln zwingen können.
Wenn die Unternehmen dazu nicht bereit sind, muss eine
Schiedsstelle, also wieder eine staatliche Einrichtung,
entscheiden. Sollte keine Einigung möglich sein, dann
geht der Fall an die Oberlandesgerichte. Die von Ihnen
vorgeschlagene kollektive Reglementierung endet also in
gerichtlicher Festsetzung von vertraglichen Inhalten, die
eigentlich individuell geregelt werden müssten. Das kann
nur schief gehen.
({7})
Eine solche Regelung ist auch verfassungsrechtlich sehr
problematisch.
Das, was Sie vorhaben
Herr Kollege Röttgen,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
- ich komme zum
Schluss -, ist nicht nur zum Schaden der Kulturwirtschaft
sowie der kleinen und mittleren Verlage, sondern auch der
Urheber. Ich möchte zuletzt den Börsenverein des Deutschen Buchhandels zitieren:
Auch den Urhebern ist nicht damit gedient, wenn die
Entwertung geschlossener Verträge bewerkstelligt
wird. Der vorliegende Entwurf verbessert die Situation der Urheber nicht, sondern er gefährdet sie
durch die von ihm ausgelöste rechtliche und wirtschaftliche Erosion der Arbeitsbasis der Verlage.
Seine Umsetzung würde gravierende negative Folgen für den Medienstandort Deutschland haben.
Das ist die Dimension, um die es geht.
Wir appellieren an Sie, zu einem konstruktiven Dialog
in dieser Sache zurückzukehren, damit ein vernünftiger
Gesetzentwurf zustande kommt.
Herzlichen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, in der Zwischenzeit haben sich alle Kolleginnen und Kollegen, die ursprünglich ihre Reden zu Protokoll gegeben hatten, entschieden, von ihrem parlamentarischen Rederecht Gebrauch zu machen.
Ich erteile zunächst das Wort zu einer Kurzintervention
der Kollegin Steffi Lemke.
Herr
Kollege Röttgen, Sie haben intensiv darauf Bezug genommen, dass sich einige Redner entschlossen haben,
ihre Reden zu Protokoll zu geben.
Erstens. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die Debattenzeiten an den Freitagen und auch an den Donnerstagen zurzeit in der Regel sehr lang sind und dass heute
- außer den von Ihnen genannten - noch andere wichtige
Punkte auf der Tagesordnung stehen, zu denen ebenfalls
Reden zu Protokoll gegeben werden. Es besteht unter den
Fraktionen - auch mit der Ihren - die Vereinbarung, dieses parlamentarische Verfahren anzuwenden. Dieses
Verfahren ist also üblich und nichts Außergewöhnliches.
Es sagt nichts darüber aus, ob eine Debattenrednerin, ein
Debattenredner oder eine Fraktion ein Thema hoch
schätzt oder nicht.
({0})
Zweitens. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich Sie im Plenum nicht sehr oft sehe; das gilt insbesondere für die
Abendstunden. Ich finde deshalb, dass es gegenüber den
Kollegen absolut unkollegial ist, wie Sie Ihren Debattenbeitrag strukturiert haben.
Drittens. Wenn Sie sich damit nicht so lange aufgehalten hätten, dann hätten Sie Ihre Redezeit vielleicht eingehalten und nicht überzogen.
({1})
Herr Kollege Röttgen,
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
({0})
Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/
CSU-Fraktion hat nicht darauf gedrängt, dass dieses Thema
noch in der vorletzten Sitzungswoche vor der Sommerpause debattiert wird. Auch halte ich dieses Thema nicht für das
wichtigste, das es auf der politischen Agenda gibt.
Der Vorlauf sieht aus meiner Sicht folgendermaßen
aus: Die Bundesregierung will ein - nach ihrer eigenen
Einschätzung - wichtiges Thema unbedingt noch in das
parlamentarische Verfahren einbringen und die Koalitionsfraktionen haben deshalb den Gesetzentwurf der
Bundesregierung unverändert übernommen, damit er
noch im Plenum diskutiert werden kann. Wenn die Bundesregierung, um deren Vorhaben es sich schließlich handelt, vor diesem Hintergrund nicht dazu bereit ist - ich
verweise darauf, dass nur der Parlamentarische Staatssekretär, aber nicht die Bundesjustizministerin anwesend
ist -, dieses Vorhaben - zunächst hat man darauf gedrängt,
dass es behandelt wird - im Parlament mündlich zu vertreten, dann finde ich das enttäuschend. Wenn nicht nur
kein Vertreter der Bundesregierung, sondern auch kein
Vertreter der Koalitionsfraktionen dazu Stellung nimmt,
dann finde ich das ebenfalls enttäuschend.
Das habe ich zum Ausdruck gebracht. Meine Erwartung ist, dass Sie, wenn Sie Wert auf eine parlamentarische Debatte legen, diese auch führen. Das und nichts
weiter war mein Petitum.
({0})
Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Eckhart Pick das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Herr Röttgen, ich finde es in der Tat ausgesprochen ungewöhnlich, sich ohne Kenntnis der Fakten über
die Nichtanwesenheit der Bundesministerin der Justiz
zu mokieren. Sie ist davon ausgegangen, dass die Reden
- auch die der Ministerin - zu Protokoll gegeben werden.
In einem solchen Fall ist es nicht üblich, dass der
Parlamentarische Staatssekretär im Plenum spricht. Das
erklärt, warum nur ich anwesend bin. Ihr Angriff geht ins
Leere. Auch Ihre Kurzintervention hat die Angelegenheit
nicht besser gemacht.
({0})
Aufgrund Ihrer Philippika müsste man eigentlich den
Eindruck haben, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf
überhaupt nichts anfangen können. Es stellt sich daher die
Frage, ob Sie Ihr Angebot, mit der Bundesregierung und
mit den Koalitionsfraktionen über dieses Projekt zu reden,
überhaupt ernst gemeint haben. Es wäre in der Tat wichtig, dass sich alle Fraktionen mit diesem Thema beschäftigen. Herr Röttgen, es genügt nicht, in Sonntagsreden
von der Bedeutung der Kreativen in diesem Land zu sprechen, ohne dass man bereit ist, ihnen eine angemessene
Vergütung zuzubilligen.
({1})
Mit diesem Entwurf geschieht nichts anderes, als dass
zum ersten Mal festgehalten wird, dass Urheberinnen und
Urheber einen Anspruch auf eine angemessene Vergütung haben. Ich kann nichts finden, was die Angemessenheit irgendwie infrage stellt. Eine angemessene Vergütung
ist doch das Minimum, was man für ein Werk fordern
kann. Sie wissen auch, dass mit diesem Gesetzentwurf
nicht der Versuch unternommen wird, den Begriff der Angemessenheit zu definieren. Es ist nämlich das, was man
unter Angemessenheit versteht, je nach Branche und Situation äußerst unterschiedlich. Deshalb haben wir die
Flexibilität dieses Begriffs auch in diesem Gesetzentwurf
durchweg gewahrt.
Sie haben von kollektivistischen Vereinbarungen gesprochen. Es gibt solche Vereinbarungen bereits, zum
Beispiel bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten.
Dort werden die ständigen freien Mitarbeiter durchaus in
die Tarifverträge einbezogen. Das kann ein Muster sein
und die Vermutung erhärten, dass es sich um angemessene
Regeln handelt. Im Übrigen nimmt der Gesetzentwurf auf
die Besonderheiten, zum Beispiel der kleinen Verlage,
durchaus Rücksicht.
Herr Röttgen, es ist normal, dass in einem Bereich, in
dem auch wirtschaftliche Interessen verfolgt werden, die
Betroffenen gegebenenfalls Einbußen haben. Wieso soll
es aber eine Einbuße sein, wenn jemand eine angemessene Vergütung zu zahlen hat? Wo ist denn da prima facie
ein Eingriff zum Beispiel in den Gewerbebetrieb? Ich
finde, hier wird eine Selbstverständlichkeit ausgedrückt,
ohne dass sich der Staat anmaßt, etwa die Frage der
Angemessenheit zu konkretisieren.
Ich möchte Ihnen, Herr Röttgen, noch etwas sagen. Es
ist doch blauäugig, zu glauben, dass wir hier auf beiden
Seiten in jeder Situation strukturell gleichwertige Partner
hätten. Denken Sie an den Verlag, dem ein Autor ein Manuskript anbietet. Insbesondere dann, wenn der Autor unbekannt ist, ist er doch völlig dem ausgeliefert, was dieser
Verlag ihm anbietet. Wir wissen, wie schwierig es ist, abgesehen vom Fall des selten vorkommenden Bestsellers
- diese Vorschrift gibt es ja -, später zu einer angemessenen Vergütung zu kommen, wenn sich die Publikation
als Erfolg herausstellt. Hier besteht also eine - das kennen
wir auch sonst im bürgerlichen Leben - in vielen Bereichen gestörte Vertragsparität. Ich meine, dass dies
der Gesetzgeber berücksichtigen muss.
Meine Damen und Herren, ich lade Sie alle, insbesondere die CDU/CSU-Fraktion, ein, sich an diesem wichtigen Thema zu beteiligen. Wir werden noch genügend
Zeit haben, uns mit diesen Fragen zu beschäftigen. Wir
haben übrigens bereits mit den Verbänden gesprochen. All
denjenigen, die das heute nicht mehr so ganz wahrhaben
wollen, sage ich: Die Ministerin hat sogar in Gegenwart
des Kanzlers mit den Verbänden gesprochen. Insofern
sind die Verbände ausführlich und umfassend beteiligt
worden. Wir wollen eine flexible Regelung treffen, die
alle Bereiche umfasst, den Urhebern aber genügend Raum
lässt, eigenverantwortlich entsprechende Regelungen zu
treffen.
({2})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ministerin hat vor gut einem Jahr zu
dem so genannten Professorenentwurf Ja und Amen gesagt. Sie hat gesagt: Wir können den Entwurf der Professoren eigentlich wortgleich übernehmen und unterschreiben. Anschließend hat sie aber doch ein gutes Jahr
benötigt, um zu erkennen, dass das, was sie so gelobt
hatte, doch nicht das Gelbe vom Ei war. Daraufhin hat sie
den Entwurf für die Novelle des Urhebervertragsrechts
ins Kabinett eingebracht. Damit das Vorhaben etwas beschleunigt wird und es nicht so auffällt, dass man im Ministerium relativ lange benötigt hatte, um dieses Urhebervertragsrecht zu gestalten, hat sie den Gesetzentwurf über
die Fraktion eingebracht. Das ist ihr gutes Recht. Aber
man sollte dann auch ganz offen sagen, dass es sich hier
um komplexe Materien handelt, die nicht ganz einfach
sind.
Wir sind froh, dass die Ministerin mit dem vorliegenden Gesetzentwurf dem Professorenentwurf die wesentlichen Giftzähne gezogen hat. Die F.D.P. ist als Partei
des privaten Eigentums bekannt und freut sich natürlich,
dass auch die Interessenlagen der Urheber, deren Situation nicht mit der Situation der Verlage vergleichbar ist
und die nicht auf gleicher Augenhöhe verhandeln, geschützt werden sollen. Über den Begriff der Angemessenheit der Vergütung, wie er in § 32 aufgeführt ist,
kann man aber in der Tat diskutieren. Warum nimmt man
zum Beispiel nicht die Formulierung der üblichen Vergütung aus dem BGB? Darüber müssen wir diskutieren.
Wir müssen auch über § 36 diskutieren, über die Frage,
ob kollektivrechtliche Lösungen, wie Sie sie vorgeschlagen haben, das Gelbe vom Ei sind. Wir sollten dort eher
eine vertragliche Lösung vorsehen. Genauso haben wir
darüber nachzudenken, ob die Kündigungsfrist nach § 30
richtig ist.
Darüber müssen wir wirklich noch sehr intensiv miteinander diskutieren. Wir müssen Anhörungen durchführen. Ich möchte die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen bitten, uns Gelegenheit zu geben, dieses
Urhebervertragsrecht gründlich miteinander zu beraten,
und hier einmal von der üblichen Art des Durchpeitschens
von Gesetzen Abstand zu nehmen.
Wir sollten versuchen, eine sachgerechte Lösung zu
finden. Die F.D.P. wird daran mitwirken, weil wir Urheberrechte eben auch als Eigentumsrechte empfinden.
Diese Rechte der Urheber müssen natürlich geschützt
werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dirk Manzewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Röttgen, Sie haben mich am
Anfang Ihrer Rede angegriffen. Das finde ich ziemlich
unkollegial. Wie Sie sehen, bin ich mit meinem Redemanuskript hier. Mir zumindest ist suggeriert worden, die
Geschäftsführer hätten sich darauf geeinigt, dass wir die
Reden zu Protokoll geben.
({0})
Es kann durchaus sein - das bleibt Ihnen völlig unbenommen -, dass Sie als Berichterstatter der Union sagen:
Mit mir ist nicht gesprochen worden und ich rede. Damit
habe ich keine Probleme. Aber die anderen Kollegen, die
sich auf diese Vereinbarung verlassen haben, hier öffentlich anzugreifen, ist eine Schweinerei.
({1})
Wir beide, Herr Kollege, sind doch bislang immer ganz
gut klar gekommen. Ich habe Sie ziemlich hoch geschätzt.
({2})
Aber ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Was Sie heute
hier gebracht haben, hat mich ziemlich enttäuscht. Eigentlich erwarte ich von Ihnen intern noch eine Entschuldigung. Ich hoffe, dass sie kommt.
({3})
Zur Sache: Meine Damen und Herren, es geht - und
das ist längst überfällig - um die Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern.
Es handelt sich hierbei um ein seit langem gefordertes Gesetzesvorhaben. Bereits bei der amtlichen Begründung
des Urheberrechtsgesetzes im Jahre 1965 wurde auf
die Notwendigkeit eines ergänzenden Urhebervertragsgesetzes hingewiesen, und dies nicht ohne Grund.
Das Schaffen der Kreativen ist sowohl für die Kultur
selbst wie auch für die daraus resultierende Kulturwirtschaft in unserem Land unverzichtbar. Die KulturwirtParl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
schaft hat in den letzten Jahren - nicht nur aufgrund des
digitalen Zeitalters - immer mehr Bedeutung erlangt. Insbesondere Medienunternehmen haben sich zu einem bedeutenden und zukunftsträchtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Ich halte es daher nur für recht und billig, liebe
Kolleginnen und Kollegen, wenn die Urheber entsprechend ihrer Leistung auch an deren finanzieller Verwertung gerecht partizipieren. Nichts anderes will der Gesetzentwurf.
({4})
Urheber und ausübende Künstler sollen künftig angemessen am wirtschaftlichen Nutzen ihrer Arbeit beteiligt
werden. Leider ist dies in der Praxis, Kollege Röttgen,
heutzutage häufig noch nicht der Fall. Dies gilt vor allem
für den Bereich der Freiberufler. Freiberufler sind zwar
rechtlich gesehen selbstständige Unternehmer, tatsächlich
sind sie aber eher mit lohnabhängigen Arbeitnehmern
vergleichbar. Das liegt vor allem daran, dass den Kreativen bei Vertragsschluss immer stärker werdende Unternehmen der Kultur- und Medienwirtschaft gegenüberstehen. Von gleich starken Vertragspartnern, die Verträge
noch aushandeln, wie wir es verstehen, kann da keine
Rede mehr sein. Ganz im Gegenteil: Die Unternehmen
nutzen vielmehr oft die schlechte rechtliche Stellung der
Urheber aus, um Vergütungen und Kosten zu drücken.
Diese sind dann vielfach aus ihrer finanziellen Situation
heraus geradezu gezwungen, sich und ihr Werk unter Wert
zu verkaufen.
Dies geht in der Regel sogar so weit, meine Damen
und Herren, dass nicht nur das Werk an sich, sondern
auch dessen mehrstufige Vermarktung gleich mit
übertragen wird. Das heißt, dem Roman im Original
folgt die Übersetzung, dann kommt die Auswertung als
Drehbuch. Der Kinoauswertung folgt die Fernsehauswertung, danach der Verkauf oder die Vermietung als Video usw. Den Vermarktungsmöglichkeiten stehen heutzutage in unserer globalisierten Welt Tür und Tor offen.
Viele profitieren davon. Die Urheber gehören leider nur
selten dazu.
Natürlich gibt es auch Künstler - da gebe ich Ihnen
vollkommen Recht -, die aufgrund ihrer Stellung gut verdienen und Bedingungen stellen können. Hierauf wird
von Verwerterseite auch immer hingewiesen. Der Kreis
dieser Branchenstars ist aber nur sehr klein. Es heißen
eben nicht alle Kreativen Grass oder Walser. Dabei finde
ich es im Übrigen anerkennenswert, dass sich gerade viele
von denjenigen, denen es gut geht, für ihre Kolleginnen
und Kollegen engagieren.
({5})
Ich will auch nicht verkennen, dass es Teilbereiche
gibt, in denen eine zufrieden stellende Vergütung gewährt
wird. Dies ist vor allem dort der Fall, wo zwischen den
Vertragspartnern Tarifverträge bestehen oder Vergütungen bezahlt werden, die auf so genannten urheberrechtlichen Normverträgen oder Vergütungsregelungen der
Verbände aufbauen. Für diese Fälle, Kollege Röttgen,
wird der Gesetzentwurf überhaupt nichts Neues bringen.
Genau hier setzt vielmehr die angedachte Reform an. Die
Stärkung der Rechtsstellung der Urheber und ausübenden
Künstler als regelmäßig schwächere Parteien soll vor allem durch die Verankerung des gesetzlichen Anspruchs
auf angemessene Vergütung und eben - das ist wichtig der Regelung gemeinsamer Vergütungsregeln erfolgen.
Damit soll ein Ordnungsrahmen geschaffen werden
- mehr nicht -, der es den Parteien erlaubt, eigenverantwortlich zu angemessenen Vereinbarungen zu kommen,
wobei selbstverständlich insbesondere in Bezug auf die
Kleinverlage die unterschiedlichen Strukturen - da will
ich Ihnen völlig Recht geben - berücksichtigt werden
müssen.
Wer solche Vergütungsregelungen vereinbart, erhöht
im Übrigen die eigene Rechtssicherheit. Die Belastungen
dieser Unternehmen werden sich nämlich zukünftig nicht
erhöhen. Da sich solche Regelungen zwischen Verbänden
von Autoren und Künstlern einerseits und den Verwertern
andererseits bewährt haben, dienen sie vielmehr der Bestimmung der Angemessenheit als Vorbild. Das, Kollege
Röttgen, ist das Entscheidende. Dadurch, dass wir dies so
festgelegt haben, dass wir also ganz klar sagen, dass das,
was momentan im Bereich der Tarifverträge gezahlt wird,
von uns als angemessen angesehen wird, haben die Gerichte - ganz anders als Sie es hier dargelegt haben überhaupt keine Probleme, im Einzelfall eine gerechte
Entscheidung zu treffen.
Deshalb handelt es sich hier um einen relativ schlanken Gesetzentwurf, über den wir hier heute diskutieren,
der den Parteien in einem vorgegebenen Rahmen Spielräume lässt.
({6})
Mit minimalem gesetzgeberischen Einsatz, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird meiner Auffassung nach ein
Höchstmaß an ausgleichender Wirkung und an Handlungsspielraum zwischen Urheber und Verwerter erreicht.
Allein durch eine geringfügige Umgestaltung des so genannten Bestsellerparagraphen und unverbindliche Verbandsempfehlungen wäre dieses Bestreben dieses Gesetzentwurfes nicht zu erreichen gewesen. Hierdurch
ließe sich nur in wenigen Fällen eine Korrektur vornehmen. Insbesondere dem so genannten Bestsellerparagraphen fehlt es insoweit an Durchschlagskraft. Die große
Anzahl der in der alltäglichen Praxis vorkommenden
Fälle von unangemessener Vergütung würde hiervon
nicht erfasst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Handeln tut also Not.
Mit der heutigen ersten Lesung des Gesetzentwurfes hier
im Deutschen Bundestag ist der erste Schritt hierzu getan.
In den folgenden Wochen nach der Sommerpause erwarte
ich zu diesem Thema eine interessante Diskussion. Ich
würde mich freuen, wenn Sie das Gesetzesvorhaben konstruktiv begleiten würden.
Ich danke Ihnen.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Eckart von Klaeden das
Wort.
({0})
Herr Kollege
Manzewski, ich will der guten Ordnung halber nur darauf
hinweisen, dass sowohl Ihre Fraktion als auch die anderen Fraktionen zu keinem Zeitpunkt Anlass hatten, anzunehmen, dass der Kollege Röttgen nicht reden würde.
({0})
- Nein, es ist kein Mist gemacht worden, sondern die Geschäftsführer der Union haben gegenüber dem Präsidium - das ist dieser Kopie ja auch zu entnehmen - immer wieder festgestellt, dass der Kollege Röttgen reden
wird. Ich möchte das nur der guten Ordnung halber hier
gesagt haben, damit nicht der Eindruck entsteht, wir hätten die anderen Kollegen getäuscht.
Letzter Redner dieser
Debatte ist der Kollege Dr. Heinrich Fink für die PDSFraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Nach jahrzehntelanger Debatte um die Reform des Urhebervertragsrechtes liegt nun endlich ein Gesetzentwurf vor. Das
Reformwerk war lange überfällig. Den Entwurf halte ich
in den Grundzügen für gelungen. Er sollte nach den notwendigen Beratungen so bald wie möglich verabschiedet
werden.
Ziel der Neuregelung ist, die Rechte der Kreativen zu
stärken. Insbesondere der nunmehr festgelegte gesetzliche Anspruch auf angemessene Vergütung und die Erstellung gemeinsamer Vergütungsregeln sind geeignete
Wege, diese Zielstellung auch zu erreichen. Dass die Beteiligten in einem konsensorientierten Verfahren selbst
darüber bestimmen können, was in ihrer Branche jeweils
angemessen ist, halte ich für sinnvoll. Damit kann den
Unterschieden in der Größe und Art der Unternehmen und
der Verlage Rechnung getragen werden. Die Vorschläge
können zu mehr Transparenz und Rechtssicherheit für alle
Beteiligten beitragen. Sie helfen, gerechtere Verwertungsbedingungen im Interesse der Urheber, der in der
Regel schwächeren Partner, durchzusetzen. Erstmals
eröffnet sich die Möglichkeit, dass alle Urheber, also auch
die Freischaffenden und die ausübenden Künstler, in den
Genuss schützender und auf Ausgleich bedachter Regelungen kommen.
Die Umsetzung dieses Gesetzentwurfes bietet eine
Möglichkeit, die Arbeits- und Lebensbedingungen der
Kreativen zu verbessern. Fazit der Anhörung unserer
Fraktion im Dezember vergangenen Jahres zur Situation
der freiberuflich Tätigen ist: Die Mehrzahl befindet sich
in einer prekären sozialen Situation. Besonderer Handlungsbedarf besteht in den neuen Bundesländern. Die
PDS wird sich also schon aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit für diesen Entwurf einsetzen.
Dies ist aber nicht der alleinige Grund. Entscheidender
ist wohl, dass damit Regularien geschaffen werden, die
kreatives Schaffen befördern. Kreativität muss sich in diesem Lande wieder lohnen. Der Legende, dass Armut kreativ macht, wird hier wohl keiner aufsitzen. Insofern handelt es sich nicht primär um eine Sozialmaßnahme,
sondern um eine wesentliche kulturelle Frage. Ich teile die
geäußerten Befürchtungen jener nicht, welche die kulturelle Vielfalt und den Kulturwirtschaftsstandort
Deutschland bedroht sehen. Ich denke vielmehr, dass
dieses Gesetz auch zur Stärkung der Kulturwirtschaft im
internationalen Wettbewerb beitragen kann.
In einzelnen Punkten halten wir Nachbesserungen
durchaus für notwendig. In der Kürze der Zeit kann ich
hier nur einen Kritikpunkt nennen: Im Entwurf ist eine
Befristung der Rückwirkung vorgesehen. Die Frist von
20 Jahren vor In-Kraft-Treten des Gesetzes erscheint uns
willkürlich gewählt und sachlich nicht gerechtfertigt.
({0})
Im Filmbereich, im Fotojournalismus, im Rundfunk,
vor allem aber im Fernsehen finden in großem Umfang
Nutzungen von Werken statt, deren vertragliche Grundlagen vor mehr als 20 Jahren gelegt wurden. Wir plädieren deshalb dafür, diesen Passus aus dem Gesetz zu
streichen.
Dennoch: Unsere Bewertung ist grundsätzlich positiv.
Es ist zwar nicht die so genannte große Lösung im Urheberrecht, aber ein wichtiger Reformschritt zugunsten der
Kreativen. Sicherlich sollte man noch darüber reden; aber
es muss gerade im Urhebervertragsrecht endlich zu einer
Lösung kommen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/6433 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Besoldungsstruktur ({0})
- Drucksache 14/6390 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Der Kollege Max Stadler, F.D.P., hat seine Rede zu
Protokoll gegeben.1) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
hoffe, dass die vorherige Aussprache diesbezüglich eine
Ausnahme war, wir respektieren, dass ein solches Instrument hier im Parlament, insbesondere zu später Stunde,
genutzt wird, und es keinerlei Diffamierungen der entsprechenden Kolleginnen und Kollegen gibt.
({2})
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Fritz
Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Dieser Gesetzentwurf ist eines der Leitpro-
jekte dieser Bundesregierung zum Thema „Moderner
Staat - Moderne Verwaltung“. Es ist ein wichtiges Geset-
zesvorhaben, das wir in dieser Legislaturperiode auf den
Weg bringen. Der Staat muss sich ebenso wie die Wirt-
schaft wettbewerbsfähig machen und einen entsprechen-
den Beitrag leisten. Dazu ist es notwendig, die Verwal-
tung zu modernisieren. Dazu gehört auch die Gestaltung
der Bezahlungssysteme und deren leistungsorientierte
Ausrichtung; denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des öffentlichen Dienstes sind die wichtigste Ressource
zur Erfüllung staatlicher Aufgaben. Ohne die Förderung
der Leistungsbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter kann eine wirklich zukunftsfähige Reform der öf-
fentlichen Verwaltung nicht gelingen.
Bereits 1997 gab es im Zuge des Dienstrechtsreform-
gesetzes eine vorsichtige Lockerung der bis dahin starren
Besoldungsstrukturen. Wir hatten Leistungsstufen und
Leistungszulagen eingeführt, und ich sage ausdrücklich,
auch wir in der Opposition haben dies damals mitgetra-
gen. Mit dem vorliegenden Entwurf will die Bundesre-
gierung diese Leistungsausrichtung der Bezahlung im öf-
fentlichen Dienst fortsetzen. Deswegen enthält dieser
Entwurf ein Bündel von Regelungen zur Flexibilisierung
des Besoldungsrechts.
Ich möchte mich jetzt auf zwei Elemente des Gesetz-
entwurfs konzentrieren, nämlich die Einführung von Be-
zahlungsbandbreiten im gehobenen und höheren Dienst
sowie die Regelungen zur Modernisierung des Familien-
zuschlags.
Es ist vorgesehen, Bezahlungsbandbreiten über drei
Besoldungsgruppen im Eingangsamt und im ersten
Beförderungsamt des gehobenen und höheren Dienstes
einzuführen. Dies bedeutet eine vorsichtige Öffnung der
Einstiegsebenen dieser Laufbahngruppen für variable
Bewertungen und Einstufungen. Künftig soll die Ein-
gangsbezahlung nach Aufgabe und nach Anforderung dif-
ferenziert werden können. Damit schaffen diese Bezah-
lungsbandbreiten Gestaltungsspielräume für individuelle
Leistungsprofile einerseits und die Berücksichtigung all-
gemeiner arbeitsmarktpolitischer Gesichtspunkte ande-
rerseits. Es entspricht nach unserer Auffassung dem Leit-
bild des aktivierenden Staates, dass diejenigen, die Perso-
nalverantwortung tragen - übrigens auch die Gemeinden
und die Gemeindeverbände -, nicht unnötig durch bun-
des- oder auch landeseinheitliche Vorschriften gegängelt
werden. Es gilt vielmehr, eine individuell richtige und
leistungsorientierte Bewertung auch im Interesse der Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter möglich zu machen. Dies
haben auch die kommunalen Spitzenverbände im Vorfeld
der parlamentarischen Beratung zu Recht deutlich ge-
macht.
Ich bedaure es, dass der Bundesrat zu dieser zentralen
Regelung des Entwurfs mit knapper Mehrheit ablehnend
Stellung genommen hat. Hinter der ablehnenden Haltung
des Bundesrates verbirgt sich offensichtlich die Furcht
vor einem Wettlauf unter den einzelnen Dienstherren um
die besten Bewerber. Ich meine, dass wir dies noch ein-
mal aufgreifen müssen. Ich meinerseits teile diese Furcht
nicht. Die vorhandenen Ressourcen, also die für die
Besoldung der Beamtinnen und Beamten vorhandenen
Haushaltsmittel und Planstellen, werden nämlich durch
das Besoldungsstrukturgesetz überhaupt nicht angetastet.
Der Kuchen wird weder größer noch kleiner. Durch das
Instrumentarium des Besoldungsstrukturgesetzes erhal-
ten die Dienstherren jedoch die Möglichkeit an die Hand,
die vorhandenen Mittel sinnvoller und gerechter zu ver-
teilen.
Ein weiteres Anliegen dieses Gesetzentwurfs ist die
Modernisierung des Familienzuschlags. Zwingender ge-
setzgeberischer Handlungsbedarf besteht bei den kinder-
bezogenen Anteilen für die dritten und weiteren Kinder
von Beamtinnen und Beamten. Es ist erforderlich - das
will ich mit Nachdruck sagen -, die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom November 1998 nun-
mehr dauerhaft umzusetzen. Die Erhöhungsbeträge neh-
men damit zukünftig auch an allen Dynamisierungen der
Besoldung teil. Hierüber besteht zwischen Bund und Län-
dern Einvernehmen.
Die Bundesregierung ist jedoch der Auffassung, dass
die Regelungen zum Familienzuschlag vor dem Hinter-
grund veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse insge-
samt auf den Prüfstand gehören. Dies gilt insbesondere
für den so genannten Verheiratetenzuschlag, den bisher
alle verheirateten Beamten, Richter und Soldaten erhal-
ten. Ich kann mich noch gut erinnern, dass Sie, Herr Belle,
1997 in der Union dazu auch Vorschläge gemacht haben,
die Sie aber offensichtlich innerhalb Ihrer Koalition nicht
durchsetzen konnten. Die Frage ist erlaubt, welchen Sinn
es machen soll, diese Förderung in einem besonderen Be-
zahlungssystem vorzunehmen, das nur eine bestimmte
gesellschaftliche Gruppe begünstigt. Die Förderung von
Ehe und vor allem von Familien mit Kindern ist vielmehr
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Mit der Steuer-
reform 2000 haben wir das größte Steuersenkungspro-
gramm der deutschen Nachkriegsgeschichte umgesetzt
und, wie ich meine, insbesondere auch Familien mit Kin-
dern ganz entscheidend geholfen.
Der Antrag Sachsens im Bundesrat - alles kann beim
Alten bleiben - vertritt keine Haltung und weist auch
nicht in die Zukunft; denn wir müssen wissen, dass dann
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 4
die Erhöhungsbeträge für das dritte Kind und weitere Kinder in Höhe von fast 300 Millionen DM jährlich ohne Gegenfinanzierung blieben. Im Klartext bedeutet dies: Auf
die öffentlichen Haushalte vor allem in den Ländern kämen erhebliche Zusatzkosten zu.
Ich möchte aber deutlich machen, dass die Bundesregierung gern bereit ist, noch während des Gesetzgebungsverfahrens konkrete Festlegungen zur Verwendung
dieser Mittel im Besoldungssystem vorzulegen. Deswegen beraten wir, und ich denke, dass wir in dieser Hinsicht
eine gute Entscheidung finden können.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Meinrad Belle für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich habe mir eigentlich vorgenommen, nach
21 Uhr nicht mehr im Plenum des Bundestages zu reden,
weil zu dieser Zeit die Aufmerksamkeit doch generell sehr
zu wünschen übrig lässt. Darum haben wir als Besoldungs- und Dienstrechtspolitiker in den letzten beiden
Runden zum Dienstrecht und zum Besoldungsrecht unsere Reden alle zu Protokoll gegeben. Aber, meine Damen
und Herren, als Opposition kann man und darf man diesen Gesetzentwurf auch nach 21 Uhr in erster Lesung
nicht unkommentiert durchgehen lassen, Herr Staatssekretär Körper.
({0})
„Mit dem Kopf durch die Wand!“ An diese Redewendung musste ich unwillkürlich denken, als ich das erste
Mal diesen Gesetzentwurf nebst Stellungnahme des Bundesrates und Gegenäußerung der Bundesregierung überflogen hatte. Da werden die wesentlichen Bestimmungen
dieses Entwurfs von einer nicht zu knappen Mehrheit der
Bundesländer - gleichgültig, ob SPD- oder CDU- bzw.
CSU-geführt - generell abgelehnt.
({1})
Zum Teil werden verfassungsrechtliche Bedenken erhoben. Aber dieses Gesetz bedarf - wie Sie sehr wohl wissen - der Zustimmung des Bundesrates. Trotzdem wird
dieser Gesetzentwurf eingebracht und soll heute in erster
Lesung beraten werden. Da frage ich mich: Was soll das?
Am Rande sei noch vermerkt, dass der Entwurf natürlich auch vom Beamtenbund und von den Beamtengewerkschaften des DGB in den wichtigsten Bestimmungen
abgelehnt wird. Unter diesen Umständen und bei dieser
Ausgangslage können wir als CDU/CSU-Fraktion diesem
Gesetzentwurf nicht zustimmen; denn ohne die Zustimmung des Bundesrates fehlt es an einer wesentlichen
Grundvoraussetzung.
Ich will aber ganz kurz - ich werde meine Redezeit
heute Abend sicherlich nicht in vollem Umfange in Anspruch nehmen - noch auf einige bedeutsame inhaltliche
Einzelheiten eingehen.
Zur beabsichtigten Einführung von Bandbreiten im
höheren und gehobenen Dienst sollen die Eingangsämter
um je eine Stufe nach oben und nach unten gespreizt werden. Kriterien für diese Bandbreiteneinstufung sollen
Funktionsanforderung, fachliche Qualifikation, aber auch
- jetzt kommt es - die Haushaltslage sein, Herr Staatssekretär. Das haben Sie vorhin nicht erwähnt. Wir wissen
aber, dass die Haushaltslage überall bei Bund und Ländern ziemlich klamm ist. Dies wird sich also nach unserer
Meinung fast ausschließlich als reine Sparmaßnahme auswirken, die von uns so nicht mitgetragen werden kann.
Außerdem ist die Zersplitterung des Besoldungsrechts
zu befürchten; der Wechsel von Beamten zwischen
reichen und armen Bundesländern wird erschwert. Eine
derartige Regelung ist natürlich auch politisch missbrauchsanfällig; die Patronage politisch genehmer Beamter ist nicht ausgeschlossen. Die Einheitlichkeit der Besoldung im Bundesgebiet und auch innerhalb einzelner
Länder ist damit nicht mehr gewährleistet.
Übrigens ist die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung auf die insoweit vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken des Bundesrates nicht eingegangen.
Zur Streichung des Verheiratetenzuschlages. Künftig
sollen verheiratete Beamte keinen Familienzuschlag mehr
erhalten. An heute bereits Verheiratete wird er „eingefroren“ weitergezahlt.
Meine Damen und Herren, da ist mir heute zufällig eine
Presseerklärung, ein Zitat auf den Tisch geflattert, in dem
es so schön heißt - wenn ich das einmal zitieren darf -:
Wer den Verheiratetenzuschlag streicht, um den
Kinderzuschlag aufzustocken, nimmt den Beamtenfamilien aus der linken Tasche, was er in die rechte
Tasche steckt.
Zitat eines DGB-Vorstandsmitglieds - hier in Berlin heute
am Donnerstag veröffentlicht. Dem ist eigentlich nichts
mehr hinzuzufügen.
({2})
Auch dieser Vorschlag wird daher von uns abgelehnt.
Die Streichung ist sozial unausgewogen und kleine
Beamte werden relativ stark belastet. Diese Streichung ist
aber auch deshalb unvertretbar, weil - das ist das
Entscheidende - im Tarifbereich weiterhin ein solcher Zuschlag gezahlt wird. Das war auch der Grund, Herr Staatssekretär, warum wir damals die Sache nicht weiterverfolgt
haben. Aber auch hier ist die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung nicht auf die verfassungsrechtlichen Bedenken des Bundesrats eingegangen.
Des Weiteren wird eine Zulage für Wahrnehmungen
befristeter Funktionen vorgesehen. Die oberste Dienstbehörde soll also entscheiden können, dass für herausgehobene Funktionen eine Zulage gezahlt werden kann. Wir
lehnen diese neue Zulage ab, weil Zulagen abgebaut und
nicht neu eingeführt werden sollten - wie wir es im Übrigen auch im Dienstrechtsreformgesetz in der vorherigen
Legislaturperiode realisiert haben -,
({3})
weil bereits jetzt nach § 46 Zulagen für die Wahrnehmung
eines höherwertigen Amtes gezahlt werden können, weil
das Budgetrecht des Parlaments zugunsten der personalverwaltenden Stellen unterhöhlt wird und weil diese Zulage bereits heute als „Pressesprecherzulage“ betitelt
wird, weil sie zwangsläufig missbraucht werden kann.
Meine Damen und Herren, wie mit diesem Gesetz den
Mitarbeitern neue Perspektiven eröffnet und ihr Leistungswille gefördert werden soll - so ist es in den Zielvorstellungen des Gesetzentwurfs formuliert -, muss der
Fantasie der Verfasser überlassen bleiben. Ich kann Ihnen
auf jeden Fall bereits heute prophezeien: Sie werden mit
diesem Gesetz eher das Gegenteil erreichen. Mit solchen
Entwürfen werden Sie Ihr Programm „Moderner Staat Moderne Verwaltung“ mit Sicherheit nicht realisieren
können. Wir werden den Gesetzentwurf daher ablehnen.
Danke.
({4})
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen spricht der Kollege Helmut
Wilhelm.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute wird ein weiteres Mosaikstück auf dem
Weg zur Verwirklichung des Programms „Moderner Staat
- Moderne Verwaltung“ auf seinen parlamentarischen
Weg gebracht.
Dem Anliegen, unseren Staat effizienter und bürgerfreundlicher zu gestalten und damit von einem rein verwaltenden zu einem aktivierenden Staatsleitbild zu gelangen, kommen wir durch das Anpacken der herrschenden
starren Besoldungsstruktur einen großen Schritt näher.
Damit wird der entsprechenden Koalitionsvereinbarung
Rechnung getragen. Denn der vorliegende Gesetzentwurf, mit dem der Einrichtung variabler Besoldungsbandbreiten - im ersten Schritt für die Einstiegsebenen im gehobenen und höheren Dienst - der Weg
bereitet wird, schafft für die jeweiligen Dienstherren in
Bund und Ländern Gestaltungsspielräume, um gezielter,
marktgerechter und flexibler auf arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Situationen reagieren zu können.
Durch diesen entscheidenden Beitrag zur Flexibilisierung wird für diesen Bereich ein zentralistisches Einstufungssystem abgelöst, das nicht mehr in die von Rot-Grün
geplante moderne und aktivierende Verwaltung hineinpasst. Denn die grundsätzlich bundeseinheitliche Zuordnung der Ämter zu einer einzigen Besoldungsgruppe
lässt für aufgaben- und anforderungsbezogene Differenzierungen keinen Raum.
Zu viele unterschiedliche Kriterien werden in einer Besoldungsgruppe angeglichen und damit nivelliert. Darum
soll zukünftig die Einstufungskompetenz innerhalb einer
vorgegebenen Bandbreite von drei Besoldungsgruppen
für den gehobenen und höheren Dienst dem jeweiligen
Dienstherren zufallen. Regional-, berufsgruppen-, aufgaben- oder dienstherrenspezifische Differenzierungen sollen damit zukünftig möglich sein.
Meine Damen und Herren, diese Art der flexiblen Besoldung beinhaltet auch eine Öffnung nach oben. Die
Dienstherren können ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Perspektiven bieten und dadurch deren Motivation, leistungsorientiert, kreativ und eigenverantwortlich
tätig zu sein, enorm fördern. Als Anreiz kommt der Besoldungsgruppenaufstieg ohne Funktionswechsel und das
Überspringen von Besoldungsgruppen in Betracht. Dies
trägt den Geist „Moderner Staat - Moderne Verwaltung“
direkt in den Beamtenapparat hinein. Das wiederum wird
der Schlüssel zur Verwirklichung dieses Programms sein.
Die Motivation der Beschäftigten muss mit allen Mitteln
gestärkt werden.
Ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung ist die
zeitgemäße Anpassung der Besoldung an die veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnisse. Darum
wird auch der Familienzuschlag modernisiert.
Meine Damen und Herren, dies haben wir Grüne schon
immer gefordert. Dem modernen Familienbegriff, der
sich an der Existenz von Kindern und nicht etwa an der
standesamtlichen Trauung orientiert, wird zukünftig
durch die entsprechende Verbesserung der kinderbezogenen Leistungen Rechnung getragen. Der so genannte Verheiratetenanteil wird zurückgedrängt und zur Finanzierung für die Erhöhung des Familienzuschlages für dritte
und weitere Kinder verwendet. Langfristig führt das sogar
zu einer Überkompensierung und damit zu Einsparungen.
Hier sollte man allerdings vielleicht nochmals nachdenken, ob nicht eine weitere Stärkung der Familienkomponente sinnvoll wäre.
Mit der Erhöhung des kinderbezogenen Anteils im Familienzuschlag für dritte und weitere Kinder um jeweils
200 DM monatlich werden auch die Forderungen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes vom 24. November 1998 umgesetzt.
Ich meine, der Entwurf der Bundesregierung mit seinen durchaus zukunftsweisenden Regelungen kann sich
sehen lassen.
Danke.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Heidemarie Ehlert für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Es ist ganz erstaunlich, wie Gesetzentwürfe Chamäleons gleichen. Ziel des vorliegenden
Entwurfes soll sein, das Programm „Moderner Staat
- Moderne Verwaltung“ umzusetzen. Was immer man
auch darunter versteht - es klingt zunächst gut. Eine
Dienstrechtsreform steht schon lange ins Haus, die Bürokratie muss entrümpelt und dringend bürgernäher gestaltet werden. Das Anliegen der Schaffung einer modernen
Verwaltung ist begrüßenswert.
Schaut man sich den Entwurf dann aber näher an, so
muss man feststellen: Der Regierung geht es erst in zweiter Linie um eine moderne Verwaltung, in erster Linie
geht es knallhart ums Geld, das gespart werden soll.
Nehmen wir nur den geplanten § 24 a, das Bandbreitenmodell. Mit diesem Modell will die Bundesregierung
eine Flexibilisierung der Bezahlung im Eingangs- und im
ersten Beförderungsamt des gehobenen und höheren
Dienstes erzielen. Das individuelle Leistungsprinzip soll
stärker berücksichtigt werden. Das klingt alles ganz toll;
damit könnte ich umgehen. Aber auch die Arbeitsmarktlage und die finanzielle Situation der jeweiligen Dienstherren könnten für eine entsprechende Einstufung in die
jeweilige Besoldungsgruppe ausschlaggebend sein. Bei
den gegenwärtigen Arbeitslosenzahlen könnte - der Weg
ist frei - diesbezüglich ein „Niedriglohnsektor“ im öffentlichen Dienst vorprogrammiert sein.
({0})
Fachspezialisten - ich nenne nur das Stichwort IT -, die
in einer modernen Verwaltung gebraucht würden, werden
gleich in die Wirtschaft gehen. Einige Länder könnten
also aufgrund der Arbeitsmarktlage oder aufgrund ihrer
leeren Kassen dann versuchen, die Gehälter abzubauen.
Reiche Länder könnten sich dann hoch qualifiziertes Personal leisten, andere nicht. Nicht umsonst plädiert Hessen
im Bundesrat für die genannte Bandbreitenregelung. Gerade die Auseinandersetzungen um die Abwerbung der
Lehrer und Lehrerinnen hat doch gezeigt, dass es eben
nicht egal ist, wie viel verdient wird. Ausgehend davon
hat die Bundesregierung nun die Lehrer und Lehrerinnen
des gehobenen Dienstes aus dem Bandbreitenmodell herausgenommen. Aber was machen wir mit den Gymnasialund Berufsschullehrern und -lehrerinnen?
Wir stimmen mit dem Bundesrat und den Gewerkschaften völlig überein: Das Bandbreitenmodell sollte ersatzlos gestrichen werden.
({1})
Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, der
schon durch die unterschiedliche Vergütung Ost/West gebrochen ist, sollte nicht mit einer Einteilung in arme und
reiche Länder endgültig aufgehoben werden.
({2})
Neben dem Bandbreitenmodell gibt es noch eine ganze
Reihe weiterer Streitpunkte, die darzulegen ich im Moment keine Zeit mehr habe.
Ob mögliche Kompromisslösungen, Herr Staatssekretär, aber den vorliegenden Gesetzentwurf besser machen
würden, stelle ich hiermit in Frage. Eine grundlegende
Dienstrechtsreform wird gebraucht und die liegt leider
nicht vor.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Kemper für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Gesetzentwurf zur Modernisierung der Besoldungsstruktur ist richtig und wichtig. Er
musste vorgelegt werden. Im Übrigen, Herr Belle, wir
wollen nicht mit dem Kopf durch die Wand. Die Regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen greifen
vielmehr Dinge auf, die Ihre Regierung, die Vorgängerregierung, in Details bereits in Angriff genommen hat und
die richtig waren, die aber in Ansätzen stecken geblieben
sind. Das damalige Vorhaben setzen wir fort und verbessern es.
Im Rahmen des Programms „Aktivierender Staat“ soll
das Besoldungsrecht flexibler gestaltet und mit deutlichen
Anreizen versehen werden. Das fehlt jetzt. Der Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist zwar richtig; aber
im öffentlichen Dienst wird nicht die gleiche Arbeit geleistet. Diejenigen, die sich der Verantwortung stellen und
die besonderen Belastungen unterworfen sind, sollen
auch besonders bezahlt werden.
({0})
Das muss in engem Einvernehmen mit den Ländern und
den Kommunen erfolgen. Denn das sind diejenigen, die
die meisten Beamten beschäftigen.
Ich will nun auf die Hauptpunkte eingehen, die hier
mehrfach angesprochen worden sind: Das ist zum einen
die Einführung von Bezahlungsbandbreiten. Das jetzige
Bezahlungssystem wird überwiegend durch Ämter, durch
Beförderungen und Besoldungsordnungen, bestimmt. Die
Eingangsämter sind im Regelfall einer einzigen Besoldungsgruppe zugeordnet. Herr Belle, Sie haben im Übrigen schon einmal im Jahre 1997 damit begonnen, Leistungsanreize und Leistungskomponenten im Rahmen der
Dienstaltersstufen einzuführen.
({1})
Das war vernünftig, wenngleich die Zulagen und die Leistungsprämien einige Webfehler hatten, sodass das einige
Länder nicht umgesetzt haben. Da bestanden sehr große
Ungerechtigkeiten.
Die Besoldung der Eingangsämter im gehobenen
Dienst und im höheren Dienst soll über drei Gruppen gespreizt werden. Das eröffnet den Behörden die Möglichkeit, aus einer Vielzahl von qualifizierten Bewerbern den
Besten herauszusuchen und ihm im Hinblick auf die Einstufung entsprechende Angebote zu machen. Das war
vorher nicht möglich.
Ich kenne allerdings die Sorgen und Ängste, die mit
diesem Verfahren einhergehen; ich will dies gar nicht bestreiten. Die Berufsvertretungen befürchten, dass dieses
Instrument als Sparinstrument missbraucht wird. Die
neuen Bundesländer befürchten, dass ihnen die alten Bundesländer aufgrund des neuen Angebotes, das dann möglich ist, die qualifiziertesten Mitarbeiter abwerben und
dass nur die mittelmäßig und die gering qualifizierten in
den neuen Bundesländern bleiben.
Der Konkurrenzkampf zwischen einzelnen Bundesländern um die Lehrer, den wir in letzter Zeit erlebt haben,
war ein ungutes Beispiel. Ich denke, über diese EinzelHeidemarie Ehlert
heiten muss noch einmal gesprochen werden. Veränderungen im Detail hat der Staatssekretär angekündigt;
Kompromisse sind möglich. Darüber werden wir noch
einmal sprechen. Vielleicht kann man bestimmte Berufsgruppen aus dieser Regelung herausnehmen.
Der Wegfall des Verheiratetenzuschlags ist problematisch - das zu bestreiten wäre völlig unehrlich -, wenngleich es überhaupt keinen Zweifel daran gibt, dass das
gesamte Zulagenwesen oder -unwesen einmal durchforstet und durchschaubarer, vergleichbarer und schlanker gemacht werden muss.
({2})
Außerdem soll nicht in erster Linie das Verheiratetsein unterstützt werden, sondern das Kinderhaben, die Familie.
({3})
Das ist aber nur ein Grund. Zur Ehrlichkeit gehört: Die
Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils für das
dritte und folgende Kind eines Beamten kostet Geld. Das
muss innerhalb des Systems erwirtschaftet werden. Auch
deswegen kommt es zu dieser Regelung.
Der Wegfall des Verheiratetenzuschlags führt bei den
Beamten im Endergebnis zu Gehaltseinbußen von rund
180 DM pro Monat. Selbst eine großzügige Vertrauensschutzregelung, die den Ländern im Übrigen viel zu weit
geht - über die muss man sicherlich auch noch sprechen -,
ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Man muss sich vor
Augen führen - ich bleibe einmal in meinem Bereich -,
dass bei Polizisten, die nach A 7 besoldet werden, die in
Ballungszentren versetzt werden und deren Ehefrau aus
irgendwelchen Gründen nicht in der Lage ist zu arbeiten,
fast das gesamte Gehalt für die Miete gebraucht wird. Ich
denke, wir werden sehr darauf achten müssen, dass es gerade im Bereich des einfachen und mittleren Dienstes zu
sozialen Abfederungen kommt und dass das Alimentationsprinzip, das grundgesetzlich geschützt ist, nicht ausgehebelt wird.
({4})
Ich will zu den Planstellenobergrenzen noch ein paar
Worte verlieren: Es ist richtig, die Entscheidungskompetenzen über die Planstellenobergrenzen dorthin zu verlagern, wo die Entscheidungen konkret getroffen werden.
Das ist eine vernünftige Geschichte; denn je weiter man
vom Geschehen entfernt ist, desto schwieriger wird die
Einschätzung.
Auf die Fragen der Zulagenregelung will ich nur kurz
eingehen: Ich denke, es ist richtig, von entsprechenden
Leistungsbreiten auszugehen, das heißt, Zulagen bis zur
dritten folgenden Besoldungsgruppe zu gewähren. Auch
im öffentlichen Dienst muss gelten: Wer sich besonders
einsetzt und viel Verantwortung trägt, muss eine entsprechende Vergütung erhalten.
Ich kenne es aus eigener Erfahrung: Von den Kolleginnen und Kollegen auf der Dienststelle haben sich einige
aufgerieben, während andere faul waren. Es gab nichts
Schlimmeres für die Motivation, als wenn alle gleich behandelt wurden. Es muss daher Differenzierungsmöglichkeiten geben. Der öffentliche Dienst muss leistungsorientierter ausgerichtet werden; darüber sind wir uns völlig einig. Das muss unter Beachtung sozialer Aspekte
geschehen; auch darüber sind wir uns einig.
Im Hinblick auf diesen Gesetzentwurf spreche ich mit
meinem Fraktionsvorsitzenden, Peter Struck: Nur in den
seltensten Fällen ist ein Gesetzentwurf so aus dem Verfahren herausgekommen, wie er hineingegangen ist.
Möglicherweise gilt das auch für diesen Entwurf.
({5})
Ich bin aber auch sicher, dass es unsere Regierung und
unsere Koalitionsfraktionen nicht zulassen werden, dass
der öffentliche Dienst das Sparschwein der Nation wird
und die Beamten die Prügelknaben der Gesellschaft werden. Darauf werden wir achten, wir werden das nicht zulassen.
({6})
Ich bin mir aber auch sicher, dass sich der öffentliche
Dienst in Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche den
notwendigen Veränderungen nicht verschließen wird. Von
daher ist mein Vertrauen in den öffentlichen Dienst relativ groß. Ich denke, wir werden zu einer vernünftigen Lösung kommen.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/6390 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe Einverständnis im gesamten Hause. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zusatzpunkt 8 auf:
16. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Rosel Neuhäuser, Dr. Ruth
Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Reform des Familienlastenausgleichs
- Drucksachen 14/4983, 14/6230 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Bartsch, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Existenzminimum realitätsnah ermitteln
- Drucksache 14/6444 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Die Kolleginnen Ingrid Arndt-Brauer, Elke Wülfing,
Christine Scheel und Ina Lenke haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.1)
Ich erteile der Kollegin Dr. Barbara Höll für die PDSFraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass
Sie so lange ausgeharrt haben und ich die Möglichkeit erhalte, zur Beantwortung der Großen Anfrage der PDS zur
Reform des Familienlastenausgleichs zu sprechen.
Wir befinden uns in einer langen Diskussion über die
Neugestaltung des Familienlastenausgleichs. Die PDSFraktion hat deshalb der Regierung einen Fragenkatalog
mit 76 Fragen vorgelegt. Wir dachten, dass es möglich
wird, eine bessere Datenbasis und eine gesichertere
Grundlage zu gewinnen, um uns, aber auch den anderen
Kolleginnen und Kollegen des Hauses, mehr Möglichkeiten für eine politische Antwort geben zu können.
Allerdings lässt sich die Antwort der Bundesregierung
auf unsere Große Anfrage sehr ernüchternd in einem Satz
zusammenfassen: Sie ist flach, feige, widersprüchlich und
konzeptionslos. Um das zu verdeutlichen, greife ich die
Frage 27 auf:
Inwieweit
- ein deutsches Wort mit einem sehr konkreten Inhalt deckt der Betreuungsfreibetrag einen „erwerbsbedingten“ Betreuungsbedarf und inwieweit deckt er
einen „allgemeinen“ - nicht durch die Erwerbsarbeit
veranlassten - Betreuungsbedarf ab?
Es war sogar eine zweigeteilte Frage. Die Antwort lautet:
Der Betreuungsfreibetrag deckt den Betreuungsbedarf eines Kindes ab.
Ich denke, diese oberflächliche Antwort sagt schon sehr
viel aus.
Wir haben mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Regelung des Familienlastenausgleichs von
1998 eine Entscheidung bekommen, bei der sich alle darüber einig sind, dass sie - um es vorsichtig zu formulieren - im Vergleich zu früheren Entscheidungen nicht
ganz widerspruchsfrei ist und dass sie auslegungsbedürftig und auslegungsfähig ist. Ich denke aber, der konkrete
Gesetzentwurf der Bundesregierung zeigt: Für einen kritischen und konstruktiven Umgang mit diesen Beschlüssen fehlt der Bundesregierung der Mut. Vor allem fehlen
ihr eigene Vorstellungen über die Richtung ihrer Familienpolitik.
Da die Freistellung des Existenzminimums von Kindern von der Besteuerung vonseiten des Staates Zielstellung ist, muss man sehr konkret darüber sprechen, was das
Existenzminimum eines Kindes ist. Was ist das sächliche
Existenzminimum und was ist der - vom Bundesverfassungsgericht festgestellte - darüber hinaus bestehende
existenzielle Betreuungs- und Erziehungsbedarf? Es ist
natürlich schwierig, den vom Bundesverfassungsgericht
richtig erkannten Bedarf - wobei nicht zu leugnen ist, dass
er auch Kosten verursacht - im Einkommensteuerrecht zu
verankern; denn ein imaginärer Bedarf lässt sich schwer
in Zahlen ausdrücken.
({0})
Es sind eben kaum konkret bezifferbare Aufwendungen.
Das Bundesverfassungsgericht nennt eine Zahl von
5 000 DM. Die Bundesregierung spricht von 3 000 oder
4 000 DM. Warum diese Beträge vorgeschlagen werden,
ist nirgends zu erfahren. Auf unsere konkreten Fragen geben Sie keine Antwort. Der Hintergrund ist wahrscheinlich, dass genau dieser Freibetrag eine der Hauptursachen
für die völlig ungerechte, unsoziale Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs - leider auch vonseiten der rot-grünen Regierung - ist.
({1})
Denn zusammen mit dem Kinderfreibetrag beträgt die
Steuererstattung für Familien mit sehr hohem Einkommen monatlich 459 DM pro Kind, während sie bei Familien mit mittlerem und niedrigem Einkommen dadurch,
dass diese beiden Freibeträge oftmals gar nicht greifen,
nur 300 DM betragen wird - so wir in der nächsten Woche die Erhöhung des Kindergeldes für das erste und
zweite Kind um je 30 DM beschließen werden.
Sie sagen selbst, dass sich die Bestimmung der Mindesthöhe des Betreuungsfreibetrages nicht aus der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt.
Was außer ihrer eigenen Feigheit, frage ich mich, hindert
die Bundesregierung nun daran, den Betreuungsfreibetrag, der ohnehin nur einigen Spitzenverdienern nutzt,
abzusenken und dafür das Kindergeld um 10, 20 oder
30 DM zu erhöhen und die Kinderbetreuungskosten stärker als geplant unter anderem dadurch zu berücksichtigen,
({2})
dass man bereits die erste Mark der Kinderbetreuungskosten wieder steuerlich geltend machen kann? Damit wäre
das Gesetz zur Förderung von Familien zwar noch immer
keine Familienförderung, aber zumindest um eine Ungerechtigkeit ärmer.
Dieser Freibetrag, der ja nun in Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsfreibetrag umbenannt werden
soll, soll den Kinderfreibetrag ergänzen. Der Kinderfreibetrag soll das sächliche Existenzminimum sicherstellen. Dieses - Essen, Kleidung, Wohnen - lässt sich in Korrelation zur Sozialhilfe bestimmen. Ihr Vorschlag jedoch,
den wir nächste Woche hier annehmen sollen, ihn auf
7 135 DM zu erhöhen, ist meines Erachtens etwas sehr
voreilig. Die Bundesregierung muss alle zwei Jahre einen
Bericht über das Existenzminimum vorlegen.
({3})
Auf diesen Bericht warten wir jetzt; wir haben ihn noch
nicht. Trotzdem müssen Sie Ihr Gesetz zur so genannten
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 5
Familienförderung - was es eben nicht ist - schnell im
Bundestag durchbringen. Warum wohl? - Weil sich dann
zeigen wird, dass Ihre Zahlen viel zu niedrig sind. Das
will ich noch einmal deutlich sagen.
SPD, Grüne und PDS sind sich einig darüber, dass das,
was die alte Bundesregierung getan hat, auch weit hinter
den Erfordernissen zurückgeblieben ist.
({4})
Vergleichen wir einmal die Zahlen: 1994 hatte diese Regierung noch ein Existenzminimum von monatlich
613 DM pro Kind ermittelt. Im Jahre 2001 kommt die gegenwärtige Bundesregierung zu einen Betrag von
564 DM, und das, obwohl wir inzwischen eine Steigerung
der Lebenshaltungskosten um 8,6 Prozent haben. Da zeigt
sich schon ganz klar, dass Sie uns die Zahlen bewusst verschweigen, weil Sie sonst handeln müssten. Das würde
Geld kosten,
({5})
welches Sie nur für ertragsstarke Unternehmen, für die
großen Monopole haben, aber nicht für Kinder und Familien. Das ist ein großer Nachteil Ihrer Familienpolitik.
Es ist erschreckend, dass Sie sich immer weiter von der
Zielstellung, von der vom Bundesverfassungsgericht geforderten steuerlichen Freistellung des Existenzminimums - sie ist ohnehin notwendig - entfernen und versuchen, der Öffentlichkeit etwas anderes darzubringen. Von
Familienförderung allerdings kann erst dann gesprochen
werden, wenn man über die Freistellung des Existenzminimums hinausgeht.
Wir fordern Sie auf: Legen Sie endlich einen Bericht
über das tatsächliche Existenzminimum vor. Darüber
werden wir dann im Rahmen der Erörterung unseres Entschließungsantrages im Ausschuss beraten. Ich hoffe,
dass Sie dann auf dieser Grundlage doch bereit sind, die
Realitäten wahrzunehmen und auch entsprechend in der
Familienpolitik umzusetzen.
Ich bedanke mich.
({6})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/6444 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe im
Saal keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R.
Werner Schuster, Reinhold Hemker, Horst
Kubatschka, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian
Ströbele, Kerstin Müller ({0}), Rezzo Schlauch
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Sonderprogramm zur breitenwirksamen Nutzung angepasster, erneuerbarer Energien in
den Entwicklungsländern
- Drucksache 14/5486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Die Kolleginnen und Kollegen Brigitte Adler, Dr. Ralf
Brauksiepe, Dr. Angelika Köster-Loßack, Joachim
Günther und Carsten Hübner haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben1). - Ich sehe Einverständnis im gesamten
Hause.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5486 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch hier sehe ich
Einverständnis im Hause. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun ist es so weit:
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den 29. Juni 2001, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.