Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich auf
die Ergebnisse des Europäischen Rates in Göteborg eingehe, möchte ich ein Wort zu den gewalttätigen Ausschreitungen am Rande des Gipfels sagen. Ich denke wir
sind uns alle darin einig, dass diese Ausbrüche blindwütig
und menschenverachtend waren, und ich kann im Namen
des ganzen Hauses sprechen, wenn ich sage, unser Mitgefühl gilt den schwedischen Polizisten, denen von Randalierern zum Teil schwerste Verletzungen zugefügt wurden.
({0})
Eine politische Auseinandersetzung mit diesen Gewalttätern
ist faktisch unmöglich. Sie haben keine politischen Ziele
und waren im Übrigen unter jenen mehr als 20 000 Menschen isoliert, die friedlich auf ihre Ziele hingewiesen haben.
Wir spielten diesen Chaoten nur in die Hände, ließen
wir die guten Ergebnisse des Göteborger Gipfels von den
Bildern jener Ausschreitungen überlagern. In Göteborg
Präsident Wolfgang Thierse
hat eine erfolgreiche schwedische Präsidentschaft ihren
Abschluss gefunden. Dieser Präsidentschaft unter Ministerpräsident Göran Persson gilt heute erneut mein Dank.
({1})
Von Göteborg geht eine überragende Botschaft aus:
Der Erweiterungsprozess der Europäischen Union ist unumkehrbar. Daran kann auch der negative Ausgang des
irischen Referendums, den ich bedauere, nichts ändern.
Im Gegenteil: Die Verhandlungen zur Erweiterung der EU
sind im letzten Halbjahr so gut vorangekommen, dass es
in Göteborg möglich war, die Vorgaben von Nizza weiter
zu präzisieren. Wir haben uns gemeinsam das Ziel gesetzt,
die Beitrittsverhandlungen mit jenen Kandidaten, die bis
dahin die Bedingungen erfüllen, zum Jahresende 2002
zum Abschluss zu bringen. Wenn dies gelingt, dann sollte
es auch möglich sein, dass die ersten Kandidatenländer als
Mitglieder der Europäischen Union an den Wahlen zum
Europäischen Parlament im Jahre 2004 teilnehmen werden.
Gewiss, diese Zielsetzung ist ehrgeizig. Mit ihr verbunden ist das Bekenntnis zu dem Prinzip, dass jeder
Kandidat ausschließlich nach seinen eigenen Leistungen
beurteilt wird. Hier bedarf es noch erheblicher Anstrengungen wichtiger Kandidatenländer. Letztlich haben sie
es selbst in der Hand, ob das Ziel erreicht wird oder nicht.
Am Montag habe ich mit dem polnischen Ministerpräsidenten Buzek bei unserem Treffen in Frankfurt ({2})
unseren gemeinsamen Wunsch bekräftigt, dass Polen das
gesteckte Ziel in der ersten Gruppe erreicht. Einfach wird
das nicht sein. Aber ich denke, wir werden gemeinsam alles dafür tun, dass Polen seine Chance nutzen kann. Das
gilt im Übrigen auch für alle anderen Kandidatenländer.
Es hängt von ihnen selbst ab, ob die Fortschritte in den
Verhandlungen und bei der Umsetzung des europäischen
Regelwerkes ausreichend sein werden.
Ich bin recht zuversichtlich, dass wir die in Göteborg
festgelegten Zielvorgaben erreichen werden. Wir haben
im ersten Halbjahr erhebliche Fortschritte im Beitrittsprozess verzeichnet. Das ist übrigens nicht zuletzt das
Verdienst einer klugen und sachlich orientierten Verhandlungsführung des deutschen Kommissars Günter
Verheugen.
({3})
Mit der Verabschiedung eines gemeinsamen Standpunktes der Mitgliedstaaten zur Freizügigkeit und zum
Kapitalverkehr ist - so denke ich - ein wirklicher Durchbruch gelungen. Ungarn hat als erstes Kandidatenland der
siebenjährigen - im Übrigen flexiblen - Übergangsfrist bei
der Arbeitnehmerfreizügigkeit zugestimmt und damit
das entsprechende Verhandlungskapitel abgeschlossen.
Lettland hat in dieser Woche ebenfalls zugestimmt und ich
bin sicher, dass schon bald weitere Länder folgen werden.
Damit ist ein wesentliches deutsches, von mir mit besonderem Nachdruck verfolgtes Verhandlungsziel erreicht.
Der Erweiterungsprozess kann insgesamt nur gelingen,
wenn er auch künftig die Unterstützung der Menschen in
unserem Land findet. Eine für beide Seiten auskömmliche
Lösung bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt hierbei
eine Schlüsselrolle.
({4})
Ebenso müssen die von der Erweiterung besonders betroffenen Grenzregionen die mögliche und notwendige
Unterstützung erhalten, um absehbar schwierige Anpassungsprozesse besser bewältigen zu können.
({5})
Auch dies hat der Europäische Rat in Göteborg noch einmal bekräftigt. Die Kommission wird schon bald eine entsprechende Mitteilung vorlegen.
Meine Damen und Herren, die Beratungen zur Erweiterung in Göteborg standen unter dem Eindruck des irischen Referendums. Zu Beginn des Gipfels hat der irische Premierminister Bertie Ahern in einer sehr
engagierten und auch überzeugenden Intervention dargelegt, dass er den Ausgang des irischen Referendums und
die damit verbundenen Fragen als ein originär irisches
Problem ansieht. Dabei hat er noch einmal unterstrichen,
dass weder die irische Regierung noch eine Mehrheit der
irischen Bevölkerung eine Verzögerung der Erweiterung
wünschen. Er hat deutlich gemacht, dass das Referendum
entsprechend zu interpretieren ist. Der Europäische Rat
seinerseits hat einhellig zum Ausdruck gebracht, dass er
die irische Regierung bei ihrer Suche nach einer Lösung
unterstützen wird.
Zugleich wird von allen Partnern der Ratifizierungsprozess von Nizza fortgesetzt. Nachverhandlungen - hier
waren sich alle Partner einig - wird und kann es nicht geben. Ich bin also zuversichtlich, dass wir die Ratifizierung
des Vertrages im vorgesehenen Zeitraum, das heißt bis
Ende des Jahres 2002, wirklich bewältigen können. Allerdings wären wir schlecht beraten, wenn wir einfach zur
Tagesordnung übergingen. Eine Politik des „einfach weiter so“ wird es nicht geben können.
Was auch immer die Gründe für den negativen Ausgang
des Referendums gewesen sein mögen, eines scheint mir
unübersehbar: Nicht nur in Irland, sondern auch in den anderen Mitgliedsländern haben noch immer viele Menschen mehr Fragen als Antworten, wenn es um Europa
geht. Nach meiner Auffassung ist dies kein Zufall. Der
Fortgang des Integrationsprozesses ist - ich glaube, darin
sind wir uns einig - eine Zukunftsfrage allerersten Ranges.
Wir haben in diesem Hohen Hause über den Umgang
mit der Gentechnik diskutiert und uns intensiv mit den
Herausforderungen des demographischen Wandels auseinander gesetzt. Wir werden über die Zuwanderung und
die damit verbundenen Fragen nach dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft zu debattieren haben. Genau in
diesem Sinne - geleitet von den Prinzipien der Redlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern - müssen
wir auch die Fragen diskutieren, die die Finalität Europas
betreffen.
Jahrzehntelang wurde die europäische Einigung nach
folgendem Muster vorangetrieben: Die beteiligten Regierungen einigten sich hinter verschlossenen Türen und
präsentierten dann der Öffentlichkeit die im Konsens verabschiedeten Beschlüsse. Ich will nicht missverstanden
werden: Die Ergebnisse, die dabei erzielt worden sind,
darf man wahrlich nicht zu gering schätzen. Nach zwei
großen Kriegen und Jahrzehnten der Feindschaft auf unserem Kontinent wurde so die Grundlage für einen Neubeginn in guter Nachbarschaft und für eine Zusammenarbeit zum Nutzen aller Partner gelegt.
({6})
Heute leben wir in einem anderen Europa. Spätestens
in Nizza ist das soeben gekennzeichnete Konsensmodell
an seine Grenzen gestoßen. In einer Union mit jetzt 15
und schon bald 20 und mehr Mitgliedstaaten führt das
starre Festhalten an bisherigen Verfahren nur allzu oft
dazu, dass wir statt der größten Gemeinsamkeit nur den
kleinsten gemeinsamen Kompromiss finden. Das ist zu
wenig, wenn wir eine künftig erweiterte Europäische
Union politisch führbar halten wollen.
({7})
Deutschland steht - das ist eine gute Tradition und hier
besteht eine lange Kontinuität - unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierungen - für
die Erweiterung. Wir haben aber immer betont, dass sie
ohne die gleichzeitige Vertiefung und die damit verbundene Stärkung der europäischen Institutionen kaum verkraftbar wäre. 27 Mitgliedstaaten können nicht nach den
gleichen Spielregeln zusammenarbeiten wie die ursprünglichen sechs Gründerstaaten der Europäischen
Union. Wir sollten uns nicht täuschen: Die Bürgerinnen
und Bürger wollen an den Entscheidungsprozessen stärker beteiligt werden als in der Vergangenheit.
({8})
Sie wollen mitwirken und auf jeden Fall nachvollziehen
können, wie die Entscheidungen in der Europäischen
Union zustande gekommen sind. Diesem Wunsch, der einer demokratischen Notwendigkeit entspricht, kommen
wir nicht dadurch nach, dass wir einfach immer nur die
Forderung nach mehr Transparenz, Effizienz und Legitimität herunterbeten, im Übrigen aber so weitermachen,
als sei nichts geschehen.
({9})
Im Herbst des vergangenen Jahres habe ich den Vorschlag gemacht, in der Perspektive über Nizza hinaus eine
sehr grundsätzliche Debatte über die Ziele und Methoden
der europäischen Einigung zu führen. Gemeinsam mit dem
damaligen italienischen Ministerpräsidenten Amato habe
ich diesen Vorschlag in die Regierungskonferenz eingebracht. In Nizza hat er die Zustimmung aller Partner gefunden. Damit ist die Debatte über die Zukunft Europas
auch in diesem Zusammenhang eröffnet. Sie muss breit angelegt sein und darf - hier kann es keinen Zweifel geben nicht von den Regierungen allein geführt werden.
({10})
Bei dieser Debatte sind alle gefordert: zuallererst die
Bürgerinnen und Bürger, aber auch alle Zweige der Zivilgesellschaft - nicht nur die großen Verbände, Parteien und
Kirchen, sondern auch die Vielzahl von bürgerschaftlichen Zusammenschlüssen und Initiativen. Dies gilt auch
für diejenigen, die dem bisherigen Prozedere kritisch gegenüberstehen. Die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament müssen im Sinne einer echten Parlamentarisierung umfassend einbezogen werden. Dabei
sollten wir, wo sinnvoll, an die Erfahrungen des Konvents
zur Erarbeitung der Grundrechtscharta anknüpfen.
Meine Damen und Herren, eine ehrliche Debatte um
die Zukunft Europas setzt voraus, dass wir auch den Mut
haben, kontroverse Vorstellungen einzubringen. Ich habe
in den letzten Wochen viel Unterstützung für den Vorschlag bekommen, die Europäische Union auf lange Sicht
über die Föderation hinaus zu einem föderalen System
weiterzuentwickeln. Natürlich hat es auch kritische Stimmen gegeben - und das ist gut so. Niemand darf sich einbilden, dass er diese Debatte unkritisch, gar alleine führen
könnte. Beim deutsch-französischen Gipfel in Freiburg
war ich mit Präsident Chirac und Premierminister Jospin
darin einig, dass wir für diese Debatte jetzt eine Vielfalt
von Stimmen und Meinungen aus allen europäischen
Staaten brauchen. Nur so kann sie wirklich Früchte tragen. Bei der Regierungskonferenz 2002 - darauf haben
wir uns verständigt - wollen wir mit gemeinsamen
deutsch-französischen Vorschlägen arbeiten.
({11})
Am Ende des in Nizza angestoßenen Zukunftsprozesses - da bin ich sicher - wird aus unterschiedlichen Ansätzen, die unterschiedlichen Traditionen in den Ländern
folgen, eine gemeinsame Vision von Europa und seiner
Finalität stehen. Dazu gehört unabdingbar, dass wir Europa über gemeinsame politische Ziele definieren. Nichts
anderes steht hinter unserem Bekenntnis zum europäischen Gesellschaftsmodell. Wir haben, so finde ich,
bisher schon Beeindruckendes erreicht: Europa ist der
größte Binnenmarkt der Welt; zwölf Mitgliedstaaten der
Union haben eine gemeinsame Währung; wir sind auf
dem Weg zu einer gemeinsamen Verteidigungs- sowie zu
einer gemeinsamen Rechts- und Innenpolitik.
Mit der Verabschiedung der Nachhaltigkeitsstrategie
haben wir ein weiteres Kapitel erfolgreicher Zukunftsgestaltung aufgeschlagen. In dieser Diskussion stehen wir
noch am Anfang; aber die Zielrichtung stimmt: Die Strategie identifiziert Felder, auf denen es lohnend und dringlich erscheint, die Belange der Wirtschafts-, Sozial- und
Umweltpolitik noch sehr viel enger miteinander zu verschränken, als das bisher der Fall war.
({12})
Dies gilt insbesondere auch für die Agrarpolitik. Wir haben uns in Göteborg darauf geeinigt, künftig mehr Gewicht auf die Förderung gesunder, qualitativ hochwertiger
Erzeugnisse und umweltfreundlicher Produktionsmethoden zu legen.
({13})
Zu einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie gehört
aber über diese Fragen hinaus auch eine engagierte Klimapolitik. Im Juli wird in Bonn die Vertragsstaatenkonferenz zum Kioto-Protokoll zusammentreten. Alle
Partner in der Europäischen Union haben in Göteborg
noch einmal bekräftigt, dass sie die Konferenz zu einem
Erfolg machen wollen. Sie haben dies auch gegenüber
dem amerikanischen Präsidenten Bush deutlich gemacht.
Keine Frage: Die Differenzen zwischen Europa und
Amerika in der Klimapolitik bleiben auch nach unserem
Treffen in Göteborg bestehen. Ich habe beim Abendessen
mit dem amerikanischen Präsidenten vorgeschlagen, dass
wir in Bonn auf der Grundlage des gemeinsamen Zieles,
den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren, den
Kioto-Prozess nicht aufgrund von Differenzen über Instrumente eskalieren lassen. Mein Eindruck war: Die
amerikanische Seite wird in Bonn eine Lösung nicht
blockieren. Wenn das so zuträfe, wäre ein großer Schritt
nach vorne gelungen.
({14})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Göteborg
und nicht zuletzt durch das Treffen mit allen Beitrittskandidaten zum Abschluss des Europäischen Rates ist das
größere Europa wiederum ein Stück greifbarer geworden.
Es ist aber keine Frage: Es ist noch längst nicht Realität.
Vor uns liegt ein schwieriger Weg. Unter belgischer Präsidentschaft stehen im zweiten Halbjahr Entscheidungen
zur Ausgestaltung der Debatte um die europäische Zukunft an. Gemeinsam müssen wir dafür Sorge tragen, dass
die Dynamik der Erweiterungsverhandlungen erhalten
bleibt.
Bis zum Jahresende soll außerdem eine Zwischenbilanz
der Arbeiten in der gemeinsamen Innen- und Rechtspolitik gezogen werden. Außerdem wollen wir im Dezember
eine erste Einsatzfähigkeit der europäischen Krisenreaktionskräfte erreichen. Gemeinsam mit Frankreich - das haben wir bei unserem Treffen in Freiburg vor zehn Tagen
noch einmal bekräftigt - werden wir alles dafür tun, dass
die belgische Präsidentschaft ihre Aufgaben meistern
kann.
Wir alle haben die große, die einmalige Chance, unseren Kontinent wirklich zu einen und unser Europa für die
Menschen, aber auch mit den Menschen zu einer starken
Kraft des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands zu
machen. Ich finde, wir sollten alles dafür tun.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Bei der Abgabe dieser
Regierungserklärung des Bundeskanzlers dürfte niemand, der außerhalb dieses Raumes zugehört hat, das
Gefühl bekommen haben, dass die Probleme, die in der
Europäischen Union bestehen, und die mangelnde Zustimmung, die bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur
unseres Landes seit längerer Zeit festgestellt wird, jetzt
mit einem beherzten Sprung nach vorne in der Europäischen Union überwunden werden. Im Gegenteil: Das,
was Sie, Herr Bundeskanzler, hier mit wohlgesetzten
Worten vorgetragen haben, entspricht dem, was wir aus
vielen Kommuniqués der Europäischen Union seit vielen
Jahren kennen. Es fehlt offensichtlich jedes innere Engagement, die Probleme, die wir in Europa und in der Bundesrepublik Deutschland mit Europa haben, beherzt zu
lösen.
({0})
Ich vermute jedenfalls, dass derjenige, der in der heutigen Ausgabe der Zeitung „Die Zeit“ den Gipfel von
Göteborg beurteilt, eher Recht behalten wird als Sie, Herr
Bundeskanzler, mit Ihrer Regierungserklärung. Dort heißt
es:
... - von diesem ,Europäischen Rat‘ wird wenig in
Erinnerung bleiben. Allenfalls zweierlei: die Brutalität, mit der Hunderte Polithooligans ganze Straßenzüge verwüsteten. Und die Kaltschnäuzigkeit, mit
der die EU-15 den Völkern Mittel- und Osteuropas
vorgaukelten, das Ziel ihres Langen Marsches gen
Westen sei nahe.
Weiter heißt es:
,Bis Ende 2002‘, verheißt das Gipfel-Kommuniqué,
könnten die Verhandlungen über den EU-Beitritt
,abgeschlossen werden‘. Ende 2002, das verklärt
sich in Prag und Warschau nun zum Symbol. Dabei
ist es doch nur eine Lüge.
({1})
Die Zustimmung, die wir zur europäischen Entwicklung wollen und brauchen, um auch im 21. Jahrhundert
eine erfolgreiche gesamteuropäische Friedens- und
Freiheitsordnung zu errichten, lässt sich nicht mehr mit
wohlgesetzten Worten herbeiführen. Wir brauchen einen
Prozess, der nicht nur glaubwürdig ist, sondern in dem
auch die Zuständigkeiten und die Möglichkeiten der Europäischen Union auf das Richtige und das Realistische
konzentriert werden.
({2})
Die Europäische Union müsste sich doch gerade jetzt
auf das konzentrieren, was nur sie selber lösen kann und
was die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht
mehr alleine regeln können. Sie müsste sich auf die Vollendung des europäischen Binnenmarktes und auf die Vollendung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion konzentrieren und in der Lage sein, die innere und
äußere Sicherheit des europäischen Kontinents zu gewährleisten. Alles dies ist in Göteborg nicht nur nicht gelungen; es hat vielmehr keinerlei Fortschritt gegeben.
Nun mag es ja sein, Herr Bundeskanzler, dass das
irische Nein - immerhin in einer Volksabstimmung - kein
Votum gegen die auch von uns für notwendig und richtig
erachtete Osterweiterung der Europäischen Union war
und dass dieses Nein mehr innenpolitische Motive hatte,
vielleicht die unzureichende Vorbereitung oder die geringe Beteiligung der Bevölkerung. Aber klar ist doch
wohl, dass dieses Nein der Iren nicht etwa ein Betriebsunfall war, den man nun einfach mit einem neuen Referendum reparieren kann, wie es offensichtlich die Außenminister gesehen haben.
Klar ist doch wohl auch, dass dieses Nein zum Vertrag
von Nizza nicht nur in Irland, sondern in ganz Europa ein
Warnsignal, ein Wecksignal eines kleinen Landes sein
müsste, das gegen europäische Formelkompromisse aufbegehrt, die keiner versteht, gegen Reformen hinter verschlossenen Türen, an denen die Bevölkerung nicht beteiligt wird, gegen Bevormundung durch Brüsseler
Entscheidungen, die im eigenen Land nicht vermittelbar
sind, gegen Ängste vor dem Verlust der Neutralität und
kultureller Eigenständigkeit, gegen vorgebliche Integrationsfortschritte, die in Wirklichkeit keine sind.
({3})
Die europäische Politik hat in der Zwischenzeit - daran haben der Gipfel von Göteborg und auch Ihre
Regierungserklärung nichts geändert - eine derart komplizierte und von der Vorstellungswelt der meisten Menschen so weit entfernte Konstruktion geschaffen, dass ein
normaler Mensch keine Chance mehr hat, zu verstehen,
was in Europa eigentlich geschieht.
({4})
- Die Alternative, die sich stellt, ist zunächst einmal, dass
wir im Umgang der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union miteinander zu dem zurückkehren, was in der Europäischen Union seit 1949 richtig und Wirklichkeit war.
({5})
Wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, Herr
Bundeskanzler, dass ein kleines Volk wie die Iren gegen
das aufbegehrt, was in der Europäischen Union geschieht,
wenn Sie bis zum heutigen Tage Ihre herabwürdigende
Haltung gegenüber einem anderen kleinen Land in der
Europäischen Union, nämlich gegenüber Österreich,
fortsetzen.
({6})
Sie brauchen sich auch nicht darüber zu wundern, Herr
Bundeskanzler,
({7})
dass sich die Menschen gegen diese Hochmütigkeit zur
Wehr setzen, wenn Sie gleichzeitig dem freigewählten
Ministerpräsidenten eines großen Landes der Europäischen Union und eines Gründerstaates der Europäischen
Gemeinschaften, nämlich dem Ministerpräsidenten Silvio
Berlusconi, den Glückwunsch verweigern, nur weil er
Ihrer parteipolitischen Präferenz nicht entspricht.
({8})
Wer so handelt, setzt nicht nur die Solidarität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufs Spiel; er gefährdet auch jede erfolgreiche politische Führung der
Europäischen Union.
({9})
Heute vor genau zehn Jahren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, hat der Deutsche Bundestag - damals noch in
Bonn - die Entscheidung getroffen, den Sitz des Parlaments und der Regierung nach Berlin zu verlegen. Diese
Entscheidung ist von einer großen Zahl von Rednern befürwortet und damit begründet worden, dass von Berlin
das Signal ausgehe, wir wollten nach der Wiederherstellung der Einheit unseres Landes auch die Einheit des
europäischen Kontinentes nach Osten zügig und erfolgreich vorantreiben. Wir haben uns damals nicht vorstellen
können, dass von Berlin aus ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland genau zehn Jahre später eher
Bedenken und Vorbehalte gegen die Osterweiterung der
Europäischen Union äußert,
({10})
als sie in die Hand zu nehmen und sie gerade zu einer Aufgabe der deutschen Politik zu erklären.
({11})
Diese Europäische Union bräuchte gerade jetzt die
klare und beherzte politische Führung des größten Mitgliedstaates der Europäischen Union in der geopolitischen Mitte des europäischen Kontinents, die sich nicht
nur an innenpolitischen Opportunitäten, sondern auch an
europäischen Notwendigkeiten orientiert.
({12})
Im größten Mitgliedstaat der Europäischen Union ist
von einer solchen europäischen Politik, von einer wirklichen europäischen Vision gegenwärtig nichts zu erkennen. Außer formelhaften Bekenntnissen zur europäischen
Politik hat diese Bundesregierung nichts zu bieten.
({13})
Fast genauso schwer wiegt, dass die deutsche Wirtschaftspolitik das Voranschreiten der Europäischen
Union in einem der zentralen Aufgabenbereiche belastet
und behindert. Und es ist jetzt nicht mehr allein die deutsche Opposition, Herr Bundeskanzler, die dies immer
wieder zum Ausdruck gebracht hat. Seit Göteborg können
Sie nicht mehr behaupten, das seien nur wir, die Ihnen
sagten, dass die Wirtschaftspolitik dieses Landes zu einem Hemmschuh für ganz Europa geworden sei.
({14})
In den so genannten Grundzügen der Wirtschaftspolitik
der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft für 2001, einem Dokument der EU-Kommission, das dem Gipfel in
Göteborg vorgelegen hat und dort verabschiedet worden
ist, wird Ihrer Bundesregierung - wird Ihnen persönlich,
Herr Bundeskanzler - ein denkbar schlechtes Zeugnis
ausgestellt, was Ihre Wirtschaftspolitik in Deutschland
und in Europa betrifft. Ich will Ihnen die Kernsätze aus
diesem Dokument heute Morgen nicht vorenthalten. Es
heißt dort:
In Deutschland ist bislang noch kein starker endogener Wachstumsprozess in Gang gekommen. Die Wirtschaft bleibt deshalb anfällig für außenwirtschaftliche
Schocks. Die Wirtschaftsdynamik wird offenbar
durch Verkrustungen insbesondere des Arbeitsmarktes gebremst. Die Steuer- und Sozialleistungssysteme
tragen zu dem allgemeinen Arbeitslosigkeitsproblem
bei, als relativ hohe Grenzsteuersätze bei gleichzeitigem Verlust von Sozialhilfeleistungen dazu führen
können, dass Geringverdienende in die Arbeitslosigkeitsfalle geraten.
({15})
Das ist wörtlich das, was wir Ihnen seit Anfang dieses Jahres zur Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik Ihrer Regierung gesagt haben.
({16})
Sie haben sich damals, in der Mitte des Jahres 1998,
noch in Bonn hingestellt und erklärt, der Aufschwung,
den wir im Jahre 1998 wirklich hatten, sei - noch vor dem
Wahltermin des Jahres 1998 - Ihr Aufschwung gewesen.
({17})
Heute, im dritten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit, ist es zumindest Ihr Abschwung, den wir gegenwärtig erleben.
({18})
Die EU-Kommission schreibt Ihnen das ins Stammbuch
mit den Worten:
Es besteht die Gefahr, dass die Wachstumsraten in
Deutschland schwach bleiben, wenn Reformen des
Arbeitsmarktes und der Transfermechanismen ausbleiben.
({19})
Immer noch können sich die Steuer- und Sozialleistungssysteme zusammengenommen dahin gehend
auswirken, dass kein Anreiz zur Arbeit besteht.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren seit Monaten mit Ihnen, sagen Ihnen seit Monaten, dass Sie Reformen der sozialen Sicherungssysteme, der Sozialhilfesysteme, der Arbeitslosenhilfe machen müssen, damit wir
endlich eine Wirtschaftsdynamik und Arbeitsplätze in
Deutschland bekommen. Sie haben dies immer als Äußerungen der Opposition zurückgewiesen. Heute schreibt es
Ihnen die EU-Kommission ins Stammbuch, Herr Bundeskanzler.
({20})
Das Ganze endet mit der Feststellung:
Der deutsche Arbeitsmarkt ist durch einen relativ hohen Regulierungsgrad gekennzeichnet. Aktive Arbeitsmarktprogramme, zumal in den östlichen Bundesländern, sind offenbar ineffizient und werden
häufiger als Instrument der Sozialpolitik missverstanden.
Besser als das, was Sie beim Gipfel in Göteborg zu hören
bekommen haben, hätten wir das auch nicht zum Ausdruck bringen können, Herr Bundeskanzler.
({21})
Ich sage Ihnen: Mit Ihrer Politik gefährden Sie den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
({22})
Sie verschärfen den Abschwung nicht nur der deutschen,
sondern der europäischen Volkswirtschaft. Sie vernachlässigen den Mittelstand. Sie verunsichern mit Ihrer neuen
Betriebsverfassung die Unternehmen in Deutschland. Sie
vergreifen sich mit der Ökosteuer am Geldbeutel des kleinen Mannes.
({23})
Sie verhindern gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen eine echte steuerliche Entlastung. Sie kommen
her und vertrösten die Familien mit ein paar Mark Kindergelderhöhung,
({24})
die in demselben Atemzug durch die Ökosteuer wieder
aufgezehrt wird.
({25})
Sie, Herr Bundeskanzler, versagen mit Ihrer Arbeitsmarktpolitik, Sie verschärfen das Investitionsklima in der
Bundesrepublik Deutschland
({26})
und Sie, Herr Bundeskanzler, verantworten die Inflationsrate von 3,5 Prozent in Deutschland und ziehen damit die
Geldentwertung in der gesamten Europäischen Union
nach oben. Das ist die europäische und deutsche Wirklichkeit im Jahre 2001.
({27})
Herr Bundeskanzler, die Inflationsrate beginnt eine
ernsthafte Gefährdung nicht nur für die europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu werden, sondern auch für
den Fortbestand von Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland selbst. Eine Inflationsrate von 3,5 Prozent bedeutet in Wahrheit, dass
den Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschland
durch die Geldentwertung in einem Jahr rund ein halbes
Monatsgehalt weggenommen wird.
({28})
Das ist die Realität Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler. Inflation trifft nicht die Besitzer großer Vermögen, trifft
nicht diejenigen, die die Chance haben, mit ihrem Geld in
andere Währungsräume auszuweichen. Inflation trifft zuallererst die Kleinen: die Arbeitnehmer, die Rentner, die
Sparer. Inflation ist der Taschendieb des kleinen Mannes,
Herr Bundeskanzler.
({29})
Wenn wir ein solch großes europäisches Projekt - es
geht nicht allein um den Binnenmarkt und die
Währungsunion; die wirtschaftliche Integration war in
der Geschichte der Europäischen Union immer der
Schrittmacher für die politische Integration - in der Europäischen Union retten wollen, dann müssen wir die Zustimmung der Menschen zurückgewinnen, indem wir
ihnen deutlich machen, dass Binnenmarkt und Währungsunion für die Menschen auch wirtschaftlich ein
großer Erfolg sein können. Dann bedarf es anderer Anstrengungen als groß und lang abgefasster, fein ziselierter,
sorgfältig formulierter Gipfelkommuniqués von Lissabon
bis Göteborg; dann muss die praktische Politik, Herr
Bundeskanzler, dafür sorgen, dass endlich wirklich ein
wirtschaftlicher Aufschwung durch alle Länder der Europäischen Union und insbesondere durch die Bundesrepublik Deutschland geht.
({30})
Das, was Sie hier in Deutschland machen, gefährdet das
gesamte europäische Projekt. Sie gefährden die Zustimmung der Menschen zu dem, was vor circa 50 Jahren für
Europa und für die Zukunft unseres Kontinentes auf den
Weg gebracht worden ist.
Deswegen sage ich Ihnen: Wir bieten Ihnen an, an einem Fünf-Punkte-Programm für Aufschwung, Beschäftigung,
({31})
Wirtschaftswachstum und politische Zukunft in Europa
mitzuwirken.
Erstens. Stoppen Sie das unselige Betriebsverfassungsgesetz.
({32})
- Wenn in Ihren Reihen dazu nur Gelächter zu hören ist,
dann zeigen Sie damit, dass Sie die Wirklichkeit von Wirtschaftspolitik in den Betrieben in Deutschland längst aus
dem Blick verloren haben.
({33})
Funktionäre sind es, die die Politik in diesem Lande bestimmen.
Zweitens. Ziehen Sie die für das Jahr 2005 vorgesehene Steuerreform auf den 1. Januar des Jahres 2002 vor,
damit insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen in diesem Lande eine Chance haben.
({34})
Drittens. Setzen Sie wenigstens die nächsten beiden
Stufen der Ökosteuer aus, damit die Menschen das Geld
in der Tasche behalten und nicht durch Ihre verfehlte Politik ein weiterer Inflationsschub auf Deutschland zukommt.
({35})
Viertens. Beginnen Sie endlich mit dem, was Sie offensichtlich doch selbst für richtig halten, nämlich mit einer grundlegenden Reform unseres Gesundheitssystems
in der Bundesrepublik Deutschland,
({36})
damit nicht eine große Welle von Beitragserhöhungen auf
uns zukommt. Der in diesen Tagen gefasste Beschluss der
AOK Hessen, den Beitragssatz um 1 Prozent zu erhöhen,
ist ein Menetekel für Ihr Ziel, die Lohnzusatzkosten in
Deutschland auf unter 40 Prozent abzusenken.
({37})
Schließlich, Herr Bundeskanzler: Sorgen Sie dafür,
dass endlich Reformen auf dem Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland - ({38})
Herr Präsident, offensichtlich ist die Akustik in diesem
Saal so schlecht, dass große Teile derer - in meiner Fraktion sind ja einige mehr anwesend als bei Ihnen -,
({39})
die in den hinteren Reihen sitzen, nur geringe Möglichkeiten haben zuzuhören. Sie von den Regierungsfraktionen können dazu beitragen, das zu ändern, indem Sie sich
mit Ihren Zwischenrufen vielleicht zurückhalten und so
dafür sorgen, dass wir miteinander reden können.
({40})
Dies alles sind die Notwendigkeiten nicht nur der deutschen Politik, sondern auch der europäischen Politik. Wer
eine wirklich erfolgreiche Gestaltung der europäischen
Politik will, der darf das nicht alles der EU und ihren
Institutionen überlassen, sondern er selbst muss handlungsfähig sein.
Da der Deutsche Bundestag vor zehn Jahren - ich war
damals nicht dabei,
({41})
aber ich habe den Beschluss begrüßt - entschieden hat,
nach Berlin zu ziehen, erlauben Sie mir, dass ich zum
Schluss einen Hinweis gebe, der jedenfalls uns mit tiefer
Sorge um die Zukunft unseres Landes erfüllt. Sie, Herr
Bundeskanzler, sind auf dem Weg, die Zusammenarbeit
mit denjenigen zu institutionalisieren, auszuweiten und zu
begründen, die in Berlin und ganz Deutschland für Mauer
und Stacheldraht Verantwortung getragen haben. Das ist
Ihre politische Entscheidung.
({42})
Damit werden wir uns bei anderer Gelegenheit auseinander zu setzen haben.
({43})
Aber wenn Sie eine gute wirtschaftliche Zukunft Deutschlands wollen, dann hilft vielleicht zur kritischen Einschätzung dessen, was Sie vorhaben, ein Blick auf die Länder,
in denen die Zusammenarbeit zwischen SPD, Grünen und
PDS längst begonnen worden ist. Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Herr Bundeskanzler, sind die
einzigen Bundesländer, in denen der Saldo der Anmeldungen von neuen Betrieben negativ ist: Im letzten Jahr hat
das Land Mecklenburg-Vorpommern über 400, das Land
Sachsen-Anhalt fast 1 000 Gewerbebetriebe im Saldo gegenüber den Neuanmeldungen verloren.
({44})
Dies ist die politische Botschaft, die Sie nicht nur für Berlin, sondern für ganz Deutschland ausgeben, wenn Sie zulassen, dass SPD, Grüne und PDS jetzt zusammenarbeiten.
({45})
Die Tatsache, dass Sie gelangweilt in Ihren Dokumenten lesen, Herr Bundeskanzler, lässt gewisse Rückschlüsse auf die Art und Weise zu, wie Sie den parlamentarischen Umgang pflegen.
({46})
Ich habe Ihnen zugehört, als ich auf meinem Platz gesessen habe.
Welches Bild geht von dieser Stadt und diesem Land zu
einem Zeitpunkt aus,
({47})
wo wir beherzte politische Entscheidungen für Europa
brauchen, wenn eine SPD in Deutschland jetzt die Zusammenarbeit mit den Altkommunisten der DDR beginnt.
({48})
An dieser Wirklichkeit kommen Sie nicht vorbei. Über
diese Fragen werden wir uns mit Ihnen in den nächsten
Wochen und Monaten auseinander zu setzen haben, wenn
es nicht nur um eine bessere Politik für Deutschland geht,
sondern auch um eine gute, eine richtige und eine erfolgreiche Politik für ganz Europa.
({49})
Ich erteile dem Kollegen Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Merz, für mich sind
Sie der lebende Beweis dafür, dass innerparteiliche
Schwäche und Konkurrenz zum Tod der politischen Seriosität führen.
({0})
Dazu möchte ich gerne Dieter Hildebrandt zitieren: „Sie
sind als Torpedo gestartet und als Flaschenpost gelandet.“
Den Beweis hierfür haben Sie eben hier geliefert.
({1})
Wir können gerne eine Debatte über Berlin führen.
Dazu will ich Ihnen kurz sagen - das ist jetzt nicht die Gelegenheit; Sie haben völlig am Thema vorbeigeredet -:
Die Berliner Situation haben einzig und allein Herr
Diepgen und Herr Landowsky zu verantworten, die das
4-Milliarden-DM-Defizit in dieser Stadt herbeigeführt
haben.
({2})
Auch können wir über die PDS reden. Ich habe eine
Liste von Mitgliedern Ihrer Fraktion dabei, die der Blockpartei CDU teilweise seit 1952 angehört haben. Von Ihnen
lassen wir uns nicht solche Vorwürfe machen, Herr Kollege Merz! Das werden wir noch bei Gelegenheit bereden,
damit das klar ist.
({3})
- Das tut Ihnen weh. Das weiß ich. Sie können ja einmal
mit Ihren Kollegen, die seit 1952 in der Block-CDU sind,
darüber reden, wie sie sich gegenüber der SED verhalten
haben. Wenn Sie schon ein solches Thema ansprechen,
dann wird hier über alles geredet. Dann kommt alles auf
den Tisch!
({4})
Es ist schon eine Unverschämtheit, wenn Sie, Herr
Merz, sich hier hinstellen und von ein paar Mark mehr
Kindergeld reden. Wir haben das Kindergeld für das erste
und zweite Kind um 80 DM erhöht. Das haben Sie in Ihrer gesamten Regierungszeit nicht geschafft. Das ist eine
gute politische Leistung!
({5})
Dann sagen Sie, Sie wollen die Steuerreform vorziehen. Sie waren es doch, die dagegen waren, dass wir die
Steuerreform machen.
({6})
- Natürlich waren Sie dagegen. Sie haben doch eine
schwere Niederlage im Bundesrat erlitten, weil Ihre eigenen Leute nicht mitgemacht haben.
({7})
Nun hören Sie bloß auf!
Ich möchte einige Worte zur wirtschaftlichen Lage sagen. Natürlich macht uns die Preissteigerungsrate Sorgen,
das ist selbstverständlich.
({8})
Natürlich macht uns die konjunkturelle Lage Sorgen; das
ist keine Frage. Aber wir sollten auch darauf hinweisen,
dass die Preissteigerungsrate im Wesentlichen auf die
Ölpreisentwicklung - das ist eine globale Entwicklung ({9})
und natürlich auch auf die Situation bei den Preisen für
Lebensmittel zurückzuführen ist. Wir haben an anderer
Stelle oft genug darüber diskutiert, dass wir die Gewissheit haben müssen - dafür danke ich der Landwirtschaftsund Verbraucherministerin sehr -, dass wir gesunde Lebensmittel essen können. Das wirkt sich natürlich auf die
Preise aus.
Wir werden die Entwicklung der Preissteigerungsrate
und der Konjunktur im Auge behalten. Aber es ist falsch,
meine Damen und Herren, wenn Sie mit dazu beitragen,
die Stimmung schlechter zu reden, als die Lage tatsächlich ist. Die Lage ist nämlich besser als die Stimmung, die
artikuliert wird.
({10})
Wir werden keine hektischen Aktivitäten entfalten.
({11})
Es geht jetzt darum, darauf hinzuweisen - diesbezüglich finde ich die Beiträge von Herrn Professor Siebert
sehr vernünftig -, dass wir, jedenfalls nach den Erfahrungen, die wir aus Amerika haben, im dritten und vierten
Quartal dieses Jahres und erst recht im ersten und zweiten
Quartal des nächsten Jahres eine positive Entwicklung haben werden.
({12})
Es ist klar, dass unsere wirtschaftliche Entwicklung
eng mit der Entwicklung der Weltwirtschaft verbunden
ist. Reden Sie unser Land nicht herunter! Die Stimmung
in der Wirtschaft, beispielsweise in der Maschinen- und
Anlagenbauindustrie, ist besser.
({13})
Ich möchte zu dem Thema sprechen, zu dem auch Sie
hätten sprechen sollen, Herr Kollege Merz, nämlich zu
Europa.
({14})
Sie sollten lernen, Herr Merz, dass Europa nur mit einem
realistischen Optimismus und nicht mit Miesmacherei zu
bauen ist.
({15})
Wenn Sie Göteborg kritisieren, dann kritisieren Sie
Jacques Chirac und Aznar und nicht nur den Bundeskanzler. Das, was in Göteborg, zum Beispiel im Bereich
der Nachhaltigkeitsstrategie verabredet worden ist,
kann sich sehen lassen, und zwar Nachhaltigkeit nicht nur
in der Umweltpolitik, sondern insgesamt. Dabei ist ein
neuer, ein guter Impuls gesetzt worden.
({16})
Die Diskussion über das Abkommen zum Klimaschutz hat auch uns natürlich Sorge gemacht. Ich finde es
gut, dass wir, die SPD-Fraktion, aber auch die Bundesregierung, die Haltung des amerikanischen Präsidenten zum
Kioto-Protokoll zu Recht kritisieren. Die USA werden ihrer globalen Verantwortung für den Klimaschutz mit der
Haltung ihrer neuen Administration nicht gerecht. Alle
Mitgliedstaaten haben zugesagt, das Kioto-Protokoll zu
ratifizieren.
Die Europäische Union geht dabei mit gutem Beispiel
voran. Wir werden dafür werben, dass andere Vertragspartner diesem Beispiel folgen. Die Amerikaner sollten
den Faden nicht ganz abreißen lassen. Wir ermuntern sie,
mit uns weiter konstruktiv darüber zu reden.
({17})
Es ist über den Fahrplan für die Erweiterung diskutiert
worden. Bis Ende 2002 sollen die Erweiterungsverhandlungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Beitrittsländern abgeschlossen sein. Das ist ein sehr ehrgeiziges
Ziel. Ich kann Gerhard Schröder gut verstehen, dass er
beim Europäischen Rat in Göteborg ein Fragezeichen hinter dieses Datum gesetzt hat.
Der Bundeskanzler und die Bundesregierung haben
die Erweiterungspolitik der Europäischen Union in den
letzten Jahren maßgeblich vorangebracht. Wir haben uns
immer wieder für eine zügige Erweiterung eingesetzt.
Bisher gab es im Deutschen Bundestag einen parteiübergreifenden Konsens, dass die Erweiterung kommt, wenn
die Beitrittsländer die entsprechenden Kriterien erfüllen.
Politische Rabatte - das ist bisher unstrittig gewesen darf es nicht geben. Wer aus Verantwortung gegenüber der
EU und den Beitrittsländern ein Fragezeichen hinter ein
bestimmtes Datum setzt, der sollte deshalb nicht kritisiert
werden. Ich erinnere mich noch gut daran, dass der Vorgänger von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Altkanzler
Helmut Kohl, im Hinblick auf den Beitritt von Polen das
Jahr 2000 genannt hat. Wir wissen alle genau, dass das absolut unrealistisch war.
Für die erfolgreiche Politik der Erweiterung gibt es ein
gutes Beispiel: Noch im letzten Herbst sah es so aus, als
könnten die Verhandlungen über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer zu einem Stolperstein werden. Was ist
seitdem passiert? Bundeskanzler Schröder hat im Dezember 2000 die Initiative ergriffen und in Weiden öffentlich
die Eckpunkte benannt, die dafür von Bedeutung sind.
Dabei hat er auf Maximalpositionen verzichtet und stattdessen von Anfang an ein Modell vorgeschlagen, das die
Akzeptanz in den heutigen Mitgliedstaaten, aber auch die
Akzeptanz in den Beitrittsländern im Blick hat. Es war
also ein flexibler Vorschlag.
Kurz vor der Einigung zwischen den Mitgliedstaaten
kam die Verknüpfung von Freizügigkeit und der künftigen
Finanzausstattung der Strukturfonds durch Spanien ins
Spiel. Dieser Versuch ist glücklicherweise gescheitert.
Vor allem Gerhard Schröder und Joschka Fischer haben es
zusammen mit den anderen Partnern geschafft, diesen Angriff abzuwehren. Denn wie viele Junktims zu dem
Thema Beitritt hätte es noch gegeben, wenn der erste massive Versuch nicht gestoppt worden wäre, wenn man diesem Angriff nicht standgehalten hätte?
({18})
- Aznar; Sie haben nicht zugehört, Herr Repnik. Aber das
ist Ihr Problem und nicht meins.
({19})
Damit konnten die Erweiterungsverhandlungen über
dieses schwierige Kapitel, wie im Verhandlungsfahrplan
vorgesehen, fortgeführt werden.
Ungarn hat die EU-Vorschläge inzwischen als erstes
Beitrittsland akzeptiert. Wir wissen, dass das für Ungarn
zu Hause und im Verhältnis zu den anderen Beitrittsländern nicht leicht war. Wir sollten diese mutige Entscheidung würdigen und wir sollten uns bei den Ungarn dafür
ausdrücklich bedanken.
({20})
Inzwischen hat auch Lettland die Vorschläge zur Freizügigkeit akzeptiert. Das unterstreicht, dass wir auf einem
guten Wege sind.
Ich will an dieser Stelle betonen, dass die Frage der Finanzierung für die Erweiterung bis 2006 geklärt ist. Wer
etwas anderes sagt, der hat von vornherein keine Bereitschaft zu substanziellen Reformen in der gemeinsamen
Agrarpolitik. Das ist die Wahrheit. Wir können das heutige System nicht einfach auf die erweiterte Europäische
Union übertragen. Helfen Sie uns, in diesem schwierigen
Feld voranzukommen! Das - nicht Ihre Miesmacherei wäre konstruktiv.
({21})
Wir wussten jedenfalls immer, dass die Erweiterung nicht
zum Nulltarif zu haben sein wird. Um das zu begreifen,
brauchen wir keine Nachhilfestunden von Ihnen.
Über das irische Referendum ist gesprochen worden.
Herr Kollege Merz, wenn Sie mit Ihrer Rede allerdings
suggerieren wollten, dass die Bundesregierung auch daran Schuld habe, dann zeigt das, wie wenig Sie von der
Sache verstehen. Mit dem irischen Referendum haben wir
nun wirklich nichts zu tun. Das haben die irischen Bürgerinnen und Bürger allein erledigt, auch wenn es nicht in
unserem Sinne war. Wir können zwar nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen; es ist aber richtig, dass uns das
Ergebnis des Referendums Anlass geben muss, über die
Zukunft der Europäischen Union intensiv nachzudenken.
Wir werden diese Fragen bis 2004 auf einer Regierungskonferenz zu entscheiden haben.
Meine Partei, die SPD, hat einen Leitantrag für die Diskussion über Europa für den Bundesparteitag in Nürnberg
im November vorgelegt. Der SPD-Parteivorsitzende hat
diesen Entwurf eines europapolitischen Grundsatzpapiers vorgestellt. Wir werden die Diskussion darüber
führen. Wir stehen erst am Anfang dieser Diskussion und
deshalb kann es nicht bereits jetzt darum gehen, über
Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Positionen
nachzudenken.
Mir und sicherlich auch dem Bundeskanzler ist klar,
dass wir mit solchen Vorschlägen mit unseren französischen oder britischen Freunden nicht von vornherein in
allen Punkten übereinstimmen werden. Aber das ist doch
eine Selbstverständlichkeit. Wir können nicht erwarten,
dass auch von befreundeten Parteien in vielen Punkten
Positionen vertreten werden, wie wir sie in dem Leitantrag aufgelistet haben. Das hängt auch mit den unterschiedlichen Traditionen und mit der unterschiedlichen
nationalen Geschichte dieser Länder zusammen. In der
Vergangenheit ist es häufig so gewesen, dass sich beide
Seiten, von unterschiedlichen Positionen kommend, angenähert haben und dass die erzielten Kompromisse von
den übrigen Partnern als Ausgangspunkt für eine gesamteuropäische Lösung akzeptiert worden sind. Ich bin sicher, das wird auch mit unseren Vorschlägen geschehen,
über die wir mit unseren französischen und britischen
Freunden Gespräche führen.
({22})
Die Frage einer europäischen Verfassung wird einer
der zentralen Punkte der belgischen Präsidentschaft sein.
Der Verabschiedung dieser Verfassung soll und muss eine
breite öffentliche Diskussion vorausgehen. Es ist wichtig,
dass in Göteborg auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs zuerst darüber gesprochen wurde. In den
nächsten Wochen und Monaten kommt es darauf an, den
Rahmen für die öffentliche Debatte über die europäische
Verfassung zu bestimmen und gleichzeitig - das möchte
ich deutlich betonen - die Einsetzung eines parlamentarisch besetzten Konvents zu beschließen.
({23})
Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, dass Göteborg der letzte Beleg für die Unumkehrbarkeit des Beitrittsprozesses gewesen sei. Damit verwirklicht sich eine
Vision, die in diesem Hause, zwar nicht an dieser Stelle,
aber in diesem Parlament, vor 50 Jahren zum ersten Mal
formuliert wurde. Damals, 1951, bei der Verabschiedung
der Montanverträge zwischen den Beneluxländern,
Frankreich, Italien und Deutschland, nahm das heutige
Europa mit dem Gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl
seinen Anfang. Einer meiner Vorgänger in meinem jetzigen Amt, Herbert Wehner, hat in der damaligen Debatte
gesagt:
Die europäische Gemeinschaft muss bestrebt sein,
das ganze Europa zu umgreifen, einschließlich der
Länder, die heute noch der demokratischen Freiheit
beraubt sind.
Dieses Zitat von Herbert Wehner wird langsam Realität.
Die Visionen, die damals formuliert worden sind, rücken
immer näher und werden immer greifbarer. Wir sind auf
einem guten Wege.
({24})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.
Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die deutschen Liberalen, aber auch unsere Kollegen im Europaparlament bewerten den Gipfel von Göteborg hinsichtlich
der Osterweiterung positiv. Wir haben seit Monaten die
Konkretisierung des Beitrittsfahrplans mit erreichbaren
Bedingungen eingefordert, was nichts mit Datumsfetischismus zu tun hat, Herr Außenminister Fischer. Wir
glauben, Göteborg hat dank der schwedischen Präsidentschaft dazu geführt, dass die Einigung Europas irreversibel ist und der Fahrplan für die Osterweiterung eingehalten werden kann.
({0})
Nicht positiv bewerten wir die Rolle der Bundesregierung am Anfang, wenn die Presseberichte stimmen. Wir,
die wir immer der Anwalt der osteuropäischen Länder waren, haben lange gezögert. Davon war in vielen Presseberichten die Rede. Am Schluss mussten sich Deutschland und Frankreich dem schwedischen Wunsch beugen,
einen konkreten Beitrittsfahrplan vorzulegen. Herr Bundeskanzler, wenn es Ihre Absicht war, eine zu kleine
Osterweiterung zu verhindern und einen konkreten Weg
für das wichtigste Beitrittsland, nämlich Polen, offen zu
halten, dann findet dies unsere Zustimmung. Wir halten
das für sehr wichtig.
({1})
Polen ist unser wichtigster Partner und das größte Beitrittsland. Wir wollen, dass Polen zur ersten Beitrittsrunde
gehört.
({2})
Aber wir sollten nicht nur die Reformanforderungen an
Polen wiederholen, sondern auch unsere Hausaufgaben in
Deutschland machen, damit die Menschen in Deutschland
nicht Angst vor neuen Wettbewerbern auf dem Arbeitsmarkt haben.
({3})
Wer den Arbeitsmarkt nicht reformiert, die Ökosteuer
weiterhin erhebt und das Betriebsverfassungsgesetz zuungunsten des Mittelstandes verschärft, trägt nicht dazu
bei, dass neue Arbeitsplätze für Deutsche entstehen. Deshalb haben die Deutschen Angst vor neuen Wettbewerbern um Arbeitsplätze.
({4})
Hier ist der enge Zusammenhang zwischen der Fähigkeit
zu inneren Reformen in Deutschland und der Bereitschaft zur Aufnahme neuer Länder in die Europäische
Union evident.
({5})
Insofern, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD
mit Ihrer großen Europatradition im Sinne von Willy
Brandt, ist die Schaffung einer Übergangsfrist von sieben
Jahren für die Gewährung eines europäischen Grundrechtes, nämlich der Freizügigkeit, 21 Jahre nach Ende des
Eisernen Vorhangs keine europäische Heldentat der Sozialdemokraten und der deutschen Gewerkschaften.
({6})
1990: Versprechen an die Osteuropäer. Im Jahr 2000:
weitere vier Jahre bis zur Aufnahme neuer Mitglieder,
dann weitere sieben Jahre Übergangsfrist. Das bedeutet
für die Länder in Osteuropa, dass erst im Jahre 2011 volle
Freizügigkeit in Europa herrscht. Ich glaube, viele Osteuropäer haben sich diese Art von europäischer Wiedervereinigung anders vorgestellt.
({7})
Ich glaube, dass mit dem im Feuilleton der „FAZ“ von
heute erwähnten „traurigen Dokument historischen Vergessens“ gemeint ist, dass wir eben wegen mangelnder eigener Reformbereitschaft nicht wirklich aufnahmefähig
sind.
({8})
Die Frage der Aufnahmefähigkeit stellt sich aber nicht
nur in wirtschaftspolitischer, sondern auch in politisch-institutioneller Hinsicht, und zwar gerade den Altmitgliedern und dem größten europäischen Land, Deutschland.
Es geht nach wie vor um die Frage der Organisation der
Entscheidungsprozesse, der Mehrheitsfähigkeit und der
Entscheidungsfähigkeit.
Nur so viel zu unserer Haltung zu Nizza - der Fraktionsvorsitzende der F.D.P. wird in der nächsten Woche unDr. Peter Struck
sere Position präzisieren -: Die F.D.P. und die europäischen Liberalen im Parlament sind keine Neinsager. Vielmehr sind sie die besseren Europäer, weil sie versuchen,
Erweiterung und Vertiefung gleichzeitig zu erreichen.
({9})
Sie müssen die wichtige Position Deutschlands im europäischen Einigungsprozess unter der Führung eines
liberalen belgischen Ministerpräsidenten dazu nutzen,
dass der Europäische Rat von Laeken erbringt, dass
der Vertragsentwurf von Nizza im Bereich der Entscheidungsfähigkeit so verbessert wird, dass er zustimmungsfähig wird. Wir wollen dem Entwurf von Nizza zustimmen, aber nicht um jeden Preis.
({10})
Klar ist auch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, Herr
Gloser, dass nicht der ein guter Europäer ist, der intern
sagt: Nizza ist schlecht, Augen zu und durch. Es ist vielmehr der ein guter Europäer, der alles versucht, um den
Entwurf von Nizza so zu verbessern, dass sich eine Europäische Union von 20 bis zu 27 Mitgliedern nicht nach
dem Prinzip der Vetoentscheidung, sondern nach dem
Prinzip von wichtigen politischen Mehrheitsentscheidungen organisiert.
({11})
Aus dem irischen Nein - und dies ausgerechnet am
Vorabend des wichtigsten Projektes, nämlich der europäischen Wiedervereinigung; täuschen wir uns nicht, dies
entspricht einer allgemeinen Europamüdigkeit, auch in
unserem Land - ergeben sich aus unserer Sicht drei gemeinsame Aufgaben aller Parteien und aller Fraktionen
im Deutschen Bundestag.
Erstens. Wir sollten die Debatte um die Zukunft Europas, um die Vision Europa, durchaus mit unterschiedlichen
Ansätzen führen. Wir sollten aber gleichzeitig bei den bevorstehenden konkreten europäischen Projekten alles tun,
damit die Einführung der europäischen Währung - ein
wichtiges Projekt - zu einer stärkeren projektbezogenen
Europa-Zustimmung führt. Hier ergibt sich ein Zusammenhang mit der Reformpolitik: Wer innenpolitisch, wirtschaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch nicht reformiert, wird eine weitere Schwächung des Außenkurses
der europäischen Währung zulassen. Dies wird im wichtigsten Land Europas erneut zu einer Europamüdigkeit
führen. Wer die Diskussion über die Erweiterung nach
Osteuropa weitgehend auf die Frage der Freizügigkeit
bzw. der Einschränkung der Freizügigkeit verkürzt, der
darf sich nicht wundern, dass viele Menschen die Osterweiterung nur noch unter dem Aspekt des Wettbewerbes
am Arbeitsmarkt sehen und nicht mehr unter dem Aspekt
der politischen Einigung Europas, der Stabilisierung des
Friedens und letztlich auch der Exportchancen deutscher
Firmen.
({12})
Zweitens. Wir haben die Aufgabe, uns selbst, aber auch
die Bevölkerung durch ausreichende innere Reformen auf
mehr Wettbewerb vorzubereiten. Es ist ungerechtfertigt,
so zu tun, als sei die Osterweiterung Europas der Hauptgrund für mehr Wettbewerb. Die Globalisierung insgesamt erfordert von unserer Gesellschaft ein sehr viel
höheres Maß an Flexibilität, an Wettbewerbsfähigkeit und
an Qualifikation. Die Osterweiterung ist eigentlich nur ein
kleines Modell der Globalisierung. Deshalb ist der Zusammenhang zwischen innerer Reform in Deutschland
und Aufnahmefähigkeit für neue Partner in Europa so
enorm wichtig.
({13})
Drittens. Nicht zuletzt gilt: Das europäische Projekt
muss mithilfe des Konventmodells, also mit einer anderen
Form der Verhandlungen auf europäischer Ebene, dafür
sorgen, dass sich die Menschen wieder stärker beteiligt
fühlen. Herr Außenminister, dem deutschen Parlament
- Sie wissen es aus dem Europaausschuss - kommt dabei
eine wichtige Aufgabe zu. Wir haben die große Bitte auch
an Sie, bei Ihren Überlegungen hinsichtlich der Struktur
und Organisation des Konventmodells die Rolle des nationalen Parlamentes ausreichend zu würdigen und insbesondere die Opposition rechtzeitig zu beteiligen.
Wenn diese drei Anforderungen an die europäische Politik erfüllt werden, besteht die große Chance, dass die
Osterweiterung von den Menschen nicht als Bedrohung
hinsichtlich ihrer persönlichen Lage, sondern als Chance
empfunden wird.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile dem
Außenminister Joseph Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, hat heute
Morgen die Skizze einer neuen christdemokratischen
Europapolitik, gewissermaßen von den lichten Höhen
seiner sauerländischen Heimat herunter, entworfen:
({0})
Es ging um die AOK Hessen, das Betriebsverfassungsgesetz, die Inflation, die Ökosteuer, die PDS und Bürgerferne.
({1})
Unter dem Strich hieß es dann: An allem sei die Bundesregierung und vor allem der Bundeskanzler schuld.
({2})
Das sind, für sich genommen, alles wichtige Themen,
Herr Merz. Das will ich gar nicht abstreiten. Nur mit Göteborg haben diese Punkte fast nichts und zum Teil gar
nichts zu tun.
({3})
Ich verstehe ja die Leidenschaft für Wahlkampf; ich
kann das weiß Gott nachvollziehen. Darum ist es in Göteborg aber nicht gegangen. In Göteborg ging es vielmehr
um eine der entscheidenden historischen Herausforderungen für die europäische Zukunft, nämlich um die Erweiterung.
Eine erweiterte Union wird im Jahre 2006 vor schwierigen Finanzverhandlungen stehen. Es war daher sehr
wichtig, dass es der Bundesregierung gelungen ist, gemeinsam mit unseren Partnern - an dieser Stelle haben
wir uns bei der schwedischen Präsidentschaft zu bedanken - gelungen ist, die unsachgemäße Verknüpfung des
Freizügigkeitskapitels, also Freizügigkeit für Personen
und für Dienstleistungen sowie Freizügigkeit im Rahmen
des Kapitalverkehrs, mit den Struktur- und Kohäsionsfonds nach 2006 aufzulösen. Diese Verknüpfung hätte in
der Tat ein Problem aufgeworfen, bei dem es nicht nur um
die Frage der Finanzierbarkeit nach 2006 gegangen wäre,
sondern auch um die Frage der Akzeptanz einer erweiterten Union und um die Möglichkeit, hier die notwendigen
Kompromisse zu erreichen. Es ist der Bundesregierung
also gemeinsam mit unseren Partnern gelungen, diese
Verknüpfung aufzulösen. Das war eine der ganz wichtigen Entscheidungen, die schon vor dem Gipfel gefallen
ist.
({4})
Der Gipfel hat klargemacht, dass die Erweiterung unumkehrbar ist. Aber es ist doch geradezu grotesk, Herr
Merz, wenn Sie dem Bundeskanzler und dieser Bundesregierung vorwerfen, sie würden sich nicht mit aller Kraft
dafür einsetzen, mit der Erweiterung voranzukommen
und - vor allen Dingen - sie zum Abschluss zu bringen.
Es war diese Bundesregierung und nicht die Vorgängerbundesregierung, die mit der visionären Datumsdiskussion Schluss gemacht hat. Wir haben darauf gedrungen, dass mit dem Beschluss von Helsinki die konkrete
Grundlage für die Erweiterung geschaffen wurde. Jetzt
geht es nicht mehr um eine Wiedereröffnung der Datumsdiskussion, sondern darum, die Erweiterung Kapitel um
Kapitel anzugehen und abzuschließen. Die Verträge müssen möglichst schnell unterzeichnet und mit dem Ratifikationsverfahren muss möglichst schnell begonnen werden; denn das sind die praktischen Voraussetzungen dafür,
dass die Erweiterung endlich - ich wiederhole: endlich Realität wird.
({5})
Es war diese Bundesregierung, die das gemacht hat.
({6})
Kollege Haussmann, Ihre Vermutung trifft zu: Wir haben überhaupt kein Interesse daran, eine neue Datumsdiskussion zu beginnen. Andere haben durchaus Interesse an
einer neuen Datumsdiskussion. Ich meine nicht die Beitrittsländer, die teilweise unter schwerem innenpolitischen Druck stehen. Dafür müssen wir großes Verständnis haben; denn sie haben auch große Anstrengungen zu
leisten. Es gibt noch andere, die - wie man auf Neudeutsch sagt - durchaus „second thoughts“ haben. Das hat
die Bundesregierung nicht.
Wir wollen alles tun - der Bundeskanzler hat dies zu
Recht unterstrichen -, allerdings auf der Grundlage der
Beschlüsse von Helsinki und der konkreten Fortschritte
bei den Erweiterungsverhandlungen, damit Polen in der
ersten Runde mit dabei ist.
({7})
Umgekehrt kann dieses aber nicht bedeuten, dass es politische Kulanzentscheidungen gibt. Das möchte ich hier
zweifelsfrei feststellen.
({8})
Wir haben unseren polnischen Freunden auf dem deutschpolnischen Gipfel nochmals gesagt, dass wir nach Kräften dazu beitragen werden, damit es hier zu konkreten
Fortschritten kommt.
Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist
natürlich die Ratifikation des Vertrages von Nizza. Kollege Haussmann, an dem Punkt machen Sie es sich zu einfach. Sonst wurde in der Regel behauptet, es würde im
deutsch-französischen Verhältnis knirschen, und dies
wurde kritisiert.
({9})
Die F.D.P. weiß nur zu gut, dass es, wenn es hier zum
Schwur kommt, auf sie nicht ankommt. Dennoch glaube
ich, dass Ihre Tradition Sie dazu verpflichtet, unter
Zurückstellung der Punkte, die Sie kritisieren, dem Vertrag von Nizza im Ratifikationsverfahren zuzustimmen.
Das Paket von Nizza wieder aufzuschnüren, hieße, es
nicht wieder zusammenzubekommen und gleichzeitig sehenden Auges in ein schweres deutsch-französisches Zerwürfnis hineinzulaufen. Auch das muss klipp und klar gesagt werden.
({10})
Das Paket von Nizza wieder aufzuschnüren, hieße - auch
wenn es nicht in einem formellen Zusammenhang steht -,
dass der entscheidende Punkt nicht umgesetzt werden
könnte, nämlich 2004 die Vertiefung zu erreichen, mit der
auf deutsch-italienische Initiative hin - wie der Bundeskanzler zu Recht gesagt hat - im Rahmen des europäischen Prozesses konkret begonnen wurde; es ist also
nicht mehr nur eine theoretische Diskussion, sondern wir
beginnen praktisch damit, die europäische Demokratie
fortzuentwickeln und 2004 auch durchzusetzen. Es geht
darum, die Union - wie allseits gewünscht - bürgernäher,
transparenter, verständlicher zu gestalten, was die Kompetenzverteilung, die Aufgabenverteilung zwischen den
Nationalstaaten der Union angeht. Es soll mehr demokratische Anbindung geschaffen werden. Wenn wir den Vertrag von Nizza nicht ratifizieren, werden wir uns auch von
diesem Projekt verabschieden. Das ist Bestandteil des Gesamtpakets; das darf man nicht vergessen. Ich sage das gerade in Richtung der Opposition.
({11})
Jeder interpretiert jetzt seine Sicht in die irische Entscheidung hinein. Das war schon beim Europäischen Rat
so. Aber es ist an erster Stelle eine nationale Entscheidung
des irischen Souveräns. Der Respekt gebietet es - das hat
der Bundeskanzler unterstrichen - abzuwarten, wie das irische Parlament und die irische Regierung diese Entscheidung jetzt auswerten und welche Schlussfolgerungen sie
daraus ziehen. Welchen Eindruck hätte es gemacht, wenn
der Europäische Rat irgendwelche Vorschläge gemacht
hätte, bevor die irische Regierung und der irische Gesetzgeber dazu gesprochen haben? Das hätte so ausgesehen,
als wenn von oben herab in die irischen Verhältnisse hätte
hineinregiert werden sollen. Der Respekt gebietet es, dass
man sich an die Reihenfolge hält. Wenn dann Hilfe oder
Veränderungen notwendig sind, wird man auf europäischer Ebene darüber reden müssen.
Nach der neuen merzschen Europapolitik liegen die
Ursachen für das irische Nein bei Österreich und vor
allem dem Umstand, dass der Bundeskanzler Herrn
Berlusconi nicht gratuliert hat.
({12})
Herr Merz, ich will Ihnen einmal einen Brief vom 11. Juni
dieses Jahres vorlesen:
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
zur Übernahme Ihres verantwortungsvollen Amtes
an der Spitze der italienischen Regierung gratuliere
ich Ihnen.
Die freundschaftliche Verbundenheit unserer beiden
Länder hat einen besonderen Stellenwert. Deutschland und Italien haben durch ihre enge Zusammenarbeit immer wieder wichtige Beiträge zur Entwicklung der Europäischen Union leisten können. Ich bin
mir sicher, dass wir diese Partnerschaft erfolgreich
fortsetzen werden.
Ich freue mich darauf, Sie bei der Tagung des
Europäischen Rates in Göteborg persönlich kennen
zu lernen. Für die vor Ihnen liegenden Aufgaben
wünsche ich Ihnen Glück und Erfolg.
Mit freundlichen Grüßen
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
({13})
Es gratulierte also der Bundeskanzler - ({14})
- Am 11. Juni, direkt nach der Vereidigung, noch vor der
Wahl im italienischen Parlament.
({15})
Es gratulierte der Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland dem neuen, gerade vereidigten italienischen
Ministerpräsidenten. Herrn Berlusconi nicht gratuliert hat
der Parteivorsitzende der SPD. Dafür habe ich allerdings
Verständnis, meine Damen und Herren.
({16})
Auf welches Niveau ist denn die Europadiskussion in
der CDU gesunken, wenn die Frage der Gratulation
Berlusconis Ursache für das Nein in Irland gewesen sein
soll?
({17})
Herr Merz, darüber sollten Sie wirklich noch einmal
nachdenken. Ich frage mich übrigens auch, was Wolfgang
Schäuble bei Ihren Äußerungen über die Entwicklung in
Berlin gedacht hat. Es wäre hochinteressant, das hier einmal zu hören.
({18})
Ich komme zurück zu Europa: Ganz entscheidend war
in Göteborg noch die Nachhaltigkeitsfrage. Wir können
jetzt Umsetzungsschritte für sie ausarbeiten; dass wir die
Nachhaltigkeit als konkretes praktisches Programm der
Kommission und der verschiedenen Räte in der Union
haben, ist ein entscheidender Schritt nach vorn. Auch die
Tatsache, dass sich die Union verpflichtet hat, am KiotoProzess festzuhalten, ist ein entscheidender Schritt nach
vorne: für die Umweltpolitik nicht nur der Union, sondern
auch weltweit.
Noch wichtiger ist Folgendes: In diesem Zusammenhang ist klar geworden, dass sich die gemeinsame Außenpolitik der Union enorm in positiver Richtung entwickelt
hat. Das gilt im Zusammenhang mit Nahost wie auch im
Verhältnis zu den USA. Der Besuch von Präsident Bush
hat klargemacht, welches Niveau die Gemeinsamkeit der
Europäer in zentralen außenpolitischen, aber auch in anderen wichtigen internationalen Fragen wie der Umweltpolitik oder etwa in der Handelspolitik, erreicht hat. Das
ist ebenfalls ein Ergebnis von Göteborg, das ich nicht gering veranschlage, auch wenn dies nicht direkt in die
Konklusionen und Beschlussfassungen eingeflossen ist.
Einen letzten Punkt möchte ich in diesem Zusammenhang ansprechen: die Bedeutung des Jahres 2004. Hier
liegt die Betonung auf der belgischen Präsidentschaft. Ich
habe vorhin schon angesprochen, wie wichtig es ist, dass
der Vertrag von Nizza im Hinblick auf den 2004-Prozess
ratifiziert wird. Auch wenn dies nicht Bestandteil des zu
ratifizierenden Vertrages, sondern in den Schlussfolgerungen von Nizza enthalten ist, gehört es dennoch substanziell zusammen.
({19})
Jeder, der das Ratifikationsverfahren bezüglich des Vertrages von Nizza ablehnt, wird den Vertiefungsprozess
ebenfalls infrage stellen, dessen konkrete Organisation
wir jetzt begonnen haben und der auf ein Mehr an Demokratie und Transparenz sowie auf eine Klärung der Zuständigkeiten zwischen Nationalstaaten und Union, also
der europäischen Verfassungsfrage, hinauslaufen wird.
Deswegen appelliere ich an Sie alle, den Vertrag von Nizza nicht schlecht zu reden, sondern ihn zu ratifizieren.
({20})
Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Als ich vorhin der Rede des
Kollegen Friedrich Merz lauschte, hatte ich für einen Moment den Eindruck, er habe sich zum Maoismus bekehrt.
Er stellte die Forderung nach einem „großen europäischen
Sprung“. Die Forderung nach einem großen Sprung war
Kern maoistischer Politik.
({0})
Die CDU als späte Rache des Maoismus - das wäre eine
neue, sehr interessante Variante.
({1})
Aber ernsthaft: Das eigentliche Problem ist der schleichende Rechtspopulismus, der sich in dieser Partei immer
mehr durchsetzt und auch in der Rede von Friedrich Merz
deutlich geworden ist:
({2})
Die CDU droht zu einer Partei rechts der Mitte zu werden.
({3})
Das ist nicht nur ein Problem der CDU, sondern das wird
ein Problem unseres Landes insgesamt sein.
({4})
Nicht mit großen Sprüngen, auch keinen großen Sprüngen
à la Friedrich Merz - damit ist bereits Mao Tse-tung gescheitert -, sondern mit kleinen, verlässlichen, nachprüfbaren Fortschritten muss Europa gestaltet werden. Deswegen muss man über die Probleme sehr ernsthaft reden.
Viel nüchterner als zum Beispiel Kanzler Schröder
sprach aus meiner Sicht der französische Ministerpräsident Jospin von einer gewissen Ernüchterung und Unsicherheit, die sich in Europa breit macht. Diese Ernüchterung und Unsicherheit hat der Gipfel von Göteborg nicht
aufgefangen, im Gegenteil. Das muss man doch endlich
einmal kritisch zur Kenntnis nehmen. Die Bevölkerung
von Irland hat den Vertrag von Nizza abgelehnt. Das EUParlament hat eine positive Empfehlung zu diesem Vertrag verweigert und der Bush-Besuch hat außer Fototerminen im Wesentlichen keinen Fortschritt gebracht.
Um endlich voranzukommen, müssen wir uns über folgende Fragen verständigen: Welches sind die wesentlichen Defizite Europas? Warum knirscht es auch und gerade, wenn es um die Erweiterung geht? Wo liegen
mögliche Schlüssel, um diese Probleme zu lösen?
Die deutsche Europapolitik ist aus meiner Sicht noch
zu sehr in der Vergangenheit verhaftet. Sie klebt an alten
Überzeugungen; sie klebt an westeuropäischen Erfahrungen. Sie hat das neue Europa, das sich erweitert, inhaltlich
noch nicht begriffen. Ich finde, sie steht in der Gefahr, die
falsche Strategie beim Aufbau Ost auf europäischer Ebene
zu wiederholen. Genau das wollen wir nicht.
({5})
Nicht die Erweiterung der Europäischen Union ist die Ursache der Probleme, sondern die Art und Weise, in der sie
stattfindet, und ihr Inhalt sind es.
Bundeskanzler Schröder hat hier - gar nicht in Frageform, sondern als Festlegung - gesagt: Die Zielrichtung
stimmt. Ich sage dagegen: Genau diese Zielrichtung
stimmt nicht. Seitens der Europäischen Union ist Messlatte für die Beitrittskandidaten, ob sie das neoliberale
Wirtschaftsmodell glaubwürdig und verlässlich eingeführt haben. Das ist aus unserer Sicht genau der falsche
Maßstab. Richtig wäre, die soziale Entwicklung in den
Mittelpunkt zu stellen.
({6})
Dazu gibt es Erfahrungen aus dem deutsch-deutschen Einigungsprozess. Warum bringen wir diese Erfahrungen
nicht in den europäischen Prozess ein?
({7})
Wir wissen aus den Erfahrungen: Ein marktradikales
Programm allein bringt Verwerfungen, die eine Gesellschaft kaum ertragen kann, in ärmeren Ländern als
Deutschland schon gar nicht. Deshalb muss die EU in den
mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern die Schaffung der Bedingungen für einen sozialen und umweltverträglichen Strukturwandel fördern. Da in den Altindustrien und in der Landwirtschaft viele Arbeitsplätze
entfallen, muss sie sich um umweltverträgliche und soziale Ersatzarbeitsplätze in neuen Sektoren kümmern.
Das kostet in erster Linie Umdenken und kostet selbstverständlich in zweiter Linie auch Geld. Das ist doch ganz
klar. Gefördert werden muss die ökologische und soziale
Gestaltung des Strukturwandels in den Beitrittsländern.
Sie brauchen deutlich erhöhte finanzielle Transferleistungen zum Aufbau der Infrastruktur, funktionsfähiger öffentlicher Dienste und nachhaltiger Beschäftigung. Im alten wie im neuen Europa müssen existenzsichernde
Einkommensstandards, Standards für Renten und Mindestlöhne gelten.
({8})
In diese Richtung denkt Jospin. Er hat einen Vorschlag dazu unterbreitet. Der Bundeskanzler hat hier kein
Wort zum Inhalt des Vorschlags seines französischen Kollegen gesagt. Jospin hat ein europäisches Sozialrecht vorgeschlagen; er hat vorgeschlagen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und Sozialdumping zu bekämpfen.
({9})
Er hat - was mir sehr wichtig ist - vorgeschlagen, die kulturelle Vielfalt in Europa zu verteidigen. Wären das nicht
auch Vorschläge, die ein deutscher Bundeskanzler positiv
aufgreifen kann?
({10})
Jospins Ziel ist der Abschluss eines europäischen Sozialvertrages. Das unterstützt die Fraktion der PDS nachdrücklich.
({11})
Von einem sozialen Europa sind wir leider noch weit
entfernt. Wir sollten uns alle klar darüber sein: Würden
die Völker über das real existierende Europa entscheiden,
dann käme in vielen Ländern ein Ergebnis wie in Irland
zustande. Das ist nicht nur ein Problem Irlands; wir haben
diese Probleme in allen europäischen Ländern. Das hat einen einfachen Grund: Das EU-Europa ist von seinen Bürgerinnen und Bürgern meilenweit entfernt. Es ist seinen
Bürgerinnen und Bürgern fremd geworden.
Wer jetzt aber trotzig über die Entscheidung der Inselbewohner hinweggeht, der demonstriert nur einmal mehr
die Arroganz der Macht. Von der allerdings haben die
Menschen im kleinen und im erweiterten Europa genug.
Wir brauchen eine andere Europa-Strategie einschließlich
einer anderen Strategie der Erweiterung. Diese andere Europa-Strategie beginnt im Kleinen und Alltäglichen.
Herr Außenminister, den Teil Ihrer Rede, in dem Sie
über die alltäglichen Fragen, die Herr Merz aufgeworfen
hat, gespottet haben, fand ich sehr unklug. Wenn die Menschen den Eindruck haben, wir bewegten uns nur über
ihren Köpfen von Gipfel zu Gipfel, nähmen ihre Alltagsprobleme - und seien es die der Bürger des Sauerlandes
- nicht wahr und diskutierten nicht über diese, dann werden wir die Fragen, die Europa betreffen, nicht lösen.
({12})
Wir müssen insbesondere die Alltagsprobleme in den
Grenzregionen zu Polen und Tschechien wahrnehmen
und das Problem aufgreifen, dass auch in Deutschland
Angst vor Billigkonkurrenz herrscht. Mit dieser Angst
kann man sich aktiv auseinander setzen. Wir sind für Infrastrukturmaßnahmen und Sonderaktionsprogramme auf
beiden Seiten der Grenze zur Verhinderung von illegaler
Beschäftigung sowie von Lohn- und Sozialdumping.
Wenn das geschieht, werden Übergangsfristen hinsichtlich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern überflüssig. Es
ist ohnehin abstrus, dass sich in Europa das Kapital frei
bewegen kann, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
aber nicht. Wir wollen ein Europa der Menschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Präsident Bush
Präsident Putin in die Augen gesehen hat - das sagte er im
Fernsehen -, hat der eine erkannt, dass der andere ein
Partner sein könnte. Das hat mich an den Film „Casablanca“ und an Bogarts „Schau mir in die Augen, Kleines“
erinnert. Bei „Casablanca“ ging es allerdings um wahre
Liebe und Verlässlichkeit. Ich weiß nicht, ob Präsident
Bush auch unserem Kanzler Schröder in die Augen gesehen hat; das dürfte ja schwer funktionieren. Ich würde
mich freuen, wenn aus dem europäischen Gesicht, den europäischen Augen deutlich würde, dass dieses Europa die
Raketenpläne des amerikanischen Präsidenten ablehnt
und wir als Europäer das auch offen und selbstbewusst
dem Präsidenten der USA sagen. Mit „Schau mir in die
Augen, Kleines“ kommt die Politik nicht weiter.
Danke sehr.
({13})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion.
Guten Morgen, Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Herr Gehrcke, ich glaube nicht, dass der Gipfel in Göteborg Anlass dazu bieten sollte, antiamerikanische Ressentiments zu pflegen.
({1})
Wenn sich die Europäer souverän und auch kritisch in den
Dialog mit den Vereinigten Staaten begeben, dann werden wir auch manches Problem, welches es gegenwärtig
im Verhältnis zwischen der Europäischen Union als
Ganzer auf der einen und den Vereinigten Staaten auf der
anderen Seite gibt, lösen können. Wir sollten dies selbstbewusst angehen! Auch das war eine Botschaft des Göteborger Gipfels.
({2})
Der Göteborger Gipfel hat vor allem diejenigen von
uns, denen die Erweiterung am Herzen liegt, einen ordentlichen Schritt nach vorn gebracht. Das beschlossene
Signal ist begrüßenswert.
({3})
- Herr Müller, bei der CDU/CSU-Fraktion ist nie ganz
klar, wie sie zur Erweiterung steht. Sie sehen das so, die
anderen sehen das anders und Ihr Ministerpräsident sieht
es noch einmal ganz anders. Diesen Klärungsprozess sollten Sie erst einmal in Ihren eigenen Reihen führen, bevor
Sie hier den Mund aufmachen. Dazu können Sie nachher
ja auch noch etwas sagen.
({4})
Es ist ein begrüßenswertes Signal, zu sagen, 2002 sei
nicht nur das Jahr des Euros und es werde nicht nur der
Ratifizierungsprozess abgeschlossen, sondern nach Möglichkeit werden ab 2003 die ersten neuen Mitgliedstaaten
der EU beitreten.
({5})
In dieser ständigen Termindebatte sehe ich aber auch
ein Problem: Martin Winter, ein von mir geschätzter
Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ in Brüssel,
hat gesagt, dass sich der Fortschritt nicht nach der Stoppuhr, sondern allein anhand des Aufgabenzettels misst. Das
ist das Entscheidende.
({6})
Wir haben noch große Probleme vor uns liegen, wenn ich
mir allein einmal die Agrarpolitik anschaue, die auch in
Ihrem Interesse, Herr Müller, und in dem Interesse der
Menschen, die Sie hier im Deutschen Bundestag zu vertreten beabsichtigen, liegt. Wir sollten den Menschen ehrlich sagen, dass es da ein paar Probleme gibt, die wir lösen müssen. Das tun wir nicht dadurch, dass wir sagen:
„Wir öffnen 2002 die Türen“, sondern die Beitrittsländer
müssen, bevor sie die Türen öffnen - das Signal dafür
wurde gegeben -, noch eine Menge Hausaufgaben erledigen.
Bis zu Ihnen, Herr Haussmann, scheint es sich noch
nicht herumgesprochen zu haben, dass der Vorschlag des
Bundeskanzlers - dieser liegt ja glücklicherweise auf einer Linie mit den Vorstellungen der Europäischen Union zwei Seiten beinhaltet: zum einen eine Übergangsfrist von
zwei bis maximal sieben Jahren,
({7})
zum anderen ein gewisses Maß an Flexibilität. Wenn wir
mit Kolleginnen und Kollegen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern sprechen, kommen wir alle gemeinsam zu dem Schluss, dass diese Übergangsfrist nach
zwei bis drei Jahren schon beendet sein könnte. Das kann
man auch in diesen Ländern vertreten, die - darauf haben
Sie zu Recht hingewiesen - ihre Bevölkerung davon zu
überzeugen haben, dass die Mitgliedstaaten aus dem Westen die osteuropäischen Länder in der Europäischen
Union willkommen heißen.
({8})
Der Ehrlichkeit halber sollten wir aber auch immer wieder erwähnen, dass hierfür Flexibilität erforderlich ist.
Im Vorfeld des Göteborger Gipfels wurde ein weiteres
wichtiges Signal gesetzt: Erpressungsversuche, die Erweiterung gegen andere, noch zu behandelnde europapolitische Felder wie Regional- und Strukturpolitik auszuspielen, sind endgültig gescheitert. Das spanische
Memorandum wird, wie ich glaube, einzigartig bleiben.
Das sollte uns alle sehr zufrieden stellen. Wenn wir nämlich diese Büchse der Pandora öffnen, also schwierige
Aufgabenfelder aus verschiedenen Ressorts miteinander
verknüpfen und daraus einen Teig machen, der nicht aufgeht und niemandem in der Europäischen Union
schmeckt, wird uns der ganze Laden um die Ohren fliegen.
({9})
Es mag da Differenzen, auch zwischen den Europapolitikern hier im Hause, geben, aber ich finde es bedenklich - dabei bleibe ich -, wenn in einer von Berlusconi angeführten italienischen Regierung neofaschistische
Kräfte sitzen.
({10})
Das kann ich nicht akzeptieren. Ich kann es genauso wenig akzeptieren, wenn Vertreter der FPÖ, einer aus meiner
Sicht rechtspopulistischen Partei, in der österreichischen
Regierung sitzen. Das muss man doch öffentlich sagen
können. Das muss, wie ich meine, auch ein Parlamentarier sagen dürfen. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte hielte ich es für notwendig und richtig, ein paar
kritische Signale in die entsprechenden Länder auszusenden.
({11})
Ein paar Anmerkungen noch zum irischen Nein. Ich
sehe das irische Nein schon als Warnruf an die Europäische Union als Ganzes. Es liegt - da hat der Außenminister zweifellos Recht - natürlich erst einmal in der innenpolitischen Verantwortung Irlands, zu analysieren, wie
es zu dem Nein beim Referendum gekommen ist. Es ist
aber, so denke ich, eine gemeinsame Aufgabe, Konsequenzen daraus zu ziehen. Dass das Referendum ein Nein
zum Resultat hatte, darf nicht dadurch relativiert werden,
dass man sagt, es wird irgendwann einmal ein zweites Referendum geben. Vielmehr sollten wir versuchen, darauf
eine selbstbewusste Antwort zu geben. Diese kann nur
lauten - der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung ja auch zum Ausdruck gebracht -: mehr Parlamentarisierung, mehr Öffentlichkeit und vermehrter kritischer Diskurs.
Es hilft nicht, wenn der Fraktionsvorsitzende der
CDU/CSU die Europapolitik wieder einmal für innenpolitische Zwecke missbraucht und zwischen 80 und 90 Prozent seiner Rede nur mit innenpolitischen Themen bestreitet, die ihm gerade in den Kram passen. Es muss auch
über Europa geredet werden. Man braucht da gar keine
Angst zu haben. Das Europa-Thema gehört hier in den
Deutschen Bundestag und nicht nur in Fachkreise. Da
müssen wir uns auch einmal an die eigene Nase fassen. Jeder von uns sollte das tun und versuchen, einen eigenen
Beitrag zu leisten.
({12})
Der Göteborger Gipfel ist von Krawallen überschattet
worden. Als Reaktion darauf gibt es zwei Antworten. Die
eine Antwort hat der Bundeskanzler gegeben: Gewalt ist
kein Mittel für Auseinandersetzungen. Mich treibt es aber
schon um, wenn junge Leute, die 16, 17 oder 18 Jahre alt
sind, aus vermeintlicher Angst vor der Globalisierung die
EU zum Mittelpunkt ihrer Kritik machen. Wir sollten gemeinsam deutlich machen, was die wesentliche Grundlage der Europäischen Union ist. Unsere Basislage für den
europäischen Integrationsprozess ist ein gemeinsames ziMichael Roth ({13})
vilgesellschaftliches Modell, das auf Solidarität, kultureller Vielfalt und Toleranz beruht. Das sollten wir noch
selbstbewusster in unseren Debatten zum Ausdruck bringen.
({14})
Es geht eben nicht nur um Binnenmarkt und Handelspolitik. Die Europäische Union ist unsere demokratische
und Mut machende Antwort auf die Globalisierungsängste vieler Menschen. Davor sollten wir nicht in die Knie
gehen. Wir sollten diesen Punkt, insbesondere im Gespräch mit kritischen jungen Leuten, stärker in den Mittelpunkt rücken. Es kann nicht die Lösung sein - das ist
auch diskutiert worden -, die zukünftigen Gipfeltreffen
von der Öffentlichkeit abzuschotten und auf irgendwelchen Panzerkreuzern außerhalb der schönen Städte Europas zu tagen. Die Gipfeltreffen gehören in die Mitte der
Gesellschaft. Aus diesem Grunde sollten wir im Vorfeld
der nächsten Gipfeltreffen versuchen, das Thema „europäische Zivilgesellschaft“, unser gemeinsames Modell in
einer globalisierten Welt, nach außen zu tragen. Ich
glaube, es wartet noch eine Menge Arbeit auf uns. Sie sind
zum Mitmachen herzlich eingeladen.
Vielen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat
heute in seinem eher etwas trocken geratenen Bericht
({0})
davon gesprochen, dass es zu seinem Vorschlag zur Weiterentwicklung der Europäischen Union im Sinne eines
föderalen Systems auch kritische Stimmen gegeben habe.
Das ist durchaus richtig. Er hat uns aber vorenthalten, wer
die kritischste Stimme zu seinem Vorschlag war. Das war
nämlich der Bundesaußenminister. Deswegen haben wir
eigentlich erwartet, dass die Bundesregierung im Rahmen
dieser Debatte klarstellt, wie es in Europa - nach ihrer gemeinsamen Auffassung - weitergehen soll.
({1})
Denn wenn man die Menschen mitnehmen will, muss
man diesbezüglich Klarheit schaffen. Ich stehe aber nicht
an, zu sagen, Herr Bundeskanzler: Erfreulicherweise haben Sie - insofern ist Ihnen eine gewisse Lernfähigkeit zu
bescheinigen, und zwar stärker als Ihrem Außenminister Vorschläge, die die CDU/CSU-Fraktion - die Kollegen
Schäuble, Lamers, Pflüger und ich - gemacht hat, aufgegriffen und durch einige Elemente erweitert haben. Damit
gibt es eine Grundrichtung, über die wir uns vielleicht verständigen können. Sie sollten sich jedoch auch mit Ihrem
Außenminister darüber verständigen, allerdings nach dieser Debatte.
Meine Damen und Herren, welche Botschaft liegt im
Nein der irischen Bevölkerung zum Vertrag von Niza? Die eilig angestellten Untersuchungen der Meinungsforscher signalisieren unterschiedliche Gründe. Die einen
beschäftigte die irische Neutralität, andere die BSE-Problematik, wieder andere das Gewicht der kleineren Staaten. Ich meine, das Entscheidende ist: Wir dürfen uns
nicht der Illusion hingeben, die Skepsis der Iren daran,
wie es in Europa weitergeht, sei ein regionales Sonderproblem. Ich sage ganz kritisch: Wären auch in anderen
Ländern Volksabstimmungen über den Vertrag von Nizza
durchgeführt worden, hätte auch dort eine Verweigerung
gedroht. Irland ist überall. Deswegen muss uns das irische
Votum als Europapolitiker beschäftigen und darf nicht so
ignoriert werden, wie das die Staats- und Regierungschefs
in Göteborg mit leichter Hand getan haben.
({2})
Welche Lösungsvorschläge gibt es? - EU-Kommissar
Verheugen sieht ein Defizit im mangelnden positiven Eintreten für Europa. Andere suchen das Heil in mehr Informationen. Ich sage kritisch: Eine Verdoppelung der Hochglanzbroschüren und eine Verstärkung der Politikerappelle
lösen das Problem nicht. Für mich ist das Kernproblem der
Mangel an Demokratie. Den verspüren die Bürger. Sie
sind unsicher und suchen nach Abhilfe. Es ist der Mangel
an Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Brüssel, der die
Wähler verunsichert. Weil sie den Gang der politischen
Entscheidungen nicht beeinflussen können, wenden sie
sich gegen den Integrationsprozess insgesamt. Wenn wir
die Bürger für den Integrationsprozess gewinnen wollen,
wenn wir sie mitnehmen wollen in das vereinte Europa, in
die Osterweiterung, in die großen historischen Aufgaben,
dann müssen wir ihnen auch ein demokratisches Mittel an
die Hand geben, ihr Ja oder ihr Nein zu Brüssel zu sagen.
Dann brauchen sie ein Europa, das demokratischer, transparenter und effizienter ist.
({3})
Das heißt im Klartext: Sie müssen die Möglichkeit bekommen, bei der Europawahl darüber zu bestimmen, wie
es in Europa weitergeht. Bei der letzten Europawahl haben wir ja ein tolles Ergebnis erzielt, zugegebenermaßen
nicht allein aus europapolitischen Gründen, sondern weil
die Bürger empört über die Maßnahmen Ihrer Regierung
waren, Herr Bundeskanzler. Es ist ja nicht so, dass uns das
geärgert hätte; aber es weist aus, dass die Europawahlen
zu vielen Zwecken benutzt werden und auch taugen, dem
Bürger jedoch kein wirkliches Mittel an die Hand geben,
die europäischen Dinge zu beeinflussen.
Deswegen bin ich dafür, dass das Europäische Parlament das Recht bekommt, auch die Spitze der europäischen Exekutive, den Kommissionspräsidenten und diese
Art „europäischer Regierung“ zu wählen. Die Bürgerinnen
und Bürger müssen über die Wahl des Europaparlaments
auch tatsächlich bestimmen, den Daumen heben oder senken können, ob ihnen das, was in Brüssel vorgeht, gefällt
oder nicht gefällt. Wenn sie diese Mitwirkungsmöglichkeit
bekommen, dann werden sie auch Europa viel näher sein.
({4})
Lassen Sie mich einen zweiten Komplex ansprechen.
Ein für Europa wichtiges Thema ist die Zukunft des
Michael Roth ({5})
Vertrages von Nizza. Wir werden darüber ja in der nächsten oder übernächsten Woche noch im Detail diskutieren.
Dieser Vertrag stellt keinen von uns zufrieden und, wenn
die Regierung ehrlich ist und in sich geht, sie selbst auch
nicht, weil wir das, was wir uns vorgenommen haben,
hiermit nicht erreichen konnten. Trotzdem ist der Vertrag
wichtig. Er ist ein Schlüssel für die Erweiterungsfähigkeit
der Europäischen Union.
Nun müssen wir uns natürlich mit der Frage auseinander setzen, was passiert, wenn die Iren bei ihrem Nein zu
Nizza bleiben. Das kann ja keiner ausschließen. Was ist
dann mit dem großen historischen Projekt, vor dem wir
stehen? Ich trete nachdrücklich dafür ein, dass wir das historische Projekt der Osterweiterung der Europäischen
Union nicht auf Gedeih und Verderb an diesen Vertrag von
Nizza binden, meine Damen und Herren, sondern dass wir
die Kraft aufbringen, wichtige, erweiterungsrelevante
Aspekte im Rahmen der Beitrittsverträge, verbunden mit
einem mutigen Verfassungsvertrag, zu lösen. Wir müssen
auf dem Weg der Integration vorangehen. Wir müssen ein
demokratisches, transparentes und größeres Europa schaffen und dürfen es nicht an diesem nicht gut gelungenen
Vertragswerk von Nizza scheitern lassen.
({6})
Eines haben Nizza und Göteborg gezeigt - Kollege
Haussmann hat das eben schon angesprochen -: Die Methode „Regierungskonferenz“ ist an eine kritische Grenze
geraten, sie hat sich erschöpft. Sie hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten einiges zuwege gebracht; aber jetzt
muss offensichtlich ein neuer Weg gefunden werden. Dieser neue Weg, der gefunden werden muss, ist eine verfassungsvorbereitende Versammlung, in der Parlamentarier
der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments,
die nationalen Regierungen, die Europäische Kommission
gemeinsam Arbeiten an einem Verfassungsvertrag für
Europa leisten. Wir dürfen uns nicht im Hickhack der Regierungskonferenzen auf Beamtenebene jahrelang festfahren und die Zeichen und Chancen der Zeit verpassen.
Deswegen müssen wir diesen mutigen Schritt tun.
Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstehe, gibt es auch
eine gewisse Bereitschaft dazu,
({7})
ein solches Gremium rasch einzuberufen, und zwar unter
einer sinnvollen Beteiligung derer, die morgen mit dabei
sein werden. Wir dürfen das den zukünftigen Mitgliedstaaten nicht einfach vor die Füße werfen,
({8})
sondern müssen sagen: Das Europa, das wir bauen, wollen wir mit euch gemeinsam bauen.
In dem Sinne verstehe ich auch die Arbeit des Europaausschusses in diesem Hause. Wir haben uns beispielsweise mit dem Europaausschuss des polnischen
Sejm getroffen, um deutlich zu machen, dass Europa
keine Veranstaltung ist, in der Westeuropa sagt, wo es lang
geht, sondern in der wir unsere historische Aufgabe wahrnehmen, die Dinge gemeinsam zu beraten. Ich danke auch
dem Vorsitzenden unseres Europaausschusses, Herrn
Kollegen Pflüger, für seine Initiativen, die über die Grenzen unseres Landes immer wieder hinausweisen.
({9})
Ich möchte auch nicht, dass diese Debatte zu Ende
geht, ohne dass wir der schwedischen Präsidentschaft ein
Wort des Dankes sagen. Die schwedische Präsidentschaft hat nicht alles zuwege gebracht; aber sie hat sich
auf die Frage der Osterweiterung konzentriert. Wir können feststellen, dass die Beitrittsverhandlungen unter der
schwedischen Präsidentschaft deutlich vorangekommen
sind. Ich möchte - ich denke, das im Sinne des ganzen
Hauses sagen zu können - der schwedischen Präsidentschaft für dieses Signal von Göteborg, dass die Europäische Union an der Osterweiterung, an dem entscheidenden Projekt in diesem Jahrhundert, festhält und arbeitet,
auch ein Wort des Dankes sagen. Das ist eine große Leistung unserer schwedischen Partner.
({10})
Nun lassen Sie mich mit einigen kritischen Worten
schließen. Herr Bundeskanzler, Sie sind, was die Frage
der Förderung der Grenzregionen angeht, mit leeren
Händen zurückgekommen. Wir haben dazu im Deutschen Bundestag eine Initiative gestartet. Die Regierung
hat dankenswerterweise gesagt, dass sie das unterstützt.
Es stand auch auf der Tagesordnung, aber leider sind Sie
mit leeren Händen zurückgekommen. Der Deutsche
Bundestag wird darüber wachen, ob diese wichtige Problematik, die ebenfalls aus der Mitte des Europaausschusses heraus entwickelt wurde, auf der Tagesordnung
bleibt. Das muss spätestens im zweiten Halbjahr 2001 geleistet werden. Auch das gehört zu einer gelingenden Erweiterung.
({11})
Die zentrale Frage, von Irland bis zu den Diskussionen
des heutigen Tages, wird in Zukunft sein: Wer macht in
Europa was? Die Übermacht des Rates ist ein Widerspruch gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung. Auch
hier haben wir ja Vorschläge gehört, über die man diskutieren kann. Wir müssen zu einer fairen Gewaltenteilung
kommen, die die Bürger durchschauen. Es muss klar sein:
Was ist die Rolle des Rates? Was ist die Rolle des Parlamentes? Was ist die Rolle der Kommission?
({12})
- Der Kollege Austermann ruft gerade dazwischen, dass
vielleicht auch die Regierung hätte nachdenklich werden
müssen - der Bundeskanzler hat das heute ja selbst angesprochen -, als sie sah,
({13})
wie Gewalttäter die Regierungschefs daran hinderten,
sich frei in Göteborg zu bewegen, weil Polizisten von gewalttätigen Demonstranten massiv attackiert wurden.
({14})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben uns
für Europa eine Menge vorgenommen. Das Projekt verdient den Einsatz aller, aber das Wichtigste ist - das finde
ich gut; das wird auch in den Reden des heutigen Tages
deutlich -: In der Grundlinie sind sich die großen demokratischen Kräfte dieses Hauses einig.
({15})
Wir wissen, dass wir einen historischen Auftrag haben,
und wir werden ihm nachkommen.
({16})
- Dass heute - lieber Herr Poß, auf Ihren Zwischenruf in dieser Debatte auch andere Dinge angesprochen wurden, ist ja mehr als berechtigt. Wenn sich Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Struck, hier hinstellt - und dem deutschen Volk verspricht, er werde die Inflationsrate weiter
im Auge behalten, dann antworte ich Herrn Struck: Wir
erwarten von der Regierung nicht, dass sie das selbst produzierte Elend im Auge behält sondern
({17})
dass etwas getan wird, um die Geldwertstabilität in diesem Lande wieder sicherzustellen. Das musste eben auch
gesagt werden.
Schönen Dank.
({18})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Sterzing.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Es ist, glaube ich, bei der fortschreitenden Debatte schon
zu beobachten, dass wir uns dem Gegenstand dieser Diskussion nähern. Das ist wichtig, weil Göteborg wirklich
keine Routinetagung, kein Routinegipfel gewesen ist. Die
vielfältigen Themen, die dort besprochen worden sind,
werden die Integrationsentwicklung in den nächsten Jahren prägen. Ich will nur kurz auf vier Punkte eingehen: das
Thema Erweiterung, das Thema Nachhaltigkeit, die bisher leider nur am Rande erwähnten Beschlüsse und Gespräche zum Thema der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und schließlich die Zukunftsdebatte.
Das Signal der Unumkehrbarkeit des Erweiterungsprozesses war, so denke ich, nach Irland absolut notwendig. Insofern ist hinsichtlich der Präzisierung des Zeitfensters für die erste Beitrittsrunde ein weiterer Schritt
getan worden, um das Vertrauen gerade in den Beitrittsländern in den Prozess zu sichern und zu stärken. Nach
alldem, was wir bislang gehört haben, ist dieses Signal angekommen. Es ist wichtig und es war notwendig, dass dieses Signal in Göteborg ausgesandt worden ist.
Der zweite Punkt, der in der Öffentlichkeit und auch in
den Medien leider etwas in den Hintergrund getreten ist,
ist das Stichwort Nachhaltigkeit. Die schwedische Präsidentschaft hatte sich ja drei E als Schwerpunkte vor
genommen: Enlargement, Environment und Employment.
Ich glaube, es ist wichtig, dass nach den Fortschritten beim
Thema Umweltschutz in den europäischen Verträgen nun
einmal das Thema Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt der
Beratungen eines Gipfels und dessen Vorbereitung gestellt
worden ist, dass nicht nur Worte gefunden worden sind,
sondern an der Operationalisierung dieses Themas gearbeitet worden ist. Das unterstreicht die wirklich grundsätzliche Bedeutung des Nachhaltigkeitsprinzips für die
politische Entwicklung in Europa in allen Bereichen, in
denen im Rahmen der Europäischen Union politisch zusammengearbeitet worden ist. Dieses Gipfelthema wird
dem Thema Nachhaltigkeit weiter zum Durchbruch verhelfen und sicherlich - das ist in den Schlussfolgerungen
durchaus zum Ausdruck gekommen - auf europäischer
wie auf nationaler Ebene zur Weiterarbeit anregen. Das ist
eine Verpflichtung, die die Mitgliedstaaten übernommen
haben.
Zum Thema Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die
Entwicklungen auf dem Balkan und im Nahen Osten diskutiert worden. Wie so oft sind es aktuelle politische Anlässe. Man wäre dankbar, wenn die Notwendigkeit nicht
bestehen würde, über diese Themen in so ernster Form zu
reden. Aber ich glaube, es ist wichtig, noch einmal deutlich herauszustreichen, dass die Debatten auf dem Gipfel
zu diesen beiden Themen eine neue Qualität aufzeigen.
Sie haben insofern eine neue Qualität erreicht, als die Entwicklung vor dem Hintergrund der aktiven Beteiligung
von Repräsentanten der Europäischen Union, insbesondere von Solana, aber eben auch - Stichwort: Naher
Osten - des deutschen Außenministers, durch eine wesentlich aktivere Rolle der Europäischen Union in diesen
regionalen Konflikten geprägt worden ist.
Ich glaube, dass dieses Signal, das von Göteborg ausgegangen ist - „Wir werden im Bereich der gemeinsamen
Außenpolitik aktiv unsere Rolle spielen, gerade in den aktuellen Konflikten auf dem Balkan und im Nahen
Osten!“ -, für die betroffenen Regionen sehr wichtig ist
und dort wahrgenommen wurde. Insofern kann es nicht
unterschätzt werden, dass die EU hier bereit ist, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Wir hoffen natürlich, dass
dies - alles deutet darauf hin - auch in der Zukunft seine
Fortsetzung findet.
Der vierte Bereich ist schließlich die Zukunftsdebatte,
verbunden mit dem Thema Irland hier schon vielfach angesprochen. Vielleicht sind in diesem Bereich von Göteborg tatsächlich die zaghaftesten Signale ausgegangen. Es
wäre möglicherweise wünschenswert gewesen, wenn hier
deutlichere Signale gesendet worden wären. Das Alarmierende des irischen Votums ist ja nicht nur die „no
vote“, also die Ablehnung des Nizza-Vertrages, sondern
alarmierender fast noch ist die „non vote“, also die Enthaltung der irischen Bevölkerung.
({0})
Zwei Drittel sind gar nicht erst an die Wahlurne gegangen.
({1})
Es gibt keine eindeutige Motivationslage für das irische Votum. Es wäre sicherlich falsch, es als eine Ablehnung des Erweiterungsprozesses zu interpretieren. Zu diffus sind offensichtlich die Gründe, die sehr heterogene
politische Kräfte dazu gebracht haben, sich hier für eine
Ablehnung des Nizza-Vertrages einzusetzen.
Aber ich glaube, es ist deutlich geworden - auch dies
wurde in verschiedenen Beiträgen schon angesprochen -:
Diese Motivationslage ist nicht ein spezifisch irisches
Problem, sondern es ist ein durchaus europäisches Problem. Es besteht Diskussionsbedarf über die Zukunft Europas und die Fragen, wozu wir dieses Europa brauchen
und warum dieses Europa eine stärkere Rolle als bisher
spielen muss.
Die Debatte im Rahmen des Post-Nizza-Prozesses darüber, wie dieses Europa in Zukunft gestaltet werden soll,
war in den letzten Wochen und Monaten sehr stark von institutionellen Fragen geprägt. Mitunter wurde gar eine
Verengung der Debatte deutlich, die zu kurz greift. Wir
müssen diese Debatte ausweiten, Europa als Gesellschaftsprojekt in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stellen und über politische Visionen nicht nur im Hinblick auf die institutionelle Gestaltung dieses Integrationsprozesses streiten, sondern deutlicher und kontrovers darüber diskutieren, wie wir uns diese Gesellschaft in
Europa vorstellen und welche Rolle die Europäische
Union in diesem Prozess der Gestaltung spielen soll.
Wichtig ist also eine stärkere Konzentration auf das
Warum und auf das Wozu und nicht alleine auf das Wie
der politischen Prozesse.
Gerade in den letzten Wochen sind von französischer
Seite, insbesondere durch die Rede von Ministerpräsident
Jospin, einige wichtige Steine in das Wasser geworfen
worden, die Anhaltspunkte bieten, um diese Debatte vertieft weiterzuführen, auch wenn sich hier in der Bundesrepublik Deutschland die Debatte in den Medien leider
Gottes auf die institutionellen Fragen und auf die Differenzen zwischen deutschen und französischen Sozialdemokraten konzentriert hat. Wir müssen dieser Entwicklung der Debatte entgegenwirken.
In dieser Debatte haben nicht nur die Europapolitikerinnen und Europapolitiker, sondern wir alle eine Bringschuld.
({2})
Wir müssen uns in den nächsten Monaten und Jahren, die
diese Zukunftsdebatte in der politischen Realität sicherlich prägen wird, an diesen Appellen messen lassen. Wir
müssen sehen, inwieweit wir bereit und in der Lage sind,
diese Bringschuld zu erfüllen, diese Debatte nicht nur demokratisch und unter größtmöglicher Beteiligung zu gestalten, sondern sie wirklich auf die ganze Breite der europäischen Fragen auszuweiten. Das sollte die Reaktion
auf die Volksabstimmung in Irland sein. Insofern sollten
wir diese Zukunftsdebatte wirklich als eine Chance begreifen können.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! „Lasst den Worten endlich Taten folgen“, schreibt Helmut Schmidt. In der Tat: Die Treffen
von Berlin über Nizza bis Göteborg zeigen, dass die
Bundesregierung die EU in eine tiefe Vertrauenskrise geführt hat.
({0})
Ich zitiere Helmut Schmidt:
Nun haben Fischer, Chirac, Blair, Schröder und zuletzt Jospin ihre großen Konzepte und Reden vorgetragen. Aber ihre alltägliche Praxis ist kümmerlich.
({1})
Wo dieser Mann Recht hat, hat er Recht. Die Praxis von
Schröder und Fischer ist kümmerlich. Man fragt sich
doch: Warum konnte Bundeskanzler Schröder die Erfolgsspur von Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und
Theo Waigel in der Europapolitik nicht halten? Dafür gibt
es Gründe.
Erstens. Europa war nie das Thema dieses Kanzlers. Es
gibt kein abgestimmtes Konzept zwischen dem Außenminister und dem Kanzler.
({2})
Zweitens. Vom ersten Tag der Regierung Schröder/
Fischer an - dies ist der zentrale Punkt - wurde das Vertrauen unserer Partner in Europa verspielt. Das, was
Bundeskanzler Kohl, Theo Waigel und Hans-Dietrich
Genscher aufgebaut haben, ging in kurzer Zeit in die
Brüche.
({3})
Ich erinnere daran: Es begann mit den Fußtritten von
Minister Trittin, die Nuklearentsorgungsverträge mit
Frankreich müssten nicht beachtet werden. Es setzte sich
fort, Herr Gloser, mit den heftigen Attacken von Außenminister Fischer gegen unsere französischen Freunde.
({4})
Im Jahr 2000 folgten die Strafaktionen gegen Österreich
mit dem skandalösen Auftreten von Bundeskanzler
Schröder vor wenigen Wochen in Wien.
({5})
Dann wurden das italienische Volk und die italienische
Regierung brüskiert.
({6})
Aus der Sicht der deutschen Bundesregierung, Herr
Schily, haben die Österreicher nicht richtig gewählt, haChristian Sterzing
ben die Italiener nicht richtig gewählt, haben die Iren nicht
richtig abgestimmt. Und dafür werden sie abgestraft.
({7})
Nun erwarten Sie, nachdem Sie zuerst die Freunde ins
Gesicht geschlagen haben, dass sie Ihnen anschließend
die Hand reichen für große europäische Konzepte. Das
ist der Grund, warum diese Regierung nicht an die Erfolge der Regierung Kohl/Waigel/Genscher anknüpfen
kann.
Die Konsequenz ist: Die Erfolge bleiben aus. Bei der
Agenda 2000 gibt es keine Lösung der finanz-, agrar- und
strukturpolitischen Fragen. Nizza: keine ausreichende
Reform der Institutionen. Göteborg: Verlassen des Kopenhagener Weges, Kriterien vor Zeitplan.
Sie haben den Euro von Theo Waigel, meine sehr verehrten Damen und Herren, bei einem Außenwert von
1,18 US-Dollar im Jahr 1998 übernommen und sind jetzt
bei 0,84 US-Dollar angekommen. Das ist ein vernichtendes Urteil der Finanzmärkte über diese Politik. Die Bürger bezahlen dafür die Zeche, und zwar nicht nur an der
Tankstelle, sondern auch bei der Currywurst und in vielen
anderen Bereichen.
({8})
Wir sagen Ja zur Osterweiterung, aber wir fordern eine
Parlamentarisierung der Europapolitik. Wir brauchen
mehr Differenzierung, mehr Föderalismus, wir brauchen
mehr Subsidiarität und eine klare Kompetenzordnung.
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen und Europa
braucht einen Bundeskanzler, der weniger ein Spaß- und
Medienkanzler ist, der vielmehr mit mehr Konzentration
auf die Sache, mit mehr Ernsthaftigkeit und mit mehr
Achtung des Parlaments und unserer Freunde an die
Dinge herangeht.
Herzlichen Dank.
({9})
Als letzte Rednerin
hat das Wort die Kollegin Gudrun Roos von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Ich beginne meine Rede mit einem mir bisher unbekannten Begriff. Dies tue ich deshalb,
weil mit diesem merkwürdigen Begriff meine Bewertung
der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Göteborg vielleicht etwas anschaulicher dargestellt werden
kann. Der Begriff heißt: Befischungsdruck bzw. globaler
Befischungsdruck.
({0})
Dieser Begriff findet sich unter Punkt 31 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates. Der Kontext, in
dem er auftaucht, lautet: „Verantwortungsvolleres Management der natürlichen Ressourcen“. Ich stelle fest:
Kaum einer kennt das Wort bisher; ich bin nicht alleine so
unwissend. Zum besseren Verständnis will ich daher den
vollen Wortlaut, das heißt auch den Einführungssatz, zitieren. Unter Punkt 31 steht:
Die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum, Verbrauch natürlicher Ressourcen und Abfallerzeugung
muss sich ändern. Eine starke Wirtschaftsleistung
muss mit einer nachhaltigen Nutzung der natürlichen
Ressourcen und vertretbarem Abfallaufkommen einhergehen, sodass die biologische Vielfalt erhalten
bleibt, die Ökosysteme geschützt werden und die
Wüstenbildung vermieden wird. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, stimmt der Europäische
Rat darin überein,
- den ersten Spiegelstrich lasse ich aus; der zweite Spiegelstrich lautet dass bei der Überprüfung der Gemeinsamen
Fischereipolitik im Jahr 2002 auf der Grundlage einer breiten politischen Debatte dem globalen Befischungsdruck entgegengewirkt werden sollte, indem
der Fischereiaufwand der EU unter Berücksichtigung der sozialen Auswirkungen und der Notwendigkeit, Überfischung zu vermeiden, an die Höhe der
verfügbaren Bestände angepasst wird, ...
Dies ist eine Art Politiksprache, die - wie wir nur allzu
gut wissen - immer dann angewandt wird, wenn zwischen
den Beteiligten ein nur sehr schwer formulierbarer Kompromiss zustande kam, ein Kompromiss, der oft einen Erfolg darstellt - trotz seines oder gerade wegen seines diplomatisch gedrechselten Satzgefüges.
({1})
Was ist der Hintergrund für diese Formulierung?
Diese Formulierung ist das Ergebnis einer Intervention
des Chefs der spanischen Regierung, José María Aznar.
Es geht nicht um den Agrarbericht, sondern um Nachhaltigkeit. Ob dieses Teilergebnis der Verhandlungen
dazu führt, dass die Nachhaltigkeit im Fischereibereich
nachhaltig geschädigt wird und dass sich in ein paar Jahren Fisch nur noch auf dem Tisch derjenigen befindet, die
sich ihn leisten können, bzw. dass viele Fischarten gar
nicht mehr zu haben sein werden, befürchte ich zwar,
auch wenn ich es derzeit nicht zuverlässig beurteilen
kann.
Das ist nur ein Beispiel dafür, wie auch bei diesem
EU-Gipfel Interventionen zugunsten vorgeblich nationaler Interessen eine wirksame gemeinsame europäische
Strategie geschwächt haben.
Wie verschachtelt auch immer diese Kompromisse formuliert sind, sie haben eines gemeinsam: Sie beziehen
sich auf eine von allen Regierungen mitgetragene europäische „Strategie für Nachhaltige Entwicklung“. Dies ist,
mit Verlaub, ein Erfolg dieses Gipfels, der bleibenden
Wert hat und dessen Früchte sich zum Teil erst nach Jahren und Jahrzehnten werden ernten lassen.
({2})
Auch wenn die Nachhaltigkeitsstrategie bisher notgedrungen in großen Zügen und eher programmatisch formuliert ist, so ist sie doch eine Plattform, von der aus eine
umfassende Modernisierung von Staat, Wirtschaft und
Gesellschaft in Gang gesetzt werden kann. Diese Nachhaltigkeitsstrategie bietet eine dringend erforderliche
Richtungssicherheit und eine zentrale Perspektive im
Hinblick auf die Reformen für den gesellschaftlichen
Fortschritt im 21. Jahrhundert.
Ich will hier nur auf ein paar Beispiele aus den Beschlüssen verweisen, die durchaus bemerkenswert sind.
Ich erinnere an den Beschluss, die eigenen Verpflichtungen im Rahmen des Kioto-Protokolls einzuhalten. Ich zitiere:
Die Vertragsstaatenkonferenz Mitte Juli in Bonn
muss daher ein Erfolg werden.
Ich verweise auf den Entschluss, bis zum Jahr 2010 ein
Richtziel von 22 Prozent des Stromes aus erneuerbaren
Energien zu erreichen, im Verkehrsbereich die Förderung
der „vollständigen Internalisierung der sozialen und Umweltkosten“ voranzutreiben und die „integrierte Produktpolitik der EU“, also eine ressourcenschonende und effizienzsteigernde Produktpolitik zu betreiben.
Wenn wir die Göteborger Schlussfolgerungen mit den
Forderungen vergleichen, die der Bundestag am 17. Mai
dieses Jahres beschlossen hat, so können wir zufrieden
sein; denn viele unserer substanziellen Forderungen wurden übernommen. Wir können zufrieden sein, auch wenn
vor allem die operative Umsetzung noch längst nicht ausgearbeitet ist.
Zwar gibt es viele Vorgaben, zum Beispiel die, dass die
neue Chemikalienpolitik bis 2004 in Kraft treten soll; jedoch ist die vom Bundestag geforderte „Entwicklung von
Mindestanforderungen an die Strategien - wie Ziele, Zeitpläne und Leitindikatoren“ im Interesse einer engeren Zusammenführung der verschiedenen Sektorstrategien noch
Zukunftsmusik. Aber dafür, dass die Göteborger Beschlüsse keine bloßen Deklarationen bleiben, hat sich der
Rat neben dem von der Kommission jährlich vorzulegenden Synthesebericht auf der Grundlage von Leitindikatoren selbst in die Pflicht genommen. Er will nämlich die
Fortschritte bei der Entwicklung und bei der Umsetzung
der Strategie auf seinen jährlichen Frühjahrstagungen
überprüfen.
Lassen Sie mich resümieren: Der Europäische Rat - so
steht es im Schlussbericht - „einigte sich auf eine Strategie für die nachhaltige Entwicklung und gab dem Prozess
von Lissabon für Beschäftigung, Wirtschaftsreform und
sozialen Zusammenhalt eine Umweltdimension“. Es ist
den Schweden gelungen, den Schwerpunkt ihrer Ratspräsidentschaft umzusetzen. Dass dies in der Berichterstattung der deutschen Presse weitgehend ignoriert wurde, ist
auch angesichts der sensationsgeladenen Bilder von Gewalttätern in den Straßen von Göteborg nur schwer zu entschuldigen.
({3})
Die Medien haben, auch wenn sich Sensationen besser
verkaufen, eine Informationspflicht. Wird diese nicht
wahrgenommen, fördert die damit erzeugte Unwissenheit
die Bereitschaft zu Ressentiment, Wut und Enttäuschung.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Medien ausführlich über
die EU-Nachhaltigkeitsstrategie berichten. Ich hätte mir
auch gewünscht, dass sie deren zukunftsträchtiges Potenzial ausführlich darstellen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., die
EU-Erweiterung ist sicherlich - wir sind uns da alle einig - ein großes Ziel. Aber das ist, meine ich, kein Grund,
in Ihrem heute vorliegenden Antrag zu den Ergebnissen
von Göteborg bezüglich des Zukunftsprojektes „Nachhaltigkeit“ nicht ein einziges Wort zu sagen.
({5})
- Nein, ich glaube nicht. - Gestern hat ein Kollege aus Ihrer Fraktion gemeint, Nachhaltigkeit sei ein Modewort.
Das ist es Gott sei Dank nicht. Vielmehr wird Nachhaltigkeit endlich Mode. Das ist ein riesengroßer Unterschied.
({6})
Nachhaltige Entwicklung erfordert globale Lösungen.
Darüber sind nicht nur wir uns einig. Das hat auch der Europäische Rat in Göteborg erkannt. Die EU wird versuchen, auf dem Nachfolgegipfel in Rio im Jahr 2002 ein
globales Übereinkommen über nachhaltige Entwicklung
zu vereinbaren. Die in der Agenda 21 angestoßene Beteiligung von gesellschaftlichen Akteuren auf lokaler Ebene
könnte dadurch neue Impulse erfahren. Dies wird jedoch
nur mit einer stärkeren Einbeziehung der Öffentlichkeit
ein Erfolg werden. Das wissen wir alle.
Das ist der Grund, warum ich Sie eindringlich bitte:
Helfen Sie alle mit, den Wert der Nachhaltigkeit auch und
gerade im Sinne der Generationengerechtigkeit herauszustellen sowie uns und der Öffentlichkeit bewusst zu machen, wie wichtig Nachhaltigkeit für unsere Zukunft ist.
Wir alle wissen doch - vielleicht müssen wir es den
Medien noch öfter erklären -: Nachhaltige Entwicklung
bedeutet die Erfüllung der Bedürfnisse der derzeitigen
Generation, ohne dabei die Möglichkeit zukünftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, zu beeinträchtigen.
({7})
Für Ihre Hilfe beim Einsatz für Nachhaltigkeit bedanke
ich mich schon jetzt. Ich bin sicher, wir alle werden nachhaltig daran arbeiten, auch diejenigen, die bisher meinten,
Nachhaltigkeit sei nur ein Modewort.
Vielen Dank.
({8})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P.? ({0})
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Entschließungsantrag der F.D.P.-Fraktion mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der F.D.P.-
Fraktion und Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion und der
PDS-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
der PDS? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Damit ist der Entschließungsantrag der PDS-Fraktion mit
den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der PDS-
Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a bis 4 d sowie den
Zusatzpunkt 1 auf:
4. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 2001
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der
Bundesregierung
- Drucksache 14/5326 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus W.
Lippold ({3}), Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr, Albert Deß, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz
sein - Zukunftsfähige Landwirtschaft ermöglichen - Gegen BSE mit einem vernetzten
Bekämpfungsplan vorgehen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff
({4}), Heino Wiese ({5}),
Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller
({6}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neuausrichtung der Agrarpolitik:
Offensive für den Verbraucherschutz - Perspektiven für die Landwirtschaft
- Drucksachen 14/5222, 14/5228, 14/5580 Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Heiderich
Waltraud Wolff ({7})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({8}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die gemeinsame Marktorganisation für Zucker
KOM ({9}) 604 endg.; Ratsdok. 12087/00
- Drucksachen 14/4945 Nr. 2.49, 14/5908 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Heinrich
Gustav Herzog
Norbert Schindler
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({10})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula
Burchardt, Heidemarie Wright, Christel
Deichmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nachhaltige Entwicklung für ländliche
Räume
- zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Ländlichen Raum gemeinsam mit der Landwirtschaft stärken
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung „Politik für
ländliche Räume“
Ansätze für eine integrierte regional- und
strukturpolitische Anpassungsstrategie
- Drucksachen 14/4544, 14/5080, 14/4855,
14/5909 Berichterstattung:
Abgeordneter Heino Wiese ({11})
ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeitraum 2001 bis 2004
- Drucksache 14/5900 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({12})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Zum Agrarbericht 2001 liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen, ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU und zwei Entschließungsanträge der Fraktion
der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Monaten wurde uns eine Agrarwende angekündigt.
Populistische Reden wurden teils ohne jeden realisierbaren Hintergrund gehalten. Vieles orientierte sich mehr am
Politbarometer als an der Notwendigkeit, die europäische
und die nationale Agrarpolitik weiterzuentwickeln. Inzwischen steht fest: Eine Agrarwende wird manchmal
auch zur eigenen Karikatur.
({0})
Deutschland hat in der Europäischen Union einen Beschluss mitgetragen. Bei der Umsetzung dieses Beschlusses macht man aus einem ausgewachsenen französischen
Bullen einen Ochsen, damit die Franzosen für Ochsen
Prämien kassieren können, die man ihnen für die Bullen
verwehrt hat. Obwohl dies lächerlich ist, muss man die
Sache leider ernst nehmen. Ich sage das nur, damit die
deutschen Bauern nicht wieder für diesen Quatsch in Anspruch genommen werden,
({1})
damit nicht später wieder gesagt wird, die deutschen Bauern seien dafür verantwortlich. Nein, verantwortlich dafür
sind der Ministerrat und die deutsche Verbraucherschutzministerin.
({2})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wer dauernd eine Wende
ankündigt, ohne sie zu vollziehen, dreht sich irgendwann
im Kreis.
({3})
Ich trete deswegen dafür ein, den Prozess des Dialoges
mit den Bauern in der Bundesrepublik Deutschland
wieder aufzunehmen, weil sich die Bauern manchmal als
klüger erweisen. Ich halte das jedenfalls für richtig. In
Bezug auf den Rindfleischmarkt ist eine Korrektur
beschlossen und auf bestimmte Forderungen verzichtet
worden. Die deutschen Bauern haben zu keiner Zeit mehr
produziert, als ihnen jetzt durch Beschluss vorgegeben
worden ist. Es hat sich erwiesen, dass sie schon immer so
klug waren, wie es der Ministerrat auf europäischer Ebene
jetzt erst geworden ist.
Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen: Der
EU-Verbraucherschutzkommissar Byrne und die deutsche Verbraucherschutzministerin, Frau Künast, haben
beschlossen, die vier noch zugelassenen Antibiotika, die
nach wie vor in den Futtertrog hineinwandern - zehn sind
ja schon verboten worden -, bis zum Jahre 2005 zu verbieten. Die deutschen Bauern haben sich inzwischen als
klüger erwiesen. Sie sind bereit, bereits jetzt Antibiotika
aus dem Futter herauszulassen. Das, was von Frau Künast
auf europäischer Ebene nicht erreicht werden konnte,
wird jetzt von den deutschen Bauern selbst vollzogen.
({4})
Die Ministerin sagt, in der Agrarproduktion sei
Klasse statt Masse notwendig. Das bedeutet nichts anderes, als dass man einen Teil der deutschen Agrarproduktion ins Ausland verlagert. Ich sage: Wir brauchen Masse
und Klasse. Wir müssen in der Agrarproduktion Quantität
mit Qualität zusammenbringen.
({5})
Das sind wir dem deutschen Verbraucher schuldig, darauf
hat der deutsche Verbraucher einen Anspruch.
Der deutsche Verbraucher will keine Verlagerung der
Agrarproduktion ins Ausland. Eine solche Verlagerung
wird aber das Ergebnis der Politik von Frau Künast sein.
({6})
Wir wollen und wir müssen möglichst viele der in
Deutschland benötigten Nahrungsmittel im Lande erzeugen. Das gilt für den ökologischen Landbau genauso wie
für die konventionelle deutsche landwirtschaftliche Produktion.
Das ist auch eine der Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Räume. Die Landwirtschaft ist nach wie vor das Rückgrat für die ländlichen
Räume. Sie sichert Wirtschaftsstandorte über die eigentliche Nahrungsmittelproduktion hinaus. Deshalb würde bei
einer Abwanderung der Agrarproduktion ins Ausland die
Wirtschaftskraft der ländlichen Räume in der Bundesrepublik Deutschland geschwächt. Die jetzige wirtschaftliche Situation vieler - ich sage nicht: aller - ländlicher
Räume ist ohnehin schon schwierig genug. Wir treten
- ich sage das ganz klar - gemeinsam dafür ein, dass die
ländlichen Räume eine Teilhabe an der wirtschaftlichen
Entwicklung haben. Welche Teilhabe sollen die ländlichen Räume aber noch haben, wenn es in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt keine wirtschaftliche Entwicklung mehr gibt?
({7})
Die ländlichen Räume werden zum Leidtragenden einer
verfehlten Wirtschaftspolitik gemacht.
({8})
Wir müssen auch über die Agrarpolitik die Wirtschaftskraft der ländlichen Räume stärken. Deshalb hat
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion immer wieder eine
Steuerpolitik eingefordert, die die flächengebundene bäuerliche Landwirtschaft genauso entlastet, wie es Rot-Grün
bei der flächenarmen agrargewerblichen Produktion umgesetzt hat. Ich finde es nicht gut, wenn man die bäuerliVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
che Produktion steuerlich belastet, nachdem man die
agrargewerbliche Produktion entlastet hat.
({9})
Das zeigt im Grunde genommen, welche Perspektiven
Rot-Grün in der Agrarpolitik in den Vordergrund gestellt
hat.
Ich möchte nach wie vor - einiges haben wir schon auf
den Weg gebracht -, dass wir die Agrarsozialpolitik aktiv
mitgestalten. Es kann dann aber nicht angehen, dass man
aus der Alterskasse 400 Millionen DM nimmt und in die
Knappschaft steckt. Ich habe nichts dagegen, dass die
Knappschaft mehr Geld bekommt. Aber dieses Geld darf
man nicht der Landwirtschaft nehmen.
({10})
Wir wollen durch diese Politik die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Landwirtschaft für eine qualitätsorientierte
Produktion steigern.
1998 ist ein ganz wichtiger Beschluss auf der europäischen Ebene gefallen. Der Tierschutz ist in die Aufgabenstellung der Europäischen Union einbezogen worden.
Es besteht jetzt die Möglichkeit der Weiterentwicklung
des Tierschutzes auf europäischer Ebene. Daher kann es
nicht angehen, so wie Rot-Grün zu handeln: Erst hat man
auf europäischer Ebene einer Änderung der Vorschrift bezüglich der Hennenhaltung zugestimmt. Dafür hat man
sich im Deutschen Bundestag selbst gefeiert. Jetzt aber
verhindert Frau Künast, dass der eigene Beschluss von
Rot-Grün umgesetzt wird. Auf was sollen sich denn die
Landwirte in unserem Land noch verlassen können?
Wenn sie sich auf Frau Künast und auf Rot-Grün verlassen, dann sind sie verlassen.
({11})
- Das ist richtig.
Auf der anderen Seite - da besteht wahrscheinlich ein
Stück Einigkeit - müssen wir auch bei der Seuchenbekämpfung ein Mehr an Tierschutz durchsetzen. Wir
dürfen die Seuchenbekämpfung nicht aus dem veterinärmedizinischen Fortschritt entlassen und dürfen es nicht
zulassen, dass das Keulen und Verbrennen zur letzten Antwort der Seuchenbekämpfung wird.
Es wird viel über Modulation gesprochen. Ich finde es
gut, dass Frau Künast Prinz Charles mag. Wenn sie aber
die deutschen Bauern anders behandelt, als die britische
Regierung Prinz Charles behandelt, dann muss man darüber natürlich diskutieren. In mehreren Gesprächen mit
den Ländern ist angeklungen, dass im Rahmen der Modulation in Deutschland einem Betrieb mit einer Größe
von 50 Hektar möglicherweise die Prämien um 20 Prozent gekürzt werden.
({12})
Vielleicht kann der bayerische Staatsminister Miller das
bestätigen. Staatssekretär Wille, der anwesend ist, hat
ständig davon gesprochen, dass das eine politische Zielvorgabe der Ministerin ist.
({13})
Wenn diese Zielvorgabe umgesetzt wird, dann würde das
bedeuten, dass Prinz Charles zwar 4,5 Prozent weniger
Prämien bekommt. Aber ein deutscher Bauer, der 50 Hektar bewirtschaftet, würde 20 Prozent weniger Prämien
bekommen. Das halte ich für unerträglich.
({14})
Es ist jede Woche angekündigt worden, die Tiermehle, die noch in Deutschland herumliegen, endlich zu
beseitigen. Jede Woche gibt es eine Ankündigung, dass
das nächste Woche passiert. Bisher ist aber nichts passiert.
({15})
Wenn man hinsichtlich des Verbots der Tiermehlfütterung
so gehandelt hätte, dann wäre dieses Verbot in der Bundesrepublik Deutschland auf keinen Fall durchgesetzt
worden.
({16})
Verbraucherschutz beinhaltet immer etwas Konkretes.
Deshalb werden wir Frau Künast nicht an den Seifenblasen messen, die sie ständig von sich gibt, sondern daran,
welche Politik Frau Künast im Einzelnen realisiert. Da ist
bisher nur sehr wenig passiert. Was passiert ist, ging in die
falsche Richtung.
Vielen Dank.
({17})
Herr Kollege Ronsöhr, es gab noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Aber Sie wollten sie anscheinend nicht beantworten.
({0})
- Nein, Herr Kollege Ronsöhr, jetzt ist es zu spät.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Beitrag der Opposition zeigt,
({0})
dass es der CDU/CSU-Fraktion um Populismus pur geht.
({1})
Es ist hier gesagt worden, die Agrarwende sei eine Karikatur. Hören Sie bitte gut zu. Sie werden anhand meines
Beitrags erkennen, dass das keine Karikatur, sondern zukunftsweisend ist. Im Übrigen: Wenn deutsche Bauern
von sich aus Antibiotika bei der Fütterung herauslassen,
dann zeigt das, dass sie unternehmerischen Geist haben.
So muss es ja wohl sein. Anders können Unternehmer
nicht handeln.
({2})
Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit, gläserne
Produktion, artgerechte Tierhaltung - diese und andere
Begriffe sind heute zum alltäglichen Wortschatz geworden und drücken mehr als deutlich den Wunsch der
Bevölkerung nach sicherer, gesunder Nahrung und Lebensweise aus. Dies sind neben der Agrarsozialpolitik die
wichtigsten Themen, die wir im Jahre 2001 zu bearbeiten
haben. Deshalb schlagen sie sich im diesjährigen Agrarbericht auch nieder. Was in anderen Wirtschaftsbereichen
schon lange Normalität ist, nämlich nachgewiesene Qualitätsstandards, wird es zukünftig auch im Ernährungsbereich in breitem Maße geben müssen.
({3})
Bei den Debatten über neue Agrarpolitik gefällt mir
nach wie vor das Wort Wende nicht sonderlich gut; denn
wir erfinden das Rad doch eigentlich nicht neu.
({4})
In der Landwirtschaft werden zwar neue Prioritäten gesetzt. Aber im Grunde genommen gibt es keine andere
landwirtschaftliche Produktion und der Berufsstand arbeitet weiterhin bestmöglich. Aus diesem Grund ist mit
Neuausrichtung Sicherheit für die Bauern gemeint; denn
sie gehören nicht an den Pranger, sondern sie sollten - genauso wie die Verbraucherinnen und Verbraucher - unterstützt werden.
({5})
BSE und die damit verbundene Unsicherheit waren
letztendlich der Auslöser für die intensive Diskussion in
allen Bereichen. Mit dem Verbot der Verfütterung von
Tiermehl hat die Bundesregierung äußerst schnell gehandelt. Wir sind fest entschlossen, die Transparenz im Lebensmittel- und Futtermittelbereich durch verbraucherfreundliche Etikettierung und offene Deklaration aller
Inhaltsstoffe zu verbessern. Damit geben wir den Menschen die Möglichkeit, ihre Konsumentscheidungen ganz
bewusst zu treffen.
Eine durchgängig nachvollziehbare Produktion kann
meiner Überzeugung nach auch durch ein gutes regionales Marketing unterstützt werden. Ich weiß, Regionalvermarktung ist nicht die Lösung. Aber sie ist wenigstens ein
kleiner Stein in dem gesamten Mosaik.
({6})
- Richtig, auch ein wichtiger.
Mit der Einführung eines Qualitätssiegels für ökologische Produkte sind wir auf dem richtigen Weg; denn
größere Vereinheitlichung und mehr Markttransparenz
schaffen hier Sicherheit. Mit ins Boot muss neben den
Produzenten und dem Verarbeitungsbereich natürlich
auch der Einzelhandel. Einige positive Erfolge sind ja
schon zu verzeichnen. Die kleinen Ökonischen in den
Lebensmittelketten verschwinden zum Teil. Uns Verbrauchern steht ein wesentlich breiteres Sortiment zur Verfügung. Jedenfalls erlebe ich es so, wenn ich einkaufen
gehe.
({7})
Aber - auch das muss man sagen - Qualitätssiegel sind
nicht alles. Es bleibt die Frage: Sind bewusste Konsumentscheidungen eine Modeerscheinung oder zeigt sich
jetzt wirklich eine anhaltende Entwicklung in diesem Bereich? Hier ist die Politik gefragt. Um das langfristige Ziel
eines auf die Gesundheit bedachten Verbraucherverhaltens zu entwickeln, bedarf es nicht nur der Aufklärung,
sondern auch einer intensiven Schulung von Kindheit an.
Deshalb fordern wir eindringlich, dass Inhalte zur Verbraucheraufklärung in die Lehrpläne der Schulen und in
Ausbildungsprogramme aufgenommen werden.
({8})
Es wird, wie ich denke, deutlich, dass die künftige Qualität der Nahrungsmittel und die weitere Entwicklung ihrer Produktion von dem Zusammenspiel vieler verschiedener Akteure abhängen.
Meine Damen und Herren, ein wichtiger Aspekt unserer Politik ist die Vernetzung der Bereiche Gesundheit,
Bildung und Forschung mit Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Nur auf diese Weise wird effizient Wissen gebündelt und Forschung zielgerichtet betrieben. Das im Agrarbericht genannte Institut für
Tierschutzforschung in Celle steht kurz vor seiner Gründung. Hier werden schwerpunktmäßig Fragen der artgerechten Tierhaltung und des den Tieren angemessenen
Transports bearbeitet werden.
Allerdings können wir diese Frage nicht nur national
betrachten - vorhin ist von der Opposition dazu bereits
etwas gesagt worden -, sondern wir brauchen auch grenzübergreifende Regelungen. Generelle Transportzeiten
sind ebenso von Bedeutung wie strenge Anforderungen
an die Bedingungen während des Transportes. Dazu brauchen wir fundierte Forschungsergebnisse, die sich europaweit in neue Regelungen umsetzen lassen.
Zum Stichwort Tierhaltung gehe ich auf die Kollegen
und Kolleginnen aus der CDU/CSU-Fraktion ein: Sie haben vorhin von Populismus gesprochen und werfen in
Waltraud Wolff ({9})
Ihrem Entschließungsantrag der Bundesregierung vor,
den Agrarbericht für Polemik gegen die Landwirtschaft
zu missbrauchen. Ich halte Ihren Einwand an dieser Stelle
für mehr als polemisch, denn Sie verwenden in Ihrem
Antrag doch nur Halbsätze.
({10})
Sie schreiben:
Die landwirtschaftliche Praxis wird mit den Begriffen „Tierquälerei“ und „Raubbau“ gezielt falsch
dargestellt.
Werfen Sie sich vielleicht Fehler und Versäumnisse aus
Ihrer eigenen Regierungszeit vor?
Demgegenüber zitiere ich, was tatsächlich im Agrarbericht steht:
Der Erfolg der Agrarwende muss durch ein Bündel
agrarpolitischer Maßnahmen abgesichert werden.
Das sind unter anderem:
- keine Finanzierung von Überschüssen, sondern
von Qualität,
- keine Tierquälerei, sondern artgerechte Tierhaltung,
- kein Raubbau, sondern Schutz von Umwelt und
Natur, insbesondere von Boden und Wasser!
Meine Damen und Herren, dies ist das Bild einer
selbstbewussten und nachhaltigen Landwirtschaft. Wir
werden sie weiter stützen; schwarze Schafe sollen es in
Zukunft noch schwerer haben.
Im Übrigen halte ich es für müßig, dass die CDU/CSUFraktion immer wieder utopische Forderungen nach Ausgleichszahlungen für die Landwirtschaft stellt. Sie sollten
doch mittlerweile begriffen haben, dass der Konsolidierungskurs fortgesetzt wird, mit dem wir bisher sehr gut
gefahren sind. Ich habe auch keine Lust mehr, Sie darauf
hinzuweisen, dass es letztendlich Ihrer Politik zu verdanken ist, dass wir den Gürtel noch immer nicht lockern
können. Trotzdem wird der Agraretat im Jahr 2002 um
150 Millionen DM und im Jahr 2003 um 180 Millionen DM aufgestockt werden.
({11})
Außerdem werden wir die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe von 1,7 Milliarden DM auf rund 1,85 Milliarden
DM anheben.
Ihr ewiger Einwurf, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU-Fraktion, die Ökosteuer solle zurückgezogen
werden, wird langsam langweilig.
({12})
Sie wissen sehr wohl, dass die Landwirtschaft von der
zweiten und der dritten Stufe der Ökosteuer ausgenommen ist. Den nachgeordneten Zweigen, die nicht von der
Ökosteuer befreit sind, kommt der volle Nutzen durch die
Senkung der Lohnnebenkosten zugute.
({13})
Wir wollen diese positiven Effekte in Zukunft nicht
missen. Dazu möchte ich Ihnen ein Zitat des früheren
Umweltministers Klaus Töpfer, CDU, nicht vorenthalten,
der in einem „Spiegel“-Interview vom 13. November
2000 - man höre und staune - erklärte:
Wir können es uns nicht leisten, ein sinnvolles Instrument wie die Ökosteuer einfach wegzuwerfen.
Wir brauchen auch in Zukunft ökologische Steuerkomponenten über die marktwirtschaftliche Preisgestaltung hinaus - nicht nur in Deutschland, sondern
europa- und weltweit.
Frau
Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.
Ich empfinde es als äußerst bedauerlich, dass Sie hier
Meinungsmache gegen ein nachweislich positives Regularium der rot-grünen Steuerpolitik betreiben.
({0})
Meine Damen und Herren, zur Gewinnentwicklung
im landwirtschaftlichen Bereich sage ich Folgendes:
Natürlich gibt es nicht d e n landwirtschaftlichen Betrieb, und niemand stellt in Abrede, dass auch im letzten Wirtschaftsjahr eine gewisse Zahl von Betrieben
wirtschaftliche Schwierigkeiten hatte. Der Vergleich zwischen der Landwirtschaft und anderen Wirtschaftsbereichen zeigt aber auch, dass die alte Subventionspolitik
nicht von heute auf morgen geändert werden kann.
Wir sind auch weiterhin bestrebt, die Landwirtschaft
zu unterstützen, denn nur durch starke Wirtschaftsstrukturen ist ihr Überleben gesichert. Dennoch bin ich davon
überzeugt, dass auf die veränderten Produktionsbedingungen mit unternehmerischer Initiative reagiert werden
muss. Wenn ich etwas verdienen will, muss ich auch bereit sein, Einsatz zu leisten.
({1})
Meine Damen und Herren, der Agrarbericht zeigt sehr
genau die Situation der Betriebe
({2})
und auch die der davon abhängigen Familien auf. Aus
diesem Grund will ich noch einmal kurz auf den Agrarbericht 2000 und unseren damaligen Antrag zurückkommen.
Im Bereich der Agrarsozialpolitik ist die Situation der
im ländlichen Raum lebenden Frauen und jungen Menschen ein genauso wichtiger Aspekt wie in anderen Zweigen. Deshalb erschien uns damals eine Beschreibung der
Waltraud Wolff ({3})
Lebens- und Erwerbssituation von Frauen im ländlichen
Raum ebenso notwendig wie die Darstellung der weiteren
Perspektiven für die Jugend.
({4})
Beides forderten wir in einem Entschließungsantrag am
17. Mai letzten Jahres. Heute stelle ich fest, dass diese Dokumentation leider nicht klar herausgestellt ist. Ich bitte
von dieser Stelle aus, dies im nächsten Bericht explizit
auszuweisen.
Meine Damen und Herren, es gäbe noch viele Stichpunkte, zu denen ich mich äußern könnte. Als Beispiele
nenne ich nur Forst- und Fischereipolitik, nachwachsende Rohstoffe oder mein Lieblingsthema landwirtschaftliches Sozialversicherungssystem. Leider habe ich
nicht die gesamte Redezeit der SPD-Fraktion bekommen und kann deshalb keine weiteren Ausführungen
machen.
Ich bedanke mich.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Heinrich von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerin Künast, Sie sind jetzt ein halbes Jahr im Amt und haben die Politik, die Sie machen wollen, in einer für die
Öffentlichkeit sehr verständlichen Sprache dargestellt.
Sie haben sich sozusagen der sonst üblichen Sprache
der Agrarpolitik entzogen und wurden verstanden:
({0})
Klasse statt Masse, Reinheitsgebot beim Rindfleisch.
In der Zwischenzeit, Frau Ministerin, haben Sie sich
eingearbeitet. Dabei haben Sie lernen müssen, dass das
alles nicht so einfach ist.
({1})
Sie mussten zum Beispiel lernen, wie sich die Verhältnisse in Brüssel darstellen. Erst vorgestern haben Sie erneut drei bittere Niederlagen hinnehmen müssen. Die vorhergehenden Niederlagen möchte ich jetzt gar nicht
erwähnen.
({2})
Sie haben lernen müssen, was es heißt, im eigenen
Land mit einem Finanzminister Eichel zurechtzukommen. Sie haben vor allen Dingen in Verhandlungen mit
den Bundesländern - zum Beispiel über die Durchsetzung
der Gemeinschaftsaufgabe und all die Dinge, die damit
zusammenhängen - auch lernen müssen, dass von sehr
selbstbewussten Partnern komplizierte und verflochtene
Sachverhalte vertreten werden.
Im Laufe der kurzen Zeit hat sich auch Ihre Sprache
verändert. Sie sind sozusagen in die „Niederungen“ der
Agrarpolitik eingestiegen
({3})
und das Interesse der Öffentlichkeit an Ihrer Politik hat
wesentlich nachgelassen. Das wiederum könnte man ja
noch verschmerzen, wir als F.D.P. jedenfalls. Was aber
viel weittragender ist: Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht
gemacht.
({4})
Die Krise, die Sie in das Amt gebracht hat, haben Sie bisher nicht bewältigt.
({5})
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Nach wie vor
lagern Restbestände von Tiermehl und Futterbestandteilen, die möglicherweise kontaminiert sind, in den Ländern und warten jetzt - ein halbes Jahr nach In-Kraft-Treten des Verfütterungsverbots - auf eine entsprechende
Entsorgung.
({6})
Ebenso wenig ist - ein halbes Jahr danach - die Finanzierung dessen gesichert und klargelegt.
({7})
Ein weiteres Beispiel: Sie führen immer wieder den
Tierschutz im Munde, haben es aber nicht geschafft, dass
die Tiere, die zur Marktentlastung herausgekauft worden
sind, auch verwertet werden.
({8})
Sie wurden schlichtweg zu Tiermehl verarbeitet und dann
verbrannt. Ethik und Tierschutz sind hier wirklich nicht zu
erkennen. Das ist ein Skandal!
({9})
Bis vor kurzem waren Sie nicht bereit, für die von BSE
betroffenen Rinderherden das so genannte Schweizer
Modell mit der Kohortentötung zu übernehmen. Sie waren nicht bereit, von den Schweizern zu lernen. Die
Schweizer haben mit diesem Modell eine jahrelange
Erfahrung. Sie haben es ignoriert.
({10})
Wir haben Ihnen von Anfang an dieses Schweizer Modell
anempfohlen. Erst jetzt dämmert es bei Ihnen langsam,
aber sicher, dass Sie in diesem Punkt eine andere Regelung anstreben sollten.
({11})
Waltraud Wolff ({12})
- Ich glaube, keiner der Zwischenrufer weiß, wie viele
Tiere im Rahmen dieser Gesamtherdentötung beseitigt
worden sind,
({13})
Es waren über 10 000. Es geht hier also um keine geringe
Menge. Dies hat gravierende Auswirkungen.
({14})
Frau Ministerin Künast, Sie vernachlässigen den berechtigten Verbraucherschutz, indem Sie - ({15})
- Können wir uns bitte darauf einigen, dass ich jetzt rede?
Nachher kommen Sie dran.
Sie vernachlässigen den berechtigten Verbraucherschutz, indem Sie nach wie vor Rindfleischimporte von
nicht getesteten Rindern zulassen. Das Gleiche gilt für
Kälber, die außerhalb von Deutschland gemästet und mit
Tierfetten gefüttert wurden und die ein sehr hohes Risiko
aufweisen, BSE-infiziert zu sein. Mit einem Wort: Sie haben viel angekündigt und recht wenig recht bescheiden
umgesetzt.
Lassen Sie mich etwas zur Maul- und Klauenseuche
sagen: Nach wie vor gibt es eine unkoordinierte Aussage
zur zukünftigen Impfpolitik. Ich fordere Sie deshalb auf,
alles daran zu setzen, Markerimpfstoffe gegen die Maulund Klauenseuche sowie die Schweinepest zu entwickeln
und die notwendigen Genehmigungen zum Einsatz bei
der akuten Seuchenbekämpfung zu erteilen.
({16})
Es ist allerhöchste Zeit, diese Maßnahmen jetzt zu ergreifen! Wir dürfen nicht warten, bis die nächste Seuche ausgebrochen ist. Die unsinnige Vernichtung, die es derzeit
noch bei der Seuchenbekämpfung gibt, also das Vernichten eines riesigen Volksvermögens durch die radikale
Keulung der Bestände, muss endlich aufhören.
Das einzig klare Ergebnis, das Sie bisher vorzuweisen
haben, ist das Ökosiegel.
({17})
Dies ist aber nicht neu und auch nicht auf Ihrem eigenen
Mist gewachsen. Sie haben sich nur bereit erklärt, das,
was auf europäischer Ebene bereits verabschiedet worden
ist, anzuerkennen und zu übernehmen.
({18})
Man reibt sich erstaunt die Augen und stellt fest: Masse
statt Klasse!
({19})
Frau Ministerin, Sie hatten uns etwas anderes versprochen.
({20})
Ich warne Sie eindringlich vor einem zweiten Prüfsiegel für konventionelle Produkte.
({21})
Das wäre kontraproduktiv und würde die Verbraucherinnen und Verbraucher verwirren. Damit würden Sie
nichts bewegen, sondern nur Unruhe stiften.
({22})
In diesem Zusammenhang möchte ich genauso eindringlich von einer regionalen Kennzeichnung sprechen, die ich für dringend notwendig halte. Diese schafft
in ganz besonderer Weise ein enges Verhältnis zwischen
der Landwirtschaft und den Verbrauchern. Das ist besonders nötig, denn wir stellen fest, dass die Kenntnis über
die Landwirtschaft bei der allgemeinen Verbraucherschaft
gegen Null tendiert. Hier sind in der Tat mehr Kenntnisse
und ein engeres Verhältnis notwendig.
({23})
Ein weiterer Kritikpunkt, den ich hier anzuführen habe,
betrifft die katastrophale und verheerende Naturschutzpolitik dieser Bundesregierung,
({24})
die das Eigentum missachtet, den gut funktionierenden
Vertragsnaturschutz vernachlässigt, zurückdrängt und
allem ein Ordnungsrecht überstülpt. Dies hat natürlich
nicht mehr die Bereitwilligkeit der Landwirte zur Folge,
wie das beim freiwilligen Naturschutz der Fall ist.
({25})
Ebenso ist für uns Liberale das Verschenken von Land
bzw. Forstflächen an Greenpeace absolut unakzeptabel.
({26})
Diese Flächen gehören privatisiert. Nur dann werden sie
auch entsprechend bewirtschaftet werden.
Die Liste der Kritik an der Bundesregierung ist fast
endlos: Ich nenne als weiteres Beispiel das Stop-and-go
bei der grünen Gentechnik. Weiß eigentlich der Herr
Bundeskanzler, dass die Wirtschaft verlässliche Rahmenbedingungen braucht und mit einer auf Stimmung angelegten Politik nichts anfangen kann? Bei den Pflanzenzüchtern haben wir gestern Abend gehört, dass die
Wirtschaft daraus bereits ihre Konsequenzen zieht und
mit ihren Forschungsabteilungen auswandert. Die sind
bereits über den großen Teich! Die F.D.P. hat klare
Vorstellungen zur grünen Gentechnik sowie zum Verhältnis von Eigentum und Naturschutz. Wir bringen noch vor
der Sommerpause erneut den Antrag ein, den Tierschutz
in das Grundgesetz aufzunehmen. Wir wollen erneut diesen Anlauf unternehmen; ich will, dass dieses Haus da
wirklich Farbe bekennt.
({27})
- Ich bedanke mich für den Beifall. Wir wissen, dass wir
hier schon seit längerer Zeit auf der gleichen Linie liegen.
({28})
Wir vermissen bei der Bundesregierung aber eine klare
Aussage, wie sie die Agrarpolitik in der Zukunft gestalten
will. Nur ein bisschen mehr Öko reicht nicht aus. Ein Ansatz von 130 Millionen DM, um eine Agrarwende herbeizuführen, die ihren Namen auch verdient, ist mehr als bescheiden. Ich wiederhole mich: Das wird nur ein bisschen
mehr Öko und sonst nichts erreichen.
Die Voraussetzungen für die Einführung der Modulation
fehlen, weil sich bis auf eine Ausnahme alle Bundesländer
dagegen ausgesprochen haben. In der Agrarministerrunde
der Länder hat man sich nur auf Selbstverständlichkeiten
geeinigt. Da können wir alle mitziehen. Diese Eckpunkte,
die großartig herausgestellt wurden, nämlich Verbraucherschutz, Tierschutz und Umweltschutz, können wir alle so
lange mittragen, wie sie allgemein und unverbindlich formuliert werden. Im Detail ist überhaupt nichts geregelt. Das
ist auch kein Wunder; denn eine so weit reichende Regelung, die in die Einkommen der Landwirte und in die Strukturen eingreift, darf nicht übers Knie gebrochen werden.
Hier muss sehr sorgfältig recherchiert und müssen auch
wissenschaftliche Erkenntnisse mit eingebaut werden. Es
darf nicht sein, dass dies schon zum 1. Januar 2002 zur Anwendung kommen soll. Ich bin absolut dagegen. Das ist
verfrüht.
Lassen Sie mich nun noch einige Ausführungen zu unserem eigenen Entschließungsantrag, der heute an den
Ausschuss überwiesen werden soll, machen. Er beinhaltet klare Aussagen zur zukünftigen Agrarpolitik. Im
Mittelpunkt steht für uns der unternehmerisch handelnde Landwirt. Dazu gehört, dass man ihm den nötigen Freiraum wieder zurückgibt, den Wettbewerb stärkt,
ihn von überflüssigen Kosten und von überbordender
Bürokratie entlastet, Verbrauchersicherheit durch verbesserte Produkthaftung herstellt und Zertifizierungssysteme
einführt, um die Lebensmittelherstellung zu verbessern,
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Heinrich.
- und die Europäische
Union - das ist der letzte Punkt - vor dem Hintergrund ihrer Osterweiterung und der anstehenden WTO-Runde
handlungsfähig macht. Diese Voraussetzungen brauchen
wir.
Ich empfehle, weil meine Redezeit abgelaufen ist,
dazu die detaillierten Vorschläge der F.D.P.-Fraktion im
Entschließungsantrag zu lesen, gemäß denen produktbezogene Förderungen abgebaut bzw. abgeschafft werden
sollen und stattdessen eine Kulturlandschaftsprämie eingeführt werden soll.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort
hat jetzt die Bundesministerin Renate Künast.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren, insbesondere Herr Heinrich!
Ich habe zu keinem Zeitpunkt - auch nicht in der
Regierungserklärung - behauptet, dass es eine Agrarwendeparty gibt und dass wir sozusagen nach Jahrzehnten
verkrusteter Politik nach drei oder vier Monaten sagen
könnten: Ab heute ist alles anders.
({0})
Diese Agrarwendeparty wegen des einen Ereignisses wird
es nicht geben.
({1})
- Was ist denn eigentlich los, meine Herren? Nervös,
oder was? - Ich habe schon in der Regierungserklärung
gesagt, dass wir bei dem Agrarwendeprozess durch ein
langes Tal gehen werden. Zu Ihrer Verwunderung, Herr
Heinrich, werde ich mich jetzt ausdrücklich bei Ihnen bedanken, und zwar nicht für Ihre Rede, sondern für Ihren
Antrag.
({2})
Ich meine, Sie unterstützen mit Ihrem Antrag meine und
unsere Politik.
Erstens. Sie fordern uns auf, ein schlüssiges Konzept
vorzulegen, um die bisherige produktbezogene Förderung
durch eine flächenbezogene Bewirtschaftungsprämie
zu ersetzen. - Daran arbeiten wir. Guten Morgen, danke
für die Unterstützung!
({3})
Zweitens. Sie fordern uns auf, Qualitätsmanagement,
Ökoaudit, Zertifizierung und eine konsequente Produkthaftung stärker zu verankern. - Danke für die Unterstützung. Daran arbeiten wir.
({4})
Drittens. Sie fordern uns auf, durch regionale Herkunftszeichen für Agrarprodukte neue Vermarktungschancen zu nutzen und auszubauen. - Auch daran arbeiten wir. Eine Aufgabe der CMA wird die regionale
Vermarktung sein, weil sie nicht deutsche Produkte vermarkten darf. Für Vermarktungschancen und Ähnliches
geben wir Geld aus. Danke für die Unterstützung.
Viertens. Wir sollen die Vorschläge zur so genannten
Modulation, die zu Prämienkürzungen von bis zu 20 Prozent führen würden, zurückziehen und überarbeiten. Ich
schlage vor: Ziehen Sie diese Forderung zurück. Ich habe
nie gesagt, dass ich 20 Prozent will.
({5})
- Ich arbeite an einer realistischen Summe. Damit werden
wir Erfolg haben.
Fünftens. Einen freiwilligen Vertragsnaturschutz können wir gerne einführen.
Sechstens. Sie fordern die Einführung eines ÖkoPrüfzeichens nach den Richtlinien der EU in Deutschland und die Verschärfung der Richtlinien. - Danke für die
Unterstützung. Wenn ich diese Forderung aufnehmen
würde, müsste ich allerdings wochenlang rückwärts laufen. Das habe ich nicht vor.
({6})
Die Entscheidung ist gefallen. Sie stand in den Zeitungen.
Sie werden kaum glauben: Der Agrarrat hat in Luxemburg
die Kommission aufgefordert, ein Aktionsplan „Ökologischer Landbau für Europa“ vorzulegen. Ich habe vor einigen Wochen mit Herrn Fischler darüber gesprochen - das
ist auch vor zwei Tagen diskutiert worden -, dass die EUÖko-Verordnung überarbeitet und verschärft werden soll.
An diesem Punkt ist also Ihr Papier vom 20. Juni überholt.
Nur in einem waren Sie konsequent, nämlich darin,
dass der Antrag der F.D.P. auf grünem Papier verteilt
wurde. Dafür danke ich Ihnen.
({7})
- Ich bin ja schon weiter als dieses Papier.
Nun zu den Fakten, meine Damen und Herren: Die finanzielle Situation der deutschen Landwirtschaft ist
gut.
({8})
- Ja. Sogar der Rindfleischmarkt kommt wieder auf die
Beine. Schlachtkälber kosteten im Mai mehr als vor einem Jahr, also vor der BSE-Krise. Die Schweine- und Geflügelhalter haben in den vergangenen Monaten wirklich
sehr gut verdient. Die Erzeugerpreise bei Schlachtschweinen lagen im Durchschnitt der ersten vier Monate
dieses Jahres um 50 Prozent über den Preisen des Vorjahres, bei Schlachtgeflügel lagen sie um 15 Prozent über den
Preisen des Vorjahres. Die Milcherzeuger - das macht
40 Prozent unserer Agrarbetriebe aus - haben von den
höchsten Auszahlungspreisen seit 1992 profitiert. Da
packt Sie der Neid, nicht wahr? Die Auszahlungspreise
für die Erzeuger lagen rund 8 Prozent über den Vorjahreswerten. Also lassen Sie doch bitte die Kirche im Dorf.
Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, ich lasse
keine Zwischenfrage zu. Ich habe zu wenig Zeit.
Knapp 50 Prozent der 82 BSE-Fälle sind in Bayern
aufgetreten. Ich möchte an dieser Stelle Bayern nicht kritisieren, sondern Sie, Herr Miller, ausdrücklich loben,
weil Bayern erkannt hat, dass es bei den Tiermehlkontrollen Defizite hatte.
({0})
In Bayern sind knapp 50 Prozent der BSE-Fälle aufgetreten, es findet dort aber nur 35 Prozent der Rindfleischproduktion statt. Bayern ist also an der BSE-Krise überproportional beteiligt. Ich möchte das Bundesland Bayern
ausdrücklich für das Programm, das Sie auflegen, loben,
denn damit werden Sie dem Defizit entgegenwirken und
dafür sorgen, dass es in Zukunft Lebensmittel- und Futtermittelkontrolleure auch in Bayern gibt.
({1})
Darüber hinaus hat Bayern noch weitere Vorhaben auf den
Weg gebracht, die man nur loben kann.
Wir haben in letzter Zeit wirklich konsequent und
flächendeckend
({2})
Verbraucherschutz betrieben. - Wenn die Bauern solch
ein Problem hätten, gäbe es doch eine Demonstration.
Gucken Sie einmal hinaus: Dort sind Leute, die die Agrardebatte hören wollen und nicht etwa demonstrieren.
({3})
- Das ist nun wirklich Quatsch. Dann hätte Herr
Sonnleitner doch Trauer, wenn es keine mehr gäbe. Er
vertritt ja einen großen Verband.
({4})
- Passen Sie einmal mit Ihren Zwischenrufen „Kleine“
auf. Können Sie mir sagen, woran denn die kleinen
Höfe kaputtgehen? Doch nicht an einer neuen Agrarpolitik!
({5})
Die sterben seit Jahren, weil Sie ihnen keine Perspektive
gegeben haben.
({6})
Wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen: das
BSE-Maßnahmengesetz, Vorsorgeverordnung, Tests, die
Ausweitung der Liste der Risikomaterialien, verschärfte
Kontrollen und Sanktionen.
Ich will mit ein paar Worten auf die letzte Agrarratssitzung eingehen. Wir haben uns mehr vorgestellt, und trotzdem ist dieser Agrarrat ein guter Rat gewesen. Statt dass
das Verfütterungsverbot am 30. Juni, also in wenigen Tagen, Ende nächster Woche, geendet hätte, gibt es ein umfassendes Verfütterungsverbot für Tiermehl, das noch
eine ganze Zeit lang halten wird, und zwar gegen den Widerstand einer Reihe von Mitgliedstaaten, die gern gutes
Geld mit dem Tiermehlverkauf verdienen würden.
Wir sind bei der Verordnung über tierische Nebenprodukte weitergekommen. Es gibt umfassende Neuregelungen. Wir werden gemeinsam mit den Ländern - und dabei
bitte ich Sie um Unterstützung - eine Menge zu tun haben, damit diese auch in der Praxis umgesetzt werden und
wir nicht wieder aus England Hinweise bekommen, dass
wir demnächst einen Exportstopp, eine Sperre haben, weil
Risikomaterialien angehaftet sind.
Wir sind gemeinsam mit den anderen Agrarministern
und der Kommission an dem Punkt angelangt, dass wir
sagen können: Wir gehen von der Bestands- zur Kohortentötung. Ich halte das für einen Erfolg. Herr Heinrich,
was Sie gesagt haben, war ein luxurierender Standpunkt.
Denn Sie haben in den Kategorien einer alten Agrarpolitik gesprochen.
({7})
Sie haben hier von dem tränenden Herz eines jeden
Bauern und einer jeden Bäuerin gesprochen, wenn die
Herde getötet wird. Sie haben aber nicht über den Anspruch der Verbraucherinnen geredet, wirklich sicher zu
sein, dass wir nur gesundheitlich vertretbares Fleisch in
die Lebensmittelkette kommen lassen - und dafür stehe
ich! Das werden wir immer wieder so tun.
({8})
- Nein, es ist kein Widerspruch, Herr Heinrich.
Ich habe am Anfang des Jahres klar gesagt, und darauf
können Sie sich in den nächsten Jahren verlassen: Wir
prüfen das, wir testen.
({9})
Wir haben bei der Herauskaufaktion noch einmal circa
90 000 Tiere getestet. Es gab nur ein positives. Wir haben
in Deutschland nur zwei Fälle, in denen die Geburtskohorte betroffen ist. Wir haben mit Brüssel zusammen verglichen, welche Erkenntnisse sie dort haben. Das Ergebnis ist: Heute können wir es vertreten, zu sagen, dass wir
auf die Kohorte gehen.
({10})
Wer von mir die Einzeltiertötung haben will, dem sage ich
deutlich: Lassen Sie uns nicht in eine Situation kommen,
bei der wir in einigen Jahren hier sitzen und erklären müssen, dass wir einen Fall von Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in Deutschland haben und vorher nicht hinreichend
Sicherheit geschaffen haben. Sie alle wissen: Für die Auswirkung von Creutzfeldt-Jakob auf den Menschen ist die
Inkubationszeit noch nicht vorbei. In England sind circa
hundert Menschen daran gestorben. Wir wissen noch
nicht, ob und wie viele in Deutschland sterben werden.
Deshalb bin ich an dieser Stelle beinhart.
({11})
Ich weiß, dass mich viele im Parlamentsausschuss über
alle Fraktionsgrenzen hinaus dabei unterstützt haben, und
ich danke dafür.
Wir haben in Brüssel auch bei den Regelungen zum
Tierschutz noch unter schwedischer Präsidentschaft ein
paar Verbesserungen bekommen. Ich hätte gerne mehr gehabt; aber in Brüssel ist der Erfolg eine Schnecke: Hauptsache, sie bewegt sich. Wir haben jetzt Regelungen für die
Sauen. 12 Millionen Tiere in der EU werden in Zukunft
nicht mehr in Anbindehaltung dastehen, wenn sie trächtig
sind, sondern andere Bedingungen haben. Das ist schon
einmal etwas!
Der nächste Punkt wird sein, dass wir uns mit den
Mastschweinen beschäftigen. Jeder kann in seinem Bundesland im Rindermastbereich - in Bayern oder in NRW
oder in Niedersachsen - dafür kämpfen, dass sich als Vorwegnahme hier schon etwas verbessert.
Wir haben in den ersten fünf Monaten dieses Jahres bei
Rindfleisch einige Erfolge gehabt. Wir haben am Dienstagabend im Agrarrat mit anderen Ländern eines hinbekommen: In den nächsten zwei Jahren werden die
Großvieheinheiten pro Hektar Fläche im Rinderbereich
reduziert. Nicht mehr zwei Tiere werden gefördert, sondern nur 1,8.
Das ist ein Schritt, den Sie einmal nach- oder vormachen sollten, Herr Heinrich. Das haben Sie nicht geschafft.
({12})
Das ist ein Schritt wider alle - auch gegenläufigen - Interessen einiger Länder, auch Südfrankreichs. Wir haben
es geschafft, aus der 90-Tier-Grenze etwas Neues zu machen, nämlich die Knüpfung an Umwelt- und Beschäftigungsaspekte. Und die Steuerzahler fragen: Wofür zahle
ich eigentlich? Wozu muss ich eigentlich Produktion bezahlen? Es ist doch eine freie Marktwirtschaft. Nicht
wahr, Herr Heinrich? Wir haben es geschafft, dass in Zukunft ab dem 91. Tier Umwelt und versicherungspflichtige Arbeitsplätze zählen werden.
({13})
Ist das etwa nichts? Ich bin darauf stolz und auch darauf,
dass wir in Deutschland und nicht jemand in Brüssel die
Kriterien festlegen.
({14})
Wir haben es erreicht, dass im November in Brüssel unter
belgischer Präsidentschaft ein großer Kongress zur Auswertung der Maul- und Klauenseuche und auch zur Auswertung der Impfpolitik stattfinden wird. Ist das etwa
nichts? Sie müssen es erst einmal schaffen, dass sich alle
die, die Interesse an hohen Exporten haben, zum Beispiel
Dänemark in die USA und nach Japan, überhaupt auf die
Debatte einlassen. Das allein ist ein Zeichen für die Forschung, dass es sich lohnt, den Marker-Impfstoff zu entwickeln. Wer wüsste denn besser als Sie, dass man auch
die finanziellen Interessen der Wirtschaft animieren
muss? Wir haben sie animiert.
Wir haben, deshalb weiß ich gar nicht, woher die Auseinandersetzung kommt ({15})
auf der Konferenz der Agrar- und Umweltminister der
Bundesländer am 13. Juni in Potsdam ein Papier einstimmig verabschiedet. Ich weiß gar nicht, wo der Dissens
sein sollte. Ich habe den Eindruck, in den großen, wesentlichen Punkten bin ich mir mit den Bundesländern einig. Das reicht von der Umwandlung in Grünlandprämien
über Tierhaltungsbedingungen bis hin zu dem Punkt, dass
Klärschlamm gar nicht auf die Felder gehört bzw. der
Schadstoffeintrag auf die Felder reduziert werden muss.
Ich habe im Augenblick so viel Geld für die Agrarwende
zur Verfügung, dass sich die Länder fragen, wie sie überhaupt mitmachen. Das müssen Sie erst einmal hinbekommen.
({16})
- Doch. - Wir haben Projekte dafür.
Wir haben Kreativität. Selbst in diesem Ministerium
wecken wir die kreativen Kräfte. Sie von der F.D.P. dürfen, wenn Sie dazu etwas beizutragen haben, gern mitmachen, sollten aber bitte mehr tun, als auf Ihrem grünen Papier nur unsere alten Positionen von vor drei Monaten
abzuschreiben.
({17})
Wir haben 1,8 Milliarden DM in der Gemeinschaftsaufgabe, die wir für neue Dinge ausgeben werden. Wir
werden mehr als die Hälfte für Neues ausgeben. Wir haben beim Haushalt zusätzliches Geld aus dem Bundesfinanzministerium bekommen. Wir werden diese 90-TierGrenze für den Umweltschutz nutzen und wir werden
die Modulation einführen. Wir werden dafür sorgen,
dass die deutschen Bauern nicht wieder die Bremser
sind, sondern dass die deutschen Bauern mit uns gemeinsam ihre Zukunft organisieren. Diese heißt: Weg
von den Beihilfen.
Nach der Halbzeitbilanz - im nächsten, übernächsten
Jahr - und nach der Erweiterung der EU, spätestens dann,
wenn die Agenda 2000 im Jahre 2006 ausläuft, wird es
eine andere Agrarpolitik geben, bei der wir gut beraten
sein werden, bis dahin nicht nur Beihilfeempfänger zu
sein, sondern tatsächlich das Neue zu tun. Das Neue heißt
an dieser Stelle, meine Damen und Herren, auch, dass es
auf die Frage der Steuerzahler eine neue Antwort gibt. Die
Steuerzahler haben in der Vergangenheit immer gefragt:
Wofür zahlen wir? Sie haben gesagt: Dafür wollen wir
nicht zahlen. Was glauben Sie, warum es keinen Aufschrei
gegeben hat, als in der Zeitung stand, jetzt bekommt Frau
Künast von Herrn Eichel noch einmal 330 Millionen DM
dazu, anstatt - wie andere Ressorts auch - einsparen zu
müssen?
({18})
Doch nicht, weil die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen
draußen sagen: Das ist eine tolle Idee, immer hinein in den
Agrarbereich!,
({19})
sondern weil sie wissen, das Geld ist bei uns in guten Händen, wir werden es in Zukunft anders ausgeben. Das ist
unser Angebot.
({20})
Wir werden dafür sorgen, dass diese Gesellschaft zur
Agrar- und Umweltpolitik sagt: Das sind Bauern, denen
wir für ihre Leistungen zahlen, dafür, dass sie die Natur
und die Umwelt erhalten.
Da dürfen Sie in Zukunft gern weiter abschreiben, weiterhin kreative Ideen haben. Ich glaube aber, eingeholt haben Sie uns noch lange nicht.
({21})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich
Heinrich das Wort.
Verehrte Kolleginnen und
Kollegen, ich wollte eine Zwischenfrage stellen, aber die
Frau Ministerin hat keine zugelassen. Da bleibt mir nichts
anderes übrig, als eine Kurzintervention zu machen, und
zwar zu dem Bereich, in dem sie mich mehrmals persönlich direkt angesprochen hat, nämlich der Kohortentötung bei BSE-befallenen Beständen.
Frau Ministerin, Sie haben es so dargestellt, als hätten
Sie durch Ihre Weigerung, das Schweizer Modell anzuwenden, hier mehr Verbraucherschutz durchgesetzt.
Genau das stimmt nicht. Alle Untersuchungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass ein höheres Verbraucherschutzniveau nicht allein dadurch erreicht werden kann,
dass man die gesamten Herden schlachtet, sondern dass es
ausreicht, das erkrankte Tier und, wenn es ein Muttertier
ist, die nachgeborenen Kälber sowie den Jahrgang zu töten. Das heißt im Klartext, es wäre weniger als ein Drittel
aller getöteten Tiere getötet worden, wenn man das auf
dieser Grundlage durchgeführt hätte.
Ich habe das mit Tränen in den Augen nicht nur im
Blick auf die Landwirtschaft gesagt, sondern auch deshalb, weil es die Gesellschaft insgesamt aufgeregt hat.
({0})
Die Menschen konnten es nicht mehr sehen und nicht
mehr ertragen, mit welcher Medienpräsenz und in welcher Art und Weise die Betriebe belagert und bis zum Abholen der Kadaver begleitet worden sind. Ich weiß nicht:
Haben Sie tatsächlich so ein kurzes Gedächtnis, dass nicht
einmal diese Bilder nach diesen wenigen Monaten zum
Vorschein kommen? Ich habe die Bilder noch nicht vergessen.
({1})
Ich habe schon damals klipp und klar gesagt, wir müssen ein anderes Verfahren wählen. Deshalb habe ich mich
jetzt noch einmal zu Wort gemeldet. Ich wollte den Widerspruch noch einmal darstellen, dass Verbraucherschutz
nur durch das System der Tötung der gesamten Herde,
nicht aber durch die Kohortentötung erreicht werden
könne.
({2})
Frau
Künast, wollen Sie erwidern?
Ja.
Bitte
schön.
Herr Heinrich, Sie
haben Recht, wenn Sie sagen, dass es einen ungeheuren
Druck der Medien auf die Bauernhöfe gab. Ich bin mit Ihnen froh darüber, dass sich die Spannung und der Druck
in dieser Hinsicht gelöst haben. Aber wir wissen beide:
Auch bei einer Kohortentötung wird eine Tötung teilweise auf anderen Höfen erfolgen, weil sich Tiere aus einer Geburtsgruppe manchmal an anderen Höfen als dem,
auf dem positiv getestet wurde, aufhalten.
Ich habe das Beispiel der Schweiz genannt, weil ich
einmal darauf hinweisen wollte, dass man nicht einfach
das Endprodukt eines langen Prozesses aus der Schweiz
übernehmen kann. Die Schweiz hat zehn Jahre lang
systematisch verhindert, dass Tiermehl an Wiederkäuer,
also auch an Rinder, verfüttert wird. Sie hat das systematisch kontrolliert. Sie hat die verschiedenen Risikomaterialien der Tiere aus der Nahrungsmittelkette genommen, das Jahr für Jahr weiter definiert und brillante
Kontrollen an den Schlachthöfen durchgeführt. Sie ist da
noch besser und weiter als wir; deshalb können wir von
ihr lernen. Nach circa zehn Jahren hat sie die Tötung auf
die Kohorten reduziert.
Sie werden mit mir übereinstimmen, dass die letzten
Monate seit dem 26. November letzten Jahres, als es den
ersten positiv getesteten BSE-Fall gab, nicht zehn Jahre
systematischer Arbeit sind. Deshalb war ich auch dort
zurückhaltend, weil ich glaube, dass man erst die
Schlachtvoraussetzungen schaffen muss, bevor man den
Verbrauchern sagen kann, dass wir das, was jetzt auf den
Markt kommt, verantworten können.
Aber ich bin mit Ihnen froh, wenn wir gemeinsam
sagen: Von der Schweiz zu lernen ist etwas Positives. Deshalb hoffe ich, dass Sie mit mir gemeinsam dafür kämpfen werden, dass im Bundesrat die Legehennenverordnung mit den Stimmen der F.D.P.-regierten Länder
durchkommt; denn von der Schweiz lernen heißt: keine
Eier aus Käfighaltung.
({0})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDSFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! So viel Übereinstimmung zwischen
Frau Künast und der F.D.P. macht mich schon stutzig,
({0})
vor allem, wenn ich mir die Politik der F.D.P. ansehe.
Beim Lesen des Agrarberichtes wird es den Landwirten die Tränen in die Augen treiben, aber natürlich keine
Freudentränen, sondern Tränen aus Wut. Was dort in
Worte gefasst ist, geht im großen Bogen an den Hauptsorgen der Bauern vorbei. Im letzten Agrarbericht war
Unternehmertum das Hauptanliegen, nun, nach BSE,
wird die Diskussion über eine Agrarwende überstrapaziert. Die Bauern wollen aber keine Kehrtwende hin zu
Strukturen aus Urgroßmutters Zeiten. Abgesehen davon,
dass die Bundesregierung Multifunktionalität und Nachhaltigkeit in der Nahrungsmittel- und Rohstoffproduktion bislang nicht ernst genug genommen hat, muss sich
Nachhaltigkeit für die Landwirte rechnen, aber auch der
Umwelt und den Verbrauchererwartungen Rechnung tragen.
Meine Damen und Herren von der Regierung, zugegeben, in Ihrem Bericht steht viel Positives. Aber die wirtschaftliche Situation vieler Landwirte ist so miserabel wie
nie zuvor, und zwar nicht nur aufgrund von BSE. Zu den
Fakten: Erstens. Der langjährige Abwärtstrend der Bruttound Nettowertschöpfung hält weiter an. Zweitens. Der
weitere Verfall der Agrarpreise konnte nicht gestoppt werden. Drittens. Die gesetzliche Verpflichtung aus dem
Landwirtschaftsgesetz wurde wiederum verfehlt. Viertens. Die Landwirtschaft wird weitgehend vom Agrarbusiness bestimmt. Fünftens. Der Differenzierungsprozess in den Agrarstrukturen geht weiter vonstatten.
Zur Unterlegung der Fakten Folgendes: Die Aussagen
zur Wertschöpfung in der Landwirtschaft vermitteln
mit einem Anstieg der Bruttowertschöpfung um 3,7 Prozent und der Nettowertschöpfung um 6,5 Prozent einen
sehr positiven Eindruck. Genauer betrachtet fand aber gar
kein echtes Wachstum statt. Der Anstieg der Bruttowertschöpfung ist ausschließlich auf die verringerte Inanspruchnahme von Vorleistungen zurückzuführen. Die
Nettowertschöpfung basiert auf gestiegenen Ausgleichszahlungen und Subventionen. Gleichzeitig wurden jedoch
30 000 Arbeitsplätze abgebaut.
Von einem Bericht der Bundesregierung erwarte ich
eine gründliche analytische Arbeit; denn nur im langjährigen Trend wird sichtbar, dass die Bruttowertschöpfung stagniert und die Nettowertschöpfung abnimmt. Mit
22,9 Milliarden DM liegt die Nettowertschöpfung immer
noch unter dem Niveau des Zeitraums von 1995 bis 1998.
Auch für den Berichtszeitraum bestätigt sich, was seit
Jahren als eine der Hauptursachen für die ungenügenden
Ergebnisse der wertmäßigen Reproduktion festgestellt
werden muss: Trotz einer gewissen Erholung vom Preisschock des Vorjahres auf dem Schweinefleischmarkt zeigt
die mehrjährige Entwicklung kein Ende der Preisschere.
Durch den Preisdruck wird der Konkurrenzdruck zunehmen. Höfesterben, Arbeitsplatzverlust, Billigarbeitsplätze, Produktionsintensivierung und Monokulturen sind
die Folgen. Viele Betriebe wirtschaften am Rand der einfachen Reproduktion oder leben gar von der Substanz.
Bereits seit Jahren weist die PDS auf die Gefahr hin,
dass der Preisdruck auf die landwirtschaftlichen Produzenten zum Unterlaufen von sozialen und gesundheitlichen Standards und ökologischen Anforderungen führt.
Die aktuellen Preissteigerungen für Lebensmittel resultieren weder aus einer Qualitätssteigerung noch aus mehr
Lebensmittelsicherheit und schon gar nicht aus noch
höheren Erzeugerpreisen. Schön wäre es, wenn beim
Bauern tatsächlich etwas mehr Einkommen über Erzeugerpreise ankäme. Aber die Bauern arbeiten mehr und
verdienen weniger. Das Landwirtschaftsgesetz wird nach
wie vor ignoriert. Ich frage mich: Wozu haben wir eigentlich Gesetze? Sie sind bestimmt nicht dazu da, dass sie
ständig unterlaufen werden.
Bei einer Neuausrichtung der Agrarpolitik muss der
gesamte Agrarindustriekomplex mit seinen inneren
Machtstrukturen auf den Prüfstand. Im vergangenen Jahr
gab es im Agrarbericht erstmals einen Abschnitt zum
Agrarbusiness. In diesem Agrarbericht ist er weggefallen.
Wahrscheinlich passt Agrarbusiness nicht zur Agrarwende. Somit gibt es aber keinerlei Aussagen über den
Konzentrationsgrad und die Gewinnerwirtschaftung in
der Nahrungsmittelindustrie und im Handel. Fakt ist aber:
Die Bauern sind, bezogen auf die Erwerbstätigen in der
gesamten Branche, nur zu einem Viertel an der Nahrungskette bis zum Verbraucher beteiligt.
({1})
Will man aber negative Wirkungen in der Kette einschränken, braucht man konkrete Analysen der ökonomischen Stellung der Partner und ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten. Deshalb unterstützt die PDS die Forderung
der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, sie in die
Lösung der Krise und Neugestaltung der Agrarpolitik einzubeziehen.
Im Agrarbericht werden die noch immer vorhandenen
spezifischen Probleme der Landwirtschaft der neuen Länder unzureichend widergespiegelt. Tatsächlich ist die leistungsfähige ostdeutsche Landwirtschaft so ausgebootet
worden, dass sie gegenwärtig nicht einmal die geringer
gewordene ansässige Bevölkerung ernährt. Bei Lieferrechten und Quotierungen sind die ostdeutschen agrarwirtschaftlichen Betriebe eindeutig diskriminiert. Der
Anteil ostdeutscher Betriebe an der Verarbeitung sieht
noch schlechter aus. Milch und Fleisch aus den neuen
Bundesländern werden größtenteils im Westen verarbeitet
und kommen dann als veredelte Produkte zurück.
Wettbewerbsfähigkeit und Strukturwandel sind
von der Politik national und EU-weit gewollt. Damit werden Betriebe gegeneinander ausgespielt. Das Preissegment ist das A und O aller Handlungserfordernisse in der
Region, in der Nation und auf dem Weltmarkt. Vergessen
Sie nicht, dass im Welthandel wie auf kaum einem anderen Gebiet Öko- und Sozialdumping ausgeprägt sind. Damit aber wird der nachhaltige Ansatz permanent unterlaufen. Die Bundesregierung sitzt im Grunde genommen in
der Liberalisierungsfalle, nämlich dann, wenn dieser Prozess nicht von Rahmenbedingungen in der gesamten
Branche sozial-ökologisch begleitet wird. Das jedoch
kostet den Bund und die Länder mehr Geld.
Die Gemeinschaftsaufgaben „Agrarstruktur und Küstenschutz“ sowie „Regionale Wirtschaftsstruktur“ müssen stärker verzahnt und vor allem aufgestockt werden.
Als ein gesellschaftliches Erfordernis ist dies nicht nur
dringend notwendig, sondern wird auch vom Steuerzahler
und Verbraucher akzeptiert.
({2})
Wenn man sich vor Augen hält, dass sich Minister
Scharping großzügig aus den Erlösen des Verkaufs von
Liegenschaften und Waffen bis zu einem Betrag von
2 Milliarden DM bedienen kann, dann lesen sich die
330 Millionen DM für die nächsten zwei Jahre für die
Neuausrichtung in der Landwirtschaft wie Peanuts.
({3})
Landwirtschaft hat nicht nur einen Preis, sondern vor allem auch einen gesellschaftlich anzuerkennenden Wert.
Ich hoffe, wir sind uns alle darin einig: Eine Neuausrichtung der Landwirtschaft darf nicht auf dem Rücken
der Bauern ausgetragen werden.
({4})
Die PDS fordert im Agrarbericht 2002 und in den Folgeberichten erstens, die Analyse der Einkommenssituation der Landwirte für alle Rechtsformen und einen
Einkommensvergleich mit anderen Berufsgruppen vorzunehmen, zweitens, regionale Analysen aus Bundessicht
zu erstellen, um die Fortschritte und Probleme bei der
Verwirklichung der angekündigten stärkeren Regionalisierung der Agrarwirtschaft bewerten zu können, drittens, die Entwicklung der Bedingungen und Leistungen
der multifunktionalen Landwirtschaft abzurechnen und
viertens, einen gesonderten Abschnitt zum Agrarindustriekomplex aufzunehmen, damit auch der politische Ansatz des „magischen Sechsecks der Agrarwende“ tatsächlich nachvollzogen werden kann.
Die Bauern in diesem Land können sich darauf verlassen, dass sich die PDS dafür einsetzt, dass die Neuausrichtung der Agrarpolitik nicht gegen die Interessen der
Bauern, sondern mit ihnen zusammen gestaltet wird. Ich
erwarte dies natürlich auch von der Bundesregierung.
({5})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Karsten
Schönfeld von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die erfreulichste Entwicklung gleich am Anfang: Die landwirtschaftlichen Betriebe
konnten im abgelaufenen Wirtschaftsjahr gegenüber dem
Vorjahr einen erheblichen Gewinnzuwachs verzeichnen,
unterschiedlich zwar je nach Rechtsform, aber in allen
Bereichen positiv, und das deutlich. Bei Einzelunternehmen waren es sogar 13,5 Prozent, bei Personengesellschaften und juristischen Personen waren es immerhin
7 Prozent. Ich denke, das ist sehr erfreulich, und das muss
an dieser Stelle festgestellt werden. Die Verluste aus dem
Vorjahr konnten damit mehr als ausgeglichen werden.
Hauptursache für den Einkommenszuwachs waren ein
deutlicher Anstieg bei den Schweinepreisen und höhere
Erlöse aus dem Getreideanbau.
Auch die Betriebe in der Rechtsform der juristischen
Person - meist eingetragene Genossenschaften in den
neuen Bundesländern - konnten ihre wirtschaftliche Situation verbessern. Rund 27 Prozent der betrieblichen
Aufwendungen dieser Unternehmen - das ist eine interessante Zahl - entfielen bei diesen Betrieben auf Löhne
und Gehälter. Diese Betriebe bilden weiterhin das Rückgrat in den ländlichen Regionen der neuen Bundesländer.
Im Vergleich der Bundesländer erzielten Marktfruchtbetriebe mit relativ geringem Arbeitskräftebesatz in
Mecklenburg-Vorpommern weiterhin das höchste Einkommen je Arbeitskraft. Die niedrigsten Einkommen
waren in Thüringen und in Sachsen zu verzeichnen. Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir gerade für
diese Betriebe, die in Regionen mit überwiegend benachteiligten Flächen liegen und die mit einem hohen Personalaufwand wirtschaften, weitere Verbesserungen erreichen.
Wir werden bei den anstehenden Reformen, auch in der
Frage der Modulation, dafür sorgen, dass es für diese Betriebe nicht noch zu weiteren Belastungen kommt. Wir
werden, wie es in unserem Entschließungsantrag formuliert ist, den Faktor Arbeitsplätze entschieden in die künftige Förderstruktur einbringen.
({0})
Die Aussage von Frau Bundesministerin Künast auf
dem Landesbauerntag in Sachsen-Anhalt, dass Belastungen aus der Modulation nicht einseitig zulasten der landwirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundesländern gehen werden, findet deshalb unsere volle Unterstützung.
({1})
Ich möchte es allerdings noch etwas deutlicher formulieren: Die einbehaltenen Gelder aus der Modulation
müssen in den jeweiligen Regionen bzw. im jeweiligen
Bundesland verbleiben.
({2})
So, denke ich, werden wir dort eine entsprechende Akzeptanz erzielen. Um das zu erreichen, wird sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für die Genehmigung weiterer modulationsfähiger Maßnahmen einsetzen.
Wir werden sie dabei unterstützen. Ich kann Sie von der
Opposition nur einladen, das ebenfalls zu tun.
Wenn wir zurückblicken, dann sehen wir, dass wir
einiges erreicht haben: Mit dem Beschluss zur
Agenda 2000 im Jahre 1999 sind die Rahmenbedingungen für die Land- und Ernährungswirtschaft der EU
einschließlich ihrer Finanzierung bis zum Jahre 2006 gelegt worden. Wir haben mit der zweiten Säule der Agrarpolitik jetzt ein gutes Instrument, um Betrieben zu helfen,
unabhängig von der landwirtschaftlichen Produktion zusätzliche Einkommen zu erwirtschaften. Wir haben darüber hinaus die nationalen Gestaltungsspielräume der
Agenda genutzt und die Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit der Betriebe gestärkt.
Heute stellt sich die Situation auf den Märkten deshalb
überwiegend positiv dar. Nur der Rindfleischmarkt - das
wissen wir - ist durch die BSE-Krise massiv unter Druck
geraten. Wir haben - das ist schon bei meinen Vorrednern
deutlich geworden - entschlossen gehandelt und Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung von BSE zu verhindern,
den Verbraucherschutz zu verbessern und zusätzliche Erkenntnisse über die BSE-Infektion zu gewinnen.
Wir Sozialdemokraten haben uns zum Ziel gesetzt, die
Krise als Chance zu begreifen. Wir haben uns von einer
klassischen Agrarpolitik verabschiedet, weil deutlich geworden ist,
({3})
dass sie die Probleme nicht lösen konnte. Wir sind auf
dem Weg hin zu einer Politik für sichere, gesunde Nahrungsmittel und hin zu einer umfassenden Politik für den
ländlichen Raum.
({4})
Die Erwartungen der Verbraucher an eine umweltgerechte Erzeugung gesunder Nahrungsmittel waren mit
den Mitteln der alten Agrarpolitik offensichtlich nicht
mehr zu erfüllen. Die BSE-Krise war für viele Verbraucherinnen und Verbraucher ein Anlass, ihr Konsumverhalten zu ändern. Auf diesem Gebiet hat ein Umdenkungsprozess begonnen. Die Verbraucherinnen und
Verbraucher sind heute nicht nur bereit, genauer hinzuschauen, was sie an der Ladentheke bekommen, sondern
sie sind auch bereit, dafür mehr Geld auszugeben. Sie
wollen sicher sein, dass die Lebensmittel umweltfreundlich und tiergerecht erzeugt worden sind. Das bietet auch
unseren Landwirten neue Chancen. Wir unterstützen unsere Betriebe dabei und setzen neue Schwerpunkte in der
Agrarpolitik.
Der Entwurf des Agrarhaushaltes sieht für das
Jahr 2002 Ausgaben in Höhe von über 11 Milliarden DM
vor. Trotz weiterhin notwendiger Konsolidierung des Gesamthaushaltes und trotz der Entlastung der Bürgerinnen
und Bürger durch die große Steuerreform ist es gelungen,
weitere Mittel im Einzelplan 10 für das Jahr 2002 in Höhe
von 150 Millionen DM und im Jahr 2003 in Höhe von
180 Millionen DM bereitzustellen.
Wir Sozialdemokraten haben immer darauf gedrungen, verstärkt Mittel für einkommenswirksame und
investive Maßnahmen bereitzustellen. Eine zentrale
Rolle in unserer Agrarpolitik spielt deshalb die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derAgrarstruktur und
des Küstenschutzes“. Die Mittel für diese Gemeinschaftsaufgabe werden wir deutlich anheben. Mit
1,845 Milliarden DM werden wir 2002 deutlich mehr
Mittel als in diesem Jahr zur Verfügung stellen. Wir ermöglichen den landwirtschaftlichen Betrieben so, die
Chancen zu ergreifen, die sich aus dem geänderten Konsumverhalten der Menschen ergeben. Wir stärken den
ökologischen Landbau und wir verbessern die Förderung
der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung ökologischer Erzeugnisse.
({5})
Durch das Agrardieselgesetz entlasten wir alle landwirtschaftlichen Betriebe weiter. Seit dem 1. Januar 2001
gilt ein fester Steuersatz von 57 Pfennig je Liter Dieselkraftstoff. Jetzt haben wir eine weitere Absenkung auf
50 Pfennig je Liter auf den Weg gebracht.
({6})
- Ein Vergleich mit Frankreich und den Niederlanden ist
nur dann sinnvoll, wenn man alle Bereiche miteinander
vergleicht. Man kann sich nicht immer nur die Punkte herausgreifen, die einem passen.
({7})
Im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe haben wir
neue Förderprogramme aufgelegt. Wir fördern die Erzeugung von Strom aus Bioenergie durch das Gesetz über den
Vorrang erneuerbarer Energien. Auch hier sichern wir den
Landwirten zusätzliche Einkommensquellen.
Wir stehen vor der großen Aufgabe, unsere Landwirtschaft für die Zukunft zu rüsten. Wir müssen die Ansprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher an die Gesundheit und die Unbedenklichkeit der Nahrungsmittel
ebenso erfüllen wie die einer naturnahen und tiergerechten Erzeugung der Lebensmittel. Gleichzeitig werden die
WTO-Verhandlungen ebenso wie die Osterweiterung der
Europäischen Union ohne jeden Zweifel zu weiterer Liberalisierung des Agrarhandels und zur Ausweitung des
internationalen Agrarhandels führen. Wir unterstützen unsere landwirtschaftlichen Betriebe, damit sie sich diesen
Herausforderungen erfolgreich stellen können.
Wir sind in der Agrarpolitik auf einem guten Weg. Die
Fakten des vorliegenden Agrarberichts sprechen eine andere Sprache als der von Ihnen hier aufgeführte Popanz.
Wer alles mies redet, braucht sich nicht zu wundern, wenn
niemand oder kaum mehr jemand - das hat der ansonsten
von mir geschätzte Kollege Deß in der gestrigen Ausschusssitzung gesagt - bereit ist, in der Landwirtschaft zu
arbeiten. Das hängt mit dem Popanz zusammen, den Sie
hier und auf Bauernversammlungen aufführen.
({8})
Sorgen Sie lieber dafür, dass die Landwirte auch in den
von Ihren Parteikollegen regierten Ländern erkennen,
dass Sie eine Zukunft haben! Dass die Bauern eine Perspektive haben, machen unsere Politik und der Agrarbericht deutlich.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort
hat jetzt der bayerische Staatsminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten, Josef Miller.
({0})
Josef Miller, Staatsminister ({1}): Herr Präsident!
Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundesministerin Künast fordert die Agrarwende und erläutert dazu
immer wieder, dass sie die deutsche Agrarpolitik in eine
Agrarumweltpolitik umwandeln wolle. Wenn sich diese
Agrarwende allerdings darin erschöpft, im vorliegenden
Agrarbericht die landwirtschaftliche Praxis erstmals mit
Ausdrücken wie „Tierquälerei“ und „Raubbau“ gezielt in
ein schiefes Licht zu rücken, und dazu führt, dass Ökoproduktion, die nach bisherigem deutschem Recht nur in
den Betrieben möglich ist, die ihre gesamten Flächen nach
Maßgabe ökologischer Grundsätze bewirtschaften, auch
in solchen Betrieben erlaubt sein soll, die nur einen Teil
ihrer Fläche ökologisch bewirtschaften, dann wissen unsere Bauern, aber auch unsere Verbraucher, was sie von
dieser Bundesregierung zu erwarten haben.
({2})
Mich macht die Dreistigkeit, mit der Sie Selbstverständlichkeiten als Erfolg verkaufen wollen, äußerst
nachdenklich. Sie sagen zum Beispiel: Die Agrarministerkonferenz hat einstimmig beschlossen. Ich muss Ihnen
sagen: Die Beschlüsse der Agrarministerkonferenz sind
immer einstimmig. Wenn die Beschlüsse nicht einstimmig gefasst würden, kämen sie gar nicht zustande. Beschlossene Selbstverständlichkeiten werden als Erfolg
gefeiert. Aber wie will derjenige, der wie die Regierungskoalition in der Frage der Modulation nicht einmal die
eigenen Agrarminister hinter sich bringt, jemals in
Brüssel Erfolg haben?
({3})
Die Bundesländer werden sich zwar dem Einbau von
mehr Umweltkompetenzen in die deutsche Agrarpolitik
nicht grundsätzlich widersetzen. Aber dies darf nicht zum
Ruin unserer Bauern führen. Der Staat hat schon aus
Gründen der Sicherung einer gesunden Ernährung und einer intakten Umwelt auch eine Fürsorgepflicht gegenüber
unseren Bauern. Wir können unsere Bauern nicht außen
vor lassen, so wie Sie das mit Ihrer Agrarpolitik tun.
Wer noch mehr Umweltkomponenten als bisher in die
Agrarpolitik integrieren will, muss es entweder in Brüssel
durchsetzen oder er muss es - wie wir das in Bayern tun durch eine entsprechende Leistungskonzeption ausgleichen.
({4})
Die Agrarberichte der letzten Jahre zeigen, dass die deutschen Bauern keine Zusatzbelastungen mehr ertragen
können.
({5})
Wenn Sie, Frau Bundesministerin, Agrarpreise mit Einkommen gleichsetzen und dabei die Produktionskosten
außen vor lassen, muss ich feststellen, dass es mit Ihrem
Sachverstand nicht weit her ist.
({6})
Unsere Bauern können die Modulation nach rot-grünem Muster nicht ertragen. Sie können sie deshalb nicht
ertragen, weil sie bei ihren schwierigen Einkommensverhältnissen - siehe Agrarbericht - überproportional belastet würden. Es macht doch keinen Sinn, den Bauern das
Geld aus der einen Tasche herauszuziehen, ohne es durch
einen entsprechenden Ausgleich in die andere Tasche
wieder hineinzustecken.
({7})
Das gilt insbesondere für die mittelbäuerlichen Betriebe,
die auf eine Unterstützung angewiesen sind.
({8})
Es gehört schon Mut dazu, sich hierher zu stellen und
zu sagen, die Bauern hätten günstige Produktionskosten,
nachdem die Preise für einen Liter Agrardiesel von
21 Pfennig auf 57 Pfennig angehoben wurden. Die folgende Reduzierung auf 50 Pfennig als Erfolg darzustellen
verlangt ebenso Mut, wenn man sieht, dass in Italien ein
Liter Agrardiesel 16,5 Pfennig kostet. Die Bauern lassen
sich nicht für so dumm verkaufen, wie Sie sich das vorstellen.
({9})
Das Gleiche gilt für die bereits geplante Förderung von
330 Millionen DM - auch in diesem Bereich ist in den
letzten Jahren gekürzt worden -, mit der Sie nun zusätzliche Umweltleistungen honorieren wollen.
Ich weiß, wovon ich rede. Wir haben in Bayern mit unserem Programm „2 000 - Leistungen für Land und
Leute“ bis zum Jahr 2006 800 Millionen DM jährlich für
Umweltleistungen im Agrarbereich aufgewandt. Zudem
hat Bayern mit einer Verbraucherinitiative für zwei Jahre
zusätzlich 600 Millionen DM bereitgestellt.
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Heidi Wright?
Josef Miller, Staatsminister ({0}): Nein, die Zeit
ist knapp.
Herr
Staatsminister, es wird nicht auf die Redezeit angerechnet.
Josef Miller, Staatsminister ({0}): Nein, ich gestatte trotzdem keine Zwischenfrage.
Zwei Drittel der Flächen in Bayern unterliegen besonderen Umweltauflagen. Als Ausgleich dafür erhalten die
Bauern 400 Millionen DM.
({1})
Wir handeln in unserem Zuständigkeitsbereich verantwortlich und warten nicht darauf, bis der Bund halbherzig
Maßnahmen einleitet, die wir schon längst eingeleitet haben. Ich wehre mich dagegen, wenn man jetzt so tut, als
hätte man mit der Agrarumweltpolitik erst ab diesem Jahr
begonnen.
({2})
- Ich kann Sie gerne über den bayerischen Weg informieren: Wir haben bereits 1970 Agrarumweltmaßnahmen in
einem eigenen Leistungsgesetz vorgesehen, um den Umbau der deutschen Agrarpolitik in eine Agrarumweltpolitik zu unterstützen.
({3})
Ich zitiere in diesem Zusammenhang Kommissar Fischler
aus „top agrar“, der von einem „wohlfeilen Wortgeklüngel“ gesprochen hat.
Ich weise darauf hin: Wenn Sie Ihre Politik so fortsetzen, wie Sie sie begonnen haben, verschlechtern Sie die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Bauern ganz erheblich.
Tun Sie was, damit unsere Bauern im Wettbewerb in Europa bestehen können, und schwächen Sie nicht unsere
Landwirtschaft!
({4})
Sie haben bisher in Brüssel keine Bündnispartner gefunden. Mich wundert das nicht. Auch EU-AgrarkomStaatsminister Josef Miller ({5})
missar Fischler, einer der Väter der Agrarsozialpolitik in
Österreich, äußert sich ziemlich skeptisch. Darüber hinaus konzentrieren sich die Aktivitäten der Bundesregierung zu wenig auf die zentralen Belange der Landwirtschaft und der Ernährungswirtschaft in Deutschland.
Allein die Förderung von mehr Ökoproduktion ist zu wenig; denn wir sind für die Ernährung von 100 Prozent unserer Mitbürger und für 100 Prozent unserer Bauern verantwortlich und nicht nur für 3, 10 oder 20 Prozent.
({6})
Mir fehlen vor allem folgende Ansätze:
Erstens. Erforderlich sind hinreichend konkrete Vorschläge für Maßnahmen zur Weiterentwicklung der gemeinsamen Agrarpolitik im Hinblick auf „mid term
review“, WTO-Verhandlungen, Osterweiterung sowie
Vorschläge zur Ausweitung der Kofinanzierung in der
Agrarpolitik.
Zweitens. Wir brauchen eine starke Vereinfachung des
Fördersystems. Was Sie im Rahmen der Modulation machen - das haben Ihnen die Kollegen schon gesagt -, ist
undurchführbar.
Drittens. Es fehlen hinreichende Maßnahmen zur Erschließung des Non-Food-Marktes und des Dienstleistungsmarktes.
Viertens. Wir brauchen eine Reform des Marktstrukturrechts als effektive Voraussetzung für die Entwicklung transparenter, geschlossener Produktlinien.
Fünftens. Überfällig ist eine Novellierung des Landwirtschaftsgesetzes des Bundes mit dem Ziel der Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Einkommenssicherung und der Festlegung ökologischer Komponenten.
Sechstens. Erforderlich ist die Zusammenfassung des
Agrarfachrechtes in einem Agrargesetzbuch.
Siebtens. Wir brauchen die Einführung der Kohortenkeulung.
Zur Neuorientierung der Agrarpolitik auf der Ebene
der Europäischen Union muss Deutschland sein ganzes
Gewicht in die Waagschale werfen. Als Hauptfinanzier
der Europäischen Union darf es Deutschland nicht zulassen, dass eine Wende in der Agrarpolitik auf dem Rücken
der Bauern und am Ende auf Kosten und zulasten unserer
Verbraucher ausgetragen wird. Wenn die Agrarpolitik so
fortgesetzt wird, wird die Zahl der Landwirte drastisch
zurückgehen. Die Folgen haben die Verbraucher zu tragen.
({7})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Neuerungen,
für die Bayern von Ministerin Künast gelobt wurde, nicht
auf Ihrem Mist gewachsen sein können, Herr Miller. Ich
hatte Verständnis dafür, dass sich die Staatsregierung dazu
entschlossen hatte, einen Verbraucherschutzminister
Sinner einzusetzen. Aber der bayrische Weg, den Sie verfolgt haben, hat doch nur dazu geführt, dass es in Bayern
die meisten BSE-Fälle gibt - ein Skandal -, wie die für
Bayern desaströsen Ergebnisse von Kontrollen der EUKommission zeigen.
({0})
Sie sind nicht der Protagonist einer zukunftsfähigen
Landwirtschaft. Aber Sie können ja noch dazulernen.
({1})
Heute stimmen wir im Bundestag über Anträge bezüglich einer Agrarreform ab. Es soll eine neue Verbraucherschutz- und Agrarpolitik geben. Der Bundestag fordert die
Bundesregierung auf, die Modulation einzuführen. Herr
Minister Miller, damit gibt der Bundestag der Ministerin
Künast die notwendige Rückendeckung, um dieses Instrument einzuführen. Es ist der politische Wille nicht nur
der Grünen, sondern auch der Koalitionsfraktionen, der
Bundesregierung und der Gesellschaft, die Modulation
und weitere Elemente der Neuausrichtung der Agrarpolitik einzuführen.
Die Notwendigkeit, dieses Instrument einzuführen, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass das bisherige System
schlicht und ergreifend nicht mehr finanzierbar ist, dass die
Osterweiterung im Jahre 2004 ansteht und dass es daher
eine Neuorientierung geben muss, die gerade im Bereich
der finanziellen Förderung ansetzt. Dieses bisherige System ist auch nicht mehr haltbar, weil im Rahmen der WTOVerhandlungen - das ergab sich auch schon im Rahmen der
Uruguay-Runde - Bedingungen gestellt wurden, die bewirken, dass das alte System nicht mehr aufrechterhalten
werden kann. Es gibt also eine unabweisbare Notwendigkeit, in Deutschland eine Neuausrichtung vorzunehmen.
Der Agrarbericht zeigt auch, dass die in einigen Punkten beklagenswerte Situation der landwirtschaftlichen Betriebe durch die Politik der alten Bundesregierung verursacht wurde. Dies zeigt sich vor allem an der hohen Zahl
sterbender Betriebe.
({2})
Wir brauchen neue Perspektiven und auch eine Politik,
die verhindert, dass es weitere kontraproduktive Fehlallokationen
({3})
im Bereich der Agrarförderung gibt, zum Beispiel ein
Durchreichen der Fördermittel an die Grundstückseigentümer. Das Eigentumsrecht ist in Ordnung. Aber es
Staatsminister Josef Miller ({4})
muss doch keine staatlich subventionierte Förderung von
Landeigentum geben, wie die F.D.P. es will.
Es kommt also notwendigerweise zu einem Abbau der
Garantiezahlungen. Daher sind wir alle in der Verantwortung. Das betrifft auch die Opposition. Das betrifft vor
allem die Bundesländer, die an diesem Prozess und an
dem Instrument der Modulation konstruktiv mitwirken
müssen;
({5})
denn sonst werden gerade die Elemente, die von den Ländern gefordert werden, nicht installiert werden können.
Das geht nur bei entsprechender Mitwirkung.
Ich will einen Satz zu der 90-Tier-Grenze sagen. Ich
bin sehr dafür, Elemente, die Arbeitsplätze fördern, einzuführen. Ich schlage vor, noch einmal darüber zu diskutieren, ob man es gerade im Bereich Bullen machen sollte,
in dem es eine sehr geringe Verbindung zu dem Arbeitskräftebesatz gibt. Man sollte überlegen, dies im Bereich
der Einnahmeseite der Modulation zu machen. Zumindest
geht das und ist sicherlich überlegenswert.
Das bisherige System hat keine Akzeptanz. Die neue Politik muss die Anforderungen der Gesellschaft erfüllen.
Dazu gehören Lebensmittelsicherheit und -qualität, Tierschutz, Kulturlandschaftspflege und natürlich auch Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze. Dazu bedarf es einer Strategie, die wir entwickeln müssen, was in der Vergangenheit
leider nicht geschehen ist.
({6})
Es ist schon richtig: Verbote und reine Ordnungspolitik
sind Elemente, die auch Abwanderung - beispielsweise im
Bereich der Tierhaltung - zur Folge haben können und daher mit anderen Maßnahmen verbunden werden müssen.
Die Grenzen dicht zu machen, wie die CSU es immer
wieder fordert, geht nicht. Daran denkt niemand. Übrigens ist der letzte Punkt in dem Antrag der CDU/CSU
wieder so ein Punkt, der im Rahmen der internationalen
Politik überhaupt nicht zu realisieren ist.
Hingegen ist es möglich - darauf setzen wir hauptsächlich -, die Verbraucher für die neue Politik zu gewinnen
und Anreize für neue Produktionsverfahren zu schaffen.
Für diese Politik braucht man Konzepte, die die Bundesregierung liefert, und man braucht Geld, und zwar einerseits aus der Modulation und andererseits aus dem
Bundeshaushalt. Hier ist das passiert, was Renate Künast
gesagt hat. Sie hat nämlich erreicht, dass der Bundesfinanzminister für Investitionen in die Neuausrichtung
Mittel in einem Rahmen zur Verfügung stellt, den man
angesichts der erforderlichen Konsolidierung des Bundeshaushalts nur als riesigen Erfolg und riesige Unterstützung für die Politik der Landwirtschafts- und Verbraucherministerin werten kann.
Unsere Neuausrichtung der Agrar- und Verbraucherpolitik basiert auf vier Säulen. Eine Säule ist: Verbraucherschutz, Transparenz und Lebensmittelsicherheit.
Eine andere ist, im Bereich der konventionellen Produktion die Wettbewerbsfähigkeit für umwelt- und artgerechte Produktion zu verbessern. Der Ökolandbau soll als
eine der vier Säulen gefördert werden. Eine weitere Säule
ist, neue Perspektiven im Bereich der erneuerbaren Energien zu straffen.
Ich will nur zu zwei Punkten etwas sagen, und zwar
zunächst zum Bereich Verbraucherschutz und Transparenz: Diejenigen, die sich jetzt hier hinstellen und die Ministerin und uns anklagen, BSE-Schutzmaßnahmen
durchgeführt zu haben, Herr Heinrich, sind genau die Rattenfänger, die vorher gesagt haben, BSE-Maßnahmen
seien gar nicht nötig, Deutschland sei BSE-frei.
({7})
Dass der Tierschutz als Vorwand für die Beendigung der
Seuchenbekämpfungspolitik in Fällen von für Menschen
gefährlichen Krankheiten genommen wird, ist etwas, was
ich nicht unterstützen möchte.
Der andere Punkt ist folgender: Sie fordern - die Ministerin hat es schon erwähnt - eine Unterstützung des
ökologischen Landbaus. Das ist im Bereich des Ökosiegels bereits realisiert worden und es gibt einen Aktionsplan für den ökologischen Landbau.
Durch die vielen Elemente, die in den sechs Monaten,
die die Ministerin im Amt ist, bereits realisiert worden
sind, hat die Bundesregierung mehr Reformen durchgeführt, als es in der gesamten Regierungszeit der alten Bundesregierung der Fall gewesen ist, Reformen, die wirklich
in dem Sinne sind, wie Verbraucher, Steuerzahler, Tierschützer und die Menschen in diesem Lande sich Verbraucherschutz und Agrarpolitik wünschen.
Danke.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Peter Harry Carstensen,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der
Debatte hat mir bisher ein Wort von Uli Höfken am besten
gefallen: die kontraproduktive Fehlallokation. Ich stelle
mir gerade vor, ich verwendete diesen Begriff in meinem
Wahlkreis; insoweit wäre ich dankbar, wenn man mir die
Bedeutung dieses Begriffes erklärte und vielleicht noch
eine plattdeutsche Übersetzung mitlieferte. Ich weiß
nicht, was es ist, und weiß noch nicht einmal, ob ich es
richtig geschrieben habe; aber es hörte sich zumindest
gut an.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will aus
meinem Herzen keine Mördergrube machen und habe
auch nicht vor, vielen Dingen hinterherzulaufen, die in der
Agrarpolitik von manchen Seiten vorgetragen werden.
({1})
Ich nehme zu einigen Punkten Stellung, die von Ihnen,
Frau Ministerin, und von der Frau Kollegin Wolff angesprochen worden sind.
Sie haben davon gesprochen, Frau Ministerin, dass die
Einkommenslage in der Landwirtschaft gut sei. Sicherlich
gibt es bei Milch gute Ergebnisse und bei Schweinen dadurch, dass nicht mehr so viel Rindfleisch verzehrt wird,
ebenfalls. Bei Getreide wissen wir es noch nicht, weil die
Ernte noch aussteht. Aber ich sage Ihnen auch, dass wir
bei denjenigen extrem schlechte Ergebnisse haben, die
Rindfleisch produzieren. Sie haben nichts davon, dass es
in anderen Bereichen gute Ergebnisse gibt.
Dies führt ebenso wie Ihre Politik und die Unsicherheiten, die diese Politik verursacht, dazu, dass mir zum
Beispiel der größte Landmaschinenhändler in SchleswigHolstein sagte, dass er in diesem Jahr 33 Prozent weniger
Schlepper verkauft habe. Das bedeutet, dass aus der
Landwirtschaft heraus keine Investitionen getätigt werden.
({2})
- Matthias, ‘n büschen zuhören, min Jung! Das hast du
früher zu deinen Jungs auch immer gesagt, als du noch
Lehrer warst.
({3})
Das hat mit der Stimmung in der Landwirtschaft und der
Unsicherheit zu tun, die von dieser Politik ausgeht; die
Landwirte wissen nämlich nicht genau, wohin die Reise
geht.
({4})
Mehrere Wenden in einem Jahr führen dazu, dass die
Leute nicht mehr wissen, in welche Richtung es geht.
Sie haben vorhin gesagt, von der Schweiz lernen, heiße - - Ich weiß nicht mehr genau, was es war.
({5})
- Legehennen, richtig. Von der Schweiz lernen, heißt aber
auch, Eier zu importieren lernen.
({6})
Das bedeutet, keine Produktion mehr im eigenen Land zu
haben, sondern sie aus dem Land hinauszujagen.
({7})
Frau Ministerin, Sie und auch Uli Höfken haben ein
Defizit bei den Tiermehlkontrollen in Bayern angesprochen. Nun will ich mich dazu nicht äußern. Ich glaube nur,
dass dann, wenn die Kommission - das wissen Sie - woanders kontrolliert hätte, die Ergebnisse wesentlich
schlimmer ausgefallen wären.
({8})
- Nein, ich sage dazu noch etwas. - Deswegen halte ich
es für unfair, bei diesem Punkt immer auf Bayern einzuschlagen.
({9})
In Schleswig-Holstein gab es bis 1996 zwei Futtermittelkontrolleure. 1996 wurde einer pensioniert oder war
auf Dauer krank; die Stelle wurde nicht wieder besetzt.
Im schleswig-holsteinischen Haushalt waren für die Futtermittelkontrolle 360 000 DM veranschlagt. Von dieser
Summe wurden im Jahre 2000 35 000 DM ausgegeben,
davon 30 000 DM für Bodenproben. Angesichts dieser
Tatsache ist es nicht fair, Bayern den schwarzen Peter
zuzuschieben und zu sagen, dort sei es besonders
schlimm.
({10})
Frau Ministerin, Sie haben die Luxemburger Beschlüsse zum Thema Tiermehlverfütterungsverbot gelobt.
Ich zitiere dazu die „FAZ“:
({11})
Die Sitzung in Luxemburg war noch keine drei Stunden alt, da hatte die Verbraucherschutzministerin
Renate Künast schon drei Abstimmungsniederlagen
hinnehmen müssen.
Im Weiteren wird geschrieben, dass das beim Mehrheitsprinzip des Öfteren vorkomme. Aber dass sich ein
Vertreter der Bundesregierung gleich bei drei wichtigen
Gesetzesvorlagen eine Abfuhr für seine Änderungswünsche holt und ein nutzloses Nein zu Protokoll geben muss,
das kommt nicht alle Tage vor.
Besonders schwer wiegt für Frau Künast die Niederlage in den Verhandlungen über das Tiermehlverbot.
Schließlich ist das auch eine Schlappe für Bundeskanzler
Gerhard Schröder. Nun kann man natürlich fragen, wie
und warum sie entstanden ist. Frau Ministerin, diese Niederlage ist auch ein Zeichen dafür, dass der Stellenwert
der deutschen Position im Agrarministerrat nicht mehr der
gleiche wie früher ist,
({12})
als wir CDU-Landwirtschaftsminister hatten, aber auch
nicht mehr der gleiche wie in der Zeit, als Karl-Heinz
Funke noch Minister war. Es ist schon ein besonderer
Vorgang, dass bei Abstimmungen in diesem Agrarministerrat ohne Skrupel und ohne Zögern über deutsche Positionen hinweggegangen und abweichend davon abgestimmt wird. Frau Ministerin, darüber sollten Sie sich
Gedanken machen.
Ich finde es auch sehr bemerkenswert, dass Sie es nicht
für nötig hielten, bei der Debatte zum Tiermehlverfütterungsverbot die Diskussion über die Tierfette einzubringen. Frau Ministerin, Sie sagten gerade, Verbraucherschutz bedeute für Sie, dass nur gesundheitlich
vertretbares Fleisch in die Nahrungsmittelketten hinein
Peter H. Carstensen ({13})
gebracht werde. Wenn wir insoweit über Wettbewerbsfähigkeit sprechen, dann muss man sich fragen, ob es für
Sie vertretbar ist, dass Milchaustauscher mit bei uns verbotenen Fetten in Holland und anderen Ländern eingesetzt werden können und anschließend die Kälber bei uns
auf den Markt kommen und bei uns gemästet werden können.
Man muss sich ferner fragen, ob es für Sie vertretbar
ist, dass die Diskussion über Fischmehl in anderen Ländern in völlig anderer Weise als bei uns geführt wird,
dass Rindfleisch bei uns getestet wird, sobald die Rinder
24 Monate alt sind, während in anderen Ländern lediglich das Fleisch von 30 Monate alten Rindern getestet
wird oder überhaupt nichts geschieht, und dass wir immer noch argentinisches bzw. südamerikanisches Rindfleisch bekommen, das überhaupt nicht getestet ist, obwohl wir wissen, dass gegen Maul- und Klauenseuche
geimpft wird, sodass wir den Verbrauchern eigentlich
sagen müssten, dort gelte ein anderer Standard als bei
uns.
({14})
Frau Ministerin, Sie haben mit Stolz vermerkt, dass
Sie mehr Geld im Haushalt haben. Sie haben aber auch
viel mehr Aufgaben bekommen. Wenn ich das Mehr an
Aufgaben in Ihrem Ministerium dem Mehr an Geld
gegenüberstelle, dann ergibt sich daraus aber, dass Sie
weniger Geld für die Agrarpolitik und für unsere Bauern
zur Verfügung haben, wenn Sie die zusätzlichen Aufgaben erfüllen wollen. Das müssen Sie den Bauern aber
auch sagen.
({15})
Sie haben erwähnt, dass die 1,8 Milliarden DM für die
Gemeinschaftsaufgabe ein für Sie ganz wichtiger Posten
sind. Ich halte die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für eine ganz
wesentliche Aufgabe. Aber Sie müssen dann auch sagen,
was die Länder mit diesem Geld machen, ob sich die Länder überhaupt an den Ausgaben für die Gemeinschaftsaufgabe beteiligen und ob diese Ausgaben auch in Ihrem
Sinne sind.
({16})
Ich erinnere daran, dass Schleswig-Holstein im letzten
Jahr von den reichlich 90 Millionen DM, die es aus der
Gemeinschaftsaufgabe erhalten hat, 9,3 Millionen DM
nicht ausgegeben hat.
({17})
Rechnet man zu diesen 60 Prozent die 40 Prozent Landesmittel hinzu, ergeben sich Zuschüsse in Höhe von
15 Millionen DM für die Landwirtschaft, meinetwegen
auch für die Umstrukturierung der Landwirtschaft. Aber
nichts davon ist ausgegeben worden.
({18})
Weil wir immer davon sprechen, dass die Agrarwende
dazu führen soll, dass wir mehr ökologischen Landbau bekommen,
({19})
erinnere ich auch daran, Frau Ministerin, dass in diesem
Bereich ebenfalls einige Ausgaben vorgesehen sind.
Schleswig-Holstein hat für die Förderung des ökologischen Landbaus im letzten Jahr 930 000 DM ausgegeben.
({20})
Dagegen hat der Freistaat Bayern - lieber Kollege
Weisheit, Sie werden das sicher gleich lobend erwähnen für die Förderung des ökologischen Landbaus 44 Millionen DM ausgegeben. Das sind Zahlen, die sich sehen
lassen können!
({21})
Herr Minister Miller sprach Geld für Naturschutzaufgaben an.
({22})
- Nein, mein Lieber, das glaube ich nicht. Nehmen Sie das
erst einmal so hin. Warten Sie, bis der nächste Vergleich
kommt.
Bis vor einigen Jahren gab es die Richtlinie 2078 der
Europäischen Union. Diese Richtlinie beinhaltete, dass
man Geld für Umweltmaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft ausgeben konnte, Herr Minister Miller. In Bayern, in Baden-Württemberg und - um nicht nur die westdeutschen Länder zu nennen - in Sachsen
({23})
- bei Thüringen weiß ich es im Moment nicht - sind über
400 DM je Hektar ausgegeben worden. In Schleswig-Holstein wurden 31 DM pro Hektar ausgegeben,
({24})
in Niedersachsen 29 DM pro Hektar. Stellen Sie sich bitte
nicht hier hin und sagen, Sie wollten eine Agrarwende,
sondern sagen Sie das erst einmal Ihren roten und grünen
Freunden, damit sie das machen, was sie bei Ihnen machen können.
({25})
Herr Kollege Carstensen, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr
Präsident, ich habe es schon gemerkt. Ich konnte meine
fantastisch vorbereitete Rede zur Seite legen.
({0})
Ich glaube, es war notwendig, auf einige Punkte hinzuweisen.
Peter H. Carstensen ({1})
Frau Ministerin Künast, hier hat niemand etwas gegen
ökologischen Landbau.
({2})
Der ökologische Landbau verzeichnet einen Boom. Viele
haben aber etwas dagegen, dass dieser Boom zusätzlich
unterstützt wird und dass dieser dazu führt, dass 97 bis
98 Prozent unserer Landwirte durch Äußerungen, wie Sie
sie im „Stern“ gemacht haben, diskreditiert werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Als
nächster Redner hat der Kollege Matthias Weisheit von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Das lief mal wieder
so ab, wie es zu erwarten war.
({0})
Als ich den Antrag der F.D.P.-Fraktion gelesen habe, habe
ich mich gewundert. Der Kollege Heinrich brennt hier ein
Feuerwerk an Negativäußerungen über die Regierung und
die Koalition ab;
({1})
dies geht beim Kollegen Miller nahtlos weiter.
({2})
Bei den Kollegen Carstensen und Ronsöhr habe ich ohnehin nichts anderes erwartet. Ganz am Schluss kommt in
Ihrer Rede eine Auflistung all der Forderungen Ihres Antrages, die wir, seit wir an der Regierung sind, in Brüssel
umzusetzen versuchen.
({3})
- Natürlich. - Diese wurden vorher niemals angegangen.
Erst einmal muss alles niedergemacht werden, um danach
flugs dieselben Forderungen zu stellen,
({4})
um dabei gewesen zu sein, weil Sie genau wissen, dass
das, was die Regierung als Agrarwende bezeichnet - ich
bezeichne es eher als Neuorientierung der Agrarpolitik -,
in Brüssel und bei uns durchgesetzt werden kann. Da können Sie schreien und lamentieren, soviel Sie wollen.
({5})
Dieser Agrarbericht bietet die Chance dazu, das zu tun,
was die Opposition gemacht hat. Er bietet aber auch die
Chance, ein wenig in die Zukunft zu blicken.
({6})
Die BSE-Krise und die anschließenden öffentlichen
Diskussionen um BSE haben deutlich aufgezeigt, dass es
eine riesige Diskrepanz gibt zwischen dem, was sich eine
große Mehrheit der Bevölkerung und der Verbraucher unter landwirtschaftlicher Lebensmittelproduktion vorstellt,
und den Erwartungen, die sie an die Landwirtschaft hat,
sowie der Realität. Diese Diskrepanz ist durch BSE das
erste Mal sehr deutlich geworden. Daraus gilt es Konsequenzen zu ziehen. Ich will nicht darüber philosophieren,
welche Gründe diese Diskrepanz hat und wer dafür Verantwortung trägt. Tatsache ist, dass wir die Agrarpolitik in
der Zukunft so gestalten müssen, dass die Verbraucherwünsche nach höchster Sicherheit der Lebensmittel erfüllt werden und dass die Produktionsprozesse vor allem
in der Tierhaltung und der Fütterung den ethischen Maßstäben genügen, die in der Bundesrepublik nun einmal
höher sind als anderswo. Dies gilt auch für die Tierschutzmaßstäbe. Das bedeutet, es darf in Zukunft kein
Tiermehl mehr im Futter geben.
Wenn Sie den Erfolg, dass nicht am 30. Juni dieses Jahres, sondern erst am 31. Dezember des nächsten Jahres
wieder neu über das Tiermehl geredet wird und sein Einsatz bis dahin verboten bleibt, auch mithilfe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ - was soll sie auch anderes
schreiben, es ist schließlich Ihre Zeitung ({7})
niederreden wollen, dann tun Sie genau das, was Sie auch
gegenüber den Bauern immer tun: Sie malen Schwarz und
sagen, es gehe nicht mehr schlimmer. Sie behindern damit
jeglichen Fortschritt und jegliche Zukunftsorientierung.
({8})
Herr Kollege Weisheit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?
Nein, ich mag heute
nicht. - Es darf, wie gesagt, um diesen Verbraucherwünschen gerecht zu werden, kein Tiermehl mehr im Futter
geben, und zwar auch über 2003 hinaus nicht. Dafür werden wir uns einsetzen. Ich bin mir sicher, dass wir das
auch durchsetzen.
({0})
- Nicht „oh, oh“, sondern da bin ich mir sicher, Uli.
Es muss eine offene Futtermitteldeklaration geben und
eine Positivliste verbindlich werden. Die Antibiotika
müssen verschwinden, und zwar früher als 2005. Wenn
man im Wissen darum, wie langsam sich die Schnecke EU
bewegt, früher damit angefangen hätte, mit Nachdruck
auf EU-Ebene zu verhandeln, dann wären wir vielleicht
heute schon so weit. Aber es ist eben erst recht spät damit
begonnen worden. Dass inzwischen unsere Bauern - das
hat die Waltraud eben schon gesagt - als Marktwirtschaftler schon selber darauf verzichten, ist doch hervorragend. Dann müssen wir das nur noch für die anderen
verbieten. Wir können mit einem deutschen bzw. regionalen Qualitätssiegel unsere Produktion zertifizieren und
Peter H. Carstensen ({1})
erreichen dadurch einen Wettbewerbsvorteil für die Betriebe. Auf diesem Weg befinden wir uns.
Die Tierhaltungsformen müssen den hohen Ansprüchen der Bevölkerung gerecht werden. Eine gegliederte Kulturlandschaft, die Pflege von Natur, die Sorge
für Artenvielfalt und sauberes Wasser und ein möglichst
geringer Einsatz von Chemie sind weitere Ansprüche der
Gesellschaft, denen Agrarpolitik stärker als bisher gerecht
werden muss. Zukünftig gilt es, hierfür Geld auszugeben.
Der „mid term review“ der EU-Agrarpolitik bietet hierfür
eine große Chance, die ja nicht unbeträchtlichen Steuermittel der EU endlich dafür zu verwenden, gesellschaftlich gewollte Leistungen der Landwirtschaft und nicht
wie bisher Produkte angemessen zu entlohnen.
Die bisherige Logik des Preisausgleichs führte doch zu
dem auch sozialpolitisch unverträglichen Zustand, dass
diejenigen Landbewirtschafter - ich wähle das Wort mit
Absicht - mit den besten Böden und den günstigsten
Strukturen den Löwenanteil der Ausgleichszahlungen
kassierten. Das ist die Fehlallokation, Peter Harry, von der
die Rede war. Für die Bewirtschaftung der besten Böden
mit den günstigsten Voraussetzungen und dem niedrigsten
Aufwand bekommt man die höchsten Ausgleichszahlungen. Das ist die bisherige Praxis der EU-Agrarpolitik. Genau die muss geändert werden.
({2})
- Das ist so.
({3})
- Natürlich. Diejenigen, die unter schwierigsten Bedingungen - zum Beispiel bei uns im Allgäu, Herr Minister
Miller, oder im Bayerischen Wald - Kultur- und Erholungslandschaften pflegen und damit eine sehr wichtige
und gesellschaftlich gewollte Leistung erbringen, bekommen von der EU nur die Brosamen, die übrig bleiben, und
vom Land nur dann etwas drauf, wenn es sich das leisten
kann - es ist schön, dass Bayern es sich leisten kann.
Letztendlich muss es zum Grundprinzip werden, dass die
EU-Milliarden für diese Leistungen und nicht mehr für an
die Produktion gekoppelte Ausgleichszahlungen ausgegeben werden.
Die zweite Säule der Agenda stellt einen ersten Schritt
in diese Richtung dar, sie muss aber weiter ausgebaut werden, da sie bisher zu knapp ausgestattet ist. Es gibt viel zu
viele bürokratische Hemmnisse, um diese Idee umzusetzen. Das trifft auch auf die Modulation zu, die wir
heute mit unserem Antrag beschließen werden. Wenn aber
so viel Bürokratie von Brüssel verlangt wird, ist das ungeheuer schwierig. Deswegen wird sich auch die Summe in
Grenzen halten, die wir für die Modulation einsetzen können. Selbstverständlich muss da in Brüssel noch einiges
bewegt werden, um hier Lockerungen zu erreichen und andere Schwerpunkte zu setzen. Die Bundesregierung und
wir als Fraktionen arbeiten aber daran, indem wir in Gesprächen mit unseren Kollegen in Frankreich, Großbritannien und Dänemark über diese Probleme versuchen, eine
Veränderung der Einstellung hinzubekommen.
({4})
Jetzt muss ich einmal nachschauen, was ich sagen
wollte.
({5})
- Nein, jetzt reizt ihr mich aber gewaltig. - Ich möchte
noch etwas zu dem Problem der Kulturlandschaftspflege, die zu entlohnen ist, sagen. Das wird bisher immer
als ein Punkt angesehen, der eigentlich nicht notwendig
ist, und man sagt: Über den Preis für die Produkte wird
das Einkommen erzielt und das andere geht nebenbei.
({6})
- Hier stimme ich mit euch ausdrücklich überein, Uli
Heinrich,
({7})
aber eure bisherige Politik hat dem natürlich nicht entsprochen.
({8})
- Weil sie nicht vorbereitet war.
({9})
- Jetzt rede nicht so daher. - Die Agenda 2000 war ein
Einstieg - das habe ich gerade gesagt - und es muss noch
viel weiter gehen.
({10})
- Wir konnten es gar nicht vorbereiten. Ihr wart vorher in
der Regierung. Die war nicht vorbereitet. Eure Regierung
hat dafür gesorgt, dass anstatt einer Gründlandprämie
diese sinnlose Silomaisprämie wieder eingeführt worden
ist. Das ist die Wahrheit im Zusammenhang mit der
Agenda 2000.
({11})
- Hör doch endlich einmal auf damit.
({12})
- Nein, wir waren erst kurz an der Regierung, als wir das
verhandelt haben. Ihr habt sie nicht vorbereitet. Das ist der
springende Punkt.
({13})
Jetzt zwingt ihr mich aufgrund eurer Zwischenrufe,
zum Schluss zu kommen.
Nun sind wir an der Regierung. Die Regierung und die
Fraktion bereiten diesen „mid term review“ auf allen Ebenen hervorragend vor. Wir werden dafür sorgen,
({14})
dass die EU-Milliarden und das Steuergeld in Zukunft für
gesellschaftlich gewollte Leistungen der Landwirtschaft
und nicht für Produkte ausgegeben werden.
({15})
Dann brauchen das die Länder auch nicht mehr in dem
großen Maße wie bisher zusätzlich zu finanzieren, sondern dann wird das aus der EU-Kasse finanziert.
Da ihr immer so auf Bayern und Baden-Württemberg
abfahrt, möchte ich jetzt noch auf einen Punkt zu sprechen
kommen. Vorhin wurde der Strukturwandel bejammert.
Woran liegt es denn, dass Baden-Württemberg und Bayern heute dieses Geld ausgeben können? Das liegt daran,
dass in den vergangenen 20 Jahren in der Gesamtwirtschaft dieser beiden Länder ein massiver Strukturwandel
hin zum Guten stattgefunden hat.
({16})
Wenn der nicht stattgefunden hätte, dann wären die Länder noch heute Empfängerländer. Genauso ist es. Deswegen muss Strukturwandel auch in der Landwirtschaft
stattfinden.
Herzlichen Dank.
({17})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Peter
Harry Carstensen.
Herr
Präsident! Erstens. Ich kann auch andere Zeitungen zitieren. Wenn es der Kollege Weisheit gerne möchte, zitiere
ich aus dem „Spiegel“, der nun wirklich nicht die Zeitung
der CDU ist.
Zweitens. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Erklärung, was die kontraproduktive Fehlallokation ist.
Drittens, sage ich aber, Kollege Weisheit, ist es nicht
richtig, dass derjenige mit den besten Böden und der besten Struktur die meisten Flächenprämien bekommt. Die
Flächenprämien waren Preisausgleichszahlungen und
wurden nach dem durchschnittlichen Ernteertrag berechnet. Ich kann dazu feststellen, dass zum Beispiel in
Schleswig-Holstein die Flächenprämie nach einem
Durchschnitt von 72 Doppelzentner berechnet wird. Diejenigen, die gute Böden und gute Strukturen haben sowie
einen guten Ertrag etwa von 100 Doppelzentner erwirtschaften, bekommen wesentlich weniger und diejenigen,
die schlechte Böden und schlechte Strukturen haben, bekommen wesentlich mehr. Insofern ist das, was Sie gerade
gesagt haben, falsch.
({0})
Zur Erwiderung hat der Kollege Weisheit das Wort.
({0})
Nein, es gibt nichts zu entschuldigen. Meine Ausführungen gelten im Prinzip trotzdem. Wenn Schleswig-Holstein nicht von der Möglichkeit
Gebrauch gemacht hat, dass das Land in Regionen eingeteilt wird, wie das andere Bundesländer getan haben, und
einen Durchschnittsertrag für das gesamte Land berechnet, dann mag das dort stimmen, aber nur dort.
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5326 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen, und
zwar zunächst zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 14/6346. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6347 federführend an den Ausschuss für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft und zur Mitberatung an
folgende Ausschüsse zu überweisen: Finanzen, Wirtschaft
und Technologie, Arbeit und Sozialordnung, Gesundheit,
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Angelegenheiten der Europäischen Union und an den Haushaltsausschuss. - Das Haus ist damit einverstanden. Die Überweisung ist so beschlossen.
Die Entschließungsanträge der Fraktion der F.D.P. auf
Drucksachen 14/6343 und 14/6345 sollen überwiesen
werden: zur federführenden Beratung an den Ausschuss
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
und zur Mitberatung an die Ausschüsse für Wirtschaft und
Technologie, Arbeit und Sozialordnung, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. - Auch dies ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/5580.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der
CDU/CSU auf der Drucksache 14/5222 mit dem Titel
„Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz sein - Zukunftsfähige Landwirtschaft ermöglichen - Gegen BSE
mit einem vernetzten Bekämpfungsplan vorgehen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und PDS
gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der
F.D.P. angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksache 14/5228 mit dem Titel „Neuausrichtung der Agrarpolitik: Offensive für den Verbraucherschutz - Perspektiven für
die Landwirtschaft“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 c. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/5908.
Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des „Vorschlags für
eine Verordnung des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Zucker“, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei
Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 d. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
14/5909 die Annahme des Antrags der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/4544
mit dem Titel „Nachhaltige Entwicklung für ländliche
Räume“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das ist ja langweilig: Immer dieselben Abstimmungsverhältnisse!
({0})
Also: Angenommen mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/5080 mit dem Titel „Ländlichen Raum gemeinsam mit der Landwirtschaft stärken“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit dem gleichen Stimmenergebnis wie soeben angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Kenntnisnahme des Berichts
der Bundesregierung auf Drucksache 14/4855 mit dem
Titel „Politik für ländliche Räume: Ansätze für eine integrierte regional- und strukturpolitische Anpassungsstrategie“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Es
hat doch gewirkt, was ich gesagt habe.
({1})
Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenom-
men.
Zusatzpunkt 1. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 14/5900 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis h sowie die
Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2000/52/EG der Kommission
vom 26. Juli 2000 zur Änderung der Richtlinie
80/723/EWG über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten
und den öffentlichen Unternehmen ({2})
- Drucksache 14/6280 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. November 1999 zur Ergänzung
des Abkommens vom 9. September 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Malta über den Luftverkehr und zu dem Protokoll vom 27. Mai 1999 zwischen der Regierung
der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Katar zum Abkommen vom
9. November 1996 über den Luftverkehr
- Drucksache 14/6109 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Medizinproduktegesetzes
({5})
- Drucksache 14/6281 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung offener Fragen des Rechts an Grundstücken
in den neuen Ländern ({6})
- Drucksache 14/6204 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des
Schutzes gefährdeter Zeugen
- Drucksachen 14/638, 14/6279 ({8}) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, Jörg
van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Vermögensgesetzes
({10})
- Drucksache 14/5091 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Völkerrechtliche Ächtung von Munition, die
Uran oder andere radioaktive Elemente enthält
- Drucksache 14/5509 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({12})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christine Lucyga, Annette Faße, Gerd Andres,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Kerstin Müller ({13}),
Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schiffssicherheit auf der Ostsee verbessern
- Drucksache 14/6211 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Dreiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 14/6311 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({15})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich
L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Beschäftigung älterer Arbeitnehmer fördern und Einstellungshindernisse abbauen
- Drucksache 14/5579 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/6311, Zusatzpunkt 2 a, soll, abweichend von der Tagesordnung, nicht
an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. - Das
Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis j, 26 sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis c auf. Eine Aussprache ist hier
ebenfalls nicht vorgesehen.
Tagesordnungspunkt 30 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Dezember 1999 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Panama über
den Luftverkehr
- Drucksache 14/4988 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18})
- Drucksache 14/6123 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({19})
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/6123, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen möchten, sich zu erheben. - Stimmt jemand
dagegen? - Enthaltungen? - Kollege Ronsöhr, möchten
Sie sich enthalten?
({20})
- Das ist gut. - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Mai
1997 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Estland über den Luftverkehr
- Drucksache 14/4989 ({21})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({22})
- Drucksache 14/6124 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({23})
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/6124, auch diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte noch einmal diejenigen,
die zustimmen möchten, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Keine Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
den Verträgen vom 27. April 1999 und 8. Juli
1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über grenzüberschreitende polizeiliche
Zusammenarbeit, Auslieferung, Rechtshilfe sowie zu dem Abkommen vom 8. Juli 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft über
Durchgangsrechte
- Drucksache 14/5735 ({24})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({25})
- Drucksache 14/6333 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Graf ({26})
Sylvia Bonitz
Marieluise Beck ({27})
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Der Innenausschuss empfiehlt auf der Drucksache
14/6333, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, um
ihr Handzeichen.
({28})
- Setzen, Herr Kollege Uldall.
Also noch einmal: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU bei Gegenstimmen der PDS und Enthaltung der F.D.P. angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich jetzt zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Ergebnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit
- Drucksache 14/6100 ({29})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({30})
- Drucksache 14/6336 Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt
auf der Drucksache 14/6336, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer diesem Gesetzentwurf zustimmen möchte,
hebe bitte die Hand. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einmütig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, den
bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung von Gesetzen und anderen Vorschriften auf dem Gebiet des Gesundheitswesens
auf Euro ({31})
- Drucksache 14/5930 ({32})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({33})
- Drucksache 14/6306 Berichterstattung:
Abgeordneter Eike Maria Hovermann
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 14/6306, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer
möchte zustimmen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte die zustimmenden Kolleginnen und Kollegen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in
dritter Beratung einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Tagesordnungspunkt 30 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 10. März 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Korea über soziale Sicherheit
- Drucksache 14/6110 ({34})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({35})
- Drucksache 14/6334 Berichterstattung:
Abgeordnete Ekin Deligöz
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt
auf Drucksache 14/6334, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer stimmt zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in
dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu einem Wahleinspruch gegen die Gültigkeit
der Berufung eines Listennachfolgers gemäß
§ 48 Bundeswahlgesetz ({36})
- Drucksache 14/6201 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Bötsch
Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6201, den
Wahleinspruch zurückzuweisen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun unter Tagesordnungspunkt 30 h bis
30 j zu Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 30 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 274 zu Petitionen
- Drucksache 14/6183 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 274 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 275 zu Petitionen
- Drucksache 14/6184 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Sammelübersicht ist bei Enthaltung
der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 276 zu Petitionen
- Drucksache 14/6185 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 276 ist gegen die Stimmen der PDS
mit den Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes
({40})
- Drucksache 14/5943 ({41})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({42})
- Drucksache 14/6335 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Kramme
Wer stimmt zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
CDU/CSU gegen die Stimmen der F.D.P. und bei Enthaltung der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer stimmt zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter
Lesung mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Zusatzpunkt 3 a:
Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({43})
a) Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Errichtung einer
„Stiftung Jüdisches Museum Berlin“
- Drucksache 14/6028 ({44})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Kultur und Medien
({45})
- Drucksache 14/6331 Berichterstattung:
Abgeordneter Eckhardt Barthel ({46})
Dr. Norbert Lammert
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto
Dr. Heinrich Fink
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({47}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/6356 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Hans Georg Wagner
Jürgen Koppelin
Dazu darf ich mitteilen, dass es eine Erklärung mehrerer Abgeordneter nach § 31 der Geschäftsordnung gibt,
und zwar der Abgeordneten Norbert Lammert,
CDU/CSU, Bernd Neumann ({48}), CDU/CSU,
Hartmut Koschyk, CDU/CSU, Anton Pfeifer, CDU/CSU,
Margarete Späte, CDU/CSU, Erika Steinbach, CDU/
CSU, Rita Süssmuth, CDU/CSU, Hans-Joachim Otto,
F.D.P. Die Erklärung wird zu Protokoll genommen.1)
Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, den
bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem
gleichen Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung
angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung der umweltrechtlichen Vorschriften auf den Euro ({49})
- Drucksache 14/5641 ({50})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({51})
- Drucksache 14/6351 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Kelber
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie zustimmen möchten. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/5944 ({52})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({53})
- Drucksache 14/6350 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann ({54})
Volker Kauder
Volker Beck ({55})
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Wer möchte dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den erneut
korrigierten Wachstumsprognosen der deutschen Wirtschaftsinstitute und den daraus resultierenden Folgen
Ich gebe für die antragstellende Fraktion dem Kollegen
Rainer Brüderle das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! „Die Konjunktur schmiert ab“, schreibt
„DER SPIEGEL“ von diesem Montag. „Inflationsein-
bruch in der Euro-Zone“, titelt die „Financial Times
Deutschland“ am Dienstag. „Regierung rechnet mit Null-
wachstum“, steht in der „Welt“ vom Mittwoch. „Progno-
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
1) Anlage 2
sen im Sturzflug“, lautet die Schlagzeile in der „Berliner
Morgenpost“ von heute.
({0})
Jeden Tag gibt es eine neue Hiobsbotschaft - Sie verstehen es anscheinend nicht - von der Konjunktur- und
Preisfront. Das ist die Lage im Sommer 2001 in Deutschland.
Ich zitiere noch einmal den Kommentar in der „Financial Times Deutschland“:
Viel zu lange haben Politiker wie Bundeskanzler
Gerhard Schröder glauben machen wollen, dass
der Abschwung nur ein Phantom ist, von bösen Pessimisten herbeigeredet.
Gleichzeitig wird die Bundesregierung auf dem EU-Gipfel in Göteborg von den europäischen Regierungschefs
für ihre schlechte Wirtschafts- und Finanzpolitik gescholten, denn die lahme Ente Deutschland reißt ganz EuroLand in eine Wachstumskrise. Was macht diese Regierung? Nichts! Grün-Rot leistet sich ein fröhliches „Weiter
so!“. Der Kanzler schweigt und taucht ab.
Wenn einmal Monopolminister Müller in einem Anflug von schonungsloser Ehrlichkeit vom „Nullwachstum“ spricht, wird er offensichtlich sofort zum öffentlichen Widerruf und zur Selbstkritik bewegt. Jetzt erzählt
Herr Müller wieder das Märchen von einem Wachstum
von 2 Prozent in diesem Jahr. Zuvor hat er das Märchen
von einem Wachstum von 2,75 Prozent erzählt. Aber wir
brauchen keine Märchentanten. Wir brauchen ganze
Kerle und „Kerlinnen“, die den Kampf gegen die drohende Stagflation aufnehmen.
({1})
- Man muss dem Zeitgeist Rechnung tragen, Frau Kollegin.
Diese sitzen aber offensichtlich nicht auf der Regierungsbank. Herrn Müller, Herrn Eichel, Herrn Riester und
erst recht Herrn Schröder scheint nicht zu interessieren,
was die Menschen im Lande bewegt.
({2})
Heute ist, wie ich in der Zeitung gelesen haben, der Tag
des Schlafes. Vielleicht gönnt sich die Regierung ein ausgiebiges Schläfchen.
({3})
Ich kann im Interesse Deutschlands nur sagen: Aufwachen, Herr Bundeskanzler! Das ist Ihr Abschwung.
({4})
3,5 Prozent Inflationsrate in Deutschland und 3,4 Prozent in Euro-Land sind Werte, wie wir sie seit acht oder
neun Jahren nicht kannten. Die Inflation kehrt offenbar
zurück. Die Stichworte hierzu sind: Ökosteuer und Stromumlage. In Deutschland haben wir eine saisonbereinigte
Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Das ist
keine Bewertung von bösen Vertretern der Opposition.
Herr Noé, der bis vor kurzem noch Staatssekretär der SPD
im Bundesfinanzministerium war,
({5})
spricht das aus, was auch andere Konjunkturforscher sagen. Diese Entwicklung ist eine Art Frühindikator einer
anstehenden Rezession.
({6})
Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sieht eine Rezessionsgefahr in Deutschland. Der
Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Walter, sagt öffentlich, dem Bundeskanzler werde sein Versprechen, die
Arbeitslosigkeit auf bescheidene 3,5 Millionen zu senken,
um die Ohren fliegen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute
korrigieren in Rekordzeit ihre Wachstumsprognosen. Was
tun Sie? Sie tun nichts bzw. das Falsche. Sie erhöhen die
Krankenversicherungsbeiträge. Sie werden morgen die
Mitbestimmung verschärfen. Diese Regelung werden Sie
durchziehen
({7})
und den deutschen Mittelstand damit drangsalieren. Morgen Abend um 20 Uhr wird das Postmonopol in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion verlängert und damit werden
Zehntausende von Arbeitsplätzen in Deutschland aktiv
gefährdet.
({8})
Sie versündigen sich am Wirtschaftsstandort Deutschland.
({9})
Ich appelliere an die Regierung: Schauen Sie nicht weiter tatenlos zu, wie die Konjunktur bei uns immer
schwächer, wie der Verfall erkennbar wird, wie die Stagflation droht und eine Rezession nicht auszuschließen ist.
Was wir brauchen, ist ein schnelles Handeln, ein Blitzprogramm, und zwar besser heute als morgen.
({10})
Erstens. Grün-Rot muss die Steuerreformstufen vorziehen. Frau Scheel als Dampfplauderin erzählt uns das
Gleiche. Natürlich wird es nicht gemacht, genauso wie
Rezzo Schlauch als Dampfplauderer etwas Richtiges vom
Arbeitsmarkt erzählt. Nur handelt keiner.
Zweitens sollte der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung so schnell wie möglich um einen Prozentpunkt
sinken. Das bringt eine Entlastung in Höhe von 13 Milliarden DM.
Drittens. Grün-Rot muss auf die mittelstandsfeindliche
und teure Verschärfung der Mitbestimmung, auf die
nächste Stufe der die Inflation anheizenden Ökosteuer
und auf die investitionsschädlichen neuen Abschreibungstabellen verzichten.
Sie sehen, die Amerikaner haben gehandelt. Sie haben
ihre Steuerreform vorgezogen. Die Amerikaner bekommen
in Kürze die ersten Steuerentlastungsschecks in die Hände.
Die Amerikaner handeln und werden deshalb auch diese
Konjunktureinbrüche eher als wir bewältigen können.
Sie können es täglich an den Währungsbörsen der Welt
sehen: Der Wert des Euro spiegelt die Bewertung des
Euro-Landes und insbesondere des größten Teils des
Euro-Landes, von Deutschland, in der Welt wider.
({11})
Der Euro ist mit einem Wert von 1,18 US-Dollar gestartet. Jetzt dümpelt er bei 85 Cent herum.
({12})
Weil die Entwicklung draußen in der Welt genauso
empfunden wird, sind seit der Einführung des Euro mehr
als 400 Milliarden Euro aus dem Euro-Land abgezogen
worden. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres
sind aus Deutschland 80 Milliarden Euro abgeflossen und
woanders angelegt worden.
Herr Kollege Brüderle, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Dies geschah, weil man
dieser Regierung nicht mehr zutraut, zu handeln. Deshalb:
Tun Sie es! Beschimpfen Sie nicht die Opposition, die
ihre Pflicht tut! Erfüllen Sie vielmehr Ihre Pflicht, damit
es in Deutschland nicht noch weiter abwärts geht.
({0})
Ich erteile
dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Karl Diller, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die von einigen Wirtschaftsforschungsinstituten vorgelegten neuen Prognosezahlen
({0})
lauten: Das Kieler Institut für Weltwirtschaft prognostiziert statt wie im März 2,1 Prozent jetzt 1,3 Prozent, das
Hamburger Weltwirtschaftsarchiv prognostiziert statt wie
im März 2,3 Prozent jetzt 1,7 Prozent, Herr Professor
Rürup vom Sachverständigenrat prognostiziert eine
Spanne von 1,6 bis 1,8 Prozent. Bemerkenswert ist an diesen Zahlen im Prinzip nur eines, meine Damen und Herren:
({1})
Trotz der Verlangsamung des Wachstums sind die genannten prognostizierten Zahlen von 1,6 bis 1,8 Prozent
immer noch deutlich höher als die durchschnittliche Steigerungsrate in Ihrer Regierungszeit, die in den Jahren
1991 bis 1998 bei 1,3 Prozent lag.
({2})
Herr Brüderle, wäre er damals schon hier gewesen und
hätte es jedes Jahr eine solche Steigerungsrate gegeben,
wie er sie heute befürchtet und beklagt, hätte dies zum Anlass genommen, eine freudige Pressemitteilung zu machen.
({3})
Dank unserer Wirtschaftspolitik erreichte das Wirtschaftswachstum im letzten Jahr stolze 3 Prozent real.
Dabei hatten wir schon im zweiten Halbjahr 2000 eine
konjunkturelle Abschwächung mit Zuwächsen von nur
0,3 Prozent im dritten und 0,2 Prozent im vierten Quartal. Im ersten Quartal dieses Jahres dagegen hat sich
diese Entwicklung nicht fortgesetzt; denn das Bruttoinlandsprodukt erhöhte sich um 0,4 Prozent gegenüber
dem vorigen Quartal und übertraf damit die entsprechenden Zuwächse in der zweiten Hälfte des letzten Jahres. Schaltet man noch Kalendereinflüsse aus, lag das
bereinigte BIP um 2 Prozent höher als im ersten Quartal
des Jahres 2000.
Die Entwicklung der aktuellen Konjunkturindikatoren
- Geschäftsklima, Auftragseingänge, Produktion - liegt
im Rahmen der Erwartungen der Frühjahrsprojektion der
Bundesregierung. Wir waren damals realistisch und haben einiges von dem, was die Institute nun in ihren Prognosen korrigieren, schon vorweggenommen.
Es ist noch zu früh, eine Einschätzung des Wirtschaftswachstums für das zweite Quartal vorzunehmen. Die meisten Konjunkturexperten gehen aber von einer Fortsetzung
der Aufwärtsbewegung im weiteren Jahresverlauf aus;
das gilt im Übrigen auch für das Kieler Institut für Weltwirtschaft.
Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für
ein Wachstum, das innerhalb des Bereichs unserer Prognose liegt, sind weiterhin günstig, Herr Brüderle:
Erstens. Die Auftragsbestände der Unternehmen lagen
von Januar bis April dieses Jahres um rund 3 Prozent über
dem schon sehr hohen Niveau des Vorjahres.
Zweitens. Die Produktionstätigkeit ist seit Jahresbeginn noch um 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen.
Drittens. Der Umfang der Exporte übertraf in den ersten vier Monaten dieses Jahres trotz weltwirtschaftlicher
Abschwächung das hohe Niveau des Vorjahres real um
- sage und schreibe - 11,5 Prozent.
({4})
Viertens. Die Kapazitätsauslastung im verarbeitenden
Gewerbe ist im langfristigen Bereich noch sehr hoch.
Fünftens. Die langfristigen Nominalzinsen sind niedrig.
Sechstens. Die Lohnabschlüsse aus dem Vorjahr sind
stabilitäts- und beschäftigungsorientiert.
({5})
Die wirtschafts- und finanzpolitischen Weichenstellungen der Bundesregierung tragen zu einer Stabilisierung der konjunkturellen Entwicklung bei; denn mit dem
Nachlassen der durch Sonderfaktoren bedingten Preissteigerungen im Verlauf des Jahres, Herr Michelbach,
werden die positiven Effekte der Steuerreform zunehmend spürbar. Ich zitiere Professor Scheide vom Weltwirtschaftsinstitut. Er sagte in einem Interview mit der
„Süddeutschen Zeitung“ gestern als Antwort auf die
Frage, weshalb sich die Geldentwertung plötzlich beschleunige, Folgendes:
Es sind reine Sondereffekte: Benzin ist sehr teuer geworden, weil die Amerikaner auf dem Rotterdamer
Markt eingestiegen sind und so den Preis in die Höhe
getrieben haben. Hier gibt es bereits wieder eine gewisse Beruhigung. Und dann BSE und die Maul- und
Klauenseuche: Wir wussten, dass es diese Seuchen
gibt, aber wie sehr dies die Preise antreibt, das konnten wir nicht ahnen.
({6})
Ohne diese Sondereffekte läge die Inflationsrate deutlich
unter 1,5 Prozent. Die Auswirkungen dieser Sondereffekte werden bis Ende dieses Jahres auslaufen.
Herr Brüderle, nach allem gibt es keinen Anlass, die
konjunkturelle Lage schwarz zu malen; wohl aber gibt es
Anlass, über die Seriosität des Herrn Brüderle nachzudenken;
({7})
denn Herrn Brüderles Blitzprogramm würde in das absolute Chaos führen. Er hat heute wiederholt, was er fordert.
Den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung um einen Prozentpunkt zu senken
({8})
würde bedeuten, dass die Bundesanstalt für Arbeit im Jahr
14 000 Millionen DM weniger zur Verfügung hätte. Das
heißt, das Programm für eine aktive Arbeitsmarktpolitik
müsste um ein Drittel oder sogar um die Hälfte zusammengestrichen werden.
({9})
Das zöge Hunderttausende von zusätzlichen Arbeitslosen
nach sich. Das ist das Rezept von Herrn Brüderle.
({10})
Wenn man seiner Forderung folgte und aus dem Haushalt
des Bundes der Bundesanstalt für Arbeit 14 Milliarden DM zuweisen würde, dann wäre der Haushalt des
Bundes sofort wieder verfassungswidrig.
({11})
Ich stelle fest: Herr Brüderle war als Wirtschaftsminister meines Bundeslandes ein sehr seriöser Mann.
({12})
Er wurde in Rheinland-Pfalz Wirtschaftsminister, als unsere Partei mit seiner dort eine Koalition eingegangen
war. Seitdem er hier ist, ist er leider Gottes von der
waigelschen Krankheit befallen, nämlich immer mehr
Schulden zu machen. Das ist Ihr Rezept.
({13})
Außerdem fordert er jetzt, die Steuersenkungen für das
Jahr 2005 auf das Jahr 2002 vorzuziehen. Das zu tun,
würde bedeuten, dass Bund, Länder und Gemeinden im
nächsten Jahr zusätzliche Einnahmeminderungen von
mehr als 45 000 Millionen DM verkraften müssten. Dadurch wäre nicht nur der Haushalt des Bundeslandes
Rheinland-Pfalz verfassungswidrig; vielmehr wären auch
die Haushalte des reichen Bayern, des reichen Hessen und
des reichen Baden-Württemberg verfassungswidrig.
({14})
Das Gleiche gilt erst recht für den Bund. Ihre Rezepte sind
die Rezepte des Herrn Waigel, der von der Bevölkerung
zu Recht abgelehnt wurde.
({15})
Schauen wir uns doch noch einmal an, was uns die
Wirtschaftswissenschaftler empfehlen. Professor Scheide
vom Kieler Institut für Weltwirtschaft ist im vorhin genannten Interview gefragt worden:
Was empfiehlt der Konjunkturforscher in dieser Situation den Politikern?
({16})
Seine Antwort lautete:
Die Abschwächung wurde nicht durch Fehler der Politik ausgelöst, deshalb gibt es auch keine solchen zu
korrigieren. Unser Rat ist: Keine Hektik!
Weiter heißt es:
Der Rat an die Finanzpolitik heißt ebenfalls: Ruhe
bewahren!
Genau das ist unsere Linie.
Vielen Dank.
({17})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Gunnar
Uldall.
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! Wir haben eben gehört, wie Herr
Staatssekretär Diller versucht hat, die schlechten Wirtschaftsdaten und insbesondere die schlechten Wachstumsraten zu verniedlichen. Herr Kollege Diller, Sie
können sicherlich viel darum herumreden. Nur eines können Sie nicht machen, nämlich die renommierten
Wirtschaftswissenschaftler der Forschungsinstitute in
Deutschland als Kronzeugen Ihrer Politik benennen; denn
diese verurteilen einhellig die Politik, die Sie heute betreiben.
({0})
Insofern ist es geradezu eine Loriot-reife Nummer, wenn
Sie diejenigen, die Sie kritisieren, zu Ihrer Unterstützung
zitieren.
({1})
Fest steht: Die Steuerreform ist ein Fehlschlag gewesen. Es hat nicht den erwarteten Konjunkturschub gegeben. 89 Prozent der deutschen Bevölkerung sagen, dass
sie die Auswirkungen der Steuerreform in ihrem Portemonnaie nicht oder nur in ganz geringem Maße spürten.
Der deutsche Arbeitsmarkt stagniert. Es hat keinen Sinn,
darum herumzureden oder es schönzureden. Es gibt nur
eines, was permanent steigt, nämlich die Preise.
Seit dem Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt
- das ist fast 20 Jahre her - hat es nie eine solch hohe Inflationsrate wie in diesem Jahr gegeben. Damals stiegen
die Preise um 5 Prozent. Seit der Übernahme der Regierung durch Gerhard Schröder kletterte die Preissteigerungsrate von 0,6 Prozent auf jetzt 3,5 Prozent. Als die
Regierungsverantwortung an die Sozialdemokraten ging,
herrschte Preisstabilität. Aber die Sozialdemokraten haben die Preisstabilität wiederum verspielt.
({2})
Hier wiederholt sich die Geschichte. Ich habe nachgelesen und festgestellt: Beim Antritt der SPD-Regierung
im Jahre 1969 machten die Preise einen Sprung nach
oben. Innerhalb der ersten drei Regierungsjahre der SPD
verdreifachte sich die Inflationsrate und stieg Mitte der
70er-Jahre - das war der traurige Höhepunkt - auf
7,1 Prozent. Mit einer einzigen Ausnahme hat es in den
13 Jahren SPD-Regierung nicht ein einziges Jahr gegeben, in dem die Preissteigerungsrate unter 3,5 Prozent
gelegen hätte. Genau dort sind wir jetzt wieder angekommen. Offensichtlich ist es so, dass eine Preissteigerungsrate von 3,5 Prozent der SPD-Mindestinflationssatz ist.
Eine solche Wirtschaftspolitik dürfen wir uns in Deutschland nicht bieten lassen.
({3})
Dass es nicht so sein muss, haben wir in den 80er-Jahren erlebt. Damals herrschte 16 Jahre lang faktische Preisstabilität, allerdings mit einer einzigen Ausnahme, die immer wieder gerne angeführt wird, nämlich mit Ausnahme
des Jahres der deutschen Wiedervereinigung. Aber es ist
völlig klar, warum die Preise damals angestiegen sind: Als
die Mauer geöffnet wurde, haben die Menschen aus der
DDR, die jahre- und jahrzehntelang auf Autos, Telefonanschlüsse und Südfrüchte verzichten mussten, alles Versäumte nachgeholt. Aber wir haben es fertig gebracht, die
Preissteigerungsrate sofort wieder zu senken. Insofern
haben wir Ihnen damals ein gut gemachtes Bett hinterlassen, das Sie aber regelrecht verlottern ließen.
({4})
Dass Sie dies selber verursacht haben und eben nicht
die Ölscheichs oder die Entwicklung der US-amerikanischen Konjunktur daran schuld ist, kann man zum Beispiel an der Entwicklung der Strompreise sehen. Es gibt
eine Umlage für Kraft-Wärme-Kopplung, die Ökosteuer
und einen Aufschlag für erneuerbare Energien. Das alles
hat die Preise für Strom so nach oben getrieben, dass ein
Vierpersonenhaushalt zusätzliche Kosten in Höhe von
660 DM pro Jahr verkraften muss. Da kann ich nur sagen: Egal, welche Erleichterungen Sie im Rahmen der
Steuerreform versprechen, Sie können die Mehrbelastung nicht ausgleichen, treiben aber die Preise nach
oben. Das trifft wiederum vor allen Dingen die sozial
Schwachen.
({5})
Schauen wir uns einmal an, wer von den negativen Folgen getroffen wird: Getroffen werden vor allem die Rentnerhaushalte. Die Rentner mussten im vergangenen Jahr
einen Kaufkraftverlust von 1 Prozent hinnehmen, in diesem Jahr kommen noch einmal 1,5 Prozent hinzu. Ich
kann nur noch einmal feststellen: Es betrifft immer die sozial Schwächsten.
Die Arbeitnehmerhaushalte werden in diesem Jahr einen realen Kaufkraftverlust von 1 Prozent zu verzeichnen
haben. Es kann sich jeder ausrechnen, dass sich die Gewerkschaften das nicht bieten lassen und in den nächsten
Tarifrunden kräftig zulangen werden. Auf diese Weise
wird genau das Problem verstärkt, das wir heute schon zu
beklagen haben, nämlich eine Stagflation. Die Konjunktur und der Abbau der Arbeitslosigkeit stagnieren, aber die
Preise werden inflationiert.
Deshalb kann man nur sagen: Herr Bundeskanzler, geben Sie mit einer vernünftigen Politik hinsichtlich Energie, Steuern und Arbeitsmarkt endlich die richtigen Signale für eine gute Wirtschaftspolitik nach vorne.
Vielen Dank.
({6})
Ich gebe der
Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Uldall, es ist ein bisschen übertrieben, wenn Sie sagen,
Sie hätten uns ein nettes Bett hinterlassen. Sie haben uns
einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen.
({0})
Dieser Schuldenberg hat unsere Spielräume eingeengt,
sodass wir das, was wir gerne tun würden, nicht mit der
notwendigen Geschwindigkeit tun können.
({1})
Das ist das Problem, wenn man eine verantwortungsvolle
Finanzpolitik macht: Man muss die Umstände, die man
vorfindet, berücksichtigen und kann nicht alle Wünsche
in dem Zeitrahmen erfüllen, den Sie sich vorstellen.
({2})
Gegenüber der letztjährigen Prognose haben wir bei
der konjunkturellen Entwicklung derzeit eine Wachstumsdelle. Das ist unbestritten und darüber muss man
nicht diskutieren.
({3})
Die Forschungsinstitute legen fast jeden Tag neue Zahlen
vor, die wir nicht ignorieren wollen und können. Karl
Diller hat sehr richtig auf die Sondereffekte bei den Preissteigerungen hingewiesen. Wir haben gesehen, dass der
Konjunktureinbruch in den USA auch bei uns Wirkung
zeigt. Das war zu erwarten, da der Anteil Deutschlands an
den Ausfuhren in die USAim letzten Jahr 10,9 Prozent betrug. Daran kann man sehen, welcher Zusammenhang
zwischen der wirtschaftlichen Situation in den USA und
den deutschen Ausfuhren in die USA besteht. Wenn weniger Aufträge eingehen, wird in den entsprechenden Sektoren ein geringeres Wirtschaftswachstum erwartet werden können. Das ist ein ganz normaler Effekt.
({4})
Auch wenn Sie so tun, als sei die Entwicklung eine absolute Katastrophe, muss man die Sache in einer vernünftigen und ruhigen Art und Weise betrachten. Wenn wir uns
ansehen, wie sich das Wachstum in den 90er-Jahren entwickelt hat, müssen wir feststellen, dass das durchschnittliche Wachstum in den Jahren 1992 bis 2000 bei 1,5 Prozent lag, obwohl wir im Jahre 2000 bereits ein Wachstum
von 3 Prozent hatten, was die Durchschnittszahlen entsprechend beeinflusst. Dagegen hatten wir zum Beispiel
1996 - in Ihrer Regierungszeit, wenn ich Sie daran vielleicht einmal erinnern darf - ein Wachstum von nur
0,8 Prozent.
({5})
Die Gesamtsituation gibt Anlass zu ernsthaften Sorge
um den Arbeitsmarkt, etwa darüber, dass die Zahl der Arbeitslosen nicht so schnell abgebaut werden kann, wie wir
uns das wünschen. Wir haben aber Voraussetzungen für
bestimmte Effekte geschaffen, die erst mit einer späteren
Wirkung greifen: Die Steuerreform, die umgesetzt worden ist und in diesem Jahr eine massive Senkung des Steuersatzes für die Steuerzahler und die Wirtschaft gebracht
hat, bedeutet ein Entlastungsvolumen von 45 Milliarden DM in diesem Jahr.
({6})
Viele Steuerpflichtige, die einkommensteuerveranlagt
sind und Jahresabschlüsse machen, haben diese Abschlüsse für das Jahr 2000 noch gar nicht gemacht. Deswegen sind auch die Umfragen irreführend, in denen
Menschen gefragt werden, ob sie die Steuerentlastung
spüren. Sie können sie überhaupt noch nicht gespürt haben, weil sie ihre Jahreseinkommensteuererklärung noch
nicht abgegeben haben.
({7})
Dieser Effekt, der noch nicht zu spüren ist, muss aber
trotzdem berücksichtigt werden.
Von den kleinen und mittleren Unternehmen hört man
die klare Aussage, dass die Vorauszahlungen geringer geworden sind.
({8})
Die Überraschung darüber, wie sich die Anrechnung der
Gewerbesteuer auf ihre Einkommensteuer auswirkt, war
doch sehr groß. Man hat nämlich nicht geglaubt, dass bei
einem durchschnittlichen Hebesteuersatz keine Gewerbesteuer gezahlt wird.
({9})
Diese Wirkungen, die jetzt langsam wahrgenommen werden, hat man unterschätzt.
Neben der Steuerentlastung gibt es noch andere Maßnahmen, die sich auf die Nachfragesituation auswirken.
Eine Maßnahme ist zum Beispiel, dass wir im nächsten
Jahr, also im Jahr 2002, knapp 5 Milliarden DM mehr für
die Familienförderung ausgeben. Durch die zweite Maßnahme, nämlich durch die Einführung der privaten Altersvorsorge im Jahr 2003, wobei die zu leistenden
Beiträge steuerbefreit sind, entlasten wir die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zusätzlich um 5,5 Milliarden DM. Diesen Effekt muss man ebenfalls betrachten.
Herr Brüderle spricht immer das Beispiel USA an.
Dazu will ich sagen: Wenn wir die vergleichbaren Daten
aus den USAbetrachten, dann können wir feststellen, dass
es gemäß den Bush-Vorschlägen in den USA eine Steuerentlastung von rund 88 Milliarden DM im Jahr gibt.
({10})
Wenn wir die gleiche Berechnungsmethode auf unser
Land anwenden, dann können wir feststellen, dass es bei
uns eine Steuerentlastung von rund 100 Milliarden DM
pro Jahr gibt.
({11})
Das heißt, wir brauchen den USA nicht zu folgen, indem
wir die Steuerreform vorziehen, weil wir bereits einen
Vorsprung haben.
({12})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich habe immer eine Kombination zwischen einer soliden Haushaltspolitik, dem Abbau der Nettoneuverschuldung bis zum
Jahr 2006 auf Null und der Frage, welchen Spielraum man
gewinnen kann, hergestellt. Wenn man diesen Spielraum
gewonnen hat, kann man über ein Vorziehen der Steuerreform reden - aber nur dann. Das ist die Voraussetzung.
Dazu stehe ich.
Danke.
({13})
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass jede Konjunkturprognose zu einer neuen Steuerdebatte führt. Diese
Konjunkturprognose zeigt doch nur, dass insbesondere
die westdeutsche Wirtschaft nach wie vor extrem vom Export abhängig ist. Ich will nur drei Gründe anführen,
warum die wieder aufgenommene Debatte aus meiner
Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion falsch ist.
Erstens - das kann man in diesem Haus offenbar nicht
oft genug betonen -: Wirtschaftsentwicklung über Steuern steuern zu wollen funktioniert einfach nicht.
({0})
Es ist doch eine Tatsache, dass bei den Kriterien für Investitionen die abstrakten Steuersätze unter „ferner liefen“
rangieren. Diese Steuersätze rangieren in der Hitliste auf
Rang acht oder neun. Wir sollten uns daher nicht immer
auf dieses Thema fokussieren.
({1})
Wo ist der Beweis dafür, dass niedrige Steuersätze zu
mehr Arbeitsplätzen führen? Wer garantiert eigentlich,
dass niedrige Einkommen-, Spitzen- und Körperschaftsteuern tatsächlich zu neuen Arbeitsplätzen in Bitburg
oder Löbau führen und nicht stattdessen auf den Malediven verfrühstückt oder in Taiwan investiert werden?
({2})
- Herr Niebel, wir können gerne darüber reden. Ich glaube
aber, Sie sollten sich nur zu Themen äußern, von denen
Sie etwas verstehen.
({3})
Die Spielräume für mehr Beschäftigung durch einen
ernsthaft angegangenen sozialen und ökologischen Umbau würden weiter verengt. Um das zu verhindern - nur
darum muss es der Wirtschaftspolitik gehen -, muss sie
neue Märkte, die zukunftsträchtige Arbeitsplätze versprechen, per Ordnungsrecht definieren und bei ihrer Ausfüllung auch helfen können. Politik, die auf das Prinzip Hoffnung, also auf Steuersenkungen setzt, beraubt sich selbst
der erforderlichen Mittel, um aktiv handeln zu können.
({4})
Damit bin ich bei einem zweiten Aspekt: Was nützen
einem jungen Wissenschaftler niedrige Steuersätze, wenn
ihm schon das Geld für eine Existenzgründung fehlt, um
so seine Ideen umsetzen zu können? Hinzu kommt das
Verhalten der Banken, das diese schon seit Jahren an den
Tag legen.
({5})
Wenn er das Geld zusammenbekommt, fehlen ihm Geschäftspartner und qualifiziertes Personal für die Verwirklichung seiner Geschäftsidee. Hier ist Politik gefragt.
Sachverständige haben gestern in der Anhörung des
Wirtschaftsausschusses die Rahmenbedingungen für
mehr Arbeitsplätze genannt. Steuersenkungen waren
nicht darunter, obwohl Lothar Späth und auch der
Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt dabei waren. Sie
haben aber genannt: Förderung der Umsetzung von Innovationen, Schaffung und Unterstützung von regionalen
und internationalen Netzwerken sowie eine Bildungsund Qualifizierungsoffensive, die diesen Namen tatsächlich verdient. Darüber, wie man dort öffentliches und privates Geld am effizientesten einsetzen kann, um mehr
Arbeitsplätze zu schaffen und wie viel das kosten würde,
sollten wir gemeinsam reden,
({6})
beispielsweise auf der Ministerpräsidentenkonferenz in
den nächsten Tagen. Haushaltspolitik ist Gestaltungspolitik. Haushaltskonsolidierung wird zum Wahn, wenn sie
Zukunftschancen verbaut.
Abschließend ein dritter Grund, warum diese Debatte
eigentlich nur nervt. Ich stimme mit dem Bundeswirtschaftsminister nicht häufig überein. Aber wenn er betont - wie er es vorgestern Abend im ZDF getan hat -, ein
Festhalten an den bis 2005 beschlossenen Spitzensteuersätzen sei auch eine Frage der Verlässlichkeit gegenüber
den Unternehmen und Investoren, eine Frage der Planungssicherheit, so kann ich das nur unterstützen. Wer
jede Woche die Illusion nährt, es könnte ja noch günstiger
werden, der behindert geplante Investitionen, weil er zu
ihrem Aufschub einlädt. Warum sollte jemand jetzt investieren, wenn wir ihm ständig erklären, die Lage könnte in
zwei, drei Monaten noch etwas besser sein? Dann wird er
sein Geld parken und es dann einsetzen, wenn er meint,
dass es so weit ist. In den zwei, drei Monaten passiert dann
aber nichts. Das muss einfach einmal gesagt werden.
({7})
Aber vielleicht ist gerade das von den früheren Regierungsparteien - entgegen ihren öffentlichen Bekundungen - beabsichtigt.
Ich will auch sagen, Frau Kollegin Scheel: Ich weiß,
was man mit einzelnen Sätzen machen kann, wenn man
sie aus dem Zusammenhang reißt. Dienlich war Ihr Vorschlag, die Steuerreform vorzuziehen, nicht, zumindest
nicht für die Diskussion innerhalb der Koalition.
({8})
- Herr Staffelt, ich übernehme gern Verantwortung - das
wissen Sie doch -, auch für die Kollegin.
Das gilt im Übrigen nicht nur für Einkommen- und Unternehmensteuer, sondern auch für die Ökosteuer. Auch
wenn die jetzige Ökosteuer sozial ungerecht und ökologisch wenig optimal ist - wovon wir nichts zurücknehmen -, ist festzuhalten: Wer wegen jedes Ausschlags an
den Welterdölmärkten ihre Höhe infrage stellt, der beraubt sie nicht nur ihrer letzten bescheidenen ökologisch
wie auch ökonomisch sinnvollen Lenkungswirkungen. Er
macht Politik auch endgültig zur Geisel weniger großer
Konzerne. Auf diesem fatalen Weg ist selbst Rot-Grün mit
seinem berüchtigten Verbändekonsensunwesen schon
sehr weit fortgeschritten. Ich verweise nur auf den so genannten Atomausstieg oder das Tauziehen um KraftWärme-Koppelung. Kurzum: Rot-Grün muss tatsächlich
umsteuern, aber bitte nicht in schwarz-gelbe Richtung.
({9})
Ich gebe
dem Kollegen Reinhard Schultz für die Fraktion der SPD
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweifellos ist es
sinnvoll, dass sich das Plenum über die wirtschaftliche
Entwicklung in Deutschland und in Europa unterhält.
({0})
- Wir diskutieren das selbstverständlich auch innerhalb
der SPD-Fraktion und innerhalb der Koalition. Erhebliche
Abweichungen von Prognosen müssen natürlich besorgt
machen und man muss zu einer Einschätzung kommen.
Unserer Einschätzung nach ist es ein Problem, aber es ist
nicht Panik angesagt. Man sollte nicht in hektische
Scheinaktivitäten verfallen und suggerieren, man könnte
mit fiskalpolitischen oder anderen staatlichen Mitteln
kurzfristig etwas herbeiführen, wodurch die Prognose in
diesem Jahr deutlich nach oben korrigiert werden könnte.
Ich bin etwas verwundert darüber, Herr Brüderle - ich
bin sehr gespannt darauf, was Herr Rexrodt sagen wird -,
mit welcher Staatsgläubigkeit nun ausgerechnet die F.D.P.
in eine solche Diskussion geht. Herr Rexrodt, der Erfinder des großen klassischen Spruchs „Wirtschaft findet in
der Wirtschaft statt“, lässt hier heute erklären, dass alle
Mittel der Steuer- und Haushaltspolitik in den Dienst einer kurzfristigen konjunkturpolitischen Verbesserung gestellt werden müssen. Ich wäre froh gewesen, wenn das
eine oder andere davon im vergangenen Jahrzehnt, als das
Wachstum deutlich niedriger war, als es jetzt ist, stattgefunden hätte.
Wir sind davon überzeugt, dass wir im Schnitt der
kommenden Jahre ein Wachstum von deutlich mehr als
2 Prozent haben werden, sobald erstens Schwächen auf
unseren Exportmärkten überwunden sein werden, die wir
politisch kaum beeinflussen können - dies gilt insbesondere für den amerikanischen Markt -, sobald sich zweitens Sondereffekte im Bereich der Energiepreissteigerungen weitgehend neutralisiert haben werden - selbst wenn
sie auf hohem Niveau verblieben, führte dies nicht zu weiteren vergleichbaren Steigerungen -, und sobald der Sondereffekt im Nahrungsmittelsektor neutralisiert sein wird,
wovon wir ebenfalls noch für dieses Jahr ausgehen.
Ferner gehen wir davon aus, dass eine stetige, planbare
und sichere Politik im Hinblick auf die Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Wachstum viel wichtiger als
kurzfristige Konjunkturprogramme ist. Unsere Steuerpolitik führt schrittweise zu einer Entlastung von Bürgern
und Wirtschaft; Jahr für Jahr wird dadurch mehr „freies“
Geld in den Kreislauf gegeben. Wir haben eine Entlastung
bei den Beitragssystemen.
({1})
Wir haben dazu beigetragen, dass Unternehmen sich wesentlich leichter aufstellen können, was ihre Zugehörigkeit zu Unternehmensgruppen und den Verkauf von Beteiligungen angeht, und dass Strukturreformen in der
Wirtschaft selber möglich werden in Bereichen, die zuvor
steuerlich belastet waren.
Ich bin davon überzeugt, dass die Bemühungen der
Bundesregierung zur Flexibilisierung der Arbeitsmarktspolitik dazu beitragen werden, dass Arbeitslose vermittelt
werden können, wenn wir den Menschen auf ihre Situation zugeschnittene Programme anbieten. Auch bin ich
davon überzeugt, dass eine Qualifizierungsoffensive und
eine vernünftige Einwanderungspolitik bewirken werden,
dass die seltsame, das Wachstum bremsende Schere zwischen relativ hoher Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel geschlossen werden wird.
All dies geht nicht über Nacht. Wir haben hier einen
riesigen Reformstau aus Ihrer Regierungszeit übernommen,
({2})
den wir nun abarbeiten müssen. Damit sind wir seit gut
zwei Jahren beschäftigt.
({3})
Nun ist erkennbar, dass wir nicht nur ein Lüftchen
durchs Land wehen lassen, sondern die gesamte strukturpolitische Kulisse dahin gehend verändern, dass stetiges
Wachstum möglich sein wird. Ich gebe hier dem Bundeskanzler völlig Recht: Abgerechnet wird am Ende dieses
Jahres und am Ende der Wahlperiode.
({4})
Sie werden dann erleben, dass stabile Wachstumsbedingungen, eine Entlastung des Arbeitsmarkts und Innovationen möglich werden. Das, was heute noch zu Recht kritisiert werden kann und was - übrigens mit Zustimmung
unserer Bundesregierung; das war eine einstimmige Erklärung der Regierungschefs - in Göteborg im Hinblick
auf Deutschland ja auch kritisiert wurde, wird dann als
eine Bilanz erscheinen, die ersichtlich macht, was aus der
Vergangenheit bis heute fortgeschrieben werden musste
und womit wir aufgeräumt haben.
Deswegen appelliere ich an die vereinigte Opposition,
insbesondere an die CDU/CSU, aber auch an die F.D.P.:
Wirken Sie mit, gemeinsam mit uns das abzubauen, was
von Ihnen an Reformstau aufgebaut worden ist! Entflammen Sie keine Strohfeuer! Setzen Sie nicht auf eine kurzfristig wirksame expansive Haushaltspolitik! Setzen Sie
nicht darauf, für kurzfristige Konjunkturerfolge die Verschuldung um zig Milliarden D-Mark in die Höhe zu treiben, wie Sie, Herr Brüderle, es eben vorgeschlagen haben,
als Sie sich für das Vorziehen der nächsten Stufen der
Steuerreform und das Absenken der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung aussprachen! Machen Sie vielmehr
eine seriöse, planbare Politik! Dann stellt sich auch dauerhaftes, arbeitsmarktwirksames Wachstum ein.
Vielen Dank.
({5})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin Dagmar
Wöhrl.
({0})
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Konjunkturforscher an
den Wirtschaftsforschungsinstituten sind keine Berufspessimisten. Sie sind Wissenschaftler, die Daten zusammenführen und unter Berücksichtigung volkswirtschaftlicher Regeln bewerten. So ist es eine gnadenlose
Unverschämtheit,
({0})
wenn Sie die jüngsten Wachstumsprognosen der Institute
von 1,3 Prozent und 1,7 Prozent als „Wasserstandsmeldungen“ abqualifizieren. Ich verstehe ja, meine lieben
Kollegen von der Koalition,
({1})
dass Sie Berufsoptimisten sein müssen. Aber wie hier
Kanzler Schröder und seine Kabinettskollegen die Wirtschaftslage in Deutschland schönreden, ist weit mehr als
regierungsüblicher Optimismus. Sie stecken einfach den
Kopf in den Sand und wenn ein Minister hier die Wahrheit zu sagen versucht, wird er ganz schnell wieder
zurückgepfiffen.
Was ist Fakt? - Fakt ist, dass unsere Wirtschaft krankt.
Wenn es einen Kranken gibt, stellt man zunächst einmal
eine Diagnose. Danach sucht man nach der Therapie. Was
machen Sie? Sie weigern sich, überhaupt eine Diagnose
zu stellen. Sie betreiben reine Realitätsverweigerung und
schaden somit unserem Standort Deutschland.
({2})
Würden Sie eine Diagnose stellen, dann merkten Sie
ganz schnell, dass die jetzige Konjunkturschwäche zum
größten Teil hausgemacht ist. Sie verweisen immer auf
das schwächere Wirtschaftswachstum in den USA. Das
aber erklärt nicht, warum wir mit unserem Wirtschaftswachstum im europäischen Vergleich an letzter Stelle liegen. Das erklärt auch nicht, warum wir die Arbeitslosenquote im europäischen Vergleich bei uns am langsamsten
zurückgeht. Das erklärt auch nicht die Entwicklung auf einem Gebiet, auf dem wir immer vorbildlich waren, nämlich bei der Währungsstabilität. Das erklärt nicht, warum
es jetzt im Mai zu einer Preissteigerung von 3,6 Prozent
gekommen ist, was bei weitem über dem EU-Durchschnitt liegt.
Ich erinnere nur einmal an Folgendes: 1998, als wir
endlich eine Phase hatten, in der es mit der deutschen
Wirtschaft wieder aufwärts ging - wir wissen, welche
Schwierigkeiten international im Hinblick auf das Wirtschaftswachstum bestanden -, sagte Gerhard Schröder,
seinerzeit noch Kanzlerkandidat, in einer Anmaßung ohnegleichen: „Dieser Aufschwung ist mein Aufschwung.“
Jetzt kann man zu Recht sagen: Dieser Abschwung ist Ihr
Abschwung! Denn seit drei Jahren stellen Sie die Regierung. Jetzt liegt es an den von Ihnen getroffenen Fehlentscheidungen.
({3})
Jetzt rächt es sich, dass Sie den Arbeitsmarkt mit der
Verschärfung des Kündigungsschutzes, mit der Neuregelung der 630-DM-Jobs, mit dem Gesetz zur Scheinselbstständigkeit, mit dem Teilzeitanspruch, um nur einige der
Regelungen hier aufzuführen, noch unflexibler, noch starrer gemacht haben.
({4})
Jetzt rächt es sich, dass Sie mit jedem Ihrer Gesetze den
Mittelstand immer weiter benachteiligen, besonders krass
durch die Steuerpolitik. Jetzt rächt es sich, dass Sie mit der
Ökosteuer die kleinen Leute belasten und so die Binnenkonjunktur schwächen.
({5})
Jetzt rächt sich auch, dass wir einen Kanzler haben, der
noch vor einigen Monaten sagte, ein schwacher Euro sei
gut für unsere Wirtschaft, ohne zu erkennen, dass ein
schwacher Außenwert ebenso die Preisstabilität im Inland
gefährdet. Vor allem aber rächt sich - darauf möchte ich
besonders hinweisen - jetzt der Versuch, mit guter Laune
eine sehr schwierige Lage retten zu wollen.
Die jetzige Preissteigerung ist fünfmal höher als 1998.
Das heißt: Das Realeinkommen der Normalverdiener
sinkt, die Ersparnisse werden entwertet. Das heißt:
Höchstwahrscheinlich wird es im nächsten Jahr höhere
Reinhard Schultz ({6})
Tarifabschlüsse geben. Das heißt: Verteuerung der Arbeit
im internationalen Vergleich.
({7})
Sie sollten langsam den Ernst der Lage erkennen. Setzen Sie Rahmenbedingungen für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum! Wir wollen und fordern keinen blinden
Aktionismus.
({8})
Wir wollen Rahmenbedingungen für ein dauerhaft stärkeres Wirtschaftswachstum.
({9})
Die Investitionsquote darf nicht weiter gesenkt werden.
Wir brauchen eine Stärkung der Investitionsfähigkeit. Ich
appelliere an Sie: Ziehen Sie die Steuerreform vor und
lockern Sie endlich unseren verkrusteten Arbeitsmarkt!
Einen ersten Schritt dazu können Sie morgen machen:
Stimmen Sie der mittelstandsfeindlichen Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes, wie Sie sie geplant haben,
nicht zu. Zeigen Sie endlich: Mittelständische Betriebe,
wir wissen, dass ihr es seid, die die Arbeitsplätze schaffen. Mittelständische Betriebe, wir wissen, dass ihr Flexibilität braucht. Mittelständische Betriebe, wir wissen,
dass ihr euch im internationalen Wettbewerb behaupten
müsst und dass ihr das nur könnt, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Ich hoffe, dass es in Zukunft nicht mehr heißen muss
- wie es heute zu Recht in der „Berliner Zeitung“ steht -:
Die ökonomische Kompetenz der rot-grünen Regierung erreicht mitunter die Stufe des Analphabetismus.
Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen.
({10})
Ich erteile
dem Kollegen Werner Schulz für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Wöhrl, die ökonomische Kompetenz dieser Regierung
reicht - von wegen Analphabetismus - allemal noch aus,
um Ihnen die Leviten zu lesen.
({0})
- Haben Sie Lust, etwas von mir zu hören, oder wollen Sie
die Rede mit Zwischenrufen begleiten?
Herr Brüderle hat die alte Platte aufgelegt: 630-MarkGesetz, Ökosteuer, Scheinselbstständigkeit und Teilarbeitslosigkeit im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes bei hoher Inflationsrate ergeben Stagflation.
({1})
Das ist alles, was Ihnen einfällt. Wenn Sie an einer seriösen Diskussion interessiert wären - ({2})
- Hören Sie doch einmal zu!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas mehr Ruhe,
damit der Redner zu seinem Recht kommt.
({0})
Herr Rexrodt, wenn Sie von mir eine Antwort auf
Konrad Weiß erwarten, dann hätten Sie für diese Aktuelle
Stunde ein anderes Thema wählen müssen, denn ich
würde Ihnen darauf gern eine Antwort geben.
({0})
- Das hat was mit Politik zu tun.
({1})
- Überhaupt nicht!
Sie können die wirtschaftliche Lage - die uns natürlich
Sorgen macht, denn die Prognosen werden permanent
korrigiert - nicht in einer Aktuellen Stunde abhandeln.
Diese Debatte ist die Wiedervorlage sämtlicher Diskussionen, die wir vor drei Wochen in diesem Haus geführt
haben.
({2})
Sie bringen kein einziges neues Argument. Es hat sich
auch nichts verändert. Ich glaube nicht, dass wir gut beraten sind, im Wochenrhythmus, so, wie sich die Prognosen
ändern, oder so, wie Professor Walter in die Kristallkugel
der Deutschen Bank schaut, diese Diskussionen zu
führen. Natürlich ist es richtig, dass sich die Konjunktur
abgeschwächt hat. Alle Experten warnen aber den deutschen Staat davor, jetzt einen hektischen Aktionismus zu
betreiben.
Ihr Blitzprogramm - nun wahrlich kein Geistesblitz hat in dieser Richtung nichts zu bieten. Herr Brüderle,
wenn man beispielsweise Ihren Einschätzungen und
Empfehlungen gefolgt wäre - bei der Haushaltsberatung
zum Haushalt 2001 haben Sie uns vorgeworfen, wir würden die Wachstumsraten zu gering ansetzen, wir wollten
das Geld den Bürgern nicht zurückgeben, wir wollten
Steuern und Nettokreditaufnahme nicht senken -, würden
wir uns jetzt in einer außerordentlich prekären Situation
befinden. Deshalb: Über Ihre Empfehlung, jetzt die Steuerreform vorzuziehen, kann man natürlich reden. Es ist sicher eine Möglichkeit, um solchen Phasen abgeschwächter Konjunktur entgegen zu wirken.
({3})
- Natürlich, das machen wir jetzt in der Aktuellen Stunde,
so wie Helmut Kohl das in Ihrer Zeit in Aktuellen Stunden entschieden hat. Ich kann mich bestens daran erinnern: Die großen politischen Entscheidungen unter Bundeskanzler Kohl, Wirtschaftsminister Rexrodt und solch
großen Könnern der Wirtschaftspolitik sind in Aktuellen
Stunden getroffen worden.
({4})
Was Sie hier verbreiten, ist Hysterie. Sie verbreiten einen Zweckpessimismus. Sie wollen diese Regierung angreifen und ihr vorwerfen, dass sie nichts tut. Sie ignorieren die gesamten Reformen, die in der letzten Zeit
durchgeführt wurden, von der Rentenreform über die
Steuerreform bis hin zur Haushaltskonsolidierung, und
verschweigen, dass die Situation in Deutschland noch
lange nicht so dramatisch ist wie in anderen Ländern.
Schauen Sie sich einmal den letzten OECD-Bericht an!
Dort wurden Korrekturen bezüglich der Erwartung des
Inlandsprodukts vorgenommen: USA 1,8 Prozent, Japan
1,2 Prozent, Niederlande 0,9 Prozent, OECD 1,3 Prozent
und Deutschland 0,5 Prozent. Bei der Produktivitätsentwicklung haben wir im gesamten Euro-Raum momentan
Einbußen zu verzeichnen, nur in Deutschland besteht immerhin ein leichtes Plus.
Ich möchte das nicht übertreiben: Ich nehme diese
Dinge wirklich ernst und wir sind in der Tat gut beraten,
diese Sache sehr aufmerksam zu verfolgen und zu überlegen, was man tun kann. Dies haben alle Redner - auch
Staatssekretär Diller - herausgestellt. Aber Ihren blinden
Aktionismus mit der ewig gleichen Platte, was schief
laufe, sollten Sie uns wirklich ersparen. Das ist genauso
unfruchtbar und unproduktiv wie das Bemühen, der
Frage nachzugehen, ob Herr Eichel oder Herr Müller mit
ihren Prognosen Recht haben. Am Ende dieses Jahres
werden wir über all den Unsinn, den Sie, Herr Brüderle,
hier geredet haben, erneut debattieren; das verspreche ich
Ihnen.
({5})
Die Sache sieht dann etwas anders aus. Ich glaube, auch
Sie sehen dann etwas anders aus.
({6})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Günter Rexrodt.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Schulz, erlauben Sie mir einmal
ein ganz persönliches Wort: Die Lage ist ernst; man kann
sich auch aufregen; aber wenn man in der Regierungsverantwortung - das gilt auch für Ihre Partei - steht, sollte
man nicht die Nerven verlieren.
({0})
Was Sie hier vorspielen, gibt kein überzeugendes Bild ab.
Zur Sache haben Sie kein Wort gesagt. Sie haben sich nur
über unsere Vorschläge aufgeregt, aber zur Sache kein
Wort gesagt.
({1})
Die Lage ist in der Tat ziemlich besorgniserregend und
auch der Kassenbericht, den Herr Diller hier abgegeben
hat, hat nicht darüber hinwegtäuschen können, dass Aktionen und Maßnahmen notwendig sind. Wir haben deshalb die Aktuelle Stunde beantragt, um die Gründe für die
wirtschaftliche Schwäche aufzuzeigen und Korrekturen
anzumahnen.
({2})
Das ist ja wohl legitim. Wir wissen sehr wohl - ich sage
das ganz nüchtern -, dass die Lage der Wirtschaft immer
von vielen Datenkonstellationen abhängt. Wenn man sich
aber die unsrige hier in Deutschland anschaut, kommt man
sehr schnell zu dem Ergebnis, dass es sich um eine hausgemachte Krise und um eine hausgemachte Schwäche
handelt. Das muss gesagt werden.
({3})
Ich sage es nüchtern: Die Lage in der Weltwirtschaft ist
nicht besonders günstig, aber auch nicht besonders
schlecht; ich denke dabei an die europäischen Nachbarn.
Auch der Euro-Kurs - bei aller Problematik, die da an anderer Stelle hereinkommt - stützt unsere Exportwirtschaft
immer noch.
Die Wirtschaft hat in den letzten Jahren durch eigene
Anstrengungen Enormes geleistet: in technologischer
Hinsicht, in der Einstellung auf die Globalisierung und in
der Umstellung auf Dienstleistungen. In vielen Bereichen
haben wir Kostenführerschaft, dennoch bildet unser Land
in Bezug auf die gesamtwirtschaftlichen Daten das
Schlusslicht.
({4})
Das gilt für die fünf Rahmendaten, die bei der Bewertung
der Wirtschaft eine Rolle spielen. Wir sind Schlusslicht,
die anderen stehen nicht so übel da: Die Probleme sind
also hausgemacht. Aus dieser Verantwortung können Sie
sich, meine Damen und Herren, nicht herausstehlen.
({5})
Ich sage Ihnen einmal ganz klar: 1998 hatte der Aufschwung mit einem Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent
eingesetzt. Als Reaktion von der SPD kam darauf nur
- ich erinnere mich noch -: „Das geht ja nur auf den Export zurück.“ 1999 haben wir dann Ihr Desaster mit einem
Wachstum von etwas mehr als 1 Prozent erlebt.
({6})
Da hieß es von Ihrer Seite: „Das ist das Erbe von Helmut
Kohl“; dabei war dieses Desaster auf Ihr erstes Regierungsjahr zurückzuführen.
({7})
Werner Schulz ({8})
Dann kam das Jahr 2000; das war ein gutes Jahr. Zur
Hälfte ist dieses Ergebnis Ihnen anzurechnen - ich bin da
ganz fair -, weil die Steuerreform und andere Weichenstellungen Anlass zu ein wenig Optimismus gaben. Zur
anderen Hälfte geht dieses Ergebnis auf die günstige Exportkonjunktur zurück, die Sie vorher ja abgetan hatten.
Aber das Ergebnis war in Ordnung. Für 2001 zeichnet
sich wieder ein Desaster in Bezug auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum ab. Das hat nicht weltwirtschaftliche oder europäische Gründe, sondern im Gegenteil eher
folgende: Sie haben die Stimmung in der deutschen Wirtschaft kaputtgemacht und das Vertrauen verspielt.
({9})
Das fing bei der Steuerreform an, die ja von der Richtung her okay ist - darüber haben wir lange diskutiert -,
aber den Mittelstand diskreditiert.
({10})
Das hat die Stimmung kaputtgemacht. Die Leute fühlen
sich geprellt. Dann kam diese unselige Ökosteuer, eine
abwegige Steuer, die die Stimmung ganz und gar kaputtgemacht hat. Nur darum geht es.
({11})
Dann haben Sie groß angekündigt, Sie wollten die Lohnnebenkosten senken. Ich weiß, wie schwierig das ist, und
will hierbei auch angesichts des Vorhabens einer Gesundheits- und Rentenreform ganz fair sein. Aber dieses Versprechen, die Lohnnebenkosten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu senken, können Sie nicht einhalten.
Der entscheidende Grund aber sind meines Erachtens
die Fehlentwicklungen im gesamten Bereich Arbeitsrecht, Mobilität und Flexibilisierung der Arbeitswelt.
({12})
Das ist das große Handicap der deutschen Wirtschaft. Sie
tun da nicht nur nichts, weil Sie sich mit den Gewerkschaften nicht anlegen wollen - die mussten ja für die
Steuer- und Rentenreform eingekauft werden -, sondern
Sie drehen das Rad sogar zurück.
Dazu gehören die Verpflichtungen im Zusammenhang
mit Teilzeitarbeit, das 630-Mark-Gesetz, alles das, was
wir in Sachen Scheinselbstständigkeit erlebt haben,
({13})
die Rückführung des Schwellenwertes beim Kündigungsschutz und vieles andere mehr.
({14})
Meine Damen und Herren, nun haben wir auch noch
Inflation. Die Inflation ist zu weiten Teilen hausgemacht.
Ich rechne Ihnen dabei gar nicht den Sondereffekt, nämlich die Verteuerung der Lebensmittel, an,
({15})
wohl aber, dass sie drauf und dran sind, 40 Prozent des liberalisierten Energiemarktes in die Regulierung zurückzuführen. Das führt zusammen mit der Ökosteuer zu einer
Verteuerung.
({16}) -
Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind außerhalb der
Redezeit!)
Mein letzter Satz, Herr Präsident. Während andere
Länder ihr Arbeitsrecht flexibilisieren und eine Mobilisierung in der Gesellschaft herbeiführen, fällt uns ein
großes probates Mittel ein: Deutschland erfindet das Dosenpfand.
({17})
Das Dosenpfand - 1,5 Milliarden DM werden so zusätzlich abgeschöpft - wird unsere Probleme lösen. Dosenpfand und eine Verlängerung des Briefmonopols - das ist
die deutsche Wirtschaftspolitik im Tagesablauf. So richten Sie die Wirtschaft zugrunde und machen Sie die Stimmung kaputt! Das muss ein Ende haben.
Danke.
({18})
Für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Nina Hauer das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Damen
und Herren! Lieber Herr Rexrodt, es ehrt Sie, dass Sie am
Schluss Ihres Redebeitrages über Ihre Ausführungen selber lachen mussten. Es ist hier ohnehin immer nett mit Ihnen.
({0})
Herr Brüderle, der Hang zum staatlichen Interventionismus ist offensichtlich derzeit eine Marktlücke in der
politischen Meinungsbildung. Mir macht es Spaß, dass
ausgerechnet die F.D.P. meint, diese Marktlücke für sich
besetzen zu müssen. Richtig ist natürlich: Es scheint offensichtlich ein Wettbewerb der deutschen Wettbewerbsinstitute ausgebrochen zu sein, die Prognosen nach unten
zu korrigieren. Die beängstigende Begeisterung, die die
Opposition schon am Anfang der Debatte gezeigt hat,
nämlich diese Korrektur nach unten zu beklatschen, mag
damit zusammenhängen, dass sich Ihre Umfrageergebnisse genauso verhalten. Verlassen Sie sich aber nicht
auf diesen Zusammenhang! Dieselben Wirtschaftsinstitute sagen, es sei zu erwarten, dass das Wachstum in der
zweiten Hälfte des Jahres steigt. Dann kann es sein, dass
Sie den Anschluss verpassen.
Wir nehmen den Rückgang der Konjunktur in einigen
Bereichen der Wirtschaft sehr ernst, weil wir wissen, dass
dies für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland
nicht nur günstige Auswirkungen hat. Aus diesem Grunde
prüfen wir jeden Vorschlag, der in der politischen Debatte
in diesem Zusammenhang gemacht wird. Ich gebe zu,
dass die Vorschläge der F.D.P. nach höheren Inverstitionen besser sind als die der CDU.
({1})
Der CDU wäre es am liebsten, wir steckten unser Geld in
den konsumtiven Teil unseres Haushalts, zum Beispiel in
den Bereich Verteidigung, was bedeuten würde, dass dieses Geld für Investitionen verloren ist. Sie hingegen, Herr
Brüderle, schlagen ein Blitzprogramm vor, sagen aber
nicht, wie das funktionieren soll. Auch wenn Sie in der
Marktlücke eines staatlichen Interventionismus bleiben
wollen, sage ich Ihnen: Die Wirtschaft kann besser wirtschaften als der Staat.
({2})
Ich meine, dass wir uns auch in Zukunft auf diesen Mechanismus verlassen können. Der Staat muss seine Hausaufgaben in den Bereichen machen, in denen es von der
Marktentwicklung her nicht unbedingt dann zu Investitionen kommt, wenn sie nötig sind. Das tun wir auch.
Wenn Sie sich den neuen Haushaltsplan ansehen, dann
stellen Sie fest, dass wir auf Zukunftsinvestitionen setzen,
vor allem im Bereich der Forschung und der Bildung. Darüber hinaus setzen wir im Haushalt des Bundesministers
für Arbeit und Sozialordnung auf Weiterqualifikationen
für ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, deren
Chancen auf dem Arbeitsmarkt wegen ihrer mangelnden
Qualifikation im Moment nicht so gut sind.
({3})
Dann gibt es den Vorschlag, der auch aus der CDU
kommt, man möge doch die nächste Stufe der Steuerreform vorziehen. Ich weiß nicht, ob Sie darüber einmal mit
den Ländern gesprochen haben, in denen die CDU mit ihrer Mehrheit die Verantwortung trägt.
({4})
Ich kann mir kaum vorstellen, dass es Begeisterung
dafür geben wird, die Haushalte der Länder mehr zu belasten, obwohl die immer noch besser dastehen als der
Bundeshaushalt.
Abgesehen davon ist das Vorziehen der Steuerreform
von der volkswirtschaftlichen Wirkung her nicht notwendig. Die Zahlen für die einzelnen Stufen liegen ja auf dem
Tisch. Wir geben auf der Nachfrageseite allein in diesem
Jahr mit der Steuerreform 45 Milliarden DM in die Volkswirtschaft hinein,
({5})
nämlich durch Senkung der Einkommensteuersätze, von
der auch der Mittelstand in erheblichem Maße profitiert.
Allein dadurch, dass die gezahlte Gewerbesteuer nun von
der Einkommensteuerschuld abziehbar ist, erfahren die
mittelständischen Unternehmen eine Entlastung von rund
13 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
({6})
Dies wird sich auch im Jahresabschluss zeigen.
Darüber hinaus machen wir das deutsche Steuerrecht
wieder international wettbewerbsfähig,
({7})
indem wir den Systemwechsel den anderen Ländern und
ihren Volkswirtschaften anpassen. Auf diese Veränderungen hat die deutsche Wirtschaft unter Ihrer Regierung jahrelang gewartet.
Ein letzter Punkt: Ich kann ja verstehen, wenn sich die
Opposition an jeden Strohhalm klammert, der ihr hingeworfen wird. Was ich nicht verstehen kann, ist, wenn
Leute, die sich für ernst zu nehmende Wirtschafts- und
Finanzpolitiker halten mögen, den Standort Deutschland
bewusst und mit Begeisterung hier im Parlament herunterreden.
({8})
Das ist wirtschaftspolitisch und angesichts der Entwicklung, die wir nehmen können, grob fahrlässig. Die Branchen weisen ja durchaus unterschiedliche Wachstumsraten
auf. Im Bereich der Kommunikationstechnologien, in der
Elektrotechnik, in Teilen der Metall verarbeitenden Industrie herrscht die Erwartung riesiger Wachstumsraten. Die
Prognosen in einigen Branchen sind sehr positiv. Das ist in
den letzten Monaten überall deutlich geworden und auch
von Unternehmensverbänden bestätigt worden.
({9})
Dann als Politiker zu sagen, das alles könne nicht richtig sein und daran glaube man nicht, bedeutet, der psychologischen Wirkung, die das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort braucht, einen Riegel vorzuschieben.
Insofern kann ich Sie nicht verstehen. Ich denke aber, dass
auch niemand darauf hören wird, was Sie hier sagen, weil
das Vertrauen des Auslandes in die Wirtschaftskraft
Deutschlands ungebrochen ist.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile
dem Kollegen Dietrich Austermann für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Um mit dem Letzten anzufangen, was die Kollegin gesagt hat: Das Vertrauen des AusNina Hauer
landes ist ungebrochen. Das müsste sich ja dann in ausländischen Investitionen in Deutschland niederschlagen,
aber auch in der weiteren Entwicklung, die mit unserem
Lande zusammenhängt.
Was mich an der Diskussion, die wir seit einigen Wochen führen, einigermaßen erstaunt, ist, dass offensichtlich versucht wird, den Eindruck zu erwecken, das, was
sich jetzt in der Wirtschaft abspielt, sei überhaupt nicht zu
erkennen gewesen, habe sich bisher nicht abgezeichnet.
({0})
Im November 2000 habe ich bei der Haushaltsrede gesagt,
dass es dunkle Wolken am Konjunkturhimmel gibt. Ich
habe auch klar begründet, weshalb diese dunklen Wolken
am Konjunkturhimmel erscheinen. Das konnte jedermann
nachvollziehen. Es gab damals böses Gelächter und es
hieß, man wolle die Konjunktur schlecht reden. Das war
das Gleiche wie das, was Sie heute erzählen. Aber die Situation war in der Tat abzusehen.
Es zeigt sich, dass unsere Kritik, die an der Steuerreform angemeldet wurde, auch völlig berechtigt gewesen
ist. Diese Steuerreform hat ihre Wirkung nicht entfaltet.
({1})
Anfang der 80er-Jahre gab es einmal den Satz: Stell dir
vor, es ist Krieg, und keiner geht hin! - Heute könnte man
sagen: Stell dir vor, man senkt die Steuern, und keiner
merkt etwas davon! Das charakterisiert in etwa die Politik, die Sie hier betreiben.
Ganz eindeutig ist aber, dass in den letzten zweieinhalb
Jahren eine Reihe von Maßnahmen getroffen worden
sind, die schädliche Wirkungen hinterlassen mussten:
Bremsspuren beim Wachstum, die seit geraumer Zeit und
nicht erst seit den letzten Tagen erkennbar sind. Da ist einmal die Energiepolitik: Es soll der Eindruck vermittelt
werden, das habe nur etwas mit den ausländischen Mineralölkonzernen zu tun. Aber 30 Pfennig der letzten Spritpreiserhöhung sind hausgemacht. Dazu kommt noch die
schlechte Wirtschaftspolitik, die die Dollar-Euro-Relation
verschlechtert. Das war doch mit Händen zu greifen. Und
dass die Energiepreiserhöhung mehr auffrisst als die Steuerreform an Entlastung bringt, kann auch jeder nachvollziehen. Deswegen sage ich: Die Regierung stellt sich
dumm, aber sie hätte wissen müssen, was sich abzeichnete und was sich tatsächlich verwirklicht.
Sie konnten es beispielsweise auch an der Entwicklung
der Zahl der Existenzgründer ablesen. Ich habe mich
heute noch einmal bei der Ausgleichsbank und der KfW,
erkundigt: Was tut sich denn bei der Zahl der Anträge von
Existenzgründern, also bei Leuten, die mittelständisch investieren wollen? Absolute Flaute, Trendwende nicht abzusehen. Das heißt doch, Arbeitsplätze, die in absehbarer
Zeit entstehen müssten, werden auch in den nächsten Monaten nicht entstehen. Das ist die Situation.
Ich habe das Thema Energiepreise angesprochen.
Gucken Sie Ihre Haushaltspolitik, auf die Sie ja so stolz
sind, an. Das ist auch eine - wie wir heute sagen - Wirkung der falschen und schlechten Haushaltspolitik. Wenn
ich das Sparen alleine dadurch erreiche, dass ich die Investitionen reduziere, dann muss ich mich über die Wirkung an vielen Stellen im Lande nicht wundern.
({2})
Das ist aber gemacht worden.
Also: Energiepreise - hausgemachte Situation; eine
Haushaltspolitik, die die Investitionen bestraft und nicht
belohnt; und dann - wie die Kollegen meiner Fraktion
schon vor mir gesagt haben - eine Fülle von Nadelstichen
gegen die Wirtschaft, die, wenn man sie zusammennimmt, die Wirtschaft in einem unerträglichen Maße zusätzlich belasten.
({3})
Wenn ich an diesen drei Stellen nichts ändere, dann
kann ich auch keine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation erwarten; dann geht es tatsächlich in Richtung Rezession. Das heißt - das ist eine Forderung, die wir in
nächster Zeit konkretisieren werden -, wir müssen zum
1. Januar eine drastische Steuersenkung vornehmen. Dabei ist es relativ egal, ob Sie sagen, ich verzichte auf die
gesamte Ökosteuer - das trifft dann vor allen Dingen den
Bund; Sie brauchten mit den Ländern gar nicht lange darüber zu verhandeln -, oder ob Sie sagen - wie die Kollegin Scheel, die ja außerhalb des Parlaments manchmal
mutig redet - ich ziehe die gesamte weitere Steuerreform
auf den 1. Januar des kommenden Jahres vor. Das war ja
unsere Kritik: dass man eine Salamireform, also in Scheiben, macht, und zwar so dosiert, dass überhaupt keine positive Wirkung mehr entsteht.
Sie müssen natürlich auch mit den Maßnahmen aufhören, mit denen Sie die Wirtschaft belasten. Gucken Sie
sich die Situation im Einzelhandel an. Gucken Sie sich die
Situation bei der Bestellung von Kraftfahrzeugen an.
Gucken Sie sich - das ist heute in den Zeitungen zu lesen die reduzierten Gewinnerwartungen vieler Betriebe an.
Gucken Sie sich an, was im Handwerk passiert. Viele im
Handwerk - nicht nur im Bauhandwerk - sagen, so dramatisch wie jetzt war die Situation in den letzten Jahrzehnten
nicht - nicht in den letzten drei Jahren, nicht in den letzten
16 Jahren! Das ist die Folge einer falschen Finanz-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik dieser Regierung.
({4})
Ein Eingeständnis dafür, dass das so ist, war vor
kurzem in einer kleinen Randnotiz zu lesen, in der die
Kollegin Wolf - sie ist ja im Moment nicht da -, gesagt
hat: Wir überlegen, ob wir dieses Teilzeitzwangsgesetz
zum Ende des Jahres auslaufen lassen. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass es Arbeitsplätze kostet, aber
keine neuen Arbeitsplätze schafft.
({5})
Das merkt man gelegentlich bei den Grünen. Ab und zu
kommt einmal so ein konservativer Gedanke, natürlich
nur außerhalb des Parlaments, außerhalb der Regierungstätigkeit. Das, was Sie in der Regierung machen, ist genau
das Gegenteil: Sie belasten Wirtschaft und Betriebe und
die Steuerzahler. Dazu kommt dann noch diese gewaltige
Inflation.
Lassen Sie mich mit einer weiteren Bemerkung
schließen. Heute Morgen war vom Kindergeld die Rede.
In unserer Regierungszeit haben wir das Kindergeld übrigens beim ersten Kind von 50 DM auf 220 DM erhöht.
Darüber wurde geschwiegen. Was hilft denn die kümmerliche Erhöhung des Kindergeldes von 30 DM vom
1. Januar an, wenn bei einem durchschnittlichen Einkommen von 3 000 DM durch die Inflation 105 DM weggefressen werden? Wie soll sich derjenige denn noch
über die Erhöhung des Kindergeldes freuen? Und den
Rest kriegt er dann noch durch die nächste Stufe der Ökosteuer.
Diese hohe Inflation und dieses mickrige Wachstum
belasten Bürger und Betriebe. Deswegen sagen wir: Ohne
eine Kurskorrektur werden Sie keine Verbesserung der
wirtschaftlichen Situation in Deutschland erreichen.
Vielen Dank.
({6})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Ditmar Staffelt.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal bedauere
ich die Tatsache, dass hier in aller Massivität versucht
wird, die Fakten, über die wir heute in dieser Aktuellen
Stunde an sich reden sollten, in einer Weise zu entstellen,
({0})
dass wir in diesem Hause zu keiner ernsthaften Debatte
über Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik fähig sind.
Ich sage Ihnen: Der Opposition stünde es gut an, wenn sie
den Standort Deutschland nicht in der Art und Weise, in
der sie es hier praktiziert, schlechtreden,
({1})
sondern mithelfen würde, diesen Standort Deutschland zu
gestalten. Ich habe überhaupt keine vernünftigen, realisierbaren Vorschläge von Ihrer Seite gehört.
({2})
Da kommt der Rexrodt - Günter Bleichgesicht in
früheren Tagen; seit er nicht mehr Minister ist, hat er ein
bisschen rote Farbe -, der in all den Jahren seiner Tätigkeit als Bundeswirtschaftsminister nun überhaupt nichts
vom dem, was er hier gefordert hat, durchgesetzt hat.
({3})
Warum haben Sie denn nicht die Arbeitsmärkte dereguliert?
({4})
Warum haben Sie denn, bitte schön, Rentenreform, Steuerreform und andere Dinge nicht durchgesetzt?
({5})
Sie reden hier, als hätten Sie keine Geschichte und als
hätte es nicht eine Bundesregierung gegeben, für die Sie
höchstpersönlich mitverantwortlich waren.
({6})
Schauen Sie sich doch einmal das Ergebnis an, über
das wir heute reden und das natürlich dazu führt, dass wir
in dieser Zeit in massiver Weise Haushaltskonsolidierung
durchführen müssen. Sie haben das Land in die Schuldenkrise gestürzt, mit all den Wirkungen, die das am Ende
eben auch für die konjunkturelle Entwicklung in unserem
Lande hat.
({7})
Da werden Argumente ins Feld geführt, bei denen ich
nur sagen kann: Sie versuchen mit aller Kraft, Negativpunkte zusammenzuführen. Sie reden davon, die Gesetze
zur Lohnfortzahlung, zum Kündigungsschutz, zu den
630-Mark-Jobs, zur Förderung der Selbstständigkeit - beschlossen übrigens in 1999 - hätten den Unternehmerinnen und Unternehmern das Investieren sozusagen unmöglich gemacht.
({8})
Wie kommt es denn, dass die konjunkturelle Entwicklung
trotz dieser beschlossenen Gesetze gerade in 2000 so positiv war, wie sie war? Das sind doch Argumente, die an
den Haaren herbeigezogen sind.
({9})
Ich setze ausdrücklich dagegen: Wir haben unsere
Schularbeiten gemacht.
({10})
Schauen Sie sich das doch einmal an! Wir haben eine
Steuerreform und eine Rentenreform verabschiedet, wir
haben die Lohnnebenkosten gesenkt. Wenn Sie heute an
der Wall Street, in Washington, in Kanada wie in Europa
über den Standort Deutschland reden, dann werden Sie
hören, dass man aufgeatmet hat, dass diese Regierung
diese Reformen eingeleitet hat
({11})
- ja, so ist es - und Deutschland wieder zu einem interessanten Investitionsstandort in Europa geworden ist.
({12})
Da können Sie noch so viel erzählen; das sind die objektiven Tatsachen.
Ich sage Ihnen noch eines: Die Binnenkonjunktur ist
das, was im Moment das allgemeine Bild aufhellt; sonst
hätten wir in sehr viel stärkerem Maße eine Konjunkturdelle. Ohne Steuerreform sähe die konjunkturelle Entwicklung sehr viel schlechter aus.
({13})
Reden Sie doch nicht andere Standorte gut. Schauen Sie
sich die USA mit ihren aktuellen Problemen an; daraus erklären sich auch viele der Exportprobleme, die wir im
Moment haben.
So einfach, wie Sie es sich machen, geht es wirklich
nicht. Herr Rexrodt ist ja jetzt auf dem Wege, Agitprop zu
machen, seitdem er mit bestimmten politischen Kräften
auf der Straße zusammenarbeitet,
({14})
und hier predigt er das Lied des Kleinunternehmers. Ich
sage Ihnen eines, Herr Rexrodt: Wir bleiben bei unserem
Kurs, eine offensive Politik für die kleinen und mittleren
Unternehmen in unserem Lande zu machen. Wir haben
viele Reformen in Gang gesetzt und wir haben darüber hinaus eine Förderkulisse geschaffen, die sich sehen lassen
kann, die wirkt und greift.
({15})
Deshalb wird der Standort Deutschland auch durch Ihr
Gerede nicht schlechter werden.
({16})
Sie sollten sich überlegen, ob Sie mit dieser Art der Argumentation irgendwo Gehör finden; denn sie ist destruktiv und nicht konstruktiv nach vorne gerichtet.
({17})
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Peter Rauen für die Fraktion der
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über
die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Es ist
schon sonderbar, dass Wirtschaftsminister Müller heute
bei der Debatte nicht anwesend ist.
({0})
Entweder darf er nicht mehr kommen, nachdem er vom
„Nullwachstum“ gesprochen hat, oder er will die Position
der Bundesregierung nicht mehr verteidigen.
Herr Staffelt, wir reden hier von Fakten. Es liegt mir
fern, von anderen Dingen zu sprechen.
Bereits im Frühjahr haben die führenden Wirtschaftsinstitute festgestellt, dass wir Deutsche beim Wachstum in
Europa das Schlusslicht bilden.
({1})
Sie haben festgestellt, dass wir beim Beschäftigungszuwachs weit unter dem Durchschnitt in Europa liegen und
dass wir bei der Abnahme der Arbeitslosigkeit auf die
zwölfte Stelle zurückgefallen sind. Diese Prognosen wurden im Februar aufgestellt.
Atemberaubend und beängstigend ist, wie schnell diese
Daten noch einmal nach unten korrigiert worden sind. Das
muss uns doch in höchstem Maße zu denken geben. Ich
wundere mich nach wie vor, dass von der Regierung nicht
zur Kenntnis genommen wurde, was uns die Bundesbank
im Februar mitgeteilt hat, dass nämlich in 2000 das reale
Wachstum mit 3,1 Prozent um 0,4 Prozent höher als das
nominale Wachstum war. Das hat es im letzten Jahrhundert nur zweimal gegeben: einmal bei der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre und
einmal nach der Korea-Krise 1953.
Ich habe der Regierung wegen dieses Phänomens geschrieben und eine erstaunlich klare Antwort bekommen.
Man hat die Tatsache festgestellt, dass im Jahr 2000 viele
Betriebe ihre durch höhere Energiekosten entstandenen
Mehrkosten nicht über ihre Preise haben weitergeben können. Was heißt das im Klartext? Weniger Gewinne, weniger Investitionsfähigkeit und -tätigkeit und damit weniger
Arbeitsplätze. Ferner stand in der Antwort von Frau
Hendricks, man erwarte, dass sich die Preise im Jahr 2001
erholen würden. Das bedeutet eine höhere Inflation. Genau das haben wir heute. Auch das ist abenteuerlich.
Vor über einem Jahr haben die sachkundigen Männer
und Frauen, die die Steuerschätzungen vornehmen, angenommen, dass die Inflationsrate bei 0,6 Prozent liegen
werde. Nur zwölf Monate später liegt die Inflationsrate
bei 3,5 Prozent. Es ist ein atemberaubendes Tempo, was
hier vorgelegt wird. Ich habe vor über einem Jahr vor dieser Entwicklung gewarnt. Im März dieses Jahres haben
Sie mir noch Schwarzmalerei unterstellt.
Wer so wie Sie eine Politik gegen den Mittelstand und
Arbeitnehmer in Deutschland macht, der muss auf dem
Arbeitsmarkt scheitern.
({2})
Ich habe bei der hier vorhandenen Ignoranz - man spürt
sie auch heute wieder -, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, keine Lust, in die Details zu gehen. Aber der Arbeitsmarkt ist das Spiegelbild einer guten oder schlechten
Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Sie stehen vor
dem Scherbenhaufen dieser Politik, die gescheitert ist.
({3})
Der Arbeitsmarkt gibt ganz klar Auskunft. Wir hatten
im Januar, Februar, März, April und Mai dieses Jahres saisonbereinigt eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um
51 000 Personen. Sie haben zunächst mit einer Abnahme
gerechnet. Aber 100 000 Arbeitslose mehr bedeuten
5 Milliarden DM mehr Kosten und nicht vorhandene Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme.
Herr Schröder wollte schließlich am Abbau der Arbeitslosigkeit gemessen werden. Was ist jetzt die Realität?
Ich will die Verbindung zur vorherigen Regierung durchaus herstellen. Nachdem die Zahlen korrigiert worden
sind, wissen wir, dass wir, gerechnet in Erwerbstätigenstunden - nur diese zählen; denn sie sind die Grundlage
für die Zahlung von Steuern und Abgaben -, beginnend
von Mitte 1997 einen Aufwuchs bis 1998 hatten. Der Arbeitsmarkt ist nach den Erwerbstätigenstunden in 2000
zum Stillstand gekommen und geht in 2001 sogar zurück.
Das ist die Realität.
({4})
Der Eindruck, dass diese Regierung auf dem Arbeitsmarkt Erfolge gehabt haben könnte, hat damit zu tun, dass
wir bei den Zahlen zwei Jahre im Dunkeln getappt sind,
weil statistische Daten korrigiert wurden. Heute werden
Teilzeitarbeitsplätze, die 630-DM-Jobs, mitgezählt. Das
war früher nicht der Fall. Bei den Arbeitslosenzahlen werden die über 58-Jährigen im Vorruhestand nicht mehr mitgezählt. Das ist die Realität.
Wir haben keine Abnahme der Arbeitslosigkeit. Sie
kennen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes - damit
werde ich schließen -:
({5})
Wir haben im Jahr 1999/2000 einen Rückgang der Arbeitslosenzahl um 370 000. Das ist aber weniger als der
Wert, um den die Arbeitslosenzahl im gleichen Zeitraum
aus demographischen Gründen zurückgehen musste, weil
mehr ältere Leute aus dem Erwerbsleben ausscheiden, als
junge Leute in das Erwerbsleben eintreten.
Ich sage Ihnen eines voraus: Diese Politik zulasten von
Mittelstand und Arbeitsplätzen wird Sie auf dem Arbeitsmarkt einholen. Wir werden am Ende des Jahres noch einmal darüber sprechen. Dann wird die Situation noch
schlechter sein. Denn in den Zweigen der Wirtschaft, deren Produkte nicht exportiert werden können, die nicht
über Grenzen operieren können, haben wir zurzeit eine
Situation, wie sie schlimmer nicht sein kann. Ich weiß,
wovon ich rede.
Danke schön.
({6})
Als letztem
Redner in dieser Aktuellen Stunde gebe ich das Wort dem
Kollegen Dr. Rainer Wend für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Staffelt hat
mir gerade gesagt, er habe in der Zeitung gelesen, dass
sich Herr Uldall Hoffnungen auf das Amt des Finanzsenators der Freien und Hansestadt Hamburg macht.
({0})
Ich muss sagen, nach Ihrem heutigen Redebeitrag kann
man das den Hamburgern nicht zumuten.
Ich will mich an einer Stelle mit Ihnen streiten. Sie wissen, dass ich bei vielen Dingen mit Ihnen sehr gerne diskutiere, aber das greife ich auf. Sie haben uns im
Jahr 1998 ein „gut gemachtes Bett“ hinterlassen: mit
4,2 Millionen die höchste Arbeitslosigkeit seit Bestehen
der Bundesrepublik, mit 1,5 Billionen DM die höchste
Staatsverschuldung seit Bestehen der Bundesrepublik,
mit 42,3 Prozent Lohnnebenkosten die höchste Abgabenquote seit Bestehen der Bundesrepublik und die höchste
Steuerbelastung, die es in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen gegeben hat.
Das ist das, was Sie uns als „gut gemachtes Bett“ verkaufen wollen. Das ist im Grunde nicht einmal eine Luftmatratze.
({1})
Es ist ein unglaublicher Vorgang, dass Sie sich heute hier
hinstellen und sagen, dass diese Zahlen in Ordnung gewesen sind. Wir sind dabei, das, was Sie uns hinterlassen
haben, mit viel Arbeit in Ordnung zu bringen. Selbst diese
mühseligen Anfänge, mit denen wir es nicht leicht haben,
versuchen Sie heute kaputt- und schlechtzureden. Das ist
nicht in Ordnung, Herr Uldall. Das kann ich nicht akzeptieren.
({2})
Wenn wir uns doch wenigstens über drei Dinge verständigen könnten, wobei ich an dritter Stelle ausdrücklich auch etwas in unsere eigene Richtung sagen will.
Erstens. Es ist mehrfach gesagt worden, deshalb dazu
nur ein Satz: Sie sagen, diese Krise sei hausgemacht. Das
ist schon deswegen absurd, weil jeder weiß, die Konjunkturdelle im Euro-Raum wird tiefer - „Handelsblatt“ -; Japan, Amerika, die Zahlen sind bekannt.
Zweitens. Wirtschaft hat viel mit Psychologie zu tun.
Das sagen alle, das räume ich auch ein. Da das so ist,
würde ich Ihnen auch gerne etwas aus dem „Handelsblatt“
vorlesen:
Positiv fiel im April nur die Verbrauchsgüterproduktion auf, die als einziger Bereich des verarbeitenden
Gewerbes einen Zuwachs ... verzeichnen konnte. Da
die Bestellungen von Konsumgütern im April ebenfalls gestiegen sind, werden leise Hoffnungen geweckt, dass der deutsche private Verbrauch nun doch
durch die Steuererleichterungen Impulse erhält.
Ich sage nicht, es läuft alles prima. Aber all die positiven
Dinge, die wir sehen, sollten wir nicht kleinreden, sondern
herausheben, um eine gute psychologische Stimmung in
der Wirtschaft zu erzeugen. Das wäre unsere gemeinsame
Aufgabe und nicht nur unsere Aufgabe. Stellen Sie sich
bitte auch dieser Aufgabe.
Drittens. Ich glaube, man kann nicht bestreiten, dass
es auch in Deutschland Sonderentwicklungen gibt, mit
denen man sich beschäftigen muss. Der erste Punkt, den
ich nennen möchte - ihn hat der Kollege Austermann angesprochen; er macht auch mir Sorgen -, ist der Umstand, dass in den öffentlichen Haushalten das Verhältnis zwischen Investitionen einerseits und konsumtiven
Ausgaben andererseits nicht in Ordnung ist. Dies führt
in der Bauwirtschaft, aber nicht nur dort zu großen Problemen.
Diese Schwierigkeit besteht aber nicht etwa nur beim
Bundeshaushalt, meine Damen und Herren. Es ist fast
gleichgültig, in welches Bundesland wir gehen. Es ist fast
gleichgültig, in welche Kommune wir gehen. Es ist fast
gleichgültig, welche politische Konstellation in diesen
Körperschaften an der Regierung ist. Überall besteht das
Problem, dass es alle politischen Kräfte bisher letztlich
nicht geschafft haben, konsumtive Ausgaben zurückzudrängen und stattdessen investive Ausgaben zu finanzieren. Diese schwierige Aufgabe müssen wir gemeinsam
angehen.
Ein weiterer Punkt - Sie haben das nicht ganz zu Unrecht angesprochen - betrifft die Arbeitsmärkte. Dazu
muss man sagen: Die rot-grüne Regierung kann noch
nicht am Ende dessen sein, was in dieser Hinsicht zu tun
ist. Stichwort Lohnabstandsgebot: Es ist richtig, dass die
Abstände zwischen staatlichen Transferleistungen einerseits und niedrigen Löhnen im Tarifbereich andererseits
größer werden müssen. Das darf aber nicht zulasten der
Sozialhilfebezieher passieren; vielmehr muss es zugunsten derjenigen arbeitenden Menschen geschehen, deren
Einkommen im unteren tariflichen Bereich liegt. Der erste
Schritt dazu ist unsere Steuerreform, durch die der Eingangssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt und der Steuerfreibetrag auf 15 000 DM angehoben wird. Für mich
persönlich sind weitere Schritte denkbar; Stichwort Lohnsubventionen. Ich meine, man muss diese Dinge ansprechen, wenn man über die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und über Wirtschaftspolitik redet.
({3})
Zusammengefasst: Wir haben es in Deutschland und in
Euro-Land mit einer konjunkturellen Delle zu tun. Tun
wir unsererseits doch alles, die deutlich werdenden positiven Ansätze in den Vordergrund zu rücken, damit wir
den für das zweite Halbjahr prognostizierten Aufschwung
tatsächlich erreichen! Reden wir positiv über unser Land!
Machen wir weitere Schularbeiten! Stichwort öffentliche
Investitionen in den Arbeitsmarkt; diese Investitionen
müssen wir vornehmen. Schaffen Sie hier keine Weltuntergangsstimmung, sondern sagen Sie: Wir sind auf
einem guten Weg und wir sind bereit, diesen Weg mitzugehen.
({4})
Ich schließe
die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Deutsche und Polen in Europa: Eine gemeinsame Zukunft
- Drucksache 14/6322 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich
das Wort dem Kollegen Markus Meckel von der Fraktion
der SPD.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Vor zehn Jahren, am 17. Juni 1991, haben
Helmut Kohl und Jan Krzysztof Bielecki den von HansDietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski ausgehandelten Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Voraussetzung
dafür war der Abschluss des Grenzvertrages zwischen
Deutschland und Polen.
Mit diesen Verträgen ist eine neue Epoche zwischen
Deutschland und Polen eingeleitet worden. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen diesen Ländern seit 1989
kann als eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte des
20. Jahrhunderts bezeichnet werden, eines Jahrhunderts, das auch durch schlimmstes Geschehen zwischen
Deutschland und Polen gekennzeichnet ist.
Polen ist seit mittlerweile mehr als zwei Jahren Mitglied der Nordatlantischen Allianz und wird demnächst
Mitglied der Europäischen Union sein. Damit werden die
beiden wichtigsten Ziele der polnischen Außenpolitik in
den letzten zehn Jahren mit unserer Unterstützung erfüllt.
Die deutsch-polnischen Regierungskonsultationen am
Anfang dieser Woche haben gezeigt, wie partnerschaftlich unsere Beziehungen auf Regierungsebene sind. Die
Kontakte auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene haben sich in den letzten Jahren so intensiv entwickelt, dass auch für Menschen, die sich damit
intensiv beschäftigen, ein Überblick kaum möglich ist.
Ich nenne beispielsweise die Vielzahl der Kontakte in der
Grenzregion, in den vier EU-Regionen an Oder, Neiße,
Spree und Bober.
In Anbetracht unserer Geschichte mag besonders erstaunen, dass gerade unsere militärische Zusammenarbeit
sehr gut ist, wie das trilaterale deutsch-dänisch-polnische
„Korps Nordost“ in Stettin zeigt. Ich möchte auch auf die
Entwicklung des wirtschaftlichen Austausches zwischen
Deutschland und Polen hinweisen. Polen ist heute außerhalb der Europäischen Union unser drittwichtigster Handelspartner nach den USA und der Schweiz. Das ist ein
wichtiges Fundament unserer Beziehungen. Diese Entwicklung ist überwältigend.
Ich freue mich, dass wir hier angesichts dieses Jahrestages einen parteiübergreifenden Antrag verabschieden
werden. Das zeigt, dass die Beziehungen zu Polen kein
Streitthema mehr in der deutschen Innenpolitik sind.
({0})
Es ist symbolträchtig, dass auch der Sejm in dieser
Stunde über eine Resolution zum zehnten Jahrestag des
Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche
Zusammenarbeit diskutiert. Ich glaube, dass die guten
Kontakte zwischen den beiden Parlamenten für die guten
Kontakte zwischen unseren Ländern bezeichnend sind.
Die Ereignisse von 1989 haben dazu geführt, dass erstmals in der gemeinsamen Geschichte ein demokratisches
Deutschland und ein demokratisches Polen aneinander
grenzen - ohne gegenseitige Gebietsansprüche, aber
dafür mit stabilen demokratischen Strukturen auf beiden
Seiten und dem festen Willen zur Zusammenarbeit. Dadurch hat sich der Charakter unserer Beziehungen grundlegend verändert. Es hat sich ein Perspektivwechsel sowohl für Polen als auch für West- und Ostdeutsche mit
ihrer unterschiedlichen Geschichte ergeben. Voraussetzung für diesen Perspektivwechsel in unseren Beziehungen war der Prozess der Aussöhnung von Deutschen
und Polen.
Zu danken haben wir all denjenigen, die sich in vielen
Jahrzehnten in den verschiedensten Bereichen für Versöhnung und die Annäherung von Deutschen und Polen
eingesetzt haben. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen vieler Einzelner, aber besonders die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche und der
Brief der polnischen Bischöfe. Auf Regierungsebene hat
die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt den Versöhnungsprozess eingeleitet. Alle Folgeregierungen haben diesen Prozess fortgesetzt und sich wichtige Verdienste dabei erworben.
({1})
Dies hat möglich gemacht, dass auch in Polen frühere
Tabus gebrochen wurden. Ein Beispiel dafür ist, dass die
Frage der Vertreibung durch polnische und deutsche Historiker gemeinsam aufgearbeitet wird. Dies hat dazu beigetragen, dass wir mit unserer gemeinsamen Geschichte
viel unverkrampfter umgehen können. Zur weiteren Entspannung hat auch die Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“, die Anfang der 90er-Jahre gegründet worden
ist, beigetragen. Besonders wichtig war natürlich die Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ zur Entschädigung der Zwangsarbeiter. Die belastete Geschichte unserer beiden Länder wird zwar in unserer Erinnerung bleiben, aber sie stellt eben keine ernsthafte Belastung mehr für unsere Beziehungen dar. Dies ist
ein wichtiger Erfolg. Wir hoffen, dass auch das letzte zu
lösende Problem in Bezug auf die Vergangenheit, die
Rückführung von kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern,
in Bälde gelöst werden kann.
Wir stehen in unserem bilateralen Verhältnis wahrhaftig noch vor einer Fülle von Herausforderungen. Wenn
man sich die gesellschaftliche Entwicklung anschaut,
dann stellt man fest, dass zwar die Eliten aus Wirtschaft,
Politik und Kultur intensiven Kontakt miteinander haben,
dass aber unsere beiden Bevölkerungen vor allem eines
gemeinsam haben, nämlich dass sie jeweils nach Westen
schauen. Das heißt, dass die Polen nach Deutschland
schauen und sich die Deutschen normalerweise nicht nach
Osten wenden. In Deutschland mangelt es an Interesse für
Polen. Wir müssen deshalb viel dafür tun, dass sich die
Menschen aus Deutschland und Polen mehr begegnen,
damit Vorurteile abgebaut werden, die auf beiden Seiten
noch vorhanden sind.
({2})
Besonders wichtig ist deshalb auch, die Begegnung
von Jugendlichen unserer beiden Länder zu fördern, damit sie zusammenkommen, miteinander Zeit verbringen
und zusammen arbeiten können. Sehr erfreulich ist, dass
sich die beiden Regierungschefs in den Konsultationen
vom Anfang dieser Woche darauf verständigt haben, den
jeweiligen Beitrag für das Deutsch-Polnische Jugendwerk im nächsten Jahr außerplanmäßig zu erhöhen. Wir,
die wir uns lange darum bemüht haben, haben hier einen
wichtigen Erfolg erzielt. Das ist ein großer Schritt. Aber
wir sollten uns auch darum bemühen, dass es so weitergeht; denn auch diese Erhöhung kann und darf nicht die
letzte bleiben.
Es ist zu begrüßen, dass die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit ein neues Förderprofil erhalten
wird. Die Stiftung wird in Zukunft keine Infrastrukturprojekte mehr finanzieren, sondern sich auf die Förderung
wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Austauschprojekte konzentrieren.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Lage der
deutschen Minderheit in Polen nicht mehr das wichtigste
Thema zwischen der alten Bundesrepublik und Polen ist,
wie es das neben der Grenzfrage vor 1989 noch war; denn
die Situation der deutschen Minderheit hat sich grundlegend verbessert. Grundsätzlich sehe ich hier keine Probleme mehr. Das Verhältnis zwischen Polen und ihren
Mitbürgern deutscher Nationalität, die auch polnische
Staatsbürger sind, wird sich weiter normalisieren, wenn
Polen Mitglied der Europäischen Union ist.
Ich denke, es wäre auch erfreulich, wenn manches, was
bisher nicht geschehen ist, in Zukunft ermöglicht würde.
Dies betrifft etwa die schon vor zehn Jahren angesprochene Frage von zweisprachigen Ortsschildern. Ich hoffe,
dass in Polen der Mut wächst, das zu tun. Dies wäre ein
Zeichen der europäischen Normalität, wie es zum Beispiel in den sorbischen Gebieten der Lausitz oder in den
deutschsprachigen Regionen Belgiens seit langem die
Regel ist.
Eine wichtige Rolle in der Annäherung beider Länder
kommt den Hunderttausenden deutschen Bürgerinnen
und Bürgern zu, die sprachliche, familiäre und kulturelle
Bindungen zu Polen haben, sowie den vielen polnischen
Staatsbürgern, die in Deutschland leben, arbeiten oder
studieren. In all ihrer Verschiedenheit erfüllen sie eine
wichtige Mittlerrolle zwischen unseren beiden Ländern.
Die deutsch-polnischen Beziehungen werden und wurden schon in den letzten zehn Jahren ganz wesentlich
durch die europäische Perspektive geprägt. Wir unterstützen den Weg Polens in die Europäische Union. Dies ist
für uns nicht nur eine Sache, die beiläufig geschieht. Sie
ist übrigens auch kein Gnadenakt Deutschlands oder
Westeuropas gegenüber den Staaten Ostmitteleuropas.
Vielmehr macht der Beitritt dieser Staaten die Europäische Union europäischer; ihre eigentliche Identität ist davon wesentlich berührt.
In Göteborg ist die Perspektive für die Mitgliedschaft
mit dem Vertragsabschluss und der Teilnahme an den
Wahlen 2004 auch zeitlich klar beschrieben worden. Das
ist zu begrüßen. Klar ist ebenfalls, dass hinsichtlich manMarkus Meckel
cher Sorge - ich denke an die Kapitelabschlüsse in den
Verhandlungen, wo Polen etwas zurückgefallen ist; wir
wissen, dass das auch mit der Behandlung von Themen
und politischen Fragen im Wahlkampf zu tun hat - noch
Wichtiges zu tun ist. Gleichzeitig ist aber zu sagen, dass
Polen insgesamt weit vorangekommen ist.
Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen: Wir
gehen davon aus, dass Polen demnächst Mitglied ist, und
nehmen diese Perspektive heute schon vorweg. Es ist
wichtig, nicht nur über die Übergangsregelungen bei der
Freizügigkeit und den Fragen des Bodenerwerbs zu reden.
Das sind schwierige Fragen, aber ich denke, dass sie in
nicht zu ferner Zukunft gelöst sein werden, zumal nach
dem Wahlkampf etwas mehr Gelassenheit bestehen wird,
wenn es in Polen eine neue Regierung geben wird.
Es ist wichtig - wir haben das als Parlamentarier praktiziert -, über die Zukunft Europas gemeinsam nachzudenken. Polen und Deutsche als Partner in Europa, mit
den Franzosen vereint im Weimarer Dreieck, müssen sich
darüber Gedanken machen, wie das Europa der Zukunft
aussehen soll. So haben wir in der deutsch-polnischen
bzw. der polnisch-deutschen Parlamentariergruppe in den
letzten Monaten zusammengesessen und ein Papier über
die Zukunft Europas erstellt, in dem wir uns auf gemeinsame Aussagen zu diesen Fragen geeinigt haben. In der
nächsten Woche wird die polnisch-deutsche Parlamentariergruppe mit einer Delegation hier sein und wir werden
Mitte der nächsten Woche das Papier der Öffentlichkeit
vorstellen. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: Es ist erstaunlich, in welch hohem Maße es uns gelungen ist,
Übereinstimmung in wichtigen Fragen der künftigen Europapolitik zu erzielen.
Die europäische Integration spielt sich nicht nur in
Brüssel und den europäischen Hauptstädten ab. Integration und Annäherung zwischen zwei Gesellschaften sind
besonders im Grenzraum konkret erfahrbar. In diesem
Bereich müssen wir noch weitere Brücken zwischen unseren Ländern und Völkern schlagen. Dazu gehören neue
Grenzübergänge, die Förderung des wirtschaftlichen Austausches sowie die Abfederung der Belastungen, die
durch die Erweiterung zumindest zeitweise bestehen werden. Wichtig ist auch, die Bereitschaft zum Erwerb der
jeweils anderen Sprache zu unterstützen, denn die Sprachgrenze zwischen Deutschland und Polen ist bis heute eine
der schärfsten Grenzen innerhalb Europas.
Ich komme zum Schluss: Den direkten Austausch zwischen den Menschen und das gegenseitige Kennenlernen
zu fördern, das wird auch in Zukunft die größte Herausforderung im deutsch-polnischen Verhältnis bleiben. Ich
hoffe, dass wir diese Herausforderung gemeinsam bewältigen werden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächster Redner für
die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Dr. Friedbert
Pflüger.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Beziehungen zwischen Ländern haben sehr oft mit herausragenden Persönlichkeiten und deren Leistungen zu tun.
Ich will in dieser Debatte zunächst über Lech Walesa
sprechen. Zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution stand er mit seiner Solidarnosc auf. Es gab
Streiks an der Lenin-Werft und die Umwälzung in Polen.
Es war die ungeheure Leistung eines Mannes und einer
Bewegung, dieses ganze schreckliche Regime in die Knie
zu zwingen.
({0})
Wir danken Lech Walesa und der Solidarnosc für das, was
sie auch für uns getan haben. Ohne Walesa hätte es keine
Umwälzung in Polen, keine europäische Revolution und
keine deutsche Einheit gegeben. Dieser Dank verpflichtet
uns, uns jetzt für Polen auf dem Weg in die Europäische
Union einzusetzen.
Ich möchte über Wladyslaw Bartoszewski sprechen.
Was für ein fabelhafter Mann!
({1})
Wir haben ihn hier im Hause anlässlich der Festveranstaltung zum 50. Jahrestag des Endes des Krieges erlebt. Er
ist jetzt bald 80 Jahre alt, Außenminister von Polen. Er
verbrachte neun Jahre im Gefängnis - für seine Überzeugungen. Zunächst war er in Auschwitz. Auschwitz, das
sagt sich so leicht. Danach saß er in stalinistischen Gefängnissen. Er war fast das ganze Leben im Widerstand.
Was für eine ungeheure Kraft dieser Mann hat! Dann
wurde er Außenminister seines Landes, des jetzt freien
Polen. Er hat ein kleines Büchlein „Es lohnt sich anständig zu sein“ herausgegeben. Da sage noch jemand, es
gebe zu wenig Vorbilder in Europa. Bartoszewski gehört
zum Besten in Europa. Menschen wir Bartoszewski sind
eine Bereicherung für unsere Europäische Union.
({2})
Ich möchte über Bronislaw Geremek sprechen. Kurz
bevor das Warschauer Ghetto von Deutschen zerstört
wurde, schmuggelten ihn seine Eltern heraus. 45 Jahre
später erhielt er den Karlspreis der Stadt Aachen und hielt
seine Dankesrede - das war das erste Mal überhaupt bei
einem offiziellen Anlass - auf Deutsch: Das sei zwar die
Sprache der Mörder seiner Eltern, aber er spreche
Deutsch, weil sich unser Land mehr als jedes andere Land
für Polens Beitritt in die NATO und in die EU eingesetzt
habe. Wir beginnen erst jetzt zu verstehen, was es für eine
enorme Chance für unser Land ist, wenn wir Anwalt der
Wiedervereinigung Europas, der Öffnung von NATO und
EU sind. Wir gewinnen nicht nur neue Märkte. Wir gewinnen vor allen Dingen neues Ansehen, neues Gewicht
und neues Vertrauen.
Diese drei Beispiele stehen für viele Menschen, die
sich in den letzten Jahren in hervorragender Weise für die
Verständigung zwischen unseren Ländern stark gemacht
haben. Das waren nicht nur Politiker - wahrlich nicht -,
sondern viele Intellektuelle und Schriftsteller, zum Beispiel Karl Dedecius, Adam Michnik, Siegfried Lenz,
Andrzej Szczypiorski und Adam Krzeminski. Man könnte
noch viele andere nennen.
Denken wir auch an die unzähligen Initiativen von
deutsch-polnischen Gesellschaften, des Jugendaustausches, der Städtepartnerschaften, des Sports und der Soldaten. Was ist das für ein Wunder, dass wir nicht mehr aufeinander schießen, sondern zusammen den Frieden auf
dem Balkan sichern! Wir haben ein deutsch-dänisch-polnisches Korps. Wir sind zusammen - Volker Rühe sei
Dank - Mitglieder der NATO. Ist das nicht eine fantastische Entwicklung, die keiner so hätte voraussehen können? Nehmen wir sie nicht schon viel zu sehr als selbstverständlich hin?
Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen bedürfen aber der Pflege. Sie sind besser, als sie es jemals in
den letzten 250 Jahren waren. Aber sie sind ein zartes
Pflänzchen. Deswegen müssen wir uns fragen, was wir
tun können, um diese Freundschaft zu vertiefen.
Erstens nehme ich die Beibehaltung der Interessenidentität zwischen unseren Ländern. Wir müssen Polen
bei seinem Weg in die EU unterstützen. Eine erste Beitrittsrunde im Jahre 2004 ohne Polen wäre ein schwerer
Fehler.
({3})
Dann würde es große Enttäuschung in Polen geben. Das
würde zur Abwendung von Europa führen. Dann würde es
keine Stabilisierung von Mittel- und Osteuropa geben.
Dennoch gibt es einige Kandidatenländer, die nicht auf
Polen warten wollen, das aufgrund seiner Größe und
Struktur natürlich die meisten Probleme zu bewältigen
hat. Aber haben nicht auch die Polen damals, als sie mit
Solidarnosc streikten, lange auf die anderen Länder warten müssen, bevor die sich dem polnischen Freiheitskampf angeschlossen haben?
EU-Mitgliedschaft und das Ziel, 2004 dabei zu sein,
heißt natürlich nicht eine Carte blanche, ein Freifahrtschein. Warschau muss die Kriterien erfüllen. Momentan
droht das Land bei den Verhandlungen zurückzufallen.
Das hat mit objektiven Problemen zu tun, aber auch mit
übertriebenen Ängsten.
Diese gibt es allerdings auch bei uns. Weder droht mit
der EU-Erweiterung ein Massenansturm von Arbeitern
aus Polen, noch werden Deutsche massenhaft polnischen
Boden aufkaufen. Wir müssen diese Debatte endlich
rationalisieren und von den unsinnigen irrationalen Ängsten wegführen.
({4})
Wir brauchen - zweitens - gemeinsame Strategien mit
den Polen, etwa für das Verhältnis zu den baltischen Staaten, für eine gute Zusammenarbeit mit der Oblast
Königsberg, mit der Ukraine oder mit Russland. Unsere
beiden Länder sollten zusammen konzeptionelle Vordenker für die zweite Runde der NATO-Öffnung sein und
das nicht den Amerikanern überlassen.
Drittens. Ist Polen das trojanische Pferd der USAin Europa? Das ist absoluter Unsinn. Die Polen wollen die gemeinsame europäische Außenpolitik und die gemeinsame
europäische Verteidigung. Aber sie erinnern uns - wie ich
finde, zu Recht - daran, dass wir uns nicht überschätzen
sollten und dass es ohne die Präsenz Amerikas keine Balance in Europa gäbe. Übrigens würde sie auch zwischen
Deutschen und Polen schwerer zu erreichen sein.
Nächster Punkt: Eine wichtige Rolle kommt der deutschen Minderheit und den Vertriebenen zu. In Polen
gibt es immer wieder Irritationen. Sie wissen, dass auch
ich nicht mit jeder Tonlage einverstanden bin. Aber ich
finde doch, dass sich die Polen manchmal überlegen sollten, wo auf der Welt es noch Vertriebene gibt, die auf Gewalt verzichten, neue Grenzen anerkennen und Beiträge
zur Versöhnung leisten.
Dass wir auf diesem Weg voranschreiten können, wird
auch dadurch erleichtert, dass in Polen heute das Leid im
Zusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen diskutiert wird. Wie sagte es der polnische Bürgerrechtler
Jan Józef Lipski:
Das uns angetane Böse, auch das größte, ist keine
Rechtfertigung für das Böse, das wir selbst anderen
zugefügt haben.
({5})
- Das ist keine feierliche Rede, Herr Bundesaußenminister. Aber ich finde Ihre Unaufmerksamkeit völlig unangemessen. Sie ist genauso unangemessen wie der Umstand, dass Sie selbst bei solchen Anlässen immer reden
und ständig den Eindruck vermitteln, Sie wüssten sowieso
schon alles sehr viel besser. So können wir nicht zusammenarbeiten, vor allem nicht an einem solchen Tag und
bei einem solchen Thema.
({6})
Es bleibt viel zu tun, was das Verhältnis unserer beiden
Länder angeht. Es gibt immer noch viele Vorurteile und
Stereotypen. Das böse Wort von der „polnischen Wirtschaft“ zum Beispiel ist angesichts der polnischen
Wirtschaftsdynamik noch lächerlicher geworden. Wenn
wir doch so reformfreudig wären oder auch nur annähernd
solches Wachstum hätten! Natürlich gibt es in Polen Probleme, auch noch viel Armut. Aber wenn wir in die Städte
gehen, sehen wir eine unglaubliche Entwicklung. Da
lohnt es sich, mitzumachen, sich zu engagieren, hinzugehen und sich nicht ängstlich abzuwenden. Nein, EU-Erweiterung - in Wahrheit: Vereinigung Europas - ist nicht
ein Akt der Nächstenliebe des reichen Westens gegenüber
dem armen Osten, sondern das ist - wie wir an diesen
großartigen Persönlichkeiten, an dieser Revolution im eigenen Land erleben - eine Bereicherung für uns alle. Es
schafft im Übrigen auch Arbeitsplätze bei uns.
Wir müssen diesen Osterweiterungsprozess - das gilt
für uns im Hause, aber auch generell für die Menschen in
unserem Lande - endlich mit mehr Freude, mehr Kraft
und mehr Zukunftszuversicht annehmen und dürfen nicht
defensiv in der Ecke verharren. Die Menschen, besonders
die jungen Leute, müssen sich besser kennen lernen. Polen ist ein so spannendes, ein so schönes, ein kulturell so
reiches Land. Es ist für uns im Osten so wichtig wie
Frankreich im Westen. Wenn sich Polen und Deutsche so
wie Deutsche und Franzosen verstehen, dann haben wir
Frieden und Freiheit in Europa. Darum geht es uns allen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({7})
Jetzt spricht der
Kollege Helmut Lippelt für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig - die vorhergegangenen Reden haben
es belegt -, dass wir heute, anlässlich des zehnten Jahrestages des deutsch-polnischen Vertrages, eine Polen-Debatte führen, und es ist gut, dass, anders als beim letzten
Mal, die CDU aus ihrer sektiererischen Ecke herauskommt
({0})
und den gemeinsamen Antrag mitformuliert hat, sodass
wir wieder zu einer gemeinsamen, in die Zukunft weisenden Polenpolitik finden. Wie gut dies ist, zeigte eben die
Rede von Herrn Pflüger.
({1})
Wer den Vertrag nochmals gelesen hat, weiß, dass es
ein historischer Vertrag ist, und zwar in doppeltem Sinne:
Mit der Anerkennung der Grenzen des vereinten Deutschlands schloss er eine ganze Etappe des deutsch-polnischen Verhältnisses ab. Zugleich legte er das Fundament
für eine gemeinsame Zukunft, wie es der junge polnische
Historiker Borodjiei vor zwei Jahren in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ beschrieb: Jetzt müssten Deutsche
und Polen endlich nicht mehr übereinander reden, nicht
mehr gegeneinander aufrechnen und nach Wegen zueinander suchen, jetzt könne endlich eine gemeinsame Politik gegenüber Dritten definiert werden.
Der Vertrag hat eine beachtliche Dynamik entfaltet:
Waren 1991 die ersten Artikel im Kern noch ein Nichtangriffsvertrag, so ist Polen heute in der NATO und wir formulieren gemeinsam eine europäische Verteidigungs- und
Sicherheitspolitik. Enthält der Vertrag noch das Versprechen, Polen bei der Lösung seiner internationalen Verschuldungsprobleme zu unterstützen, so hat Polen heute
eine kräftige Wirtschaft, von der Wachstumsimpulse auch
auf die deutsche Wirtschaft ausgehen und in Zukunft sicherlich noch verstärkt ausgehen werden. Enthält der Vertrag noch die Zusage, Polen bei der Annäherung an die EU
nach „unseren Möglichkeiten“ zu unterstützen, so befinden wir uns heute in der Endphase der Beitrittsverhandlungen.
Vier Bemerkungen möchte ich anschließen: Erstens.
Es hat nach Göteborg Irritationen gegeben, die Beitrittsländer hätten sich zu stark auf Termine fixiert, während
das eigentlich schwierige Landwirtschaftskapitel noch
bevorstehe und die EU sich zuvor auf ihre eigene Reform
einigen müsse. Meine Fraktion ist dafür, dass die Mitgliedschaft Polens so schnell wie möglich kommt; auf
jeden Fall muss es in die erste Gruppe gehören. Die notwendigen Übergangsfristen sollten so flexibel und kurz
wie möglich gehalten werden. Polen muss sich an den
EP-Wahlen 2004 beteiligen können. Wir wollen auch,
dass Polen an dem einzuberufenden Konvent beteiligt
wird.
Und die Landwirtschaft? Wir selber wollen doch alle
eine Agrarwende, soweit ich heute Morgen wieder gehört
habe, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung und
nicht ohne Polemik, aber doch quer durch alle Parteien.
Diese Wende wird sich aber zwischen der an Subventionen gewöhnten französischen und der noch relativ naturnahen polnischen Landwirtschaft abspielen, zwischen
einzelbetrieblicher Förderung und der Förderung des
ländlichen Raums. Es liegt doch geradezu nahe, das Weimarer Dreieck, also die französisch-deutsch-polnische
Zusammenarbeit, zu intensivieren und, begleitend zu den
Kommissionsverhandlungen, eine Initiative dieser drei
Länder zur Lösung des Kernproblems Landwirtschaftspolitik zu versuchen. Dann ist auch der ins Auge gefasste
Termin spielend zu halten.
Zweitens. Im Vertrag von 1991 verpflichten sich beide
Seiten, ein Lernen der jeweils anderen Sprache zu unterstützen. Deutschland hat hier einen großen Nachholbedarf. Polnische Freunde in Berlin weisen immer wieder
darauf hin, wie schwierig es ist, für ihre Kinder eine
Schule zu finden, in der Polnisch eine akzeptierte Unterrichtssprache und nicht nur eine Sprache der Ausgesiedelten ist, die auch in sprachlicher Hinsicht möglichst
schnell in Deutschland integriert werden sollen.
Wir treten dafür ein, dass wir den Polnischunterricht in
unseren Schulen deutlich fördern. Polnische Sprache, polnische Literatur, polnische Geschichte müssen in unseren
Schulen und Universitäten einen entschieden größeren
Stellenwert bekommen.
Drittens. Der Bundestag kann viele der Verhandlungen
zur Aufnahme Polens in die EU nur begleiten. Viel mehr
können wir aber zur kulturellen Vorbereitung unseres
Landes auf die Mitgliedschaft Polens tun. Das ist hier bereits gesagt worden.
Wenn es für manche Teile unserer Bevölkerung auch
nicht gerade ein Kulturschock werden wird, dass Polen in
kurzer Zeit ein völlig gleichberechtigtes Mitglied mit
gleichen Rechten, gleichen Pässen, vielleicht bald auch
gleichem Geld sein wird, so wird es aber doch ihr Weltbild verändern. Jede Fraktion im Bundestag wird feststellen, dass dieser Schock auf ihre Klientel jeweils etwas anders wirken wird. Wir haben da andere Probleme als die
CDU. Gemeinsam sollten wir uns aber dafür einsetzen,
dass im zusammenwachsenden Europa die Vielfalt und
der kulturelle Reichtum jedes Landes zur gemeinsamen
europäischen Kultur gehört. Die Intensivierung der
Zusammenarbeit mit unseren jeweiligen Partnern in Polen gehört substanziell dazu.
Viertens. Eine aus meiner Sicht schon jetzt zentrale
Aufgabe ist die Entwicklung einer gemeinsamen Ostpolitik. Mit Polen kommt ein Land in die EU, das an mehrere osteuropäische Länder grenzt und viele Erfahrungen
und Kenntnisse in der Zusammenarbeit mit diesen Ländern hat. Diese Grenzen müssen sicher und zugleich
durchlässig für Menschen und Ideen sein. Europa endet
nicht an den Grenzen der EU, jetzt nicht und auch in einigen Jahren noch nicht.
Am 22. Juni 1941 begann der Einmarsch Hitlerdeutschlands in die Sowjetunion. Die Aufgabe, eine neue gesamteuropäische Friedensordnung zu schaffen, ist noch nicht
erfüllt, der Traum vom gemeinsamen europäischen Haus
noch nicht ausgeträumt. Polen - da bin ich ganz sicher - ist
darin schon jetzt ein sehr wichtiger Partner.
({2})
Der nächste Redner ist
der Kollege Jürgen Türk für die F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die „FAZ“ titelte am
Montag:
Göteborger EU-Gipfel für zügige Erweiterung
und
Die ersten Beitrittsverhandlungen sollen bis Ende
2002 abgeschlossen sein - Deutschland beugt sich.
Es ist gut, dass sich die EU zu einem Beitrittsfahrplan
durchgerungen hat, wenn auch unter erheblichem Widerstand Deutschlands. Eine weitere Verschleppung verschlechtert die Chancen der Erweiterung. Deshalb kann
man es dem liberalen ungarischen Ministerpräsidenten
Victor Orbán gut nachfühlen, dass er das Göteborger Verhandlungsergebnis überaus bewegt aufgenommen hat. Verstehen kann man auch Polens Außenminister Bartoszewski,
der frohlockte:
Wir wollten eine Deadline, jetzt haben wir sie.
Ich bin vorige Woche von einer Ausschussreise nach
Polen und Litauen zurückgekommen, habe also die Aufforderung des Kollegen Meckel schon realisiert. Dort
konnten wir uns einerseits davon überzeugen, dass die
Beitrittskandidaten bereits gewaltige Anstrengungen unternommen haben, um die Kriterien für die Aufnahme zu
erfüllen. Andererseits gibt es noch viele Defizite. So lässt
die Verkehrsinfrastruktur sehr zu wünschen übrig. Sie
stellt in ihrem derzeitigen Zustand ein Hemmnis für weiteres Wirtschaftswachstum dar; und das ist ja ebenfalls
eine Grundlage für die Erweiterung.
Dieses und andere Probleme werden nicht ohne Hilfe
der EU gelöst werden können; das muss vor dem Beitritt
geschehen. Man kann die Aufnahme nicht nach dem
Motto, nach dem Beitritt Polens sei alles besser als vorher
- so Außenminister Fischer vor kurzem in Cottbus -, dem
Selbstlauf überlassen, sondern man muss den Prozess gezielt vorbereiten und begleiten.
({0})
Das liegt in Deutschlands ureigenem Interesse.
Wir brauchen die Kooperation mit Polen, das inzwischen Russland hinsichtlich seiner Bedeutung als Handelspartner überrundet hat und in das jährlich deutsche Investitionen in Höhe von mehreren Milliarden Euro
fließen, wie uns die Vorstände der vorbildlichen DeutschPolnischen Wirtschaftsfördergesellschaft klar machten.
Ich bitte übrigens darum, diese wichtige Gesellschaft bei
den nächsten Haushaltsberatungen nicht zu vergessen,
({1})
genauso wenig wie die Europa-Universität Viadrina in
Frankfurt/Oder, die derzeit unserer Meinung nach kaputtgespart wird, obwohl sie für das Zusammenwachsen von
Deutschland und Polen sehr wichtig ist.
Ich bin entschieden der Meinung, dass Deutschland alles in seinen Kräften Stehende tun muss, um Polen bei seinen Beitrittsbemühungen zu unterstützen. Deshalb haben
wir auch diesen Antrag formuliert. Es ist besonders erfreulich, dass es diesmal sogar ein fraktionsübergreifender Antrag geworden ist und wir uns in dieser Sache einig
sind.
Es ist bereits vieles eingeleitet worden, das wollen wir
nicht ignorieren und leugnen. Das reicht aber noch nicht.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern: Auf
beiden Seiten sind die Grenzregionen nicht ausreichend
darauf vorbereitet, dass dort in wenigen Jahren die
Schlagbäume fallen.
({2})
Das wird und muss schrittweise geschehen; denn man
darf die Kriminalitätsbekämpfung nicht auf die leichte
Schulter nehmen. Dies habe ich gestern auf einem BGSForum in Potsdam gelernt.
Das an sich gute Grenzlandkonzept des Bundeswirtschaftsministeriums ist wieder in der Schublade verschwunden; ich bedauere das. EU-Kommissar Verheugen
verschiebt Monat für Monat die Herausgabe des groß angekündigten EU-Konzepts für das Grenzland. Da es so
lange dauert, hoffen wir, dass dann auch etwas darin steht.
Man muss sich nicht wundern, wenn sich bei der Bevölkerung und den Unternehmen in der Grenzregion Verunsicherung und Angst breit machen. Das ist keine Panikmache. Es wird immer gesagt, man solle die Vorteile
besser erklären. Besser erläutern kann man aber nur etwas, wenn man etwas zu erläutern hat. Die Konzepte von
Bund, Ländern und EU müssen jetzt auf den Tisch und
aufeinander abgestimmt werden. Sie müssen also
deckungsgleich sein. Im Anschluss daran muss die Umsetzung erfolgen. Herr Kollege Pflüger, ich bin auch bereit, das mit Freude zu tun. Nur mit Freude allein wird es
aber auch nicht gehen. Man muss natürlich etwas haben,
was man mit Freude machen kann.
Ich komme nun zu den umstrittenen Übergangsfristen: Deutschland fordert sie bei der Freizügigkeit für Arbeitnehmer und bei der Gewerbefreiheit. Ich bekenne
mich dazu, dass ich dies auch tue. Wir haben in der vorigen Woche erfahren, dass dies in Polen und Litauen auf
Protest stößt. Wenn dort aber deutlich gemacht wird, dass
diese Einschränkungen sowohl zeitlich als auch vom Umfang her flexibel gestaltet werden, und zwar gemeinsam,
nicht einseitig, findet man Zustimmung. Wenn man diese
Dinge gemeinsam angeht - das kann und sollte man machen -, wird es gut gehen.
({3})
Ich glaube, dass unsere fraktionsübergreifende Forderung einer regelmäßigen Überprüfung hinsichtlich der
Übergangsfristen richtig ist. Die Notwendigkeit, dies vorzunehmen, ist eine vernünftige Zielsetzung. Insbesondere
kommt sie den Grenzlandbewohnern - halb Ostdeutschland, das wollte ich bei dieser Gelegenheit noch einmal
sagen, besteht aus Grenzland - entgegen.
Die Polen wollen Übergangsfristen für den Landerwerb. Während der Reise habe ich gelernt, dass es bei
Wirtschaftsinvestitionen die Freizügigkeit beim Landerwerb gibt. Dies wird immer anders dargestellt. Das Problem sind die landwirtschaftlichen Flächen. Hier befürchten die Polen einen Ausverkauf, dem sie vorbeugen wollen. Ich glaube aber, dass man dies verhandeln und so zu
einer Lösung kommen kann.
Alles in allem müssen jetzt endlich Konzepte auf den
Tisch, denn vom allgemeinen Gerede - das ist meine
Überzeugung - wird die Infrastruktur nicht besser: Es siedeln sich keine Wirtschaftsunternehmen an und es entstehen keine Arbeitsplätze. Auch die zu beobachtende wachsende Abwanderung kann dann nicht gestoppt werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Weil sehr viele Menschen bei
mir angefragt haben, muss ich zu Beginn erklären und
deutlich klarstellen, dass die PDS nicht eingeladen wurde,
den gemeinsamen Antrag der anderen Fraktionen mit zu
unterzeichnen. Ich bedauere, dass auf diesem unsinnigen
Wege immer ein Dialogverlust zustande kommt. Ich will
aber auch sagen, dass ich meiner Fraktion empfohlen
hätte, den Antrag in der vorliegenden Form nicht zu unterschreiben, und dass wir dem Antrag nicht zustimmen
werden.
({0})
Ich möchte das inhaltlich erläutern und zuerst einige
Dinge klarstellen, damit keine Missverständnisse aufkommen: Das deutsch-polnische Verhältnis ist für die
PDS - auch für mich persönlich - eine zentrale, wenn
nicht sogar die zentrale Frage der Osterweiterung der
Europäischen Union. Das deutsch-polnische Verhältnis
sollte in der deutschen Europapolitik - da stimme ich mit
dem Kollegen Pflüger durchaus überein - einen ähnlichen
Stellenwert wie das deutsch-französische Verhältnis einnehmen. Dazu muss man sich deutlich bekennen. Für
mich ist eine Osterweiterung der Europäischen Union
ohne Polen nicht denkbar.
({1})
Ich will zugespitzt sogar sagen: Eine Osterweiterung der
Europäischen Union, bei der Polen nicht in der ersten
Reihe steht, ist für mich politisch nicht denkbar und nicht
gewollt. Ich denke, hierüber kann es aus historischen wie
auch aus aktuellen Gründen breite Verständigung geben.
Ich bin überzeugt davon, dass das deutsch-polnische Verhältnis unabhängig von politischen Konjunkturen und
Mehrheitsverhältnissen in den einzelnen Ländern beständig gemacht werden muss.
Es ist aber doch nicht zu übersehen, dass die deutsche
Unterstützung für die Aufnahme Polens in die EU sehr
zögerlich - aus meiner Sicht zu zögerlich - ausfällt. Rasch
kam die deutsche Forderung nach Übergangsfristen bei
der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Forderung nach
Einführung von Fristen wäre nicht nötig gewesen, wenn
man rechtzeitiger die Probleme in den Grenzregionen
nicht nur betrachtet und allgemein erörtert, sondern sie
angepackt und dort konkrete Wirtschaftsentwicklung
durchgesetzt hätte.
({2})
Wir wissen seit zehn Jahren, was auf uns zukommt. Jetzt
so zu tun, als ob das Problem neu aufgetreten sei, ist diesem Verhältnis aus meiner Sicht nicht angemessen. Wir
brauchen gezielte Förderung in den Regionen auf beiden
Seiten der Grenze. Wir müssen dafür sorgen, dass diese
Räume zusammenwachsen. Wenn das gelingt, werden
Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit
wahrscheinlich nicht nötig. Heute muss man konkret eine
solche Politik betreiben und sollte sie nicht nur immer allgemein ankündigen. Das bedeutet auch, dass den Ländern
Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg endlich in
besserer Form und umfangreicher bei der Bewältigung
dieser Probleme geholfen werden muss.
({3})
Ich finde schon, Probleme muss man lösen und darf sie
nicht vertagen. Darauf haben auch die Bürger einen Anspruch. So rasch die deutsche Forderung nach Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit kam, so
gering fiel das Verständnis für die polnischen Sorgen und
das Anliegen der polnischen Politik aus, Übergangsfristen
für den privaten Erwerb von Grund und Boden in Polen
einzuführen. Ich kann diese polnischen Sorgen verstehen,
weil sich die wirtschaftliche Macht noch immer diesseits
und nicht jenseits der Grenze zusammenballt. So viel Sensibilität sollten wir doch gemeinsam aufbringen.
({4})
Ich möchte sehr, dass wir eine Politik betreiben, dass in
Polen nicht der Eindruck entsteht, dass sein Beitritt zur
Europäischen Union ein Beitritt zweiter Klasse sei, wie es
polnische Politiker formuliert haben. Systematisch sollten
alle Kontakte der zivilen Gesellschaft - da gibt der Antrag
sehr viel Konkretes her, was ich für sehr vernünftig
halte -, alle Treffen und jede Zusammenarbeit von Menschen aus Polen und Deutschland sowie gemeinsame Projekte gefördert und unterstützt werden. Jugendaustausch,
gemeinsame Forschungsprojekte, Universitätsarbeit, kulturelle Beziehungen und gemeinsame Geschichtsforschung stehen immer noch am Anfang und haben ihren
Endpunkt noch lange nicht erreicht. Ich würde polnische
Politiker und Bürger sehr bitten, sich auch als Brücke der
Europäischen Union für die weiter östlich liegenden Staaten zu verstehen. An unsere Adresse richte ich die Bitte,
dies zu befördern.
Ich komme zum Schluss. Ich finde, das Geschichtsbild im Antrag stimmt nicht. Es klammert nämlich den
grundlegenden Wandel in den deutsch-polnischen Beziehungen, der mit dem Warschauer Vertrag und der
Entspannungspolitik eingetreten ist, ebenso aus wie, dass
alles andere, was danach geschehen ist, auf diesem Werk
aufbaut. Das blenden Sie in Ihrem Antrag völlig aus; das
wird noch nicht einmal erwähnt. Die Politiker auf der
deutschen und auf der polnischen Seite, die Entspannung
schon in Zeiten verfochten hatten, als sie gesellschaftlich
noch höchst umstritten war, und nicht erst in Zeiten, als
sie gesellschaftlich akzeptiert war, müssen mit Namen
genannt werden. Das fehlt in Ihrem Antrag. Sie berufen
sich in Ihrem Antrag auf die Tradition der Zusammenarbeit mit der NATO. Ich will Ihnen abschließend sagen,
dass es auch eine andere Tradition polnischer wie deutscher Politik gibt, die es wert wäre, sich auf sie zu berufen. Ich nenne hier den Vorschlag des polnischen Außenministers Adam Rapacki einer kernwaffenfreien Zone in
Europa. Solche Traditionen hätten Sie zumindest aufnehmen und nicht aus Ihrem Antrag ausblenden sollen.
({5})
Jetzt spricht der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine lange andere Tradition, die es allerdings viele Jahre vorher gegeben hat, war, dass Polen immer die Sorge haben musste,
zwischen Russland und Deutschland germanisiert oder
russifiziert zu werden und dabei von der Landkarte der europäischen Geschichte zu verschwinden. 123 Jahre lang
war das ja auch der Fall. Genau das ist der Punkt, um den
es heute in Polen geht, nämlich dass die Aufnahme in die
Europäische Union genau das Dementi dieser schrecklichen langen Geschichte der nationalen Erfahrung, der
Demütigung Polens ist. Sich an diesem Dementi zu beteiligen und mitzuhelfen, dass Polen einen festen gesicherten Platz in der europäischen Völkerfamilie hat, ist wohl
die große historische Aufgabe, die insbesondere wir Deutschen gegenüber Polen haben und haben müssen. Aus diesem Grund ist die Aufnahme in die Europäische Union der
zentrale gemeinsame Punkt, der Polen und Deutsche miteinander verbindet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Die zweite Republik Polens war von zwei Diktaturen,
nämlich der kommunistischen Diktatur und der nationalsozialistischen Diktatur, zerrissen worden. Schmerzhaft
ist, dass in das historische Bewusstsein, in das Gedächtnis
der Polen eingeschrieben ist, wieder und wieder in der Geschichte gedemütigt worden zu sein. Im historischen Gedächtnis der Polen ist aber auch fest eingeschrieben, wieder und wieder den Mut zu haben, gegen den Selbstlauf
der Geschichte aufzustehen, sich aufzulehnen und mutig
und gemeinsam dagegen zu handeln. 1980 war das
Schlüsseljahr - Solidarnosc -, in dem deutlich geworden
ist: Wir Polen wollen gemeinsam aktiv handeln, um uns
gegen den Selbstlauf der Geschichte zu wenden und einen
eigenen Beitrag in das Geschichtsbuch Europas zu schreiben.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen ist es
wichtig, dass Namen wie Jan Józef Lipski und Tadeusz
Mazowiecki genannt werden. Letzterer hat bereits 1974
auf dem Deutschen Katholikentag deutlich gesagt, was
ihn umtreibt und woher seine innere Unruhe kommt, nämlich: Der Glaube selbst ist Unruhe, eine Unruhe um die
Authentizität des Lebens. - Das hat etwas mit dem zu tun,
was zum Beispiel Vaclav Havel geschrieben hat, nämlich
sein Leben zu beschreiben auf der Suche nach der Wahrheit. Das hat etwas mit der Dissidenz in jener Zeit zu tun,
die sich gegen die Diktatur aufgelehnt und dabei nichts
anderes als den Kern Europas entdeckt hat. Der Kern Europas sind die Werte Europas: Freiheit, Gerechtigkeit
und Solidarität. Das ist der entscheidende Punkt, der mit
dem Aufbruch Polens - übrigens auch mit dem Aufbruch
Tschechiens - verbunden ist. Die demokratische Revolution am Ende der 80er-Jahre konnte nur möglich werden,
weil die damalige kommunistische Diktatur von denen,
die die Demokratie für sich selbst entdeckt haben, zugrunde gerichtet worden ist, und zwar gewaltfrei und
friedlich. Das ist der Kernpunkt dessen, was wir jetzt vollziehen müssen, wenn es darum geht, dass Polen Mitglied
der Europäischen Union wird.
({2})
Es gibt keinen Zweifel, dass auch Deutsche dazu etwas
beigetragen haben. Dazu gehören natürlich die Entspannungspolitik, Willy Brandt und - er ist eben schon genannt worden - Karl Dedecius, jemand, der vor wenigen
Tagen 80 Jahre alt geworden ist und aus Lodz stammt, jener vielfarbigen multikulturellen Stadt, in der Polen und
Deutsche jiddisch miteinander gesprochen haben. Dort
gab es also schon ein Modell, das wir Europäer noch entwickeln müssen. Wir haben nach 1945 die Homogenisierung des Nationalstaats erlebt. Dabei ist sozusagen - so
schrecklich man es auch bezeichnen mag und wie furchtbar es für die Menschen gewesen ist - die Heterogenität
dessen entsorgt worden, was es zuvor gegeben hat, zum
Beispiel in der zweiten Republik in Polen. Darüber hinaus
ist damit eine wichtige Aufgabe verknüpft, die wir gegenüber Polen haben, betreffend zum Beispiel Galizien und
die Bukowina, jene Räume, die es zu entdecken gibt.
Nehmen Sie bitte das Buch von Karl Schlögel, das er
gerade eben veröffentlicht hat, in dem Sie das alles sehr
schön nachlesen können: von den Räumen Europas, die es
gegeben hat, die vielleicht versunken sind, die es aber zu
bergen gilt, die in dieses gemeinsame Europa als ein
Schatz eingebracht werden müssen, der nie verloren gehen darf.
({3})
Denken wir an die Diktaturen, unter denen die Polen so
unendlich haben leiden müssen: einmal die innere Diktatur des Nationalismus, nicht zu vergessen, auch nicht zu
verschweigen, die kommunistische Diktatur am Ende und
dazwischen das ungeheure Leid der nationalsozialistischen Diktatur.
Gegenwärtig gibt es in Polen eine eruptive Debatte
über jenes schreckliche Genozid in Jedwabne, also in jener Stadt in Nordpolen, in der 1 600 Menschen erschlagen, erstochen worden sind, eine furchtbar aufwühlende,
aber eine notwendige Debatte, die Jan Tamosz Gross in
seinem Buch „Die Nachbarn“ vorangetrieben hat. In dieser Debatte wird deutlich, dass wir, die wir die Nachfolger derer sind, die die Zeitzeugen waren, die dies alles erlebt, erlitten und mit eigenen Augen gesehen haben, als
Politiker, die diese Verantwortung tragen, verpflichtet
sind, dass das nicht der Vergangenheit überantwortet
wird, sondern dass die Verantwortung für die Gegenwart
und für die Zukunft heißt, sich mit diesen schwierigen
Konflikten auseinander zu setzen.
Wenn Adam Michnik sagt: „Es ist mein Gewissen bedrückt und bedrängt, wenn ich höre, dass am 10. Juli 1941
in Jedwabne 1 600 Juden von Polen ermordet worden
sind“, dann muss dabei aber auch unverrückbar die historische Wahrheit festgehalten werden: Dieser Genozid war
nur möglich, weil es den Überfall Deutschlands gegeben
hat, weil es die Vernichtungspolitik der NS-Besatzer gegeben hat und weil Himmler wenige Tage vor diesem Pogrom in der Region war und dazu beigetragen hat, dass es
missgeleitete Gefühle auch von anderen gegeben hat. Wer
durch die Allee der Gerechten in Jad Vashem gegangen
ist, wird wissen, dass die überwiegende Zahl der Gerechten einen polnischen Namen tragen Jedwabne: Das war
ein lokales Ereignis.
Es ist mit einer ungeheuren Kraft verbunden, was jetzt
in Polen geschieht. Die innere Debatte zeigt, dass die polnische Gesellschaft die Kraft hat, mit jenen Konflikten
auch umzugehen, sie zu verarbeiten und damit einen Beitrag zu leisten, dass Europa eine Gemeinschaft der gemeinsamen Erinnerung ist, die uns auffordert, dass das,
was damals geschehen war, nie wieder geschehen darf.
({4})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Katherina Reiche für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren unterzeichneten der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki
und Bundeskanzler Helmut Kohl den deutsch-polnischen
Nachbarschaftsvertrag. Vor zehn Jahren begannen Deutsche und Polen, nach bitteren Jahren des Eisernen Vorhanges wieder aufeinander zuzugehen. Heute befinden wir uns
im Prozess des Beitritts Polens in die Europäische Union.
Heute ist Polen längst zuverlässiger NATO-Partner.
Diese Entwicklung ist ohne die Ereignisse der 80erJahre nicht vorstellbar. Es war die oppositionelle Gewerkschaft Solidarnosc, die die kommunistischen
Machthaber das Fürchten lehrte. Der Eiserne Vorhang
wurde in Polen rissig und war schließlich der Wegbereiter
für die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR und
im gesamten Ostblock.
Der Blick zurück erfüllt uns Deutsche - auch mich als
Vertreterin der jungen Generation aus Ostdeutschland daher mit Dankbarkeit, gibt uns aber gleichzeitig ein verpflichtendes Mandat, Polen auf seinem Weg in die Europäische Union zu unterstützen. Es geht heute darum, Polens Weg in die EU engagiert weiter voranzubringen. Es
geht vor allem darum, die Menschen diesseits und jenseits
der Oder zusammenzubringen.
Das deutsch-polnische Verhältnis beruht nicht mehr
auf einer verordneten Freundschaft, wie sie vor der
Wende in der DDR gepflegt wurde. Es sind nicht mehr
die staatlich überwachten Begegnungen, die jede kritische und politische Diskussion zu unterdrücken suchten.
Heute gehen Polen und Deutsche selbstverständlich aufeinander zu, sind neugierig aufeinander und schließen
Freundschaften.
({0})
Die vielen Aktivitäten im Bereich des Jugend- und
Studentenaustausches sind ein eindeutiger Beleg für die
großen Gemeinsamkeiten der jungen Generation hier und
drüben. Junge Polen und junge Deutsche streben berufliches Fortkommen an und wollen die europäischen
Nachbarn kennen lernen. Wie viele Kontakte es bereits
gibt, stelle ich immer wieder fest, wenn ich mit jungen
Menschen aus Polen und aus Deutschland spreche, mit
Schülern, Studenten, Soldaten.
Herr Kollege Lippelt, eines möchte ich dann doch gerade stellen: Es war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
die einen Antrag zur Zukunft des deutsch-polnischen
Verhältnisses eingebracht hat. Dieser Antrag muss offensichtlich so gut gewesen sein, dass wir die Kollegen
von SPD und Grünen überzeugen konnten, einen gemeinsamen Antrag zu machen. Der Weg war nicht umgekehrt.
({1})
Worum geht es? Es gibt zwei vordringliche Aufgaben.
Zum einen muss es darum gehen, die Kontakte zwischen
Deutschen und Polen weiter zu intensivieren. Hierbei
bauen wir gerade auf die junge Generation. Deshalb fordere ich: Das Deutsch-Polnische Jugendwerk braucht
eine bessere finanzielle Ausstattung.
({2})
Gert Weisskirchen ({3})
Nur wenn das Deutsch-Polnische Jugendwerk auf einer
sicheren finanziellen Basis steht, kann der Dialog langfristig fortgesetzt und ausgebaut werden.
Ebenso wichtig ist es, sprachliche Barrieren zu überwinden. Im Erlernen der Sprache des jeweils Anderen
sehe ich einen Schlüssel zur Verständigung zwischen
Deutschen und Polen. Wenn junge Menschen schon früh
deutsch bzw. polnisch lernen, wird manch blindes Vorurteil gar nicht erst entstehen können. Die zweisprachige
Schulbildung in den Grenzregionen ist nicht nur eine kulturelle Notwendigkeit, sondern wird sich auch als erheblicher Standortvorteil auswirken. Ein Lebenslauf, der eine
bilinguale Schulausbildung aufweist, wird nicht nur den
Arbeitgeber beeindrucken, sondern auch Jugendlichen
selbst neue Perspektiven eröffnen. Als Brandenburgerin
habe ich mich immer wieder für Polnischunterricht in der
Oderregion eingesetzt. Dieser Forderung möchte ich
heute noch einmal Nachdruck verleihen.
({4})
Zum anderen geht es darum, die in den letzten zehn
Jahren gewachsenen deutsch-polnischen Beziehungen
durch einen zügigen Beitritt Polens zur Europäischen
Union auch institutionell zu festigen. Die Aufnahme Polens in die EU darf deshalb keinesfalls verzögert werden.
Es würde viel Vertrauen aufs Spiel gesetzt werden. Gewiss, die EU-Osterweiterung ruft bei vielen Menschen
Ängste und Vorbehalte hervor. Diese Befürchtungen sind
auch verständlich; denn wir müssen verstehen, dass es gerade für die Menschen in den neuen Ländern und in den
Grenzregionen erneut um Veränderungen und Anpassungen geht. Aber umso wichtiger ist es deshalb, die Menschen zu überzeugen und ihnen die großen Vorteile dieses
Prozesses nahe zu bringen. Was wir deshalb brauchen, ist
eine offensive Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Osterweiterung. Lagebeschreibungen reichen nicht aus. Nur
konkrete Maßnahmen können den Sorgen der Menschen
begegnen. Kommunikation und Öffentlichkeit über das,
was geschieht, und über die Chancen schaffen Vertrauen.
({5})
Die Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses
ist kein Selbstläufer. Es bedarf immer wieder neuer Impulse. Selbstverständlich sind Übergangsfristen in der
Freizügigkeit für Arbeitnehmer und in der Dienstleistungsfreiheit notwendig, um eine Verschärfung der Situation auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Sie müssen aber
flexibel gestaltet werden und je nach Beitrittsland und
Branche verschieden sein. Sie müssen auch je nach wirtschaftlicher Entwicklung angepasst werden. Es ist nicht
angebracht, deutsche Interessen holzschnittartig oder populistisch geltend zu machen. Populismus täuscht Menschen und er ist hier fehl am Platz.
({6})
Die wirtschaftlichen Vorteile einer erweiterten Europäischen Union sind schon heute in Polen und Deutschland
zu spüren. Zum einen ist Polen Deutschlands wichtigster
Handelspartner im Osten, zum anderen schaffen deutsche
Investitionen in Polen Arbeitsplätze. Ich denke zum Beispiel an Kooperationsvereinbarungen zwischen Unternehmen aus Brandenburg und aus Polen im Bereich der
Umwelttechnik. Investitionen deutscher Unternehmen in
Polen helfen, Umweltstandards zu verbessern und zum
Beispiel die Trinkwasserqualität und damit die Lebensqualität zu erhöhen.
({7})
Die deutsch-polnischen Beziehungen stehen heute auf
einem soliden Fundament. Der Nachbarschaftsvertrag hat
dafür vor zehn Jahren eine gute Ausgangslage geschaffen.
Gleichzeitig müssen wir uns immer wieder mit neuen Perspektiven und Entwicklungen auseinander setzen. Manchmal wünsche ich mir etwas mehr Gelassenheit auf beiden
Seiten, insbesondere im Alltagsgeschäft. Die Beziehungen
zwischen Polen und Deutschland sind heute partnerschaftlich. Beide Länder arbeiten vertrauensvoll zusammen. Gerade deshalb dürfen wir in unserer Anstrengung
nicht nachlassen und müssen den richtigen Weg der Vertiefung der europäischen Integration entschlossen weitergehen.
({8})
Das Wort hat der
Bundesaußenminister Joseph Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zehn
Jahre seit der Unterzeichnung des Vertrages über gute
Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
waren eine Phase historisch einzigartigen Erfolgs in den
deutsch-polnischen Beziehungen. Wichtige Brücken über
den Abgrund der Geschichte waren allerdings bereits zuvor geschlagen worden, so etwa durch die ausgestreckte
Hand zur Versöhnung der polnischen Bischöfe von 1965,
dann vor allem durch Willy Brandts Ostpolitik und seinen historischen Besuch in Warschau im Dezember 1970
und durch den Vertrag über die Bestätigung der gemeinsamen Grenze von 1990. Dies war ein sehr wichtiger
Schritt; denn dieser deutsch-polnische Grenzvertrag war
die Voraussetzung für die Zustimmung zum Zwei-plusVier-Vertrag und damit zur deutschen Einheit. Das macht
klar, wie wichtig die Frage der deutschen Ostgrenze und
wie aufs Engste verbunden die Frage der Anerkennung
der deutschen Ostgrenze und damit der polnischen Westgrenze für die Wiedererlangung der deutschen Einheit in
Freiheit war.
({0})
Es gehört - da hier die Geschichte bemüht wurde - mit
zur Tragik, dass der Aufstieg Preußens an die polnische
Teilung gebunden war. Wenn über Preußen gesprochen
wird - was heute ein abgeschlossenes Kapitel in unserem
Geschichtsbuch ist -, wird vergessen, dass es sich bei
Preußen nie nur um einen deutschen, sondern immer um
einen deutsch-polnischen Staat gehandelt hat. Das hat jenseits aller ideologischen Auseinandersetzungen die ganze
Problematik unserer Geschichte mitgeprägt, bis hin zur
nationalsozialistischen Barbarei.
Dass dieses Kapital abgeschlossen ist, dass heute klar
ist, wo die Deutschen zu Hause sind, und damit auch klar
ist, wo die Polen zu Hause sind, war nicht nur die Voraussetzung für die Wiedererlangung der deutschen Einheit, sondern ist auch die Voraussetzung für Frieden in
ganz Europa und für die europäische Integration. Wir
dürfen also nicht vergessen, welche Bedeutung die
deutsch-polnischen Beziehungen haben. Ich kann allen
nur zustimmen, die gesagt haben: Die Beziehungen müssen ähnlich intensiv, ähnlich gut und ähnlich selbstverständlich werden wie die zwischen Deutschland und
Frankreich.
({1})
Gewiss ist die Geschichte nicht alles; doch wir dürfen
sie nicht zur Seite legen, wir dürfen sie nicht vergessen.
Gerade auch hinsichtlich des deutsch-polnischen Verhältnisses dürfen wir dies nicht tun. Deswegen war es wichtig und richtig, dass wir, angestoßen durch die Initiative
von Bundeskanzler Schröder - wir konnten dies gerade
wieder bei den deutsch-polnischen Konsultationen in
Frankfurt/Oder von der polnischen Seite hören -, eine Lösung für die Zwangsarbeiterentschädigung
({2})
Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hier
im Bundestag beschließen konnten. Es geht nicht um Entschädigung für erlittenes Unrecht und erlittenes Leid, sondern um Anerkennung dieses Leids und dieses Unrechts.
Dies wurde uns immer wieder gesagt. Gerade für das
deutsch-polnische Verhältnis ist das nicht gering zu veranschlagen.
Aber auch all jenen, die gesagt haben, die Probleme
der Zukunft würden über unser Verhältnis entscheiden,
möchte ich Recht geben. Diese gemeinsame Zukunft
heißt Europa. Die Osterweiterung ist ein historisches
Projekt. Wir haben heute Morgen darüber gesprochen.
Ich hoffe, dass all diejenigen, die das in dieser Debatte
mit Worten gesagt haben, die ich alle unterschreiben
kann, ihre Unterstützung geben, wenn sie sich im
wahrsten Sinne des Wortes in materielle Münze umsetzen muss.
Wenn wir über eine gemeinsame Agrarpolitik und über
die nächsten Finanzvereinbarungen der erweiterten Union
im Jahre 2006 reden, wenn wir darüber sprechen, dass wir
durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten für einen gewissen Zeitraum durchaus auch Wettbewerbsnachteile
haben können, dass aber die Vorteile insgesamt überwiegen, wie die Erfahrungen aus den unterschiedlichen Erweiterungsrunden der Europäischen Union gezeigt haben,
wenn wir die sattsam bekannten, unsäglichen Vorurteile
über Polen, die bei uns leider noch viele im Kopf haben,
untersuchen und ihnen, wie ich hoffe, sehr massiv und rational entgegentreten werden,
({3})
wenn man sich all diese Dinge des praktischen Zusammenlebens und Zusammenfindens im gemeinsamen Europa ins Gedächtnis ruft, dann wird sich erweisen, wie
weit diese Bekundungen tatsächlich von Bestand sind, ob
es nur Worte sind oder ob sie angesichts der harten Realität im gemeinsamen europäischen Alltag von Bestand
sind.
Ich will, Herr Türk - ich sage es noch einmal, weil Sie
heute Morgen in der Debatte nicht anwesend waren -,
({4})
die Anwaltschaft, die wir für den Erweiterungsprozess haben, ansprechen. Dieser liegt auch aus historischer Verpflichtung im deutschen Interesse, wie dies alle Redner
unterstrichen haben. Aber er liegt auch in unserem aktuellen Interesse. Vergleichen Sie einmal die Handelszahlen
der deutschen Volkswirtschaft und der EU-Volkswirtschaft mit den Beitrittsländern! Man wird dann feststellen, dass der Handel mit diesen Ländern von überragender Bedeutung ist. Es sind keine Länder, die um Almosen
anstehen, sondern Länder, die für uns wie für sich selbst
Wirtschaftswachstum kreieren und damit Arbeitsplätze,
Beschäftigung, Einkommen auch und gerade für unsere
Bürger schaffen werden.
Das Wegfallen der EU-Außengrenze ist besonders
für die ostdeutschen Grenzländer von überragender Bedeutung. Eine Stadt wie Görlitz in Sachsen hat durch die
historischen Veränderungen des Zweiten Weltkrieges
nachgerade ihr ökonomisches Hinterland verloren. Das
gilt auch für Städte wie Frankfurt/Oder oder andere Bereiche wie Vorpommern, in denen diese Grenzveränderungen dazu geführt haben, dass vorher existente Wirtschaftsräume zerrissen und unterbrochen wurden. Das
alles wird sich positiv ändern. Darin liegt eine gewaltige
Chance im deutsch-polnischen Verhältnis, und zwar konkret im Verhältnis von Region zu Region.
Dass diese Chance bereits genutzt wird, davon konnten wir uns jüngst bei einem Treffen in Breslau selbst
überzeugen, bei dem die Ministerpräsidenten und die
Woiwoden anwesend waren. Hier entwickelt sich etwas,
was für das deutsch-polnische Verhältnis mindestens so
wichtig ist wie die Erfahrungen, die wir an unserer Westgrenze gemacht haben, wo über Jahre hinweg das Zusammenwachsen von unten von überragender Bedeutung
war.
({5})
Eine dreiviertel Million deutsche und polnische Jugendliche haben am Programm des Deutsch-Polnischen
Jugendwerks teilgenommen. Das ist ein positives Zeichen. Noch etwas anderes: Der polnische Ministerpräsident hat dem Bundeskanzler und uns mitgeteilt, dass über
zwei Millionen polnische Jugendliche Deutsch als erste
Fremdsprache lernen. Auch das ist, wie ich finde, eine beBundesminister Joseph Fischer
eindruckende Zahl, auf die wir unbedingt positiv reagieren sollten und müssen.
Über die Entwicklung des Handels habe ich schon einiges gesagt. Kollege Pflüger, Sie haben mich ganz zu
Unrecht gescholten. Angeregt durch Ihre Rede, in der Sie
über die gemeinsamen Interessen der Ostpolitik, wie etwa
beim Baltikum oder der Ukraine, gesprochen haben, habe
ich dem für die Spätaussiedler zuständigen Kollegen aus
dem Innenministerium als Beispiel dafür Kasachstan genannt. Mir sagte der polnische Außenminister: Wir haben
gemeinsame Interessen in Kasachstan. Ich fragte ihn,
warum. Er antwortete mir schlicht und einfach: Wir haben
dasselbe Problem wie auch ihr, nämlich durch Stalin nach
Kasachstan deportierte Polen, und zwar in ähnlicher
Größenordnung, mit denselben Rückwanderungs- und Integrationsproblemen und demselben Interesse an Kasachstan. Darüber habe ich gesprochen. Ich hoffe, es findet Ihre nachträgliche Billigung.
({6})
- Gut, das beruhigt mich.
Dies ist ein Aspekt, der völlig klarmacht, dass wir mit
dem Beitritt Polens in der Tat eine verstärkte Hinwendung
der Europäischen Union nach Osten bekommen. Das liegt
auch im deutschen Interesse. Diese Dimension der Kooperation müssen wir unbedingt ausbauen.
({7})
Die kulturelle, die wissenschaftliche Zusammenarbeit
- dies alles mit Zukunftsorientierung, aber nicht gründend
auf dem Vergessen der Vergangenheit, sondern aufbauend
auf den Erfahrungen der Vergangenheit - wird die
deutsch-polnischen Beziehungen als eine der Hauptachsen der europäischen Integration in Zukunft bestimmen und daran wollen wir gemeinsam arbeiten.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort der Kollegin Erika
Steinbach, CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa hört nicht an Oder und
Neiße oder am Böhmerwald auf. Europa reicht weit darüber hinaus. Deutschland, das zurzeit den Osten der Europäischen Union markiert, liegt im Grunde genommen
im Zentrum und im Herzen Gesamteuropas.
Vor diesem Hintergrund ist das zehnjährige Jubiläum
des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages ein
wichtiges Datum. Es macht deutlich, dass der Weg Europas in Richtung Osten ganz offensiv auch von Deutschland - primär sogar von Deutschland - angegangen wird.
Die Tatsache, dass sich im deutsch-polnischen Verhältnis innerhalb der letzten zehn Jahre unendlich viel verbessert hat, ist überall sichtbar. Dass sich etwas verbessert
hat, war nicht nur von oben oktroyiert, sondern wuchs
auch von unten, wuchs durch die Menschen, die hin und
her reisten und miteinander sprachen. Das zu wissen ist
wichtig.
Der Herr Außenminister hat angeführt, dass auch die
Vergangenheit wesentlich ist. Ich glaube, darüber muss
man sich im Klaren sein. Die Zukunft der Gemeinschaft
von Völkern kann gut gestaltet werden, wenn Vergangenheit und Gegenwart zusammengefügt und gemeinsam
fruchtbar aufgearbeitet werden. Nur daraus erwächst ein
konstruktives Miteinander in der Zukunft.
Zu diesem Aufarbeiten für die Zukunft gehört die
schwierige deutsch-polnische Geschichte in der Zeit des
Nationalsozialismus und natürlich auch danach. Ich bin
fest davon überzeugt, dass es wichtig ist, dass Deutschland seinen Teil der Last bei der Aufarbeitung dieser Geschichte offensiv trägt. Ebenso ist es für Polen unabdingbar notwendig, seinen Teil, das, was nach 1945 kam,
aufzuarbeiten und damit verantwortungsvoll umzugehen.
Es hat sich vieles positiv entwickelt. Die Menschen,
die aus Deutschland in Richtung Polen reisen und wandern, sind in allererster Linie Menschen, die aus dem
heute polnischen Bereich kommen, die dort einmal ihre
Heimat hatten. Sie reisen nicht mit der geballten Faust in
der Tasche dorthin, sondern mit offenem Herzen und sie
tun vieles, um in Polen Kirchen aufzubauen oder Krankenhäuser auszustatten. Die meisten anderen Deutschen
haben nicht das Bedürfnis, nach Schlesien oder Pommern
zu fahren. Es sind in aller Regel die Heimatvertriebenen,
die heute dorthin reisen. Sie tun das mit offenem Herzen.
Ich wünsche mir für die Zukunft eines: dass wir auch
seitens Deutschlands, seitens der Bundesregierung den
Teil, der viele Menschen hier im Land betrifft, bei der
Aufarbeitung nicht vergessen. Er gehört dazu. Man kann
Geschichte ganz oder gar nicht aufarbeiten.
Frau Kollegin
Steinbach, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bedanke mich. Ich
bin auch schon fast am Ende.
Man soll keine Schlussstriche ziehen. Man soll in keinerlei Weise Schlussstriche ziehen. Wir haben als Völker
gemeinsam eine gute Zukunft, wenn beide willens sind,
Polen und Deutsche, die jeweilige Vergangenheit konstruktiv und verantwortungsbewusst in die Hand zu nehmen, aufzuarbeiten und das, was an Schwierigkeiten und
Defiziten noch vorhanden ist, aus dem Weg zu räumen.
({0})
Frau Kollegin
Steinbach, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie eine
Kurzintervention angemeldet hatten. Es hat sich haarscharf an der Grenze zu einem Redebeitrag bewegt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten grundsätzlich darauf achten, dass wir die Instrumente, die wir als
Abgeordnete haben, den Regeln entsprechend nutzen.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hartmut Koschyk für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Dedecius, der
Übersetzer, Schriftsteller und Gründer des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, der heute schon verschiedentlich zitiert worden ist, hat im Hinblick auf das
deutsch-polnische Verhältnis einmal die Maxime erhoben, es gelte, Vorurteile durch Urteile zu ersetzen.
Dedecius verstand und versteht sich wie kein anderer als
Brückenbauer, was die Beziehungen zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk betrifft.
Auch die Funktion des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages war es, Brücken zwischen unseren beiden Völkern zu bauen. Der Vertrag war und ist ein Meilenstein in unseren Beziehungen. Zehn Jahre nach seiner
Unterzeichnung muss festgestellt werden, dass sein
Hauptergebnis, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die wir
noch heute im deutsch-polnischen Verhältnis zu beklagen
haben, im Abbau von Vorurteilen bestanden hat und besteht. Vorurteile werden bekanntermaßen am besten durch
das Kennenlernen des anderen, seiner Sprache und seiner
Kultur abgebaut. Der Vertrag hat auf vielen Feldern, im
Bereich der Politik, im gesellschaftlichen Bereich, im
kirchlichen Bereich und auch im wirtschaftlichen Bereich, Hervorragendes geleistet.
Durch den heutigen Antrag und durch den Verlauf der
Debatte wird deutlich, wie unstrittig die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen in
unserem Parlament, aber auch in unserer Gesellschaft geworden ist. Man kann es nur begrüßen, dass wir in diesem
Antrag heute fraktionsübergreifend feststellen,
... dass die Angehörigen der deutschen Minderheit in
Polen und die in Deutschland lebenden Polen und
Bürger polnischer Abstammung sowie viele Heimatvertriebene in den bilateralen Beziehungen eine aktive, verbindende und konstruktive Rolle spielen.
Sicherlich ist es richtig, wenn wir in diesem Antrag an
die Regierungen beider Länder appellieren, die Anliegen
dieser Bevölkerungsgruppen bei unseren regelmäßigen
deutsch-polnischen Konsultationen entsprechend dem
Nachbarschaftsvertrag zu berücksichtigen. Ein solches
Anliegen ist zum Beispiel die humanitäre Frage, wie wir
mit Altersarmut von Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen umgehen. Wir sollten diese Frage nicht
allein der polnischen Seite überlassen. Herr Außenminister, vielleicht ist es möglich, dass wir bilateral, also mit
Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland, versuchen, dieses humanitäre Problem gemeinsam lösen und
uns nicht nur auf den Rechtsstandpunkt zurückziehen, wie
es zum Beispiel im deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen geregelt ist.
Ein solches Anliegen ist die Frage der Ausweitung des
muttersprachlichen Unterrichts. Herr Außenminister,
Sie haben gesagt, dass in Polen 2 Millionen junge Menschen Deutsch als Fremdsprache lernen. Das zeigt, dass
die deutsche Sprache in Polen einen hervorragenden Stellenwert hat. Wir dürfen diese Entwicklung allerdings
nicht konterkarieren, indem wir gerade in der auswärtigen
Kulturpolitik unsere Mittel zur Stärkung der deutschen
Sprache in Polen kürzen. Wir müssen sicherlich noch Anstrengungen zugunsten des muttersprachlichen Unterrichts in denjenigen Gebieten, in denen die deutsche Minderheit lebt, unternehmen.
({0})
Lassen Sie mich ein Thema nennen, das ich dazu nutzen möchte, dafür zu werben, in die Zukunft gerichtete
Lösungen anzustreben. Ich denke an die Diskussion um
Archivalien im Zusammenhang mit den Verhandlungen
über kriegsbedingt verlagerte Kulturgüter. Wir sollten in
Deutschland wie in Polen für zukunftsgerichtete Lösungen werben. Eine solche Lösung wäre etwa der gesicherte
Zugang zu Archivalien von beiden Seiten, indem wir sie
- was deutsche Archivfachleute vorschlagen - mikroverfilmen. Wenn dies geschieht, dann spielt es überhaupt
keine Rolle mehr, wo diese Archivalien liegen. Beide Seiten könnten die für die Geschichtswissenschaft notwendigen Archivalien nutzen, ohne dass wir uns darüber streiten, wo die Bestände einzulagern sind.
Für mich ist die herausragende Bedeutung des
deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages, dass er auf
beiden Seiten die Sicht auf den Nachbarn verändert hat.
Die deutschen Heimatvertriebenen haben die Offenheit
der deutsch-polnischen Grenze für 1 000fache Besuche in
ihrer alte Heimat genutzt und sie haben inzwischen ein
festes Beziehungsnetz zu den Menschen in ihrer Heimat
- auch zur polnischen Bevölkerung - aufgebaut. Ich
glaube, wir können erfreut feststellen, wie unbefangen die
politisch-gesellschaftlichen Verantwortlichen in Polen
heute auf die Heimatvertriebenen zugehen. Ich möchte
das an einer Person festmachen, die zu kommunistischer
Zeit in Polen als Unperson galt, nämlich unserem ehemaligen Bundestagskollegen Dr. Herbert Hupka, der heute in
Polen ein gern gesehener Gast ist, überall Vorträge hält
und sogar vom polnischen Bürgermeister seiner Heimatstadt Ratibor mit einer Verdienstmedaille ausgezeichnet
worden ist, weil er sich dafür eingesetzt hat, dass Mittel
aus Europa und aus dem deutsch-polnischen Verständigungsfonds für die Kanalisation dieser Stadt bereitgestellt
wurden.
({1})
Die polnische Seite - auch das müssen wir sehen - geht
heute wesentlich unbefangener mit dem deutschen Kulturerbe in Schlesien, Ostpreußen und Pommern um,
weil sie erkannt hat, dass es ein verbindendes europäisches Kulturerbe ist. So, wie es in der deutschen Kultur
immer wieder wertvolle Bereicherungen durch die Verwobenheit mit der polnischen Kultur gegeben hat
- schauen Sie sich unsere Kulturtradition an -, so gilt das
in gleicher Weise auch für Polen. Nach meiner Meinung
hat es der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, in einem Interview, ich glaube, mit
dem „Spiegel“, mit folgendem schönen Satz auf den
Punkt gebracht:
Vizepräsidentin Petra Bläss
Heute kann man ruhig sagen, die Steine in Breslau
sprechen auch deutsch und sie haben sehr viel auf
Deutsch zu berichten, sehr viel!
Ich glaube, auf beiden Seiten wird vieles enttabuisiert.
Ich halte es für einen ganz bemerkenswerten Akt, wenn
ein junger Wissenschaftler wie Borodziej in Polen eine
Quellenedition über polnische Akten zur Vertreibung der
Deutschen herausgibt.
Herr Kollege
Koschyk, ich muss Sie leider unterbrechen.
Unterbrechen?
({0})
Ja, weil Sie Ihre Redezeit bereits überzogen haben. Da es sich mehrfach so
anhörte, als würden Sie Ihren Schlusssatz sagen, war ich
bis jetzt geduldig.
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss. - Wir sollten nicht verschweigen,
dass es noch eine Reihe großer Herausforderungen in unseren Beziehungen gibt. Aber all die Fortschritte, die wir
in den letzten zehn Jahren in unseren Beziehungen erreicht haben, sollten uns den Mut geben, die noch bestehenden Herausforderungen anzugehen, sie zu meistern
und die Dinge aufzugreifen, die die Menschen jenseits
und diesseits von Oder und Neiße heute mehr verbinden,
als dass sie sie noch trennen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. mit dem Titel „Deutsche
und Polen in Europa: Eine gemeinsame Zukunft“. Wer
stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 14/6322? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen
die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten JochenKonrad Fromme, Peter Götz, Dietrich
Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Umsetzung des Versprechens der Bundesregierung zur Stärkung der Kommunalfinanzen
- Drucksache 14/6163 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Sonderausschuss Maßstäbe-/ Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Peter Götz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Diese Bundesregierung macht eine kommunalfeindliche Politik. Sie verschiebt immer mehr Kosten
und staatliche Aufgaben hin zu den Städten, Gemeinden
und Landkreisen.
({0})
Gleichzeitig nimmt sie den Kommunen auch noch das
Geld weg.
({1})
Das ist unanständig, unredlich und gefährdet die kommunale Selbstverwaltung.
({2})
- Das ist nicht unwahr. Welche Bedeutung die Kommunen für die Bundesregierung haben, ist deutlich an der
Präsenz auf der rot-grünen Regierungsbank ablesbar. Niemand sitzt dort!
({3})
Damit steht Rot-Grün fest in zentralistisch-sozialistischer
Tradition.
({4})
Sogar Ministerpräsident Clement aus Nordrhein-Westfalen beklagt dieser Tage die „großen zentralstaatlichen
Versuchungen“ der Berliner Regierung. Damit meint er
diese Bundesregierung.
CDU und CSU haben ein anderes Staatsverständnis.
Wir wollen eine starke lokale Demokratie. Wir wollen,
dass die Bürger mitreden und mitentscheiden können. Wir
wollen weniger Staat, weniger Bevormundung und für
Städte, Gemeinden und Landkreise eigenverantwortliche
Aufgaben und klare Zuständigkeiten.
({5})
Dazu gehört auch die notwendige Finanzausstattung.
Durch den Antrag, über den wir heute diskutieren, wird
die dramatische Verschlechterung der Haushaltssituation
deutscher Städte und Gemeinden sehr deutlich. Wir fordern die Koalitionsfraktionen auf, ihre Versprechungen
gegenüber den Kommunen einzuhalten. Leider machen
Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt haben. Das ist eine Irreführung der Bevölkerung und ein Betrug an vielen kommunalpolitisch engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die
sich in ihrer freien Zeit ehrenamtlich zum Wohl ihrer
Heimatstadt einbringen.
In Ihrer Koalitionsvereinbarung steht unter anderem:
Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärken
und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden
Prüfung unterziehen.
Die Prüfung des Gemeindefinanzsystems ist in weite
Ferne geschoben. Bei der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages in Leipzig im vergangenen Monat hat
der Bundeskanzler gesagt, dass er das Thema in dieser Legislaturperiode nicht mehr anpacken will. So einfach
macht sich Rot-Grün das Regieren. Wir nennen das: Versprechen gebrochen.
({6})
Im Zusammenhang mit der versprochenen Stärkung
der Finanzkraft der Gemeinden will ich nur eine Zahl nennen: 11,3 Milliarden DM, und zwar nicht zur Stärkung der
Finanzkraft; das ist vielmehr der Betrag, der seit 1998
deutschen Kommunen vom Bund weggenommen wurde.
Also 11,3 Milliarden DM weniger statt auch nur eine Mark
mehr. Diese Summe macht etwa ein Zehntel aller kommunalen Steuereinnahmen aus. Ein Abbau um 10 Prozent
ist viel und ist deshalb besonders schlimm, weil zusätzlich
der Anteil staatlicher Pflichtaufgaben weiter wächst. Die
Möglichkeit zur Erfüllung freiwilliger Aufgaben, die den
Gestaltungsspielraum eines Gemeinderates ausmachen,
wird immer weiter eingeschränkt.
Das führt dazu - das gilt für alle Parteien -, dass es immer schwieriger wird, Persönlichkeiten zu finden, die bereit sind, für ein kommunales Mandat zu kandidieren.
Auf kommunaler Ebene wollen die Menschen gestalten
und nicht nur einen Mangel verwalten. Durch Ihre Politik
fügen Sie der lokalen Demokratie einen großen Schaden
zu. Sie machen auf diese Weise die kommunale Selbstverwaltung bewusst und ganz gezielt kaputt.
({7})
Sie wollten durch ein höheres Wirtschaftswachstum
Mindereinnahmen als Folge Ihrer Steuerreform - ein
Jahrhundertreformwerk - ausgleichen. Kaum ein Jahr
später bekommen die Deutschen die Quittung Ihrer
schlechten Politik präsentiert: Die Konjunktur lahmt - wir
wissen es alle und haben es heute wieder gehört -, dafür
steigt die Inflation auf inzwischen 3,5 Prozent. Hinsichtlich des Wachstums haben Sie Deutschland zum Schlusslicht in der Europäischen Union herunterregiert. Dadurch
ergeben sich weitere Steuerausfälle, von denen neben den
Bürgerinnen und Bürgern wiederum die Gemeinden besonders betroffen sind. Für das Jahr 2001 sind 1,9 Milliarden DM weniger Steuereinnahmen zu erwarten. Die
Folgen sind katastrophal: Viele Kommunen müssen ihren
Verwaltungshaushalt auf Pump finanzieren; für dringend
notwendige kommunale Investitionen fehlt das Geld. Das
gilt nicht nur für Gemeinden im Osten, sondern betrifft
auch viele Regionen des Westens. Besonders schlimm
sieht es in den Ländern aus, in denen die SPD in der Regierungsverantwortung steht oder gar die PDS noch mit
im Boot sitzt.
Nach einer gestern veröffentlichten Umfrage des Bundes der Steuerzahler in Nordrhein-Westfalen fehlen in
diesem Jahr in Nordrhein-Westfalen rund 3,64 Milliarden DM in den kommunalen Kassen. Damit ist das Defizit um 15 Prozent höher als im Vorjahr. Seit Jahrzehnten
hat es nicht mehr so schlechte Straßenverhältnisse in den
Gemeinden gegeben wie heute. Ähnliches gilt hinsichtlich der Unterhaltung von Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen.
Auch der Bauwirtschaft - früher ein kraftvoller Motor
unserer Konjunktur - fehlen die Aufträge aus den Kommunen. Das ist auch keine Frage irgendwelcher Konjunkturprogramme, sondern Aufgabe einer verlässlichen und
kontinuierlichen Politik.
Lassen Sie mich anhand von nur einem Beispiel auf die
Folgen rot-grüner Politik für die kommunalen Haushalte
etwas näher eingehen: die Versteigerung der UMTSLizenzen. Die Versteigerung der UMTS-Lizenzen hat
fast 100 Milliarden DM zusätzlich in die Kassen des Bundes gebracht.
({8})
Wir haben sofort gefordert, Länder und Kommunen zu
beteiligen; denn Deutschland ist ein Bundesstaat. Nach
dem Grundgesetz müssen Einnahmen und Ausgaben in
einem äquivalenten Verhältnis zueinander stehen. Wenn
der Bund mit 100 Milliarden DM etwa ein Fünftel mehr
einnimmt als geplant, dann gerät dieses äquivalente Verhältnis aus dem Gleichgewicht. Schon alleine deshalb
hätte der Bundesfinanzminister Länder und Kommunen
beteiligen müssen. Das hat er aber nicht getan.
Doch damit nicht genug: Durch die steuerliche Anrechnung der Lizenzkosten verlieren die Kommunen bei
der Gewerbesteuer und bei der Körperschaftsteuer über
den Abschreibungszeitraum 14 Milliarden DM. Der Bund
kassiert; die Städte, Gemeinden und Landkreise zahlen
die Zeche.
Hinter solch abstrakten Zahlen verbergen sich dramatische Verhältnisse in den Gemeinden, in denen Telekommunikationsfirmen vertreten sind. Ich nenne ein Beispiel:
Das Amt Stahnsdorf, eine Gemeinde in Brandenburg mit
12 000 Einwohnern, hatte im vergangenen Jahr 4,2 Millionen DM Gewerbesteuereinnahmen, im Wesentlichen
von Telekommunikationsfirmen. 2001 entfällt diese Einnahme völlig. Dafür gibt es keinerlei Ausgleich. So gestaltet sich ganz konkret in der Praxis das Versprechen aus
der Koalitionsvereinbarung, die kommunalen Finanzen
zu stärken.
({9})
Inzwischen hat die
Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis Platz
genommen.
({0})
Für mich ist maßgeblich,
welches Gewicht die Bundesregierung in ihrer Politik auf
Kommunen, Städte und Gemeinden legt. Wie gering dieses Gewicht ist, wird heute demonstriert.
In Bundestagsreden ist oft von abstrakten Geldbeträgen die Rede. Aber mit diesen Beträgen werden Leistungen für die Menschen bezahlt. In den Gemeinden sind es
die ganz alltäglichen Leistungen, bei denen immer mehr
Einschnitte gemacht werden müssen: bei Schulen, Kindergärten, Sportstätten und Bädern, bei der Kultur, bei Bibliotheken sowie bei der Theater- und Vereinsförderung.
Viele dieser kommunalen Leistungen sind einfach nicht
mehr möglich, weil die rot-grüne Bundesregierung die
kommunalen Haushalte kontinuierlich zu ihren Gunsten
plündert.
({0})
Im Jahr 2001 müssen die Kommunen über 50 Prozent
ihrer Steuereinnahmen für Sozialleistungen aufbringen.
Im vorigen Jahr waren es noch 47 Prozent. Ob bei der
Grundsicherung im Zuge der Rentenreform oder beim
Kindergeld, an dem sich die Kommunen mit 6 Milliarden DM zu beteiligen haben - um nur einige wenige Beispiele aus der Sozialpolitik zu nennen -:
({1})
Überall bei diesen staatlichen Aufgaben bitten Sie die
Kommunen mit zur Kasse und stellen dies gleichzeitig
- wie bei der Kindergelderhöhung - als Wohltat dieser
Bundesregierung dar.
Ich könnte mit dem Verbraucherschutz fortfahren, zum
Beispiel mit dem so genannten BSE-Schnellgesetz. Auch
hier werden den Kommunen und Ländern Aufgaben aufs
Auge gedrückt. Für den Bund entstehen keine Kosten, für
Länder und Gemeinden aber erhebliche. Damit ist für
Rot-Grün das Problem erledigt.
Herr Kollege Götz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Götz, ich
finde es beachtenswert, dass bei diesem wichtigen Thema
und angesichts der dramatischen Finanzsituation der
Kommunen kein zuständiges Regierungsmitglied auf der
Regierungsbank sitzt. Können Sie sich dies erklären?
Herr Kollege Seiffert, ich
kann mir das nur so erklären, dass diese Bundesregierung
ihre Prioritäten so setzt, dass die Städte und Gemeinden
für sie überhaupt keine Rolle spielen.
({0})
Herr Kollege Götz, es
gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Danach lasse ich aber keine Fragen mehr zu, weil wir
nicht in der Fragestunde sind.
Herr Kollege Götz, teilen Sie meine Meinung, dass sich die Bundesregierung wegen ihrer schlechten Leistungen gegenüber den Kommunen so schämt, dass sich kein Vertreter
der Bundesregierung traut, während dieser Debatte anwesend zu sein?
({0})
Herr Kollege Fromme, ich
teile Ihre Meinung.
Die Fälle, die ich vorhin aufgeführt habe, sind keine
Einzelfälle. Das Schlimme ist - das wird durch die mangelnde Präsenz der Bundesregierung während dieser Debatte deutlich -: Das Ganze hat System. Deshalb prangern
wir es an. Rot-Grün will das Gesicht unserer Demokratie
verändern, hin zu mehr Staat, mehr Zentralismus, mehr
Sozialismus, mit Regulierung sowie mit Gängelung und
Bevormundung der Bürgerinnen und Bürger. Berlin lässt
grüßen.
({0})
- Klatschen Sie nur, Sie bei der PDS!
Die Union steht für mehr Freiheit und mehr Selbstverantwortung. Wir wollen eine starke Demokratie vor Ort.
({1})
Sie haben auch versprochen, das Konnexitätsprinzip
einzuhalten. Das heißt im Klartext, dass jede staatliche
Ebene, die durch Gesetz Aufgaben verursacht, auch für
die Kosten aufkommt. Einfach ausgedrückt: Wer bestellt,
bezahlt. - In Wahrheit machen Sie permanent das Gegenteil und brechen regelmäßig Ihre Versprechen. Sie treten
mit Ihrer verfehlten Politik Ihre eigene Koalitionsvereinbarung ständig mit Füßen und entwickeln sich zunehmend zu Künstlern im Brechen von Versprechen.
Wir fordern Sie deshalb zu einer Kurskorrektur auf.
Halten Sie endlich Ihre Versprechungen und ändern Sie
Ihre kommunalfeindliche Politik! Legen Sie die versprochene Gemeindefinanzreform vor und nicht laufend
Stückwerk mit neuer Bürokratie! Machen Sie Schluss mit
dem ständigen Verschiebebahnhof zulasten kommunaler
Haushalte! Wir wollen starke Städte und Gemeinden. Wir
wollen eine starke kommunale Selbstverwaltung. Wir
wollen bürgerschaftliches Engagement auf kommunaler
Ebene. Das erreichen wir nur, wenn wir den Städten und
Gemeinden auch die notwendige finanzielle Ausstattung
belassen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Bernd Scheelen.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Das, was wir hier gerade erlebt haben, scheint eine neue Veranstaltung zu sein. Die
CDU/CSU-Fraktion ist offensichtlich sehr ratlos. Sie
muss sich schon selbst befragen. Mittwochs ist ja immer
Fragestunde. Wir könnten für Ihre Fraktion eine eigene
Fragestunde einrichten, damit Sie sich endlich informieren können.
({0})
Ihnen, Herr Kollege Götz, kann ich nur sagen: Es wäre
gut gewesen, Sie hätten Ihre Rede während Ihrer Regierungszeit gehalten. Da wäre sie angebracht und berechtigt
gewesen; denn Sie haben heute einen Antrag eingebracht
- dazu will ich Ihnen ein paar Dinge sagen -, der acht Seiten umfasst. Drei der acht Seiten sind weiße Blätter.
({1})
Anderthalb Seiten enthalten Unterschriften der Unterzeichner, weitere anderthalb Seiten völlig veraltetes Zahlenmaterial und zwei Seiten unwahre Behauptungen.
({2})
Angesichts dieser Qualität des Antrages kann ich schon
verstehen, dass sich die Bundesregierung das nicht antun
möchte. Für diesen Antrag sollten Sie sich schämen. Er ist
nur peinlich.
({3})
Das will ich Ihnen anhand von zwei Daten Ihres Antrages kurz erläutern. Der Antrag datiert vom 29. Mai
2001. Das ist noch nicht allzu lange her, drei Wochen und
zwei Tage. Der Antrag ist demzufolge sehr frisch. Das
darin enthaltene Zahlentableau, auf das Sie sich bei Ihrer
Kritik im Wesentlichen berufen, stammt allerdings von
November vorigen Jahres.
({4})
- Herr Fromme, seien Sie ein bisschen vorsichtig mit
Ihren Zwischenrufen. Sie werden gleich hören, warum
das an dieser Stelle ein falscher Zwischenruf war.
Spätestens seit dem Vermittlungsverfahren, was das
Problem Rente angeht - dieses Vermittlungsverfahren lag
deutlich vor dem Datum Ihres Antrages -, hätten Sie wissen müssen, dass die Zahlen, die beispielsweise zur sozialen Grundsicherung in Ihrem Antrag niedergelegt sind,
völlig verkehrt sind.
({5})
Sie haben unter Bezugnahme auf das Tableau behauptet, die Gemeinden würden durch die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung mit 1 Milliarde DM belastet.
Die Wahrheit ist: Die Gemeinden werden durch die Reform der sozialen Grundsicherung nicht mit einer einzigen müden Mark belastet werden.
Für unsere Zuhörer bzw. Zuschauer will ich einmal kurz
erklären, worum es bei der bedarfsorientierten Grundsicherung geht, damit klar ist, wo hier die Verantwortlichkeiten liegen.
Ältere Menschen, deren Rente unterhalb der Sozialhilfe liegt, haben einen Anspruch, diese Rente auf Sozialhilfeniveau aufgestockt zu bekommen.
({6})
Von diesem Recht - das wissen wir - machen viele ältere
Menschen keinen Gebrauch. Es sind hauptsächlich ältere
Frauen betroffen, die den Gang zum Sozialamt scheuen,
weil sie nicht möchten, dass sich das Sozialamt im Wege
des Rückgriffs bei unterhaltsverpflichteten Verwandten
- das sind in der Regel die Kinder - das Geld zurückholt.
Aus diesem Verhalten der älteren Menschen resultiert die
so genannte verschämte Altersarmut. Mit dieser verschämten Altersarmut werden wir durch die im Rahmen der
Rentenreform beschlossenen bedarfsorientierten Grundsicherung Schluss machen.
({7})
Dies ist ein Meilenstein in der Sozialpolitik dieser Republik; so etwas haben Sie in 16 Jahren nicht zustande gebracht.
Nun ist es klar, dass der Verzicht auf den Rückgriff bei
den Sozialämtern Geld kostet. Es kostet die Gemeinden
schätzungsweise 600 Millionen DM. Das war jedenfalls
die Zahl, die Sie schon im November vergangenen Jahres
anstelle der von Ihnen behaupteten 1 Milliarde DM in
Ihren Antrag hätten übernehmen können. Wiese Ihr Zahlentableau diese 600 Millionen DM wenigstens ansatzweise aus, könnte man Ihren Antrag noch für halbwegs
seriös halten, aber eben auch nur für halbwegs seriös;
denn die Bundesregierung hat immer klar gemacht, dass
sie diese Belastung der Kommunen ausgleichen wird. Sie
wird die Kosten dafür übernehmen und die Kommunen
mit dem notwendigen Geld versorgen, um diese soziale
Leistung erbringen zu können. Im Vermittlungsausschuss
hat man sich - das wissen Sie - nicht auf nur 600 Millionen DM, sondern auf eine Erstattung des Bundes in
Höhe von 800 Millionen DM geeinigt, und zwar mit der
Maßgabe, diese Summe alle zwei Jahre zu überprüfen
und, wenn es einen Mehrbedarf gibt, anzupassen. Von
kommunalfeindlicher Politik, meine Damen und Herren,
keine Spur!
({8})
Ganz im Gegenteil: Hier wird das in der Koalitionsvereinbarung niedergelegte Konnexitätsprinzip voll erfüllt:
Wer die Musik bestellt, bezahlt. Das hat es in Ihrer Regierungszeit nie gegeben.
Ein zweites Beispiel für die Unseriosität Ihres Antrages
ist die von Ihnen propagierte Belastung der Gemeinden
durch die Nichtanrechnung der Kindergelderhöhung auf
die Sozialhilfe. Wir haben das bei der letzten Erhöhung
um 20 DM zum 1. Januar 2000 einmal gemacht. Das hat
verfassungsrechtliche Hintergründe, die ich hier nicht
näher erläutern will, die Sie aber kennen. Nach Ihrer
Lesart belastet dies die Kommunen mit 200 Millionen DM. Ehrlicher wäre es gewesen, Sie hätten darauf
hingewiesen, dass der Bund im Zusammenhang mit dieser Kindergelderhöhung den Ländern einen weiteren
Viertelprozentpunkt der Umsatzsteuer zugestanden hat,
was gute 600 Millionen DM ausmacht. Ehrlicher wäre es
auch gewesen, Sie hätten die Kindergelderhöhung zum
1. Januar 1999 in Höhe von 30 DM erwähnt, die bei der
Sozialhilfe angerechnet worden ist. Dies entlastete die
Kommunen um 300 Millionen DM. Dasselbe wird bei der
nächsten Kindergelderhöhung zum 1. Januar 2002 geschehen, was die Kommunen um weitere 300 Millionen DM entlasten wird.
Im Saldo ergeben die drei Kindergelderhöhungen also
eine Entlastung der Kommunen von mindestens 400 Millionen DM. Darin sind die 600 Millionen DM aus dem
Viertelprozentpunkt Umsatzsteuer noch gar nicht eingerechnet. Von kommunalfeindlicher Politik, meine Damen
und Herren, wiederum keine Spur!
({9})
Ein dritter Punkt, der zeigt, wie seriös Ihr Antrag ist,
sind die verkürzten Zitate, mit denen Sie Ihren Antrag
spicken, um ihm eben einen seriösen Anstrich zu geben.
Beispielsweise zitieren Sie den Präsidenten des Deutschen Städtetages, Hajo Hoffmann, wie folgt:
Die Investitionstätigkeit geht dramatisch zurück. Die
Kommunen können wichtige Investitionen - etwa für
Straßen, Kanalisation, Schulen und soziale Einrichtungen - nicht mehr vornehmen. Die Länder haben ihre
Zuweisungen an die Kommunen der neuen Länder
- jetzt achten Sie einmal auf die Jahreszahl seit 1992 um über ein Drittel und in den alten Ländern um über ein Viertel verringert.
An dieser Stelle endet Ihr Zitat. Wie unredlich dies ist,
zeigt der im direkten Anschluss daran von Hajo Hoffmann
geäußerte Satz:
Sie
- also die Länder tragen damit die Hauptverantwortung dafür, dass die
Investitionen der Kommunen heute um 19 Milliarden DM oder fast 30 Prozent unter denen des Jahres 1992 liegen.
Er sieht die Verantwortung ganz eindeutig bei den Ländern. Im Übrigen waren Sie 1992, was den Bund angeht,
an der Regierung. Auch hier, meine Damen und Herren,
von kommunalfeindlicher Politik des Bundes keine Spur!
Das sehen die kommunalen Spitzenverbände genauso;
ich erläutere es Ihnen ganz kurz am Beispiel der Steuerreform. Hier sind wir, die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen, von den Spitzenverbänden - Sie waren ja selbst bei der Anhörung anwesend - für unser
kommunalfreundliches Verhalten im Zusammenhang mit
der Beratung der Steuerreform gelobt worden. Das begann damit, dass der Finanzausschuss zu diesem Thema
eigens eine Anhörung für die kommunalen Spitzenverbände durchgeführt hat. Das hat es zu Ihrer Regierungszeit niemals gegeben.
({10})
So konnten die Bedenken und Anregungen der Kommunen sofort und unmittelbar eingebracht werden.
Das setzte sich in sehr engen Kontakten während des
gesamten Gesetzgebungsverfahrens fort, was für die
Kommunen auch zu positiven Resultaten wie der Festschreibung der Absenkung der Gewerbesteuerumlage
nach 2005 und der Revisionsklausel für 2004 geführt hat.
Der größte Erfolg allerdings, den die Kommunen erzielt
haben - wir haben sie dabei unterstützt -, ist ihre unterdurchschnittliche Beteiligung an den Ausfällen, die die
Steuerreform mit sich bringt.
Es muss doch klar sein: Steuersenkung heißt weniger
Einnahmen, und zwar bei Bund, Ländern und Gemeinden.
Wer auf der einen Seite ständig Steuersenkung predigt,
kann nicht auf der anderen Seite kritisieren, dass dann
auch wirklich Steuerausfälle eintreten. Gerade die Steuerausfälle beweisen doch, dass diese Steuerreform richtig
ist und die Zielgruppen auch erreicht hat.
({11})
An den Gesamtsteuereinnahmen des Staates - meine
Damen und Herren, das wissen Sie - sind die Gemeinden
mit 12,2 Prozent beteiligt. Daher wäre es nur gerecht und
logisch, wenn man die Gemeinden an den Ausfällen, die
eine Steuerreform mit sich bringt, in genau diesem Verhältnis beteiligte.
({12})
- Völlig korrekt, Herr Götz. Aber Sie kennen doch die
Zahlen, die Ihnen auch die kommunalen Spitzenverbände
bestätigen: Die Gemeinden haben insgesamt nur 8,9 Prozent der Steuermindereinnahmen zu tragen. Sie sind doch
sehr dankbar dafür, dass wir diese kommunalfreundliche
Politik machen. Von kommunalfeindlichem Verhalten
wiederum keine Spur!
An dieser Stelle möchte ich den Kommunen und den
sie vertretenden Spitzenverbänden - dem Städtetag, dem
Städte- und Gemeindebund sowie dem Landkreistag - für
ihre Bereitschaft, die Steuersenkungspolitik der Bundesregierung voll zu unterstützen, sehr danken.
({13})
Es ist ein einmaliger Fall, dass die Spitzenverbände die
Politik der Bundesregierung unterstützen. Das hat es zu
Ihren Zeiten nie gegeben.
({14})
Eines ist klar: Auch eine Beteiligung von 8,9 Prozent
bei den Ausfällen ist selbstverständlich eine Belastung für
die Gemeinden. Das hat unweigerlich Konsequenzen für
die kommunalen Haushalte. Wer wollte das leugnen? Das
ist aber im System so angelegt. Steuersenkung heißt eben
nicht nur Steuersenkung beim Bund, während alle anderen mehr Geld bekommen, sondern Steuersenkung
heißt: geringere Steuereinnahmen bei Bund, Ländern und
Gemeinden.
Ich glaube, den Kommunen wurde die Zustimmung zur
Steuerreform durch die Tatsache, dass wir die Gewerbesteuer in vollem Umfang erhalten haben, sehr erleichtert.
Das ist ein wichtiger Punkt.
Die Ihnen bekannte Steuerschätzung hat gezeigt, dass
die Gewerbesteuereinnahmen in den kommenden Jahren
weiter steigen werden. In diesem Jahr werden 48 Milliarden DM erwartet, im nächsten Jahr 53 Milliarden DM
und 63 Milliarden DM im Jahr 2005. Die Einnahmen aus
der Gewerbesteuer brechen also nicht weg, sondern steigen ständig.
Durch den pauschalierten Abzug der Gewerbesteuer
von der Einkommensteuer haben wir erreicht, dass die
Gewerbesteuer für die Personenunternehmen, also für
den Mittelstand, als Belastung abgeschafft, für die Kommunen aber gleichzeitig als Einnahmequelle erhalten
wurde.
({15})
Das ist doch im Grunde ein genialer Trick. Da sollten Sie
eigentlich sagen: Wunderbar, auf diese Idee hätten wir
früher kommen sollen. - Das ist mittelstandsfreundliche
Politik, ein hervorragender Beitrag zur Entlastung des
Mittelstandes bei gleichzeitiger Sicherung der Finanzkraft der Gemeinden. Das wissen Städte, Gemeinden
und Kreise zu schätzen, denn sie wissen genau, was sie
von einer Regierung unter Führung der CDU/CSU oder
auch mit Beteiligung der F.D.P. zu erwarten gehabt hätten.
({16})
Die F.D.P. wollte die Gewerbesteuer völlig und ohne
Ersatz abschaffen. Die CDU/CSU wollte die Messzahlen
absenken. Das hätte einen dramatischen Rückgang der
Einnahmen aus der Gewerbesteuer, der wichtigsten kommunalen Steuer, zur Folge gehabt. Sie hätten damit nach
meiner Überzeugung Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes
ausgehöhlt, der den Gemeinden eine wirtschaftsbezogene
Steuer mit eigenem Hebesatzrecht garantiert.
({17})
Sie, meine Damen und Herren, sind ein schlechter Ratgeber und ein schlechter Helfer bei der Durchsetzung
kommunaler Interessen. Wir Sozialdemokraten brauchen
von Ihnen in Bezug auf Kommunalpolitik nun wirklich
keine Ratschläge, denn die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist diejenige Bundestagsfraktion, die besonders stark in den Kommunen verwurzelt ist.
Wir sind die Kommunalpartei schlechthin und das seit
über 130 Jahren.
Wir haben unsere Wurzeln in den Stadt- und Gemeinderäten; das wissen Sie auch. Wir sind dort gut verankert.
Wir wissen, woher wir kommen, und vergessen das nicht.
({18})
Das kann man auch sehr gut am Beispiel des Finanzministers klar machen. Der Finanzminister Hans Eichel
war Oberbürgermeister in Kassel, er war Ministerpräsident in Hessen und ist jetzt Bundesfinanzminister. Das
heißt, er hat alle drei staatlichen Ebenen selbst kennen
gelernt
({19})
und weiß, wo die Probleme liegen, und er handelt danach.
Wir nehmen den Auftrag der Koalitionsvereinbarung
sehr ernst, das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden
Prüfung zu unterziehen. Aber Sie wissen doch genau wie
ich, dass uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 11. November 1999 eine sehr knappe Frist im Hinblick auf den Länderfinanzausgleich und das Maßstäbegesetz gesetzt hat. Das ist eine Folge der Klagen, die im
Wesentlichen von den süddeutschen Ländern betrieben
worden ist.
Kollege Scheelen, ich
muss leider auch Sie etwas bremsen.
Ich komme sofort zum
Schluss.
Wie Sie wissen, binden die Arbeiten am Maßstäbegesetz und am Länderfinanzausgleich personelle Kapazitäten sowohl in den Ministerien als auch in den Fraktionen. Wir müssen dieses Gesetzesvorhaben zum Abschluss
bringen. Deswegen bleibt in dieser Legislaturperiode leider keine Zeit für eine Gemeindefinanzreform. Wir werden sie aber in der nächsten Legislaturperiode anpacken.
Dazu ist uns das Thema zu wichtig.
Zum Abschluss möchte ich den Kollegen von der Opposition noch einen guten Rat geben: Bereichern Sie die
Debatte lieber mit konstruktiven Vorschlägen zur Gemeindefinanzreform und nicht mit einem solch peinlichen
Antrag; denn in Ihrem Antrag ist kein einziger Vorschlag
zu einer Gemeindefinanzreform enthalten.
Herzlichen Dank.
({0})
Jetzt spricht der Kollege Gerhard Schüßler für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Scheelen, es ist schon vermessen, wie Sie angesichts der
Vernachlässigung der Kommunen durch die rot-grüne
Bundesregierung, die es in dieser Form noch nie gegeben
hat, Ihre Politik mit hehren Worten zu verteidigen versuchen.
({0})
All Ihre hehren Worte aus Ihrer Regierungserklärung,
nach denen Sie die Finanzkraft der Gemeinden stärken
wollten, sind wie Seifenblasen zerplatzt. Herr Kollege
Scheelen, wenn selbst eine Zeitung wie die „Frankfurter
Rundschau“, die bekanntlich manche Vorlagen zu ihren
Artikeln direkt aus dem Büro des Kollegen Struck bekommt, Alarm schlägt und titelt „Kommunen klagen über
finanzielle Zwangsjacke“, und wenn man sich die Zahlen,
die für sich sprechen, anschaut, ist mir Ihr Beitrag überhaupt nicht mehr verständlich.
({1})
Jeder vernünftige Mensch muss sich angesichts dieser
Aussichten sagen: So kann es nicht weitergehen. Was
macht denn diese Bundesregierung? Nichts! Es ist jedes
Jahr das gleiche Spiel: Nachdem die Bürgerinnen und
Bürger ihre Steuern abgeliefert haben, beginnt eine abenteuerliche, wilde Umverteilung. Je nachdem, wie das
jährliche Gezerre ausgeht, bekommen davon der Bund,
das jeweilige Bundesland und die Kreise und Gemeinden
ihre jeweiligen Anteile. Damit aber nicht genug. Die Länder praktizieren untereinander einen Finanzausgleich und
auch die kreisfreien Städte und Landkreise unterliegen
noch einmal einem Finanzausgleich.
Unser Grundprinzip, gleiche Lebensbedingungen für
alle zu erreichen, war sicher eine lange Zeit richtig. Für
die neuen Bundesländer müssen auch weiterhin Ausnahmen möglich sein. Alle anderen Umverteilungsszenarien
sollten aber so schnell wie möglich abgeschafft werden.
Das ganze System taugt nichts mehr.
({2})
Dieses System hat alle Verantwortlichkeiten verwischt.
Die Finanzströme sind nicht mehr transparent und auch
nicht mehr kontrollierbar. Was wir dringend brauchen,
ist eine präzise und punktgenaue Struktur der Steuergesetzgebung. Nur mit einem solch längst überfälligen
Schritt kann das Ende der für niemanden mehr
nachvollziehbaren Umverteilungsorgien eingeläutet
werden.
({3})
Jede Gebietskörperschaft muss in der Lage sein, eigene
Steuern zu erheben, sie muss also das Recht auf Erhebung
eigener Steuern haben.
({4})
Herr Clement und Herr Beckstein haben in dieser Woche
vorsichtige Vorschläge gemacht. Es gibt danach Bundessteuern für die Verpflichtungen, für die der Bund die Verantwortung trägt. Die Länder werden in die Lage versetzt,
ihre Hoheitsaufgaben und alles, was ihnen der föderative
Staat übertragen hat, zu finanzieren. Die Selbstverwaltung der Kommunen bekommt dann wieder einen Sinn
und eigene Gestaltungsspielräume, die ja völlig verloren
gegangen sind.
In Nordrhein-Westfalen stehen 90 Prozent aller kreisfreien Städte unter Haushaltsbewirtschaftung. Das ist das
Ergebnis kommunaler SPD-Politik im Lande NordrheinWestfalen. Das machen sie ja schon seit Jahren.
({5})
Angesichts dieser Zustände haben Sie längst den Anspruch verloren, eine Kommunalpartei zu sein.
Das Recht auf eigene Steuern für die Kommunen ist in
den meisten Demokratien eine Selbstverständlichkeit.
Nicht so bei uns. Zurzeit erleben wir erneut ein peinliches
Gezerre um den Bund-Länder-Finanzausgleich und das
Maßstäbegesetz. Es ist peinlich, was sich dort abspielt.
({6})
Sie wissen ganz genau, dass dabei nichts anderes herauskommen wird als ein Minimalkonsens, welcher die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerade noch erfüllt. Am Grundübel des Umverteilungspokers wird
nichts geändert. Von der dringend erforderlichen Gemeindefinanzreform ist keine Rede. Das wird jetzt mit der
knappen Zeit begründet.
({7})
- Herr Kollege Scheelen, Sie haben es nie gewollt. - Es
ist nicht einmal ein Silberstreif am Horizont sichtbar.
({8})
Herr Eichel hat als Bundesfinanzminister schon x-mal
expressis verbis erklärt, dass er keine Gemeindefinanzreform will.
({9})
Das Ganze erinnert mich sehr an das mehr als peinliche
Hickhack um die so genannte größte Steuerreform aller
Zeiten. Da erpressten sich Bund und Länder gegenseitig,
um noch etwas für sich herauszuschlagen. Da wurden politische Kämpfe gewonnen und verloren, aber da wurde
nicht die bestmögliche Steuerreform beschlossen. Wenn
jeder für sich - Bund, Länder und Gemeinden - seine eigenen Einnahmen und Rechte hätte, könnten man sich
auch nicht mehr gegenseitig erpressen. Das hätte einen
ganz besonderen Charme.
Kommunalpolitik hatte weder in der Vergangenheit in
Bonn noch hat sie heute in Berlin den Stellenwert, der ihr
gebührt. Alle gegenteiligen Bekundungen helfen nichts,
wenn die Tendenz „Nur ja nichts verändern!“ zum Grundprinzip wird. So ist das! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion
fordert seit langem die vollständige Abschaffung der Gewerbesteuer.
({10})
Sie ist und bleibt wettbewerbsfeindlich und ist eine der
Hauptursachen - das wissen die Finanzpolitiker auch für unser hochkompliziertes Steuersystem.
({11})
Wir fordern eine angemessene Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer, Herr Kollege Spiller.
({12})
Wenn ich Stadtkämmerer wäre, würde ich jubeln, wenn
ich an der Umsatzsteuer beteiligt würde. Außerdem fordern wir ein Recht auf die Erhebung eines Zuschlags auf
die Einkommensteuer im Rahmen des geltenden Steuertarifs. Das hat sogar den Charme, dass es dazu keinerlei
Verfassungsänderung bedarf.
Diese Bundesregierung hat nicht einmal Lösungsansätze aufgezeigt, sondern nur Gesetze beschlossen, die
den Kommunen in erheblichem Umfang neue Pflichten
und Kosten auferlegen. Damit verschlechtert sich die Situation der Kommunen dramatisch. Da können Sie reden,
was Sie wollen. Wenn Sie und in Sonderheit auch die
Länder vom Konnexitätsprinzip reden, ist das nichts als
eine leere Worthülse. Glaubwürdig werden Sie erst, wenn
Sie das System wirklich ändern. Dann können die gegenseitigen Erpressungsszenarien nicht weiter angewandt
werden und man braucht sich nach der Tat nicht über die
jeweils praktizierten Verfahren aufzuregen. Das nämlich
ist unglaubwürdig und löst kein einziges Problem.
({13})
Unsere Gemeinden brauchen wieder Luft zum Atmen.
Bund-Länder-Finanzausgleich und Gemeindefinanzreform gehören untrennbar zusammen. Sie aber wollen es
nicht begreifen, obwohl Sie es wissen. Wir brauchen eine
Rückverlagerung von Kompetenzen an die Länder im
Sinne des Subsidiaritätsgedankens. Wir brauchen eine
klare Regelung der Kompetenzen von Bund, Ländern und
Kommunen.
({14})
In ihrer Haushaltswirtschaft müssen sie selbstständig,
selbstverantwortlich und voneinander unabhängig sein.
({15})
Durch die Neufassung des Art. 109 des Grundgesetzes
muss die Steuerverantwortung der jeweiligen Gebietskörperschaften klar voneinander getrennt und die Umverteilung über den Finanzausgleich auf das absolute Minimum
beschränkt werden. Es sagt jeder, dass sich die Gemeinschaftsaufgaben nicht bewährt haben, wenn man betrachtet, was sie alles in ihrem Gefolge mit sich gebracht haben. Folglich gehören sie abgeschafft.
({16})
Es sind also klare Ausgabenverantwortlichkeiten
notwendig. Ich hoffe, dass der Grundsatz „Wer bestellt,
bezahlt“, also das Konnexitätsprinzip, hier einmal zum
Zuge kommen wird. Dazu bedarf es aber längerer, ausführlicherer und intensiverer Debatten, auch hier im
Hause, zumal damit zum Teil Verfassungsänderungen
verbunden sind. Ich hoffe, dass diese Debatte zumindest
einen Anstoß dazu gibt.
({17})
Jetzt spricht der Kollege Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kommunaldebatten im Bundestag haben natürlich immer den
Charme, dass hier zwar das Klagelied der kommunalen
Ebene angestimmt wird, aber in der politischen Praxis,
wenn es wirklich um die Geldverteilung geht, die verschiedenen Ebenen durchaus ihre Pfründe verteidigen.
Die Tatsache, dass das Bundesfinanzministerium - inzwischen ist der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller
eingetroffen ({0})
und vor allem der Bundesfinanzminister heute im großen
Umfang gefordert ist, kennen die Insider. Heute kämpft
der Bundesfinanzminister mit 16 Bundesländern um den
Finanzausgleich bzw. das Maßstäbegesetz. Dieses Gefecht geht zulasten des Bundes. Im Zweifelsfall scheren
sich auch die Länder, egal, von wem sie regiert werden,
keinen Deut darum, wie es ihren Kommunen geht. Die
Passage aus dem Bericht des Städte- und Gemeindebundes - der Kollege Scheelen hat es angesprochen -, die
nicht im CDU-Antrag zitiert ist, spricht eine deutliche
Sprache: An den klebrigen Fingern der Länderfinanzminister bleibt so manches Geld hängen, das eigentlich
für die Kommunen bestimmt war, auch in der Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern, speziell bei den ostdeutschen Bundesländern.
Zur Abwehr der Hiobsmeldungen in Ihrem Antrag
möchte ich Folgendes sagen: Ich habe mir die Finanzierungssalden aus den kommunalen Kassenberichten
zwischen 1994 und 1998 angeschaut.
({1})
- 1998 nicht mehr. - 1994 lag der Wert bei minus 11 Milliarden DM - ich runde -, 1995 lag er bei minus 14 Milliarden DM, 1996 lag der Wert bei minus 8 Milliarden DM
und 1997 lag er bei minus 5 Milliarden DM. Im Jahre
1998 wurde der Wert positiv. In dem Jahr lag er bei 5 Prozent. Im Jahre 1999 - in diesem Jahr hatten wir die Regierungsverantwortung - lag der Wert bei plus 4,5 Milliarden DM. Im vergangenen Jahr lag der Wert bei plus
2 Milliarden DM. Nach einer Hochrechnung der kommunalen Spitzenverbände von Ende Januar - hierin spiegelt
sich sicherlich auch die Steuerreform wider, die auch
technische Reaktionen bei der Rechtsumstellung zur
Folge hatte, was zum Beispiel im ersten Quartal das Gewerbeertragsteueraufkommen betroffen hat - wird in diesem Jahr erstmals in unserer Regierungszeit der Wert negativ, was aber sehr in der steuertechnischen Umstellung
und in der nachlassenden konjunkturellen Dynamik begründet liegt. Die Zahlen lassen also nicht den Schluss zu,
dass diese Koalition kommunalfeindlicher ist als die Vorgängerregierung, im Gegenteil: Die Zahlen sprechen eher
für uns.
Ich rede hier als jemand, der auch Abgeordneter in einem Kommunalparlament ist. Im Kreistag in Biberach im
Oberschwäbischen, wo es eine gute Beschäftigungslage
gibt, sind im vergangenen Jahr die Sozialhilfekosten und
die Kosten für Hilfe zum Lebensunterhalt deutlich gesunken. Das ist eine Tatsache, die in vielen Teilen dieser Republik aufgrund des Anziehens der Beschäftigung zu konstatieren war. Das begrüße ich und hoffentlich auch der
F.D.P.-Kollege und die Unionsfraktion, weil das natürlich
der kommunalen Seite gut tut.
Zu Recht hat der Kollege Scheelen darauf hingewiesen, dass bestimmte Sozialleistungen, die wir auf Bundesebene verbessern, automatisch zur Verbesserung der
Einnahmesituation der Kommunen führen. Auch der
Familienleistungsausgleich des nächsten Jahres wird für
die kommunale Seite, wenn das Kindergeld um 30 DM erhöht wird, eine Entlastungskomponente beinhalten. Das
darf man nicht unterschlagen. So viel zu diesem Vergleich.
({2})
Ich möchte jetzt den Blick über den Tellerrand wagen.
Ich persönlich hatte mich dafür eingesetzt, dass die Passage, auf die Sie Ihren Antrag stützen, in die Koalitionsvereinbarung hinein geschrieben wurde. Das bezog sich
auf eine etwas größere Finanzreform und nicht auf eine
kleine wie jetzt beim Maßstäbegesetz und Finanzausgleich. Weiter nenne ich die Finanzverfassungsreform
und das Konnexitätsprinzip. Die Bundesländer, und zwar
in ihrer Gesamtheit - egal, von wem sie regiert werden -,
blockieren eine größere Reform. Das kann man heute
konstatieren. Wenn wir eine große Finanzverfassungsreform wollen, dann sollten wir den Weg einschlagen, den
der Deutsche Landkreistag in der letzten Woche empfohlen hat, nämlich die Einberufung einer entsprechenden
Finanzverfassungskommission in der nächsten Legislaturperiode mit dem Ziel, im Grundgesetz die nötigen
Rechtsänderungen für die Trennung der Zuständigkeiten
herbeizuführen. Gleichzeitig müssen wir natürlich in der
Steuergesetzgebung die künftige Entwicklung abbilden.
Hierzu gehört zum Beispiel - hierfür hat meine Fraktion
durchaus Verständnis -, den Gemeinden Hebesatzrechte
auf direkte Steuern einzuräumen, beispielsweise auf die
Einkommensteuer. Denn die Trennung der Verantwortlichkeiten hat den Vorteil, dass Ausgaben- und Einnahmeverantwortung auf einer bestimmten Ebene angesiedelt sind und damit künftig die kommunale Seite den
schwarzen Peter nicht immer nach oben schieben kann,
({3})
sondern vor Ort zu vertreten hat, was eingenommen und
ausgegeben wird.
({4})
Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, der deutlich macht, warum die Gemeinden jetzt in Hab-AchtStellung sind. Sie wissen, dass, wenn man - um die Verantwortung zu bündeln - die beiden sozialen Sicherungssysteme, nämlich die Sozialhilfe, die von den Kommunen
bezahlt wird und für die sie rund 50 Milliarden DM pro
Jahr ausgeben, und die Arbeitslosenhilfe, die aus dem
Bundeshaushalt bezahlt wird, und zwar mit rund 25 Milliarden DM pro Jahr, miteinander verschränkt, sich natürlich sofort die Frage stellt, ob damit der Bund seine Lasten in Höhe von 25 Milliarden DM kommunalisieren will.
Dazu sage ich deutlich und spreche es auch als Bundespolitiker an: Das wollen wir nicht.
In dem Kontext einer solchen Maßnahme wird der
Handlungsdruck für eine Finanzverfassungsreform wesentlich größer; denn wenn Sie dieses Problem für die Gemeinden tatsächlich dauerhaft befriedigend lösen wollen,
dann müssen Sie im System Änderungen grundsätzlicher
Art vornehmen. Sie müssten etwa das Konnexitätsprinzip auch im Grundgesetz verankern, sodass es verbriefte
Ansprüche der Gemeinden, also eine Absicherung, gibt,
wie es in manchen Ländern durch landesverfassungsgerichtliche Urteile geregelt wurde. Dort haben die Verfassungsgerichtshöfe entschieden: Wenn die Länder Aufgaben auf die Kommunen übertragen, dann müssen die
verfassungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden, dass dafür auch entsprechende Einnahmen vom Land
kommen. Eine solche Koppelung im Grundgesetz ist aus
meiner Sicht denkbar.
Ich gehe jetzt über den Diskussionsrahmen hinaus.
({5})
- Herr Götz, seien wir reell: Sie waren Bürgermeister
in Gaggenau. Alle Redner, die vor mir geredet haben, haben eine kommunalpolitische Funktion: Bernd Scheelen
in Krefeld, Schüßler in Hagen. Sie sehen, dass ich den
„Kürschner“ aufmerksam studiert habe, während Sie geredet haben.
({6})
- Ich habe auch zugehört. Was ich damit sagen will - Kollege Fromme, Sie können darauf dann eingehen; Sie reden ja noch -, ist etwas anderes: Alle kommunalen Praktiker wissen ganz genau, wie mühsam das Geschäft ist,
beiden übergeordneten staatlichen Ebenen, nämlich Ländern und Bund, etwas abzutrotzen. Warum das so ist, ist
doch klar: Die Kommunen sind verfassungsrechtlich für
den Bund Bestandteil der Länder und die Kommunen
haben keine Mitwirkungsrechte verbriefter, verfassungsrechtlicher Art im Gesetzgebungsverfahren. Insofern sitzen sie, wie viele Präsidenten der Städtetage in der
Vergangenheit gesagt haben, immer am Katzentisch,
wenn im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat Kompromisse zulasten der kommunalen Ebene geschmiedet werden.
Weil an den Kompromissen immer der „gesamte Laden“ hier beteiligt ist, weil alle Parteien des Bundestages
irgendwo auf Länderseite mitregieren, verbietet sich eine
zu stark polarisierende Diskussion; denn alle, die hier im
Parlament vertreten sind, sitzen im Glashaus.
({7})
- Nein, ich rate ja zur Mäßigung, Kollegin Kressl. Mäßigung bedeutet: Nehmen wir uns Zeit für eine vernünftige
Reform! Nehmen wir den Kommunen in Deutschland die
Angst, dass durch die Änderung bei der Arbeitslosen- und
Sozialhilfe ein Generalangriff auf die kommunale Seite
geplant ist. Deuten wir vor allem an, dass mit der nächsten Finanzverfassungsreform tatsächlich eine umfassende
Reform kommt und nicht das, was an diesem Wochenende zwischen Ländern und Bund „ausgedealt“ wird:
Maßstäbegesetz und neuer Finanzausgleich. Für das, was
bei diesem Ereignis herauskommt, schäme ich mich fast.
Das ist marginal.
({8})
- Die Peinlichkeit allerdings kann kein Abgeordneter mit
Überzeugung herausstellen, weil alle diesen Deal im Hinterzimmer mitmachen und der Exekutivföderalismus da
fröhliche Urständ feiert, statt dass im Parlament transparent und offen verhandelt und diskutiert wird.
Vielen Dank! - Und, Frau Präsidentin: Ich war sekundengenau!
({9})
Solche Punktlandungen sind immer beeindruckend, zweifellos.
Nächster Redner für die PDS-Fraktion ist der Kollege
Dr. Uwe-Jens Rössel.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Da beißt die Maus keinen Faden ab: Die rot-grüne Bundesregierung hat ihre Koalitionsvereinbarung, wonach die Finanzkraft der Gemeinden zu stärken ist, nicht eingehalten. Sie hat sie nicht nur
nicht eingehalten, sondern sie hat im Gegenteil sogar die
Situation der Kommunen durch ihre Haushalts- und Finanzpolitik weiter verschärft.
Der erste Beleg dafür ist die Steuerreform. Es ist eben
nicht so, Kollege Scheelen, wie Sie dargestellt haben - ich
war auch auf dem Deutschen Städtetag in Leipzig -, dass
die Kommunen die großen Profiteure der Steuerreform
sind. In diesem Jahr fehlen den Städten, Gemeinden und
Landkreisen wegen der Steuerreform immerhin 8,5 Milliarden DM - Zahlen des Deutschen Städtetages - an eigenen Einnahmen.
Zweitens. Bundesfinanzminister Hans Eichel - übrigens viele Jahre lang Oberbürgermeister der Großstadt
Kassel - hat mit dafür gesorgt, dass der Bundeshaushalt
zulasten der Kommunen saniert worden ist. Das ist eine
unverantwortliche Praxis.
({0})
Deswegen gibt es heute vielerorts leere Haushaltskassen
und Rathäuser verfügen nicht über die notwendigen Geldmittel. Und leere Rathauskassen sind ja wohl die Totengräber für die Unternehmen, sie sind Totengräber für die
sozialen Vereine, Totengräber für Kultur, Totengräber für
Sport und natürlich auch ein unheimlicher Störfaktor für
kommunale Demokratie.
({1})
Die Kommunen haben über Jahre hinweg geringere eigene Einnahmen, müssen dennoch ihre Aufgaben erfüllen. Ein Beispiel: Die kommunalen Investitionen sind
seit 1994 - inflationsbereinigt - um 40 Prozent zurückgegangen. Dafür tragen der Bund, aber auch die Länder die
Verantwortung. Die Folge ist, dass es beim Baugewerbe,
für das die kommunalen Investitionen ein wichtiger Auslöser sind, zu immer mehr Problemen kommt. Wir haben
in Deutschland 637 000 arbeitslose Bauleute. Ein gerüttelt Maß davon ist auf die unzureichende Finanzausstattung der Kommunen zurückzuführen.
Ein weiterer Faktor: Kommunale Investitionen in
Höhe von 1 DM, liebe Kolleginnen und Kollegen, lösen
in der Regel private Investitionen in Höhe von 7 DM aus.
Sie sehen hieran die unheimliche Flächenwirkung.
Oder nehmen wir die sozialen Vereine: Fehlende Zuschüsse behindern das soziale Klima. Kommunale Demokratie wird beeinträchtigt. Ein Bürgermeister, der faktisch
nichts mehr zu entscheiden hat, ein Gemeinderat, der
nicht über die benötigten Geldmittel verfügt, ist diskreditiert. Die Bürger erkennen das. Die derzeitige Wahlbeteiligung bei einigen Stichwahlen in Ostdeutschland von um
die 20 Prozent spricht eine beredte Sprache. Das ist eine
Furcht erregende Entwicklung. Und immer weniger
Kommunalpolitiker sind bereit, für kommunale Mandate
zu kandidieren.
Die PDS - ich sage das noch einmal - ist die einzige
Partei, die in dieser Legislaturperiode über ein umfassendes Konzept für eine Reform der Kommunalfinanzierung, die vielerorts eingefordert wird, verfügt.
({2})
Unsere Eckpunkte lauten: Wir sind erstens dafür, dass
die Kommunen über stabile eigene Steuereinnahmen
verfügen und dass sie über diese Einnahmen eine langfristige Planungssicherheit haben.
Zweitens Gewerbesteuerumlage: 30 Prozent der Gewerbesteuer müssen an Bund und Länder abgeführt werden. Der Anteil soll noch weiter steigen. Das ist unverantwortlich.
Drittens. Wir brauchen in strukturschwachen Regionen
für die Kommunen eine Investitionspauschale des Bundes, und zwar für ostdeutsche Städte, Gemeinden und
Landkreise und auch für strukturschwache Regionen in
Westdeutschland.
({3})
Diese Investitionspauschale soll direkt vom Bund an die
Kommunen fließen. Dort soll mit der Sachkompetenz der
Bürgerinnen und Bürger und der Gemeinderäte über deren Verwendung für Sozialpolitik, für kommunale Investitionen, für ökologische Fragen sowie das Bildungswesen entschieden werden. So etwas gab es schon einmal,
aber es ist notwendig, es sozusagen wieder neu aufzulegen, weil die Situation dramatisch wird.
Viertens. In der Tat, Kollege Metzger, brauchen wir
eine Reorganisation der Finanzverfassung in der Bundesrepublik überhaupt. Grundlegende Schritte sind
notwendig. Jetzt ist es immer noch so, dass die Kommunen - die übrigens bei Treffen, bei denen es um bundesund landespolitischen Entscheidungen geht, meistens am
Katzentisch sitzen: eine unverantwortliche Praxis
({4})
in der Finanzverfassung völlig unterbewertet sind. Und es
wird nach folgendem Strickmuster gehandelt: Erst wird
der Bund bedient, dann die Länder, dann die Kommunen.
Die Kommunen als Letzte beißen immer die Hunde. Das
muss aber umgekehrt sein. Deswegen brauchen wir sofort
die Debatte über die dringend notwendige Kommunalfinanzreform in der Bundesrepublik und nicht deren Vertagung in die nächste Wahlperiode.
({5})
Ein letztes Wort an die Kollegen der CDU/CSU: Viele
Beiträge zur Lageeinschätzung kann man unterstützen.
Das ist auch unsere Auffassung. Aber Sie müssen sich
natürlich fragen lassen, warum Sie in den 16 Jahren Regierungszeit unter Helmut Kohl dafür gesorgt haben, dass
wichtige finanzielle Grundlagen kommunaler Selbstverwaltung, Steuergrundlagen, ausgehöhlt worden sind. Deswegen würde ich an Ihrer Stelle auf diesem Gebiet ein
bisschen mehr Selbstkritik üben. Sie haben ja jetzt dazu
die Gelegenheit. Der nächste Redner ist von der
CDU/CSU.
({6})
Wir brauchen in Deutschland eine Kommunalfinanzreform für die Bürgerinnen und Bürger in den Städten,
Gemeinden und Landkreisen, für unser Gemeinwohl. Gemeinsam sollten wir jetzt dafür streiten.
Vielen Dank.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Frank Schmidt von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nur eines
richtig stellen: Natürlich bin ich nicht Mitglied der
CDU/CSU-Fraktion, sondern der SPD-Fraktion, Herr
Rössel.
({0})
Nach den deutlichen Ausführungen meines Kollegen
Bernd Scheelen möchte ich das eine oder andere gerne
noch ergänzen. Insbesondere nach dem letzten Redebeitrag hier muss man wohl klarstellen, wer die letzten
16 Jahre vor 1998 regiert hat. Ich denke, es muss auch
deutlich gemacht werden, wie kommunalfeindlich die
CDU in diesen Jahren gewesen ist.
({1})
Wir können feststellen, dass Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, eine gewisse
Bewusstseinsspaltung deutlich macht, da nämlich Sie es
waren, die in den Jahren 1982 bis 1998 bewusst und mit
gezielten Anträgen, die ich auch gerne noch darlegen
möchte, die Gemeindefinanzen auf den Hund gebracht
haben. Sie haben in den Jahren 1990 bis 1997 durch Ihre
bundespolitischen Entscheidungen dazu beigetragen,
dass der Bund in diesem Zeitraum um 69,3 Milliarden DM entlastet worden ist, während die Länder um
13,5 Milliarden DM und die Kommunen um 5,2 Milliarden DM belastet worden sind. Das ist Fakt und das fiel in
Ihre Regierungszeit.
({2})
Bei uns Kommunalpolitikern machte damals sehr oft
der Ausdruck „Ausverkauf der Kommunen“ die Runde.
Die logische Konsequenz aus einer solchen Situation,
nämlich dass man mangelnde Einnahmen hat, ist, dass
man auch weniger Geld ausgeben kann. Logischerweise
gingen die Investitionen zurück. Ich hätte es für gut befunden, wenn der Debattenredner der CDU heute hier einmal dargestellt hätte, wann die Investitionen der Kommunen zurückgegangen sind: Sie sind in den Jahren 1992
bis 1998 massiv von 65,5 Milliarden DM auf 47,7 Milliarden DM zurückgegangen.
({3})
Das war das Ergebnis Ihrer Politik. Dann stagnierten sie
und steigen jetzt wieder leicht an.
({4})
Der Grund ist darin zu suchen, dass Sie vor allen Dingen in den Jahren 1992 bis 1997 massiv dazu beigetragen
haben, die Sozialhilfekosten, die sozialen Lasten der
Kommunen extrem in die Höhe zu treiben. Dabei gibt es
Entscheidungen, die man nachvollziehen kann. Sie haben
aber einfach tatenlos hingenommen,
({5})
dass ungefähr 4,2 Millionen Menschen in diesem Land arbeitslos waren. Sie rutschen irgendwann in die Sozialhilfe
ab, wenn man nichts dagegen tut, und Sie haben 16 Jahre
lang nichts dagegen getan.
({6})
Sie haben auch Entscheidungen getroffen - zum Beispiel 1996 - durch die die Arbeitslosenhilfe um 3 Prozent gekürzt worden ist. Sie haben 1997 beschlossen, die
Bezugszeit von Arbeitslosenhilfe zu kürzen. Die Folge
war: Hunderttausende von Arbeitslosenhilfeempfängern
sind in die Sozialhilfe gerutscht - Lasten für die Kommunen.
({7})
Durch einige Entscheidungen, die Sie getroffen haben,
haben Sie massiv zulasten der Kommunen gehandelt.
({8})
Das Ergebnis waren 2,9 Millionen Sozialhilfeempfänger
in diesem Land mit einem Belastungsvolumen von fast
50 Milliarden DM.
Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?
Bitte sehr.
Herr Kollege, haben Sie eigentlich zur Kenntnis genommen, dass in der Zwischenzeit eine Pflegeversicherung eingeführt worden ist,
durch die viele Menschen aus der Sozialhilfe herausgekommen sind, wodurch kommunale Haushalte im Sozialhilfebereich um 10 Milliarden DM jährlich entlastet worden sind?
Werter Herr
Kollege Götz, es ist richtig
({0})
- ich bin noch nicht fertig -, dass die kommunalen Haushalte hinsichtlich der Sozialhilfe durch die Einführung der
Pflegeversicherung in einem Jahr - das war ungefähr um
1996 - massiv entlastet worden sind. Danach sind die Sozialhilfekosten wieder massiv angestiegen.
({1})
Schauen Sie sich die Kurve an: Sie geht erst hoch, dann in
einem Jahr, 1996, runter und dann entsprechend wieder
hoch, weil Sie nämlich nichts gegen die Arbeitslosigkeit
getan haben.
({2})
Schauen Sie sich doch einmal, lieber Herr Kollege, die
prozentuale Verteilung zwischen Hilfe in Einrichtungen
bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt an. Vor allen Dingen zur
Entlastung bei der Hilfe zum Lebensunterhalt haben Sie
keinen Beitrag geleistet. Bei der Hilfe in Einrichtungen
war das der Fall, aber in dem anderen Bereich nicht.
({3})
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Götz?
Bitte sehr.
Bitte
schön, Herr Götz.
Herr Kollege, haben Sie
auch zur Kenntnis genommen, dass die Pflegeversicherung nicht nur für ein Jahr eingeführt worden ist, sondern
die Sozialhilfekassen jährlich entlastet?
({0})
Ich nehme gern
auf, was der Kollege Scheelen gerade gesagt hat. Umso
schlimmer ist es, dass die Sozialhilfekosten der Kommunen trotz der Pflegeversicherung wieder massiv angestiegen sind. Selbst das, was Sie gemacht haben, hat nicht
einmal im Entferntesten ausgereicht, um die Sozialhilfekosten der Kommunen einigermaßen einzuschränken.
Weitere Belastungen kamen auf die Kommunen zu.
({0})
Ich denke, ich sollte in meiner Rede fortfahren. Weil
Sie dieses Thema gerade angesprochen haben, möchte ich
ein aktuelles Beispiel aus meinem Landkreis nennen. Ich
komme aus dem Landkreis Limburg-Weilburg. Im
Jahre 1990 sind 7 Millionen DM für Sozialhilfe, und zwar
für die Hilfe zum Lebensunterhalt, ausgegeben worden.
1998, im - Gott sei Dank - letzten Jahr Ihrer Regierungszeit, waren es bereits 40 Millionen DM. Dies war
also eine Steigerung um fast 600 Prozent bei den Kosten
für die Hilfe zum Lebensunterhalt.
({1})
- Nein, von 1990 bis 1998. In diesem Zeitraum gab es eine
Steigerung von fast 600 Prozent im Bereich der Sozialhilfe. Das ist der sozialpolitische Bankrott, den allein Sie
zu verantworten haben.
({2})
Sie haben bewusst viele Menschen in die Armut getrieben. Schauen Sie einmal in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hinein. Dieser Armutsund Reichtumsbericht spiegelt deutlich wider, dass Sie in
Ihrer Regierungszeit Hunderttausende von Menschen in
Deutschland in die Armut getrieben haben.
({3})
Gleichzeitig haben Sie unsere Kommunen an den Rand
des Ruins gebracht. Wenn ich bei fehlenden Einnahmen
für riesige Ausgaben sorge, dann brauche ich mich nicht
zu wundern, dass Schulden und Defizite entstehen, die bis
heute beklagt werden. Aber diese Defizite sind vor allen
Dingen in Ihrer Regierungszeit entstanden.
({4})
Es muss konstatiert werden, dass unsere Regierungszeit seit dem Oktober 1998 vor allen Dingen davon geprägt ist, dass wir Entscheidungen getroffen haben, die
nicht kommunalfeindlich, sondern besonders kommunalfreundlich sind. Ich greife einmal den Themenbereich der
Sozialhilfe auf, einer der Hauptkostentreiber der Kommunen. Die Entscheidungen, die die Bundesregierung
und das Parlament hierzu getroffen haben, haben in der
Zwischenzeit vor allen Dingen im Bereich der Sozialhilfe
sehr stark gegriffen.
Ich nehme noch einmal das Beispiel von vorhin auf.
Mein Landkreis hatte Sozialhilfeausgaben in Höhe von
40 Millionen DM. Jetzt sind wir wieder bei
32 Millionen DM, und zwar innerhalb von zwei Jahren.
Es sind nämlich Entscheidungen getroffen worden, die
Dr. Frank Schmidt ({5})
direkt vor Ort umgesetzt werden können: Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist verstetigt worden und hilft dabei,
dass nicht noch mehr Leute in die Sozialhilfe rutschen.
Wir haben dafür gesorgt, dass ein Modellprojekt auf
den Weg gebracht worden ist, bei dem die Zusammenarbeit von Arbeits- und Sozialämtern intensiviert wird
und an dem 30 Kommunen teilnehmen. Hier muss angesetzt werden. Es geht nicht nur um die kostenmäßige Verteilung zwischen den Arbeits- und Sozialämtern. Es geht
vielmehr darum, dass die Sozialämter in die Lage versetzt
werden, die Maßnahmen zu koordinieren. Damit ist angefangen worden. Es wird umgesetzt und sich entsprechend
segensreich in den Kommunen auswirken.
({6})
Wir haben durch die Auflage des Sofortprogramms
zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit 200 000 Jugendlichen, die arbeitslos waren oder keine Ausbildung
hatten, eine Chance für die Zukunft eröffnet. Diese Menschen wären ansonsten in die Sozialhilfe abgerutscht und
sind nun aus diesem Gefahrenbereich herausgeholt.
Im Zusammenhang mit dem direkten Einfluss auf die
Kommunen sind zwei Entscheidungen sehr wichtig. Da
Sie eben die Pflegeversicherung angesprochen haben,
möchte ich kurz darauf eingehen. Die Erhöhung der
Pflegesätze, die wir beschlossen haben, ist ein ganz wichtiger Beitrag zur Reduzierung der Sozialhilfekosten der
Kommunen; denn dadurch wird Hilfe in die Ausgaben der
Kommunen für die Einrichtungen proportional reduziert.
Diese Auswirkungen kann man nachweisen. Dies kann
man in den kommunalen Haushalten wiederfinden. Das
ist ein Erfolg dieser Regierung.
({7})
Gleichzeitig werden durch die Anhebung des Wohngeldes, die jetzt greift, 170 000 Menschen in diesem Land
aus der Sozialhilfe geholt. Wer mehr Wohngeld bekommt,
braucht keine Sozialhilfe mehr von der Kommune in Anspruch zu nehmen. Das hat etwas mit der Menschenwürde
der Betroffenen zu tun. Vor allen Dingen hat es etwas damit zu tun, dass so die kommunalen Finanzen wieder in
Ordnung gebracht werden.
({8})
Allein im Bereich der Sozialhilfe kann ich konstatieren: Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
haben den Karren in den Dreck gefahren. Wir reißen das
Ruder für die Kommunen und für die Menschen in den
Kommunen entschieden herum.
({9})
Ich möchte noch ein paar Dinge anmerken, die ebenfalls mit hineinspielen. Ich nenne nur das Programm, das
Brennpunkte entschärft: „Die soziale Stadt“. Auch denke
ich an die Forderungen der Kommunen, die Infrastruktur
sicherzustellen, was wir mit der Post-Universaldienstleistungsverordnung getan haben. Wir haben sichergestellt,
dass in jedem Ort eine Post vorhanden ist, welches eine
Forderung der Kommunen war. Dies ist eine kommunalfreundliche Politik. Wir haben dafür gesorgt, dass im Rahmen eines Gebäudesanierungsprogramms jedes Jahr
200 000 Wohnungen saniert werden. Das ist für die Innenstädte wichtig. Es hat etwas mit der Ausstattung der
Kommunen und den Menschen, die dort leben, zu tun.
Das ist kommunalfreundliche Politik.
({10})
Wir haben dafür gesorgt - das ist ein Thema, das uns
immer wieder beschäftigt -, dass ein Sonderprogramm
zur sprachlichen Integration von Spätaussiedlern aufgelegt und mit einem besonderen D-Mark-Betrag bedacht
wird. Das ist auch eine Forderung der Kommunen. Die
Kommunen treten immer wieder an uns heran und fordern: Tut etwas für die Integration der Menschen. Wir
nehmen Geld in die Hand, um diese Leute zu integrieren.
Wir haben - das ist schon erwähnt worden, das möchte
ich aber nach den Reden, die hier gehalten worden sind,
noch einmal ansprechen - eine kommunalfreundliche
Steuerreform beschlossen. Die Steuerreform belastet die
Kommunen im Verhältnis zu ihrem Steueraufkommen unterproportional. Einfach ausgedrückt heißt das: Die Kommunen bekommen 12,2 Prozent des gesamten Steueraufkommens. Von allen Steuerausfällen tragen sie aber nur
8,9 Prozent. Den Rest schultern Bund und Länder. Wir haben deutlich gemacht, dass die Kommunen hierbei entlastet werden, und ich sage in Richtung der F.D.P.: Wir
haben auch deutlich gemacht, dass für uns die Gewerbesteuer ein Teil des kommunalen Finanzsystems bleibt.
Wir sind in der Lage, deutliche Zeichen in die Richtung
zu setzen, was die Kommunen für ihren Finanzbedarf
benötigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
lassen Sie mich vielleicht einmal anmerken: Angesichts
dessen, was diese Bundesländer wie Bayern oder Hessen
mit ihren Kommunen getan haben, sollten Sie sich lieber
an Ihre eigene Nase fassen.
({11})
- In Bayern ist die Höhe des Finanzausgleichs für die
Kommunen in den letzten Jahren nie in gleichem Umfang
gestiegen wie die Steuermehreinnahmen des Landes. Dabei gibt es jedes Jahr eine Lücke. Das Ergebnis sehen wir:
Die Schulden des Landes Bayern sind seit 1998 um
28 Prozent gestiegen. Bei den Kommunen, die nicht an
den Steuermehreinnahmen teilhatten, sind die Schulden
im gleichen Zeitraum um 72 Prozent gestiegen. Das ist
Ihre Politik in Bayern. So saniert sich das Land Bayern
auf Kosten der Kommunen!
({12})
Gleiches sehen wir in Hessen. Dort können wir feststellen, dass die Landesregierung 800 Millionen DM aus
der Planung des Finanzausgleichs herausgenommen hat,
vor allem im Bereich der Kindergartensubventionierung.
Im Städtebau hat das Land Kürzungen beschlossen, die
dazu führen, dass die Kommunen weniger Einnahmen haben. Sie haben die Kürzungen bei den Zuschüssen beschlossen, wir nicht. Das ist der Unterschied in der Art,
wie Finanzpolitik für die Kommunen betrieben wird.
Dr. Frank Schmidt ({13})
Ich möchte gar nicht darauf eingehen, was Sie in den
letzten Wochen und Monaten noch an tollen Dingen zum
Besten gegeben haben. Sie haben Forderungen mit einem
Volumen von mehr als 300 Milliarden DM gestellt. Sie
fordern heute - das konnten wir vernehmen -, die Steuerreform vorzuziehen, was jedes Jahr einen Steuerausfall in
Höhe von 45 Milliarden DM bedeuten würde. Ich frage
mich, wie Sie das Ihren Kommunen beibringen wollen.
({14})
Ich möchte gar nicht davon reden, was derartige Steuerausfälle für das Land Berlin bedeuten würden. Das machen Sie so eben einmal aus der Tasche.
Es ist festzustellen, dass die CDU hier einen Schaufensterantrag gestellt hat. Für uns stand und steht fest,
dass unser Gedächtnis nicht wie das Ihrige nachlässt. Wir
werden in Zukunft weiterhin an Ihre Sünden aus der Vergangenheit erinnern, wenn es sein muss, auch anlässlich
eines solchen Eigentores, wie Sie es heute geschossen
haben.
Danke.
({15})
Herr Kollege Schmidt, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad Fromme
von der CDU/CSU-Fraktion.
Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wenigstens Staatssekretär Diller nach der halben Debatte
eingetroffen ist. Ich empfinde es aber schon als einen
Skandal, dass das Kommunalministerium hier überhaupt
nicht vertreten ist.
Herr Kollege Scheelen,
({0})
wenn Sie nicht die leeren Seiten von der Bundestagsverwaltung gelesen hätten, sondern die Textseiten, dann hätten Sie festgestellt,
({1})
dass die angeblich falsche Zahl aus einer Mitteilung des
Städte- und Gemeindebundes stammt. Da Sie aber eben
leere Seiten lesen, kann ich verstehen, wie Sie zu dem
Bild von der Meinung der kommunalen Spitzenverbände
kommen. Wenn Sie deren Verlautbarungen lesen würden,
kämen Sie zu einem ganz anderen Urteil. Denn die sagen
etwas ganz anderes.
Wir haben im Hinblick auf die Steuerreform niemals
die proportionalen Verluste der Gemeinden gerügt.
({2})
Diejenigen, die das getan haben, waren die Oberbürgermeister Ihrer Partei. Wir haben vielmehr die überproportionalen Verluste gerügt.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben von einem Anstieg
der Sozialhilfekosten in den 90er-Jahren gesprochen.
Sie dürfen natürlich nicht vergessen, dass in diesem Anstieg 8 Milliarden DM für Zuwanderer enthalten sind.
Sie haben sich geweigert, die Rechtslage zu ändern.
Erst als die rheinischen Oberbürgermeister Ihrer Partei
Druck gemacht haben, haben Sie sich bewegt. Wenn
Ihre Arbeitslosenpolitik wirklich so gut wäre, dann
müssten die Ausgaben für Sozialhilfe jetzt dramatisch
in den Keller sinken. Auch das kann ich nicht feststellen.
({3})
Herr Kollege Metzger, ich kann Ihnen in vielen Punkten folgen. Aber bei Ihnen ist es genauso wie bei Ihrer
Kollegin Scheel: Sie erzählen das eine und tun das andere.
Früher haben die Grünen die Kröten über die Straße getragen und heute schlucken sie sie.
({4})
Betreiben Sie doch einmal die Politik, die Sie verkünden.
Wenn das geschieht, dann können wir zueinander kommen.
Wer einen föderalen Staat haben will, der muss dafür
sorgen, dass auf jeder Ebene nach dem Prinzip gehandelt
wird, dass die Verantwortung für Einnahmen und Ausgaben in ein und derselben Hand liegt. Das einzig adäquate
Mittel, um dafür auf Dauer zu sorgen, ist das Konnexitätsprinzip. Sie haben es in Ihre Koalitionsvereinbarung richtigerweise hineingeschrieben, auch wenn Sie es
- wie so vieles - inzwischen vergessen zu haben scheinen.
Konnexitätsprinzip heißt: direkt und unmittelbar ausgleichen. Man erkennt den Unterschied zu dem, was Sie jetzt
machen.
Sie gehen einen doppelten Umweg. Der erste Umweg
ist, dass Sie über die Länderhaushalte gehen.
({5})
- Dazu sage ich gleich etwas. - Dabei kommen die klebrigen Finger der Länderfinanzminister ins Spiel, an denen
vieles hängen bleibt. Der zweite Umweg besteht darin,
dass Sie keinen direkten Ausgleich, sondern, wie bei der
Grundrente, den Ausgleich über das Wohngeld vornehmen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Durch diese beiden Umwege
vervielfacht sich das Risiko für die Kommunen. Warum?
Der erste Grund sind - ich habe es gesagt - die klebrigen
Finger der Länderfinanzminister; der zweite Grund ist,
dass nach einigen Jahren überhaupt keiner mehr die Kompensation, die irgendwann einmal festgeschrieben worden ist - am Tage X mag sie zahlenmäßig stimmen -,
nachvollziehen kann. Daraufhin verabschiedet sich der
Bund möglicherweise aus der Wohngeldfinanzierung;
Bund und Länder einigen sich über die Kompensation für
Dr. Frank Schmidt ({6})
die Länder, während die Kommunen auf der Strecke bleiben. Aus dem doppelten Umweg wird also ein vierfaches
Risiko. So darf es nicht sein.
Es ist doch klar: Politik wird von Menschen gemacht,
auf denen der Druck lastet, in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern Ergebnisse zu erzielen. Die
Kommunen, die bei diesen Verhandlungen nicht dabei
sind, bleiben auf der Strecke. Weil das so ist, muss das
Grundgesetz entsprechend geändert werden, damit ein
rechtstechnischer Druck entsteht und nicht die menschliche Schwäche zum Tragen kommt.
({7})
Herr Kollege Scheelen, Sie haben gesagt, dass, verfassungsrechtlich gesehen, eine Lösung ohne den doppelten
Umweg nicht möglich ist. Sie haben anscheinend ein anderes Grundgesetz gelesen. Es gibt drei direkte finanzielle
Achsen zwischen Bund und Kommunen. Wenn drei direkte finanzielle Achsen zwischen dem Bund und den
Kommunen möglich sind, dann ist auch die Umsetzung
des Konnexitätsprinzips möglich. Wir haben den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer im Grundgesetz
sogar mit einem Heberecht versehen. Wir haben die Beteiligung an der Umsatzsteuer auf den Weg gebracht. Wir
haben die Gewerbesteuerumlage, die leider immer gegenteilig wirkt - gleichwohl besteht hier eine direkte Beziehung -, eingeführt. Außerdem sind in der letzten Wahlperiode die Art. 28 und 106 Grundgesetz geändert worden,
sodass man nicht mehr von einem zweistufigen System
sprechen kann. Inzwischen ist ein anderes System entstanden, durch das die Rechte der Kommunen besser gewahrt werden können.
Herr Kollege Metzger, wenn man Ihre Zahlen hört - Finanzierungssaldo positiv usw. - dann könnte man denken,
dass hinsichtlich der Kommunalfinanzen alles in Butter
ist. Entsprechend sehen die Veröffentlichungen der Länder und der Europäischen Union aus. Aber die Wahrheit
ist doch völlig anders. Warum ist denn der Finanzierungssaldo positiv geworden? Der Finanzierungssaldo ist positiv geworden, weil man Tafelsilber veräußert hat. Man hat
Staatsvermögen eingesetzt, um laufende Ausgaben zu finanzieren.
Warum haben die Kommunen, insbesondere die
großen Städte im Rheinland und in Niedersachsen, so
hohe Kassenkredite? Die Höhe der Kassenkredite ist der
Maßstab dafür, ob Finanzen geordnet sind oder nicht;
denn sie sind nicht beeinflussbar. Da liegt doch der Hase
im Pfeffer. Für diejenigen, die es nicht wissen: Kassenkredit heißt Überziehungskredit. Wer etwas auf Dauer
über einen Kassenkredit finanziert, der finanziert das Butterbrot auf Pump.
Wer das tut, wird finanziell ganz schnell am Ende sein,
weil er nämlich von der Substanz lebt.
({8})
Ich sage Ihnen noch einmal:
Viele Städte müssen Sozialhilfe oder Personalausgaben auf Pump finanzieren, weil die Defizite in ihren
Verwaltungshaushalten nicht mehr beherrschbar
sind. Sie summierten sich schon 1999 auf 7,2 Milliarden Mark und werden durch die künftigen Steuerausfälle erheblich zunehmen.
Diese Aussage stammt vom Oberbürgermeister - ich
muss eigentlich sagen: Noch-Oberbürgermeister - Hajo
Hoffmann.
Wenn ich mir die Verlautbarung des Deutschen Landkreistages anschaue, an dessen Spitze der Landtagsabgeordnete Axel Endlein von der SPD steht, dann stelle
ich fest, dass dort genau dasselbe steht: Für 323 deutsche
Landkreise ergibt sich allein im Jahr 2000 ein Finanzierungssaldo von rund 1 Milliarde DM. Ich könnte noch
zahlreiche andere Beispiele aufführen.
Die kommunalen Investitionen - ich trage Ihnen die
Zahlen vor, Herr Kollege Dr. Schmidt, auch wenn Sie sich
für sie anscheinend nicht interessieren - sind von 1998 bis
heute um 11,3 Milliarden DM - daran sind wir nicht
schuld - zurückgegangen. Das sind 0,5 Prozent des
Bruttosozialproduktes. Wir dürfen uns über die Wachstumsschwäche nicht wundern, wenn eine solch wichtige
Investitionsquelle ausfällt.
({9})
Das ist nicht nur ein Thema für Bürgermeister und
Kommunalpolitiker, sondern insbesondere auch für
Handwerker sowie Handel- und Gewerbetreibende; denn
wenn diese keine Arbeit mehr haben, dann bedeutet das
geringere Steuereinnahmen und mehr Sozialhilfe. Wenn
man die Zahlen aus Niedersachsen, wo der jetzige Bundeskanzler damals als Ministerpräsident die Verhältnisse
lange geprägt hat, als Beispiel nimmt, dann stellt man fest,
dass am 30. März 2001 167 von 410 Kommunen Kassenkredite - das ist ein ausgabenschwaches Quartal - in Höhe
von insgesamt 3,48 Milliarden DM in Anspruch genommen hatten. Das ist die wahre und schwierige Lage der
Kommunen.
Was machen Sie? Sie haben die Grundsicherung gelobt. Dabei haben Sie genau das gemacht, was ich eben
geschildert habe: Bund und Länder einigen sich zulasten
der Kommunen und legen gleich die Zuständigkeiten der
Landkreise und der kreisfreien Städte fest. Das bedeutet,
gegenüber dem Bund haben die Kommunen keinen Anspruch. Das Land kann sagen: Wir waren es nicht. So ziehen Sie sich aus der Affäre. Von Kommunalfreundlichkeit
kann hier keine Rede sein.
Jetzt komme ich auf Ihren schlimmsten Sündenfall zu
sprechen - das ist ein besonders trauriges Kapitel -, nämlich die Familienleistungen. Sie haben mithilfe der Ministerpräsidenten Voscherau, Schröder, Eichel und
Lafontaine - viele kennen diese gar nicht mehr als Ministerpräsidenten - 1996 die Festschreibung eines Sonderlastenausgleiches zur Finanzierung des Kindergeldes im
Grundgesetz durchgesetzt. Aber Sie halten sich nicht daran. Sie verteilen die Lasten gemäß dem Verhältnis der
Steuerquoten. Der Anteil der Städte, Gemeinden und
Landkreise an der Finanzierung des Kindergeldes betrug
1999, wie ich Ihnen bereits vorgerechnet habe, 5,5 Milliarden DM. Im Finanztableau des neuen Gesetzes lässt
sich nichts dazu finden, dass sich der Bund mit 74 Prozent
und die Länder mit 26 Prozent an der Finanzierung des
Kindergeldes beteiligen sollen. Sie haben das bis jetzt nur
politisch verlautbaren lassen. Ich bin gespannt, wie Sie
das umsetzen werden.
Der Bundesrat hat festgestellt, dass - erstens - die Kosten mit 300 Millionen DM zu niedrig angesetzt seien und
dass sich - zweitens - daraus ein Anspruchsausgleich der
Länder und Kommunen von zusammen 2 Milliarden DM
ergebe.
({10})
- Bleiben Sie geduldig; es kommt noch besser. - Die Länder sagen, den Ländern und Kommunen seien in der Zeit
von 1996 bis 2001 18,5 Milliarden DM vorenthalten worden. Da die Länder das meiste auf die Kommunen abgewälzt haben, sind Letztere die Leidtragenden.
Ich möchte Ihnen einmal Ihre Sündenliste vorlesen:
SGB IX, BSE-Kosten, Energiekosten und steigende
Krankenkassenbeiträge, die die Kommunen für die Sozialhilfeempfänger und Asylbewerber bezahlen müssen.
Wer soll die Zeche für die Veränderungen in der Bildungspolitik bezahlen? Die Kommunen! Auf diese werden Kosten in Höhe von 17 Milliarden DM allein dadurch
zukommen, dass für je vier Schüler ein PC gekauft werden soll. Ich nenne als weiteres Stichwort die private Altersvorsorge. Des Weiteren müssen die Kommunen die
Zuwanderer integrieren. Das niedrige Wirtschaftswachstum und die hohe Inflationsrate stellen für die Kommunen
große Risiken dar.
Deshalb fordere ich Sie auf: Folgen Sie Ihren eigenen
Erkenntnissen aus der Koalitionsvereinbarung! Folgen
Sie beispielsweise den Vorschlägen, die der Deutsche
Landkreistag in diesen Tagen auf den Tisch gelegt hat!
Der in Österreich existierende Konsultationsmechanismus ist vorbildlich. Wenn wir dieses System übernehmen,
dann müssen wir uns hier nicht mehr streiten. Dann kann
jeder in Ruhe die Verantwortung auf seiner Ebene wahrnehmen. Das gilt übrigens nicht nur für die Kommunen,
sondern auch für die Länder, wie es auch Ministerpräsident Clement gesagt hat.
({11})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6163 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes
- Drucksache 14/5399 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({1})
- Drucksache 14/6366 Berichterstattung:
Abgeordnete Arne Fuhrmann
Gerald Weiß ({2})
Monika Balt
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Klaus Haupt, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Für ein aktives und mitbestimmtes Leben im
Alter
- Drucksachen 14/5565, 14/6366 Berichterstattung:
Abgeordnete Arne Fuhrmann
Gerald Weiß ({4})
Monika Balt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Bundesministerin Christine Bergmann das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Mit der Novellierung des Heimgesetzes haben wir einen
wichtigen Schritt zur Weiterentwicklung der Altenpflege
in Deutschland getan. Ich finde, es ist sehr erfreulich, dass
die vorliegende Novelle über die Fraktionsgrenzen hinweg eine breite Zustimmung findet. Das ist ein gutes Beispiel.
({0})
- Ja, es hat viel Arbeit gekostet, aber ich denke, es hat sich
gelohnt.
Mit der Novellierung des Heimgesetzes schaffen wir
bessere Rahmenbedingungen für die rund 850 000 älteren
und behinderten Menschen in Deutschland, die auf Dauer
in einem Heim leben. Dabei geht es darum, den Schutz
und die Rechtsstellung der Hilfsbedürftigen zu verbessern, die Qualität der Hilfe zu sichern und die Strukturen
der Altenhilfe weiterzuentwickeln und effektiver zu gestalten.
Ich denke, wir sind uns darin einig, dass sich die Anforderungen an die Betreuung älterer pflegebedürftiger
Menschen in den letzten Jahren wesentlich verändert
haben. Das haben auch die Ergebnisse des Dritten Altenberichtes gezeigt, den wir bereits im Februar diskutiert haben: Das durchschnittliche Alter bei Eintritt in eine Alteneinrichtung liegt bei über 80 Jahren. Etwa 530 000
Bewohnerinnen und Bewohner von Alteneinrichtungen
sind pflegebedürftig. Von diesen sind zwei Drittel schweroder schwerstpflegebedürftig. Etwa 60 Prozent leiden an
einer demenziellen Erkrankung oder an einer psychischen
Störung.
Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, alles dafür zu tun,
dass Menschen, auch wenn sie pflegebedürftig sind, in
diesem Land in Würde leben können.
({1})
Leider werden wir immer wieder mit Missständen in Heimen konfrontiert. Dabei will ich eines ganz klar feststellen: Die meisten Pflegerinnen und Pfleger in den Heimen
leisten unter sehr schwierigen Bedingungen eine gute Arbeit. Dafür soll ihnen an dieser Stelle auch gedankt werden.
({2})
Wir können und wollen Missstände in der Pflege nicht
hinnehmen. Deshalb schaffen wir mit der Novellierung
des Heimgesetzes bessere rechtliche Rahmenbedingungen im Sinne pflegebedürftiger Menschen. Die Neufassung des Heimgesetzes verbessert die Rechtsstellung der
Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, entwickelt die
Mitwirkung in den Heimen weiter, stärkt die Heimaufsicht und institutionalisiert die Zusammenarbeit von
Heimaufsicht, Medizinischem Dienst der Krankenkassen,
Pflegekassen und Trägern der Sozialhilfe.
Ich möchte zu diesen vier Schwerpunkten ein paar
Worte sagen:
Zum Ersten geht es um die Verbesserung der Rechtsstellung der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner.
Wir sorgen mit der Umsetzung des Gesetzentwurfes für
mehr Transparenz und mehr Nachvollziehbarkeit in den
Heimverträgen. Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass
Heimbewohnerinnen und Heimbewohner sowie ihre Angehörigen bei Entgelterhöhungen nachvollziehen können,
für welche Leistungen wie viel bezahlt werden muss.
Endlich wird in diesem wichtigen Bereich das umgesetzt,
was bei jeder Handwerksrechnung selbstverständlich ist.
Wir sorgen auch dafür, dass das Entgelt für alle Heimbewohnerinnen und Heimbewohner künftig nach einheitlichen Grundsätzen bemessen wird.
({3})
Zweiter Schwerpunkt, Weiterentwicklung der Mitwirkung: Durch die Öffnung der Heimbeiräte für Dritte,
beispielsweise für Angehörige und sonstige Vertrauenspersonen der Bewohnerinnen und Bewohner, sorgen wir
für die Weiterentwicklung der Mitwirkung. Das ist notwendig, weil in vielen Fällen ein Heimbeirat aufgrund des
hohen Alters und der Pflegebedürftigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner bisher nicht gebildet werden
konnte. Diese Situation finden wir leider in vielen Heimen
vor.
Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Stetten?
Ja, bitte.
Bitte
schön.
Frau Ministerin, Sie haben eben erwähnt, dass auch Angehörige in Zukunft Heimbeiräte sein können. Teilen Sie
meine Sorge, dass Angehörige, die vielleicht jemanden
mit schlechtem Gewissen in einem Alters- oder Pflegeheim untergebracht haben, das Pflegepersonal nicht nur
mit besonderer Akribie beobachten, sondern vielleicht
auch schikanieren, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen?
Herr Abgeordneter,
wir haben all diese Bedenken im Rahmen der Anhörung
und der Ausschussberatung sehr ausgiebig diskutiert und
- das Gesetz ist im Ausschuss einstimmig bei Enthaltung
der PDS angenommen worden - weitestgehend ausgeräumt. Es gibt dafür also eine breite Mehrheit in diesem
Hause. Ich teile diese Bedenken grundsätzlich nicht. Es ist
wichtig, dass es handlungsfähige Heimbeiräte gibt, damit
die Rechte der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner
gestärkt werden.
({0})
Dieser Heimbeirat muss künftig auch an Vergütungsverhandlungen sowie an Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen beteiligt werden. Auch das ist ein wichtiger
Punkt.
Ich komme zum dritten Punkt: Stärkung der Heimaufsicht. Bei der Stärkung der Heimaufsicht geht es vor
allem auch darum, neben der Aufsichtsfunktion die wichtige Beratungsfunktion der Heimaufsicht zu stärken. Es
geht um den Grundsatz „Beratung vor Überwachung“.
Wir alle wissen, dass es bei diesem Punkt noch einiges zu
tun gibt. Aber wenn es um Prävention geht und wenn wir
verhindern wollen, dass Missstände in den Heimen überhaupt auftreten, dann ist es wichtig, die Beratungsfunktion zu stärken.
Wir wollen und müssen im Hinblick auf die schwarzen
Schafe, die es leider auch gibt, die Kontrollen in den Heimen verbessern. Zukünftig wird jedes Heim mindestens einmal im Jahr überprüft. Verantwortungsvoll pflegende
Heime - auch das haben wir bei der Anhörung festgestellt haben damit keine Probleme. Es ist nur konsequent, dass
künftig Überprüfungen jederzeit sowohl angemeldet als
auch unangemeldet erfolgen können, in begründeten Fällen
auch nachts, weil bestimmte Dinge nur zu dieser Zeit zu
kontrollieren sind.
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Kontrolle
und Bürokratie sagen. Es gab den Vorwurf, wir würden
mehr Bürokratie einführen. Der Entwurf enthält eine Verpflichtung der Träger, Aufzeichnungen über den sachgerechten Umgang mit Arzneimitteln und über die Anordnung freiheitsbeschränkender und freiheitsentziehender
Maßnahmen zu machen. Es handelt sich eben nicht um
eine unnötige bürokratische Mehrbelastung der Heimträger, sondern um eine Selbstverständlichkeit, die schon
nach geltendem Recht zu beachten ist. Im Falle der Arzneimittelverordnung geht es um die Gesundheit der
Heimbewohnerinnen und Heimbewohner. Es geht auch
um Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Rechtsposition. Das muss entsprechend dokumentiert werden.
({1})
Viertens. Mit der Novellierung des Heimgesetzes wird
schließlich die Zusammenarbeit von Heimaufsicht, Medizinischem Dienst der Krankenkassen, Pflegekassen und
Trägern der Sozialhilfe institutionalisiert. Durch die Bildung von Arbeitsgemeinschaften sollen im Sinne der
Qualitätssicherung die Prüftätigkeit abgestimmt und
Maßnahmen zur Beseitigung von Mängeln und Vermeidung von Fehlern besprochen werden. Es geht also auch
um den Abbau von Bürokratie, indem Doppelkontrollen
verhindert werden.
({2})
Dabei bleibt die Letztverantwortung der Heimaufsicht
unberührt.
Parallel zum Heimgesetz wird heute das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz beraten. Beide Gesetzentwürfe ergänzen sich in dem Ziel, die Qualität in der Pflege zu verbessern.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch ansprechen, warum ich mir einen solch breiten Konsens, wie
es ihn für das Heimgesetz gibt, auch für das Altenpflegegesetz gewünscht hätte: Die Sicherung von Pflegequalität
ist nicht denkbar ohne eine zeitgemäße Ausbildung der
Pflegekräfte. Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Betroffenen und Fachleuten, wie dringend notwendig eine
bundeseinheitliche Pflegeausbildung im Interesse der
pflegebedürftigen älteren Menschen ist.
({3})
Diese einheitliche Pflegeausbildung haben wir nach
zehnjähriger Diskussion - auch Teile der CDU/CSU und
F.D.P. haben dankenswerterweise zugestimmt - mehrheitlich beschlossen. Sie kennen aber die Lage: Durch den
Antrag eines einzelnen Landes - von keinem anderen
Bundesland ist diese Auffassung geteilt worden - kann
dieses Gesetz zum 1. August nicht in Kraft treten, obwohl
die meisten Länder darauf vorbereitet sind. Es ist in der
Hauptsache noch nicht entschieden. Die Entscheidung
wird noch kommen. Aber es geht wieder wertvolle Zeit
verloren.
({4})
Ich komme viel im Lande herum. Selbst in Bayern
herrscht im zuständigen Ministerium die Ansicht vor, dass
die bayerische Ausbildung verbessert werden könnte, also
die zweijährige Ausbildung vielleicht nicht das Nonplusultra ist. Wie ich mir habe sagen lassen, werden zurzeit in
Berlin Pflegekräfte für Bayern abgeworben. Ich glaube,
Sie haben der Sache keinen guten Dienst erwiesen; denn
die einheitliche Ausbildung der Pflegekräfte ist im Hinblick auf die Qualität der Pflege und die Aufwertung dieses Berufes, die wir dringend brauchen, enorm wichtig.
({5})
So viel zu dem Kapitel. Ich möchte Ihnen abschließend
dafür danken, dass Sie durch Ihre konstruktive Arbeit einen breiten politischen Konsens für die Novellierung des
Heimgesetzes ermöglicht haben. Wir haben diesbezüglich
- wie wir wissen - noch einiges zu tun. Hier sind die Länder, die Kostenträger und die Einrichtungsträger gefragt,
damit wir das Gesetz entsprechend umsetzen können und
gemeinsam dafür sorgen - ich sage es nochmals -, dass
pflegebedürftige Menschen in diesem Land in Würde leben können.
({6})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin Bergmann, die Freude am relativen Konsens - er
ist kein absoluter; das werde ich gleich deutlich machen teilen wir.
({0})
Ein gewisser Stolz auf ein Gesetz, das aus dem eigenen
Hause kommt und verabschiedet wird, ist auch in Ordnung. Dennoch ist das neue Heimgesetz kein großer Wurf,
Frau Bergmann.
({1})
Man kann sich auf den Standpunkt stellen, ein kleiner
Wurf sei besser als gar keiner. Aber es ist einige Kritik anzubringen. Trotz mancher positiver Aspekte - Sie haben
einige aufgezählt - bleibt das Gesetz stark im bürokratischen Ansatz stecken.
({2})
Eine wirklich durchgreifende Strategie, eine durchgreifende Konzeption zur Verbesserung der Pflege erwächst daraus mit Sicherheit nicht. Dazu bleiben zu viele
Felder unbestellt. Das gilt beispielsweise für das Feld einer besseren Betreuung der Demenzkranken, der Altersverwirrten. Damit verbunden - aber unabhängig
davon zu betrachten - ist die entscheidende Frage nach
ausreichendem und gutem Pflegepersonal. Auch diese
Frage haben Sie nicht beantwortet.
Eine effektivere Heimaufsicht ist mehr eine Herausforderung für die Länder. Warum pfuschen Sie denn den
Ländern ins Handwerk? Die Heimaufsicht qualitativ und
quantitativ so auszustatten, dass sie ihre Aufgabe optimal
wahrnehmen kann, ist Sache der Länder.
({3})
Der im Gesetz enthaltene Befehl, dass die Heimaufsicht
grundsätzlich mindestens einmal im Jahr jedes Heim aufsuchen soll, ist eher lächerlich denn hilfreich. Das ist Sache der Länder.
({4})
An den Kern des Problems gehen Sie nicht. Gute Pflegeleistungen, hinreichende Personalversorgung, leistungsfähige Heimaufsicht - das Gesetz kann auf diesen
Feldern zum Teil nichts oder nur wenig bewirken. Im Gegenteil: Je mehr pflegerische Kraft Sie in Administration
binden, desto mehr wird dies zulasten der Zuwendung für
die Pflegebedürftigen gehen, wenn hinsichtlich der Leistung und Versorgung ansonsten nichts geschieht. So einfach ist das.
({5})
Dennoch stärken Sie die Ordnungsfunktion des Staates. Die Transparenz der Heimverträge und des Leistungsgeschehens wird größer. Die Heimmitwirkung - ein
Kollege hat in dem Zusammenhang mit Recht einen kritischen Aspekt angesprochen - wird verstärkt. Das sind
im Prinzip alles positive Ansätze.
Wir brauchen den starken Staat, wenn es um relativ
schwache Menschen geht. Deshalb ist es schon in Ordnung, in dieser Richtung vorzugehen. Aber wie Sie es
handwerklich gemacht haben, lässt zu wünschen übrig. Ihnen müssten die Ergebnisse der Anhörungen doch auch ein
wenig zu denken geben. Ihre Kolleginnen und Kollegen
haben ja nachgedacht: Nicht weniger als 22 oder 23 Anträge hat die Regierung selbst eingebracht, nachdem so
viele Mängel in den Anhörungen offenkundig geworden
waren,
({6})
darunter vieles, was auch aus unserer Sicht eine vernünftige Reparatur darstellt.
Darüber hinaus haben wir viele - auch grundlegende Änderungswünsche gehabt. Wir haben uns auf drei Anliegen konzentriert: Vertragsende, Verjährungsfrist und
Differenzierung der Entgelte. Das sind zentrale Fragen im
Hinblick auf Rechtssicherheit und fairen Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten, den Heimbewohnerinnen und -bewohnern und den Heimträgern; diese
Punkte waren in Ihrem Gesetz falsch geregelt. Immerhin
war die Koalition - hier danke ich Ihnen, Herr Fuhrmann
und Frau Schewe-Gerigk - in der Lage, was in diesem
Hause auch nicht an jedem Tage geschieht, in der Sache
auf die Opposition zuzugehen, wie auch wir umgekehrt
auf Sie zugegangen sind. Herausgekommen ist, dass Sie
zwei dieser zentralen Anliegen, die Rechtssicherheit und
einen fairen Interessenausgleich zwischen Heimträgern
und den Heimbewohnerinnen und -bewohnern sowie den
Erben verstorbener Heimbewohnerinnen und -bewohner
schaffen sollen, erfüllt und die entsprechenden Anträge
im Ausschuss angenommen haben. Zum Schaden der Sache sind Sie leider nicht unserem Antrag gefolgt, was die
mögliche Differenzierung der Heimentgelte anbetrifft. In
einer Marktwirtschaft muss eine gewisse Preisdifferenzierung normal sein, wenn beispielsweise die Auslastung
sinkt oder Renovierungsmaßnahmen amortisiert werden.
Wir sind keine politischen Zechpreller. In diesem Gesetzentwurf hat sich vieles positiv verändert und Sie haben viele unserer Anliegen an- und aufgenommen. Deshalb werden wir trotz der Bedenken, die ich skizziert
habe - Herr Kollege Holetschek wird das noch etwas vertiefen -, diesem Heimgesetz unsere Zustimmung nicht
verweigern.
Herzlichen Dank.
({7})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegen Irmingard
Schewe-Gerigk das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz, das wir heute beschließen, könnte eigentlich auch aus dem Hause der Verbraucherschutzministerin Renate Künast sein. Die Affinität besteht darin, dass
es sich um ein Verbraucherschutzgesetz handelt: ein Gesetz, das die Bewohnerinnen und Bewohner von Altenheimen nicht länger als Objekte staatlicher Fürsorge sieht,
sondern ihnen einen Anspruch auf Qualität der von ihnen
bezahlten Leistung und mehr Rechte zur Durchsetzung
ihrer eigenen Interessen gibt.
({0})
Dass es in diesem Hause für diese Änderung einen
breiten Konsens gibt, ist ein Zeichen dafür, dass es im Interesse der alten Menschen gelingen kann, aufeinander
zu- und einzugehen. Dafür sei allen gedankt, die an dem
intensiven Abstimmungsprozess beteiligt waren.
Dieses Gesetz wird hoffentlich dazu führen, dass es
künftig zu weniger Missständen in Heimen kommen wird.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Seifert?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk,
Sie betonten gerade den bürgerrechtlichen Aspekt und
Gerald Weiß ({0})
führten aus, dass die Rechte der Heimbewohnerinnen und
-bewohner gestärkt würden; das begrüße ich natürlich
auch. Aber sehen Sie nicht genauso wie ich, dass den
Menschen im Heim, die auf Hilfe angewiesen sind, mehr
Personal viel mehr helfen würde als irgendwelche einklagbaren Rechte, zumal sie ja überhaupt keine Möglichkeit haben, zum Rechtsanwalt zu gehen?
({1})
Das Problem, vor dem wir stehen, ist doch, dass es in allen Einrichtungen zu wenig Personal gibt. Ihr Gesetz
bringt kein zusätzliches Personal in die Einrichtungen,
sondern höchstens noch von den Leuten weg.
Herr Seifert, dies haben wir natürlich bedacht. Sie wissen genau, dass es ein Modellprojekt namens „Plaisir“ gibt, in dessen Rahmen eine angemessene
Personalbemessung geprüft wird, sodass man genau erfährt, wie der Personalbestand in einem bestimmten Heim
mit einer bestimmten Anzahl von zu pflegenden Menschen und unterschiedlichen Pflegestufen ausgelegt werden muss. Danach wird entschieden, ob es nötig ist, in gewissen Heimen mit mehr Personal zu arbeiten. Den
Bericht über dieses Modellprojekt werden wir Ihnen in
Kürze vorlegen. Damit tragen wir dazu bei, festzustellen,
wie die Situation in den Heimen ist. Ich gebe Ihnen natürlich Recht, dass die Personalsituation in vielen Heimen
schwierig ist. Genau das werden wir aufgrund der Ergebnisse des Modellprojektes zu verändern suchen.
Wir alle verbinden mit diesem Gesetz die Zuversicht,
dass Pflegefehler und ein schlechtes Qualitätsmanagement nun endlich der Vergangenheit angehören werden.
Menschen, die abhängig von Pflege in Pflegeeinrichtungen leben, müssen sich darauf verlassen können, dass ihre
Menschenwürde gewahrt bleibt. Deshalb geht es in dem
neuen Heimgesetz auch nicht um mehr Bürokratisierung
- Herr Weiß von der CDU hat diesen Vorwurf heute wieder erhoben -, sondern es geht um dringend notwendige
Schutzvorschriften. Herr Weiß, Sie können doch einfach
einmal sagen, dass die Regierung hiermit ein gutes Gesetz
vorgelegt hat, dem Sie zustimmen. Machen Sie das doch
einfach! Sie suchen jetzt nach Gründen, weshalb es doch
nicht so gut ist.
({0})
Mit diesem neuen Gesetz wollen wir das Qualitätsmanagement der Heime durch die Verpflichtung zur detaillierten Buch- und Aktenführung sowie durch kürzere Prüfintervalle verbessern. Bei der Dokumentationspflicht
legen wir die Messlatte der Qualitätssicherung gerade so
an, dass es bei einem ohnehin schon ordentlich arbeitenden Heim zu keinerlei Mehraufwand kommt. Mehraufwand werden nur die Heime haben, die vorher schlecht
gearbeitet haben.
({1})
Vergleichbare Pflichten ergeben sich ohnehin bereits aus
dem Bundessozialhilfegesetz und aus dem SGB XI. Die
Leistungs- und Aufgabenbeschreibung für die Heime wie
auch für die Verträge führt zu deutlich mehr Transparenz.
Das war eines unserer Hauptanliegen bei der Novellierung.
Jetzt komme ich zu Ihrem Anliegen, Herr Seifert.
Sollte es durch die Veränderung für eine Vielzahl von Altenpflegerinnen und Altenpflegern zu einem krassen
Mehraufwand kommen, muss also festgestellt werden,
dass ein großer Mehrbedarf an Personal besteht, muss in
der Heimpersonalverordnung eine angemessenere Personalbemessung verankert werden.
({2})
Mit dem neuen Gesetz soll aber auch die Kontrolle der
Heime intensiviert werden. Sie soll mindestens einmal im
Jahr erfolgen, und zwar zu beliebiger Zeit und ohne Voranmeldung.
({3})
Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens haben wir
weitere wichtige Ergänzungen vorgenommen; Sie haben
von der Vielzahl der Änderungsanträge gesprochen. Wir
haben durch Modellversuche unter anderem den Weg für
echte Mitbestimmungsrechte geöffnet. Durch Modellversuche in geeigneten Bereichen wie beispielsweise im sozialen oder kulturellen Leben sollen die Chancen für die
Mitbestimmung zunächst erprobt werden. Auf diese
Weise ist zu klären, wie Konflikte zwischen Heimträgern
und Bewohnerinnen und Bewohnern, die natürlich vorkommen, gelöst werden können und welche rechtlichen
Rahmenbedingungen für eine echte Mitbestimmung
künftig zu schaffen sind.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Abgrenzung zwischen betreutem Wohnen und den Heimen. Die vorgenommene Klarstellung gibt dem Bereich des betreuten
Wohnens eine eindeutige Rechtsgrundlage und sichert damit deren Fortbestand. Neue Betreuungsformen werden
somit gefördert. Deren Ausbau wird außerdem durch die
neuen Erprobungsregelungen weiter in Gang gebracht.
Dies ist meines Erachtens von großer Bedeutung, denn die
Zukunft des altengerechten Wohnens wird nicht weiter in
Altenheimen liegen, sondern in alternativen Wohnformen.
({4})
Menschen, die dort leben, dürfen nicht schutzlos bleiben.
Darum brauchen wir so schnell wie möglich ein Ambulante-Dienste-Gesetz. Ich habe mich gefreut, heute in einer Tickermeldung zu lesen, dass die Ministerin gerade an
einem solchen Gesetz arbeitet. Ich finde es wunderbar,
dass wir das jetzt noch realisieren können.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem neuen
Heimgesetz werden die Rechtsstellung und der Schutz
der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner deutlich
verbessert. Das Gesetz beseitigt eklatante Mängel im geltenden Recht und füllt bestehende Regelungslücken aus.
Auf diese Reform haben viele sehr lange gewartet. Ich bin
froh, dass wir das heute auf den Weg bringen, und bitte um
Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Haupt von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. hat die Beratung über die
Novelle des Heimgesetzes von Anfang an konstruktiv begleitet. Wir sehen die Novellierung als notwendig und
überfällig an und unterstützen deren Zielsetzung. Allerdings gab es gut begründete Einzelkritik am ursprünglichen Entwurf.
Die F.D.P. hat die ihr wichtigsten Punkte in Änderungsanträgen formuliert. Ich freue mich, hier feststellen
zu können, dass die Regierung die Kritik - sowohl die aus
der Anhörung als auch jene, die aus den Reihen der F.D.P.Fraktion geäußert wurde - weitgehend aufgegriffen hat.
({0})
Es ist gut, dass auch in Zeiten zunehmender politischer
Polarisierung eine solche Sachzusammenarbeit noch
möglich ist.
({1})
Freiheit und Verantwortung kennen weder Ruhestand
noch Altersgrenzen. Deshalb begrüßt es die F.D.P., dass
Partizipation und Stärkung der Mitwirkungsrechte der
Heimbewohner zu den wichtigsten Zielen der Heimgesetznovelle gehören. Die Öffnung der Heimbeiräte für externe
Personen findet unsere Zustimmung. Dies ermöglicht auch
die Erschließung einer größeren Sachkompetenz für Heimbeiräte. Das Eintritts- bzw. Durchschnittsalter in Seniorenheimen liegt heute schließlich so hoch wie nie zuvor. Umso
wichtiger ist es, dass die Komponente „Heimbeiräte“ ihrer
wichtigen Rolle gerecht werden kann. Ich möchte hinzufügen: Im Zusammenhang mit den Heimbeiräten ist auch die
erforderliche Ausstattung mit finanziellen Mitteln anzumahnen, dazu Möglichkeiten der Schulung, der externen
Unterstützung, aber auch die immer wieder notwendige
Bestärkung und Motivation zur Mitgestaltung.
Die F.D.P. hatte vorgeschlagen, durch eine Experimentierklausel die Möglichkeit zu schaffen, in bestimmten
Teilbereichen Mitbestimmungsrechte in Modellversuchen zu erproben. Es ist erfreulich, dass sich die Bundesregierung diesem Vorschlag angeschlossen hat. Schade ist
dagegen, dass unsere Forderung, die Heimbewohnerfürsprecher - wie wir sie lieber nennen möchten - durch
Wahl demokratisch zu legitimieren, nicht den gleichen
Widerhall gefunden hat. Wir freuen uns, dass unserem
Antrag, das Vertragsverhältnis nach dem Tod des Bewohners noch einige Zeit weiterlaufen zu lassen, in der von
der CDU/CSU vorgeschlagenen Kompromissform gefolgt wurde. Auch unser Vorschlag, eine kommissarische
Heimleitung einzusetzen, wenn das Heim wegen Mängel
sonst geschlossen werden müsste, fand Zustimmung. Das
ist im Interesse der betroffenen Seniorinnen und Senioren
gut so.
({2})
Ein anderes zentrales Ziel der Gesetzesnovelle ist die
Transparenz, die bessere Durchschaubarkeit und Rechtswirksamkeit des vertraglichen Miteinanders von Bewohnern und Trägern. Wir begrüßen die Leistungs- und Aufgabenbeschreibung der Heime und die differenzierte
Aufstellung einzelner Leistungsbereiche und Entgeltbestandteile. Dass die Unterrichtung und Beratung der
Heimbewohner nicht mehr allein dem Heimbetreiber obliegt, ist auch eine Verbesserung der bisherigen Regelung.
Beide Neuregelungen können zu einer erhöhten Kundenorientierung beitragen und dienen dem Verbraucherschutz.
Nach wie vor haben wir aber leichte Bauchschmerzen
mit einigen zu unbestimmten und schwammigen Formulierungen im Gesetzestext. Sie könnten in der Praxis zu erheblichen Interpretationsschwierigkeiten führen. Auch
bei der vorgesehenen Aufzeichnungspflicht zur Qualitätssicherung fürchten wir einen erheblichen Mehrbedarf an
Arbeitszeit, der nicht auf Kosten der eigentlichen Pflegearbeit gehen darf. Dennoch darf ich für die F.D.P. feststellen: Das neue Heimgesetz ist im Großen und Ganzen
ein gutes Gesetz für die Seniorinnen und Senioren in
Deutschland. Deshalb findet es die Unterstützung der Liberalen.
Danke.
({3})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Balt von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Vor circa vier Wochen bekam ich einen Brief,
in dem eine 71-jährige Mutter die Zustände in einem Pflegeheim meines Wahlkreises beschreibt, in dem ihre 47-jährige querschnittsgelähmte Tochter gepflegt wird. Sie
schreibt: Pampers werden reduziert. Stattdessen müssen
Einlagen verwendet werden. Ihr wurde geraten, weniger zu
trinken
({0})
- zur Kosteneinsparung! Im Heim wird sie nur alle 14 Tage
gebadet.
({1})
Glauben Sie allen Ernstes, dass dieser unwürdige und
skandalöse Zustand dadurch beseitigt wird, dass man sich
bei der Heimaufsicht beschwert, die ja bekanntermaßen
aus dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen und
den Kostenträgern besteht? Hinzu kommt - wie diese
Frau schreibt - dass ihre Tochter im Moment große Sorge
habe, dass durch ihr Eingreifen Nachteile für sie entstehen
könnten.
Pflegekassen und Sozialhilfeträger können keinesfalls
die legitimen Vertreter der Heimbewohner sein;
({2})
denn als Kostenträger und Verhandlungspartner sind sie
mitverantwortlich für eine personelle Ausstattung, die der
Qualität der Pflege und der Betreuung unter Kostengesichtspunkten sehr enge Grenzen setzt. Dieser Interessenkonflikt wird mit der Änderung des Heimgesetzes nicht
aufgelöst.
({3})
Wir fordern daher die Einrichtung einer unabhängigen
und mit Befugnissen ausgestatteten Schiedsstelle.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie wollen die Qualität in
den Einrichtungen der Alten- und Behindertenpflege
kontinuierlich verbessern und den Rechtsschutz der
860 000 Bewohnerinnen und Bewohner stärken. Das wollen wir auch. So weit, so gut. Die Rahmenbedingungen
und die Anforderungen haben sich aber seit 1974 entschieden geändert. Das durchschnittliche Heimeintrittsalter liegt bei 80 Jahren, das Durchschnittsalter bei 83 Jahren. 530 000 Personen in Heimen sind pflegebedürftig.
Für Demenzkranke sieht das Gesetz sogar überhaupt
keine Regelungen vor. Wir unterstützen Ihre Schritte zur
Stärkung der Heimbeiräte und zur Verbesserung des
Rechtsschutzes der Heimbewohner. Wir unterstützen die
Forderung nach mehr Transparenz bei den Entgelten.
Aber die gravierenden Probleme werden nicht gelöst und
die Mängel nicht beseitigt.
Bewohnerschutz und Qualität entstehen nicht durch
Verschärfung der bestehenden Regelungen. Es sind sowohl im jetzigen Heimgesetz als auch im SGB XI umfassende und ausreichende Instrumentarien vorhanden. Wenn
Verfehlungen auftreten, liegt das oft am Fehlverhalten einiger Betreiber oder aber an der fehlenden Anwendung der
bestehenden Beratungs-, Prüf- und Kontrollpflichten. Hält
man sich nicht daran, greift auch eine Ausweitung der
gesetzlichen Bestimmungen nicht.
Das neue Gesetz wird darüber hinaus zu einem weiteren Aufblähen bürokratischen Aufwandes führen. Dadurch, dass die Heime immer mehr Unterlagen zu führen
und vorzuhalten haben, wird der Verwaltungsaufwand erhöht; das wird wegen der ohnehin knappen Ressourcen
einen Rückgang an Pflege zur Folge haben. Das will die
PDS nicht.
({5})
Unser Anliegen muss es sein, unbürokratische Hilfen
für die Betroffenen durchzusetzen, und nicht, eine aufgeblähte Kontrollbürokratie aufzubauen.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat
das Wort der Kollege Arne Fuhrmann von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gar keinen Hehl daraus machen, dass diese zweite und dritte Lesung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes für mich mit ein
bisschen Herzblut verbunden ist. Viele unter Ihnen, gerade die Berichterstatter der Oppositionsparteien, wissen
das. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen, Herr Weiß,
und bei Ihnen, Herr Haupt, dafür, wie wir gemeinsam mit
Frau Schewe-Gerigk an die parlamentarische Arbeit herangegangen sind.
In dem Zusammenhang möchte ich auch, weil ich gesagt habe, das sei mir ein Anliegen, sehr deutlich machen,
inwieweit wir Abgeordnete auf Menschen um uns herum
angewiesen sind, die etwas von der Materie verstehen.
Diese verrichten ihre Arbeit im Interesse eines großen Anteils, ja fast der gesamten Bevölkerung; denn wir werden
ja alle älter und keiner von uns kann heute mit Sicherheit
sagen, dass er nicht eines Tages auf Hilfe und Unterstützung in einer Alteneinrichtung angewiesen ist.
Wenn ich an der Stelle zwei Personen meinen besonderen Dank ganz öffentlich ausspreche, so soll das nicht
bedeuten, dass ich alle anderen vergessen habe. Ich bitte
die Ministerin, mir zu erlauben, an erster Stelle Herrn
Herweck zu benennen, der hinter der Regierungsbank
sitzt. Ohne ihn und seine Unterstützung in Fragen, denen
auch ich in der Anfangsphase der parlamentarischen Verhandlung zum Teil hilflos gegenüberstand, hätte ich manchen Schritt nicht gewagt und manches fachliche Wissen
kaum vermittelt bekommen.
({0})
Der Zweite ist leider nicht mehr für uns tätig, sondern
jetzt in Potsdam als persönlicher Referent der Staatssekretärin im Sozialbereich tätig. Er sitzt auf der Besuchertribüne. Ich freue mich sehr über seinen Besuch. Es
ist Herbert Fuchs, der bisherige Referent in unserer Arbeitsgruppe,
({1})
der auch in einer Phase, in der ich vorübergehend außer
Gefecht gesetzt war - ich lag aufgrund einer unschönen
Operation im Krankenhaus -, die Stellung gehalten und
den Kontakt innerhalb des Kreises der Referenten in einer
Art und Weise aufrechterhalten hat, die weit über das
normale Maß hinausging.
Ich habe erstmals in meiner parlamentarischen Geschichte - die ist mittlerweile elf Jahre alt - festgestellt,
dass wirklicher Parlamentarismus und wirkliches demokratisches Miteinander zu einem Ziel führen können, das
wir alle gewollt haben und für das wir uns alle verantwortlich fühlen. Ich stelle mit großer Befriedigung fest,
dass es uns trotz Ihrer Kritik, Herr Weiß - ich vermute,
dass auch Herr Holetschek den einen oder anderen Kritikpunkt anführen wird -,
({2})
gelungen ist, diesen wichtigen Gesetzentwurf, der weit
über den Rahmen der beteiligten Parlamente hinaus Wirkung erzielen wird, nämlich in den Verbänden, in den
Ländern und bei den betroffenen Heimbewohnerinnen
und Bewohnern und deren Angehörigen, Freunden und
Verwandten, vorzulegen. Ich meine, dass wir nach der Abstimmung erstmals seit längerer Zeit, in der wir uns häufig um Strohhalme gestritten haben, mit Befriedigung
feststellen können: Dies ist ein gutes Gesetz. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
der Kollege Klaus Holetschek von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie
mich einen Satz zu Ihnen, Frau Ministerin, sagen: Wenn
ein Bundesland verfassungsrechtliche Bedenken gegen
einen Gesetzentwurf hat, dann sollten Sie das nicht in der
Weise kommentieren, wie Sie es gemacht haben, sondern
einfach akzeptieren, dass das überprüft wird. Wir leben in
einem Rechtsstaat und in einem Rechtsstaat ist das durchaus legitim.
({0})
Herr Fuhrmann, ich hoffe, dass ich Ihren Erwartungen
gerecht werde, die Sie an mich gestellt haben. Wie der
Kollege Weiß schon ausgeführt hat, ist dieser Gesetzentwurf tatsächlich aber nicht der große Wurf. Es ist vielleicht ein Schritt in die richtige Richtung. Positiv ist, dass
Sie dieses Mal die Ergebnisse der Anhörung, die wir
durchgeführt haben, aufgegriffen haben. Sie haben sich
durchaus die Expertenmeinungen zu Eigen gemacht. Das
erkennt man zum Beispiel an den 23 Punkten des Änderungsantrages. In der gleichen Weise hätten Sie auch bei
vielen anderen Gesetzentwürfen vorher vorgehen sollen;
dann hätten wir jetzt wahrscheinlich bessere Gesetze.
Aber immerhin: Dieses Mal haben Sie einiges übernommen. Mein Dank gilt daher den vielen Sachverständigen
und Experten, die es möglich gemacht haben, dass der
Konstruktionsfehler des Gesetzes nicht ganz so groß ist,
wie es am Anfang ausgesehen hat.
Ein Verbraucherschutzgesetz ist das, was hier vorliegt,
sicherlich nicht mehr.
({1})
Das Gesetz wird aber einzelne Verbesserungen in gewissen Bereichen bringen.
Unsere zwei zentralen Änderungsanträge, die Verjährung von Ansprüchen nach vier Jahren - das ist rechtssystematisch wichtig und richtig - sowie die weitere Gültigkeit des Vertrages zwei Wochen über den Tod des
Heimbewohners hinaus, sind eingeflossen. Diese haben
Sie mit Ihrer Mehrheit angenommen. So konnten wir zwei
zentrale Anliegen, die wir gehabt haben, durchsetzen.
({2})
Die personelle Ausstattung der Heimaufsichtsbehörden wird sich drastisch ändern, vor allem durch die
bundeseinheitliche Regelung in § 15 Abs. 4, die Sie hier
eingeführt haben. Ich hoffe, dass gerade die Länder, die
von Rot oder Rot-Grün regiert werden, auf diese neuen
Aufgaben vorbereitet sind. Ich bin hier sehr skeptisch.
Kontrolle ist wichtig und richtig. Um jedoch die Qualität
der Pflege zu erhalten und zu verbessern, müssen wir
nicht nur die Kontrolle, sondern auch die Verbesserung
der Pflege im Auge behalten. Auch hinsichtlich der unabhängigen Sachverständigen, der so genannten Zertifizierer, stellt sich die Frage, wer letztendlich die Zertifizierer
zertifiziert.
({3})
Die Verzahnung von Heimgesetz und SGB XI ist
rechtssystematisch falsch. Der Grundsatz der strikten
Trennung zwischen dem ordnungsrechtlichen Heimgesetz
und dem leistungsrechtlichen Pflegeversicherungsgesetz
wurde hier durchbrochen, was nicht richtig sein kann.
Leider haben Sie unseren dritten Änderungsantrag,
meine Damen und Herren, die Differenzierung der Entgelte - der Kollege Weiß hat es vorhin angesprochen -,
nicht aufgegriffen. Wenn Sie hier nicht irgendwelchen sozialistischen Träumen anhängen würden, sondern sich
auch einmal auf marktwirtschaftliche Dinge verlassen
hätten, hätten wir echte qualitative Verbesserungen in den
Heimen erreichen können.
({4})
Letztendlich muss, wer Pflege leisten will, auch Geld
in die Hand nehmen. Die Argumentationskette für eine
menschenwürdige Pflege muss lauten: mehr Zeit und
mehr Zuwendung mit mehr Personal und dafür mehr
Geld. Das muss die Maxime sein, an der wir unsere Handlungen orientieren.
({5})
Frau Ministerin, weil Sie vorhin auf Bayern abgehoben
haben: Ich finde es gut, dass die bayerische Sozialministerin Stewens und der Freistaat Bayern 75 Millionen DM
für die Schaffung und Modernisierung von Altenpflegeplätzen in den Haushalt einstellen und dieses Geld dann
zur Verfügung steht. Das sind Beispiele, an denen wir uns
orientieren können.
({6})
Wir werden diesem Gesetz mit Bauchschmerzen zustimmen, Herr Fuhrmann,
({7})
weil wir glauben, dass wir kleine Verbesserungen erreicht
haben, weil wir eine konstruktive Opposition sind,
({8})
wie es die Bevölkerung von uns erwartet, und weil wir
letztlich auch zum Wohle der Heimbewohnerinnen und
Heimbewohner entscheiden wollen. Aber ich sage Ihnen
jetzt auch: Die Praxis wird uns lehren, dass wir diese Novelle in vielen Ansätzen werden nachbessern müssen,
weil wir in der Praxis noch viele Dinge feststellen werden,
die uns zu Korrekturen veranlassen werden. Lassen Sie
uns das dann auch gemeinsam angehen! Lassen Sie uns
keine Scheuklappen haben, sondern dann, wenn es notwendig ist, auch weiter an dem Gesetz arbeiten.
({9})
Ich
schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be-
kannt, dass eine persönliche Erklärung gemäß § 31 der
Geschäftsordnung des Kollegen Dr. von Stetten vorliegt,
die wir mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll nehmen.1)
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes, Drucksachen
14/5399 und 14/6366. Der Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. mit Ausnahme der Gegen-
stimme des Herrn von Stetten bei Enthaltung der PDS-
Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 b: Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel
„Für ein aktives und mitbestimmtes Leben im Alter“,
Drucksachen 14/5565 und 14/6366. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? -Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von F.D.P. und PDS bei Enthaltung der CDU/CSU ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie Zu-
satzpunkt 5 auf:
8 a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Qualitätssicherung und zur Stärkung des
Verbraucherschutzes in der Pflege ({0})
- Drucksache 14/5395 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Leistungen in der
Pflege ({2})
- Drucksache 14/5547 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4})
- Drucksache 14/6308 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulf Fink, Eva-
Maria Kors, Aribert Wolf, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der sozialen Pflegeversicherung
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weiterentwicklung der sozialen Pflegever-
sicherung
- Drucksachen 14/3506, 14/4391, 14/6308 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht über die Entwicklung der
Pflegeversicherung
- Drucksache 14/5590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({6})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Pflege reformieren - Lebensqualität in Gegenwart und Zukunft sichern
- Drucksache 14/6327 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
1) Anlage 3
Zum Entwurf des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes
liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das
Wort die Kollegin Margrit Spielmann von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute zu verabschiedenden Qualitätssicherungsgesetz werden wichtige Weichenstellungen für die Zukunftsfähigkeit der
pflegerischen Versorgung in Deutschland vorgenommen.
Die demographische Entwicklung in unserem Lande
weist, wie wir alle wissen, einen deutlichen Anstieg des
Anteils der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung
aus. Unsere Lebenserwartung steigt kontinuierlich. Es ist
also keine Frage, dass wir uns mit den Folgen dieser Entwicklung beschäftigen müssen, insbesondere natürlich
mit den Auswirkungen dieser Entwicklung auf unsere sozialen Sicherungssysteme. Wir müssen uns Gedanken
über adäquate Angebote, über Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen für ältere Menschen machen.
Ein in die Zukunft weisender Schritt war ja die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung vor sechs
Jahren. Sie ist als Grundsicherung konstruiert. Die Leistungen aus der Versicherung decken aber nicht alle erforderlichen Hilfen ab. Sie geben eine wichtige Hilfestellung, um die schwierige Situation von Pflegebedürftigen
zu unterstützen.
({0})
Prognosen gehen davon aus, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahre 2010 um bis zu 350 000 ansteigt.
Diese Schätzungen verlangen von uns, dass wir mit den
Ressourcen der gesetzlichen Pflegeversicherung verantwortungsvoll umgehen.
({1})
Bei allem, was in diesem Bereich in Zukunft noch zu
erörtern und zu entscheiden ist, steht hier und heute aber
eines im Vordergrund: die Sicherung der Pflegequalität.
Es geht bei der Verabschiedung des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes um jeden einzelnen Menschen, dem
Pflege zuteil wird, sei es in einer Pflegeeinrichtung oder
aber auch in ambulanter Betreuung. Die Sicherung einer
guten, einer angemessenen Pflege duldet, so denke ich,
keinen Aufschub.
({2})
Pflegebedürftige Menschen sind in ganz besonderer
Weise darauf angewiesen, dass der Staat Regelungen zu
ihrem Wohl und zu ihrem Schutz trifft, da sie ihre eigenen
Interessen, wie wir wissen, oftmals nicht mehr artikulieren können. Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung sind zunächst einmal, wie wir wissen, originäre Aufgaben der Heime. Deshalb haben wir in diesem Gesetz
auch Regelungen zum internen Qualitätsmanagement
vorgesehen. Aber aus der besonderen Schutzbedürftigkeit
der pflegebedürftigen Menschen ergibt sich auch, dass
wir weiterhin externe Qualitätssicherung durch die
Landesverbände der Pflegekassen und staatliche Kontrollen durch die Heimaufsichtsbehörden durchführen
müssen. Die externe Qualitätssicherung und die Kontrolle
sind deshalb - das sage ich ganz ausdrücklich - kein Misstrauensbeweis gegenüber den Einrichtungen, sondern
eine Pflicht des Staates gegenüber den Schwachen in unserer Gesellschaft.
({3})
Von daher halte ich es für selbstverständlich, dass diese
Kontrollen unangemeldet durchgeführt werden. Ich
denke, diejenigen, die eine gute Pflege gewährleisten,
brauchen sich keine Sorgen zu machen.
({4})
Sie können diesen Kontrollen auch sehr gelassen entgegensehen.
Natürlich - auch das wissen wir - ist es mit Kontrollen
alleine nicht getan. Deshalb war es uns auch ein ganz
wichtiges Anliegen, eine angemessene und - Herr
Dr. Seifert - eine qualifizierte Personalausstattung und
einen wirksamen Vertrauensschutz zu gewährleisten.
Wir wollen mit diesem Gesetz Pflegebedürftige und ihre
Angehörigen vor allem durch verstärkte Beratung und Information in die Lage versetzen, ihre Rechte wirksam
wahrzunehmen. Mit den Regelungen im Pflege-Qualitätssicherungsgesetz zur Stärkung der Verbraucherrechte war ja nicht einfach brachliegendes Neuland zu
betreten, sondern wir sind auf bewährten Wegen fortgeschritten.
Der Verbraucherschutz wird im Wesentlichen verbessert - ich möchte einige Punkte nennen - durch die
Beteiligung der Pflegekassen an kommunalen Beratungsangeboten, durch die stärkere Verpflichtung zur Durchführung von Pflegeschulen im häuslichen Bereich
- übrigens ein sehr wichtiger Aspekt, der auch immer wieder gefordert wird -, durch die Pflicht zum Abschluss und
zur Aushändigung eines schriftlichen Pflegevertrages bei
häuslicher Pflege, durch die probeweise Inanspruchnahme des Pflegedienstes, durch Rückzahlungspflichten
bei Schlechtleistungen und durch die verbesserte Beteiligung der Pflegebedürftigen, der Behinderten und der Berufsverbände an bundesweiten Qualitätsvereinbarungen,
an landesweiten Rahmenempfehlungen sowie an der
geplanten Verordnung über Beratungs- und Prüfvorschriften.
In den Beratungen zu diesem Gesetz gab es den
Wunsch nach noch weiter gehenden Regelungen. Ich
denke, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
richtige und wichtige Weichenstellungen vorgenommen
haben.
({5})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich appelliere an alle, sich unseren Argumenten nicht zu
verschließen und dafür Sorge zu tragen, dass wir in der Tat
eine bessere Qualität in den stationären und auch in den
ambulanten Einrichtungen bekommen.
Allen, die uns geholfen haben - ich denke in besonderer Weise an die Wohlfahrtsverbände -, dieses Gesetz auf
den Weg zu bringen, möchte ich herzlich danken.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Eva-Maria
Kors von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Leider ist es beim Qualitätssicherungsgesetz nicht so wie beim Heimgesetz, dass ein
Konsens möglich gewesen wäre. Denn es ist von der Substanz des Gesetzes her nicht möglich. Zwar hat die erste
Lesung natürlich ergeben, dass wir alle das gleiche Ziel
haben: Verbesserung der Qualität der Pflege. Es hat sich
aber auch bis zum heutigen Tag bestätigt, dass unsere Auffassungen über das Wie, über den Weg hin zu mehr Qualität in der Pflege meilenweit auseinander liegen.
Während die Regierung und die sie tragenden Fraktionen fast ausschließlich auf mehr Kontrolle und mehr
Bürokratie setzen, wollen wir von der Union unter anderem mehr qualifiziertes Personal und damit mehr fachgerechte Pflege und Betreuung für die pflegebedürftigen
Menschen.
({0})
Das Gesetz der Bundesregierung verlangt von den Heimen ein unvergleichlich hohes Maß an zeit- und kostenintensiven Maßnahmen, über deren Sinn und Nutzen,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
nicht nur wir mehr als streiten können, sondern auch die
Verbände.
({1})
Von Anreizen für eine wirkliche Qualitätssicherung, geschweige denn Qualitätssteigerung ist in ihrem Gesetz
keine Spur. Der Entwurf der Bundesregierung enthält
keinerlei Leistungsverbesserungen, die die Qualität der
Pflege nachhaltig stärken könnten. Kurz gesagt: Ihr Gesetzentwurf ist unzureichend.
Unser Gesetzentwurf hingegen beinhaltet konkrete
Vorschläge für wirkliche Leistungsverbesserungen in
der Pflege:
({2})
zum einen durch die Einbeziehung des Betreuungsbedarfs
altersverwirrter Menschen - dies fehlt bei Ihnen völlig -,
zum anderen durch die Schaffung einer besseren Personalausstattung in den Heimen im Wege der Personalschlüsselerhöhung.
Um Ihrem Argument wegen der Kosten gleich zuvorzukommen: Wir machen auch seriöse Vorschläge zur Finanzierung dieser Verbesserungen.
({3})
Die erforderlichen Mittel können unserem Gesetzentwurf
zufolge einerseits durch die sachgerechte Verlagerung der
medizinischen Behandlungspflege in die gesetzliche
Krankenversicherung und andererseits - wenn Sie Mut
beweisen - durch die Rücknahme der Absenkung der
Beiträge für die Bezieher von Arbeitslosengeld aufgebracht werden.
({4})
Im Übrigen wird die medizinische Behandlungspflege
im ambulanten Sektor ohnehin bereits von der Krankenversicherung bezahlt. Warum also das nicht auch im stationären Bereich? Lassen Sie uns das doch nachholen!
Auf diesem Weg wären immerhin 2 Milliarden DM mehr
zugunsten der Pflegebedürftigen vorhanden - 2 Milliarden DM, die in die Pflegeversicherung gehören und den
Pflegebedürftigen zugute kommen müssen.
Wir wollen mit unseren Vorschlägen vor allem dafür
Sorge tragen, dass den wirklichen Bedürfnissen der Menschen, sowohl der Pflegebedürftigen als auch der Pflegenden, Rechnung getragen wird und die Pflegesituation
in den Einrichtungen entschärft und verbessert wird.
Durch bürokratische Kontrollen wird ein hohes Maß an
Qualität, das wir zweifelsohne brauchen, weder erreicht
noch gesichert. Qualität und Qualitätssicherung erfordern
unserer Auffassung nach mehr gut ausgebildetes Personal, als heute zur Verfügung steht. Dafür schaffen wir mit
unserem Gesetzentwurf die Voraussetzungen.
Die unzweifelhaft vorhandenen Probleme, deren Lösung wir im Bereich der Pflege in Deutschland dringend
angehen müssen, die wir als verantwortliche Politikerinnen und Politiker zu lösen haben, sind keine abstrakten, sondern ganz reale Probleme, die uns alle, Familienangehörige und Freunde eingeschlossen, früher oder
später treffen können oder schon getroffen haben,
manchmal völlig unvorbereitet. Bei dem Versuch, diese
Probleme zu lösen, kann ich mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass wir hin und wieder vergessen, dass es sich um Menschen handelt, die von den
Auswirkungen unseres Paragraphenwirrwarrs be- und
getroffen sind.
({5})
Es sind Menschen, die unsere besondere Aufmerksamkeit, aber auch unsere besondere Anstrengung brauchen.
({6})
- Dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. - Dies
gilt insbesondere für die Demenzkranken. Deswegen enthält unser Gesetzentwurf auch eine Regelung für diese
Menschen. Zudem kommen unsere Vorschläge auf diesem Gebiet auch den professionellen Pflegekräften und
den Angehörigen zugute. Wir als Politiker haben die
Pflicht, dafür zu sorgen, dass der Verwaltungsaufwand in
den Einrichtungen aufgrund neuer gesetzlicher Regelungen nicht noch größer wird und dadurch noch weniger
Zeit für die eigentliche Pflege am Menschen übrig bleibt.
({7})
Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass beruflich
Pflegende ebenso wie pflegende Angehörige nicht immer
stärkeren physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt werden. Ebenso haben wir die Pflicht, zu verhindern, dass sich immer mehr Beschäftigte in den Pflegeheimen mit dem Gedanken tragen, ihren erlernten Beruf
aufzugeben oder - noch schlimmer - sich nicht mehr in
der Lage sehen, so zu pflegen, wie es den fachlichen Anforderungen und ihrer Ausbildung entspricht und wie es
vor allem die pflegebedürftigen Menschen brauchen und
verdienen.
({8})
Vor diesem Hintergrund muss die Frage erlaubt sein,
warum Sie glauben, mit einem Mehr an Verwaltungsaufwand und zusätzlichen Kontrollen Qualität in der
Pflege schaffen und sogar sichern zu können. Diesen
falschen Weg werfen nicht nur wir Ihnen vor. Das sagen
auch die betroffenen Verbände, liebe Frau Spielmann,
zum Beispiel der Paritätische Wohlfahrtsverband. Ich zitiere:
Durch die neuen Gesetze werden in erster Linie
Dokumentations- und Zertifizierungspflichten sowie
Hygienebestimmungen und -kontrollen übermäßig
ausgeweitet, strukturelle Mängel aber nicht beseitigt.
Wer die Qualität der Pflege in den Einrichtungen ernsthaft verbessern wolle - so der Hauptgeschäftsführer dieses Verbandes -, müsse mit einer durchgreifenden Reform
der Pflegeversicherung den bereits jetzt überzogenen Verwaltungsaufwand in den Einrichtungen eindämmen. Zudem müsse endlich der Betreuungsaufwand demenzkranker Menschen in der Pflegeversicherung angemessene
Berücksichtigung finden. Diese berechtigten Forderungen erfüllt unser Gesetzentwurf.
({9})
Ihr Gesetzentwurf hingegen ist von einem generellen
Misstrauen gegenüber Pflegeeinrichtungen und damit
auch gegenüber den dort Beschäftigten durchzogen. Mit
noch mehr Bürokratie und noch mehr Kontrollen schaffen
Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nur noch
mehr Frust und noch mehr Stress, der seinen Ausdruck in
mangelhafter Pflege finden und im schlimmsten Fall zu
den allseits beklagten Missständen in einzelnen Heimen
führen kann - aber nicht muss.
Wie wollen Sie dem Pflegepersonal oder jungen Menschen, die in der Altenpflege tätig werden wollen, erklären, dass sie in Zukunft immer weniger Zeit für die persönliche Betreuung der Pflegebedürftigen, also für ihre
eigentliche Aufgabe, haben und einen noch größeren Teil
als bisher für Verwaltungsaufgaben aufzuwenden haben?
Wir von der Union wollen, dass insbesondere junge Menschen den Pflegeberuf wählen, weil sie sich mit Freude
den Anforderungen stellen und weil sie sich der Aufgabe
annehmen wollen, pflegebedürftige ältere Menschen in
einem Abschnitt ihres Lebens zu begleiten, der ein hohes
Maß an pflegerischer und sozialer Kompetenz erfordert,
aber eben auch Raum für menschliche Zuwendung lässt.
({10})
Unser Entwurf bringt dementsprechend - ich darf das
kurz zusammenfassen - konkrete Verbesserungen für die
Demenzkranken, die bisher durch alle Raster gefallen
sind, er bringt Verbesserungen für das Personal und er ist
seriös finanziert. Damit setzen wir die richtigen Rahmenbedingungen für mehr Pflegequalität und deren Sicherung
und damit, meine Damen und Herren, auch für mehr
Menschlichkeit für die Pflegebedürftigen. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
({11})
Für das
Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich könnte mich eigentlich meiner Fraktionskollegin
Schewe-Gerigk anschließen, die vorhin hier gesagt hat,
dass das, was wir beim Heimgesetz machen, eigentlich
ein echtes Verbraucherschutzprojekt ist. Ich glaube, das
trifft auch für das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz zu.
Wenn wir das Gesetz heute verabschieden, werden wir
einen großen Schritt auf dem Weg weiterkommen, den
wir mit der Pflegeversicherung beschritten haben. Die
Pflegeversicherung hat ja eine letzte Lücke in den sozialen Sicherungssystemen gegen Lebensrisiken geschlossen. Von der Pflegeversicherung leiten heute immerhin
rund 60 Millionen Menschen Ansprüche ab.
Natürlich wurde die Pflegeversicherung ganz bewusst
als Teilabsicherung konzipiert. Das dürfen wir in der Debatte, die wir heute auch um die Finanzierung, auch um
die Frage, welche Möglichkeiten es über die Pflegeversicherung hinaus gibt, nicht vergessen. Die Pflegeversicherung ist als Teilabsicherung konzipiert worden, und
trotzdem gibt es nach wie vor unakzeptable Lücken in der
Versorgung. Auch hier haben wir es mit einer Hinterlassenschaft zu tun, die auf jahrelange Untätigkeit zurückgeht. Das wiederum betrifft vor allem und in erster Linie
die Qualität der Versorgung in der ambulanten und stationären Pflege.
Die Berichte über Mängel häufen sich. Wenn man Besuche in Pflegeheimen macht oder Berichte in den Medien verfolgt, dann wird man oft von entwürdigenden Zuständen in Pflegeheimen erfahren. Dem steht natürlich
eine große Zahl von Pflegenden gegenüber, die Pflegeleistungen in hoher Qualität erbringen. Aber ein Qualitätssicherungsgesetz ist dringend notwendig, weil es diese Missstände gibt, weil es schwarze Schafe in der Pflege gibt, die
erkannt werden müssen, und weil insbesondere Konsequenzen daraus gezogen werden müssen.
({0})
Worum geht es? Es geht um Qualität, es geht aber auch
um Eigenverantwortung und mehr Patientenrechte. Die
Anhörung hat aus meiner Sicht gezeigt, dass sich alle BeEva-Maria Kors
teiligten einhellig für bessere Instrumente der externen
und internen Qualitätssteuerung aussprechen. Es ist gerade ein positives Merkmal dieses Gesetzes, dass es beide
Elemente, die Qualitätskontrolle von außen und die Qualitätskontrolle innerhalb der Heime, aufweist. Ich glaube,
nur beides zusammen wird vernünftig funktionieren.
Nun sprechen Sie, Frau Kors, von Misstrauen, von
Kontrolle und von mehr Bürokratie. Nein, interne Qualitätssteuerung bedeutet nicht in erster Linie mehr Bürokratie. Sie bedeutet vielmehr in jedem Unternehmen und
insbesondere dort, wo es um Menschen, wo es - das ist
hier zu Recht gesagt worden - um die Schwächsten geht,
auch Eigenkontrolle dessen, was passiert.
({1})
Dazu gehört selbstverständlich, dass Kontrolle auch
von außen stattfinden kann. Eine solche Kontrolle von
außen müssen diejenigen, die eine gute Pflege leisten,
natürlich nicht fürchten. Wir werden genau das erkennen,
was wir brauchen, nämlich die Stellen, an denen es
tatsächlich Lücken und auch Verfehlungen gibt.
({2})
Sie haben, Frau Kors, zwei Sachen miteinander vermischt - das ist auch in Ihrem Entwurf so -, nämlich auf
der einen Seite Leistungsverbesserungen, die auch wir
uns sicherlich an der einen oder anderen Stelle, gerade bei
den Demenzkranken, wünschen, und Qualität auf der anderen Seite. Beides ist aber nicht dasselbe. Sie haben von
seriöser Finanzierung gesprochen. Dazu muss ich sagen,
dass das, was Sie unter seriöser Finanzierung verstehen,
offensichtlich darauf beruht, Lücken in anderen Versorgungssystemen herzustellen, beispielsweise in der GKV.
Vor dem Hintergrund der Gesamtsituation, in der wir uns
gegenwärtig befinden, ist das nicht sehr verantwortungsbewusst und es macht den Menschen vor, dass es genügt,
ihnen etwas zu versprechen, ohne es auch einzuhalten. Ich
halte das nicht für verantwortungsvoll.
Was heißt Qualität? Qualität heißt: Es geht um angemessene Versorgung, die vor allen Dingen Würde und
Selbstbestimmung gewährleistet.
({3})
Eine solche Vorstellung von Qualität haben wir sowohl
im Hinblick auf das Heimgesetz als auch im Hinblick auf
das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz ganz oben auf die
Agenda gesetzt. Das Pflegepersonal ist keine Verschiebemasse im Falle von chronischer Unterbesetzung und Fehlmanagement. Fehlende Qualitätsvereinbarungen dürfen
nicht mehr auf dem Rücken der zu Pflegenden und des
Pflegepersonals ausgetragen werden. Auch aus diesem
Grunde ist es notwendig, über objektive Kriterien der
Qualitätskontrolle zu verfügen. Solche Kriterien streben
wir mit diesem Gesetz an.
Ich kann Sie im Interesse der Pflegenden und der zu
Pflegenden nur herzlich bitten, unserem Entwurf zuzustimmen. Er ist ein großer und wichtiger Schritt. Er wird
noch nicht alles erfüllen, was auch wir uns wünschen; ich
habe über die Leistungsverbesserungen gesprochen. Auch
uns ist klar - wir werden in den nächsten Wochen entsprechend handeln -: Gerade was die Demenzkranken angeht, bedarf es weiterer Verbesserungen.
({4})
Verschließen Sie sich bitte trotzdem nicht diesem Schritt
der Qualitätssicherung.
Vielen Dank.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Detlef Parr von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Heute ist der Tag des Schlafes, aber den dürfen wir uns als Gesetzgeber gegenüber Missständen in der
Pflege und Leistungslücken, wie bei der Betreuung Demenzkranker, nun wirklich nicht leisten. Die F.D.P.
möchte jedoch nicht zulassen, dass den Heimen auf dem
Wege zu Verbesserungen immer mehr formaler Aufwand
aufgebürdet wird und dadurch Mittel für die Pflegebedürftigen der Bürokratie zum Opfer fallen.
Frau Göring-Eckardt, der Arbeitgeber- und Berufsverband Privater Pflege hat als Folge des vorliegenden Gesetzentwurfs der Bundesregierung - sie hört gar nicht zu allein Prüfkosten in Höhe von 120 Millionen DM errechnet.
({0})
Sie sollen über die Pflegepreise refinanziert werden und
mindern den Anspruch der Versicherten auf Pflegeleistungen damit erheblich.
({1})
Dies geschieht auch noch vor dem Hintergrund, dass die
Bundesregierung die Einnahmebasis durch Absenkung
der Bemessungsgrundlage beim Bezug von Arbeitslosengeld deutlich geschmälert hat. Das ist sozialpolitisch nicht
akzeptabel.
({2})
Wie Pflegequalität kostengünstiger gesteigert werden
kann, hat die Stadt München bewiesen. Der Medizinische
Dienst der Krankenkassen führt nach Überprüfungen in
Bayern die bessere Situation der Stadt gegenüber dem
ländlichen Raum auf die schlichte Tatsache zurück, dass
die bayerische Hauptstadt eine Beschwerdestelle eingerichtet hat und dass in der Folge viel für die Heime getan
werden konnte.
({3})
Ich wiederhole deshalb unsere Forderung - hören Sie zu,
Frau Kollegin -: Es müssen mehr unabhängige Anlaufstellen nach dem Muster „Pflege in Not - Krisentelefone
und Beschwerdestellen“ - davon gibt es im Bundesgebiet
bereits 14 - eingerichtet werden. Das sollte man vielleicht
sogar verpflichtend in Verträge einarbeiten. Wir brauchen
im System mehr Transparenz. Je mehr bekannt wird,
umso eher kann gezielt gehandelt werden.
({4})
Ein gezieltes Handeln zur Qualitätsverbesserung ist
aus unserer Sicht zum Beispiel bei der Arzneimittelversorgung von Pflegeheimen vonnöten. Die definierten
Qualitätsstandards müssen in die bald gesetzlich vorgesehenen Versorgungsverträge zwischen Heimen und Apotheken einbezogen werden. Wir sollten in Modellversuchen, getrennt nach Stadt und Land, ausgewählte
Apotheken bestimmte Heime versorgen lassen.
({5})
- Ich weiß nicht, ob Sie da weiter sind, Frau Kollegin.
Mit der Garantie einer Lieferung und Dokumentation
von Medikamenten unter pharmazeutischen Gesichtspunkten, was zum Beispiel die Dosierung und Verordnungsintervalle angeht, könnte eine Schulung des Pflegepersonals
und eine Überwachung der Arzneimittelversorgung bzw.
der Lagerhaltung verbunden werden. Damit können der
sachgerechte Umgang mit Arzneimitteln und die ordnungsgemäße Verabreichung sichergestellt werden. Wir
vermeiden Fehlgebrauch und steigern die Arzneimittelsicherheit. Das wäre ein Schritt hin zu einer notwendigen
Umstrukturierung in den Pflegeheimen mit dem Ziel, auf
die Bedürfnisse der Patienten besser einzugehen.
Der Gerontologe Rolf Hirsch fordert zu Recht überschaubare Heime mit einem professionellen Management, das einen kooperativen Führungsstil pflegt und auf
die Fachkompetenz des Personals setzt.
({6})
Dazu tragen aus unserer Sicht die vorliegenden Anträge
und Gesetzentwürfe nicht hinreichend bei.
Wir lehnen einerseits eine Überreglementierung der
Heime und andererseits finanzielle Verschiebebahnhöfe
zugunsten der Pflege- und zuungunsten der Krankenversicherung zur Gegenfinanzierung besserer Leistungen ab.
({7})
Die wachsenden Probleme in der Pflege werden so nicht
gelöst.
Unsere Vorstellungen - zwei Punkte möchte ich nennen - sind: Erstens. Die Pflegeversicherung ist bekanntlich nur eine Teilkaskoversicherung. Wir müssen verdeutlichen, dass die Menschen, bereits während sie jung und
mobil sind, viel mehr Vorsorge für den Fall der Pflegebedürftigkeit treffen müssen.
Zweitens. Qualitätsverbesserungen kann man nicht von
außen in die Heime „hineinregulieren“. Gemeinsam mit
den Betreibern der Heime wollen wir überlegen, wie hausintern qualitätssichernde Maßnahmen durchgeführt werden
können. Hier wäre die Einrichtung eines runden Tisches
vielleicht sinnvoller und würde eher zu konkreten Ergebnissen führen als der Versuch, die Gesundheitsreform mithilfe von runden Tischen voranzutreiben und damit eigentlich nur weiße Salbe auf die Probleme zu reiben.
Herzlichen Dank.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wenn auch halbherzig, so versucht die
CDU/CSU-Fraktion doch jetzt wenigstens, die Pflegeversicherung zu reparieren. Sie, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, bauen die falschen Ersatzteile ein. Das kann man wirklich nicht gutheißen.
({0})
Pflegequalität muss an der Frage gemessen werden, ob
die richtige, die benötigte Assistenzleistung zum gewünschten Zeitpunkt und in ausreichendem Umfang vorhanden ist. Das ist das einzig wahre Kriterium.
({1})
Deshalb haben wir Ihnen in unserem vorliegenden Antrag
entsprechende Vorschläge unterbreitet. Ich bitte Sie: Lassen Sie Ihren Gesetzentwurf fallen und greifen Sie die in
unserem Antrag enthaltenen Vorschläge auf; denn unser
Antrag beinhaltet eine Konzeption, nach der man wirklich
arbeiten könnte.
Es muss endlich damit Schluss gemacht werden, die
Qualität der Pflege anhand der Kriterien „satt, sauber und
- bestenfalls - trocken“ zu definieren. Wir müssen einen
Pflegebegriff finden, der die Ganzheitlichkeit und die
Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt und der
sich nicht wie bisher an Teilleistungen orientiert, weil
man die Pflegeversicherung als Teilkaskoversicherung
begreift. Das ist das Problem, vor dem wir stehen.
Liebe Dr. Margrit Spielmann, Sie wissen so gut wie
ich, dass sich das, was wir wollen, eigentlich nur erreichen
lässt, wenn es eine ausreichende Zahl von in der Pflege
tätigen Menschen gibt, die auch über die entsprechenden
Qualifikationen verfügen. Sie müssen nicht unbedingt
ein Hochschulstudium absolviert haben. Aber sie müssen
ordentlich ausgebildet und in ihre Arbeit eingewiesen
worden sein. Das Problem besteht nicht allein darin, dass
es kein für Gesamtdeutschland geltendes Pflegeausbildungsgesetz gibt. Vielmehr besteht das Problem darin,
dass diejenigen, die bereits ausgebildet und in der Pflege
tätig sind, ihren Beruf auf Dauer nicht ausüben können,
weil sie psychisch kaputtgehen. Wir wissen doch, dass
nach fünf Jahren nur noch 10 bis 20 Prozent der ausgebildeten Pflegekräfte in den Einrichtungen arbeiten, weil
sie es nicht mehr aushalten. Sie halten es nicht mehr aus,
weil sie Arbeitsbedingungen vorfinden, die sie daran
hindern, das umzusetzen, was sie gelernt haben, nämlich
die pflegebedürftigen Menschen ganzheitlich zu betreuen, sie zu aktivieren und sie nicht nur satt, sauber und
trocken zu halten.
Im Zusammenhang mit dem Heimgesetz las meine
Kollegin Balt einen Brief vor, in dem sich eine 71-jährige
Mutter darüber beklagt, dass ihre etwa 45-jährige querschnittsgelähmte Tochter im Heim inzwischen keine
Pampers mehr bekomme, sondern nur noch Einlagen.
Aber auch die Versorgung mit Pampers, also mit „pflegeerleichternden Maßnahmen“, ist doch schon unanständig.
Die Frau gehört auf die Toilette gesetzt! Wenn es sein
muss, zehnmal pro Tag.
An diesem Punkt müssen wir durch qualitätsverbessernde Maßnahmen ansetzen. Es nützt nichts, pflegeferne
Bereiche wie die Kontrolle zu stärken und in diese Geld
fließen zu lassen, während in den Bereichen gespart wird,
in denen Menschen direkt profitieren könnten. Jede Minute der Arbeitszeit, die nicht am Menschen gearbeitet
wird, sondern der Dokumentation dient, ist für die Menschen verloren. Sie wissen das so gut wie ich. Sie können
Ihr Vorhaben nicht als großen Erfolg darstellen. Wenn Sie
ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass das nur ein
mickriger Erfolg ist. Machen Sie etwas Vernünftiges,
dann werden Sie uns und erst recht die Menschen, die es
brauchen, auf Ihrer Seite haben.
Fassen Sie sich ein Herz, ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück und machen Sie etwas Vernünftiges.
Danke schön.
({2})
Als letzte
Rednerin hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin
Gudrun Schaich-Walch das Wort.
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es liegt in der Tat
kein neues Leistungsgesetz vor, das hier jetzt verabschiedet werden soll. Es liegt vielmehr ein Gesetz vor, mit dem
wir die Qualität der bisher erbrachten Leistungen sichern
wollen.
({0})
An diesem Anspruch muss der Gesetzentwurf gemessen
werden. Wir wollen mit dem geplanten Gesetz bestimmte
Sachverhalte regeln; andere Probleme, die durchaus
ebenso gelöst werden müssen, haben wir nicht in unseren
Entwurf einbezogen. Dafür wird es dann andere Gesetzesvorhaben geben müssen.
({1})
Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie alle sehr genau wissen, dass wir Mängel und Defizite in der pflegerischen Versorgung haben und dass diese inzwischen leider keine Einzelfälle mehr sind. Wir sind uns aber auch
dessen bewusst, dass diese Defizite weder alleine den Einrichtungen noch alleine den Kostenträgern und schon gar
nicht dem Personal, das eine sehr aufopferungsvolle Arbeit leistet, zuzuschreiben sind. Wir sind aber auch verpflichtet, den Ursachen der Mängel nachzugehen. Dabei
stellen wir fest, dass es ein ganzes Bündel von Ursachen
gibt: Es können Managementfehler in den Einrichtungen
oder das Qualifikationsniveau der Pflegekräfte - das ist
bereits angesprochen worden - eine Rolle spielen.
Auch wenn heute verfassungsmäßige Rechte wahrgenommen worden sind, ist es natürlich traurig, feststellen
zu müssen, dass wir nun immer noch keine bundeseinheitliche Ausbildung für die Pflegeberufe haben, die
eine einheitliche Qualität der Pflege sichert.
({2})
Einige Menschen werden den Beruf des Altenpflegers
jetzt sicherlich nicht ergreifen, weil wir nicht in der Lage
sind, die Berufsausbildung finanziell abzusichern. Eine
Sicherung des Qualitätsniveaus in der Ausbildung wäre
eine wesentliche Voraussetzung für die Qualität in der
Pflege. Qualität in der Pflege lässt sich nicht nur mit mehr
Geld erreichen.
({3})
Der andere Punkt - Herr Seifert, darin gebe ich Ihnen
Recht - ist: Eine Verbesserung wird wesentlich von der
Personalausstattung abhängen. Wir müssen in diesem
Punkt ehrlich miteinander umgehen: Wir haben eine Pflegeversicherung, die einen Zuschuss zur Pflege gewährt.
Wir müssen aber vor der Gewährung von Leistungen ermitteln, an welchen Orten welches Maß an Pflege
benötigt wird. In den einzelnen Häusern werden sehr unterschiedliche Leistungen angeboten. Wir brauchen zur
Herstellung von Transparenz, Herr Parr, Daten, und diese
erhalten wir nur über Dokumentation.
({4})
Erst nach dem Abschluss der Dokumentation wissen wir,
für welche Leistungen wir welches und wie viel Personal
brauchen. Durch die Schaffung von Transparenz haben
wir für die Zukunft eine vernünftige Grundlage. Eine solche vernünftige Grundlage will dieser Gesetzentwurf
schaffen; er sieht die Notwendigkeit entsprechender Vereinbarungen durch die Selbstverwaltung vor. Diese bieten
für die Häuser eine vernünftige Grundlage bei ihren Honorarverhandlungen. Uns allen ist dabei klar gewesen,
dass es das nicht zum Nulltarif gibt. Ich kann mir vorstellen, dass einige Häuser etwas mehr und einige Häuser
etwas weniger brauchen. Ich wundere mich aber schon ein
wenig, dass Häuser des gleichen Trägers für die gleiche
Pflegestufe Preise mit Unterschieden von bis zu
1 000 DM im Monat haben. Auch darauf muss man achten.
Qualität kostet Geld. Zu dem ausgehandelten Pflegesatz wird die Pflegeversicherung einen bestimmten Beitrag leisten. Dieser ist beschränkt, solange der Beitrag zur
Pflegeversicherung 1,7 Prozent beträgt. Man lügt sich
selbst in die Tasche, Frau Kors, wenn man den Menschen
erklärt, mit einem Beitragssatz von 1,7 Prozent wäre sehr
viel mehr zu machen und zu erreichen, als das bis jetzt der
Fall ist.
({5})
Damit weckt man bei den Menschen Erwartungen, die so
nicht zu erfüllen sind. Das ist für meine Begriffe absolut
unredlich.
Zu Ihren Finanzierungsvorschlägen, mit denen Sie den
Verschiebebahnhof von Herrn Seehofer, dem Sie zugestimmt haben und der Grundlage für das Zustandekommen dieses Gesetzes war, rückgängig machen wollen,
muss ich sagen: Die Gesundheitspolitiker meiner Fraktion haben damals dagegen gestimmt. Es kann nicht angehen, dass Sie sagen, es müsse so weiterlaufen.
Frau
Staatssekretärin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Fuchs von der PDS-Fraktion?
Ja.
Verehrte Frau Staatssekretärin, es hört sich für mich logisch an, dass Sie sagen, Sie
können nicht alle Erwartungen an die Qualität bezüglich
der Pflege erfüllen. Sie sprachen davon, dass wir ehrlich
sein müssen und dass wir bei den Menschen nicht Erwartungen wecken dürfen, die wir nicht erfüllen können.
Wäre es dann aber nicht ehrlicher gewesen, beim PflegeQualitätssicherungsgesetz nicht von einem Gesetz zur
Qualitätssicherung und zur Stärkung des Verbraucherschutzes, sondern von einem Ergänzungsgesetz, mit dem
ein Problem bei der Pflege gelöst wird, zu sprechen? Mit
diesem Titel wecken Sie Erwartungen bei den Betroffenen, die Hilfe benötigen, die nicht erfüllt werden können.
({0})
Das bedauere ich.
({1})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Qualität der bestehenden Leistungen gesichert werden. Alle dazu notwendigen Instrumente sind enthalten. Wir haben an keiner Stelle gesagt,
es handele sich um ein neues Leistungsgesetz. Ich habe
zwar davon gesprochen, dass es an manchen Stellen
durchaus teurer werden könnte. Aber das bedeutet nicht,
dass in diesem Fall die Pflegeversicherung mehr bezahlt.
Sie zahlt immer einen festen Zuschuss. Man muss den
Menschen ehrlicherweise sagen, dass der Einzelne oder
die Sozialhilfe die zusätzlichen Kosten tragen muss.
({0})
Wir wollen aber dafür Sorge tragen, dass sich jemand,
der Pflege braucht, darauf verlassen kann, dass mithilfe
unserer Gesetze die Leistung und die Qualität der Pflege
gesichert werden. Der Betroffene soll genau wissen, welche Leistungen ihm zustehen und was er zu erwarten hat.
Nur wenn man beide Gesetze - das Heimgesetz und dieses Gesetz - in Kombination sieht, Frau Dr. Fuchs, kann
man sie unter dem Gesichtspunkt der Qualitätssicherung
beurteilen.
Frau Kollegin Schaich-Walch, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Ilja Seifert? - Bitte schön, Herr
Seifert.
Frau Staatssekretärin, in der
von Ihnen gerade vorgetragenen Logik gedacht: Stimmen
Sie mir zu, dass der Eigenanteil, der für die pflegenahen
Bereiche aufgebracht werden muss, größer wird, wenn
die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten übernimmt, aber gleichzeitig ein Teil der Finanzmittel in die
pflegefernen Bereiche, also zum Beispiel in die Dokumentation, geht? Das heißt mit anderen Worten, dass Sie
die Leistung, die ohnehin schon nicht ausreicht, sozusagen von den Menschen abziehen und hin zur Bürokratie
verschieben. Sind Sie also nicht der Meinung, dass dies
auch unter Berücksichtigung der von Ihnen gerade vorgetragenen Logik zum Nachteil für die pflegebedürftigen
Menschen ist?
({0})
Herr Dr. Seifert,
aus folgendem Grunde sehe ich das nicht so: Es gibt oftmals das Problem, dass Einrichtungen nicht in der Lage
sind, bei Verhandlungen über Pflegesätze bestimmte
Pflegesatzhöhen auszuhandeln. Mit der Prüfung, was bei
den einzelnen Menschen gemacht werden muss, schaffen
wir ein Instrument, um die notwendige Transparenz bei
Verhandlungen über Pflegesätze zu erreichen. Wenn es
nicht zu vernünftigen Pflegesatzverhandlungen und -abschlüssen kommt, wird sich nichts ändern. Das Gesetz
trägt dazu bei, dass diese Basis gefunden wird.
({0})
- Was sagten Sie?
({1})
- Nein, sie müssen dadurch nicht mehr bezahlen. Es wird
dadurch Transparenz und die Grundlage für die Abwägung dessen geschaffen, was notwendig ist.
Das derzeitige System enthält eine Art Blackbox. Wir
geben einen bestimmten Betrag aus. In vielen Bereichen
ist das gut und in Ordnung. In anderen Bereichen aber
wird es kritisiert. Durch das Gesetz werden gute Arbeitsgrundlagen für die Selbstverwaltung geschaffen. Dadurch
ist es möglich, nachzuvollziehen, was für Personal man
für welche Leistungen braucht.
Dass wir darüber hinaus für die Versorgung alter Menschen - das hat meine Kollegin Frau Spielmann schon gesagt - und für den Bereich der Dementen im ambulanten
Bereich Regelungen brauchen, ist klar. Der Gesetzentwurf dafür ist in Vorbereitung. Ein Arbeitsentwurf ist
schon zugestellt worden. Man kann auf dieser Basis diskutieren.
({2})
- Das kommt.
Wir werden in der Zukunft auch noch einmal prüfen
müssen, inwieweit es an den Schnittstellen zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und Pflegeversicherung
Probleme gibt und welche Alternativen vorhanden sind.
Da gibt es aus der Enquête-Kommission Anregungen, mit
denen wir uns inhaltlich auseinander setzen.
Ich denke, wir werden das Ganze Stück für Stück erarbeiten müssen. Jetzt haben wir eine Einheit von Qualitätssicherung und von Regelungen im Heimgesetz,
durch die Kontrolle und Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher geschaffen wird.
({3})
Wir haben dafür im Bundesrat eine große Mehrheit gefunden.
({4})
- Nein, wir haben im Bundesrat für beides eine große
Mehrheit gefunden.
({5})
Ich wünschte mir sehr, wir würden für das schrittweise
Vorgehen mit Plausibilität und Seriosität auch hier weiterhin eine gemeinsame Mehrheit finden.
Danke.
({6})
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung
über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf
eines Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes auf Drucksache 14/5395.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6308 die
Annahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/6329? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen
der PDS abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen
Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit demselben Stimmenverhältnis wie bei der vorherigen
Abstimmung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Verbesserung der Leistungen in der Pflege auf Drucksache 14/5547. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6308, den
Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktion der CDU/CSU bei Enthaltung von
F.D.P. und PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 8 d: Der
Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der CDU/CSU zur Zukunft der sozialen Pflegeversicherung, Drucksachen 14/3506 und 14/6308. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Was ist mit den
Grünen? ({0})
Ich frage erneut, wer für diese Beschlussempfehlung
stimmt. - Wer stimmt dagegen? ({1})
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 14/4391 zur Weiterentwicklung der sozialen Pfle-
geversicherung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktio-
nen angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/5590 und 14/6327 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis d auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, Anita Schäfer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Erfolge und Defizite der Weltausstellung EXPO
- Drucksachen 14/4956, 14/5344 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Gunnar Uldall, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Weltausstellung EXPO 2000 als Chance für den
Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutsch-
land nutzen
- Drucksachen 14/3374, 14/6332 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brähmig
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Haushaltsführung 2000
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 02
Titel 682 27 - Finanzierungsbeiträge an die
EXPO 2000 Hannover GmbH - sowie Erhö-
hung des Regressverzichts bei den gewährten
Bürgschaften an die EXPO 2000 Hannover
GmbH
- Drucksache 14/4008 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Verlauf der Weltausstellung
EXPO 2000 in Hannover ({3})
- Drucksache 14/5883 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Herr
Kollege Ernst Hinsken von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Es ist nicht
alles Gold, was glänzt“, sagt ein altes Sprichwort. Es trifft
auch auf die EXPO zu. Die EXPO war eine großartige
Werbung für Deutschland; das ist unbestritten. Deutschland hat sich gerade bei dieser EXPO als weltoffenes,
attraktives und tolerantes Reiseland präsentiert. Aber die
Zahl der Besucher blieb unter den Erwartungen und der
Anteil ausländischer Besucher betrug nur 17 Prozent. Das
war ungefähr die Hälfte derer, die einige Jahre vorher zur
Weltausstellung nach Sevilla gekommen sind. Dies ist besonders bemerkenswert, da sich 155 Länder auf der Ausstellung ein Stelldichein gaben.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerade hinsichtlich der EXPO gab es viel negative Begleitmusik, hervorgerufen durch gravierende Mängel. Dadurch ist in der Öffentlichkeit nicht das positive Bild entstanden, das hätte
entstehen müssen. So wirkte zum Beispiel die Ausstellung
„Mensch - Natur - Technik“ wie eine langweilige Lehrveranstaltung zur Ökosteuer. Zu hohe Eintrittspreise waren eine weitere Ursache dafür, dass der Zuspruch des
kleinen Mannes nicht so groß war, wie es an und für sich
hätte sein sollen.
({1})
Familientarife haben wir erkämpfen müssen.
({2})
- Wir haben sie erkämpft; von selbst wäre man nicht darauf gekommen. Von Ihnen, Frau Ganseforth, habe ich
diesbezüglich überhaupt keinen wesentlichen positiven
Beitrag dazu gehört, dass aus der EXPO etwas Vernünftiges hätte werden können.
Die wirtschaftspolitische Bilanz dieser EXPO ist sehr,
sehr mager. Statt 40 Millionen wurden nur 18 Millionen
Tickets verkauft. Ein Defizit von sage und schreibe
2,32 Milliarden DM ruft Heulen und Zähneknirschen hervor.
Die Verantwortlichen - das ist unbestritten festzustellen - haben die Wirklichkeit immer zurechtgebogen. Als
zum Beispiel die Prognosen für den Inlandsverkauf
zurückgingen, hat man das Planziel für den Auslandsverkauf einfach erhöht. Die Folge ist das gigantische Defizit,
von dem ich eben gesprochen habe.
Frau Kollegin Ganseforth, damit Sie es genau wissen:
2,32 Milliarden DM sind 2 320 Millionen DM.
Herr Kollege
Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Ganseforth?
Selbstverständlich, gerne,
weil ich sie sehr, sehr schätze.
Herr Hinsken, halten Sie
es für eine richtige Planung, die Völker der Welt, 40 Millionen Menschen, einzuladen und keine Mark dazuzahlen
zu wollen?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Frau Kollegin Professor
Ganseforth, wenn 2 Milliarden DM Peanuts sind, wenn
ein solcher Betrag keine Rolle spielt, dann verstehe ich die
Welt nicht mehr. Reden Sie einmal mit Ihrem Finanzminister, der momentan als Pfennigfuchser durch die Lande
zieht!
Hier sind über 2 Milliarden DM ausgegeben worden,
ohne dass man sich vorher Gedanken darüber gemacht
hat, wie man vermeiden könnte, dass das Defizit insgesamt zu groß wird. Das prangere ich hier zu Recht an, weil
diese 2,32 Milliarden DM zu guter Letzt nicht als Manna
vom Himmel kommen, sondern vom bundesrepublikanischen Steuerzahler erbracht werden müssen, unabhängig davon, wo der Einzelne wohnt.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin, bei der Beantwortung einer
Frage kann die Uhr nicht weiterlaufen. Ich war noch dabei, die Frage zu beantworten. Wenn sich die Fragestellerin hinsetzt, brauche ich die Antwort nicht mehr zu Ende
zu führen. Das ist nicht fair. Auf diese Art und Weise werden mir kostbare Minuten gestohlen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich frage mich, wo bei dieser Angelegenheit der prominent besetzte Aufsichtsrat
war.
({2})
Dieser Aufsichtsrat hat versagt. Das stelle nicht ich fest,
sondern das sagt sinngemäß der Niedersächsische Landesrechnungshof.
Wo waren zum Beispiel die aufeinander folgenden Ministerpräsidenten, der jetzige Bundeskanzler Schröder,
Herr Glogowski und Herr Gabriel? An sechs von 14 Sitzungen haben sie überhaupt nicht teilgenommen. Sie haben, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt, „die Zeichen an der Wand ignoriert“.
({3})
Auch so kann man mit dem vom Steuerzahler aufgebrachten Geld umgehen. Man kann sich in irgendein Gremium wählen lassen und dann zu guter Letzt nicht anwesend sein.
Meine Damen und Herren, in Berlin hat man wegen
des Bankenskandals die Regierung gestürzt. Die SPDVerwaltungsräte verblieben hier in der Regierung, obwohl
sie versagt haben. Auch bei der EXPO haben führende
Genossen versagt. Sie werden in ihren Ämtern bleiben
und der Steuerzahler zahlt das Defizit.
({4})
Das ist, schlicht und einfach gesagt, eine Heuchelei, die
ich nicht nachvollziehen kann
({5})
und die an den Pranger gestellt gehört. Daraus sollen jetzt
vor allem diejenigen Konsequenzen ziehen, die für dieses
Defizit verantwortlich zeichnen.
({6})
Wir haben uns über das, was als Erfolg zu verzeichnen
war, gefreut, aber wir freuen uns nicht über das entstandene Defizit.
({7})
Dafür tragen mehr als sechs der zehn Aufsichtsratsmitglieder, die eingetragene Genossen sind, die Verantwortung. Das muss dem Wähler draußen auch gesagt werden.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Abgeordnete
Hinsken ist immer für eine lebhafte Debatte gut.
({0})
Man muss nur die Dinge, die nicht ganz richtig sind,
({1})
aus der Debatte herausnehmen.
Lieber Ernst Hinsken, zunächst einmal sollten wir gemeinsam feststellen: Die EXPO hat der Welt mit über
18 Millionen Besuchern und einem spannenden, interessanten Programm ein gutes Bild Deutschlands vermittelt.
Das ist ein Erfolg für Deutschland. Ich glaube, das sehen
Sie auch so.
Herr Staatssekretär,
Sie haben zwar den ersten Satz noch nicht beendet, aber
es gibt schon eine erste Frage des Kollegen Hinsken.
Vielleicht darf
ich meinen zweiten und dritten Satz noch sagen. Ernst,
hast du eine Sekunde Geduld? Dann kannst du die Fragen
gleich stellen.
Die EXPO hat mit über 18 Millionen Besuchern eine
große Resonanz gefunden. Was ich besonders bemerkenswert finde, ist, dass 2 Millionen junge Leute dort waren. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. Auch ein großer
Erfolg ist, dass 17 Prozent der Besucher aus dem Ausland
kamen. Wir haben mit dieser EXPO deutlich gemacht,
dass das moderne, wiedervereinigte Deutschland weltoffen ist, und gezeigt, dass wir neugierig sind und uns um
Fragen der Natur und der technologischen Entwicklung
kümmern. Wir haben die ganze Welt eingeladen, an diesen großen Zukunftsprojekten mitzuwirken. Wenn sich
jetzt die EXPO-Weltorganisation zum Ziel gesetzt hat,
diesen globalen Dialog, den wir in Hannover begonnen
haben, fortzusetzen, dann ist das, glaube ich, ein wichtiges Zeichen dafür, dass dieser globale Dialog in einer globalen Welt mit dieser EXPO sehr gut gestartet worden ist.
Das sollte man auch einmal herausstellen. Es ist nämlich
nicht selbstverständlich, dass das auch gelingt.
({0})
Herr Staatssekretär,
bevor sich der Kollege Hinsken die Beine in den Bauch
steht, möchte ich Sie an die Zwischenfrage erinnern.
({0})
Ja, ich lasse sie
jetzt zu. Ich könnte das nicht verantworten.
Frau Präsidentin, ich
darf mich zunächst für Ihre Fürsorge bedanken und auch
dafür, dass Sie den Redner noch einmal daran erinnert haben, dass er die Frage, die ich stellen möchte, zulassen
wollte.
Herr Staatssekretär Mosdorf, sind Sie bereit, nochmals
zur Kenntnis zu nehmen, dass ich die inhaltliche Gestaltung der EXPO großartig fand?
({0})
- Das ist die Frage. Passen Sie bitte auf! - Was ich angeprangert habe, waren vor allen Dingen die Zahlen. Sie haben mir unterstellt, dass ich keine richtigen Zahlen genannt bzw. keine richtigen Aussagen getroffen hätte.
({1})
Ich habe ein Dokument dabei, nämlich einen Auszug
aus der „Süddeutschen Zeitung“, aus der ich eine Vielzahl
von Informationen bezogen habe. Ich meine, dass Sie
auch dieser Zeitung unterstellen müssten, dass sie nicht
richtig recherchiert habe; denn sonst hätte sie solche Zahlen nicht veröffentlichen können.
({2})
Laut Geschäftsordnung ist dies durchaus noch drin.
Herr Kollege Hinsken, würden Sie bitte eine Frage
stellen.
Frau Präsidentin, ich möchte die Bemerkung des Kollegen Hinsken in
eine Frage umwandeln: Der Kollege Hinsken wollte fragen, ob ich denn glaube,
({0})
dass die „Süddeutsche Zeitung“ richtig recherchiert und
richtig festgestellt hat, dass die Aufsichtsräte nicht anwesend waren.
Lieber Kollege Hinsken, ich spreche für die Bundesregierung. Ich muss auch einmal Kollege Rexrodt in Schutz
nehmen, der immer da war, genauso wie unser Wirtschaftsminister Müller. Dafür ist die Bundesregierung zuständig. Ob sonst jemand gefehlt hat, habe ich nicht im
Kopf. Ich weiß auch nicht, wer gefehlt hat. Wenn die
„Süddeutsche Zeitung“ das berichtet, dann wird es - ich
möchte die vernünftige Recherche gar nicht bestreiten richtig sein. Die Bundesregierung war aber immer ordentlich vertreten, genauso wie ich als Mitglied des Aufsichtsrats des deutschen Pavillons. Wir, Rexrodt, Minister
Müller, sind also auf der richtigen Seite.
Ich komme jetzt zu den Zahlen:
({1})
Ernst Hinsken hat gesagt, wir hätten viel zu hohe Preise
genommen. Gleichzeitig hat er aber das Defizit beklagt.
Das geht auch in deinem Backwarengeschäft nicht. Man
kann doch nicht sagen, die Preise waren zu hoch, und
gleichzeitig beklagt man sich über das Defizit.
Wir haben - Herr Hirche, Sie wissen das - große
Anstrengungen unternommen: Wir haben das Abendticket und entsprechende Vergünstigungen für Familien
und für viele andere mehr, auch für Schüler, eingerichtet.
Dies hat auch einen positiven Effekt gehabt. Wir sind jetzt
in der glücklichen Lage, Ihnen mitteilen zu können, dass
nicht der „worst case“ mit einem Defizit von 2,4 Milliarden DM eingetreten ist, sondern dass wir von einem
Nettodefizit von 2,1 Milliarden DM ausgehen. Wir alle
wissen auch - das ist ein positives Ergebnis -, dass wir
etwa 2,7 Milliarden DM Steuermehreinnahmen haben.
({2})
Man darf nicht nur die Defizite betrachten, sondern muss
sich einmal die makroökonomische Gesamtbilanz ansehen.
({3})
- Jetzt nicht, ein andermal wieder, Herr Brähmig.
Darüber hinaus können wir feststellen, dass die Infrastruktur, die für die EXPO aufgebaut wurde, dem Land
wirklich hilft und dass die Messestadt Hannover dank der
EXPO zu einer ersten Adresse für Weltmessen überhaupt
geworden ist. Insofern haben wir ein nachhaltiges Konzept verfolgt und nicht nur eine kurzfristige Showmesse
durchgeführt.
({4})
Die Messe wirkt gerade auch in den nächsten Jahren nach.
Deshalb sollten wir sie positiv bewerten.
Meine Damen und Herren, die Inhalte großer Messen
dieser Welt orientieren sich natürlich an neuen Prozessen
und neuen technologischen Entwicklungen. Wenn man
sich anschaut, welche Projekte auf dieser EXPO gezeigt
wurden, wie viele Länder dieser Welt sich engagiert haben und wie viele Nationen ihre eigenen Projekte präsentiert haben - 155 Länder und 17 internationale Organisationen haben sich auf dieser großen EXPO präsentiert -,
dann erkennt man, dass wir als führendes Land in der
technologischen Entwicklung hier eine Chance genutzt
haben.
Die nach der EXPO weiter genutzte Infrastruktur hat
einen Wert von gut 1 Milliarde DM. Internationale Teilnehmer haben fast 1,5 Milliarden DM für den Bau ihrer
Pavillons ausgegeben, 80 Prozent dieser Pavillons werden
weiter genutzt; auch das ist eine wichtige Entscheidung
gewesen. Zugleich war das Thema „Mensch, Natur, Technik - eine neue Welt entsteht“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein anspruchsvolles Thema, das auch die Veranstalter so ausgelegt haben. Das erkannte man an ihrem
Engagement.
Ich glaube, dass mit der EXPO auch ein Signal für den
Tourismus gesetzt wurde.
({5})
Im letzten Jahr gab es in diesem Bereich mit 108 Millionen Gästen und 326 Millionen Übernachtungen ein Rekordergebnis für Deutschland. Das wissen wir alle. Die
Zahl der inländischen Gäste hat um 6 Prozent, die der ausländischen Gäste um 11 Prozent zugelegt.
({6})
Das heißt, die EXPO war ein wichtiges Signal eines offenen Deutschlands an die Welt und hat neugierig gemacht.
Mit dem Jahr des Tourismus in diesem Jahr knüpfen wir
an die EXPO an; hiermit machen wir einen wichtigen
Schritt nach vorn. Deutschland muss auch in Zukunft eine
Zielregion für viele Besucher und für Leute, die sich für
Europa und für unser Land interessieren, sein. Die EXPO
war dafür ein wichtiger Türöffner. Wir werden sehen, die
Zahl der Touristen, die Deutschland besuchen, wird auch
in diesem Jahr enorm zunehmen. Das ist nicht nur für Hotellerie und Gastronomie gut, sondern auch für unser Ansehen in der Welt. Insofern war die EXPO ein großer Erfolg.
Zwar rief die EXPO über viele Jahre auch Skepsis und
Kritik hervor, aber im Ergebnis - so habe ich auch Ernst
Hinsken verstanden - wird die EXPO als ein positives Ereignis in die Geschichte Deutschlands eingehen. Wir tun
jetzt alles, damit die Ergebnisse der EXPO auch positiv in
die Zukunft wirken. Das gilt auf alle Fälle für die aufgebaute Infrastruktur. Wir sind aber auch dabei, das Defizit
so zu bearbeiten, dass wir damit umgehen können. Wir
warten noch die letzten Daten ab, aber dann werden entsprechende Entscheidungen getroffen. Ich glaube, die
EXPO war ein Erfolg. Wir haben etwas riskiert und unternommen. Von daher kann man sagen: Die Gesamtbilanz der EXPO ist positiv.
({7})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Staatssekretär
Mosdorf, dem letzten Satz kann ich zustimmen: Das Gesamturteil über die EXPO ist sicherlich positiv. Die EXPO
hat Deutschland viel gebracht. Sie hat ohne jeden Zweifel
ein positives Bild vermittelt. Wer selbst bei der EXPO
war, konnte auch die wirklich gute Stimmung spüren, die
dort geherrscht hat. Darüber sind wir uns, so denke ich, in
diesem Hause alle einig.
({0})
Trotzdem muss kritisch nachgefragt werden, was nicht
so gelaufen ist, wie es hätte laufen können. Wir haben bereits die Zahlen gehört. Anstatt 40 Millionen Besucher
waren es am Schluss 18 Millionen Besucher. Es fehlten
die ausländischen Besucher. Natürlich muss jetzt kritisch
gefragt werden, worin die Fehler lagen.
Meine Damen und Herren, es gab ein EXPO-Management mit Frau Breuel an der Spitze. Wenn solche Fehler
passieren, dann ist dafür natürlich zuallererst das Management verantwortlich.
({1})
Im Vorfeld gab es Dinge, die nach wie vor völlig unverständlich sind und nicht nachvollzogen werden können. Die Besucherprognosen wurden rechtzeitig nach
unten korrigiert. Allerdings wurde nach wie vor mit
40 Millionen Besuchern kalkuliert. In den Sitzungen des
Tourismusausschusses konnten wir oftmals nicht glauben, was uns präsentiert wurde. Einiges haben wir im
Ausschuss alle zusammen korrigiert. Ich erinnere an die
Schülertarife, die Familientarife und anderes, was sonst
wahrscheinlich erst recht schief gegangen wäre. Es gibt
allerdings ein Defizit von 2,4 Milliarden DM. Wenn man
die 200 Millionen DM, die Herr Wellensiek noch erwirtschaften will, abzieht, dann beträgt das Defizit 2,2 Milliarden DM. Das ist zu viel. Das durfte nicht passieren.
({2})
Herr Mosdorf, interessant ist, dass Sie sagen, dass Entscheidungen getroffen wurden. Mich würde allerdings interessieren, welche Entscheidungen das sind. Mit welchem Anteil wird sich der Bund beteiligen, fünfzig zu
fünfzig oder zwei Drittel zu einem Drittel? Es kann nicht
sein, dass der Bundeskanzler und der niedersächsische
Ministerpräsident etwas ausmauscheln. Es gab klare Regeln. Diese müssen auch in dieser Situation gelten.
({3})
Es geht überhaupt nicht darum, Schuld zuzuweisen.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Mosdorf, einen Vorwurf
kann ich aber der Bundesregierung nicht ersparen:
({4})
Wir haben relativ schnell nach Eröffnung der EXPO
gesehen, dass die Besucherzahlen weit unter dem prognostizierten Maß liegen. Die F.D.P. hat sehr früh beantragt, 50 Millionen DM für zusätzliches Marketing zur
Verfügung zu stellen. Das wurde von Ihnen abgelehnt.
Das war der entscheidende Fehler.
({5})
Als Sie dann die 50 Millionen DM für die berühmte Werbekampagne mit Verona Feldbusch zur Verfügung gestellt
haben, hat es etwas genützt. Es kam allerdings zu spät.
Das ist der Fehler, den die Bundesregierung gemacht hat.
({6})
- Nein, es lag an den Finanzen. - Es gab einen zweiten
Fehler. Wir wissen heute genau, dass das Management die
Werbekampagne wollte. Man durfte es aber nicht offen
fordern. Das war damals die Krux.
Lieber Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, dass die
EXPO für den Deutschlandtourismus positiv war, dann
stimmt das zwar. Aber der Erfolg hätte viel größer sein
können.
({7})
Ich bemängele heute nach wie vor, dass es nicht gelungen ist, die EXPO mit dem Deutschlandtourismus insgesamt zu verknüpfen, nämlich Leute von anderen Ländern
zu uns zu holen und sie dazu zu bringen, in Verbindung
mit dem EXPO-Besuch einen Urlaub in Deutschland zu
machen.
({8})
Das waren die Versäumnisse. Wenn wir heute über
Konsequenzen reden, dann ist es erforderlich, dass auch
die Regierung sagt: Ja, wir haben einen Fehler gemacht. Wir müssen bei künftigen Ereignissen - ich denke an die
Fußballweltmeisterschaft und an andere Großveranstaltungen - den Mut haben, Geld in die Hand zu nehmen das würde jeder Betrieb machen -, um das Marketing zu
verstärken. Außerdem müssen wir im Deutschlandtourismus vernetzte Angebote schaffen und solche Großveranstaltungen nutzen, damit Menschen aus anderen Ländern
zu uns kommen, Deutschland kennen lernen und ein wenig Geld hier lassen. Hierdurch könnte der Erfolg noch
viel größer werden.
({9})
Zum Schluss: Es geht nicht um irgendwelche parteipolitischen Auseinandersetzungen, sondern darum, dass
man Fehler klar aufzeigt und daraus Konsequenzen zieht.
({10})
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Sylvia Voß von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnetenkollegen!
Die CDU/CSU hat offensichtlich ein seliges und glückliches Gedächtnis. Nach der Rede von Herrn Hinsken kann
einem das jedenfalls so vorkommen. Ich kann Herrn
Burgbacher nur zustimmen, dass wir hier etwas kritisch
hinterfragen müssen. Deswegen spreche ich auch noch
einmal das Gedächtnis an, Herr Hinsken.
Es gab ein hässliches Entlein, das dann doch noch zu
einem schönen Schwan wurde. Die CDU/CSU und die
F.D.P. bemühten sich damals, das Ei EXPO nach Deutschland zu bekommen, haben sich dann aber beim Bebrüten
wie die Rabeneltern benommen.
({0})
In den ersten Jahren nach dem Zuschlag hat nämlich die
Kohl-Regierung kaum ein nennenswertes Engagement
für dieses Projekt EXPO entwickelt.
({1})
Die Wirtschaft gründete erst 1993 die EXPO-Beteiligungsgesellschaft. - Genau! Sie erzählen sogar Märchen.
Deswegen erzähle ich Ihnen jetzt das vom hässlichen Entlein.
({2})
Die Folge dieser späten Gründung und des späten Engagements der CDU/CSU-Regierung war, dass die EXPO
GmbH und ihr Management jenseits jeder Entscheidungsstruktur der Parlamente angesiedelt waren. Es war
eine privatrechtliche GmbH. Sie sind ohnehin immer so
veranlagt, dann, wenn es Ihnen passt, etwas zu privatisieren, und wenn etwas privatisiert ist, zu fragen: Wo bleibt
der Staat?
({3})
Genau das war Ihr Fehler!
Es gab ebenso falsche Berechnungen der Besucherzahlen. Das haben Sie selbst im Ausschuss immer angeprangert. Deswegen können Sie jetzt hier so viel schreien,
wie Sie wollen. Die Besucherzahlen waren einfach falsch
berechnet. Es waren zu viele berechnet. Wer selbst auf der
EXPO war - wir vom Ausschuss waren mehrfach dort -,
kann sagen: Im Juni 2000 war es noch ziemlich angenehm. Da waren aber die Besucherzahlen noch so niedrig,
dass sie stark beklagt worden sind.
({4})
Es war ein angenehmes Wandern. Es gab wenig Gedränge, und man brauchte sich nicht so lange anzustellen.
An und für sich waren das die richtigen Besucherzahlen
für ein Wohlfühlen auf der EXPO.
Im letzten Monat hatten wir dann 160 000 Besucher.
Da war es schon weniger angenehm; da gab es nämlich
mächtig viel Gedränge und ganz lange Warteschlangen,
sodass man sagen kann: Wenn man so hohe Besucherzahlen zugrunde legt, ist man nicht davon ausgegangen, dass
sich dann auch ein Besucher auf einer solchen Ausstellung wohlfühlen kann.
Alle diese Fehler - Berechnung, Management, Werbung und Verkauf - waren solche, die schon unter Ihrer
Ägide installiert worden sind
({5})
und die uns sozusagen ein krankes Entlein EXPO hinterlassen haben.
Wir haben uns als Ausschuss gemeinsam bemüht - das
wissen Sie auch ganz genau -, dieses kranke Entlein mit
vereinten Kräften doch gesunden zu lassen, und haben es
auch geschafft, dass es gesünder und kräftiger wurde.
({6})
- Ich rede nicht von den Grünen. Ich habe gesagt: der Ausschuss gemeinsam. Bitte genau hinhören!
Wir haben es also geschafft, dass aus diesem hässlichen Entlein doch noch ein schöner Schwan geworden
ist. Wir haben es tatsächlich geschafft - das haben alle bisherigen Redner auch schon betont -, hiermit Deutschland
etwas für die Welt zu bescheren: ein weltoffenes Fest der
Völkerverständigung. Und was bleibt davon? Nicht nur
die Begeisterung aller, die dort waren, die auch mehrfach
hingefahren sind, weil es dort eben so schön war, sondern
es bleibt erstens ein weltweit schönes und fröhliches
Deutschlandbild, das die internationalen Besucher mit
nach Hause genommen haben. Auch leben heute noch
Spuren der weltweiten EXPO-Projekte: Wiederaufforstung im tropischen Regenwald, durch medizinische Forschungsprojekte, durch Jugendhilfeprojekte in der Welt,
durch Umwelttechnikprojekte in der Dritten Welt. Es gab
auch Projekte speziell für die indigenen Völker.
Insofern kann man sagen: Die EXPO lebt weiter, und
das ist ein hervorragender Effekt, den wir mit angeschoben haben.
({7})
Es ist außerdem auch zu einer Bereicherung der deutschen Kulturlandschaft gekommen. Das darf man auch
nicht vergessen! Wir haben jetzt eine Preussag-Arena, in
der man hervorragende Veranstaltungen durchführen
kann. Auch dorthin können viele Leute aus ganz Europa
und der Welt zu kulturellen oder sportlichen Veranstaltungen kommen. Wir haben ein Europahaus mit einer sehr
großen Fläche, in das jetzt zum Beispiel arg bedrängte
Hochschulen einziehen können und Studenten endlich
einmal bessere Möglichkeiten für ihr Studium haben. So
haben wir auch noch andere wunderbare Dinge, die wir
von der EXPO in Deutschland nachnutzen und durch die
die EXPO weiterlebt.
Ich möchte hier auch noch einmal die wirklich gut gelungenen 280 dezentralen Projekte hervorheben, die den
gesamten deutschen Raum, alle Bundesländer, alle Regionen bis heute bereichern. Das ist meiner Meinung nach
auch ein sehr positiver Effekt der EXPO für unser eigenes
Land.
({8})
Was lehrt uns jetzt all das, was wir, auch im Ausschuss,
immer wieder an Kritik am Management und an dem, was
ich auch in Ihre Richtung sagen muss, angebracht haben? Wenn man etwas will, dann muss man es ganz wollen.
Man hätte also schon Ihre anfänglichen Brutfehler beseitigen müssen.
({9})
- Sie haben selbst immer beklagt, dass wir immer nur zufüttern dürfen, aber selbst in die Entscheidungen wenig
eingreifen können. Also bitte!
({10})
Wenn man sich ein Ei ins Nest holt, dann muss man
auch für die Entwicklung sorgen. Das haben Sie nicht getan. Sie haben das Konzept angelegt. Deswegen fassen
Sie sich doch endlich einmal an Ihre eigene Nase und kritisieren Sie nicht ständig an uns herum. Wir haben, wie
gesagt, die Fehler, die wir entdeckt haben, gemeinsam zu
beseitigen versucht. Dadurch ist die EXPO noch ein hervorragender Erfolg geworden und aus diesem hässlichen
Entlein wurde der schöne Schwan, den wir uns gewünscht
hatten und dessen Wirkungen wir jetzt in Deutschland und
in der ganzen Welt weiterhin haben.
Schönen Dank.
({11})
Jetzt spricht die Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde sagen, wir kommen
jetzt auf den Boden der Tatsachen zurück und versuchen,
dem Vorwort des Berichts der Bundesregierung, in dem es
heißt: „Die EXPO 2000 war eine gelungene Inszenierung“, einmal etwas auf den Zahn zu fühlen. Dem Wort
„Inszenierung“, Herr Staatssekretär, kann ich durchaus
zustimmen, doch mit dem Begriff „gelungen“ habe ich
große Schwierigkeiten. Da wir hier jetzt eine Märchenstunde haben, denke ich, wir sollten etwas konkret werden. Vergleichen wir die hehren Ziele und Versprechungen im Vorfeld, die Intendanten dieser Inszenierung wie
Frau Breuel - oder, im Sprachgebrauch des Kollegen
Hinsken, „führende Genossen“ - gemacht haben,
({0})
mit dem, was unter dem Strich herausgekommen ist, dann
bleibt der herbe Beigeschmack, der bereits im Vorfeld entstanden war und der die EXPO die ganze Zeit über begleitet hat.
Dementsprechend lustlos fällt auch die Bilanz der Bundesregierung aus. Sie ist noch nicht einmal in der Lage, die
18,1 Millionen verkaufter Tickets in Tages- und Abendkarten zu unterteilen. Eine Bewertung der inhaltlichen Präsentation der Länderpavillons und Projekte der teilnehmenden
Staaten fehlt in der Bilanz gänzlich. Hier findet man lediglich einen Hinweis auf „lateinamerikanische Tänze,
fernöstliche Kunst oder afrikanische Musik“. Ausführlich
wird lediglich die eigene Präsentation abgefeiert: der Deutsche Pavillon und die verschiedenen Themenparks. Doch
wer lange genug sucht, findet sogar ein paar Zeilen zur Entwicklungspolitik, zum „global dialogue“ und ein paar
Hinweise auf einige wenige der 218 dezentralen Projekte
außerhalb des hannoverschen EXPO-Geländes.
Dass die EXPO unter dem Motto „Mensch - Natur Technik“ stand, scheinen die Autoren der Bilanz ebenso
vergessen zu haben wie das Wort Nachhaltigkeit. Erst in
der abschließenden Betrachtung heißt es:
Die EXPO 2000 stand unter dem Leitthema
„Mensch, Natur, Technik - eine neue Welt entsteht“.
Erst dort findet sich ein Hinweis auf die Agenda 21. Immerhin war Bundesumweltminister Trittin von Anfang an
schlau genug, sich erst gar nicht an der EXPO zu beteiligen. So muss er heute auch keine Kritik einstecken. Die
Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda 21 für die ökonomischen, sozialen und ökologischen Handlungsoptionen zugunsten einer Eine-Welt-Politik blieb und bleibt aus.
Doch nachhaltig wirken sich die finanziellen Verluste
insbesondere für das Land Niedersachsen sowie die niedersächsischen Städte und Gemeinden aus. Nachhaltig
sind die Verluste für Gastronomiebetreiber, die zum Teil
Konkurs anmelden mussten, weil die versprochenen Besucherzahlen nicht erreicht wurden. Nachhaltig wirkt sich
natürlich der Autobahnbau aus. Allerdings vermissen wir
auch hier die ökologische Lenkungswirkung, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Nachhaltig ist auch
der Bau des EXPO-Knastes am Flughafen Langenhagen,
der zum Abschiebeknast umgewandelt wurde. Diese
Nachhaltigkeit hat einen sehr herben Beigeschmack.
Eine mögliche positive Nachhaltigkeit durch die dauerhafte Weiterfinanzierung sinnvoller Projekte bleibt leider aus. Stattdessen werden viele Regionen mit ihren Projekten heute allein gelassen.
({1})
Der letzte Absatz des Berichts der Bundesregierung
macht deutlich, worum es den Intendanten der EXPO
ging. Dort heißt es:
Es bleibt festzustellen, dass die EXPO 2000 die mit
ihr verbundenen qualitativen Ziele in vollem Umfang erreicht hat und insgesamt ein großer Erfolg
war: Zufriedene Besucher, ein Gewinn für den Standort Deutschland, eine Aufwertung des Messeplatzes
Hannover...
Dieses Ziel hat Frau Breuel mehr oder weniger erreicht.
Doch unter einer „gelungenen Inszenierung“ hätten wir
erwartet, dass das anspruchsvolle Thema „Mensch - Natur - Technik“ qualitativ mit Inhalten gefüllt wird und
Lösungsansätze für einen ökologischen und sozialen Umbau, für eine gerechte Weltwirtschaftspolitik und letzt
endlich für einen Ausgleich zwischen Industriestaaten
und der so genannten Dritten Welt aufgezeigt werden.
Unter dem Strich bleibt mir nur zu sagen; Kolleginnen
und Kollegen von der CDU im Hause, Frau Breuel:
Thema verfehlt! Ungenügend! Eigentlich müsste Frau
Breuel, wenn sie Anstand genug hätte, einen Teil ihres
Honorars zurückzahlen.
({2})
Jetzt spricht die Kollegin Birgit Roth für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die
EXPO 2000 war schon des Öfteren unser Thema: im Tourismusausschuss, im Haushaltsausschuss, in anderen Ausschüssen, aber selbstverständlich auch hier, im Plenum
des Deutschen Bundestages.
Wir alle sind uns darüber im Klaren, dass Fehler gemacht worden sind; aber es waren in erster Linie eklatante, gravierende Managementfehler. Herr Hinsken, ich
möchte auf einen Punkt eingehen, den Sie gleich am Anfang angesprochen haben. Der Schwerpunkt Ihrer Kritik
lag aber auf der angeblich mangelnden Kontrolle durch
den Aufsichtsrat. Da muss ich Ihnen ganz klar sagen,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, so einfach können Sie es sich wahrhaft nicht
machen. Selbst die F.D.P. hat das bestätigt: Es waren in
erster Linie Managementfehler.
({0})
An diesem Punkt finde ich Ihre Kritik überzogen.
Ich hatte mehr erwartet, nämlich dass von Ihrer Seite
eine Sachanalyse und sachliche Kritik kommen und nicht
irgendwelche parteipolitischen Spielchen. Erinnern wir
uns doch einmal ein bisschen: Wie war es denn 1987? Da
hat die niedersächsische Finanzministerin - damals Birgit
Breuel - zusammen mit dem Ministerpräsidenten - damals Albrecht von der CDU - und dem Bundeskanzler damals Helmut Kohl von der CDU - die EXPO angeworben.
Ich finde es nicht fair, wenn jetzt auf diese Art und
Weise parteipolitisch aufgerechnet wird. Wir sollten ganz
klar sehen: Die Defizite lagen im Managementbereich.
({1})
Und die hat die EXPO-GmbH verursacht, bei der Frau
Breuel und Herr Volk den Vorsitz innehatten.
Sowohl Frau Breuel als auch Herr Volk mussten uns
des Öfteren bei Anhörungen im Ausschuss Rede und Antwort stehen. Ich glaube, wir waren parteiübergreifend der
Meinung, dass sie das mehr schlecht als recht getan haben. Doch Sie führen jetzt im Nachhinein eine parteipolitisch motivierte Diskussion. Wir beziehen unsere Kritik
ganz klar auf die sachliche Ebene.
Herr Burgbacher hat es bereits angesprochen: Die Fehler lagen in erster Linie im Werbekonzept, in der Vermarktungsstrategie, im Ticketing. Vor allem ist die touristische Positionierung der EXPO 2000 im Kontext
Deutschlands eigentlich gar nicht erfolgt. Wir haben die
Werbestrategie bemängelt, die die Zielgruppe, die breite
Masse, im Grunde genommen gar nicht erreicht hat.
({2})
Sie war abgehoben und wurde nur schlecht verstanden.
Herr Burgbacher, Sie haben gesagt, die 50 Millionen DM für den Werbeetat seien erst viel zu spät, nämlich nachträglich, bewilligt worden.
({3})
Da kann ich Ihnen nur sagen: Hätten wir dies gleich am
Anfang getan, dann wäre die EXPO noch weitaus mehr
heruntergeredet worden, als es sowieso leider schon der
Fall war.
({4})
Doch ich stehe hier, um die Vorteile und die positiven
Errungenschaften zu nennen, die Niedersachsen und die
Stadt Hannover, aber auch Deutschland insgesamt von der
EXPO 2000 gehabt haben. Wir hatten 18 Millionen Besucher auf der EXPO, die sich gerade auch die Themenparke
angeschaut haben. 155 Nationen haben sich präsentiert.
Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Lippmann, finde ich, dass
dort ein faszinierendes Kulturprogramm geboten
wurde.
({5})
Die EXPO 2000 hat sicherlich auch einen weiteren,
vielleicht nur ganz kleinen Schritt in Richtung Weltoffenheit, in Richtung Toleranz, aber auch in Richtung Integration gemacht. Wenn es auch nur ein kleiner war, muss ich
Ihnen sagen: Ich finde es richtig.
Die EXPO 2000 hat sicherlich auch den Standort Hannover als Messestadt und den Standort Deutschland gestärkt. Auch dafür gebührt ihr unsere Anerkennung.
({6})
Im Gegensatz zu Ihnen finde ich, dass durch die Themenparke das Thema Nachhaltigkeit wirklich gut aufgearbeitet wurde.
({7})
Wir haben darüber geredet: Wie will der Mensch leben,
nicht nur morgen, sondern auch in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten? Es sind wegweisende Botschaften von
der EXPO ausgegangen, von denen wir in den nächsten
Jahren sicherlich profitieren werden.
({8})
Herr Hinsken, noch einmal zur finanziellen Situation:
Sie haben gesagt, es sei ein Defizit von 2,3 Milliarden DM
entstanden. Darin muss ich Ihnen - leider - zustimmen.
Aber ich bitte darum, dass nicht nur die Seite mit den
Defiziten dargestellt wird, sondern dass man auch die andere Seite sieht: Inwiefern haben Hannover, die Umgebung von Hannover und das Land Niedersachsen profitiert? Die Infrastrukturmaßnahmen sind nicht nur für
einen Tag gebaut worden, sondern es sind dort dauerhafte
Maßnahmen getroffen sowie Institutionen und Einrichtungen geschaffen worden, von denen wir noch Jahre und
Jahrzehnte profitieren werden.
Allein in das Messegelände wurden 528 Millionen DM
investiert, in Hallenneubauten und Erweiterungsbauten
285 Millionen DM, von denen die Messegesellschaft in
den nächsten Jahren und Jahrzehnten profitieren wird,
ganz abgesehen von den technischen Innovationen in
Höhe von 106 Millionen DM. Auch in Grün- und Freizeitanlagen, die alle erhalten bleiben, sind 68 Millionen DM investiert worden, um hier nur einige Beispiele
zu geben.
Deswegen muss ich sagen: Ja, die EXPO hat Defizite
gemacht, sicherlich viel mehr, als wir befürchtet hatten.
Aber die qualitativen Ziele der EXPO 2000 sind erreicht,
indem das Leitthema „Mensch - Natur - Technik“ und
Nachhaltigkeit wirklich aufgearbeitet worden ist, indem
es eine Ausstellungs- und Diskussionsplattform gegeben
hat und die Botschaften über die Zeit hinaus präsent sein
werden. Nehmen Sie zum Beispiel das internationale
Weltausstellungsbüro in Japan. Es wird wahrscheinlich so
sein, dass diese Idee der weltweiten dezentralen Projekte - Sie haben es selber gesagt, es waren über 200 aufgegriffen wird und dass andere Staaten die Idee nachahmen, um nicht nur eine Stadt, sondern auch das Umland
und die Regionen insgesamt mit einzubeziehen.
Insofern schließe ich mich der Bilanz des Staatssekretärs an: Der Standort Deutschland und gerade auch der
Messestandort Hannover haben durch die Weltausstellung 2000 ganz klar gewonnen.
({9})
Birgit Roth ({10})
Wir haben unsere Leistungsfähigkeit und insbesondere
unsere Lösungskompetenz präsentiert. Ich glaube, dass
sich viele Dinge, die die EXPO 2000 gebracht hat, nicht
durch Zahlen aufzeigen lassen. Manchmal lässt sich ein
Gewinn eben nicht in Zahlen verdeutlichen. Insofern ziehen wir von unserer Seite ganz klar eine positive Bilanz.
Danke schön.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus Brähmig für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Bühne frei“ hieß es
vor fast 13 Monaten in Hannover bei der Eröffnung der
ersten Weltausstellung auf deutschem Boden. „Manege
frei“ lautet anscheinend das Motto der heutigen Plenardebatte.
Diesen Eindruck vermitteln mir zumindest die Zauberkünstler und Finanzjongleure der rot-grünen Bundesregierung.
({0})
In dem Bericht der Bundesregierung über den Verlauf der
EXPO heißt es, die EXPO 2000 sei eine „gelungene Inszenierung“ gewesen. Darauf stellt sich für mich die Frage:
Was gehört zu einer gelungenen Inszenierung? Eine gelungene Inszenierung bedeutet im Normalfall ein volles
Haus und volle Kassen.
Frau Roth, ich weise darauf hin, dass es zu einfach ist,
die Verantwortung für all das, was in den nächsten Monaten noch zu klären ist, auf die Geschäftsleitung abzuwälzen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass uns Herr Volk
und Frau Breuel immer wieder darauf hingewiesen haben,
dass der Aufsichtsrat sowie die Bundesregierung für die
dringend notwendigen Entscheidungen leider nicht das
notwendige grüne Licht gegeben haben.
({1})
Das Defizit von 2,4 Milliarden DM und eine Besucherzahl von nur 18,1 Millionen widerlegen die These von der
gelungenen Inszenierung. Im Vorfeld wurde eine Besucherzahl von 40 Millionen Menschen prognostiziert, die
für eine nahezu ausgeglichene Bilanz am Ende der
EXPO 2000 sorgen sollte.
Warum wurde das national und international anerkannte gute Projekt nicht besser in Szene gesetzt? Schon
im Vorfeld der EXPO-Eröffnung zeigte der schleppende
Kartenvorverkauf dringenden Handlungsbedarf im Bereich Marketing.
({2})
Schon damals hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus
Verantwortung für einen erfolgreichen Verlauf der Weltausstellung eine deutliche Erhöhung der Marketingmittel
eingefordert.
({3})
Die rot-grüne Bundesregierung schenkte diesen Forderungen kein Gehör. Am 8. Juni 2000, also nach der EXPOEröffnung, forderte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
hier im Bundestag aufgrund der schlechten Vorverkaufsund Besucherzahlen eine Erhöhung der Marketingmittel um 50 Millionen DM. Branchenkenner aus dem Tourismus sahen in dieser Forderung den Königsweg für ein
Plus bei den Besucherzahlen. Sie, sehr geehrte Frau Roth,
haben mich damals in Ihrer Rede für diese Forderung mit
Häme überschüttet. Die Debatte war nach Ihrer damaligen
Ansicht unnötig. Sie appellierten an das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Steuerzahler und zweifelten an
meinen „hellseherischen Fähigkeiten“.
({4})
Dabei vergaßen Sie, dass ich mir als Ostdeutscher ein
gesundes Maß an Skepsis und Realismus in Bezug auf
Planzahlen bewahrt habe. Meine Aussagen haben sich
später voll bewahrheitet und meine Forderungen wurden
erfüllt. Zwei Monate später wurde unserem Drängen
nachgegeben und sogar 70 Millionen DM für eine zweite
Marketingkampagne zur Verfügung gestellt.
Rasant stiegen die Besucherzahlen, doch die Maßnahmen kamen zu spät, um das Einnahmendefizit entscheidend zu minimieren. Meine Vorredner sind darauf schon
eingegangen.
Meine Damen und Herren, bei Gesamtausgaben von
10,5 Milliarden DM für die Expo 2000 wurden in zwei
Stufen nur circa 140 Millionen DM für die Vermarktung
Ihrer „gelungenen Inszenierung“ ausgegeben.
Herr Kollege Brähmig,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Brähmig, Sie
haben in Ihrem Beitrag die Versäumnisse der Bundesregierung angeprangert. Bis 1997 hat das Management der
Expo, das vom damaligen Ministerpräsidenten Albrecht,
bekanntlich CDU, und Bundeskanzler Kohl eingesetzt
wurde,
({0})
mehrmals gewechselt.
({1})
- Schröder war aber damals noch nicht Ministerpräsident,
Herr Hirche. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Aber
jetzt bin ich dran. Sie können später selbst eine Frage stellen.
Birgit Roth ({2})
Ich möchte von Ihnen gern wissen, ob Sie glauben,
dass die Maßnahmen, die in der Zeit ab Mitte 1998/1999
getroffen wurden, die Fehler der Jahre 1990 bis 1997, in
denen wirklich die Geschäftsführer, die Sprecher, die Manager - ({3})
- Ich sagte ja: Glauben Sie wirklich, dass die Maßnahmen
ausgereicht hätten, um die Versäumnisse dieser sieben
Jahre wettzumachen?
({4})
Frau Kollegin Irber, ich
glaube, wir sind uns darin einig - das haben wir im Ausschuss im Konsens debattiert -, dass es an dem Produkt
- ich habe schon versucht, das darzustellen - trotz des
Wechsels von Personen und auch bei den Strukturen nicht
gemangelt hat. Es hat vielmehr eindeutig Mängel in der
Vermarktung gegeben. Das sagt jeder, der sich mit der
Sache beschäftigt.
Wir haben ausreichend und recht frühzeitig darauf hingewiesen. Wir sind auch auf Initiative unseres Ausschussvorsitzenden, Herrn Kollegen Hinsken, mehrfach in Hannover gewesen und haben uns dort an hochkarätiger Stelle
informiert. Wir haben die Verantwortungsträger nach
Bonn und nach Berlin eingeladen. Wir haben mit der BCG
über das Auslandsmarketing verhandelt.
Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass all das, was
gesagt worden ist, nicht umgesetzt worden ist; ob das
Norwegen, Schweden, Österreich oder die Schweiz betrifft, überall Fehlanzeige.
({0})
Eine Expo kann nur letztendlich funktionieren - das ist
uns allen klar -, wenn ein Mix aus internationalen und
einheimischen Gästen - wie es in Sevilla der Fall war und
wie es, da bin ich sicher, in den nächsten Jahren auch in
Japan gelingen wird - ein solches Event besucht.
({1})
Dies war bei uns nicht der Fall. Das können Sie nicht abstreiten.
({2})
Meine Damen und Herren, von der Marketingsumme
in Höhe von 140 Millionen DM gingen nur
38 Millionen DM in die Auslandsvermarktung - kein
Wunder, dass nur 17 Prozent der Besucher aus dem kaufkraftstarken Ausland den Weg nach Hannover fanden. Bei
der Weltausstellung in Sevilla betrug der Anteil der ausländischen Besucher noch 34 Prozent.
Was ich jetzt sage, tut mir zwar Leid, aber es ist der
Sachverhalt: Auf diese Weise degenerierte die Weltausstellung in Hannover zu einer größtenteils norddeutschen Nabelschau.
({3})
Die große Chance, das wiedervereinte Deutschland als
gastfreundliche, innovative und moderne Kulturnation
auf die Weltbühne zu rücken, wurde unzureichend genutzt.
Ich frage Sie, Frau Roth: Sind Sie bereit, eine Teilverantwortung für das Defizit von 2,4 Milliarden DM gegenüber dem Steuerzahler zu übernehmen?
({4})
Herr Kollege
Brähmig, Sie haben zwar Frau Roth gefragt, aber Frau
Roth hat jetzt eine Frage an Sie. Gestatten Sie die?
Ja. Die eine noch, dann
ist Schluss.
Herr Kollege Brähmig,
Sie haben eben die Expo als norddeutsche Nabelschau bezeichnet. Glauben Sie wirklich, dass dieses Nachkarten
nach einem Dreivierteljahr dem Standort Deutschland
oder dem Messestandort Hannover in irgendeiner Weise
zuträglich ist?
({0})
Sie werden nicht abstreiten können, dass der Sachverhalt, den ich mit diesen
Worten beschrieben habe, durchaus zutrifft, wenn Sie sich
die Struktur der Besucherströme anschauen, die im Wesentlichen aus dem Raum Hannover, aus Hamburg, aus
Sachsen-Anhalt und aus Niedersachsen kamen.
({0})
Darüber kann man sicherlich streiten. Ich lasse diese Aussage mal so im Raume stehen.
({1})
Was fehlte der EXPO 2000 weiterhin, um ein Zuschauermagnet zu sein? Meines Erachtens fehlte ihr ein identitätsstiftendes Symbol wie der Eiffelturm in Paris oder das
Atomium in Brüssel, das die Thematik „Mensch - Natur - Technik“ bildhaft veranschaulicht.
Im Transrapid schlummerte dieses Potenzial.
({2})
Der moderne Mensch wird von Mobilität, Flexibilität und
schneller Kommunikation bestimmt. Der Transrapid verursacht keine klimagefährdenden Emissionen und ist im
Vergleich zu anderen Verkehrssystemen im Hinblick auf
den Flächenverbrauch genügsam.
({3})
Der Transrapid stellt zurzeit wie kaum ein anderes
deutsches Produkt die technische Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft dar. Leider hat die rot-grüne Bundesregierung unseren Vorschlag zum Spatenstich bzw.
zum Startschuss für die erste Transrapidstrecke auf deutschem Boden während der EXPO 2000 nicht umgesetzt,
obwohl das Land Niedersachsen - SPD-regiert - den
Transrapid als weltweites EXPO-Projekt angemeldet
hatte. Die Kollegen in Niedersachsen, auch die der SPD,
wären natürlich sehr erfreut gewesen, wenn der Transrapid zu solch einem Projekt geworden wäre. Dank
Rot-Grün werden sich chinesische Städte in Zukunft mit
deutscher Hightech gelungen inszenieren - ein Treppenwitz der Industriegeschichte, übrigens, wie uns allen bekannt, nicht der erste und nicht der einzige.
Abschließend stellt sich die Frage: Was von der
EXPO 2000 war wirklich gelungen und wie können wir
dies für die Zukunft des Tourismusstandorts Deutschland - Kollege Burgbacher hat dazu schon einige Anregungen gemacht - nutzen? Die farbenfrohen Kulturveranstaltungen auf der EXPO 2000 mit ihrer internationalen Vielfalt waren eine wirklich gelungene Inszenierung. Sie erfreuten sich des größten Interesses. Von
diesen Erfahrungen kann zum Beispiel die Fußballweltmeisterschaft 2006 profitieren. Bund, Länder und die
WM-Austragungsorte sind schon heute aufgerufen, aktiv
zu werden. Durch ein buntes Kulturprogramm können wir
unserer Bevölkerung die gottgewollte Vielfalt und Schönheit anderer Kulturen vermitteln.
Gleichzeitig zeigen wir den Fans der Gästemannschaften nicht nur die Attraktivität Deutschlands; vielmehr geben wir ihnen auch ein Stück Heimat in der Fremde. Die
Fans werden nachher als Botschafter deutscher Gastfreundschaft in die Heimat zurückkehren - ein Beitrag
für gelebte Völkerverständigung und eine wirklich gelungene Inszenierung des Tourismusstandortes Deutschland
auf der Weltbühne.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 14/6332 zum Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Weltausstellung EXPO 2000 als Chance für den Wirtschafts- und
Tourismusstandort Deutschland nutzen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3374 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und
der F.D.P. angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4008 und 14/5883 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es
besteht im gesamten Hause Einverständnis. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
10. - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung
im gewerblichen Güterkraftverkehr ({0})
- Drucksache 14/5446 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung
im gewerblichen Güterkraftverkehr ({2})
- Drucksache 14/5934 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({4})
- Drucksache 14/6305 Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm-Josef Sebastian
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung
der Verordnung ({6}) Nr. 881/92 des Rates
vom 26. März 1992 über den Zugang zum Güterkraftverkehrsmarkt in der Gemeinschaft
für Beförderungen aus oder nach einem Mitgliedstaat oder durch einen oder mehrere Mitgliedstaaten hinsichtlich einer einheitlichen
Fahrerbescheinigung
KOM ({7}) 751 endg.; Ratsdok. 13905/00
- Drucksachen 14/5172 Nr. 2.71, 14/6305 Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm-Josef Sebastian
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wettbewerb ist
allgemein der Motor der Marktwirtschaft; er ist ein effizientes Instrument zur Kostensenkung und zur Produktivitätssteigerung sowie eine wesentliche Grundlage für
Wachstum und Beschäftigung. Voraussetzung ist aber: Er
ist fair. Die Liberalisierung des Transportmarktes in Europa haben einige Unternehmen dazu genutzt, sich ungerechtfertigt Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. So, wie
der Markt jetzt ist, ist er nicht fair.
Seit Einführung der Kabotagefreiheit in der EU am
1. Juli 1998 nehmen in Deutschland die Probleme der illegalen und missbräuchlichen Beschäftigung von Arbeitnehmern aus Nicht-EU-Staaten zu. In- und ausländische
Transportunternehmer haben Wettbewerbsvorteile, indem
sie beim Einsatz von Fahrern Regelungen des Aufenthalts-, des Arbeitsgenehmigungs- und des Sozialversicherungsrechts verletzen oder umgehen.
Immer häufiger beschäftigen Unternehmen mit Sitz in der
EU auf ihren dort zugelassenen Fahrzeugen Fahrer aus
Osteuropa. Diese werden zu extrem niedrigen Löhnen für
Transporte eingesetzt. Die Folge ist ein ruinöser Preisdruck für das gesamte Transportgewerbe. Hinzu kommen
die gemeinwirtschaftlichen Schäden durch Wettbewerbsverzerrungen, Ausfälle bei Steuern und Sozialbeiträgen
sowie negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.
Obwohl diese Folgen absehbar waren, hat die alte Bundesregierung keinerlei Vorkehrungen dagegen getroffen,
übrigens auch eine Form des „Weiter so!“
({0})
Wir gehen zum Schutz des deutschen Transportgewerbes konsequent gegen diese Praktiken vor. Wir warten
nicht, bis ein entsprechender Entwurf eines Gesetzes der
EU-Kommission zur Bekämpfung dieses Missbrauchs
verabschiedet ist. Das tun wir im Interesse des deutschen
Transportgewerbes und auch im Interesse eines fairen europäischen Wettbewerbs.
({1})
Ein kurzer Satz zu dem Änderungsantrag der
CDU/CSU: Die in unserem Gesetzentwurf vorgesehene
Ausweitung der Verladerhaftung auf Fälle von Fahrlässigkeit destabilisiert den Güterverkehrsmarkt nicht. Im
Gegenteil: Ihr Vorschlag, die Verladerhaftung auf Fälle
von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit zu beschränken,
würde definitorische Graugrenzen schaffen
({2})
und die geplante Zielsetzung des Gesetzes ins Leere laufen lassen. Die Regelungen für das Transportgewerbe
können im Übrigen auch nicht mit denen für die Bauwirtschaft verglichen werden, weil diese den steuerlichen Bereich betreffen und nichts mit den von uns geplanten Regelungen zu tun haben.
({3})
Mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung
der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr stoppen wir den ruinösen Preis- und Wettbewerbsdruck zulasten der gesetzestreuen Unternehmer und
wir verhindern illegale Beschäftigung. Wir haben folgende Sofortmaßnahmen vorgesehen: Pflicht des Unternehmers, nur Fahrer einzusetzen, die ihre Arbeitsgenehmigung im Original mit einer amtlich beglaubigten
Übersetzung bzw. ein entsprechendes Negativattest mit
sich führen; Ausdehnung dieser Verpflichtung auch auf
die Verlader; Verpflichtung der Verlader, nur solchen Unternehmen Aufträge zu geben, die Inhaber einer Erlaubnis
oder Gemeinschaftslizenz sind; deutliche Erhöhung der
Bußgelder für Verstöße gegen diese Pflichten und Kontrollzuständigkeit des Bundesamtes für Güterverkehr für
die Einhaltung der Bestimmungen des Aufenthalts-, des
Arbeitsgenehmigungs- und des Sozialrechtes von Fahrern
aus Drittländern.
Unser Ziel lautet: Wettbewerb ja, aber zu fairen Bedingungen, und das überall. Unser Gesetzentwurf ist ein
wichtiger Schritt in diese Richtung. Wir lösen mit ihm
- das muss auch gesagt werden - ein Versprechen ein,
das die Regierung und vor allem die sie tragenden Koalitionsfraktionen dem Transportgewerbe gegeben haben.
Heute ist der Tag, an dem wir dieses Versprechen einlösen. Darüber können wir alle sehr froh sein.
({4})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Wilhelm-Josef
Sebastian.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau
Staatssekretärin, Sie haben behauptet, dass die alte Bundesregierung in dieser Frage nie etwas unternommen
habe. Ich muss das zurückweisen. Sie haben angedeutet,
dass Sie unserem Änderungsantrag nicht zustimmen werden. Das ist uns unverständlich, weil Ihre Regierung und
Ihre Koalitionsfraktionen ähnliche Formulierungen in den
Regelungen für das Baugewerbe gewählt haben. Wir
glaubten, einen guten Vorschlag für das Transportgewerbe
zu machen.
Heute wird ein wichtiges Gesetz beschlossen, um in einem Bereich des sich öffnenden Europas eine große
Lücke zu schließen. Seit der Öffnung des europäischen
Marktes für Kabotage hat die illegale Beschäftigung im
gewerblichen Güterkraftverkehr in Besorgnis erregendem
Maße zugenommen. Mit der jetzt bevorstehenden gesetzlichen Regelung wird in Deutschland ein erster Schritt gemacht, um die illegale Beschäftigung einzudämmen. Damit wird der europaweit geplanten Einführung einer
einheitlichen Fahrerlizenz vorgegriffen und auf europäischer Ebene klargemacht, dass Deutschland hier keine
Kompromisse macht.
Unsere gemeinsamen Ziele sind die Wahrung eines
freien Wettbewerbs, faire Wettbewerbschancen für unsere
deutschen Unternehmen,
({0})
die Wahrung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen für
alle eingesetzten Fahrer und die Gewährleistung von Verkehrssicherheit auf unseren Straßen. In der parlamentarischen Beratung ist sehr schnell klar geworden, dass in
diesen Fragen eine grundlegende Übereinstimmung zwischen Regierung und Opposition besteht.
({1})
Dies ist auch bereits in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes sowie bei den Ausschussberatungen deutlich geworden.
Eine Frage jedoch hat sich als Knackpunkt erwiesen,
nämlich die Frage der Verladerhaftung. Soll der Auftraggeber die Verantwortung übernehmen, wenn der von
ihm beauftragte Spediteur Fahrer illegal beschäftigt?
Wenn ja: In welchem Rahmen soll er haften und wie soll
er seiner Sorgfaltspflicht nachkommen? Diese scheinbar
marginale Frage ist in der äußerst komplexen Wirtschaftswelt von nicht zu unterschätzender Tragweite. Logistische Verkehrsbewegungen gehören sicher zu den
kompliziertesten Abläufen, die es in einer arbeitsteiligen
Ökonomie zu organisieren gilt. Gerade an diese Tatsache
knüpfen sich die entscheidenden Fragen. Wie soll der
neue § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes verstanden
werden, wenn es heißt, dass ein Auftraggeber einen Auftrag nicht ausführen lassen darf, wenn er weiß oder fahrlässig nicht weiß, dass sich der Spediteur einer illegalen
Beschäftigung schuldig macht?
Juristisch und politisch unstrittig ist sicher der Fall des
Vorsatzes. Selbstverständlich muss der Auftraggeber, der
solche illegalen Praktiken wissentlich unterstützt, mit zur
Rechenschaft gezogen werden. Gerade daran setzt die
Regelung unseres Entwurfs an, weil aus der Tatsache,
dass Anbieter und Nachfrager von Transportleistungen
gesetzliche Regelungen missachten, kein wirtschaftlicher Profit gezogen werden darf. Eine solche Regelung
ist auch ordnungspolitisch zu vertreten. Sie alle wissen,
dass sich Wettbewerb nur im Rahmen der Gesetzesnormen und niemals unter Missachtung von Gesetzen
vollziehen darf.
Für die aktuelle Diskussion relevant ist damit nur der
Bereich der Fahrlässigkeit. Alle Teilnehmer der Arbeitsgruppen wissen, dass es zu dieser Frage im Vorfeld
zahlreiche Eingaben von Verbänden gegeben hat, seien
es die Spediteure oder die Wirtschaftsverbände als Sachwalter der potenziellen Auftraggeber. Wir wissen aber
auch alle, dass es eine Kompromisslinie gibt, auf die sich
die beteiligten Fachleute mit den Ministerien geeinigt haben.
Gestatten Sie, dass ich diese Linie hier kurz skizziere:
Grundsätzlich muss der Auftraggeber von der Gesetzestreue des Spediteurs ausgehen können, so wie das auch in
allen anderen Wirtschaftsbereichen der Fall ist. Die Tatsache, dass wir illegale Beschäftigung im Güterkraftverkehr als Problem erkannt haben, gibt uns nicht das Recht,
eine ganze Branche gleichsam von vornherein zu
kriminalisieren.
({2})
Ausgehend von der Vermutung der Rechtstreue des
Vertragspartners kann sicher nur eine stichprobenartige
Kontrolle der Papiere durch den Auftraggeber verlangt
werden. Soll allein die Tatsache, dass nicht jeder Transport kontrolliert wird oder werden kann, als fahrlässiges
Handeln ausgelegt werden? Nach unserer Meinung wäre
das nicht richtig.
Nach unserer Meinung muss es nachvollziehbare Kriterien geben, an denen sich ein Anfangsverdacht eines
Auftraggebers, der ihn zum Handeln veranlassen sollte,
festmachen lässt. Nicht zu Unrecht ist die Kombination
eines sehr niedrigen Angebotspreises durch den Spediteur
in Verbindung mit einer mehrmaligen Unzulänglichkeit
der kontrollierten Papiere als beispielhafter Anhaltspunkt
ausgemacht worden.
Fakt ist, dass eine Kontrolle durch den Auftraggeber
umso schwieriger wird, je weiter er von der Organisation
und Durchführung des Transportes entfernt ist. Dies sollte
ein klarer Anhaltspunkt dafür sein, dass die Kontrollpflicht durch den Auftraggeber umso geringer ist, je weiter er vom Transportgeschehen entfernt ist. An dieser
Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es auch im
Bereich des Güterkraftverkehrs grundsätzlich Aufgabe
staatlicher Stellen sein sollte, Gesetzesnormen zu kontrollieren. Wenn wir eine solche Kontrolle von privaten
Vertragsparteien im Übermaß verlangen, so leisten wir einer Reglementierung und Bürokratisierung des Wirtschaftslebens in Deutschland Vorschub.
({3})
Die Diskussion dieses Fragenkomplexes hat uns von
der CDU/CSU-Fraktion zu der Überzeugung gebracht,
dass letztlich nur eine Verdeutlichung der Formulierung
die Rechtssicherheit der Beteiligten erheblich erhöhen
wird. Daher schlagen wir eine veränderte Formulierung
von § 7 c des Gesetzentwurfes in dem Sinne vor, dass der
Auftraggeber nur haften soll, wenn ihm grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Es ist unsere Überzeugung, dass
das realistischerweise Machbare im heutigen Logistikgeschehen einer großen Volkswirtschaft am ehesten durch
diese Formulierung abgebildet werden kann. Wenn man
Juristendeutsch für die Menschen verständlich machen
will, so heißt Fahrlässigkeit doch: Das kann jedem passieren. Grobe Fahrlässigkeit bedeutet dann: Das hätte
nicht passieren dürfen.
Wir würden uns freuen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie diesen Weg des Kompromisses und des
Ausgleichs mit uns gehen könnten, und fordern Sie auf,
unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Albert
Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gestern haben 420 Beamte des Bundesgrenzschutzes, des Zolls, der Steuerfahndung und des
Bundeskriminalamtes in der saarländischen Stadt Perl die
Geschäftsräume einer bundesweit tätigen Spedition
durchsucht. Nach Mitteilungen der Staatsanwaltschaft hat
diese Spedition Fahrer aus früheren Ostblockstaaten zu
Dumpinglöhnen beschäftigt. Die Razzia, die übrigens
auch in zwölf weiteren Niederlassungen der Spedition in
ganz Deutschland stattgefunden hat, hat zutage gefördert,
dass offenbar Monatslöhne in der Größenordnung von
100 DM pro Fahrer plus 10 Pfennig pro gefahrenen Kilometer gezahlt worden sind. Dieses aktuelle Beispiel illustriert, wie ich finde, in beeindruckender Weise, wie verkommen, wie kaputt und wie selbstzerstörerisch der
Markt im speditierenden Gewerbe inzwischen geworden
ist.
({0})
- Auf Schwyzerdütsch kann man auch „speditieren“ sagen.
({1})
Nun sind wir uns, glaube ich, alle darin einig, dass es
höchste Zeit ist, dass wir regulierende Maßnahmen - nicht
nur im Sinne der Beschäftigten, sondern auch im Sinne
der Verkehrssicherheit - ergreifen. Genau das tun wir mit
dem Gesetz, das heute zur Abstimmung und zur Schlussberatung vorliegt.
Das Europäische Parlament hat zu Beginn dieses Jahres eine Studie zum Sozialdumping im Straßengütertransportgewerbe durch Unternehmen aus Drittländern
veröffentlicht und dabei zutage gefördert, dass das Lohnund Sozialkostengefälle zwischen Deutschland und einigen Ländern Mittel- und Osteuropas bei 10:1 liegt, dass
sich die Löhne also um den Faktor zehn unterscheiden.
Das bewirkt genau jenes Sozialdumping, das hierzulande
Arbeitsplätze gefährdet und darüber hinaus die Verkehrssicherheit in den EU-Mitgliedstaaten massiv in Mitleidenschaft zieht.
In derselben Studie werden - ich möchte das gerne
wörtlich zitieren - „die missbräuchliche Verwendung und
Fälschung von Lizenzen sowie die illegale Beschäftigung
von Fahrern aus Drittländern auf Fahrzeugen, die in der
Gemeinschaft zugelassen sind“, als wesentliche Missbrauchstatbestände konstatiert. Insbesondere wird in dieser Studie die Kontrolllücke reklamiert, die darin besteht,
dass es keine EU-einheitliche Fahrerbescheinigung gibt,
die es ermöglicht, im Inland wie im Ausland die Rechtmäßigkeit des Fahrereinsatzes zu überprüfen.
Genau in diese Regelungslücke stoßen die gesetzlichen
Bestimmungen vor, die wir heute beschließen werden. Im
Vorgriff auf beabsichtigte EU-Lösungen beschließen wir
heute im Deutschen Bundestag als Sofortmaßnahme die
Normierung der Pflicht eines jeden Transportunternehmens, nur noch Fahrer einzusetzen, die eine Arbeitsgenehmigung im Original mit einer amtlich beglaubigten
Übersetzung bzw. ein entsprechendes Negativtestat mit
sich führen.
Wir beschließen heute - nämlich durch die Änderung
des § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes - dass die Ausdehnung dieser Verpflichtung auch die Verlader trifft. Das
heißt im Klartext: Wer zukünftig als Auftraggeber, als
Verlader, arglistig vom Transportunternehmer getäuscht
wird, muss nicht mit Strafe rechnen. Wer aber fahrlässig
handelt, indem er wegschaut und sich nicht vergewissert,
dass er es mit legitimen Auftragnehmern zu tun hat, ist
möglicherweise verantwortlich. Ich finde diese Formulierung der Fahrlässigkeit durchaus richtig und angemessen.
({2})
Damit wird die gesamte Transportkette vom Verlader
über den Transportunternehmer im engeren Sinne in die
Mitverantwortung einbezogen.
Des Weiteren wird in beträchtlichem Umfang das bei
Verstößen gegen dieses Gesetz angedrohte Bußgeld erhöht. Darüber hinaus wird die Zuständigkeit des Bundesamtes für Güterverkehr für die Kontrolle festgehalten, das
übrigens auch mit zusätzlichen Mitteln, zusätzlichem Personal und zusätzlichen Fahrzeugen ausgestattet wird.
Summa summarum ist dies, glaube ich, heute ein wesentlicher Schritt zur Regulierung eines ruinösen Konkurrenzkampfes, der letztlich zulasten aller geht, vor allem aber zulasten der mittelständischen Transportunternehmen. Diese wollen wir schützen. Wir wollen keinen Wettbewerb mit unlauteren Mitteln, sondern wir wollen fairen Wettbewerb. Wir wollen die Einhaltung von Sozialstandards. Dafür lassen Sie uns, liebe Kolleginnen und
Kollegen, heute möglichst gemeinsam sorgen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht der Kollege Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schmidt, es wird Sie überraschen, dass ich mit den
wesentlichen Inhalten Ihres Vortrags durchaus einverstanden bin. Das ist gar nicht die Konfliktlinie. Auch wir sehen das Problem.
({0})
Wir haben immer kritisiert, dass Sie das, was am Schluss
kommen sollte, zuerst machen, und das in einer Zeit, in
der Sie - im Gegensatz zu uns, die wir vor der Kabotagefreigabe am 1. Juli 1998 die Steuern gesenkt und zumindest seit 1994 keine Mineralölsteuererhöhung mehr vorgenommen haben - drei Stufen der Ökosteuer mit
18 Pfennig plus Umsatzsteuer eingeführt haben. Darüber
hinaus haben Sie die AfA-Tabellen verschlechtert und im
letzten Jahr Ausnahmeregelungen für die Konkurrenz in
Europa zugestimmt, durch die das deutsche Gewerbe benachteiligt wird. Sie haben eine Steuerreform gegen den
Mittelstand gemacht. Ferner haben Sie - jetzt erst wieder - weitere Steigerungen bei den Lohnnebenkosten zugelassen. Nach wie vor haben Sie keine verlässlichen Entlastungen zum 1. Januar 2003 für die Umstellung der
LKW-Gebühr von Zeit auf Strecke zugesagt. Es gibt
nichts außer der blumigen Äußerung, dass es dann zu einer größtmöglichen Harmonisierung auf europäischem
Niveau kommen muss, was auch immer das heißen mag.
({1})
Vor dem Hintergrund all dieser Themen, die wir immer
kritisiert haben, kommt jetzt Ihre Aussage, dass Sie nun
ein Problem lösen müssen. Zugegeben, es handelt sich um
ein Problem. Es wäre aber wahrscheinlich ein sehr viel
kleineres Problem in Deutschland, wenn Sie all das, was
ich eben aufgezählt habe, nicht beschlossen hätten.
({2})
Nun kommen wir zum eigentlichen Thema. Der
Knackpunkt ist - das wird eine juristische Überprüfung
jederzeit ergeben -, dass Sie die verladende Wirtschaft in
Deutschland bereits bei einfacher Fahrlässigkeit voll in
die Haftung nehmen. Herr Kollege Schmidt, es stimmt
eben nicht, dass Wegschauen eine einfache Fahrlässigkeit ist. Nach BGB handelt fahrlässig, wer die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Zur Definition
heißt es in der Kommentierung im Palandt zu § 277 BGB:
Einfache Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn die Handlung
als Fehlverhalten gedeutet werden kann, die jeder Person
passieren kann. Das ist mit Wegschauen noch lange nicht
erreicht. Anders verhält es sich bei der groben Fahrlässigkeit, bei der subjektive Maßstäbe angelegt werden.
Mir leuchtet immer noch nicht ein, warum Sie in dem
Gesetzgebungsverfahren betreffend die Bekämpfung der
illegalen Beschäftigung im Baugewerbe bei Steuerhinterziehung die grobe Fahrlässigkeit ansetzen, während Sie
bei der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im
Transportbereich auf einmal die einfache Fahrlässigkeit
konstruieren und damit einer Rechtsunsicherheit Tür und
Tor öffnen. Wie groß diese Unsicherheit ist, kann man daraus ersehen, dass es den beteiligten Verbänden DIHT,
BDI, BGL und BSL sowie der Regierung nicht gelungen
ist, sich in ihrem Gespräch Anfang April auf eine einheitliche Regelung zu verständigen, obwohl die Transportverbände zugestanden haben, dass nicht jede Fahrlässigkeit bestraft werden soll. Hierüber kam aber keine
einheitliche Definition zustande. Deswegen habe ich bereits in der Ausschusssitzung darauf hingewiesen, dass
hier mehr rechtliche Übereinstimmung vonnöten ist. Ich
habe dem Haus die Fundstelle - wir haben das zu Zeiten
unserer Regierung beschlossen - gezeigt, weil es sie nicht
gekannt; aber es hat offensichtlich nicht zum Nachdenken
geführt.
Dem, was heute beschlossen werden soll, können auch
wir zu 99 Prozent zustimmen. Sie brauchen lediglich aus
der einfachen Fahrlässigkeit bei der Haftung des Verladers eine grobe Fahrlässigkeit zu machen, was dem Tatbestand schon allein deswegen angemessen wäre, weil
wir in das Güterkraftverkehrsgesetz in Abstimmung mit
dem Gewerbe die persönliche Zuverlässigkeit ganz bewusst aufgenommen haben. Ein Unternehmer, der in
Deutschland Güterkraftverkehr betreibt und Fahrzeuge
mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als
3,5 Tonnen bewegt, hat bereits jetzt besondere Sorgfaltspflichten zu beachten. Wer dagegen verstößt, müsste
schon nach dem geltenden Güterkraftverkehrsgesetz die
entsprechenden Konsequenzen ziehen. Das ist übrigens
auch eine Aufgabe des Gewerbes.
Wir legen Ihnen nochmals unseren Antrag zur Abstimmung vor. Sollten Sie ihn ablehnen, sehen wir leider keine
Möglichkeit, dem Gesetz insgesamt zuzustimmen.
({3})
Jetzt spricht der Kollege Winfried Wolf für die PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin!
Werte Damen und Herren! Der Tatbestand ist bekannt; er
wurde hier bereits angesprochen. Im LKW-Gewerbe gibt
es Sozialdumping und ruinösen Wettbewerb. Der krasseste Ausdruck dafür sind illegal Beschäftigte in Unternehmen mit Sitz in der Europäischen Union oder im EWR.
Es ist auch angesprochen worden, dass das Lohngefälle
illegal eingesetzter osteuropäischer Arbeiter zu den
EU-Arbeitern bis zu 1:10 ausmacht. Wir wissen, dass es
Bemühungen auf europäischer und jetzt auch auf deutscher Ebene gibt, hier Abhilfe zu schaffen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
machen hier etwas, was sie nachher bei dem CDU/CSUAntrag zum Thema Lokführerschein nicht machen werden, nämlich im nationalen Alleingang etwas zu beschleunigen, was auf EU-Ebene läuft. Im Grundsatz sind
sich alle Parteien einig, dass gegen Sozialdumping und
ruinösen Wettbewerb etwas getan werden muss und dass
die vorgelegten Vorschläge in die richtige Richtung gehen. Ich wiederhole sie an dieser Stelle nicht; sie sind
kompliziert genug.
Die Debatte über § 7 c und den Begriff der groben
Fahrlässigkeit berührt tatsächlich den entscheidenden
Punkt. In der ersten Lesung am 8. März sagte ich, dass ich
unsicher sei, ob die Kritik von CDU/CSU und F.D.P. nicht
doch berechtigt ist. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu
einer anderen Meinung gekommen. Nach dem Lesen der
Ergebnisniederschrift der Besprechung zwischen den
Verbänden und dem zuständigen Ministerium vom
2. April bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Verbände - darunter der BDI, aber auch die ÖTV - eine Vereinbarung unterschrieben haben, in der das fahrlässige
Horst Friedrich ({0})
Nichtwissen relativ verladerfreundlich definiert und festgestellt wurde, dass sogar im Falle extrem niedriger
Transportpreise, die Dumpingpreise zu sein scheinen,
keine erhöhte Sorgfaltspflicht vonnöten sei, sondern man
misstrauisch sein und Rückfragen stellen müsse. Es
wurde sogar gesagt, dass man in solchen Fällen keine Verzögerung der Fracht oder Vertragsstrafen in Kauf nehmen
müsse.
Unter den Bedingungen dürfte das Papier gerichtlich
belastbar sein, wenn Unterschriften darunter stehen. Insoweit ist die Definition korrekt. Wir stimmen daher dem
Gesetzentwurf zu und lehnen wegen der Präzisierung in
dieser Vereinbarung die beiden Änderungsanträge ab.
Wie bereits in der ersten Lesung und wie auch einige Redner in der heutigen Debatte verweisen wir weiterhin darauf, dass damit nur ein Ausschnitt von Sozialdumping
angetippt wurde.
Im Grunde kann die Liberalisierung des EU-Marktes in
diesem Bereich nicht funktionieren, wenn solche krassen
Beispiele von Sozialdumping vorkommen, wie sie Albert
Schmidt zu Beginn seiner Ausführungen dargelegt hat.
Ich verweise weiter darauf, dass vor allem die falsche
Verkehrspolitik - die von uns in einem anderen Sinne als
vom Kollegen Friedrich als falsch definiert wird -, wodurch Verkehr immer billiger wird und immer mehr abstrakte und absurde Arbeitsteilungen produziert werden,
im Zentrum der Debatte stehen müsste.
Danke schön.
({1})
Letzte Rednerin ist die
Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute wirklich sagen: Dies ist ein guter Tag für das mittelständische
deutsche Fuhrgewerbe.
({0})
Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr, das wir
heute beschließen werden, treten wir einer Verschärfung
der schwierigen Wettbewerbssituation des deutschen
Transportgewerbes deutlich entgegen.
Zu oft - die Frau Staatssekretärin hat das schon angesprochen - sind bereits heute auf deutschen Straßen
LKWs unterwegs, die von Fahrern gelenkt werden, die
aus europäischen Drittstaaten kommen und illegal hier arbeiten. Dies hat schon zu Marktstörungen deutlichen Umfangs geführt.
Wir verpflichten deshalb einerseits die Fuhrunternehmer aus den Staaten der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums, auf deutschen Straßen nur Fahrer einzusetzen, die im Staat des Unternehmenssitzes eine
Arbeitsgenehmigung haben. Die Unternehmer müssen
auch dafür sorgen, dass das Fahrpersonal die Arbeitsgenehmigung im Original zusammen mit einer beglaubigten
Übersetzung mit sich führt.
Zum Schutz unseres Gewerbes greifen wir der Einführung der europäischen Fahrerlizenz in diesem Sinne
vor und berechtigen das Bundesamt für Güterverkehr
zukünftig, die Arbeitsgenehmigungen der Fahrer zu kontrollieren.
({1})
Es ist heute in der Diskussion schon deutlich geworden: Die Beschäftigung von illegalen Fahrern wäre ohne
die stillschweigende Duldung eines Teils der verladenden
Wirtschaft - das sind beileibe nicht alle - schon bisher
schlicht nicht möglich gewesen.
({2})
Machen wir uns nichts vor: Dem Verlader muss es auffallen, wenn der Transportpreis eines Spediteurs regelmäßig
niedriger ist als der seiner Konkurrenten,
({3})
wenn die Fahrer immer aus Osteuropa kommen und wenn
bestimmte Dokumente nicht freiwillig vorgelegt werden.
({4})
Sicherlich haben diese schwarzen Schafe unter den
Verladern auch einen nicht unerheblichen finanziellen
Vorteil aus der illegalen Beschäftigung. Wäre dem nicht
so, dann wäre auch die Wettbewerbsverzerrung im Fuhrgewerbe, die durch diese Praxis mitbestimmt wird, anders, als sie ist.
Der Bericht des Europäischen Parlaments ist bereits
vom Kollegen Schmidt angesprochen worden. Dort
spricht man von Preisunterschreitungen von bis zu
30 Prozent. Deshalb haben wir in das Gesetz die so genannte Verladerhaftung aufgenommen. Wir wollen damit bewirken, dass zukünftig Verlader und Spediteure ein
wirkliches Interesse an der Durchführung der Transporte
nach Recht und Gesetz haben.
({5})
Genau hier scheiden sich die Geister. Das Gesetz verwendet in § 7 c - wir haben das von den Kollegen schon ausführlich gehört - den Begriff des fahrlässigen Nichtwissens. Seit Mitte Mai drängt nun insbesondere der BDI
darauf, diesen Begriff durch den des grob fahrlässigen
Nichtwissens zu ersetzen. Die F.D.P. und die CDU/CSU
haben diese Idee in ihrem Antrag aufgenommen.
({6})
Aber auch nach reiflicher Überlegung können wir diesem
Begehren nicht folgen. Der Begriff der Fahrlässigkeit
nach § 276 BGB wird in der juristischen Literatur - als
Dr. Winfried Wolf ({7})
Nichtjuristin muss man das nachlesen - als das AußerAcht-Lassen der erforderlichen Sorgfalt beschrieben.
({8})
Wer also als Verlader in diesem Sinne fahrlässig nicht
wissend einem Fuhrunternehmer oder Spediteur sein Gut
zur Beförderung anvertraut, das heißt bewusst nicht überprüft, ob dieser Unternehmer seine Fahrer nach Recht und
Gesetz einsetzt, wird zukünftig eventuell mit einem hohen
Bußgeld rechnen müssen.
({9})
Der Verlader muss sich - das ist der Sinn hinter diesem
Gesetz - so weit wie möglich um diese Erkenntnis
bemühen. Er muss Stichproben machen und sich nach Anzeichen erkundigen. Der Formulierung im vorliegenden
Gesetz haben übrigens auch der Bundesrat und bei Abstimmungsgesprächen Anfang April zunächst auch alle
befragten beteiligten bzw. betroffenen Gruppierungen
einschließlich des BDI und des Deutschen Industrie- und
Handelstages zugestimmt. Erst Mitte Mai kam dann der
Sinneswandel.
({10})
- Mit mir haben sie doch gesprochen, wahrscheinlich genauso wie mit Ihnen, Herr Friedrich.
Lassen Sie mich ganz klar sagen: Wer hier ein grob
fahrlässiges Nichtwissen einführen möchte, muss zur
Kenntnis nehmen, dass eine Formulierung - die ich gefunden habe - bezüglich der groben Fahrlässigkeit besagt,
dass die verkehrsübliche Sorgfalt in besonders grobem
Maße verletzt wird, dass also selbst einfachste, jedem einleuchtende Überlegungen nicht angestellt werden. Das
heißt, der Verlader müsste erst tätig werden, wenn es sehr
offenkundige Hinweise auf die Illegalität des Beschäftigungsverhältnisses gibt, wenn sich ihm also die Erkenntnis über das illegale Beschäftigungsverhältnis förmlich
aufdrängt, sodass er die Augen davor nicht mehr verschließen kann. Das ist - so meine ich - zu spät und das
ist uns zu wenig. Würden wir uns hier nur auf die grobe
Fahrlässigkeit beschränken, wären dem Gesetz alle Zähne
gezogen, die es hat.
({11})
Wir würden insbesondere der aktiven Rolle, die der Verlader bei dem Geschäft spielt, mit dieser Regelung nicht
gerecht.
({12})
Auch der Hinweis auf das Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe geht wegen des völlig
anderen Kontextes, in dem die grobe Fahrlässigkeit dort
angeführt wird, in die Irre. Sie haben es doch nachgelesen: Es geht um den § 48 Abs. 3 EStG. Dort wird die Haftung des Auftraggebers bei grob fahrlässiger Unkenntnis
geregelt. Diese Unkenntnis bezieht sich aber nur auf die
rechtswidrige Erlangung der vom Bauunternehmer zu beantragenden Freistellungsbescheinigung.
({13})
Frau Kollegin, auch
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Es gibt außerdem
eine ganze Reihe anderer Beispiele: Sowohl im Arbeitnehmer-Entsendegesetz, im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz als auch im Zollrecht stellen fahrlässige Verstöße
gegen Rechtsvorschriften eine Ordnungswidrigkeit dar.
Fest steht: Würden wir dem Drängen nachgeben, ließen
wir unser Fuhrgewerbe im Regen stehen.
({0})
Genau das wollen wir nicht, das ist nicht das Ziel dieses
Gesetzentwurfes.
Frau Kollegin Graf,
Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Das sollten sich
auch die Antragsteller überlegen. Wir bitten Sie deshalb
um Zustimmung für den Gesetzentwurf und dass Sie den
Änderungsantrag der F.D.P. und der CDU/CSU mit uns
ablehnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/6305.
Der Ausschuss empfiehlt unter II seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr
auf Drucksache 14/5446 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Unter I seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr auf Drucksache
14/5934 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu
liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/6360? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen
Angelika Graf ({0})
die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/6361? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Auch dieser Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion
abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
F.D.P.-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt unter Ziffer III seiner Beschlussempfehlung,
den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung über
den Zugang zum Güterkraftverkehrsmarkt hinsichtlich einer einheitlichen Fahrerbescheinigung zur Kenntnis zu
nehmen und eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Dirk Niebel, Birgit Homburger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wehrpflicht aussetzen
- Drucksachen 14/5078, 14/6274 Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt Palis
Paul Breuer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die
F.D.P.-Fraktion ist der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Es bezweifelt niemand, dass
es gute Argumente für eine Wehrpflichtarmee gibt. Die
muss uns niemand nennen. Wer wollte denn die erfolgreiche Geschichte der Bundeswehr in der Nachkriegsgeschichte der alten Bundesrepublik Deutschland, das Verwachsen zwischen Gesellschaft und Armee sowie die
Prinzipien der Inneren Führung bestreiten?
({0})
Aber auch die Befürworter einer Wehrpflicht müssen
heute erklären, wie sie gegenüber einer jungen Generation
in der Bundesrepublik Deutschland angesichts des Endes der bipolaren Welt und einer völlig geänderten sicherheitspolitischen Lage die Wehrpflicht begründen wollen,
({1})
wenn am Ende nur noch 20 Prozent eines Jahrgangs
tatsächlich in der Bundeswehr ihren Dienst versehen.
({2})
Das wäre auf den Plenarsaal übertragen etwa so, als wenn
von allen Abgeordneten nur noch so viele den Dienst tun
würden, wie jetzt noch anwesend sind. Das ist keine
Wehrgerechtigkeit mehr. Mit dem Verfall der Wehrgerechtigkeit verfällt aus unserer und meiner Überzeugung
auch die Wehrpflicht.
Es mag noch so häufig an eine bestimmte Größenordnung der Bundeswehr erinnert und ihre finanzielle Ausstattung schön ausgemalt werden. Selbst die Personalstärke, die die lieben Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU vorschlagen, trägt die Wehrpflicht nicht mehr.
({3})
Das sicherheitspolitische Umfeld trägt sie nicht mehr und
auch nicht mehr die finanzielle Ausstattung.
Wir befinden uns ja im Übrigen in guter Gesellschaft.
({4})
Ich sage dieses jetzt an die Adresse der Sozialdemokraten:
Der von uns sehr geschätzte Wehrbeauftragte hat es
zurückhaltend
({5})
in eine Fragestellung gekleidet. Er hat gefragt, ob überhaupt noch von der allgemeinen Wehrpflicht gesprochen
werden kann, wo doch der immer größere Teil eines Jahrgangs gar nicht eingezogen wird. Ich zitiere immer korrekt, deshalb wiederhole ich es noch einmal: Die Frage
war, ob überhaupt noch von der allgemeinen Wehrpflicht
gesprochen werden kann, wo doch der immer größere Teil
eines Jahrgangs gar nicht eingezogen wird. Die Beantwortung dieser Frage können Sie nicht dauernd verschieben und sich vor einer Entscheidung drücken. Irgendwann
stellt sich Ihnen diese Frage.
({6})
Im Übrigen wäre ich mir gar nicht so sicher, auch wenn
wir jetzt nur eine halbe Stunde diskutieren und unser Antrag mit Sicherheit abgelehnt wird,
({7})
- ja, ja - ob wir uns nicht dereinst wiederbegegnen: Im
Leben sieht man sich meistens zweimal.
({8})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Ich wäre nicht so sicher, ob nicht Karlsruhe alsbald auch
eine Entscheidung trifft, die Ihre Überzeugung infrage
stellt und uns zwingt, uns erneut damit zu befassen.
({9})
Da viele ja immer sagen, die Politik solle lieber selber
Lösungen anbieten, als abzuwarten und dann Gerichtsentscheidungen zur Kenntnis nehmen zu müssen, empfehle ich Ihnen, dieses im Vorgriff politisch zu entscheiden. Ich frage noch einmal die SPD: Wie haben Sie sich
denn beim Thema „Frauen in die Bundeswehr“ verhalten? Sie haben es verschoben und verschoben.
({10})
Wir haben es dauernd gefordert und beantragt. Heute ist
es so weit. Ich sage Ihnen heute voraus, dass dieser Antrag alsbald wieder auf die Tagesordnung kommt und Sie
sehr wahrscheinlich gezwungen sein werden, eine andere
Entscheidung zu treffen.
({11})
Sie sollten Helmut Schmidt
({12})
Beachtung schenken, der darauf hinweist, dass die politisch-psychologische Vorbedingung für die Beibehaltung
des Wehrpflichtprinzips ein hohes Maß an tatsächlicher
Allgemeinheit der Wehrpflicht ist. Ein hohes Maß an
tatsächlicher Allgemeinheit der Wehrpflicht gibt es in der
Bundesrepublik Deutschland nicht mehr. Die Frage danach beantwortet sich ganz einfach.
({13})
Ganz besonders interessant - das habe ich nachgelesen - ist die Haltung der Grünen.
({14})
In einer Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses ist Folgendes festgehalten: Die Position der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist, dass die Wehrpflicht
sicherheitspolitisch nicht für unverzichtbar und verfassungsrechtlich für schwer begründbar gehalten wird. Was denn jetzt, meine Damen und Herren von den Grünen?
({15})
- Man verwendet ja nicht selten gewundene Formulierungen, um um die Lösung eines Problems herumzukommen.
Meine Damen und Herren, angesichts der veränderten
sicherheitspolitischen Lage - im Übrigen im Konzert der
NATO-Mitgliedstaaten, von denen heute zehn von 19
keine Wehrpflichtarmee mehr haben -,
({16})
angesichts der tatsächlichen Lage, dass nur jeder Fünfte
einer Jahrgangsstärke derer, die nach der Verfassung
wehrpflichtig sind, tatsächlich eingezogen werden wird,
und angesichts des Missverhältnisses, dass 40 Prozent Zivildienst leisten und 20 Prozent die Wehrpflicht erfüllen,
während der Verfassungsauftrag eine Priorität für Wehrpflicht und Respekt für Kriegsdienstverweigerer und die
Anerkennung ihrer Leistung als Zivildienstleistende vorsieht, kann doch niemand von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen der verfassungsrechtlichen Pflicht und
der wirklichen Lage sprechen. Sie machen sich doch etwas vor, wenn Sie so über dieses Thema diskutieren.
({17})
Der Bundesverteidigungsminister sagt, es seien mehr
einzuziehen, weil noch Stellen aus anderen Bereichen zur
Verfügung stünden. Tatsache ist aber, dass selbst von denen, die wehrtauglich sind und eingezogen werden könnten, wegen der Haushaltsausstattung nur zwei Drittel eingezogen werden. Das führt das Ganze ad absurdum,
meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen.
({18})
Es mag gute gesellschaftliche Gründe für eine Wehrpflicht und überzeugende Befürworter einer Wehrpflicht
geben, aber der Kaiser hat sein Recht verloren, wenn es
der Wirklichkeit nicht mehr entspricht.
({19})
Es war für meine Partei keine einfache Entscheidung
gewesen. Es gab Gegner und Befürworter.
({20})
Aber wir wollten eigentlich keine politischen Argumente
vortragen, die von der Wirklichkeit geradezu zerschlagen
werden.
({21})
Deshalb empfehlen wir Ihnen, sich der Realität zu stellen,
({22})
angesichts der sicherheitspolitischen Veränderungen die
Wehrpflicht auszusetzen, wie das in bedeutsamen NATOPartnerländern auch geschehen ist, und der jungen Generation keine Wehrpflicht mehr aufzuerlegen, wozu Ihnen
die junge Generation heute aus guten Gründen sagen
kann, dass Sie ihr die Wehrgerechtigkeit nicht mehr garantieren können.
({23})
Wenn das nicht mehr zu garantieren ist, nützen alle
guten, wünschenswerten gesellschaftspolitischen Argumente nichts. Politik darf nicht an der Wirklichkeit vorbeigehen. Deshalb - wenn Sie es heute nicht entscheiden
wollen, werden Sie es später entscheiden müssen - ist das
Ende der Wehrpflichtarmee in der Bundesrepublik
Deutschland gekommen, ob wir es mögen oder nicht. Die
Wehrgerechtigkeit ist eine tragende Akzeptanzsäule unserer Verfassung. Wenn die nicht mehr gegeben ist, kann
niemand eine Wehrpflichtarmee begründen. Herzlichen
Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({24})
Nächster Redner ist
der Kollege Reinhold Robbe von der SPD-Fraktion.
({0})
- Noch habe ich hier vorne das Kommando, Herr Kollege
Niebel.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! So kennen wir ihn: immer für einen flotten Spruch gut. Unabhängig von der Tatsache, dass der Kollege Niebel das gar nicht so meint, will
ich jetzt ein paar Ausführungen zur Sache machen.
Nicht zum ersten Mal beschäftigen wir uns im Deutschen Bundestag mit der allgemeinen Wehrpflicht in
Deutschland. Was die heutige Debatte jedoch von vorherigen Diskussionen unterscheidet, ist die von der F.D.P.Fraktion eingebrachte Forderung nach einer Aussetzung
der Wehrpflicht. Begründet wird dieser Antrag mit dem
knappen Hinweis, die allgemeine Wehrpflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr zwingend notwendig.
Auch wenn dieser Antrag zumindest indirekt die Frage
offen lässt, Herr Gerhardt, ob die Aussetzung zu einem
späteren Zeitpunkt zurückgenommen werden kann,
würde die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht - darüber müssen wir uns im Klaren sein und das müssen Sie
auch dazusagen - praktisch bedeuten, dass wir die Wehrpflicht in Deutschland de facto abschaffen.
({0})
Vollkommen unabhängig von der Tatsache, dass sich
die beiden großen Volksparteien eindeutig und auch ohne
Wenn und Aber für die Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen haben, sollten wir die heutige Aussprache
auch dazu nutzen, noch einmal sehr intensiv darüber
nachzudenken, was eine Abschaffung der Wehrpflicht
tatsächlich für Folgen hätte. Ich plädiere in diesem Fall
also nicht unbedingt dafür: Die Mehrheit ist für die Wehrpflicht - und damit basta! Lassen Sie uns lieber Argumente ins Feld führen.
Wir müssen, wenn wir es mit der Wehrpflicht wirklich
ernst nehmen, sehr verantwortungsvoll und vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Situation, der gesellschaftspolitischen Auswirkungen und nicht zuletzt auch
unter dem Aspekt der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen durchaus sensibel argumentieren.
({1})
Da ist zunächst das Hauptargument derer, die behaupten, aufgrund der seit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs
völlig veränderten sicherheitspolitischen Situation habe
die eigentliche Hauptaufgabe unserer Bundeswehr, nämlich die nationale Landesverteidigung, eine ganz untergeordnete Bedeutung bekommen. Gleichzeitig wird daraus
die nach meiner Auffassung falsche Schlussfolgerung gezogen, bei der Bundeswehr handele es sich heute um eine
reine Interventionsarmee, die praktisch nur noch außerhalb unserer eigenen Landesgrenzen zum Einsatz kommen würde.
({2})
Das Gegenteil, meine Damen und Herren, ist richtig: Die
Landes- und Bündnisverteidigung ist immer noch die
Hauptaufgabe der Bundeswehr,
({3})
auch wenn die Auslandseinsätze auf dem Balkan in der
Öffentlichkeit und im allgemeinen Bewusstsein den Eindruck hinterlassen haben sollten, dass die Notwendigkeit
der Landesverteidigung de facto gar nicht mehr gegeben
sei.
Natürlich müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie sich
die sicherheitspolitische Lage unseres Landes verändert
hat. Wir sind praktisch nur noch von Freunden umgeben,
und wohl niemand im Deutschen Bundestag und auch darüber hinaus wird bestreiten, welch großes Glück unser
Volk aus der Tatsache gewinnt, dass ehemalige Feinde,
die noch vor wenigen Jahren ihre Massenvernichtungswaffen auf uns richteten und umgekehrt vom Westen auch
bedroht wurden, jetzt unsere Bündnispartner werden wollen.
({4})
Dies alles ist richtig, und trotzdem möchte ich nicht
wissen, was beispielsweise unsere wichtigsten Verbündeten in London, in Paris und in Washington dazu sagen
würden, wenn wir die originäre Landesverteidigung als
überholt bzw. überflüssig deklarieren würden. Ohne an
dieser Stelle negative sicherheitspolitische Szenarien entwickeln zu wollen: Wer von uns vermag denn mit hundertprozentiger Sicherheit auszuschließen, dass sich irgendwann sicherheitspolitische Konstellationen ergeben,
die das Thema „Landesverteidigung“ von heute auf morgen wieder auf die Tagesordnung bringen könnten?
({5})
Insofern ist die militärische Landesverteidigung unabdingbare Verfassungspflicht unseres Staates. Die Wehrpflicht ist eine verfassungsrechtlich abgesicherte Pflicht.
({6})
Ihre Einführung war seinerzeit bekanntlich eine Entscheidung von sehr hohem staatspolitischem Rang. Sie wirkt in
sämtliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen
Lebens hinein. Die Ableistung der Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens und ihre Erfüllung ist demokratische Normalität.
Im Jahre 1985 hat das Bundesverfassungsgericht
festgestellt, dass der Verfassungsgeber mit den nachträglich in das Grundgesetz eingeführten wehrverfassungsrechtlichen Bestimmungen eine „verfassungsrechtliche
Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung getroffen“ habe. Demnach haben Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr heute
verfassungsrechtlichen Rang.
({7})
Die allgemeine Wehrpflicht, meine Damen und Herren, wird in dem Urteil als eine „gemeinschaftsbezogene
Pflicht hohen Ranges“ bezeichnet. Aus dieser Verantwortung heraus haben sich bisher alle Bundesregierungen für
die Beibehaltung der Wehrpflicht entschieden. Hierfür
sprechen neben sicherheitspolitischen auch allgemeinpolitische, gesellschaftspolitische und auf Streitkräfte bezogene Erwägungen.
({8})
Ihre erste Begründung erfährt die Wehrpflicht aber in der
Absicht, auch in Zukunft eine funktionstüchtige Landesverteidigung sicherzustellen und einen wesentlichen Beitrag zur Bündnisverteidigung zu leisten.
In diesem Zusammenhang will ich auf einen zusätzlichen Punkt eingehen, der zwar nicht unbedingt von verfassungsrechtlicher Relevanz ist, aber im Hinblick auf die
Weiterentwicklung unserer Gesellschaft trotzdem nicht
vernachlässigt werden darf. Eine Aussetzung der Wehrpflicht, wie sie von der F.D.P. gefordert wird, hätte natürlich automatisch eine Aussetzung des Zivildienstes zur
Folge. Sie hätte darüber hinaus eine Aussetzung aller Ersatzdienste zur Folge. Ich weiß, dies kann nur ein Hilfsargument sein, weil sicherheitspolitische Gründe selbstverständlich absolut im Mittelpunkt der Debatte stehen.
Meine Damen und Herren, zusammenfassend darf ich
für die SPD-Fraktion feststellen:
Erstens. Sicherheitspolitisch hat sich an der Notwendigkeit für die Beibehaltung der Wehrpflicht nichts geändert.
Zweitens. Es gibt viele gute Gründe für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Am Leitbild „Bürger in Uniform“
kann ohne die Wehrpflicht nicht festgehalten werden.
Drittens. Auf der Grundlage der Vorschläge der
Weizsäcker-Kommission hat die Bundesregierung mit
Zustimmung der sie tragenden Parteien beschlossen, die
Wehrpflicht als wesentlichen Bestandteil der künftigen
Struktur unserer Bundeswehr einzuplanen.
Viertens. Unabhängig von tagespolitischen Meinungsverschiedenheiten sind zwei Drittel der Mitglieder des
Deutschen Bundestages der Auffassung, dass die Wehrpflicht auch in Zukunft unverzichtbar ist.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Helmut Rauber.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU lehnt
den Antrag der F.D.P. auf Aussetzung der Wehrpflicht
- was de facto einer Abschaffung gleich kommt - ab.
({0})
Herr Dr. Gerhardt, Ihr Antrag ist nicht sachlich, sondern
rein parteipolitisch motiviert. Dieser Antrag ist ein Tribut
an den Zeitgeist mit dem Ziel, auf eine populistische Tour
Wählerstimmen zu fangen.
({1})
Nur sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass laut einer Emnid-Umfrage zwei Drittel der Bevölkerung nach wie vor
für die Beibehaltung der Wehrpflicht sind, und ich sage:
mit guten Gründen.
({2})
- Ich komme noch dazu.
Es ist ja schon erstaunlich, dass die gleichen F.D.P.-Verteidigungs- und Außenpolitiker, die auf ihrem Parteitag
leidenschaftlich auch mit sicherheitspolitischen Argumenten für die Wehrpflicht gekämpft haben, jetzt plötzlich total die Fronten gewechselt haben.
({3})
Die Faktenlage hat sich in den letzten Monaten nicht verändert.
({4})
Wir leugnen nicht, dass auch uns die sinkende Zahl der
einzuberufenden Wehrpflichtigen große Sorgen macht.
Wenn das neue Wehrpflichtmodell mit rund 53 000
Wehrpflichtigen und 27 000 freiwillig Grundwehrdienst
Leistenden in Zukunft greift, dann können wir, aufs Jahr
gerechnet, noch 85 000 junge Menschen einziehen, je
nachdem, wie viele freiwillig dienen. Diese Zahlen sind
zu niedrig und wir plädieren für eine Aufstockung;
({5})
denn während unserer Regierungszeit waren immerhin
noch 160 000 Wehrdienstleistende in der Bundeswehr.
Ein Teil dieser Lücke lässt sich schließen, wenn wir
von dem erweiterten Sicherheitsbegriff ausgehen und die
jetzt schon vorhandenen Freistellungsmöglichkeiten zum
Beispiel bei der Freiwilligen Feuerwehr, dem THW, dem
Deutschen Roten Kreuz usw. erweitern. Dies würde die
Arbeit der betroffenen Hilfsorganisationen vor allem an
der Schnittstelle zwischen militärischer und ziviler Risikovorsorge stärken.
Wir als CDU teilen die Meinung derer
({6})
- das steht ja auch in Ihrem Antrag -, die meinen, dass die
Wehrpflicht in erster Linie sicherheitspolitisch begründet
werden muss.
({7})
Dies gilt aber nicht nur für die Wehrpflicht, sondern dies
gilt für die Bundeswehr allgemein. Wenn wir allein unsere
momentane Bedrohungssituation betrachten - wobei die
Betonung auf momentan liegt -, dann droht Deutschland
kein militärischer Überfall von irgendeiner finsteren
Macht. Aber wie die bisherige Menschheitsgeschichte gezeigt hat, kann leider niemand eine Garantie dafür geben,
dass dies auf Dauer so bleibt. Ein Blick auf die aktuellen
Krisenherde und Kriege weltweit macht deutlich, dass der
Frieden leider kein Allgemeingut für alle Menschen geworden ist.
({8})
Zur Zeit des Kalten Krieges war Deutschland Bündnisund auch Blockgrenze. Diesseits und jenseits unserer
Grenzen stand ein Zerstörungspotenzial, das jede Vorstellungskraft sprengte. Diese tödlichen Gefahren des Krieges sind bei uns - ich betone: bei uns - Gott sei Dank verschwunden. Nur darf uns das nicht dazu verführen, die an
den Bündnisgrenzen nach wie vor latent vorhandenen
Bedrohungen außer Acht zu lassen und uns aus der Gesamtverantwortung für das Bündnis herauszustehlen.
({9})
Unsere Landesverteidigung beginnt an den Bündnisgrenzen. Nicht von ungefähr wurde die neue NATO-Strategie dahin gehend verändert, Konflikte auf Distanz zu
halten. Wenn wir von diesem Ansatz, dem Unsicherheitsfaktor und der neuen Bündnisgrenze ausgehen, dann gibt
es eine sicherheitspolitische Begründung sowohl für eine
starke Bundeswehr als auch für die Wehrpflicht.
Die strategische Begründung für die Beibehaltung der
Wehrpflicht liegt in unserer exponierten geostrategischen
Lage als stärkste Zentralmacht Europas. Wir als Bundesrepublik Deutschland stehen in der besonderen Verantwortung, ausreichend Kräfte für die Verteidigung Gesamteuropas zur Verfügung zu stellen. Die dazu notwendige
Aufwuchsfähigkeit im Rahmen unserer Bündnis- und
Landesverteidigung, die nach wie vor im Grundgesetz
verankert ist, ist ohne Wehrpflicht nicht gewährleistet.
({10})
Auch der laufende Betrieb bei der Bundeswehr wäre
ohne die Wehrpflichtigen so nicht möglich. Dass allerdings
8 000 Wehrpflichtige auf Unteroffiziersstellen dienen, ist
auch nach unserer Meinung ein unhaltbarer Zustand.
Die Wehrpflichtigen repräsentieren ein sehr breites
Spektrum von Fähigkeiten, Wissen und auch Fertigkeiten.
Gerade die Erfahrungen auf dem Balkan zeigen, wie unverzichtbar es ist, aus dem Wehrpflichtpotenzial Spezialisten zu rekrutieren, die die Bundeswehr selbst aus vielerlei
Gründen nicht ausbilden kann.
Derzeit sind auf dem Balkan rund 7 300 Soldatinnen
und Soldaten eingesetzt, darunter 1 600 Wehrpflichtige,
überwiegend freiwillig Grundwehrdienst Leistende, die
hervorragende Arbeit leisten. Mit anderen Worten: Über
22 Prozent der Soldaten im Auslandseinsatz kommen
aus der Wehrpflicht. Würden wir auf die Wehrpflicht verzichten, wäre die Belastung für die restlichen Berufs- und
Zeitsoldaten noch größer und damit die Nachwuchsgewinnung noch schwieriger.
Damit sind die Gründe für die Wehrpflicht jedoch bei
weitem nicht erschöpft. Die Wehrpflicht hält die Bundeswehr jung. Dies gilt nicht nur für das Durchschnittsalter,
das bei uns um zehn Jahre niedriger liegt als in der Berufsarmee der Belgier, sondern ebenso für das Jungsein im
Denken. Die Wehrpflichtigen sind es, die Meinungen,
Moden, Denkrichtungen in die Bundeswehr tragen und so
für die Führung auf allen Ebenen eine ständige Herausforderung darstellen. Die Gefahr von Verkrustungen im
Denken wird so am ehesten gebannt.
Wehrpflichtige sind weiterhin ein entscheidendes Kontrollorgan der Armee. Diejenigen, die nicht zu befürchten
brauchen, durch zu viel Zivilcourage berufliche Nachteile
zu erleiden, sind am ehesten bereit, Kritik zu üben und tatsächliche oder vermeintliche Missstände beim Namen zu
nennen.
({11})
Für die Wehrpflicht sprechen auch die Erfahrungen der
Staaten - mit denen sollten Sie sich einmal unterhalten -,
die die Wehrpflicht abgeschafft haben.
({12})
Die werden Ihnen nämlich in Vier-Augen-Gesprächen etwas gänzlich anderes sagen, als offiziell verlautbart wird.
({13})
Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die
Leistungswettbewerbe unserer „gemischten“ Armee mit
den Berufsarmeen anderer Staaten zeigen, dass wir uns
vor keiner Armee dieser Welt zu verstecken brauchen.
({14})
Wer die Wehrpflicht abschafft, löst auch den Zivildienst auf - mit allen Konsequenzen für unseren Sozialstaat.
Ich komme zum Schluss: Der Prophet Jesaja, der Sohn
des Amos, hat 700 vor Christus in einer Vision davon gesprochen, dass der Herr vom Berg Zion Recht im Streit
der Völker spricht und die Nationen zurechtweist.
Herr Kollege Rauber,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?
({0})
Ja, selbstverständlich.
Jetzt wollte ich zum Propheten Jesaja kommen und schon
kommt der Kollege Nolting mit einer Zwischenfrage.
({0})
Sie bringen mich ganz aus dem Konzept.
({1})
Das wäre wohl zu viel
der Rücksichtnahme. Schießen Sie los.
({0})
Herr Kollege
Rauber, können Sie noch einmal etwas zur Legitimation
der Wehrpflicht sagen, wenn in Zukunft nur noch 20 Prozent eines Jahrgangs den Grundwehrdienst, aber fast
40 Prozent eines Jahrgangs Ersatzdienst leisten? Das
heißt, der Sekundärdienst dient als Legitimation für die
Wehrpflicht. Können Sie auch etwas zur Wehrgerechtigkeit sagen, die vom Fraktionsvorsitzenden der F.D.P.,
Dr. Gerhardt, angesprochen wurde?
({0})
Herr Kollege Nolting,
ich habe einleitend gesagt, dass es auch uns große Sorgen
bereitet, dass zukünftig nur noch 85 000 junge Menschen
einberufen werden können. Auch wir als CDU plädieren
dafür, dass diese Zahl erhöht wird.
({0})
- Nicht viel. Wenn ich die 53 000 Wehrpflichtigen und
diejenigen nehme, die freiwillig Grundwehrdienst leisten,
sind es 80 000. Aber streiten wir nicht darüber.
Wir hatten schon mal die Situation - wer die Geschichte kennt, weiß dies -, in der durch Losverfahren
entschieden wurde, wer als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr geht und wer nicht.
({1})
Das ist damals nicht verfassungsrechtlich angegriffen
worden. Warten wir einmal ab, wie das Verfassungsgericht entscheidet. Ich sehe aber nicht ein, als Parlament,
als legitimes Organ, in vorauseilendem Gehorsam gegen
unsere Überzeugungen in eine falsche Richtung zu gehen.
({2})
- Jetzt komme ich zum Propheten Jesaja. Jesaja, der Sohn
des Amos, hat 700 vor Christus in einer Vision davon gesprochen, dass der Herr vom Berg Zion Recht im Streit
der Völker spricht und die Nationen zurechtweist. Dazu
das berühmte Zitat:
Sie werden umschmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern. Nimmer
wird Volk gegen Volk zum Schwerte greifen; üben
wird man nicht mehr für den Krieg.
- Jesaja 2, 4.
Wie lange ist das her und wie oft hat der Mensch gegen
den Menschen das Schwert gezückt und für den Krieg
geübt? Wir können und wir müssen wie in der Vision
Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Aber wir dürfen
nie vergessen, wie oft leider vergeblich versucht wurde,
dieses Ziel zu erreichen.
Alles in allem hat sich die Wehrpflicht bewährt. Es gibt
heute keine überzeugenden Gründe für ihre Abschaffung.
Deshalb lehnen wir den F.D.P.-Antrag mit großer Entschiedenheit ab.
({3})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege Winfried
Nachtwei das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
einem Jahr billigte das Bundeskabinett die Eckpfeiler der
vom Verteidigungsminister eingebrachten Bundeswehrreform und damit die Beibehaltung der Wehrpflicht.
({0})
Die von uns geforderte Abschaffung der Wehrpflicht
wurde somit vorläufig ausgesetzt. Solange sich dazu die
Meinung in der Koalition nicht ändert, werden die Koalitionsfraktionen in der Sache gemeinsam handeln.
({1})
Unabhängig davon geht natürlich die politische Debatte um dieses Thema unvermeidlich weiter, und zwar
nicht einfach wegen dieses F.D.P.-Antrages, sondern weil
es für die jungen Leute schlichtweg immer ein Problem
ist, sich zu entscheiden. Dabei geht es um die Legitimation der Wehrpflicht.
({2})
Ich sage nichts Neues und kann nur immer wieder betonen, dass die Grünen, unabhängig von der Koalitionsposition, in der wir eine gemeinsame Linie vertreten, an ihrer Position zur Überwindung der Wehrpflicht festhalten.
({3})
Vor dem Hintergrund finden wir zunächst einmal den Positionswechsel der F.D.P. begrüßenswert.
({4})
- Herr Nolting, Sie haben immer wieder das Problem,
nicht richtig hinhören zu können.
({5})
Wenn Sie die letzten zwei Minuten hingehört hätten, dann
hätten Sie bereits eine Antwort.
Hier im Saal müsste Einigkeit darüber bestehen, dass
die entscheidende politische Begründung für die Wehrpflicht eine sicherheitspolitische Begründung sein muss.
Ich glaube, darin stimmen auch alle überein.
Die F.D.P. leistet diesem gemeinsamen Anspruch allerdings einen ziemlichen Bärendienst, wie man feststellt,
wenn man sich ihre Verlautbarungen von Anfang 2000 anschaut. Darin steht: sicherheitspolitisch unbedingt notwendig, unverzichtbar. Ein paar Monate später: sicherheitspolitisch nicht mehr unverzichtbar.
({6})
Wenn Sie dies wenigstens mit einer veränderten sicherheitspolitischen Lage begründen würden! Ich glaube, es
ist ein bisschen schwierig, das nachzuweisen.
({7})
Das gibt uns Aufschluss darüber, dass nicht eine veränderte sicherheitspolitische Lage, sondern eine veränderte parteiinterne Bedrohungssituation für Ihren Wechsel entscheidend ist.
Wie aber verhält es sich nun mit der sicherheitspolitischen Begründung? Es wird immer gesagt: Die Wehrpflicht muss sicherheitspolitisch notwendig sein. Und
dann vielleicht: Sie muss nützlich sein. - Das ist richtig;
die Wehrpflicht ist nützlich, zum Beispiel was die Nachwuchsgewinnung anbelangt. Das ist nicht in Abrede zu
stellen. Nur, der Anspruch an eine sicherheitspolitische
Begründung ist ein anderer: Es geht um einen massiven
Grundrechtseingriff. Deshalb geht es nicht einfach nur um
Notwendigkeit und Nützlichkeit. Die Wehrpflicht muss
vielmehr unverzichtbar und alternativlos sein, um die
Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten.
({8})
Das ist der Kernpunkt; darauf muss man es bringen. Das
kann man nicht daran messen, wie der Auftrag der Bundeswehr lautet. Man muss zunächst einmal fragen: Wie
ist die mittelfristig absehbare Lage? Diesbezüglich behaupten wir, dass mittelfristig auch kein Restrisiko eines
großen Verteidigungsfalles für die Bundesrepublik und
das Bündnis besteht, dass dieses Risiko mittelfristig ausgeschlossen werden kann. Wie die Lage später ist, beispielsweise in 15 Jahren, kann keiner sagen. Das ist völlig richtig.
({9})
Von daher ist nach unserer Auffassung die sicherheitspolitische Unverzichtbarkeit der Wehrpflicht nicht mehr
gegeben. Wir müssen feststellen, dass schon die Vorgängerregierung eigentlich davon ausging, dass dieses Restrisiko nicht mehr besteht. Denn wie anders ist es zu erklären, dass schon die Vorgängerregierung aus dem
Zivilschutz, aus der Zivilverteidigung ausgestiegen ist
und dass die bekannten Regierungsbunker zum Verkauf
stehen? Insofern besteht ein gewisser Widerspruch.
({10})
Ein Letztes: Die sicherheitspolitische Begründung
muss plausibel sein, und zwar gerade für junge Leute.
({11})
Ich glaube, wir stimmen darin überein, dass es schwer
fällt, diese Plausibilität angesichts der sicherheitspolitischen Lage darzustellen. Hinzu kommt der Umstand,
dass wir, ehrlich gesagt, nicht mehr von einer allgemeinen
Wehrpflicht reden können. Wir haben eine allgemeine
Dienstpflicht für Männer bzw. Wehrpflicht für einen Teil
der Männer, der immer geringer wird.
({12})
Es besteht also in der Tat ein Problem hinsichtlich der
Wehrgerechtigkeit.
Zusammengefasst: Einer Wehrstruktur, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen und den sicherheitspolitischen Notwendigkeiten entsprechen soll, ist mit Bekenntnissen nicht gedient. Was wir brauchen, ist eine
sorgfältige und offene Diskussion über die Begründungen
und über die verantwortbaren Alternativen. Darüber sollten wir unabhängig davon, wie unsere Position zur Wehrpflicht direkt ist, diskutieren.
In etlichen anderen Ländern ist dies schon so geschehen: Man hat sich an der einen Wehrform festgehalten,
dann hat es einen plötzlichen Wechsel in den Reihen der
Regierung gegeben, man war überrascht und stand auf
einmal vor dem schnellen Wechsel. Über diese Dinge
sollte man rechtzeitig und sorgfältig diskutieren. Wenn
diese Debatte dazu einen Beitrag leistet, ist es gut.
Danke schön.
({13})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.
Lieber Kollege Nachtwei,
ich kann dir zu dieser Rede nur gratulieren. Ich denke, du
hast einen fantastischen Spagat zwischen deinem politischen Anspruch und der Machtbeteiligung hingelegt.
({0})
Heilige Kühe darf man nicht schlachten und für
CDU/CSU und SPD ist die Wehrpflicht eine heilige Kuh.
Kollege Robbe, Sie haben selbst gesagt: „... und damit
basta!“
Bundespräsident Rau hat vor einem halben Jahr gesagt:
Wenn die Gründe, die für die Beibehaltung der Wehrpflicht sprechen, nicht mehr gelten sollten, dann
muss über sie neu nachgedacht werden. Man macht
sich unglaubwürdig, wenn man an Positionen festhält, die sich unter veränderten Bedingungen nicht
mehr halten lassen.
Zu den veränderten Bedingungen gehört nun einmal das
Ende des Kalten Krieges und damit die Tatsache, dass wir
nur noch von Freunden und Partnern umgeben sind.
({1})
Vor dem Hintergrund dieser sicherheitspolitischen Analyse hat auch der Kollege Penner Recht, wenn er sagt:
„Ich bin ... davon überzeugt, dass Wehrpflicht vom Staat
nur abverlangt werden kann, wenn es um Landesverteidigung geht.“
Aber selbst in der Logik von CDU und SPD ist nicht
ersichtlich, warum man derart starr an der Wehrpflicht
festhält.
({2})
Denn Sie wollen doch eine Bundeswehr, die im Kern auf
Kriseninterventionsfähigkeiten zugeschnitten ist. Dafür brauchen Sie eine hochprofessionalisierte Hightecharmee, die sich auf erheblich weniger Personal stützen
kann.
({3})
Es bleiben zwei Gründe: Der eine, Kollege Kahrs, ist
praktischer Natur, nämlich die Nachwuchsgewinnung für
die Streitkräfte.
({4})
Für diesen Zweck leisten Sie sich - das wurde hier schon
erwähnt - einen Auswahlwehrdienst, der nach 2004 nur
noch 20 Prozent der jungen Männer eines Altersjahrgangs
erfassen wird. In drei Jahren werden 40 Prozent eines
Jahrgangs andere Dienste leisten und 40 Prozent werden
ganz verschont bleiben. Es wird wieder einmal die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes sein, dem Parlament zu sagen, wie das Grundgesetz zu interpretieren ist.
Der andere Grund für Ihre Hartnäckigkeit ist ausschließlich ideologischer Natur: Sie fürchten um den Verlust der gesellschaftlichen Legitimation der Streitkräfte,
wenn auf die Wehrpflicht verzichtet wird.
({5})
Ihnen geht es um Gesellschaftspolitik. Sie haben Angst,
dass Sie Ihr militärisches Tschingderassabum nicht mehr
so öffentlich wie bisher präsentieren können. Sie haben
Angst davor, dass die militärische Akzeptanz in den Familien der jungen Wehrpflichtigen verblassen wird. Das
ist nicht nur hochgradig fantasielos, sondern auch gefährlich, weil Sie damit das Denken in Richtung Entmilitarisierung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen blockieren.
Die F.D.P. schreibt völlig zu Recht:
Die Allgemeine Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch
nicht mehr zwingend notwendig.
Die F.D.P. möchte die Wehrpflicht aussetzen. Wir gehen
einen Schritt weiter und sagen: Wir wollen die Wehrpflicht aufheben.
({6})
Trotzdem werden wir dem F.D.P.-Antrag zustimmen.
Zwangsdienste sind Relikte aus Zeiten des Kalten Krieges. Machen Sie endlich damit Schluss, steigen Sie in die
Debatte ein! Diskriminieren Sie nicht länger einen bestimmten Anteil der jungen Männer in diesem Land und
legen Sie endlich ein Konzept zur Aufhebung des Zivildienstes und zur Reform der sozialen Dienste vor, damit
der Zivildienst nicht länger zur Legitimation der Wehrpflicht herangezogen werden muss!
Danke.
({7})
Nun erteile ich dem
Kollegen Johannes Kahrs von der SPD-Fraktion das Wort.
Hochverehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir scheint, die
F.D.P.-Fraktion führt hier einen Dauerkalender für Anträge auf Aussetzung der Wehrpflicht.
({0})
Im letzten Jahr hatten Sie bereits einen Antrag gestellt,
den Sie aus internen Gründen nicht weiterverfolgt haben.
Dann haben Sie am 19. Januar dieses Jahres einen Antrag
gestellt.
({1})
Nach Ihrer Logik müssten Sie, wenn weitere fünf Monate
vergangen sind, den nächsten Antrag stellen. Dann haben
wir den 21. November. Da findet zwar keine Sitzung statt;
aber immerhin ist dies der Bußtag.
({2})
Das bietet für Sie vielleicht Zeit und Gelegenheit, Ihre
bisherigen Anträge in aller Ruhe zu überdenken, Herr
Nolting.
({3})
Offensichtlich sind Sie nicht willens oder dazu in der
Lage, die Realitäten zu erkennen.
({4})
Zu diesen Realitäten gehört nun einmal, dass die überwältigende Mehrheit Ihrer Kolleginnen und Kollegen in
diesem Hause die Notwendigkeit für die Beibehaltung der
Wehrpflicht sieht, sie vertritt und sich zu ihr bekennt.
({5})
- Die Wehrgerechtigkeit ist auch weiterhin gegeben, trotz
Ihrer Unkenrufe, Herr Kollege.
Ich frage mich, welche Ihrer neuen sicherheitspolitischen Erkenntnisse Sie dazu veranlasst haben, Ihren Antrag heute erneut zu stellen.
({6})
Bisher haben Sie sie noch nicht genannt. Lassen Sie uns
doch an Ihrem Wissen teilhaben. Sagen Sie mir, was sich
seit dem Sommer des letzten Jahres in diesem Land sicherheitspolitisch so grundlegend verändert hat! Damals,
als Sie, Herr Nolting, noch das Kommando hatten, hieß
es: Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch unverzichtbar.
Deswegen dürfen Sie heute wohl nicht mehr reden. Sie
stellen nicht nur alte Anträge endlos neu, Sie widersprechen sich auch noch. Das ist nicht nur taktisch unklug,
sondern auch unglaubwürdig.
({7})
Sie mögen Ihre Überzeugungen im vorauseilenden Gehorsam über Bord schmeißen. Wir dagegen stehen zu unseren Überzeugungen und begründen sie.
({8})
Ich durfte nun lesen, dass Sie angesichts einer erneuten
öffentlichen Diskussion über die Wehrpflicht bereit sind,
weiterführende Konzeptionen zu entwickeln und vorzustellen. Das finde ich zwar gut. Aber im Umkehrschluss
heißt das doch, dass Sie sich zurzeit in einer konzeptionslosen Phase befinden und wider besseres Wissen versuchen, eine erneut unnötige Debatte loszutreten. Ehrlich
gesagt, etwas anderes habe ich von Ihnen im Moment
auch nicht erwartet.
({9})
Ihrem jüngsten Beitrag, man dürfe die Wehrpflicht nicht
aus der Notwendigkeit des Ersatzdienstes heraus legitimieren, stimme ich dagegen zu. Damit haben Sie ausnahmsweise einmal Recht. Das ist ein typisches Stammtischargument, das sich kein ernsthafter Politiker zu Eigen
machen würde. Von diesem haben wir jedenfalls noch nie
Gebrauch gemacht. Deswegen rennen Sie hier gegen
Wände an, die es gar nicht gibt.
Die F.D.P. ist der Ansicht, dass die Aufgaben der Bundeswehr auch mit einer Freiwilligenarmee bestritten werden könnten. Diese Feststellung mag in einigen kleinen
Teilbereichen zutreffend sein. Aber die weiterführende
Frage ist doch, ob wir bereit sind, den Preis dafür zu zahlen. Die Wehrpflicht steht für den Charakter der Bundeswehr. Sie symbolisiert eine gute bundesrepublikanische
Tradition. Ich spreche hier nicht von Rentabilitäts-, Effizienz- oder reinen Kostenfragen. Darauf lässt sich die Debatte über die Wehrpflicht nicht reduzieren. Auch das,
Herr Nolting, wussten Sie noch vor einem Jahr.
({10})
- Sehen Sie! - Viele von uns betonen, wie wichtig die Beteiligung des Einzelnen am Staate ist, und zwar zu Recht.
Das sollte eigentlich auch die F.D.P. wissen.
({11})
Auch wenn die Wehrpflicht eine Pflicht ist: Wo sonst
finden wir eine solch deutliche Verbindung von Bürger
und Staat? Wo sonst wird so deutlich, dass die Grundbedingung für unser Gemeinwesen die Teilnahme des Einzelnen ist? In den vergangenen vier Jahrzehnten haben
über 8 Millionen Wehrpflichtige Mitverantwortung für
die Sicherheit unseres Landes übernommen. Fast 50 Prozent des Führungsnachwuchses an Offizieren und Unteroffizieren der Bundeswehr werden aus den Reihen der
Wehrpflichtigen gewonnen. Das trägt dazu bei, dass der
Soldat in unserer Gesellschaft fest verankert ist. Auch das
Genöle der F.D.P.-Fraktion und ihres Vorsitzenden wird
daran nichts ändern.
({12})
Vielleicht ist es nunmehr an der Zeit, zu erkennen, dass
die Wehrpflicht in der Bundeswehr - ich wiederhole das
gern für Sie - eine bundesrepublikanische Tradition ist,
die nicht dadurch getrübt wird, dass sich andere Demokratien gegen eine Wehrpflichtarmee entschieden haben;
denn die Erfahrungen unserer Bündnispartner, die die
Wehrpflicht aufgegeben haben, bestärken uns ein um das
andere Mal, an derselben festzuhalten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von der PDSFraktion?
Von wem?
Kollegin Lippmann.
Ach, nein, von der heute
nicht.
({0})
- Frau Kollegin, wir reden einmal in aller Ruhe und Sachlichkeit miteinander.
Die Wehrpflicht ermöglicht es, die Potenziale an Intelligenz, Fähigkeit und beruflicher Qualifikation unserer
jungen Männer effizient miteinander zu verbinden.
({1})
- Herr Kollege, halten Sie etwas an sich!
({2})
Eine Bundeswehr mit Berufs- und Zeitsoldaten sowie
Wehrpflichtigen ist in ihrer Qualität jeder Berufsarmee
überlegen. Haben Sie, verehrte Kollegen von der F.D.P.Fraktion, überhaupt gedient?
({3})
Offenbar nicht; denn ansonsten könnten Sie gar nicht
solch unsinnige Aussagen machen.
({4})
Die Wehrpflicht ist nicht nur eine Bereicherung für die
Bundeswehr. Die Wehrpflicht ist ein Gewinn für die
ganze Gesellschaft. Die Wehrpflicht ist der lebendige
Ausdruck dafür, dass die Bevölkerung und ihr Gemeinwesen zusammengehören, sich bedingen und gegenseitig
bereichern. Das hat auch die F.D.P. mehr als 50 Jahre
gewusst. Was Sie hier veranstalten, ist trauriges Schielen
nach neuen Mehrheiten - die Sie vielleicht im Container
finden werden, aber nicht hier und heute!
({5})
Ich hoffe daher, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen von der F.D.P., dass wir für die nächste Zeit von
solch albernen Anträgen verschont bleiben. Zum Schluss
möchte ich gerne den früheren Verteidigungsminister
Georg Leber zitieren:
Der Wehrdienst heute, wie ihn Gesetz und Recht gebieten, ist ein ehrenhafter Dienst, nicht mehr und
nicht weniger ehrenhaft als beispielsweise der Dienst
unserer Richter, deren Aufgabe, wenn auch von anderer Art, der Wahrung von Freiheit und Recht zugewandt ist.
Deswegen glaube ich, dass der Spruch: ...wovon er
ganz besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt“
vielleicht für Sauerkraut, Gulasch und Eintopf gilt, aber
garantiert nicht für Anträge der F.D.P.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 14/6274 zu dem Antrag
der F.D.P. mit dem Titel „Wehrpflicht aussetzen“. Zu diesem Antrag gibt es eine Erklärung zur Abstimmung des
Kollegen Winfried Nachtwei, die wir zu Protokoll nehmen.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/5078 abzulehnen. Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit gegen die Stimmen von F.D.P. und
PDS bei Enthaltung des Kollegen Nachtwei angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über den rechtlichen Schutz
biotechnologischer Erfindungen
- Drucksache 14/5642 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die Aussprache ist eröffnet. Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Eckhart Pick das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf, dessen Inhalt in den letzten Jahren bekanntlich
ausgesprochen intensiv öffentlich diskutiert worden ist.
Ich finde, es ist bemerkenswert, dass hierbei Argumente
parteiübergreifend ausgetauscht worden sind. Auch die
Öffentlichkeit hat sich intensiv engagiert. Wir haben zahlreiche Eingaben, Zuschriften und Briefe von Organisationen, Kirchen und Einzelpersonen erhalten. Das zeigt das
große Interesse der Menschen an diesem neuen Technologiebereich und gibt Hinweise auf die Bedeutung dieses
Themas.
Der vorliegende Gesetzentwurf regelt nicht - ich
möchte das gleich zu Anfang sagen - die Möglichkeiten
und Grenzen eines neuen Technologiebereichs. Es geht
nicht um das, was Forschung darf oder nicht darf, sondern
es geht um den rechtlichen Schutz von Erfindungen. Das
Recht des geistigen Eigentums, also insbesondere das Patentrecht, soll modernisiert und auf einen möglichst aktuellen Stand gebracht werden.
Eines ist wichtig: Wir bewegen uns beim Schutz des
geistigen Eigentums in einem internationalen Bereich.
Man muss diesen Aspekt, wenn man ehrlich mit dem
Thema umgeht, deutlich machen. Deswegen muss unser
Schutzsystem konkurrenzfähig bleiben. Denn wenn es
keinen angemessenen Schutz von Forschungsergebnissen
gibt, wird sich das mit Sicherheit auch auf die Qualität unserer Forschung auswirken. Die Diskussionen über den zu
beratenden Entwurf geben Anlass, klarzustellen, dass der
Forschung nicht etwas erlaubt wird, was ethisch nicht vertretbar ist, sondern es um den angemessenen rechtlichen
Schutz von Forschungsergebnissen, die die Forschung in
legitimer Weise erzielt hat, geht.
Das Patentrecht ist - ich sagte es schon - wie kaum ein anderer Rechtsbereich durch europäisches, aber auch durch
internationales Recht geprägt. Es geht vor allem darum,
einen effektiven Patentschutz auf allen Gebieten der
Technik zur Verfügung zu stellen.
Heute haben wir eine europäische Richtlinie umzusetzen: die Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechJohannes Kahrs
nologischer Erfindungen. Dabei bleibt uns wenig Spielraum. Richtlinien sind - auch das ist zu betonen - geltendes europäisches Recht und müssen umgesetzt werden. In
diesem Fall ist die Umsetzungsfrist bereits am 30. Juli des
letzten Jahres abgelaufen.
Zur Biopatentrichtlinie und ihrer Entstehung will ich
nicht viel sagen, mir aber den Hinweis erlauben, dass ihr
auch auf der europäischen Ebene - insbesondere im Europäischen Parlament - eine intensive Diskussion
vorangegangen ist. Man kann den Abgeordneten des Europäischen Parlamentes mit Sicherheit nicht die Ernsthaftigkeit ihres Bemühens absprechen.
Die europarechtliche Verpflichtung zur Umsetzung
von Richtlinien liegt auf der Hand. Die Biopatentrichtlinie sollte aber, wie ich finde, auch wegen ihres Inhalts
bald umgesetzt werden, denn sie bringt - das will ich ganz
deutlich sagen - für das Patentrecht ganz erhebliche Vorteile, auf die nicht verzichtet werden sollte. Das geltende
Patentrecht bleibt zwar die wesentliche Grundlage für den
Rechtsschutz von Erfindungen; mit der Biopatentrichtlinie und ihrer Umsetzung werden aber gerade für biotechnologische Erfindungen mehr Rechtssicherheit und
Rechtsklarheit erreicht. Damit wird für die Nutzer des
Patentsystems, insbesondere aber auch für unsere Forschung und für unsere Industrie, im rechtlichen Bereich
ein verlässlicher Rahmen geschaffen.
Die Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten der EU vor,
dass sie bestimmte und fundamental wichtige Patentierungsverbote in ihre Patentgesetze aufnehmen müssen.
Dabei geht es um die gebotenen ethischen Grundsätze, die
die Würde und Unversehrtheit des Menschen gewährleisten. Auch das ist nichts Neues; aber ich denke, es war gerade dem europäischen Gesetzgeber wichtig, dass die
wichtigsten Verbote in der Richtlinie und damit später in
den nationalen Gesetzen genannt werden. Der wichtigste
dieser Grundsätze ist sicher der, wonach der menschliche
Körper in allen seinen Phasen - seiner Entstehung und
Entwicklung - nicht patentierbar ist.
({0})
Die Biopatentrichtlinie dient also vor allem der Konkretisierung der Grundsätze der Ethik und Menschenwürde für
das Patentrecht. Es ist unser Ziel, dass diese Grundsätze
bald auch in unserem deutschen Patentrecht ausdrücklich
verankert werden.
Wir wollen - weil wir wissen, dass das notwendig ist die Entwicklung genau beobachten. Die Bundesregierung
hat im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Gesetzes klargemacht, dass sie die Beobachtung der künftigen Entwicklung ernst nimmt. Zudem ist die Kommission zur Berichterstattung aufgefordert - wozu es ja in
diesem Jahr kommen wird. Darüber hinaus sind wir von
unserem Hause aus an die Europäische Kommission
herangetreten, um mit ihr in einen Meinungsaustausch
über eine Verbesserung und Präzisierung der Richtlinie
einzutreten.
Wir wissen, dass es im Moment ein Verfahren vor dem
Europäischen Gerichtshof gibt. Genau vor einer Woche
hat der Generalanwalt dafür plädiert, die Nichtigkeitsklage zweier Staaten der Europäischen Union abzulehnen. Ich denke, dass die Begründung, die er genannt hat,
auch für uns von Bedeutung ist. Er hat nämlich gesagt, es
handele sich bei der Richtlinie nicht um eine Neuerfindung des Patentrechts, sondern um eine Weiterentwicklung;
({1})
in der Richtlinie würden Grenzen neu definiert.
Ich bin sicher, dass wir diese Frage in diesem Hause
weiterhin kontrovers, aber ernsthaft diskutieren, und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Für die CDU/CSUFraktion erteile ich dem Kollegen Norbert Hauser das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Dein Gen gehört mir.“ Die Möglichkeit, dass
dieser Satz einmal Wirklichkeit werden könnte, darf nicht
am Ende der Beratungen über die Umsetzung der EUBiopatentrichtlinie in deutsches Recht stehen.
({0})
„Genpatente als Blankoscheck für die Ausbeutung
natürlicher Güter“, so formulierte Jeremy Rifkin seine Ablehnung. „Genpatente sind notwendige Voraussetzungen
für die Forschung in der Medizin“, heißt es von der anderen Seite. Damit sind die Fronten abgesteckt.
Wir haben uns zu fragen: Müssen wir, sollen wir, dürfen
wir die Richtlinie mit dem Gesetz, dessen Entwurf uns die
Bundesregierung vorgelegt hat, umsetzen? Art. 15 - das
klang eben an - hat die Umsetzung bis zum 30. Juli 2000
gefordert. Das Verfallsdatum ist also längst überschritten.
Das Justizministerium - das ist gerade noch einmal bekräftigt worden - hat erklärt, eine Aussetzung verstoße gegen
europäisches Recht. Im Übrigen sei die Richtlinie im Prinzip bereits geltendes Recht.
Nur Großbritannien, Irland, Dänemark und Finnland
haben die Richtlinie umgesetzt. Die Niederlande haben
eine Nichtigkeitsklage eingereicht. Italien hat sich angeschlossen. Frankreich hat die Umsetzung in nationales
Recht zurückgestellt, weil es die Patentierung menschlicher Gene mit der Menschenwürde für unvereinbar hält.
({1})
Es gibt also offenbar in den meisten Ländern der Europäischen Union Bedenken, die auch der Bundesrat teilt
und so zum Ausdruck gebracht hat:
Die bahnbrechenden Fortschritte in der Entschlüsselung der Erbanlagen des Menschen und anderer Lebewesen und die anhaltende Diskussion in einer
Reihe von Mitgliedstaaten der EU geben aber deutliche Hinweise darauf, dass das auf diesem Wege
umzusetzende europäische Patentrecht in einer
Reihe von Punkten noch keine endgültigen Antworten auf die Herausforderungen des neuen Technologiebereichs gefunden hat.
Ebenso denkt offensichtlich die Mehrheit in der Enquête-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, die uns einen Teilbericht mit der Überschrift
„Schutz des geistigen Eigentums in der Biotechnologie“
vorgelegt hat.
Sie, Herr Staatssekretär, haben gerade noch einmal darauf hingewiesen, durch die Richtlinie werde kein besonderes und auch kein neues Patentrecht geschaffen. Die
Biopatentrichtlinie schaffe größere Rechtsklarheit und
Rechtssicherheit und führe die ethischen Grenzen der
Patentierung ins Bewusstsein und benenne sie konkret.
Die meisten der in neun Eckpunkten aufgestellten Forderungen der Enquête-Kommission seien ja bereits seit vielen Jahren im deutschen Recht verwirklicht - ich frage
mich, was die Enquête-Kommission hierbei übersehen
hat -, andere Eckpunkte würden mit der Umsetzung der
Biopatentrichtlinie deutsches Recht.
Das klingt gut, trägt aber offensichtlich nicht; denn
gleichzeitig heißt es - Sie haben das heute noch einmal
bekräftigt -, auch die Bundesregierung wolle eine Überprüfung der Reichweite des Stoffpatents. Also kann es mit
der Klarheit und Rechtssicherheit so weit nicht her sein.
Dieser Eindruck wird auch durch den Gesetzestext
selbst erhärtet. § 1a Abs. 1 Patentgesetz soll lauten:
Der menschliche Körper ... sowie die bloße Entdeckung seiner Bestandteile ... können keine patentierbaren Erfindungen sein.
So weit, so gut. In Abs. 2 heißt es aber:
Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers
...kann eine patentierbare Erfindung sein...
Dies gilt ohne jede Einschränkung, wie sie etwa für
Gene gilt. Nur für sie fordert Abs. 3 die Angabe der Funktionen bei der gewerblichen Anwendbarkeit.
Das ist wie Feuer und Wasser. Was gilt denn nun? Ist
der menschliche Körper patentierbar oder ist er nicht patentierbar?
({2})
Die katholischen Bischöfe haben in einer Stellungnahme dazu erklärt:
Diese Vorschrift widerspricht der Würde des Menschen und dem daraus folgenden Grundsatz, dass
menschliches Leben nicht patentiert werden darf.
Die Regelung
- gemeint ist § 1 a Abs. 2 Patentgesetz steht zudem in sachlichem Widerspruch zu § 1a
Abs. 1 PatG, der den menschlichen Körper ausdrücklich von der Patentierung ausnimmt.
Ein weiteres Beispiel: In § 2 Abs. 2 Nr. 3 des Entwurfs
wird die Verwendung von menschlichen Embryonen zu
industriellen oder kommerziellen Zwecken ausdrücklich ausgeschlossen. So weit wäre dies noch eine unmissverständliche Regelung. Jedoch schränkt der Gesetzentwurf selbst in seiner Begründung mit Hinweis auf den
Erwägungsgrund 42 der EU-Patentrichtlinie ein, dass darunter nicht solche Erfindungen fallen, „die therapeutische oder diagnostische Zwecke verfolgen und auf den
menschlichen Embryo zu dessen Nutzen angewendet
werden“. Dies würde bedeuten, dass Forschungsergebnisse an Embryonen oder auch Stammzellen, die der gentechnischen Therapierung eines Embryos dienen, patentierbar wären. Meine Damen und Herren, dies ist ein
erstaunliches Ergebnis vor dem Hintergrund der bundesweit geführten Ethikdiskussion.
Aber es gibt darüber hinaus auch Unklarheit in einem
ethisch wesentlich unproblematischeren Bereich, nämlich
in der Landwirtschaft: Es ist nicht abschließend geklärt,
ob ein durch Auskreuzung in den Patentschutz gelangendes Erntegut der Nachbauregelung unterliegt, was für
zahlreiche Landwirte weit reichende und kostenträchtige
Folgen bis hin zu einem unwissentlichen Verstoß gegen
das Patentrecht hätte. Klarheit und Rechtssicherheit? Die
Antwort ist wohl eher Nein.
Es lohnt sich also, innezuhalten. Aber es reicht nicht
- wie Sie, Kollege Pick, es anlässlich der Debatte am
10. Mai getan haben - die Frage nur nach den „Voraussetzungen einer Patentierbarkeit von Genen, Gensequenzen und Teilen von Gensequenzen“ zu stellen. Die Frage
lautet grundsätzlicher: Dürfen überhaupt Gene, dürfen
Bestandteile des menschlichen Körpers, darf die Natur
patentiert werden? Oder kommerziell gefragt, wie es der
in letzter Zeit oft gescholtene Professor Dr. Winnacker
ausdrückte:
... wem denn am Ende das menschliche Genom
gehört, den Investoren, den diversen Biotechfirmen ... der Öffentlichkeit?
„Oder der Wissenschaft?“, ließe sich hinzufügen.
Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, hat die Antwort so formuliert:
Das genetische Erbe der Menschheit ist Allgemeingut und keine Handelsware.
Dies sei auch nicht beabsichtigt, wenden die Befürworter ein und verweisen auf den Entwurf des § 1 a Abs. 3.
Danach sei eine Patentierung nur möglich, wenn „in der
Anmeldung die gewerbliche Anwendung konkret unter
Angabe der von der Sequenz oder Teilsequenz erfüllten
Funktion beschrieben“ werde. Damit seien Vorratspatente oder spekulative Patente ausgeschlossen, die Wissenschaft könne ungehindert forschen und diejenigen, die
Geld in die Forschung gesteckt hätten, könnten ihren
wohlverdienten Nutzen daraus ziehen. Vorratspatente
oder spekulative Patente werden jedoch nicht ausgeschlossen. Dazu noch einmal Professor Winnacker:
Gene und ihre Produkte können nämlich Teile verschiedener Eiweißnetzwerke in unseren Zellen sein,
die sie, je nach Netzwerk, ganz unterschiedliche
Funktionen ausüben lassen.
Norbert Hauser ({3})
Er macht dann mit einer Frage, die die Biopatentrichtlinie ebenfalls nicht beantwortet, deutlich, dass wir die
Antwort vor der Umsetzung der Richtlinie in nationales
Recht kennen sollten:
Sollen die Entdecker einer einzigen dieser Eigenschaften zugleich auch die Rechte für bislang nicht
entdeckte Anwendungen erhalten, die sich aus diesen
Beobachtungen gegebenenfalls ableiten lassen?
Die Antwort kann nur Nein lauten.
Aber genau so sieht die Praxis des Europäischen Patentamtes in München aus, das unter Berufung auf die
Biopatentrichtlinie Patente auf Gene erteilen will, wenn
für ein Gen eine bestimmte Funktion angegeben werden
kann, diese Funktion bisher nicht bekannt war und eine
daraus abgeleitete gewerbliche Anwendung beschrieben
wird. Ein solches Stoffpatent, meine Damen und Herren,
zieht nicht nur einen kommerziellen Schutzzaun um die
beschriebene gewerbliche Anwendung, ein solches Stoffpatent zieht einen kommerziellen Schutzzaun um das Gen
an sich.
({4})
Da sind wir wieder: „Dein Gen gehört mir.“
Ebenso wenig wie ein Wissenschaftler für Elemente
wie Sauerstoff, Blei, Chlor oder Zink geistiges Eigentum
reklamieren kann, dürfen Gene, Gensequenzen oder Teilsequenzen zum geistigen Eigentum werden. Gene sind
keine Rohstoffe und Patentbehörden keine Bergämter für
genetische Bodenschätze.
({5})
Genetische Informationen sind keine Software, an denen
Urheberrechte begründet werden dürfen. Dies gilt es klarzustellen, bevor die Biopatentrichtlinie umgesetzt wird.
({6})
Wie bei der Stammzellenforschung sollten wir uns
dazu die notwendige Zeit nehmen. Die Bundesregierung
hat ihrerseits die Pflicht, dafür zu sorgen, dass in Brüssel
die notwendigen Klarstellungen erfolgen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun die
Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über die Biopatentrichtlinie. In der „FAZ“
heißt es: Jeder kennt die Goldmine und holt sich etwas heraus. Darauf werde ich dann noch zurückkommen.
Eine Änderung des geltenden Patentrechts ist jedenfalls überfällig. Das deutsche Patentrecht datiert von 1877
und ist auf die Probleme biotechnologischer Forschung
und Entwicklung tatsächlich in keiner Weise vorbereitet.
Gleichzeitig schafft das Europäische Patentamt derweil
durchaus problematische Fakten, denen wir parteiübergreifend keinesfalls zustimmen, wie die gerade gestern
von Greenpeace dargestellte Patentierung eines so genannten Brustkrebsgens, ein Patent, das - an eine Firma
vergeben - dann gleichzeitig auch das Monopol auf alle
anderen, von ihr nicht konkret beschriebenen Funktionen
dieses Gens halten kann. Das zeigt: Eine sowohl ethisch
wie auch rechtlich deutliche Grenzziehung ist in diesem
Bereich dringend geboten.
Eine Novellierung des Patentgesetzes ist jedenfalls
besser als der jetzige Zustand; das muss man zugeben.
Aber in diese Debatte fließt ein, dass seit wenigen Monaten bekannt ist, dass die Menschen - im Übrigen auch
Tiere und Pflanzen - insgesamt nur über weniger Gene
als bisher angenommen verfügen. Seitdem ist auch klar,
dass ein einziges Gen nicht nur wenige Proteine kodiert,
sondern viele Hunderte, möglicherweise sogar Tausende.
Wenn nun ein Gen aufgrund seiner beschriebenen Eigenschaften patentiert würde, dann wäre nach derzeitigem Stand der Richtlinie gleichzeitig die Nutzung Hunderter anderer Eigenschaften exklusiv in der Hand des
Patentnehmers. Die Gefahr des Entzugs von für das Allgemeinwohl wichtigem Wissen, der Monopolisierung
und der daraus resultierenden negativen Folgen für die
Forschung und die Gründung junger Unternehmen liegt
auf der Hand.
({0})
Viele Ethiker, Ärzte und Forscher haben uns wiederholt
darauf hingewiesen.
Diese Gefahr besteht trotz Forschungsfreiheit, trotz Lizenzmöglichkeiten, trotz Zwangslizenzmöglichkeiten,
weil faktisch der ökonomische Anreiz für eine solche Forschung nicht mehr vorhanden ist und sich möglicherweise
auch die Investitionen für teure Forschungsaktivitäten
nicht mehr lohnen. Es ist auch kein wirkliches Argument,
dass es in den USA noch sehr viel schlechter ist.
({1})
Wir stimmen also mit der Enquête-Kommission darin
überein, dass Stoffpatente grundsätzlich nicht geeignet
sind, den Besonderheiten des biologischen Wirkungszusammenhangs der Gene Rechnung zu tragen.
({2})
Das Problem besteht doch in Folgendem: Man kann sagen, das bisherige Patentrecht umfasst eben auch Stoffpatente; man muss konsequent sein. Man muss aber auch bedenken, dass Stoffpatente in Deutschland erst seit 1967
Norbert Hauser ({3})
überhaupt erlaubt sind. Erst nach etwa 200 Jahren chemischer Forschung und Produktion war die Zeit reif, um eine
solche Entwicklung zuzulassen. Ich habe in diesem Artikel der „FAZ“ interessiert nachgelesen, dass die Patentrechtler selbst dieser Entwicklung kritisch gegenüberstanden.
Die Zukunft darf also nicht schon heute verbaut werden, denn wir stehen bei der Biotechnologie schlichtweg
am Anfang einer solchen Entwicklung und nicht an deren
Ende.
({4})
Es muss Präzisierungen der neuen Regelung geben, die
eine möglichst weit gehende Einschränkung der Patenterteilung auf eine bestimmte Funktion oder ein Verfahren
erreichen kann.
Auch wenn ich nur noch sehr wenig Redezeit habe,
möchte ich kurz auf diesen „FAZ“-Artikel zurückkommen. Darin kommen drei Experten des Patentamtes zu
Wort, Herr Schatz, Herr Moufang und Herr Claes, die sich
sehr kritisch äußern. Herr Claes sagt: „Meistens sind die
Patentansprüche sehr weit gefasst ...“, und fährt fort, dass
„auch Ansprüche auf noch unbekannte Faktoren“ angemeldet werden. Sie widmen sich vor allem der Frage - ich
zitiere Herrn Schatz -,
ob nicht schon der absolute Stoffschutz, wie er heute
praktiziert wird, an sich ein zu umfassender Claim
ist, weil er Rechte an Folgeentwicklungen abdeckt.
Herr Schatz sagt weiter:
Wir könnten uns auch einen Patentschutz rein auf die
konkrete Anwendung bezogen vorstellen.
({5})
Eine solche Haltung zieht sich durch die gesamte Diskussion, die sehr differenziert geführt wird.
Herr Moufang führt aus:
Immer mehr Unternehmen sehen, dass ein zu weiter
Patentschutz den Wettbewerb nicht fördert, sondert
hemmt.
Sie weisen auch darauf hin, dass die Kompetenz letztlich
im Bereich des nationalen Rechts liegt. Zum Schluss bemerkt Herr Schatz:
Das Patentrecht ist nicht dafür da, maximale Gewinne zu erzielen, sondern spezifische Erfindungen
zu schützen, zu belohnen und der Öffentlichkeit zur
Verfügung zu stellen, damit andere damit auch umgehen können. Für mich steht das Patentrecht im
Dienst der Allgemeinheit.
Ich denke, das ist eine sehr ernst zu nehmende Einschätzung dieser drei hochrangigen Vertreter des Patentamtes. Sie bietet Anlass genug für eine grundsätzliche
Kritik und Überarbeitung. Das ist auch die Haltung der
Fraktion der Grünen. Wir sind uns mit der Ministerin einig, dass wir hier Erfindungen und nicht Entdeckungen
belohnen möchten. Wir melden unseren Änderungsbedarf
in diesen Punkten noch einmal an. Wir sehen einen Handlungsbedarf bei der Beschränkung des Schutzumfanges
der Patente, der wirksamen Ausgestaltung des Embryonenschutzes, der Sicherung der Persönlichkeitsrechte Betroffener, der Sicherheit für Entwicklungsländer und indigenen Völker gegen Biopiraterie und der Absicherung
landwirtschaftlicher Nutzung von Saatgut und Tierrassen.
Diese Bereiche werden in der EU-Richtlinie sehr widersprüchlich geregelt. Natürlich werden wir auch konkrete
Anträge für die Neugestaltung der EU-Patentrichtlinie
einreichen. Wir werden zur Klärung all dieser Fragen gemeinsam eine Anhörung durchführen und sicherlich noch
intensive Diskussionen führen.
Danke schön.
({6})
Für die F.D.P.-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Professor Edzard
Schmidt-Jortzig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der gigantischen
Zeit von 3,5 Minuten, die mir ganz streng zugeteilt wurde,
will ich mit einer eindeutigen Feststellung beginnen. Im
Nachhinein werde ich diesbezüglich aber auch einige Vorbehalte äußern.
Die F.D.P. ist nach wie vor der Ansicht, dass die Umsetzung der EU-Biopatentrichtlinie eine wünschenswerte
Modernisierung und Präzisierung des Schutzes geistigen
Eigentums auf dem Gebiet der Gentechnologie bedeuten
kann. Dies setzt allerdings die Bereitschaft voraus - ich
habe das immer wieder betont -, mit dem betreffenden
deutschen Gesetz die vorhandenen Gestaltungsspielräume offensiv zu nutzen. Das bezieht sich - wegen der
Kürze der Zeit muss, wie gesagt, alles sehr global bleiben - auf zweierlei. Beide Dinge sind auch schon zur
Sprache gekommen.
Zum einen geht es um die Schärfung und Revitalisierung des patentrechtlichen Grundgedankens, das heißt,
es muss wieder klarer herausgearbeitet werden, dass wirklich nur geistige Innovationen, also Erfindungen,
({0})
nicht aber bloße Neufeststellungen oder clevere Geschäftsideen, also im weiteren Sinne Entdeckungen mit
Ausschließungsanspruch und Vergütungsvorbehalt unter
Schutz gestellt werden.
({1})
Das ist bekanntlich in der Entwicklung der Patentierungspraxis ein wenig aus dem Blick geraten.
({2})
Zum anderen muss durch das Gesetz den spezifischen
Gefahren Rechnung getragen werden, die sich bei genetischen Patentierungen auftun können, sei es, dass ethische Grenzen überschritten werden, sei es, dass medizinisch-wissenschaftlicher bzw. therapeutischer Fortschritt
blockiert würde, der möglichst im vollen Umfang allen
Menschen zugute kommen soll. Hier bietet die EU-Biopatentrichtlinie bzw. der vorgelegte Umsetzungsentwurf
gute Ansätze, die jedoch noch ausgebaut werden sollten.
Wir haben darauf im Minderheitenvotum des Teilberichts
der Enquête-Kommission in der bekannten Drucksache
schon hingewiesen.
Wegen der nur noch 1,47 Minuten, die mir zur Verfügung stehen, will ich nur noch auf zwei einzelne Aspekte
eingehen. Den ersten kann ich relativ pauschal abhandeln:
Ich halte es für wenig zielführend, dass die Bundesregierung in keiner Weise auf die Parlamentsdebatte am
10. Mai dieses Jahres zu reagieren bereit zu sein scheint.
({3})
Zur heutigen ersten Lesung steht jedenfalls unverändert
der Gesetzentwurf in der Fassung vom 23. März zur Diskussion. Ich hoffe, das ist nur der Geschäftsordnung geschuldet und stellt noch keine inhaltliche Positionierung
dar. Ansonsten könnte sich das als fahrlässig erweisen.
Zweitens. Einen eklatanten Widerspruch - Herr Kollege Hauser hat schon darauf hingewiesen - bietet der
neue § 1 a des Entwurfs des Patentgesetzes. In Abs. 1
heißt es - ich wiederhole das -:
Der menschliche Körper … sowie die bloße Entdeckung eines seiner Bestandteile … können keine
patentierbaren Erfindungen sein.
In Abs. 2 heißt es dann:
Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers
… kann eine patentierbare Erfindung sein, ...
Was soll denn nun gelten?
({4})
- Die Einschränkung in Abs. 3, so haben Sie gesagt, sei
nur für einen ganz kleinen Ausschnitt gedacht. - Ist möglicherweise der hier geäußerte Verdacht doch begründet,
dass der Widerspruch gewollt ist, damit dann umso besser
im Trüben gefischt werden kann? Ich hoffe es nicht.
Ich hoffe aber sehr, dass wir im Laufe der Beratungen
noch Verbesserungen am Gesetz vornehmen können;
sonst sehe ich wirklich schwarz für diesen an sich guten
Ansatz, der da geboten wird.
Danke sehr.
({5})
Für die PDS erteile
ich das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eingerahmt von so viel geballtem juristischen Sachverstand soll
ich jetzt mit meinem schlichten Gemüt in dieser Debatte
eine Meinung äußern. Dabei fällt mir zunächst einmal auf,
dass die Regierung offensichtlich gemerkt hat, dass sie
auf einem falschen Wege ist. Sie sagt nämlich: Nachdem
wir dieses Gesetz verabschiedet haben, werden wir uns in
Brüssel darum kümmern, dass es geändert wird. Aber
wenn ich einen Weg als falsch erkannt habe, würde ich
doch erst den Fehler beseitigen und dann versuchen, eine
Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Dann könnte
man vielleicht all die Widersprüche, die die Kollegen
Hauser und Schmidt-Jortzig dankenswerterweise aufgedröselt haben, von vornherein auflösen.
Weiterhin stelle ich mit meinem schlichten Gemüt fest,
dass sich die Bundesregierung gegenüber dem Bundestag
sozusagen wie ein Übersetzungsbüro verhält. Es wird
nämlich die von der EU-Kommission erfundene Richtlinie genommen, ins Deutsche übersetzt und dann gesagt:
Das ist jetzt deutsches Recht. Ich finde, das deutsche Parlament hätte anderes verdient, als bloße Übersetzungen
vorgelegt zu bekommen. Wir haben als gesetzgeberisches
Organ dieses Staates den Anspruch auf Gestaltung. Wir
sollten diesen Einfluss auch geltend machen und nicht so
tun, als ob wir bloß Vollzugsorgan von irgendjemand anders wären.
({0})
Außerdem stelle ich mit meinem schlichten Gemüt
fest, dass sich die Pharmakonzerne einen Dreck um irgendwelche ethischen oder patentrechtlichen Dinge kümmern. Die machen das einfach. Gerade geht wieder durch
die Presse, dass ein Brustkrebsgen patentiert worden ist.
Nun erkläre mir bitte einmal jemand, welchen Fortschritt
das für die Menschheit bringt, dass jemand jetzt die
Rechte hat, alles kommerziell zu verwerten, was mit diesem Brustkrebsgen zusammenhängt! Gewiss keinen für
die Frauen, die Angst um ihre Brüste haben.
Der entscheidende Punkt für mich ist - das will ich
auch im Namen der PDS ganz deutlich sagen -, dass wir
dann, wenn wir wirklich wollen, dass die Würde des
Menschen unantastbar ist, überhaupt nichts von ihm unter das Eigentumsrecht von irgendjemand stellen können. Ich weiß nicht, wo da die Gesetzeslücke ist. In welchem bisherigen Gesetz steht, dass der Mensch Eigentum
von irgendjemand sein kann? Soweit ich mich entsinne,
ist die Sklaverei abgeschafft. Das war das letzte Mal, dass
es Eigentumsrecht auf Menschen gab. Ich finde, dass wir
es nicht nötig haben, jetzt die Sklaverei über die Gene
wieder einzuführen.
Ich hatte die Aufgabe, in noch kürzerer Zeit als der Kollege Schmidt-Jortzig - ich habe nur drei Minuten, und Sie
hatten die sagenhafte Zeit von 3,5 Minuten - die Position
der PDS darzustellen. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen
ist. Ich hoffe aber, Ihnen ist klar: Wir lehnen jegliche
Eigentumsansprüche auf Menschen oder irgendwelche
Teile von ihnen ab. Das soll auch so bleiben.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Margot von Renesse, der wir für ihren
Arm gute Besserung wünschen.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wie es sich gehört, legt die
Bundesregierung als Vertragspartner der Europäischen
Union - nicht mehr ganz fristgemäß, aber in Respekt vor
dem Parlament und seinen bisherigen Debatten zur
Bioethik bzw. zum Patentrecht - ihren Gesetzentwurf zur
Umsetzung vor. Auch ich, Herr Seifert, bin der Meinung,
dass dies nicht das Ende der Fahnenstange ist. Trotzdem
finde ich es richtig - genau wie die Bundesregierung -,
dass man die EU-Patentrichtlinie umsetzt; denn sie stellt
einen Fortschritt dar, der allerdings noch nicht an sein
Ende gelangt ist.
Herr Schmidt-Jortzig hat das Minderheitenvotum der
Enquête-Kommission zitiert. Darin steht - wer Ohren hat
zu hören, der höre, und wer Augen hat zu sehen, der lese -,
dass alle Mitglieder der Enquête-Kommission der Auffassung sind, dass das Patentsystem beim Biopatent an
seine Grenzen stößt. Dieses System als solches muss verändert und angepasst werden, möglicherweise auch an andere Teile der Wissenschaft und Technik, nämlich der
Informatik. Das kann sein.
Das ändert aber nichts daran, dass es nur international
fortgeschrieben werden kann. Denn unser nationales Patentrecht, mit dem wir es jetzt zu tun haben, ist inzwischen
längst die Facette eines internationalen Geflechts, aus
dem wir uns beim besten Willen, selbst wenn wir wollten,
nicht ausklinken können. Denn - das hat uns Herr van
Raden bei der Anhörung deutlich gemacht - wenn unser
Patentrecht nicht mit der EU-Patentrichtlinie kompatibel
ist, wird der Senat des entsprechenden Patentgerichts das
beim Europäischen Gerichtshof vorlegen müssen. Und
dann bekommen wir den Salat. Jetzt können wir es noch
inhaltlich verändern.
({0})
Wenn der EuGH nach der Patentrichtlinie verfährt, dann
ist es vorbei. Dann bekommen wir es per Ukas durch die
dritte Gewalt aufgebrummt. Das möchten wir vermeiden.
Wir möchten unser nationales Patentrecht innerhalb
der EU-Patentrichtlinie so anpassen, dass wir so weit wie
möglich, Frau Höfken, auf das Problem eingehen, das
meines Erachtens die Systemgrenze markiert, nämlich die
Gefahr der Überbelohnung dessen, der insbesondere auf
dem Gebiet der Naturstoffe ein Stoffpatent erhält. Das
wird vor allem an den Genen deutlich, weil sie multifunktional sind. Mit einer Funktion alleine das Stoffpatent
zu gewähren birgt im Ergebnis die Gefahr der Überbelohnung. Deswegen sollten wir so weit wie möglich in die
von mir dargestellte Richtung gehen. Dabei hoffe ich auf
die Hilfe der Patentrechtler, dass sie uns sagen, wie wir
das Stoffpatent auf die gefundene Funktion einschränken
und nichts hinzugeben. Das wäre ein Fortschritt, denn
darin liegt ein ethisches Problem.
Es liegt jedoch kein ethisches Problem - das sage ich
mit aller Deutlichkeit - in der Patentierung von Naturstoffen, und zwar auch bei Genen. Es gibt zwei Gründe,
das anzunehmen. Der eine Grund ist die berühmte Formel
von Greenpeace - ich habe das Opus Dei der Naturreligion genannt -: Kein Patent auf Leben. Welche Gleichsetzung des Genoms mit Leben! Dies kann ich aus ethischen Gründen nicht akzeptieren. Ich habe das bereits in
der Debatte über das Patentrecht gesagt. Was ist nicht alles mit Leben gleichgesetzt worden: Blut, Herz, Gehirn.
Man hat sich immer geirrt. Das Leben ist viel komplexer
als das Genom.
({1})
Es ist im Ergebnis gegen alle abendländische Kultur, das
Leben mit dem Genom gleichzusetzen. So materialistisch, so biologistisch ist insbesondere menschliches Leben nicht. Das hat übrigens auch die Genforschung sehr
deutlich gemacht.
Es kommt darauf an, dass wir nicht die Entdeckung
und die Vermehrung des Wissens patentieren - das ist
nämlich der Sinn dieser scheinbar so widersprüchlichen
Sätze, die hier zweimal zitiert worden sind -, sondern die
Vermehrung des Könnens. Das ist in der Tat ein Problem
beim Genom, nämlich die Differenz zu den bisherigen Patentierungsmöglichkeiten für Naturstoffe, nur weil man
sie findet und isoliert.
Insoweit ist die Patentrichtlinie Gott sei Dank tatsächlich eine Einschränkung. Denn das muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden: Die EU-Patentrichtlinie und, ihr
folgend, das nationale Recht, wenn wir sie umsetzen, erfinden nicht das Patent im Biotechnologiebereich, sondern sie schränken es ein - möglicherweise nicht genug,
Frau Höfken. Möglicherweise müssen wir und können
wir mehr tun. Aber dass wir in Richtung von Greenpeace
einen Gewinn machen, wenn wir sie nicht umsetzen und
damit das bisherige Patentrecht in seiner viel größeren
Reichweite behalten - wonach sogar, Frau Höfken, die
Züchtung patentierbar ist, was seit längerem in Deutschland üblich ist, das wird jetzt mit der Patentrichtlinie ausgeschlossen und so gehört sich das -, wage ich zu bezweifeln.
Es ist wie bisher ausgeschlossen, dass das reine Finden
eines Naturstoffes schon zu einem Patent führen kann.
Man muss nämlich wissen, was man damit machen kann.
Das ist der Sinn dieses zweiten Satzes: Patentierbar ist nur
der Naturstoff - auch der, der im Körper des Menschen vorzufinden ist -, mit dem ein Erfinder etwas machen kann.
Damit ich das auch noch deutlich sage: Das Patent gibt
nie ein dingliches Recht an diesem Naturstoff. Dem Patentinhaber gehört nicht, was patentiert wird. Was ihm
gehört, ist seine Idee. Ihr Genom bleibt Ihres und Sie brauchen keine Lizenz zu zahlen, wenn Sie mit Ihrem Genom
Kinder haben. Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.
Die interessante Geschichte für den Erfinder ist, dass er
etwas damit machen kann, was in der Natur nicht vorkommt. Davon lebt und damit überlebt der Mensch. Die
Natur ist dem Menschen nicht wohlgesonnen. Sie ist
gleichgültig, manchmal feindselig. In der Natur bestehen
wir nur als Wesen, die kein Fell haben, um sich zu wärmen, keine Klauen, um Beute zu schlagen, indem wir die
Stoffe der Natur und die Kräfte der Natur erkennen und
neu montieren. Das ist unser Gestaltungsauftrag und dem
tragen wir Rechnung.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/5642 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es
keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({0}), Gunnar Uldall,
Peter Rauen, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Zukunft der deutschen Messewirtschaft in der
Globalisierung
- Drucksachen 14/4816, 14/5581 -
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der CDU/CSU
vor.
Es ist zwar eine Redezeit vorgesehen, aber alle Reden
sind zu Protokoll gegeben worden.1) Deswegen eröffne
ich die Aussprache und schließe sie auch gleich wieder.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6340 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie und zur Mitberatung an den Ausschuss
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, an den Haushaltsausschuss, an den Auswärtigen Ausschuss und an den
Ausschuss für Tourismus zu überweisen. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Schmidbauer ({2}), Gudrun Schaich-Walch,
Marga Elser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Kerstin Müller ({3}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung
- Drucksachen 14/4263, 14/6307 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Schmidbauer ({4})
Auch hierfür war eine Aussprache vorgesehen, aber
alle Reden sind zu Protokoll gegeben worden.2) Deswegen eröffne und schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 14/6307. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4263 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der CDU/CSU- und der
F.D.P.-Fraktion ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Nun rufe ich die Beratung des Tagesordnungspunktes 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Eduard Lintner, Dirk Fischer ({6}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU
Erlaubnis zum Führen von Schienenfahr-
zeugen
- Drucksachen 14/4933, 14/6035 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wieland Sorge
Auch dafür war eine Redezeit vorgesehen, aber die Re-
den sind zu Protokoll gegeben worden.3) Deswegen eröffne und schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/6035. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4933 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der F.D.P. ist die Beschlussempfehlung
angenommen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der
Strafprozessordnung ({7}) - Drucksache 14/4661 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Hier ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit
sind Sie einverstanden.
Ich hoffe, dass Sie alle noch die letzte halbe Stunde hier
bleiben; denn diese Debatte ist ganz spannend. Ein Mit-
glied des Bundesrates hat sich zu der späten Stunde noch
zu uns gesellt.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Jus-
tizsenatorin der Freien und Hansestadt Hamburg,
Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit.
1) Anlage 4
2) Anlage 5
3) Anlage 6
Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Senatorin ({9}) ({10}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Stunde
ist wirklich vorgerückt. Aber es stimmt, es ist ein sehr interessantes Thema. Ich danke Ihnen, wenn Sie diese Aufmerksamkeit trotz großer und berechtigter Ermüdung
noch aufbringen.
Das Gesetz zur Stärkung der Verletztenrechte, wie wir
es genannt haben, ist aus unserer Sicht ein ganz wichtiger
Schritt, um endlich etwas Neues und Zusätzliches für Opfer, für Verletzte aus Straftaten zu schaffen. Der von uns
im Rahmen der Hamburger Initiative erarbeitete und vom
Bundesrat über ein Jahr - damit sehr gründlich - beratene
und dann beschlossene Gesetzentwurf sichert die Grundlage für ein neues, einheitliches Konzept. Ich freue mich
sehr, dass es gelungen ist, im Bundesrat ein einstimmiges
Votum aller 16 Länder für die Einbringung dieses Gesetzentwurfes in den Deutschen Bundestag zu erreichen.
({11})
Dieses Ergebnis - das wissen wir alle - ist bei solchen
grundlegenden Reformvorhaben eher selten. Es lässt uns
alle hoffen, dass das Gesetz, dessen Inhalt ich gleich kurz
skizzieren möchte, die noch ausstehenden Hürden im
Bundestag rasch und mit Bravour meistern kann. Wir werden natürlich gefragt, warum wir ein solches Gesetz brauchen. Wir brauchen eine grundlegende Neubestimmung
der Rolle des Verletzten im Strafprozess.
({12})
Nach wie vor ist das geltenden Recht im Hinblick auf
das Opfer, auf den Verletzten oder die Verletzte aus einer
Straftat unübersichtlich und vor allen Dingen inkonsistent. Handlungsbedarf besteht insbesondere im Hinblick
auf die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates
gegenüber den Verletzten. Die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes verpflichtet die staatlichen Organe bei einer Straftat natürlich zur Aufklärung des Sachverhaltes. Sie verpflichtet auch dazu, den mutmaßlichen
Täter in einem fairen Verfahren dem gesetzlichem Richter
zuzuführen. Das alles ist selbstverständlich. Niemand will
etwas daran ändern.
Aber diese unsere Grundrechtsordnung verpflichtet die
staatlichen Organe auch - und zwar keineswegs nachrangig, sondern mindestens in gleicher Weise -, sich schützend und fördernd vor die Verletzten zu stellen, ihre
Rechte zu schützen und ihnen zu ermöglichen, ihre Interessen wirksam, also justizförmig, und in angemessener
Frist durchzusetzen. Denn im Gegensatz zum Beschuldigten haben sie, die Verletzten, nur in den seltensten
Fällen zu der Straftat und damit zur Störung des Rechtsfriedens beigetragen und verdienen schon deshalb mindestens dieselbe Aufmerksamkeit und Fürsorge wie der Beschuldigte.
({13})
Die notwendige sachangemessene Berücksichtigung
der Interessen der Verletzten im Strafverfahren erhöht im
Übrigen nach unserer Erfahrung die Frieden stiftende
Funktion der Strafjustiz und ermöglicht damit zugleich
eine bessere, eine effektivere Strafverfolgung. Da mehr
als 90 Prozent aller Ermittlungsverfahren durch Anzeigen
von Privatpersonen in Gang gebracht werden, hängt die
effektive Verbrechensbekämpfung langfristig von der
Bereitschaft der Verletzten, sich aktiv am Strafverfahren
zu beteiligen, ab.
Ziel unseres Gesetzentwurfes - zur Erinnerung: eines
einstimmigen Entwurfes der Länderkammer - zur Stärkung der Verletztenrechte ist es, ein aus vielen Elementen
bestehendes ganzheitliches Konzept umzusetzen, in dem
die Rolle der Verletzten nach einer Straftat grundsätzlich
neu definiert wird.
Ich will kurz verdeutlichen, worum es geht. Es geht
nämlich um drei Ebenen:
Erstens. Wir wollen die Persönlichkeitsrechte der Verletzten besser schützen.
Zweitens. Wir wollen die Verletzten im Strafverfahren
aktiver werden lassen als bisher.
Drittens. Wir wollen den Verletzten den Weg zum
Schadensersatz erleichtern.
Zunächst einmal geht es also um die Persönlichkeitsrechte, die wir stärken wollen. Befragungen von Opferzeugen zeigen, dass mehr als die Hälfte von ihnen die
Auswirkungen eines Prozesses auf ihr Befinden im Nachhinein negativ bewertet. Verbrechensopfer leiden noch
Monate nach der Tat unter der Schwächung ihres Selbstwertgefühls. Sie nehmen sich in der Prozesssituation als
schwach und unsicher wahr. Sie haben Ängste und können deshalb ihnen an sich zustehende Rechte oft nicht nutzen.
Dem wollen wir durch die Einführung einer Pflicht des
Gerichts vorbeugen, die Zeugen nicht nur über ihre
Pflichten, sondern auch über ihre Rechte zu belehren. Jeder Mensch, der je eine Zeugenladung bekommen hat,
weiß, dass darin steht: Sie müssen kommen; wenn Sie
nicht kommen, können Sie bestraft werden. - Diese Belehrung ist zwar notwendig; aber wir wollen erreichen,
dass nicht nur die Pflichten eines Zeugen in einer solchen
Ladung stehen, sondern zugleich auch Hinweise auf die
wesentlichen Rechte, die ein Zeuge hat. Wir wollen, dass
ihm mitgeteilt wird, dass er nicht über alles aussagen
muss. Wir wollen vor allen Dingen, dass ihm mitgeteilt
wird, dass er sich einen Beistand beschaffen darf, mit dem
er kommen kann. Das muss nicht, kann aber ein Rechtsanwalt sein.
Zweitens wollen wir dieser Angstsituation des Zeugen durch eine verstärkte Verpflichtung des Gerichts zur
Rücksichtnahme auf das Schamgefühl von Zeuginnen bei
körperlichen Untersuchungen vorbeugen. Dazu haben wir
im Einzelnen Vorschläge gemacht.
({14})
Wir wollen die Videovernehmung von ängstlichen Zeugen ausbauen. Sie soll nicht nur bei Kindern, sondern
auch bei Opfern sexueller Straftaten möglich sein. Darüber hinaus wollen wir einem Verbot der Herausgabe von
Aufzeichnungen der Aussagen von Zeugen das Wort reden. Wir wollen erreichen, dass solche Aufzeichnungen
nicht ohne Weiteres herausgegeben werden dürfen.
Schließlich wollen wir - das schien uns besonders
wichtig - die Rechtsstellung des Verletzten dadurch stärken, dass wir einem nicht anwaltlichen Zeugenbeistand
mehr Rechte als bisher geben. Denn viele Zeugen fürchten sich und haben wegen ihrer innerlichen Verfassung gar
keine Möglichkeit, einen Anwalt bzw. eine Anwältin zu
beauftragen. Wenn sie das tun, sind sie schon geschützt.
Aber es würde ihnen schon reichen, wenn sie eine Person
ihres Vertrauens, mit entsprechenden Rechten ausgestattet, mitbringen könnten.
Die zweite Ebene. Wir wollen den Verletzten bzw. die
Verletzte im Strafverfahren aktiv werden lassen. Die
Zeugnispflicht im Strafverfahren - ich habe das ausgeführt - ist zwar ganz außerordentlich notwendig, weil immer noch das Zeugnis eines Verletzten das wichtigste
Beweismittel ist. Aber diese Situation ist für den Opferzeugen und für die Opferzeugin zugleich besonders belastend. Viele Verletzte beklagen ihre passive Rolle als Zeugen und vermissen insbesondere die Möglichkeit, ihre
Ängste, ihre Wut, ihre Verletztheit - kurz: ihre Empfindungen - in das Verfahren einzubringen. Die aktive Teilnahme des Verletzten am Verfahren durch Wahrnehmung
eigener Rechte trägt wesentlich zum Abbau dieser Belastung bei.
Wir wollen erreichen, dass der Verletzte in solchen Fällen mit dem Beschuldigten auf gleicher Augenhöhe stehen kann, dass ihm vom Gesetz so viel Selbstbewusstsein
ermöglicht wird, dass er sich gleichberechtigt neben dem
Schädiger wiederfindet. Zudem führt eine solche Stärkung des Verletzten im Verfahren zu einer besseren Akzeptanz des Verfahrens, insbesondere auch aufseiten der
Geschädigten.
Die aktivere Teilnahme soll durch Stärkung der Rechte
der Verletzten erreicht werden, insbesondere durch eine
Pflicht des Gerichts zur Mitteilung des Termins gegenüber solchen Verletzten, die nebenklageberechtigt sind.
Das Gesetz sagt genau, wann jemand nebenklageberechtigt ist; es gibt einen Katalog von Taten. Aber es gibt keine
Pflicht des Gerichtes, einem nebenklageberechtigten Verletzten, der sich noch nicht erklärt hat, mitzuteilen, wann
die Hauptverhandlung ist. Diese Pflicht setzt erst ein,
wenn die Nebenklage erklärt ist. Wir meinen: Das muss
viel früher einsetzen, damit der Verletzte sich überlegen
kann, ob er zur Hauptverhandlung geht und ob er vielleicht einem länger währenden Verfahren beitritt.
({15})
Wir wollen deswegen auch erreichen, dass der nebenklageberechtigte Verletzte, auch wenn er die Nebenklage
nicht oder noch nicht erklärt hat, im Verfahren anwesend
sein darf. Wenn das Verfahren für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich ist, darf er das sowieso. Aber er soll
auch dann anwesend sein dürfen, wenn die Öffentlichkeit
nicht anwesend sein darf. Schließlich wollen wir erreichen, dass die Nebenklage auch im Sicherungsverfahren
zulässig sein soll.
Die dritte Ebene unseres Vorschlages betrifft die bessere und schnellere Erreichung des Schadensersatzes.
Kriminologische Untersuchungen zeigen, dass für die
Opfer von Straftaten ein rascher und unkomplizierter Ausgleich ihrer materiellen Schäden besonders wichtig ist. Es
ist deshalb nötig, die gerichtliche Möglichkeit zum Schadensersatz zu verbessern. Für viele Verletzte ist die Trennung - auf der einen Seite die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und auf der anderen Seite das
Zivilverfahren, in dem sie sich selbst um ihren Schadensersatz bemühen müssen - weder nachvollziehbar noch
aushaltbar.
Die Verbesserung der Möglichkeiten für Geschädigte,
vermögensrechtliche Ansprüche bereits im Strafverfahren
geltend zu machen, stärkt den Verletzten im Kernbereich
seiner legitimen Interessen. Außerdem werden natürlich
auf diese Weise Ressourcen des Gerichtes geschont, wenn
diese Fragen in einem Verfahren geklärt werden.
Wir haben deshalb - so steht es in unserem Gesetzentwurf - die Einführung eines sofort vollstreckbaren strafrechtlichen Wiedergutmachungsvergleichs vorgeschlagen, der direkt im Strafverfahren geschlossen wird. Auch
haben wir ein Anerkenntnisurteil im Strafverfahren vorgeschlagen. Das kann auch ein Grundurteil sein. Es geht
ja oft darum, dass die Entschädigung noch nicht bis auf
den letzten Pfennig ausgerechnet ist. Aber es ist wichtig
klarzumachen: Hier wird Schadensersatz geschuldet.
Schließlich schlagen wir die Einschränkung der bisherigen Befugnis des Strafrichters im Adhäsionsverfahren
- so heißt dieses Verknüpfungsverfahren - vor. Heute
kann nach geltendem Recht ein Strafrichter sagen: Ich
führe kein Adhäsionsverfahren durch; ich behandle den
zivilrechtlichen Teil der Angelegenheit nicht, weil das den
Abschluss des Strafverfahrens verlängern kann. - Diese
Erklärung kann sehr schnell abgegeben werden, sodass es
auf diese Weise kaum zu einem Adhäsionsverfahren
kommt. Wir schlagen vor: Ein Richter, der dieses Adhäsionsverfahren nicht durchführen möchte, muss begründen,
warum er es nicht tut. Wir sind sicher, dass es auf diese
Weise sehr viel häufiger zu einem Adhäsionsverfahren
kommen wird.
({16})
Ich werbe für dieses Länderkammergesetz, weil die
Verbesserung des Verletztenschutzes eine so wichtige und
bisher oft vernachlässigte Aufgabe in unserem Rechtsstaat ist. Ich freue mich, dass diese bedeutsame rechtspolitische Initiative aus meiner Heimatstadt Hamburg nun
auf gutem Wege ist.
({17})
Gerade weil so oft beklagt wird, im Strafverfahren kümmere man sich nur oder vorwiegend um den Angeklagten,
war es nötig, die Weichen eindeutig neu, nämlich in Richtung auf den Geschädigten und auf den Verletzten oder die
Verletzte, zu stellen. Ihm oder ihr gebührt Aufmerksamkeit und Fürsorge. Von ihm - ich sagte es bereits -, der zu
der Straftat fast nie beigetragen hat, muss ein Rechtsstaat
so gut wie möglich weiteren Schaden abwenden.
Senatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit ({18})
Auch die Bundesregierung plant eine Reform des
Strafprozesses und geht ähnliche Wege wie der Bundesrat. In den an die Landesjustizverwaltungen übersandten
Eckpunkten für eine Reform der Strafprozessordnung
finden sich einzelne Ansätze dieses Entwurfs wieder, wie
etwa der Wiedergutmachungsvergleich. Wir meinen, dass
es einer grundlegenden Neubestimmung der Rolle des
Verletzten im Strafverfahren bedarf. Für diese umfassende und abgestimmte Reform bildet unser Entwurf, so
glaube ich, eine sehr gute Grundlage.
Ich danke Ihnen.
({19})
Nun hat der Kollege
Dr. Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute beschäftigt
uns ein Thema, das vielen Opfern von Verbrechen schon
lange auf den Nägeln brennt. Es geht um den strafrechtlichen Opferschutz im Rahmen eines neuen Gesetzes zur
Stärkung der Verletztenrechte.
Der vom Bundesrat einstimmig eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung der Strafprozessordnung, der über
ein Jahr lang beraten wurde, ist ein weiterer wichtiger
Schritt auf dem Weg, den deutschen Strafprozess in seiner
Funktion grundlegend zu erweitern. Die Länder gehen in
die richtige Richtung und reihen sich in die gute Tradition der Rechtspolitik von CDU und CSU ein.
({0})
Die Bestrebungen der Länder finden in dieser Sache
deshalb grundsätzlich unsere Unterstützung, bauen sie
doch gerade auf dem Opferschutzgesetz von 1986 und
dem Zeugenschutzgesetz von 1998 auf ({1})
- in einer bürgerlichen Koalition, verehrter Herr Kollege
van Essen -, den maßgeblichen Gesetzen zum Opferschutz, die von der Union und der F.D.P. auf den Weg gebracht und verwirklicht worden sind.
Bisher stellt das Strafprozessrecht vor allem ein Instrument dar, mit dessen Hilfe die zuständigen staatlichen
Stellen im Falle einer Straftat die Aufklärung des Sachverhalts und die Verurteilung des Täters durchführen können. Das Opfer spielt im Grunde genommen lediglich die
Rolle eines reinen Beweismittels, das sich in vielen Fällen noch nicht einmal seiner Persönlichkeitsrechte sicher
sein kann. Denken Sie nur an die Herausgabe von Videoaufzeichnungen der Aussage von Opferzeugen oder die
Untersuchungen und zum Teil entwürdigenden Befragungen von Opfern sexueller Straftaten.
Das bestehende Strafprozessrecht muss um einen entscheidenden Aspekt ergänzt werden, wenn wir das Vertrauen der Bürger in die Rechtssicherheit stärken wollen.
Es geht um den Aspekt, dass der Staat gerade gegenüber
dem Opfer einer Straftat seiner Fürsorgepflicht entsprechen muss. Der Grundrechteschutz darf nicht dort aufhören, wo das strafrechtliche Verfahren beginnt. So manches Mal hat man den Eindruck, dass auf die Grundrechte
der Täter mehr geachtet wird als auf die der Opfer.
({2})
Der Entwurf des Bundesrates sieht vor, die Betroffenen
zu gleichberechtigten Prozessbeteiligten zu machen und sie
nicht mehr nur als passive Teilnehmer, denen im Grunde
nur die Nebenklage zur Verfügung steht, auf die Zuschauerbank zu verbannen. Hier besteht Handlungsbedarf.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die entsprechenden Weichen und setzt dazu an drei Punkten an: erstens an
der Betonung des Persönlichkeitsrechts des Opfers, zweitens an der aktiven Teilnahme des Opfers am Verfahren
und an der Wahrnehmung eigener Rechte und drittens an
der Verbesserung der Möglichkeiten für Geschädigte, vermögensrechtliche Ansprüche schon im Strafverfahren
geltend zu machen.
Zu Punkt eins. Bei der Verbesserung der Persönlichkeitsrechte der Opfer ist die Einführung einer Pflicht
zur Belehrung von Zeugen vorgesehen, die nicht, wie
bisher, eine bloße Aufklärung über ihre Pflichten, sondern auch über ihre Rechte erhalten sollen. Neben all
den weiteren Verbesserungsvorschlägen wie die vermehrte Rücksichtnahme bei körperlichen Untersuchungen von Zeuginnen und die Verbesserungen im Bereich
der Videovernehmungen ist dieser Punkt besonders geeignet, endlich ein Umdenken hin zu einem verstärkten
Opferschutz zu bewirken, da der Betroffene wieder
mehr in das Geschehen gerückt wird.
Die zweite Zielsetzung widmet sich der vermehrten aktiven Teilnahme des Verletzten am Verfahren. Es soll ermöglicht werden, dass auch persönliche Empfindungen
und Einschätzungen der Opfer Berücksichtigung finden.
Dann würden endlich Betroffene und Täter gleichberechtigt gehört. Denn für wen ist eigentlich ein solches Strafverfahren da? Soll das gerichtliche Strafverfahren eine
Verständnisveranstaltung für den Täter sein oder soll es
zur Durchsetzung des staatlichen Sanktionsanspruchs, zur
Herstellung des Rechtsfriedens und eben auch zum Opferausgleich dienen? Niemand möchte die Schlechterstellung des Straftäters im Prozess. Ich bin aber überzeugt,
dass auch ganz bestimmt niemand die gerichtliche
Schlechterbehandlung von Verbrechensopfern will.
Der letzte Punkt, die Ausweitung des so genannten
Adhäsionsverfahrens, verdient besonderes Augenmerk.
Damit wird den Verbrechensopfern die Möglichkeit gegeben, ihre zivilrechtlichen Ansprüche wie beispielsweise
den Schadensersatz schon im Strafverfahren geltend zu
machen. Ein schneller materieller Schadensausgleich auf
der Opferseite könnte erheblich zu einem erhöhten Vertrauen in die Rechtspflege führen, da die Trennung zwischen zivil- und strafrechtlichem Verfahren von Nichtjuristen oft nicht verstanden und auch nicht akzeptiert wird.
({3})
Senatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit ({4})
Es ist an der Zeit, dass wir verhindern, dass die Opfer nach
einem Verbrechen, das sie ohnehin schon aus ihrem Alltag herausreißt, durch die Justiz möglicherweise erneut zu
Opfern werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, hoffentlich bewirkt der Gesetzentwurf des Bundesrates noch etwas
Gutes, nämlich dass sich die Räder des Bundesjustizministeriums endlich in die Richtung von mehr Opferschutz
bewegen. Denn was von dort bis jetzt zum Opferschutz
gekommen ist, sind nur Worte, aber leider keine Taten.
({5})
Die Stellungnahme der Bundesregierung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates, in der die Rede
davon ist, dass - ich zitiere - sich die Bundesregierung besonders der Opfer annehmen will,
({6})
ist ebenso vollmundig wie zweifellos öffentlichkeitswirksam. Aber sie ist fern jeder Realität.
({7})
Ich frage Sie: Wie und wo nimmt sich die Bundesjustizministerin der Opfer an? Etwa in ihrem Referentenentwurf zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems?
Wenn man erklärt, dass künftig 10 Prozent der Einnahmen
aus Geldstrafen den Opfern zugute kommen sollen, dann
kommt das zwar gut an und man kann damit gut hausieren gehen; es ist aber zu bedenken, dass ein solches Vorgehen zulasten der Länder geht, weil dadurch ausschließlich deren Haushalte betroffen sind - ganz zu schweigen
von dem immensen Mehraufwand, den die Länder zu leisten haben.
Soll vielleicht das Eckpunktepapier zur Reform des
Strafprozesses der große Wurf sein?
({8})
Dazu kann ich nur sagen: Dieses Papier hilft den Opfern
nicht; vielmehr macht es sie erneut zu Opfern.
({9})
Was in diesem Papier als Beteiligungsrechte des Beschuldigten verkauft wird, läuft in Wahrheit auf groteske Verfahrensverzögerungen hinaus. So sollen in Ermittlungsverfahren beispielsweise ein so genanntes Rechtsgespräch und ein Anhörungstermin im Zwischenverfahren eingeführt werden. Der Sachaufklärung wären diese
Maßnahmen in keiner Weise dienlich. Im Gegenteil: Sie
würden das ohnehin schon langwierige Verfahren noch
mehr aufblähen, ganz zu schweigen von der erheblichen
Mehrbelastung aller Prozessbeteiligten.
({10})
Oder will die Koalition zu diesem Zweck das im letzten
Jahr verabschiedete Gesetz zur strafrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs als eigenen Erfolg ins
Feld führen?
({11})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nur der Union ist
es zu verdanken, dass dieser Gesetzentwurf nicht die Interessen des Täters, sondern des Opfers an die erste Stelle
setzt.
({12})
Wir haben - in guter Zusammenarbeit mit der F.D.P. durchgesetzt, dass der ursprüngliche Entwurf in entscheidenden Punkten zugunsten des Opferschutzes verbessert
worden ist.
({13})
Wir begrüßen die Bundesratsinitiative auch deshalb,
weil vonseiten der Bundesregierung und der Regierungskoalition zum Opferschutz bisher nichts Nennenswertes
gekommen ist. Der Entwurf geht in die richtige Richtung.
Über Einzelheiten werden wir im Rechtsausschuss beraten. Wir werden hoffentlich große Einigkeit darüber erzielen, dass die Interessen der Opfer von Straftaten vor denen der Täter stehen.
Ich bedanke mich.
({14})
Nun hat der Kollege
Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich dachte, dass wir uns endlich einmal alle einig
sind. Herr Kollege, da Sie die Koalition und die Bundesregierung angegangen sind - Sie machen immer wieder
dasselbe -, muss ich Ihnen einfach sagen: Wenn Ihnen das
so am Herzen liegt, dann hätten Sie das schon vor vielen
Jahren machen können.
({0})
Wir haben uns mit der Bundesregierung zusammengesetzt und über eine ganze Reihe von Vorschlägen diskutiert. Nun ist ein Gesetzentwurf in der Mache, der noch in
dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. Der Gesetzentwurf, der verabschiedet werden wird, wird wesentliche
Teile des Gesetzentwurfs des Bundesrates übernehmen.
Die Teile, die wir hinzufügen, sind ein kleines bisschen
besser. Genau darauf komme ich nun zu sprechen.
Wir sehen natürlich - gerade die Bündnisgrünen haben
das immer gesagt -, dass die Opfer von Straftaten in den
Strafverfahren sehr häufig nicht anständig behandelt werden: Sie werden schikanösen Vernehmungen ausgesetzt, sie werden über ihre Rechte und Möglichkeiten im
Strafverfahren nicht ausreichend informiert und können
sie deshalb nicht wahrnehmen. Daher finden wir es positiv und richtig - auch das gehört in das Gesetz hinein -,
dass die Opfer von Straftaten möglichst früh, möglichst
bei der ersten Anzeige, über ihre Rechte informiert werden: dass sie natürlich die Möglichkeit haben, sich der
Hilfe eines Rechtsanwalts zu bedienen, der zur Not vom
Staat bezahlt wird. Wir sind ebenfalls dafür, dass die Opfer von Straftaten zu Vernehmungen bei der Polizei oder
vor Gericht grundsätzlich Personen ihres Vertrauens mitnehmen können, wenn dem nicht ganz besondere Gründe
entgegenstehen. Das hilft ihnen, das stärkt sie, das macht
sie sicher. Deshalb ist es gut so.
Wir wollen natürlich auch, dass die Opfer von Straftaten darüber informiert werden, dass ein Strafprozess über
das, was sie angezeigt haben, überhaupt stattfindet. Häufig wissen sie das gar nicht. Jahre später - manchmal
überhaupt nicht - erfahren sie, dass inzwischen ein Strafverfahren stattgefunden hat. Sie wissen gar nicht, was dabei herausgekommen ist, weil sie daran nicht beteiligt waren. Auch das soll nicht sein. Sie sollen über die Termine
informiert werden, damit sie die Gelegenheit haben, zu erfahren, was eigentlich passiert.
Wir sind darüber hinaus dafür, dass Opfer von Straftaten bei körperlichen Untersuchungen, vor allem bei solchen, durch die in den Intimbereich eingegriffen wird,
entscheiden können, ob sie - das gilt nicht nur für Frauen,
sondern auch für Männer - von einer Ärztin oder einem
Arzt oder von einer weiblichen oder von einer männlichen
Person untersucht werden. Ich denke, es gehört zur Würde
des Menschen, dass er dieses Wahlrecht hat. Es muss ihm
also grundsätzlich eingeräumt werden.
Wir wollen auch, dass die Opfer von Straftaten nicht
erst in der Hauptverhandlung, wenn sie zum Beispiel als
Nebenkläger auftreten, sondern schon im Vorverfahren
die Unterstützung eines Rechtsanwaltes haben, dass sie
entsprechende Informationen bekommen und beteiligt
werden sowie dass sie schon im Vorverfahren Personen
ihres Vertrauens hinzuziehen dürfen.
Ein ganz großer Missstand, den ich auch aus meiner
Praxis als Strafverteidiger kenne, ist, dass die Opfer von
Straftaten nicht nur nichts über die Verfahrenseinstellung erfahren - viele Verfahren werden ja nach § 153 oder
§ 153 a der Strafprozessordnung eingestellt -, sondern
auch nicht am Verfahren beteiligt werden. Sie erfahren
vielleicht erst von Nachbarn, wie das Verfahren ausgegangen ist; sie sind völlig überrascht - man hört oft die
Frage: Der ist so davongekommen? Es hat noch nicht
einmal ein Strafverfahren stattgefunden? - und haben
überhaupt kein Verständnis für die Verfahrenseinstellung.
Ich denke, es ist im Interesse aller, sowohl der Verletzten
als auch der Beschuldigten, wenn die Verletzten schon in
einem frühen Stadium, also vor der Hauptverhandlung,
über eine beabsichtigte Einstellung des Verfahrens informiert werden, und wenn sie Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen, um dann möglicherweise Argumente
vorzubringen, warum diese Geldbuße oder jene Auflage
nicht ausreicht, um den Rechtsfrieden wieder herzustellen.
Das ist eine ganze Reihe von Punkten, die man bedenken muss und die im Gesetz berücksichtigt werden müssen, damit sich die Opfer von Straftaten in Zukunft nicht
mehr als Opfer von Strafprozessen fühlen müssen. Das
wollen wir nicht. Das entsprechende Gesetz ist in Vorbereitung. Wir haben in zahlreichen Diskussionen weitgehende Einigkeit erzielt. Die Anregungen des Bundesrates
sind uns sehr willkommen. Wir werden darüber im
Rechtsausschuss beraten. Ich bin sicher, dass wir angesichts des bisherigen Tempos noch in dieser Legislaturperiode einen gemeinsamen Gesetzentwurf verabschieden
werden.
({1})
Für die F.D.P.-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr darüber,
dass es einen Wettbewerb gibt, wie wir den Opfern im
Strafverfahren am besten helfen können. Trotzdem gibt
es noch etwas Besseres, als die Rechte der Opfer von
Straftaten zu verbessern, nämlich dafür zu sorgen, dass
Menschen erst gar nicht zu Opfern werden. Frau Justizsenatorin, wenn ich mir die Kriminalitätsbelastung in
Ihrer Heimatstadt Hamburg anschaue, dann denke ich,
dass gerade der Hamburger Senat, für den Sie gesprochen haben, eine Menge zu tun hat.
({0})
Nicht umsonst ist in dem beginnenden Wahlkampf die innere Sicherheit eines der zentralen Themen. Deshalb sollten wir uns verpflichten, die Kriminalitätsbekämpfung an
allererste Stelle zu setzen.
Zur Stärkung der Rechte der Opfer ist eine Menge an
Vorschlägen gemacht worden, über die sich wirklich
nachzudenken lohnt. Wir haben zu Zeiten der christlichliberalen Koalition zwischen 1994 und 1998 eine Menge
an Fortschritten hinsichtlich der Stärkung der Rechte von
Verbrechensopfern erzielt.
({1})
- Nein, es ist nicht zu wenig geschehen. Aber es kann
natürlich noch mehr getan werden. Dafür sorgen wir jetzt
auch. Wir werden uns dementsprechend einbringen.
Wenn ich an die Möglichkeit der Videoaufnahmen von
Vernehmungen oder daran denke, dass nun die Opfer an
die Gewinne, die der Täter aus dem Verbrechen selbst erzielt hat, herankommen können, was früher nicht möglich
war, muss ich feststellen, dass wir ganz erhebliche Fortschritte erzielt haben.
Ich möchte außerdem auf etwas hinweisen, das mir
auch ganz wichtig ist: Auch wenn wir noch so viele gesetzliche Vorschriften ändern und verbessern, bleibt es
doch wichtig, wie wir mit den Opfern selbst umgehen.
Deshalb scheinen mir solche Pilotprojekte, wie ich sie
aus Baden-Württemberg kenne, dass beispielsweise Referendare zur Betreuung von Zeugen eingesetzt werden, die
ihnen erklären, was geschieht, sodass das Verfahren für
die Zeugen verständlicher ist, wichtig. Die Zeugen haben
auf diese Weise das Gefühl, mit ihren Sorgen ernst genommen zu werden. Die Tatsache, dass Referendare für
Beratung sorgen, ist etwas, was nach meiner Auffassung
vorbildlich ist.
Dazu gehört auch - daran müssen wir unsere richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Kollegen immer wieder erinnern -, dass man die Zeugen wirklich ernst nimmt.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich selbst als Angehöriger der Justiz als Zeuge in einem Meineidsprozess
geladen war; ich war für 9.30 Uhr geladen, aber bis 16 Uhr
tat sich nichts. Der Richter war hinterher sehr überrascht,
er hatte uns als Zeugen vor dem Gerichtssaal sitzen lassen
und komplett vergessen. Sie können sich vorstellen, dass
ich nicht der einzige war, der das Gefühl hatte, von der
Justiz nicht wirklich ernst genommen zu werden.
All das, was wir an gesetzlichen Bestimmungen verbessern werden, wird nicht wirklich greifen, wenn wir
nicht insgesamt in unserer Gesellschaft zu einer Veränderung der Situation der Opfer kommen. Dazu gehören auch
die Medien. Wenn wir in den Medien beispielsweise immer wieder von Tätern lesen, wenn wir Aufsätze lesen, in
denen sehr feinfühlig auf die Lebensgeschichte von Tätern eingegangen wird, dann ist das sicherlich richtig, weil
auch sie den Anspruch darauf haben, ernst genommen zu
werden. Trotzdem würde ich mir wünschen, wenn in gleicher Breite und Tiefe auch über die Wirkungen von Taten
berichtet werden würde.
Wer beispielsweise einmal erlebt hat, welche Auswirkungen die Ermordung eines kleinen Mädchens auf deren
Familie hat - die Familie wird nie wieder ein normales
Leben führen können, die Tat wird immer wieder die Familie belasten -, weiß, in welcher Verantwortung wir stehen, Opfer ernst zu nehmen.
({2})
Deshalb müssen wir uns über das hinaus, was wir heute
hier diskutieren und was ich, Frau Justizsenatorin, für einen wirklich guten Vorschlag halte, Gedanken darüber
machen, wie wir solchen Familien helfen, die Opfer einer
Straftat geworden sind. In Familien, in denen zum Beispiel die Tochter Opfer eines Mordes geworden ist, gibt es
ganz erhebliche Betreuungsnotwendigkeiten. Auch diese
Probleme müssen uns beschäftigen.
Soweit die ersten Ausführungen der F.D.P.-Bundestagsfraktion; wir werden uns einbringen. Ich freue mich
auf eine Diskussion, weil alle angedeutet haben, sie wollten die Rechte der Opfer stärken. Auf diese Weise macht
Arbeit im Parlament Spaß.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Kenzler
von der PDS hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1 Ich
schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4661 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine
weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Bläss, Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Gleichstellung von Frauen und Männern in der
Privatwirtschaft
- Drucksache 14/6032 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
Auch hier war eine Redezeit vorgesehen. Alle Reden
zu diesem Punkt sind zu Protokoll gegeben.2) Deswegen
eröffne und schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6032 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. Juni, 9 Uhr, ein. Ich
wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend.
Die Sitzung ist geschlossen.