Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/21/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich auf die Ergebnisse des Europäischen Rates in Göteborg eingehe, möchte ich ein Wort zu den gewalttätigen Ausschreitungen am Rande des Gipfels sagen. Ich denke wir sind uns alle darin einig, dass diese Ausbrüche blindwütig und menschenverachtend waren, und ich kann im Namen des ganzen Hauses sprechen, wenn ich sage, unser Mitgefühl gilt den schwedischen Polizisten, denen von Randalierern zum Teil schwerste Verletzungen zugefügt wurden. ({0}) Eine politische Auseinandersetzung mit diesen Gewalttätern ist faktisch unmöglich. Sie haben keine politischen Ziele und waren im Übrigen unter jenen mehr als 20 000 Menschen isoliert, die friedlich auf ihre Ziele hingewiesen haben. Wir spielten diesen Chaoten nur in die Hände, ließen wir die guten Ergebnisse des Göteborger Gipfels von den Bildern jener Ausschreitungen überlagern. In Göteborg Präsident Wolfgang Thierse hat eine erfolgreiche schwedische Präsidentschaft ihren Abschluss gefunden. Dieser Präsidentschaft unter Ministerpräsident Göran Persson gilt heute erneut mein Dank. ({1}) Von Göteborg geht eine überragende Botschaft aus: Der Erweiterungsprozess der Europäischen Union ist unumkehrbar. Daran kann auch der negative Ausgang des irischen Referendums, den ich bedauere, nichts ändern. Im Gegenteil: Die Verhandlungen zur Erweiterung der EU sind im letzten Halbjahr so gut vorangekommen, dass es in Göteborg möglich war, die Vorgaben von Nizza weiter zu präzisieren. Wir haben uns gemeinsam das Ziel gesetzt, die Beitrittsverhandlungen mit jenen Kandidaten, die bis dahin die Bedingungen erfüllen, zum Jahresende 2002 zum Abschluss zu bringen. Wenn dies gelingt, dann sollte es auch möglich sein, dass die ersten Kandidatenländer als Mitglieder der Europäischen Union an den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2004 teilnehmen werden. Gewiss, diese Zielsetzung ist ehrgeizig. Mit ihr verbunden ist das Bekenntnis zu dem Prinzip, dass jeder Kandidat ausschließlich nach seinen eigenen Leistungen beurteilt wird. Hier bedarf es noch erheblicher Anstrengungen wichtiger Kandidatenländer. Letztlich haben sie es selbst in der Hand, ob das Ziel erreicht wird oder nicht. Am Montag habe ich mit dem polnischen Ministerpräsidenten Buzek bei unserem Treffen in Frankfurt ({2}) unseren gemeinsamen Wunsch bekräftigt, dass Polen das gesteckte Ziel in der ersten Gruppe erreicht. Einfach wird das nicht sein. Aber ich denke, wir werden gemeinsam alles dafür tun, dass Polen seine Chance nutzen kann. Das gilt im Übrigen auch für alle anderen Kandidatenländer. Es hängt von ihnen selbst ab, ob die Fortschritte in den Verhandlungen und bei der Umsetzung des europäischen Regelwerkes ausreichend sein werden. Ich bin recht zuversichtlich, dass wir die in Göteborg festgelegten Zielvorgaben erreichen werden. Wir haben im ersten Halbjahr erhebliche Fortschritte im Beitrittsprozess verzeichnet. Das ist übrigens nicht zuletzt das Verdienst einer klugen und sachlich orientierten Verhandlungsführung des deutschen Kommissars Günter Verheugen. ({3}) Mit der Verabschiedung eines gemeinsamen Standpunktes der Mitgliedstaaten zur Freizügigkeit und zum Kapitalverkehr ist - so denke ich - ein wirklicher Durchbruch gelungen. Ungarn hat als erstes Kandidatenland der siebenjährigen - im Übrigen flexiblen - Übergangsfrist bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit zugestimmt und damit das entsprechende Verhandlungskapitel abgeschlossen. Lettland hat in dieser Woche ebenfalls zugestimmt und ich bin sicher, dass schon bald weitere Länder folgen werden. Damit ist ein wesentliches deutsches, von mir mit besonderem Nachdruck verfolgtes Verhandlungsziel erreicht. Der Erweiterungsprozess kann insgesamt nur gelingen, wenn er auch künftig die Unterstützung der Menschen in unserem Land findet. Eine für beide Seiten auskömmliche Lösung bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt hierbei eine Schlüsselrolle. ({4}) Ebenso müssen die von der Erweiterung besonders betroffenen Grenzregionen die mögliche und notwendige Unterstützung erhalten, um absehbar schwierige Anpassungsprozesse besser bewältigen zu können. ({5}) Auch dies hat der Europäische Rat in Göteborg noch einmal bekräftigt. Die Kommission wird schon bald eine entsprechende Mitteilung vorlegen. Meine Damen und Herren, die Beratungen zur Erweiterung in Göteborg standen unter dem Eindruck des irischen Referendums. Zu Beginn des Gipfels hat der irische Premierminister Bertie Ahern in einer sehr engagierten und auch überzeugenden Intervention dargelegt, dass er den Ausgang des irischen Referendums und die damit verbundenen Fragen als ein originär irisches Problem ansieht. Dabei hat er noch einmal unterstrichen, dass weder die irische Regierung noch eine Mehrheit der irischen Bevölkerung eine Verzögerung der Erweiterung wünschen. Er hat deutlich gemacht, dass das Referendum entsprechend zu interpretieren ist. Der Europäische Rat seinerseits hat einhellig zum Ausdruck gebracht, dass er die irische Regierung bei ihrer Suche nach einer Lösung unterstützen wird. Zugleich wird von allen Partnern der Ratifizierungsprozess von Nizza fortgesetzt. Nachverhandlungen - hier waren sich alle Partner einig - wird und kann es nicht geben. Ich bin also zuversichtlich, dass wir die Ratifizierung des Vertrages im vorgesehenen Zeitraum, das heißt bis Ende des Jahres 2002, wirklich bewältigen können. Allerdings wären wir schlecht beraten, wenn wir einfach zur Tagesordnung übergingen. Eine Politik des „einfach weiter so“ wird es nicht geben können. Was auch immer die Gründe für den negativen Ausgang des Referendums gewesen sein mögen, eines scheint mir unübersehbar: Nicht nur in Irland, sondern auch in den anderen Mitgliedsländern haben noch immer viele Menschen mehr Fragen als Antworten, wenn es um Europa geht. Nach meiner Auffassung ist dies kein Zufall. Der Fortgang des Integrationsprozesses ist - ich glaube, darin sind wir uns einig - eine Zukunftsfrage allerersten Ranges. Wir haben in diesem Hohen Hause über den Umgang mit der Gentechnik diskutiert und uns intensiv mit den Herausforderungen des demographischen Wandels auseinander gesetzt. Wir werden über die Zuwanderung und die damit verbundenen Fragen nach dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft zu debattieren haben. Genau in diesem Sinne - geleitet von den Prinzipien der Redlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern - müssen wir auch die Fragen diskutieren, die die Finalität Europas betreffen. Jahrzehntelang wurde die europäische Einigung nach folgendem Muster vorangetrieben: Die beteiligten Regierungen einigten sich hinter verschlossenen Türen und präsentierten dann der Öffentlichkeit die im Konsens verabschiedeten Beschlüsse. Ich will nicht missverstanden werden: Die Ergebnisse, die dabei erzielt worden sind, darf man wahrlich nicht zu gering schätzen. Nach zwei großen Kriegen und Jahrzehnten der Feindschaft auf unserem Kontinent wurde so die Grundlage für einen Neubeginn in guter Nachbarschaft und für eine Zusammenarbeit zum Nutzen aller Partner gelegt. ({6}) Heute leben wir in einem anderen Europa. Spätestens in Nizza ist das soeben gekennzeichnete Konsensmodell an seine Grenzen gestoßen. In einer Union mit jetzt 15 und schon bald 20 und mehr Mitgliedstaaten führt das starre Festhalten an bisherigen Verfahren nur allzu oft dazu, dass wir statt der größten Gemeinsamkeit nur den kleinsten gemeinsamen Kompromiss finden. Das ist zu wenig, wenn wir eine künftig erweiterte Europäische Union politisch führbar halten wollen. ({7}) Deutschland steht - das ist eine gute Tradition und hier besteht eine lange Kontinuität - unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierungen - für die Erweiterung. Wir haben aber immer betont, dass sie ohne die gleichzeitige Vertiefung und die damit verbundene Stärkung der europäischen Institutionen kaum verkraftbar wäre. 27 Mitgliedstaaten können nicht nach den gleichen Spielregeln zusammenarbeiten wie die ursprünglichen sechs Gründerstaaten der Europäischen Union. Wir sollten uns nicht täuschen: Die Bürgerinnen und Bürger wollen an den Entscheidungsprozessen stärker beteiligt werden als in der Vergangenheit. ({8}) Sie wollen mitwirken und auf jeden Fall nachvollziehen können, wie die Entscheidungen in der Europäischen Union zustande gekommen sind. Diesem Wunsch, der einer demokratischen Notwendigkeit entspricht, kommen wir nicht dadurch nach, dass wir einfach immer nur die Forderung nach mehr Transparenz, Effizienz und Legitimität herunterbeten, im Übrigen aber so weitermachen, als sei nichts geschehen. ({9}) Im Herbst des vergangenen Jahres habe ich den Vorschlag gemacht, in der Perspektive über Nizza hinaus eine sehr grundsätzliche Debatte über die Ziele und Methoden der europäischen Einigung zu führen. Gemeinsam mit dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Amato habe ich diesen Vorschlag in die Regierungskonferenz eingebracht. In Nizza hat er die Zustimmung aller Partner gefunden. Damit ist die Debatte über die Zukunft Europas auch in diesem Zusammenhang eröffnet. Sie muss breit angelegt sein und darf - hier kann es keinen Zweifel geben nicht von den Regierungen allein geführt werden. ({10}) Bei dieser Debatte sind alle gefordert: zuallererst die Bürgerinnen und Bürger, aber auch alle Zweige der Zivilgesellschaft - nicht nur die großen Verbände, Parteien und Kirchen, sondern auch die Vielzahl von bürgerschaftlichen Zusammenschlüssen und Initiativen. Dies gilt auch für diejenigen, die dem bisherigen Prozedere kritisch gegenüberstehen. Die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament müssen im Sinne einer echten Parlamentarisierung umfassend einbezogen werden. Dabei sollten wir, wo sinnvoll, an die Erfahrungen des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtscharta anknüpfen. Meine Damen und Herren, eine ehrliche Debatte um die Zukunft Europas setzt voraus, dass wir auch den Mut haben, kontroverse Vorstellungen einzubringen. Ich habe in den letzten Wochen viel Unterstützung für den Vorschlag bekommen, die Europäische Union auf lange Sicht über die Föderation hinaus zu einem föderalen System weiterzuentwickeln. Natürlich hat es auch kritische Stimmen gegeben - und das ist gut so. Niemand darf sich einbilden, dass er diese Debatte unkritisch, gar alleine führen könnte. Beim deutsch-französischen Gipfel in Freiburg war ich mit Präsident Chirac und Premierminister Jospin darin einig, dass wir für diese Debatte jetzt eine Vielfalt von Stimmen und Meinungen aus allen europäischen Staaten brauchen. Nur so kann sie wirklich Früchte tragen. Bei der Regierungskonferenz 2002 - darauf haben wir uns verständigt - wollen wir mit gemeinsamen deutsch-französischen Vorschlägen arbeiten. ({11}) Am Ende des in Nizza angestoßenen Zukunftsprozesses - da bin ich sicher - wird aus unterschiedlichen Ansätzen, die unterschiedlichen Traditionen in den Ländern folgen, eine gemeinsame Vision von Europa und seiner Finalität stehen. Dazu gehört unabdingbar, dass wir Europa über gemeinsame politische Ziele definieren. Nichts anderes steht hinter unserem Bekenntnis zum europäischen Gesellschaftsmodell. Wir haben, so finde ich, bisher schon Beeindruckendes erreicht: Europa ist der größte Binnenmarkt der Welt; zwölf Mitgliedstaaten der Union haben eine gemeinsame Währung; wir sind auf dem Weg zu einer gemeinsamen Verteidigungs- sowie zu einer gemeinsamen Rechts- und Innenpolitik. Mit der Verabschiedung der Nachhaltigkeitsstrategie haben wir ein weiteres Kapitel erfolgreicher Zukunftsgestaltung aufgeschlagen. In dieser Diskussion stehen wir noch am Anfang; aber die Zielrichtung stimmt: Die Strategie identifiziert Felder, auf denen es lohnend und dringlich erscheint, die Belange der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik noch sehr viel enger miteinander zu verschränken, als das bisher der Fall war. ({12}) Dies gilt insbesondere auch für die Agrarpolitik. Wir haben uns in Göteborg darauf geeinigt, künftig mehr Gewicht auf die Förderung gesunder, qualitativ hochwertiger Erzeugnisse und umweltfreundlicher Produktionsmethoden zu legen. ({13}) Zu einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie gehört aber über diese Fragen hinaus auch eine engagierte Klimapolitik. Im Juli wird in Bonn die Vertragsstaatenkonferenz zum Kioto-Protokoll zusammentreten. Alle Partner in der Europäischen Union haben in Göteborg noch einmal bekräftigt, dass sie die Konferenz zu einem Erfolg machen wollen. Sie haben dies auch gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Bush deutlich gemacht. Keine Frage: Die Differenzen zwischen Europa und Amerika in der Klimapolitik bleiben auch nach unserem Treffen in Göteborg bestehen. Ich habe beim Abendessen mit dem amerikanischen Präsidenten vorgeschlagen, dass wir in Bonn auf der Grundlage des gemeinsamen Zieles, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren, den Kioto-Prozess nicht aufgrund von Differenzen über Instrumente eskalieren lassen. Mein Eindruck war: Die amerikanische Seite wird in Bonn eine Lösung nicht blockieren. Wenn das so zuträfe, wäre ein großer Schritt nach vorne gelungen. ({14}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Göteborg und nicht zuletzt durch das Treffen mit allen Beitrittskandidaten zum Abschluss des Europäischen Rates ist das größere Europa wiederum ein Stück greifbarer geworden. Es ist aber keine Frage: Es ist noch längst nicht Realität. Vor uns liegt ein schwieriger Weg. Unter belgischer Präsidentschaft stehen im zweiten Halbjahr Entscheidungen zur Ausgestaltung der Debatte um die europäische Zukunft an. Gemeinsam müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Dynamik der Erweiterungsverhandlungen erhalten bleibt. Bis zum Jahresende soll außerdem eine Zwischenbilanz der Arbeiten in der gemeinsamen Innen- und Rechtspolitik gezogen werden. Außerdem wollen wir im Dezember eine erste Einsatzfähigkeit der europäischen Krisenreaktionskräfte erreichen. Gemeinsam mit Frankreich - das haben wir bei unserem Treffen in Freiburg vor zehn Tagen noch einmal bekräftigt - werden wir alles dafür tun, dass die belgische Präsidentschaft ihre Aufgaben meistern kann. Wir alle haben die große, die einmalige Chance, unseren Kontinent wirklich zu einen und unser Europa für die Menschen, aber auch mit den Menschen zu einer starken Kraft des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands zu machen. Ich finde, wir sollten alles dafür tun. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der Abgabe dieser Regierungserklärung des Bundeskanzlers dürfte niemand, der außerhalb dieses Raumes zugehört hat, das Gefühl bekommen haben, dass die Probleme, die in der Europäischen Union bestehen, und die mangelnde Zustimmung, die bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur unseres Landes seit längerer Zeit festgestellt wird, jetzt mit einem beherzten Sprung nach vorne in der Europäischen Union überwunden werden. Im Gegenteil: Das, was Sie, Herr Bundeskanzler, hier mit wohlgesetzten Worten vorgetragen haben, entspricht dem, was wir aus vielen Kommuniqués der Europäischen Union seit vielen Jahren kennen. Es fehlt offensichtlich jedes innere Engagement, die Probleme, die wir in Europa und in der Bundesrepublik Deutschland mit Europa haben, beherzt zu lösen. ({0}) Ich vermute jedenfalls, dass derjenige, der in der heutigen Ausgabe der Zeitung „Die Zeit“ den Gipfel von Göteborg beurteilt, eher Recht behalten wird als Sie, Herr Bundeskanzler, mit Ihrer Regierungserklärung. Dort heißt es: ... - von diesem ,Europäischen Rat‘ wird wenig in Erinnerung bleiben. Allenfalls zweierlei: die Brutalität, mit der Hunderte Polithooligans ganze Straßenzüge verwüsteten. Und die Kaltschnäuzigkeit, mit der die EU-15 den Völkern Mittel- und Osteuropas vorgaukelten, das Ziel ihres Langen Marsches gen Westen sei nahe. Weiter heißt es: ,Bis Ende 2002‘, verheißt das Gipfel-Kommuniqué, könnten die Verhandlungen über den EU-Beitritt ,abgeschlossen werden‘. Ende 2002, das verklärt sich in Prag und Warschau nun zum Symbol. Dabei ist es doch nur eine Lüge. ({1}) Die Zustimmung, die wir zur europäischen Entwicklung wollen und brauchen, um auch im 21. Jahrhundert eine erfolgreiche gesamteuropäische Friedens- und Freiheitsordnung zu errichten, lässt sich nicht mehr mit wohlgesetzten Worten herbeiführen. Wir brauchen einen Prozess, der nicht nur glaubwürdig ist, sondern in dem auch die Zuständigkeiten und die Möglichkeiten der Europäischen Union auf das Richtige und das Realistische konzentriert werden. ({2}) Die Europäische Union müsste sich doch gerade jetzt auf das konzentrieren, was nur sie selber lösen kann und was die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht mehr alleine regeln können. Sie müsste sich auf die Vollendung des europäischen Binnenmarktes und auf die Vollendung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion konzentrieren und in der Lage sein, die innere und äußere Sicherheit des europäischen Kontinents zu gewährleisten. Alles dies ist in Göteborg nicht nur nicht gelungen; es hat vielmehr keinerlei Fortschritt gegeben. Nun mag es ja sein, Herr Bundeskanzler, dass das irische Nein - immerhin in einer Volksabstimmung - kein Votum gegen die auch von uns für notwendig und richtig erachtete Osterweiterung der Europäischen Union war und dass dieses Nein mehr innenpolitische Motive hatte, vielleicht die unzureichende Vorbereitung oder die geringe Beteiligung der Bevölkerung. Aber klar ist doch wohl, dass dieses Nein der Iren nicht etwa ein Betriebsunfall war, den man nun einfach mit einem neuen Referendum reparieren kann, wie es offensichtlich die Außenminister gesehen haben. Klar ist doch wohl auch, dass dieses Nein zum Vertrag von Nizza nicht nur in Irland, sondern in ganz Europa ein Warnsignal, ein Wecksignal eines kleinen Landes sein müsste, das gegen europäische Formelkompromisse aufbegehrt, die keiner versteht, gegen Reformen hinter verschlossenen Türen, an denen die Bevölkerung nicht beteiligt wird, gegen Bevormundung durch Brüsseler Entscheidungen, die im eigenen Land nicht vermittelbar sind, gegen Ängste vor dem Verlust der Neutralität und kultureller Eigenständigkeit, gegen vorgebliche Integrationsfortschritte, die in Wirklichkeit keine sind. ({3}) Die europäische Politik hat in der Zwischenzeit - daran haben der Gipfel von Göteborg und auch Ihre Regierungserklärung nichts geändert - eine derart komplizierte und von der Vorstellungswelt der meisten Menschen so weit entfernte Konstruktion geschaffen, dass ein normaler Mensch keine Chance mehr hat, zu verstehen, was in Europa eigentlich geschieht. ({4}) - Die Alternative, die sich stellt, ist zunächst einmal, dass wir im Umgang der Mitgliedstaaten der Europäischen Union miteinander zu dem zurückkehren, was in der Europäischen Union seit 1949 richtig und Wirklichkeit war. ({5}) Wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, Herr Bundeskanzler, dass ein kleines Volk wie die Iren gegen das aufbegehrt, was in der Europäischen Union geschieht, wenn Sie bis zum heutigen Tage Ihre herabwürdigende Haltung gegenüber einem anderen kleinen Land in der Europäischen Union, nämlich gegenüber Österreich, fortsetzen. ({6}) Sie brauchen sich auch nicht darüber zu wundern, Herr Bundeskanzler, ({7}) dass sich die Menschen gegen diese Hochmütigkeit zur Wehr setzen, wenn Sie gleichzeitig dem freigewählten Ministerpräsidenten eines großen Landes der Europäischen Union und eines Gründerstaates der Europäischen Gemeinschaften, nämlich dem Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, den Glückwunsch verweigern, nur weil er Ihrer parteipolitischen Präferenz nicht entspricht. ({8}) Wer so handelt, setzt nicht nur die Solidarität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufs Spiel; er gefährdet auch jede erfolgreiche politische Führung der Europäischen Union. ({9}) Heute vor genau zehn Jahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat der Deutsche Bundestag - damals noch in Bonn - die Entscheidung getroffen, den Sitz des Parlaments und der Regierung nach Berlin zu verlegen. Diese Entscheidung ist von einer großen Zahl von Rednern befürwortet und damit begründet worden, dass von Berlin das Signal ausgehe, wir wollten nach der Wiederherstellung der Einheit unseres Landes auch die Einheit des europäischen Kontinentes nach Osten zügig und erfolgreich vorantreiben. Wir haben uns damals nicht vorstellen können, dass von Berlin aus ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland genau zehn Jahre später eher Bedenken und Vorbehalte gegen die Osterweiterung der Europäischen Union äußert, ({10}) als sie in die Hand zu nehmen und sie gerade zu einer Aufgabe der deutschen Politik zu erklären. ({11}) Diese Europäische Union bräuchte gerade jetzt die klare und beherzte politische Führung des größten Mitgliedstaates der Europäischen Union in der geopolitischen Mitte des europäischen Kontinents, die sich nicht nur an innenpolitischen Opportunitäten, sondern auch an europäischen Notwendigkeiten orientiert. ({12}) Im größten Mitgliedstaat der Europäischen Union ist von einer solchen europäischen Politik, von einer wirklichen europäischen Vision gegenwärtig nichts zu erkennen. Außer formelhaften Bekenntnissen zur europäischen Politik hat diese Bundesregierung nichts zu bieten. ({13}) Fast genauso schwer wiegt, dass die deutsche Wirtschaftspolitik das Voranschreiten der Europäischen Union in einem der zentralen Aufgabenbereiche belastet und behindert. Und es ist jetzt nicht mehr allein die deutsche Opposition, Herr Bundeskanzler, die dies immer wieder zum Ausdruck gebracht hat. Seit Göteborg können Sie nicht mehr behaupten, das seien nur wir, die Ihnen sagten, dass die Wirtschaftspolitik dieses Landes zu einem Hemmschuh für ganz Europa geworden sei. ({14}) In den so genannten Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft für 2001, einem Dokument der EU-Kommission, das dem Gipfel in Göteborg vorgelegen hat und dort verabschiedet worden ist, wird Ihrer Bundesregierung - wird Ihnen persönlich, Herr Bundeskanzler - ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt, was Ihre Wirtschaftspolitik in Deutschland und in Europa betrifft. Ich will Ihnen die Kernsätze aus diesem Dokument heute Morgen nicht vorenthalten. Es heißt dort: In Deutschland ist bislang noch kein starker endogener Wachstumsprozess in Gang gekommen. Die Wirtschaft bleibt deshalb anfällig für außenwirtschaftliche Schocks. Die Wirtschaftsdynamik wird offenbar durch Verkrustungen insbesondere des Arbeitsmarktes gebremst. Die Steuer- und Sozialleistungssysteme tragen zu dem allgemeinen Arbeitslosigkeitsproblem bei, als relativ hohe Grenzsteuersätze bei gleichzeitigem Verlust von Sozialhilfeleistungen dazu führen können, dass Geringverdienende in die Arbeitslosigkeitsfalle geraten. ({15}) Das ist wörtlich das, was wir Ihnen seit Anfang dieses Jahres zur Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik Ihrer Regierung gesagt haben. ({16}) Sie haben sich damals, in der Mitte des Jahres 1998, noch in Bonn hingestellt und erklärt, der Aufschwung, den wir im Jahre 1998 wirklich hatten, sei - noch vor dem Wahltermin des Jahres 1998 - Ihr Aufschwung gewesen. ({17}) Heute, im dritten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit, ist es zumindest Ihr Abschwung, den wir gegenwärtig erleben. ({18}) Die EU-Kommission schreibt Ihnen das ins Stammbuch mit den Worten: Es besteht die Gefahr, dass die Wachstumsraten in Deutschland schwach bleiben, wenn Reformen des Arbeitsmarktes und der Transfermechanismen ausbleiben. ({19}) Immer noch können sich die Steuer- und Sozialleistungssysteme zusammengenommen dahin gehend auswirken, dass kein Anreiz zur Arbeit besteht. Meine Damen und Herren, wir diskutieren seit Monaten mit Ihnen, sagen Ihnen seit Monaten, dass Sie Reformen der sozialen Sicherungssysteme, der Sozialhilfesysteme, der Arbeitslosenhilfe machen müssen, damit wir endlich eine Wirtschaftsdynamik und Arbeitsplätze in Deutschland bekommen. Sie haben dies immer als Äußerungen der Opposition zurückgewiesen. Heute schreibt es Ihnen die EU-Kommission ins Stammbuch, Herr Bundeskanzler. ({20}) Das Ganze endet mit der Feststellung: Der deutsche Arbeitsmarkt ist durch einen relativ hohen Regulierungsgrad gekennzeichnet. Aktive Arbeitsmarktprogramme, zumal in den östlichen Bundesländern, sind offenbar ineffizient und werden häufiger als Instrument der Sozialpolitik missverstanden. Besser als das, was Sie beim Gipfel in Göteborg zu hören bekommen haben, hätten wir das auch nicht zum Ausdruck bringen können, Herr Bundeskanzler. ({21}) Ich sage Ihnen: Mit Ihrer Politik gefährden Sie den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. ({22}) Sie verschärfen den Abschwung nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Volkswirtschaft. Sie vernachlässigen den Mittelstand. Sie verunsichern mit Ihrer neuen Betriebsverfassung die Unternehmen in Deutschland. Sie vergreifen sich mit der Ökosteuer am Geldbeutel des kleinen Mannes. ({23}) Sie verhindern gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen eine echte steuerliche Entlastung. Sie kommen her und vertrösten die Familien mit ein paar Mark Kindergelderhöhung, ({24}) die in demselben Atemzug durch die Ökosteuer wieder aufgezehrt wird. ({25}) Sie, Herr Bundeskanzler, versagen mit Ihrer Arbeitsmarktpolitik, Sie verschärfen das Investitionsklima in der Bundesrepublik Deutschland ({26}) und Sie, Herr Bundeskanzler, verantworten die Inflationsrate von 3,5 Prozent in Deutschland und ziehen damit die Geldentwertung in der gesamten Europäischen Union nach oben. Das ist die europäische und deutsche Wirklichkeit im Jahre 2001. ({27}) Herr Bundeskanzler, die Inflationsrate beginnt eine ernsthafte Gefährdung nicht nur für die europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu werden, sondern auch für den Fortbestand von Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland selbst. Eine Inflationsrate von 3,5 Prozent bedeutet in Wahrheit, dass den Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschland durch die Geldentwertung in einem Jahr rund ein halbes Monatsgehalt weggenommen wird. ({28}) Das ist die Realität Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler. Inflation trifft nicht die Besitzer großer Vermögen, trifft nicht diejenigen, die die Chance haben, mit ihrem Geld in andere Währungsräume auszuweichen. Inflation trifft zuallererst die Kleinen: die Arbeitnehmer, die Rentner, die Sparer. Inflation ist der Taschendieb des kleinen Mannes, Herr Bundeskanzler. ({29}) Wenn wir ein solch großes europäisches Projekt - es geht nicht allein um den Binnenmarkt und die Währungsunion; die wirtschaftliche Integration war in der Geschichte der Europäischen Union immer der Schrittmacher für die politische Integration - in der Europäischen Union retten wollen, dann müssen wir die Zustimmung der Menschen zurückgewinnen, indem wir ihnen deutlich machen, dass Binnenmarkt und Währungsunion für die Menschen auch wirtschaftlich ein großer Erfolg sein können. Dann bedarf es anderer Anstrengungen als groß und lang abgefasster, fein ziselierter, sorgfältig formulierter Gipfelkommuniqués von Lissabon bis Göteborg; dann muss die praktische Politik, Herr Bundeskanzler, dafür sorgen, dass endlich wirklich ein wirtschaftlicher Aufschwung durch alle Länder der Europäischen Union und insbesondere durch die Bundesrepublik Deutschland geht. ({30}) Das, was Sie hier in Deutschland machen, gefährdet das gesamte europäische Projekt. Sie gefährden die Zustimmung der Menschen zu dem, was vor circa 50 Jahren für Europa und für die Zukunft unseres Kontinentes auf den Weg gebracht worden ist. Deswegen sage ich Ihnen: Wir bieten Ihnen an, an einem Fünf-Punkte-Programm für Aufschwung, Beschäftigung, ({31}) Wirtschaftswachstum und politische Zukunft in Europa mitzuwirken. Erstens. Stoppen Sie das unselige Betriebsverfassungsgesetz. ({32}) - Wenn in Ihren Reihen dazu nur Gelächter zu hören ist, dann zeigen Sie damit, dass Sie die Wirklichkeit von Wirtschaftspolitik in den Betrieben in Deutschland längst aus dem Blick verloren haben. ({33}) Funktionäre sind es, die die Politik in diesem Lande bestimmen. Zweitens. Ziehen Sie die für das Jahr 2005 vorgesehene Steuerreform auf den 1. Januar des Jahres 2002 vor, damit insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen in diesem Lande eine Chance haben. ({34}) Drittens. Setzen Sie wenigstens die nächsten beiden Stufen der Ökosteuer aus, damit die Menschen das Geld in der Tasche behalten und nicht durch Ihre verfehlte Politik ein weiterer Inflationsschub auf Deutschland zukommt. ({35}) Viertens. Beginnen Sie endlich mit dem, was Sie offensichtlich doch selbst für richtig halten, nämlich mit einer grundlegenden Reform unseres Gesundheitssystems in der Bundesrepublik Deutschland, ({36}) damit nicht eine große Welle von Beitragserhöhungen auf uns zukommt. Der in diesen Tagen gefasste Beschluss der AOK Hessen, den Beitragssatz um 1 Prozent zu erhöhen, ist ein Menetekel für Ihr Ziel, die Lohnzusatzkosten in Deutschland auf unter 40 Prozent abzusenken. ({37}) Schließlich, Herr Bundeskanzler: Sorgen Sie dafür, dass endlich Reformen auf dem Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland - ({38}) Herr Präsident, offensichtlich ist die Akustik in diesem Saal so schlecht, dass große Teile derer - in meiner Fraktion sind ja einige mehr anwesend als bei Ihnen -, ({39}) die in den hinteren Reihen sitzen, nur geringe Möglichkeiten haben zuzuhören. Sie von den Regierungsfraktionen können dazu beitragen, das zu ändern, indem Sie sich mit Ihren Zwischenrufen vielleicht zurückhalten und so dafür sorgen, dass wir miteinander reden können. ({40}) Dies alles sind die Notwendigkeiten nicht nur der deutschen Politik, sondern auch der europäischen Politik. Wer eine wirklich erfolgreiche Gestaltung der europäischen Politik will, der darf das nicht alles der EU und ihren Institutionen überlassen, sondern er selbst muss handlungsfähig sein. Da der Deutsche Bundestag vor zehn Jahren - ich war damals nicht dabei, ({41}) aber ich habe den Beschluss begrüßt - entschieden hat, nach Berlin zu ziehen, erlauben Sie mir, dass ich zum Schluss einen Hinweis gebe, der jedenfalls uns mit tiefer Sorge um die Zukunft unseres Landes erfüllt. Sie, Herr Bundeskanzler, sind auf dem Weg, die Zusammenarbeit mit denjenigen zu institutionalisieren, auszuweiten und zu begründen, die in Berlin und ganz Deutschland für Mauer und Stacheldraht Verantwortung getragen haben. Das ist Ihre politische Entscheidung. ({42}) Damit werden wir uns bei anderer Gelegenheit auseinander zu setzen haben. ({43}) Aber wenn Sie eine gute wirtschaftliche Zukunft Deutschlands wollen, dann hilft vielleicht zur kritischen Einschätzung dessen, was Sie vorhaben, ein Blick auf die Länder, in denen die Zusammenarbeit zwischen SPD, Grünen und PDS längst begonnen worden ist. Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Herr Bundeskanzler, sind die einzigen Bundesländer, in denen der Saldo der Anmeldungen von neuen Betrieben negativ ist: Im letzten Jahr hat das Land Mecklenburg-Vorpommern über 400, das Land Sachsen-Anhalt fast 1 000 Gewerbebetriebe im Saldo gegenüber den Neuanmeldungen verloren. ({44}) Dies ist die politische Botschaft, die Sie nicht nur für Berlin, sondern für ganz Deutschland ausgeben, wenn Sie zulassen, dass SPD, Grüne und PDS jetzt zusammenarbeiten. ({45}) Die Tatsache, dass Sie gelangweilt in Ihren Dokumenten lesen, Herr Bundeskanzler, lässt gewisse Rückschlüsse auf die Art und Weise zu, wie Sie den parlamentarischen Umgang pflegen. ({46}) Ich habe Ihnen zugehört, als ich auf meinem Platz gesessen habe. Welches Bild geht von dieser Stadt und diesem Land zu einem Zeitpunkt aus, ({47}) wo wir beherzte politische Entscheidungen für Europa brauchen, wenn eine SPD in Deutschland jetzt die Zusammenarbeit mit den Altkommunisten der DDR beginnt. ({48}) An dieser Wirklichkeit kommen Sie nicht vorbei. Über diese Fragen werden wir uns mit Ihnen in den nächsten Wochen und Monaten auseinander zu setzen haben, wenn es nicht nur um eine bessere Politik für Deutschland geht, sondern auch um eine gute, eine richtige und eine erfolgreiche Politik für ganz Europa. ({49})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Merz, für mich sind Sie der lebende Beweis dafür, dass innerparteiliche Schwäche und Konkurrenz zum Tod der politischen Seriosität führen. ({0}) Dazu möchte ich gerne Dieter Hildebrandt zitieren: „Sie sind als Torpedo gestartet und als Flaschenpost gelandet.“ Den Beweis hierfür haben Sie eben hier geliefert. ({1}) Wir können gerne eine Debatte über Berlin führen. Dazu will ich Ihnen kurz sagen - das ist jetzt nicht die Gelegenheit; Sie haben völlig am Thema vorbeigeredet -: Die Berliner Situation haben einzig und allein Herr Diepgen und Herr Landowsky zu verantworten, die das 4-Milliarden-DM-Defizit in dieser Stadt herbeigeführt haben. ({2}) Auch können wir über die PDS reden. Ich habe eine Liste von Mitgliedern Ihrer Fraktion dabei, die der Blockpartei CDU teilweise seit 1952 angehört haben. Von Ihnen lassen wir uns nicht solche Vorwürfe machen, Herr Kollege Merz! Das werden wir noch bei Gelegenheit bereden, damit das klar ist. ({3}) - Das tut Ihnen weh. Das weiß ich. Sie können ja einmal mit Ihren Kollegen, die seit 1952 in der Block-CDU sind, darüber reden, wie sie sich gegenüber der SED verhalten haben. Wenn Sie schon ein solches Thema ansprechen, dann wird hier über alles geredet. Dann kommt alles auf den Tisch! ({4}) Es ist schon eine Unverschämtheit, wenn Sie, Herr Merz, sich hier hinstellen und von ein paar Mark mehr Kindergeld reden. Wir haben das Kindergeld für das erste und zweite Kind um 80 DM erhöht. Das haben Sie in Ihrer gesamten Regierungszeit nicht geschafft. Das ist eine gute politische Leistung! ({5}) Dann sagen Sie, Sie wollen die Steuerreform vorziehen. Sie waren es doch, die dagegen waren, dass wir die Steuerreform machen. ({6}) - Natürlich waren Sie dagegen. Sie haben doch eine schwere Niederlage im Bundesrat erlitten, weil Ihre eigenen Leute nicht mitgemacht haben. ({7}) Nun hören Sie bloß auf! Ich möchte einige Worte zur wirtschaftlichen Lage sagen. Natürlich macht uns die Preissteigerungsrate Sorgen, das ist selbstverständlich. ({8}) Natürlich macht uns die konjunkturelle Lage Sorgen; das ist keine Frage. Aber wir sollten auch darauf hinweisen, dass die Preissteigerungsrate im Wesentlichen auf die Ölpreisentwicklung - das ist eine globale Entwicklung ({9}) und natürlich auch auf die Situation bei den Preisen für Lebensmittel zurückzuführen ist. Wir haben an anderer Stelle oft genug darüber diskutiert, dass wir die Gewissheit haben müssen - dafür danke ich der Landwirtschaftsund Verbraucherministerin sehr -, dass wir gesunde Lebensmittel essen können. Das wirkt sich natürlich auf die Preise aus. Wir werden die Entwicklung der Preissteigerungsrate und der Konjunktur im Auge behalten. Aber es ist falsch, meine Damen und Herren, wenn Sie mit dazu beitragen, die Stimmung schlechter zu reden, als die Lage tatsächlich ist. Die Lage ist nämlich besser als die Stimmung, die artikuliert wird. ({10}) Wir werden keine hektischen Aktivitäten entfalten. ({11}) Es geht jetzt darum, darauf hinzuweisen - diesbezüglich finde ich die Beiträge von Herrn Professor Siebert sehr vernünftig -, dass wir, jedenfalls nach den Erfahrungen, die wir aus Amerika haben, im dritten und vierten Quartal dieses Jahres und erst recht im ersten und zweiten Quartal des nächsten Jahres eine positive Entwicklung haben werden. ({12}) Es ist klar, dass unsere wirtschaftliche Entwicklung eng mit der Entwicklung der Weltwirtschaft verbunden ist. Reden Sie unser Land nicht herunter! Die Stimmung in der Wirtschaft, beispielsweise in der Maschinen- und Anlagenbauindustrie, ist besser. ({13}) Ich möchte zu dem Thema sprechen, zu dem auch Sie hätten sprechen sollen, Herr Kollege Merz, nämlich zu Europa. ({14}) Sie sollten lernen, Herr Merz, dass Europa nur mit einem realistischen Optimismus und nicht mit Miesmacherei zu bauen ist. ({15}) Wenn Sie Göteborg kritisieren, dann kritisieren Sie Jacques Chirac und Aznar und nicht nur den Bundeskanzler. Das, was in Göteborg, zum Beispiel im Bereich der Nachhaltigkeitsstrategie verabredet worden ist, kann sich sehen lassen, und zwar Nachhaltigkeit nicht nur in der Umweltpolitik, sondern insgesamt. Dabei ist ein neuer, ein guter Impuls gesetzt worden. ({16}) Die Diskussion über das Abkommen zum Klimaschutz hat auch uns natürlich Sorge gemacht. Ich finde es gut, dass wir, die SPD-Fraktion, aber auch die Bundesregierung, die Haltung des amerikanischen Präsidenten zum Kioto-Protokoll zu Recht kritisieren. Die USA werden ihrer globalen Verantwortung für den Klimaschutz mit der Haltung ihrer neuen Administration nicht gerecht. Alle Mitgliedstaaten haben zugesagt, das Kioto-Protokoll zu ratifizieren. Die Europäische Union geht dabei mit gutem Beispiel voran. Wir werden dafür werben, dass andere Vertragspartner diesem Beispiel folgen. Die Amerikaner sollten den Faden nicht ganz abreißen lassen. Wir ermuntern sie, mit uns weiter konstruktiv darüber zu reden. ({17}) Es ist über den Fahrplan für die Erweiterung diskutiert worden. Bis Ende 2002 sollen die Erweiterungsverhandlungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Beitrittsländern abgeschlossen sein. Das ist ein sehr ehrgeiziges Ziel. Ich kann Gerhard Schröder gut verstehen, dass er beim Europäischen Rat in Göteborg ein Fragezeichen hinter dieses Datum gesetzt hat. Der Bundeskanzler und die Bundesregierung haben die Erweiterungspolitik der Europäischen Union in den letzten Jahren maßgeblich vorangebracht. Wir haben uns immer wieder für eine zügige Erweiterung eingesetzt. Bisher gab es im Deutschen Bundestag einen parteiübergreifenden Konsens, dass die Erweiterung kommt, wenn die Beitrittsländer die entsprechenden Kriterien erfüllen. Politische Rabatte - das ist bisher unstrittig gewesen darf es nicht geben. Wer aus Verantwortung gegenüber der EU und den Beitrittsländern ein Fragezeichen hinter ein bestimmtes Datum setzt, der sollte deshalb nicht kritisiert werden. Ich erinnere mich noch gut daran, dass der Vorgänger von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Altkanzler Helmut Kohl, im Hinblick auf den Beitritt von Polen das Jahr 2000 genannt hat. Wir wissen alle genau, dass das absolut unrealistisch war. Für die erfolgreiche Politik der Erweiterung gibt es ein gutes Beispiel: Noch im letzten Herbst sah es so aus, als könnten die Verhandlungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu einem Stolperstein werden. Was ist seitdem passiert? Bundeskanzler Schröder hat im Dezember 2000 die Initiative ergriffen und in Weiden öffentlich die Eckpunkte benannt, die dafür von Bedeutung sind. Dabei hat er auf Maximalpositionen verzichtet und stattdessen von Anfang an ein Modell vorgeschlagen, das die Akzeptanz in den heutigen Mitgliedstaaten, aber auch die Akzeptanz in den Beitrittsländern im Blick hat. Es war also ein flexibler Vorschlag. Kurz vor der Einigung zwischen den Mitgliedstaaten kam die Verknüpfung von Freizügigkeit und der künftigen Finanzausstattung der Strukturfonds durch Spanien ins Spiel. Dieser Versuch ist glücklicherweise gescheitert. Vor allem Gerhard Schröder und Joschka Fischer haben es zusammen mit den anderen Partnern geschafft, diesen Angriff abzuwehren. Denn wie viele Junktims zu dem Thema Beitritt hätte es noch gegeben, wenn der erste massive Versuch nicht gestoppt worden wäre, wenn man diesem Angriff nicht standgehalten hätte? ({18}) - Aznar; Sie haben nicht zugehört, Herr Repnik. Aber das ist Ihr Problem und nicht meins. ({19}) Damit konnten die Erweiterungsverhandlungen über dieses schwierige Kapitel, wie im Verhandlungsfahrplan vorgesehen, fortgeführt werden. Ungarn hat die EU-Vorschläge inzwischen als erstes Beitrittsland akzeptiert. Wir wissen, dass das für Ungarn zu Hause und im Verhältnis zu den anderen Beitrittsländern nicht leicht war. Wir sollten diese mutige Entscheidung würdigen und wir sollten uns bei den Ungarn dafür ausdrücklich bedanken. ({20}) Inzwischen hat auch Lettland die Vorschläge zur Freizügigkeit akzeptiert. Das unterstreicht, dass wir auf einem guten Wege sind. Ich will an dieser Stelle betonen, dass die Frage der Finanzierung für die Erweiterung bis 2006 geklärt ist. Wer etwas anderes sagt, der hat von vornherein keine Bereitschaft zu substanziellen Reformen in der gemeinsamen Agrarpolitik. Das ist die Wahrheit. Wir können das heutige System nicht einfach auf die erweiterte Europäische Union übertragen. Helfen Sie uns, in diesem schwierigen Feld voranzukommen! Das - nicht Ihre Miesmacherei wäre konstruktiv. ({21}) Wir wussten jedenfalls immer, dass die Erweiterung nicht zum Nulltarif zu haben sein wird. Um das zu begreifen, brauchen wir keine Nachhilfestunden von Ihnen. Über das irische Referendum ist gesprochen worden. Herr Kollege Merz, wenn Sie mit Ihrer Rede allerdings suggerieren wollten, dass die Bundesregierung auch daran Schuld habe, dann zeigt das, wie wenig Sie von der Sache verstehen. Mit dem irischen Referendum haben wir nun wirklich nichts zu tun. Das haben die irischen Bürgerinnen und Bürger allein erledigt, auch wenn es nicht in unserem Sinne war. Wir können zwar nicht einfach zur Tagesordnung übergehen; es ist aber richtig, dass uns das Ergebnis des Referendums Anlass geben muss, über die Zukunft der Europäischen Union intensiv nachzudenken. Wir werden diese Fragen bis 2004 auf einer Regierungskonferenz zu entscheiden haben. Meine Partei, die SPD, hat einen Leitantrag für die Diskussion über Europa für den Bundesparteitag in Nürnberg im November vorgelegt. Der SPD-Parteivorsitzende hat diesen Entwurf eines europapolitischen Grundsatzpapiers vorgestellt. Wir werden die Diskussion darüber führen. Wir stehen erst am Anfang dieser Diskussion und deshalb kann es nicht bereits jetzt darum gehen, über Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Positionen nachzudenken. Mir und sicherlich auch dem Bundeskanzler ist klar, dass wir mit solchen Vorschlägen mit unseren französischen oder britischen Freunden nicht von vornherein in allen Punkten übereinstimmen werden. Aber das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Wir können nicht erwarten, dass auch von befreundeten Parteien in vielen Punkten Positionen vertreten werden, wie wir sie in dem Leitantrag aufgelistet haben. Das hängt auch mit den unterschiedlichen Traditionen und mit der unterschiedlichen nationalen Geschichte dieser Länder zusammen. In der Vergangenheit ist es häufig so gewesen, dass sich beide Seiten, von unterschiedlichen Positionen kommend, angenähert haben und dass die erzielten Kompromisse von den übrigen Partnern als Ausgangspunkt für eine gesamteuropäische Lösung akzeptiert worden sind. Ich bin sicher, das wird auch mit unseren Vorschlägen geschehen, über die wir mit unseren französischen und britischen Freunden Gespräche führen. ({22}) Die Frage einer europäischen Verfassung wird einer der zentralen Punkte der belgischen Präsidentschaft sein. Der Verabschiedung dieser Verfassung soll und muss eine breite öffentliche Diskussion vorausgehen. Es ist wichtig, dass in Göteborg auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs zuerst darüber gesprochen wurde. In den nächsten Wochen und Monaten kommt es darauf an, den Rahmen für die öffentliche Debatte über die europäische Verfassung zu bestimmen und gleichzeitig - das möchte ich deutlich betonen - die Einsetzung eines parlamentarisch besetzten Konvents zu beschließen. ({23}) Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, dass Göteborg der letzte Beleg für die Unumkehrbarkeit des Beitrittsprozesses gewesen sei. Damit verwirklicht sich eine Vision, die in diesem Hause, zwar nicht an dieser Stelle, aber in diesem Parlament, vor 50 Jahren zum ersten Mal formuliert wurde. Damals, 1951, bei der Verabschiedung der Montanverträge zwischen den Beneluxländern, Frankreich, Italien und Deutschland, nahm das heutige Europa mit dem Gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl seinen Anfang. Einer meiner Vorgänger in meinem jetzigen Amt, Herbert Wehner, hat in der damaligen Debatte gesagt: Die europäische Gemeinschaft muss bestrebt sein, das ganze Europa zu umgreifen, einschließlich der Länder, die heute noch der demokratischen Freiheit beraubt sind. Dieses Zitat von Herbert Wehner wird langsam Realität. Die Visionen, die damals formuliert worden sind, rücken immer näher und werden immer greifbarer. Wir sind auf einem guten Wege. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die deutschen Liberalen, aber auch unsere Kollegen im Europaparlament bewerten den Gipfel von Göteborg hinsichtlich der Osterweiterung positiv. Wir haben seit Monaten die Konkretisierung des Beitrittsfahrplans mit erreichbaren Bedingungen eingefordert, was nichts mit Datumsfetischismus zu tun hat, Herr Außenminister Fischer. Wir glauben, Göteborg hat dank der schwedischen Präsidentschaft dazu geführt, dass die Einigung Europas irreversibel ist und der Fahrplan für die Osterweiterung eingehalten werden kann. ({0}) Nicht positiv bewerten wir die Rolle der Bundesregierung am Anfang, wenn die Presseberichte stimmen. Wir, die wir immer der Anwalt der osteuropäischen Länder waren, haben lange gezögert. Davon war in vielen Presseberichten die Rede. Am Schluss mussten sich Deutschland und Frankreich dem schwedischen Wunsch beugen, einen konkreten Beitrittsfahrplan vorzulegen. Herr Bundeskanzler, wenn es Ihre Absicht war, eine zu kleine Osterweiterung zu verhindern und einen konkreten Weg für das wichtigste Beitrittsland, nämlich Polen, offen zu halten, dann findet dies unsere Zustimmung. Wir halten das für sehr wichtig. ({1}) Polen ist unser wichtigster Partner und das größte Beitrittsland. Wir wollen, dass Polen zur ersten Beitrittsrunde gehört. ({2}) Aber wir sollten nicht nur die Reformanforderungen an Polen wiederholen, sondern auch unsere Hausaufgaben in Deutschland machen, damit die Menschen in Deutschland nicht Angst vor neuen Wettbewerbern auf dem Arbeitsmarkt haben. ({3}) Wer den Arbeitsmarkt nicht reformiert, die Ökosteuer weiterhin erhebt und das Betriebsverfassungsgesetz zuungunsten des Mittelstandes verschärft, trägt nicht dazu bei, dass neue Arbeitsplätze für Deutsche entstehen. Deshalb haben die Deutschen Angst vor neuen Wettbewerbern um Arbeitsplätze. ({4}) Hier ist der enge Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zu inneren Reformen in Deutschland und der Bereitschaft zur Aufnahme neuer Länder in die Europäische Union evident. ({5}) Insofern, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD mit Ihrer großen Europatradition im Sinne von Willy Brandt, ist die Schaffung einer Übergangsfrist von sieben Jahren für die Gewährung eines europäischen Grundrechtes, nämlich der Freizügigkeit, 21 Jahre nach Ende des Eisernen Vorhangs keine europäische Heldentat der Sozialdemokraten und der deutschen Gewerkschaften. ({6}) 1990: Versprechen an die Osteuropäer. Im Jahr 2000: weitere vier Jahre bis zur Aufnahme neuer Mitglieder, dann weitere sieben Jahre Übergangsfrist. Das bedeutet für die Länder in Osteuropa, dass erst im Jahre 2011 volle Freizügigkeit in Europa herrscht. Ich glaube, viele Osteuropäer haben sich diese Art von europäischer Wiedervereinigung anders vorgestellt. ({7}) Ich glaube, dass mit dem im Feuilleton der „FAZ“ von heute erwähnten „traurigen Dokument historischen Vergessens“ gemeint ist, dass wir eben wegen mangelnder eigener Reformbereitschaft nicht wirklich aufnahmefähig sind. ({8}) Die Frage der Aufnahmefähigkeit stellt sich aber nicht nur in wirtschaftspolitischer, sondern auch in politisch-institutioneller Hinsicht, und zwar gerade den Altmitgliedern und dem größten europäischen Land, Deutschland. Es geht nach wie vor um die Frage der Organisation der Entscheidungsprozesse, der Mehrheitsfähigkeit und der Entscheidungsfähigkeit. Nur so viel zu unserer Haltung zu Nizza - der Fraktionsvorsitzende der F.D.P. wird in der nächsten Woche unDr. Peter Struck sere Position präzisieren -: Die F.D.P. und die europäischen Liberalen im Parlament sind keine Neinsager. Vielmehr sind sie die besseren Europäer, weil sie versuchen, Erweiterung und Vertiefung gleichzeitig zu erreichen. ({9}) Sie müssen die wichtige Position Deutschlands im europäischen Einigungsprozess unter der Führung eines liberalen belgischen Ministerpräsidenten dazu nutzen, dass der Europäische Rat von Laeken erbringt, dass der Vertragsentwurf von Nizza im Bereich der Entscheidungsfähigkeit so verbessert wird, dass er zustimmungsfähig wird. Wir wollen dem Entwurf von Nizza zustimmen, aber nicht um jeden Preis. ({10}) Klar ist auch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, Herr Gloser, dass nicht der ein guter Europäer ist, der intern sagt: Nizza ist schlecht, Augen zu und durch. Es ist vielmehr der ein guter Europäer, der alles versucht, um den Entwurf von Nizza so zu verbessern, dass sich eine Europäische Union von 20 bis zu 27 Mitgliedern nicht nach dem Prinzip der Vetoentscheidung, sondern nach dem Prinzip von wichtigen politischen Mehrheitsentscheidungen organisiert. ({11}) Aus dem irischen Nein - und dies ausgerechnet am Vorabend des wichtigsten Projektes, nämlich der europäischen Wiedervereinigung; täuschen wir uns nicht, dies entspricht einer allgemeinen Europamüdigkeit, auch in unserem Land - ergeben sich aus unserer Sicht drei gemeinsame Aufgaben aller Parteien und aller Fraktionen im Deutschen Bundestag. Erstens. Wir sollten die Debatte um die Zukunft Europas, um die Vision Europa, durchaus mit unterschiedlichen Ansätzen führen. Wir sollten aber gleichzeitig bei den bevorstehenden konkreten europäischen Projekten alles tun, damit die Einführung der europäischen Währung - ein wichtiges Projekt - zu einer stärkeren projektbezogenen Europa-Zustimmung führt. Hier ergibt sich ein Zusammenhang mit der Reformpolitik: Wer innenpolitisch, wirtschaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch nicht reformiert, wird eine weitere Schwächung des Außenkurses der europäischen Währung zulassen. Dies wird im wichtigsten Land Europas erneut zu einer Europamüdigkeit führen. Wer die Diskussion über die Erweiterung nach Osteuropa weitgehend auf die Frage der Freizügigkeit bzw. der Einschränkung der Freizügigkeit verkürzt, der darf sich nicht wundern, dass viele Menschen die Osterweiterung nur noch unter dem Aspekt des Wettbewerbes am Arbeitsmarkt sehen und nicht mehr unter dem Aspekt der politischen Einigung Europas, der Stabilisierung des Friedens und letztlich auch der Exportchancen deutscher Firmen. ({12}) Zweitens. Wir haben die Aufgabe, uns selbst, aber auch die Bevölkerung durch ausreichende innere Reformen auf mehr Wettbewerb vorzubereiten. Es ist ungerechtfertigt, so zu tun, als sei die Osterweiterung Europas der Hauptgrund für mehr Wettbewerb. Die Globalisierung insgesamt erfordert von unserer Gesellschaft ein sehr viel höheres Maß an Flexibilität, an Wettbewerbsfähigkeit und an Qualifikation. Die Osterweiterung ist eigentlich nur ein kleines Modell der Globalisierung. Deshalb ist der Zusammenhang zwischen innerer Reform in Deutschland und Aufnahmefähigkeit für neue Partner in Europa so enorm wichtig. ({13}) Drittens. Nicht zuletzt gilt: Das europäische Projekt muss mithilfe des Konventmodells, also mit einer anderen Form der Verhandlungen auf europäischer Ebene, dafür sorgen, dass sich die Menschen wieder stärker beteiligt fühlen. Herr Außenminister, dem deutschen Parlament - Sie wissen es aus dem Europaausschuss - kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Wir haben die große Bitte auch an Sie, bei Ihren Überlegungen hinsichtlich der Struktur und Organisation des Konventmodells die Rolle des nationalen Parlamentes ausreichend zu würdigen und insbesondere die Opposition rechtzeitig zu beteiligen. Wenn diese drei Anforderungen an die europäische Politik erfüllt werden, besteht die große Chance, dass die Osterweiterung von den Menschen nicht als Bedrohung hinsichtlich ihrer persönlichen Lage, sondern als Chance empfunden wird. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Außenminister Joseph Fischer das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, hat heute Morgen die Skizze einer neuen christdemokratischen Europapolitik, gewissermaßen von den lichten Höhen seiner sauerländischen Heimat herunter, entworfen: ({0}) Es ging um die AOK Hessen, das Betriebsverfassungsgesetz, die Inflation, die Ökosteuer, die PDS und Bürgerferne. ({1}) Unter dem Strich hieß es dann: An allem sei die Bundesregierung und vor allem der Bundeskanzler schuld. ({2}) Das sind, für sich genommen, alles wichtige Themen, Herr Merz. Das will ich gar nicht abstreiten. Nur mit Göteborg haben diese Punkte fast nichts und zum Teil gar nichts zu tun. ({3}) Ich verstehe ja die Leidenschaft für Wahlkampf; ich kann das weiß Gott nachvollziehen. Darum ist es in Göteborg aber nicht gegangen. In Göteborg ging es vielmehr um eine der entscheidenden historischen Herausforderungen für die europäische Zukunft, nämlich um die Erweiterung. Eine erweiterte Union wird im Jahre 2006 vor schwierigen Finanzverhandlungen stehen. Es war daher sehr wichtig, dass es der Bundesregierung gelungen ist, gemeinsam mit unseren Partnern - an dieser Stelle haben wir uns bei der schwedischen Präsidentschaft zu bedanken - gelungen ist, die unsachgemäße Verknüpfung des Freizügigkeitskapitels, also Freizügigkeit für Personen und für Dienstleistungen sowie Freizügigkeit im Rahmen des Kapitalverkehrs, mit den Struktur- und Kohäsionsfonds nach 2006 aufzulösen. Diese Verknüpfung hätte in der Tat ein Problem aufgeworfen, bei dem es nicht nur um die Frage der Finanzierbarkeit nach 2006 gegangen wäre, sondern auch um die Frage der Akzeptanz einer erweiterten Union und um die Möglichkeit, hier die notwendigen Kompromisse zu erreichen. Es ist der Bundesregierung also gemeinsam mit unseren Partnern gelungen, diese Verknüpfung aufzulösen. Das war eine der ganz wichtigen Entscheidungen, die schon vor dem Gipfel gefallen ist. ({4}) Der Gipfel hat klargemacht, dass die Erweiterung unumkehrbar ist. Aber es ist doch geradezu grotesk, Herr Merz, wenn Sie dem Bundeskanzler und dieser Bundesregierung vorwerfen, sie würden sich nicht mit aller Kraft dafür einsetzen, mit der Erweiterung voranzukommen und - vor allen Dingen - sie zum Abschluss zu bringen. Es war diese Bundesregierung und nicht die Vorgängerbundesregierung, die mit der visionären Datumsdiskussion Schluss gemacht hat. Wir haben darauf gedrungen, dass mit dem Beschluss von Helsinki die konkrete Grundlage für die Erweiterung geschaffen wurde. Jetzt geht es nicht mehr um eine Wiedereröffnung der Datumsdiskussion, sondern darum, die Erweiterung Kapitel um Kapitel anzugehen und abzuschließen. Die Verträge müssen möglichst schnell unterzeichnet und mit dem Ratifikationsverfahren muss möglichst schnell begonnen werden; denn das sind die praktischen Voraussetzungen dafür, dass die Erweiterung endlich - ich wiederhole: endlich Realität wird. ({5}) Es war diese Bundesregierung, die das gemacht hat. ({6}) Kollege Haussmann, Ihre Vermutung trifft zu: Wir haben überhaupt kein Interesse daran, eine neue Datumsdiskussion zu beginnen. Andere haben durchaus Interesse an einer neuen Datumsdiskussion. Ich meine nicht die Beitrittsländer, die teilweise unter schwerem innenpolitischen Druck stehen. Dafür müssen wir großes Verständnis haben; denn sie haben auch große Anstrengungen zu leisten. Es gibt noch andere, die - wie man auf Neudeutsch sagt - durchaus „second thoughts“ haben. Das hat die Bundesregierung nicht. Wir wollen alles tun - der Bundeskanzler hat dies zu Recht unterstrichen -, allerdings auf der Grundlage der Beschlüsse von Helsinki und der konkreten Fortschritte bei den Erweiterungsverhandlungen, damit Polen in der ersten Runde mit dabei ist. ({7}) Umgekehrt kann dieses aber nicht bedeuten, dass es politische Kulanzentscheidungen gibt. Das möchte ich hier zweifelsfrei feststellen. ({8}) Wir haben unseren polnischen Freunden auf dem deutschpolnischen Gipfel nochmals gesagt, dass wir nach Kräften dazu beitragen werden, damit es hier zu konkreten Fortschritten kommt. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist natürlich die Ratifikation des Vertrages von Nizza. Kollege Haussmann, an dem Punkt machen Sie es sich zu einfach. Sonst wurde in der Regel behauptet, es würde im deutsch-französischen Verhältnis knirschen, und dies wurde kritisiert. ({9}) Die F.D.P. weiß nur zu gut, dass es, wenn es hier zum Schwur kommt, auf sie nicht ankommt. Dennoch glaube ich, dass Ihre Tradition Sie dazu verpflichtet, unter Zurückstellung der Punkte, die Sie kritisieren, dem Vertrag von Nizza im Ratifikationsverfahren zuzustimmen. Das Paket von Nizza wieder aufzuschnüren, hieße, es nicht wieder zusammenzubekommen und gleichzeitig sehenden Auges in ein schweres deutsch-französisches Zerwürfnis hineinzulaufen. Auch das muss klipp und klar gesagt werden. ({10}) Das Paket von Nizza wieder aufzuschnüren, hieße - auch wenn es nicht in einem formellen Zusammenhang steht -, dass der entscheidende Punkt nicht umgesetzt werden könnte, nämlich 2004 die Vertiefung zu erreichen, mit der auf deutsch-italienische Initiative hin - wie der Bundeskanzler zu Recht gesagt hat - im Rahmen des europäischen Prozesses konkret begonnen wurde; es ist also nicht mehr nur eine theoretische Diskussion, sondern wir beginnen praktisch damit, die europäische Demokratie fortzuentwickeln und 2004 auch durchzusetzen. Es geht darum, die Union - wie allseits gewünscht - bürgernäher, transparenter, verständlicher zu gestalten, was die Kompetenzverteilung, die Aufgabenverteilung zwischen den Nationalstaaten der Union angeht. Es soll mehr demokratische Anbindung geschaffen werden. Wenn wir den Vertrag von Nizza nicht ratifizieren, werden wir uns auch von diesem Projekt verabschieden. Das ist Bestandteil des Gesamtpakets; das darf man nicht vergessen. Ich sage das gerade in Richtung der Opposition. ({11}) Jeder interpretiert jetzt seine Sicht in die irische Entscheidung hinein. Das war schon beim Europäischen Rat so. Aber es ist an erster Stelle eine nationale Entscheidung des irischen Souveräns. Der Respekt gebietet es - das hat der Bundeskanzler unterstrichen - abzuwarten, wie das irische Parlament und die irische Regierung diese Entscheidung jetzt auswerten und welche Schlussfolgerungen sie daraus ziehen. Welchen Eindruck hätte es gemacht, wenn der Europäische Rat irgendwelche Vorschläge gemacht hätte, bevor die irische Regierung und der irische Gesetzgeber dazu gesprochen haben? Das hätte so ausgesehen, als wenn von oben herab in die irischen Verhältnisse hätte hineinregiert werden sollen. Der Respekt gebietet es, dass man sich an die Reihenfolge hält. Wenn dann Hilfe oder Veränderungen notwendig sind, wird man auf europäischer Ebene darüber reden müssen. Nach der neuen merzschen Europapolitik liegen die Ursachen für das irische Nein bei Österreich und vor allem dem Umstand, dass der Bundeskanzler Herrn Berlusconi nicht gratuliert hat. ({12}) Herr Merz, ich will Ihnen einmal einen Brief vom 11. Juni dieses Jahres vorlesen: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, zur Übernahme Ihres verantwortungsvollen Amtes an der Spitze der italienischen Regierung gratuliere ich Ihnen. Die freundschaftliche Verbundenheit unserer beiden Länder hat einen besonderen Stellenwert. Deutschland und Italien haben durch ihre enge Zusammenarbeit immer wieder wichtige Beiträge zur Entwicklung der Europäischen Union leisten können. Ich bin mir sicher, dass wir diese Partnerschaft erfolgreich fortsetzen werden. Ich freue mich darauf, Sie bei der Tagung des Europäischen Rates in Göteborg persönlich kennen zu lernen. Für die vor Ihnen liegenden Aufgaben wünsche ich Ihnen Glück und Erfolg. Mit freundlichen Grüßen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ({13}) Es gratulierte also der Bundeskanzler - ({14}) - Am 11. Juni, direkt nach der Vereidigung, noch vor der Wahl im italienischen Parlament. ({15}) Es gratulierte der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland dem neuen, gerade vereidigten italienischen Ministerpräsidenten. Herrn Berlusconi nicht gratuliert hat der Parteivorsitzende der SPD. Dafür habe ich allerdings Verständnis, meine Damen und Herren. ({16}) Auf welches Niveau ist denn die Europadiskussion in der CDU gesunken, wenn die Frage der Gratulation Berlusconis Ursache für das Nein in Irland gewesen sein soll? ({17}) Herr Merz, darüber sollten Sie wirklich noch einmal nachdenken. Ich frage mich übrigens auch, was Wolfgang Schäuble bei Ihren Äußerungen über die Entwicklung in Berlin gedacht hat. Es wäre hochinteressant, das hier einmal zu hören. ({18}) Ich komme zurück zu Europa: Ganz entscheidend war in Göteborg noch die Nachhaltigkeitsfrage. Wir können jetzt Umsetzungsschritte für sie ausarbeiten; dass wir die Nachhaltigkeit als konkretes praktisches Programm der Kommission und der verschiedenen Räte in der Union haben, ist ein entscheidender Schritt nach vorn. Auch die Tatsache, dass sich die Union verpflichtet hat, am KiotoProzess festzuhalten, ist ein entscheidender Schritt nach vorne: für die Umweltpolitik nicht nur der Union, sondern auch weltweit. Noch wichtiger ist Folgendes: In diesem Zusammenhang ist klar geworden, dass sich die gemeinsame Außenpolitik der Union enorm in positiver Richtung entwickelt hat. Das gilt im Zusammenhang mit Nahost wie auch im Verhältnis zu den USA. Der Besuch von Präsident Bush hat klargemacht, welches Niveau die Gemeinsamkeit der Europäer in zentralen außenpolitischen, aber auch in anderen wichtigen internationalen Fragen wie der Umweltpolitik oder etwa in der Handelspolitik, erreicht hat. Das ist ebenfalls ein Ergebnis von Göteborg, das ich nicht gering veranschlage, auch wenn dies nicht direkt in die Konklusionen und Beschlussfassungen eingeflossen ist. Einen letzten Punkt möchte ich in diesem Zusammenhang ansprechen: die Bedeutung des Jahres 2004. Hier liegt die Betonung auf der belgischen Präsidentschaft. Ich habe vorhin schon angesprochen, wie wichtig es ist, dass der Vertrag von Nizza im Hinblick auf den 2004-Prozess ratifiziert wird. Auch wenn dies nicht Bestandteil des zu ratifizierenden Vertrages, sondern in den Schlussfolgerungen von Nizza enthalten ist, gehört es dennoch substanziell zusammen. ({19}) Jeder, der das Ratifikationsverfahren bezüglich des Vertrages von Nizza ablehnt, wird den Vertiefungsprozess ebenfalls infrage stellen, dessen konkrete Organisation wir jetzt begonnen haben und der auf ein Mehr an Demokratie und Transparenz sowie auf eine Klärung der Zuständigkeiten zwischen Nationalstaaten und Union, also der europäischen Verfassungsfrage, hinauslaufen wird. Deswegen appelliere ich an Sie alle, den Vertrag von Nizza nicht schlecht zu reden, sondern ihn zu ratifizieren. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich vorhin der Rede des Kollegen Friedrich Merz lauschte, hatte ich für einen Moment den Eindruck, er habe sich zum Maoismus bekehrt. Er stellte die Forderung nach einem „großen europäischen Sprung“. Die Forderung nach einem großen Sprung war Kern maoistischer Politik. ({0}) Die CDU als späte Rache des Maoismus - das wäre eine neue, sehr interessante Variante. ({1}) Aber ernsthaft: Das eigentliche Problem ist der schleichende Rechtspopulismus, der sich in dieser Partei immer mehr durchsetzt und auch in der Rede von Friedrich Merz deutlich geworden ist: ({2}) Die CDU droht zu einer Partei rechts der Mitte zu werden. ({3}) Das ist nicht nur ein Problem der CDU, sondern das wird ein Problem unseres Landes insgesamt sein. ({4}) Nicht mit großen Sprüngen, auch keinen großen Sprüngen à la Friedrich Merz - damit ist bereits Mao Tse-tung gescheitert -, sondern mit kleinen, verlässlichen, nachprüfbaren Fortschritten muss Europa gestaltet werden. Deswegen muss man über die Probleme sehr ernsthaft reden. Viel nüchterner als zum Beispiel Kanzler Schröder sprach aus meiner Sicht der französische Ministerpräsident Jospin von einer gewissen Ernüchterung und Unsicherheit, die sich in Europa breit macht. Diese Ernüchterung und Unsicherheit hat der Gipfel von Göteborg nicht aufgefangen, im Gegenteil. Das muss man doch endlich einmal kritisch zur Kenntnis nehmen. Die Bevölkerung von Irland hat den Vertrag von Nizza abgelehnt. Das EUParlament hat eine positive Empfehlung zu diesem Vertrag verweigert und der Bush-Besuch hat außer Fototerminen im Wesentlichen keinen Fortschritt gebracht. Um endlich voranzukommen, müssen wir uns über folgende Fragen verständigen: Welches sind die wesentlichen Defizite Europas? Warum knirscht es auch und gerade, wenn es um die Erweiterung geht? Wo liegen mögliche Schlüssel, um diese Probleme zu lösen? Die deutsche Europapolitik ist aus meiner Sicht noch zu sehr in der Vergangenheit verhaftet. Sie klebt an alten Überzeugungen; sie klebt an westeuropäischen Erfahrungen. Sie hat das neue Europa, das sich erweitert, inhaltlich noch nicht begriffen. Ich finde, sie steht in der Gefahr, die falsche Strategie beim Aufbau Ost auf europäischer Ebene zu wiederholen. Genau das wollen wir nicht. ({5}) Nicht die Erweiterung der Europäischen Union ist die Ursache der Probleme, sondern die Art und Weise, in der sie stattfindet, und ihr Inhalt sind es. Bundeskanzler Schröder hat hier - gar nicht in Frageform, sondern als Festlegung - gesagt: Die Zielrichtung stimmt. Ich sage dagegen: Genau diese Zielrichtung stimmt nicht. Seitens der Europäischen Union ist Messlatte für die Beitrittskandidaten, ob sie das neoliberale Wirtschaftsmodell glaubwürdig und verlässlich eingeführt haben. Das ist aus unserer Sicht genau der falsche Maßstab. Richtig wäre, die soziale Entwicklung in den Mittelpunkt zu stellen. ({6}) Dazu gibt es Erfahrungen aus dem deutsch-deutschen Einigungsprozess. Warum bringen wir diese Erfahrungen nicht in den europäischen Prozess ein? ({7}) Wir wissen aus den Erfahrungen: Ein marktradikales Programm allein bringt Verwerfungen, die eine Gesellschaft kaum ertragen kann, in ärmeren Ländern als Deutschland schon gar nicht. Deshalb muss die EU in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern die Schaffung der Bedingungen für einen sozialen und umweltverträglichen Strukturwandel fördern. Da in den Altindustrien und in der Landwirtschaft viele Arbeitsplätze entfallen, muss sie sich um umweltverträgliche und soziale Ersatzarbeitsplätze in neuen Sektoren kümmern. Das kostet in erster Linie Umdenken und kostet selbstverständlich in zweiter Linie auch Geld. Das ist doch ganz klar. Gefördert werden muss die ökologische und soziale Gestaltung des Strukturwandels in den Beitrittsländern. Sie brauchen deutlich erhöhte finanzielle Transferleistungen zum Aufbau der Infrastruktur, funktionsfähiger öffentlicher Dienste und nachhaltiger Beschäftigung. Im alten wie im neuen Europa müssen existenzsichernde Einkommensstandards, Standards für Renten und Mindestlöhne gelten. ({8}) In diese Richtung denkt Jospin. Er hat einen Vorschlag dazu unterbreitet. Der Bundeskanzler hat hier kein Wort zum Inhalt des Vorschlags seines französischen Kollegen gesagt. Jospin hat ein europäisches Sozialrecht vorgeschlagen; er hat vorgeschlagen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und Sozialdumping zu bekämpfen. ({9}) Er hat - was mir sehr wichtig ist - vorgeschlagen, die kulturelle Vielfalt in Europa zu verteidigen. Wären das nicht auch Vorschläge, die ein deutscher Bundeskanzler positiv aufgreifen kann? ({10}) Jospins Ziel ist der Abschluss eines europäischen Sozialvertrages. Das unterstützt die Fraktion der PDS nachdrücklich. ({11}) Von einem sozialen Europa sind wir leider noch weit entfernt. Wir sollten uns alle klar darüber sein: Würden die Völker über das real existierende Europa entscheiden, dann käme in vielen Ländern ein Ergebnis wie in Irland zustande. Das ist nicht nur ein Problem Irlands; wir haben diese Probleme in allen europäischen Ländern. Das hat einen einfachen Grund: Das EU-Europa ist von seinen Bürgerinnen und Bürgern meilenweit entfernt. Es ist seinen Bürgerinnen und Bürgern fremd geworden. Wer jetzt aber trotzig über die Entscheidung der Inselbewohner hinweggeht, der demonstriert nur einmal mehr die Arroganz der Macht. Von der allerdings haben die Menschen im kleinen und im erweiterten Europa genug. Wir brauchen eine andere Europa-Strategie einschließlich einer anderen Strategie der Erweiterung. Diese andere Europa-Strategie beginnt im Kleinen und Alltäglichen. Herr Außenminister, den Teil Ihrer Rede, in dem Sie über die alltäglichen Fragen, die Herr Merz aufgeworfen hat, gespottet haben, fand ich sehr unklug. Wenn die Menschen den Eindruck haben, wir bewegten uns nur über ihren Köpfen von Gipfel zu Gipfel, nähmen ihre Alltagsprobleme - und seien es die der Bürger des Sauerlandes - nicht wahr und diskutierten nicht über diese, dann werden wir die Fragen, die Europa betreffen, nicht lösen. ({12}) Wir müssen insbesondere die Alltagsprobleme in den Grenzregionen zu Polen und Tschechien wahrnehmen und das Problem aufgreifen, dass auch in Deutschland Angst vor Billigkonkurrenz herrscht. Mit dieser Angst kann man sich aktiv auseinander setzen. Wir sind für Infrastrukturmaßnahmen und Sonderaktionsprogramme auf beiden Seiten der Grenze zur Verhinderung von illegaler Beschäftigung sowie von Lohn- und Sozialdumping. Wenn das geschieht, werden Übergangsfristen hinsichtlich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern überflüssig. Es ist ohnehin abstrus, dass sich in Europa das Kapital frei bewegen kann, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber nicht. Wir wollen ein Europa der Menschen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Präsident Bush Präsident Putin in die Augen gesehen hat - das sagte er im Fernsehen -, hat der eine erkannt, dass der andere ein Partner sein könnte. Das hat mich an den Film „Casablanca“ und an Bogarts „Schau mir in die Augen, Kleines“ erinnert. Bei „Casablanca“ ging es allerdings um wahre Liebe und Verlässlichkeit. Ich weiß nicht, ob Präsident Bush auch unserem Kanzler Schröder in die Augen gesehen hat; das dürfte ja schwer funktionieren. Ich würde mich freuen, wenn aus dem europäischen Gesicht, den europäischen Augen deutlich würde, dass dieses Europa die Raketenpläne des amerikanischen Präsidenten ablehnt und wir als Europäer das auch offen und selbstbewusst dem Präsidenten der USA sagen. Mit „Schau mir in die Augen, Kleines“ kommt die Politik nicht weiter. Danke sehr. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Herr Gehrcke, ich glaube nicht, dass der Gipfel in Göteborg Anlass dazu bieten sollte, antiamerikanische Ressentiments zu pflegen. ({1}) Wenn sich die Europäer souverän und auch kritisch in den Dialog mit den Vereinigten Staaten begeben, dann werden wir auch manches Problem, welches es gegenwärtig im Verhältnis zwischen der Europäischen Union als Ganzer auf der einen und den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite gibt, lösen können. Wir sollten dies selbstbewusst angehen! Auch das war eine Botschaft des Göteborger Gipfels. ({2}) Der Göteborger Gipfel hat vor allem diejenigen von uns, denen die Erweiterung am Herzen liegt, einen ordentlichen Schritt nach vorn gebracht. Das beschlossene Signal ist begrüßenswert. ({3}) - Herr Müller, bei der CDU/CSU-Fraktion ist nie ganz klar, wie sie zur Erweiterung steht. Sie sehen das so, die anderen sehen das anders und Ihr Ministerpräsident sieht es noch einmal ganz anders. Diesen Klärungsprozess sollten Sie erst einmal in Ihren eigenen Reihen führen, bevor Sie hier den Mund aufmachen. Dazu können Sie nachher ja auch noch etwas sagen. ({4}) Es ist ein begrüßenswertes Signal, zu sagen, 2002 sei nicht nur das Jahr des Euros und es werde nicht nur der Ratifizierungsprozess abgeschlossen, sondern nach Möglichkeit werden ab 2003 die ersten neuen Mitgliedstaaten der EU beitreten. ({5}) In dieser ständigen Termindebatte sehe ich aber auch ein Problem: Martin Winter, ein von mir geschätzter Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ in Brüssel, hat gesagt, dass sich der Fortschritt nicht nach der Stoppuhr, sondern allein anhand des Aufgabenzettels misst. Das ist das Entscheidende. ({6}) Wir haben noch große Probleme vor uns liegen, wenn ich mir allein einmal die Agrarpolitik anschaue, die auch in Ihrem Interesse, Herr Müller, und in dem Interesse der Menschen, die Sie hier im Deutschen Bundestag zu vertreten beabsichtigen, liegt. Wir sollten den Menschen ehrlich sagen, dass es da ein paar Probleme gibt, die wir lösen müssen. Das tun wir nicht dadurch, dass wir sagen: „Wir öffnen 2002 die Türen“, sondern die Beitrittsländer müssen, bevor sie die Türen öffnen - das Signal dafür wurde gegeben -, noch eine Menge Hausaufgaben erledigen. Bis zu Ihnen, Herr Haussmann, scheint es sich noch nicht herumgesprochen zu haben, dass der Vorschlag des Bundeskanzlers - dieser liegt ja glücklicherweise auf einer Linie mit den Vorstellungen der Europäischen Union zwei Seiten beinhaltet: zum einen eine Übergangsfrist von zwei bis maximal sieben Jahren, ({7}) zum anderen ein gewisses Maß an Flexibilität. Wenn wir mit Kolleginnen und Kollegen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern sprechen, kommen wir alle gemeinsam zu dem Schluss, dass diese Übergangsfrist nach zwei bis drei Jahren schon beendet sein könnte. Das kann man auch in diesen Ländern vertreten, die - darauf haben Sie zu Recht hingewiesen - ihre Bevölkerung davon zu überzeugen haben, dass die Mitgliedstaaten aus dem Westen die osteuropäischen Länder in der Europäischen Union willkommen heißen. ({8}) Der Ehrlichkeit halber sollten wir aber auch immer wieder erwähnen, dass hierfür Flexibilität erforderlich ist. Im Vorfeld des Göteborger Gipfels wurde ein weiteres wichtiges Signal gesetzt: Erpressungsversuche, die Erweiterung gegen andere, noch zu behandelnde europapolitische Felder wie Regional- und Strukturpolitik auszuspielen, sind endgültig gescheitert. Das spanische Memorandum wird, wie ich glaube, einzigartig bleiben. Das sollte uns alle sehr zufrieden stellen. Wenn wir nämlich diese Büchse der Pandora öffnen, also schwierige Aufgabenfelder aus verschiedenen Ressorts miteinander verknüpfen und daraus einen Teig machen, der nicht aufgeht und niemandem in der Europäischen Union schmeckt, wird uns der ganze Laden um die Ohren fliegen. ({9}) Es mag da Differenzen, auch zwischen den Europapolitikern hier im Hause, geben, aber ich finde es bedenklich - dabei bleibe ich -, wenn in einer von Berlusconi angeführten italienischen Regierung neofaschistische Kräfte sitzen. ({10}) Das kann ich nicht akzeptieren. Ich kann es genauso wenig akzeptieren, wenn Vertreter der FPÖ, einer aus meiner Sicht rechtspopulistischen Partei, in der österreichischen Regierung sitzen. Das muss man doch öffentlich sagen können. Das muss, wie ich meine, auch ein Parlamentarier sagen dürfen. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte hielte ich es für notwendig und richtig, ein paar kritische Signale in die entsprechenden Länder auszusenden. ({11}) Ein paar Anmerkungen noch zum irischen Nein. Ich sehe das irische Nein schon als Warnruf an die Europäische Union als Ganzes. Es liegt - da hat der Außenminister zweifellos Recht - natürlich erst einmal in der innenpolitischen Verantwortung Irlands, zu analysieren, wie es zu dem Nein beim Referendum gekommen ist. Es ist aber, so denke ich, eine gemeinsame Aufgabe, Konsequenzen daraus zu ziehen. Dass das Referendum ein Nein zum Resultat hatte, darf nicht dadurch relativiert werden, dass man sagt, es wird irgendwann einmal ein zweites Referendum geben. Vielmehr sollten wir versuchen, darauf eine selbstbewusste Antwort zu geben. Diese kann nur lauten - der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung ja auch zum Ausdruck gebracht -: mehr Parlamentarisierung, mehr Öffentlichkeit und vermehrter kritischer Diskurs. Es hilft nicht, wenn der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU die Europapolitik wieder einmal für innenpolitische Zwecke missbraucht und zwischen 80 und 90 Prozent seiner Rede nur mit innenpolitischen Themen bestreitet, die ihm gerade in den Kram passen. Es muss auch über Europa geredet werden. Man braucht da gar keine Angst zu haben. Das Europa-Thema gehört hier in den Deutschen Bundestag und nicht nur in Fachkreise. Da müssen wir uns auch einmal an die eigene Nase fassen. Jeder von uns sollte das tun und versuchen, einen eigenen Beitrag zu leisten. ({12}) Der Göteborger Gipfel ist von Krawallen überschattet worden. Als Reaktion darauf gibt es zwei Antworten. Die eine Antwort hat der Bundeskanzler gegeben: Gewalt ist kein Mittel für Auseinandersetzungen. Mich treibt es aber schon um, wenn junge Leute, die 16, 17 oder 18 Jahre alt sind, aus vermeintlicher Angst vor der Globalisierung die EU zum Mittelpunkt ihrer Kritik machen. Wir sollten gemeinsam deutlich machen, was die wesentliche Grundlage der Europäischen Union ist. Unsere Basislage für den europäischen Integrationsprozess ist ein gemeinsames ziMichael Roth ({13}) vilgesellschaftliches Modell, das auf Solidarität, kultureller Vielfalt und Toleranz beruht. Das sollten wir noch selbstbewusster in unseren Debatten zum Ausdruck bringen. ({14}) Es geht eben nicht nur um Binnenmarkt und Handelspolitik. Die Europäische Union ist unsere demokratische und Mut machende Antwort auf die Globalisierungsängste vieler Menschen. Davor sollten wir nicht in die Knie gehen. Wir sollten diesen Punkt, insbesondere im Gespräch mit kritischen jungen Leuten, stärker in den Mittelpunkt rücken. Es kann nicht die Lösung sein - das ist auch diskutiert worden -, die zukünftigen Gipfeltreffen von der Öffentlichkeit abzuschotten und auf irgendwelchen Panzerkreuzern außerhalb der schönen Städte Europas zu tagen. Die Gipfeltreffen gehören in die Mitte der Gesellschaft. Aus diesem Grunde sollten wir im Vorfeld der nächsten Gipfeltreffen versuchen, das Thema „europäische Zivilgesellschaft“, unser gemeinsames Modell in einer globalisierten Welt, nach außen zu tragen. Ich glaube, es wartet noch eine Menge Arbeit auf uns. Sie sind zum Mitmachen herzlich eingeladen. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat heute in seinem eher etwas trocken geratenen Bericht ({0}) davon gesprochen, dass es zu seinem Vorschlag zur Weiterentwicklung der Europäischen Union im Sinne eines föderalen Systems auch kritische Stimmen gegeben habe. Das ist durchaus richtig. Er hat uns aber vorenthalten, wer die kritischste Stimme zu seinem Vorschlag war. Das war nämlich der Bundesaußenminister. Deswegen haben wir eigentlich erwartet, dass die Bundesregierung im Rahmen dieser Debatte klarstellt, wie es in Europa - nach ihrer gemeinsamen Auffassung - weitergehen soll. ({1}) Denn wenn man die Menschen mitnehmen will, muss man diesbezüglich Klarheit schaffen. Ich stehe aber nicht an, zu sagen, Herr Bundeskanzler: Erfreulicherweise haben Sie - insofern ist Ihnen eine gewisse Lernfähigkeit zu bescheinigen, und zwar stärker als Ihrem Außenminister Vorschläge, die die CDU/CSU-Fraktion - die Kollegen Schäuble, Lamers, Pflüger und ich - gemacht hat, aufgegriffen und durch einige Elemente erweitert haben. Damit gibt es eine Grundrichtung, über die wir uns vielleicht verständigen können. Sie sollten sich jedoch auch mit Ihrem Außenminister darüber verständigen, allerdings nach dieser Debatte. Meine Damen und Herren, welche Botschaft liegt im Nein der irischen Bevölkerung zum Vertrag von Niza? Die eilig angestellten Untersuchungen der Meinungsforscher signalisieren unterschiedliche Gründe. Die einen beschäftigte die irische Neutralität, andere die BSE-Problematik, wieder andere das Gewicht der kleineren Staaten. Ich meine, das Entscheidende ist: Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, die Skepsis der Iren daran, wie es in Europa weitergeht, sei ein regionales Sonderproblem. Ich sage ganz kritisch: Wären auch in anderen Ländern Volksabstimmungen über den Vertrag von Nizza durchgeführt worden, hätte auch dort eine Verweigerung gedroht. Irland ist überall. Deswegen muss uns das irische Votum als Europapolitiker beschäftigen und darf nicht so ignoriert werden, wie das die Staats- und Regierungschefs in Göteborg mit leichter Hand getan haben. ({2}) Welche Lösungsvorschläge gibt es? - EU-Kommissar Verheugen sieht ein Defizit im mangelnden positiven Eintreten für Europa. Andere suchen das Heil in mehr Informationen. Ich sage kritisch: Eine Verdoppelung der Hochglanzbroschüren und eine Verstärkung der Politikerappelle lösen das Problem nicht. Für mich ist das Kernproblem der Mangel an Demokratie. Den verspüren die Bürger. Sie sind unsicher und suchen nach Abhilfe. Es ist der Mangel an Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Brüssel, der die Wähler verunsichert. Weil sie den Gang der politischen Entscheidungen nicht beeinflussen können, wenden sie sich gegen den Integrationsprozess insgesamt. Wenn wir die Bürger für den Integrationsprozess gewinnen wollen, wenn wir sie mitnehmen wollen in das vereinte Europa, in die Osterweiterung, in die großen historischen Aufgaben, dann müssen wir ihnen auch ein demokratisches Mittel an die Hand geben, ihr Ja oder ihr Nein zu Brüssel zu sagen. Dann brauchen sie ein Europa, das demokratischer, transparenter und effizienter ist. ({3}) Das heißt im Klartext: Sie müssen die Möglichkeit bekommen, bei der Europawahl darüber zu bestimmen, wie es in Europa weitergeht. Bei der letzten Europawahl haben wir ja ein tolles Ergebnis erzielt, zugegebenermaßen nicht allein aus europapolitischen Gründen, sondern weil die Bürger empört über die Maßnahmen Ihrer Regierung waren, Herr Bundeskanzler. Es ist ja nicht so, dass uns das geärgert hätte; aber es weist aus, dass die Europawahlen zu vielen Zwecken benutzt werden und auch taugen, dem Bürger jedoch kein wirkliches Mittel an die Hand geben, die europäischen Dinge zu beeinflussen. Deswegen bin ich dafür, dass das Europäische Parlament das Recht bekommt, auch die Spitze der europäischen Exekutive, den Kommissionspräsidenten und diese Art „europäischer Regierung“ zu wählen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen über die Wahl des Europaparlaments auch tatsächlich bestimmen, den Daumen heben oder senken können, ob ihnen das, was in Brüssel vorgeht, gefällt oder nicht gefällt. Wenn sie diese Mitwirkungsmöglichkeit bekommen, dann werden sie auch Europa viel näher sein. ({4}) Lassen Sie mich einen zweiten Komplex ansprechen. Ein für Europa wichtiges Thema ist die Zukunft des Michael Roth ({5}) Vertrages von Nizza. Wir werden darüber ja in der nächsten oder übernächsten Woche noch im Detail diskutieren. Dieser Vertrag stellt keinen von uns zufrieden und, wenn die Regierung ehrlich ist und in sich geht, sie selbst auch nicht, weil wir das, was wir uns vorgenommen haben, hiermit nicht erreichen konnten. Trotzdem ist der Vertrag wichtig. Er ist ein Schlüssel für die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union. Nun müssen wir uns natürlich mit der Frage auseinander setzen, was passiert, wenn die Iren bei ihrem Nein zu Nizza bleiben. Das kann ja keiner ausschließen. Was ist dann mit dem großen historischen Projekt, vor dem wir stehen? Ich trete nachdrücklich dafür ein, dass wir das historische Projekt der Osterweiterung der Europäischen Union nicht auf Gedeih und Verderb an diesen Vertrag von Nizza binden, meine Damen und Herren, sondern dass wir die Kraft aufbringen, wichtige, erweiterungsrelevante Aspekte im Rahmen der Beitrittsverträge, verbunden mit einem mutigen Verfassungsvertrag, zu lösen. Wir müssen auf dem Weg der Integration vorangehen. Wir müssen ein demokratisches, transparentes und größeres Europa schaffen und dürfen es nicht an diesem nicht gut gelungenen Vertragswerk von Nizza scheitern lassen. ({6}) Eines haben Nizza und Göteborg gezeigt - Kollege Haussmann hat das eben schon angesprochen -: Die Methode „Regierungskonferenz“ ist an eine kritische Grenze geraten, sie hat sich erschöpft. Sie hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten einiges zuwege gebracht; aber jetzt muss offensichtlich ein neuer Weg gefunden werden. Dieser neue Weg, der gefunden werden muss, ist eine verfassungsvorbereitende Versammlung, in der Parlamentarier der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments, die nationalen Regierungen, die Europäische Kommission gemeinsam Arbeiten an einem Verfassungsvertrag für Europa leisten. Wir dürfen uns nicht im Hickhack der Regierungskonferenzen auf Beamtenebene jahrelang festfahren und die Zeichen und Chancen der Zeit verpassen. Deswegen müssen wir diesen mutigen Schritt tun. Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstehe, gibt es auch eine gewisse Bereitschaft dazu, ({7}) ein solches Gremium rasch einzuberufen, und zwar unter einer sinnvollen Beteiligung derer, die morgen mit dabei sein werden. Wir dürfen das den zukünftigen Mitgliedstaaten nicht einfach vor die Füße werfen, ({8}) sondern müssen sagen: Das Europa, das wir bauen, wollen wir mit euch gemeinsam bauen. In dem Sinne verstehe ich auch die Arbeit des Europaausschusses in diesem Hause. Wir haben uns beispielsweise mit dem Europaausschuss des polnischen Sejm getroffen, um deutlich zu machen, dass Europa keine Veranstaltung ist, in der Westeuropa sagt, wo es lang geht, sondern in der wir unsere historische Aufgabe wahrnehmen, die Dinge gemeinsam zu beraten. Ich danke auch dem Vorsitzenden unseres Europaausschusses, Herrn Kollegen Pflüger, für seine Initiativen, die über die Grenzen unseres Landes immer wieder hinausweisen. ({9}) Ich möchte auch nicht, dass diese Debatte zu Ende geht, ohne dass wir der schwedischen Präsidentschaft ein Wort des Dankes sagen. Die schwedische Präsidentschaft hat nicht alles zuwege gebracht; aber sie hat sich auf die Frage der Osterweiterung konzentriert. Wir können feststellen, dass die Beitrittsverhandlungen unter der schwedischen Präsidentschaft deutlich vorangekommen sind. Ich möchte - ich denke, das im Sinne des ganzen Hauses sagen zu können - der schwedischen Präsidentschaft für dieses Signal von Göteborg, dass die Europäische Union an der Osterweiterung, an dem entscheidenden Projekt in diesem Jahrhundert, festhält und arbeitet, auch ein Wort des Dankes sagen. Das ist eine große Leistung unserer schwedischen Partner. ({10}) Nun lassen Sie mich mit einigen kritischen Worten schließen. Herr Bundeskanzler, Sie sind, was die Frage der Förderung der Grenzregionen angeht, mit leeren Händen zurückgekommen. Wir haben dazu im Deutschen Bundestag eine Initiative gestartet. Die Regierung hat dankenswerterweise gesagt, dass sie das unterstützt. Es stand auch auf der Tagesordnung, aber leider sind Sie mit leeren Händen zurückgekommen. Der Deutsche Bundestag wird darüber wachen, ob diese wichtige Problematik, die ebenfalls aus der Mitte des Europaausschusses heraus entwickelt wurde, auf der Tagesordnung bleibt. Das muss spätestens im zweiten Halbjahr 2001 geleistet werden. Auch das gehört zu einer gelingenden Erweiterung. ({11}) Die zentrale Frage, von Irland bis zu den Diskussionen des heutigen Tages, wird in Zukunft sein: Wer macht in Europa was? Die Übermacht des Rates ist ein Widerspruch gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung. Auch hier haben wir ja Vorschläge gehört, über die man diskutieren kann. Wir müssen zu einer fairen Gewaltenteilung kommen, die die Bürger durchschauen. Es muss klar sein: Was ist die Rolle des Rates? Was ist die Rolle des Parlamentes? Was ist die Rolle der Kommission? ({12}) - Der Kollege Austermann ruft gerade dazwischen, dass vielleicht auch die Regierung hätte nachdenklich werden müssen - der Bundeskanzler hat das heute ja selbst angesprochen -, als sie sah, ({13}) wie Gewalttäter die Regierungschefs daran hinderten, sich frei in Göteborg zu bewegen, weil Polizisten von gewalttätigen Demonstranten massiv attackiert wurden. ({14}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben uns für Europa eine Menge vorgenommen. Das Projekt verdient den Einsatz aller, aber das Wichtigste ist - das finde ich gut; das wird auch in den Reden des heutigen Tages deutlich -: In der Grundlinie sind sich die großen demokratischen Kräfte dieses Hauses einig. ({15}) Wir wissen, dass wir einen historischen Auftrag haben, und wir werden ihm nachkommen. ({16}) - Dass heute - lieber Herr Poß, auf Ihren Zwischenruf in dieser Debatte auch andere Dinge angesprochen wurden, ist ja mehr als berechtigt. Wenn sich Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Struck, hier hinstellt - und dem deutschen Volk verspricht, er werde die Inflationsrate weiter im Auge behalten, dann antworte ich Herrn Struck: Wir erwarten von der Regierung nicht, dass sie das selbst produzierte Elend im Auge behält sondern ({17}) dass etwas getan wird, um die Geldwertstabilität in diesem Lande wieder sicherzustellen. Das musste eben auch gesagt werden. Schönen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christian Sterzing.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist, glaube ich, bei der fortschreitenden Debatte schon zu beobachten, dass wir uns dem Gegenstand dieser Diskussion nähern. Das ist wichtig, weil Göteborg wirklich keine Routinetagung, kein Routinegipfel gewesen ist. Die vielfältigen Themen, die dort besprochen worden sind, werden die Integrationsentwicklung in den nächsten Jahren prägen. Ich will nur kurz auf vier Punkte eingehen: das Thema Erweiterung, das Thema Nachhaltigkeit, die bisher leider nur am Rande erwähnten Beschlüsse und Gespräche zum Thema der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und schließlich die Zukunftsdebatte. Das Signal der Unumkehrbarkeit des Erweiterungsprozesses war, so denke ich, nach Irland absolut notwendig. Insofern ist hinsichtlich der Präzisierung des Zeitfensters für die erste Beitrittsrunde ein weiterer Schritt getan worden, um das Vertrauen gerade in den Beitrittsländern in den Prozess zu sichern und zu stärken. Nach alldem, was wir bislang gehört haben, ist dieses Signal angekommen. Es ist wichtig und es war notwendig, dass dieses Signal in Göteborg ausgesandt worden ist. Der zweite Punkt, der in der Öffentlichkeit und auch in den Medien leider etwas in den Hintergrund getreten ist, ist das Stichwort Nachhaltigkeit. Die schwedische Präsidentschaft hatte sich ja drei E als Schwerpunkte vor genommen: Enlargement, Environment und Employment. Ich glaube, es ist wichtig, dass nach den Fortschritten beim Thema Umweltschutz in den europäischen Verträgen nun einmal das Thema Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt der Beratungen eines Gipfels und dessen Vorbereitung gestellt worden ist, dass nicht nur Worte gefunden worden sind, sondern an der Operationalisierung dieses Themas gearbeitet worden ist. Das unterstreicht die wirklich grundsätzliche Bedeutung des Nachhaltigkeitsprinzips für die politische Entwicklung in Europa in allen Bereichen, in denen im Rahmen der Europäischen Union politisch zusammengearbeitet worden ist. Dieses Gipfelthema wird dem Thema Nachhaltigkeit weiter zum Durchbruch verhelfen und sicherlich - das ist in den Schlussfolgerungen durchaus zum Ausdruck gekommen - auf europäischer wie auf nationaler Ebene zur Weiterarbeit anregen. Das ist eine Verpflichtung, die die Mitgliedstaaten übernommen haben. Zum Thema Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Entwicklungen auf dem Balkan und im Nahen Osten diskutiert worden. Wie so oft sind es aktuelle politische Anlässe. Man wäre dankbar, wenn die Notwendigkeit nicht bestehen würde, über diese Themen in so ernster Form zu reden. Aber ich glaube, es ist wichtig, noch einmal deutlich herauszustreichen, dass die Debatten auf dem Gipfel zu diesen beiden Themen eine neue Qualität aufzeigen. Sie haben insofern eine neue Qualität erreicht, als die Entwicklung vor dem Hintergrund der aktiven Beteiligung von Repräsentanten der Europäischen Union, insbesondere von Solana, aber eben auch - Stichwort: Naher Osten - des deutschen Außenministers, durch eine wesentlich aktivere Rolle der Europäischen Union in diesen regionalen Konflikten geprägt worden ist. Ich glaube, dass dieses Signal, das von Göteborg ausgegangen ist - „Wir werden im Bereich der gemeinsamen Außenpolitik aktiv unsere Rolle spielen, gerade in den aktuellen Konflikten auf dem Balkan und im Nahen Osten!“ -, für die betroffenen Regionen sehr wichtig ist und dort wahrgenommen wurde. Insofern kann es nicht unterschätzt werden, dass die EU hier bereit ist, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Wir hoffen natürlich, dass dies - alles deutet darauf hin - auch in der Zukunft seine Fortsetzung findet. Der vierte Bereich ist schließlich die Zukunftsdebatte, verbunden mit dem Thema Irland hier schon vielfach angesprochen. Vielleicht sind in diesem Bereich von Göteborg tatsächlich die zaghaftesten Signale ausgegangen. Es wäre möglicherweise wünschenswert gewesen, wenn hier deutlichere Signale gesendet worden wären. Das Alarmierende des irischen Votums ist ja nicht nur die „no vote“, also die Ablehnung des Nizza-Vertrages, sondern alarmierender fast noch ist die „non vote“, also die Enthaltung der irischen Bevölkerung. ({0}) Zwei Drittel sind gar nicht erst an die Wahlurne gegangen. ({1}) Es gibt keine eindeutige Motivationslage für das irische Votum. Es wäre sicherlich falsch, es als eine Ablehnung des Erweiterungsprozesses zu interpretieren. Zu diffus sind offensichtlich die Gründe, die sehr heterogene politische Kräfte dazu gebracht haben, sich hier für eine Ablehnung des Nizza-Vertrages einzusetzen. Aber ich glaube, es ist deutlich geworden - auch dies wurde in verschiedenen Beiträgen schon angesprochen -: Diese Motivationslage ist nicht ein spezifisch irisches Problem, sondern es ist ein durchaus europäisches Problem. Es besteht Diskussionsbedarf über die Zukunft Europas und die Fragen, wozu wir dieses Europa brauchen und warum dieses Europa eine stärkere Rolle als bisher spielen muss. Die Debatte im Rahmen des Post-Nizza-Prozesses darüber, wie dieses Europa in Zukunft gestaltet werden soll, war in den letzten Wochen und Monaten sehr stark von institutionellen Fragen geprägt. Mitunter wurde gar eine Verengung der Debatte deutlich, die zu kurz greift. Wir müssen diese Debatte ausweiten, Europa als Gesellschaftsprojekt in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stellen und über politische Visionen nicht nur im Hinblick auf die institutionelle Gestaltung dieses Integrationsprozesses streiten, sondern deutlicher und kontrovers darüber diskutieren, wie wir uns diese Gesellschaft in Europa vorstellen und welche Rolle die Europäische Union in diesem Prozess der Gestaltung spielen soll. Wichtig ist also eine stärkere Konzentration auf das Warum und auf das Wozu und nicht alleine auf das Wie der politischen Prozesse. Gerade in den letzten Wochen sind von französischer Seite, insbesondere durch die Rede von Ministerpräsident Jospin, einige wichtige Steine in das Wasser geworfen worden, die Anhaltspunkte bieten, um diese Debatte vertieft weiterzuführen, auch wenn sich hier in der Bundesrepublik Deutschland die Debatte in den Medien leider Gottes auf die institutionellen Fragen und auf die Differenzen zwischen deutschen und französischen Sozialdemokraten konzentriert hat. Wir müssen dieser Entwicklung der Debatte entgegenwirken. In dieser Debatte haben nicht nur die Europapolitikerinnen und Europapolitiker, sondern wir alle eine Bringschuld. ({2}) Wir müssen uns in den nächsten Monaten und Jahren, die diese Zukunftsdebatte in der politischen Realität sicherlich prägen wird, an diesen Appellen messen lassen. Wir müssen sehen, inwieweit wir bereit und in der Lage sind, diese Bringschuld zu erfüllen, diese Debatte nicht nur demokratisch und unter größtmöglicher Beteiligung zu gestalten, sondern sie wirklich auf die ganze Breite der europäischen Fragen auszuweiten. Das sollte die Reaktion auf die Volksabstimmung in Irland sein. Insofern sollten wir diese Zukunftsdebatte wirklich als eine Chance begreifen können. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Lasst den Worten endlich Taten folgen“, schreibt Helmut Schmidt. In der Tat: Die Treffen von Berlin über Nizza bis Göteborg zeigen, dass die Bundesregierung die EU in eine tiefe Vertrauenskrise geführt hat. ({0}) Ich zitiere Helmut Schmidt: Nun haben Fischer, Chirac, Blair, Schröder und zuletzt Jospin ihre großen Konzepte und Reden vorgetragen. Aber ihre alltägliche Praxis ist kümmerlich. ({1}) Wo dieser Mann Recht hat, hat er Recht. Die Praxis von Schröder und Fischer ist kümmerlich. Man fragt sich doch: Warum konnte Bundeskanzler Schröder die Erfolgsspur von Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Theo Waigel in der Europapolitik nicht halten? Dafür gibt es Gründe. Erstens. Europa war nie das Thema dieses Kanzlers. Es gibt kein abgestimmtes Konzept zwischen dem Außenminister und dem Kanzler. ({2}) Zweitens. Vom ersten Tag der Regierung Schröder/ Fischer an - dies ist der zentrale Punkt - wurde das Vertrauen unserer Partner in Europa verspielt. Das, was Bundeskanzler Kohl, Theo Waigel und Hans-Dietrich Genscher aufgebaut haben, ging in kurzer Zeit in die Brüche. ({3}) Ich erinnere daran: Es begann mit den Fußtritten von Minister Trittin, die Nuklearentsorgungsverträge mit Frankreich müssten nicht beachtet werden. Es setzte sich fort, Herr Gloser, mit den heftigen Attacken von Außenminister Fischer gegen unsere französischen Freunde. ({4}) Im Jahr 2000 folgten die Strafaktionen gegen Österreich mit dem skandalösen Auftreten von Bundeskanzler Schröder vor wenigen Wochen in Wien. ({5}) Dann wurden das italienische Volk und die italienische Regierung brüskiert. ({6}) Aus der Sicht der deutschen Bundesregierung, Herr Schily, haben die Österreicher nicht richtig gewählt, haChristian Sterzing ben die Italiener nicht richtig gewählt, haben die Iren nicht richtig abgestimmt. Und dafür werden sie abgestraft. ({7}) Nun erwarten Sie, nachdem Sie zuerst die Freunde ins Gesicht geschlagen haben, dass sie Ihnen anschließend die Hand reichen für große europäische Konzepte. Das ist der Grund, warum diese Regierung nicht an die Erfolge der Regierung Kohl/Waigel/Genscher anknüpfen kann. Die Konsequenz ist: Die Erfolge bleiben aus. Bei der Agenda 2000 gibt es keine Lösung der finanz-, agrar- und strukturpolitischen Fragen. Nizza: keine ausreichende Reform der Institutionen. Göteborg: Verlassen des Kopenhagener Weges, Kriterien vor Zeitplan. Sie haben den Euro von Theo Waigel, meine sehr verehrten Damen und Herren, bei einem Außenwert von 1,18 US-Dollar im Jahr 1998 übernommen und sind jetzt bei 0,84 US-Dollar angekommen. Das ist ein vernichtendes Urteil der Finanzmärkte über diese Politik. Die Bürger bezahlen dafür die Zeche, und zwar nicht nur an der Tankstelle, sondern auch bei der Currywurst und in vielen anderen Bereichen. ({8}) Wir sagen Ja zur Osterweiterung, aber wir fordern eine Parlamentarisierung der Europapolitik. Wir brauchen mehr Differenzierung, mehr Föderalismus, wir brauchen mehr Subsidiarität und eine klare Kompetenzordnung. Ich komme zum Schluss. Wir brauchen und Europa braucht einen Bundeskanzler, der weniger ein Spaß- und Medienkanzler ist, der vielmehr mit mehr Konzentration auf die Sache, mit mehr Ernsthaftigkeit und mit mehr Achtung des Parlaments und unserer Freunde an die Dinge herangeht. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letzte Rednerin hat das Wort die Kollegin Gudrun Roos von der SPDFraktion.

Gudrun Roos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Ich beginne meine Rede mit einem mir bisher unbekannten Begriff. Dies tue ich deshalb, weil mit diesem merkwürdigen Begriff meine Bewertung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Göteborg vielleicht etwas anschaulicher dargestellt werden kann. Der Begriff heißt: Befischungsdruck bzw. globaler Befischungsdruck. ({0}) Dieser Begriff findet sich unter Punkt 31 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates. Der Kontext, in dem er auftaucht, lautet: „Verantwortungsvolleres Management der natürlichen Ressourcen“. Ich stelle fest: Kaum einer kennt das Wort bisher; ich bin nicht alleine so unwissend. Zum besseren Verständnis will ich daher den vollen Wortlaut, das heißt auch den Einführungssatz, zitieren. Unter Punkt 31 steht: Die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum, Verbrauch natürlicher Ressourcen und Abfallerzeugung muss sich ändern. Eine starke Wirtschaftsleistung muss mit einer nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen und vertretbarem Abfallaufkommen einhergehen, sodass die biologische Vielfalt erhalten bleibt, die Ökosysteme geschützt werden und die Wüstenbildung vermieden wird. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, stimmt der Europäische Rat darin überein, - den ersten Spiegelstrich lasse ich aus; der zweite Spiegelstrich lautet dass bei der Überprüfung der Gemeinsamen Fischereipolitik im Jahr 2002 auf der Grundlage einer breiten politischen Debatte dem globalen Befischungsdruck entgegengewirkt werden sollte, indem der Fischereiaufwand der EU unter Berücksichtigung der sozialen Auswirkungen und der Notwendigkeit, Überfischung zu vermeiden, an die Höhe der verfügbaren Bestände angepasst wird, ... Dies ist eine Art Politiksprache, die - wie wir nur allzu gut wissen - immer dann angewandt wird, wenn zwischen den Beteiligten ein nur sehr schwer formulierbarer Kompromiss zustande kam, ein Kompromiss, der oft einen Erfolg darstellt - trotz seines oder gerade wegen seines diplomatisch gedrechselten Satzgefüges. ({1}) Was ist der Hintergrund für diese Formulierung? Diese Formulierung ist das Ergebnis einer Intervention des Chefs der spanischen Regierung, José María Aznar. Es geht nicht um den Agrarbericht, sondern um Nachhaltigkeit. Ob dieses Teilergebnis der Verhandlungen dazu führt, dass die Nachhaltigkeit im Fischereibereich nachhaltig geschädigt wird und dass sich in ein paar Jahren Fisch nur noch auf dem Tisch derjenigen befindet, die sich ihn leisten können, bzw. dass viele Fischarten gar nicht mehr zu haben sein werden, befürchte ich zwar, auch wenn ich es derzeit nicht zuverlässig beurteilen kann. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie auch bei diesem EU-Gipfel Interventionen zugunsten vorgeblich nationaler Interessen eine wirksame gemeinsame europäische Strategie geschwächt haben. Wie verschachtelt auch immer diese Kompromisse formuliert sind, sie haben eines gemeinsam: Sie beziehen sich auf eine von allen Regierungen mitgetragene europäische „Strategie für Nachhaltige Entwicklung“. Dies ist, mit Verlaub, ein Erfolg dieses Gipfels, der bleibenden Wert hat und dessen Früchte sich zum Teil erst nach Jahren und Jahrzehnten werden ernten lassen. ({2}) Auch wenn die Nachhaltigkeitsstrategie bisher notgedrungen in großen Zügen und eher programmatisch formuliert ist, so ist sie doch eine Plattform, von der aus eine umfassende Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Gang gesetzt werden kann. Diese Nachhaltigkeitsstrategie bietet eine dringend erforderliche Richtungssicherheit und eine zentrale Perspektive im Hinblick auf die Reformen für den gesellschaftlichen Fortschritt im 21. Jahrhundert. Ich will hier nur auf ein paar Beispiele aus den Beschlüssen verweisen, die durchaus bemerkenswert sind. Ich erinnere an den Beschluss, die eigenen Verpflichtungen im Rahmen des Kioto-Protokolls einzuhalten. Ich zitiere: Die Vertragsstaatenkonferenz Mitte Juli in Bonn muss daher ein Erfolg werden. Ich verweise auf den Entschluss, bis zum Jahr 2010 ein Richtziel von 22 Prozent des Stromes aus erneuerbaren Energien zu erreichen, im Verkehrsbereich die Förderung der „vollständigen Internalisierung der sozialen und Umweltkosten“ voranzutreiben und die „integrierte Produktpolitik der EU“, also eine ressourcenschonende und effizienzsteigernde Produktpolitik zu betreiben. Wenn wir die Göteborger Schlussfolgerungen mit den Forderungen vergleichen, die der Bundestag am 17. Mai dieses Jahres beschlossen hat, so können wir zufrieden sein; denn viele unserer substanziellen Forderungen wurden übernommen. Wir können zufrieden sein, auch wenn vor allem die operative Umsetzung noch längst nicht ausgearbeitet ist. Zwar gibt es viele Vorgaben, zum Beispiel die, dass die neue Chemikalienpolitik bis 2004 in Kraft treten soll; jedoch ist die vom Bundestag geforderte „Entwicklung von Mindestanforderungen an die Strategien - wie Ziele, Zeitpläne und Leitindikatoren“ im Interesse einer engeren Zusammenführung der verschiedenen Sektorstrategien noch Zukunftsmusik. Aber dafür, dass die Göteborger Beschlüsse keine bloßen Deklarationen bleiben, hat sich der Rat neben dem von der Kommission jährlich vorzulegenden Synthesebericht auf der Grundlage von Leitindikatoren selbst in die Pflicht genommen. Er will nämlich die Fortschritte bei der Entwicklung und bei der Umsetzung der Strategie auf seinen jährlichen Frühjahrstagungen überprüfen. Lassen Sie mich resümieren: Der Europäische Rat - so steht es im Schlussbericht - „einigte sich auf eine Strategie für die nachhaltige Entwicklung und gab dem Prozess von Lissabon für Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialen Zusammenhalt eine Umweltdimension“. Es ist den Schweden gelungen, den Schwerpunkt ihrer Ratspräsidentschaft umzusetzen. Dass dies in der Berichterstattung der deutschen Presse weitgehend ignoriert wurde, ist auch angesichts der sensationsgeladenen Bilder von Gewalttätern in den Straßen von Göteborg nur schwer zu entschuldigen. ({3}) Die Medien haben, auch wenn sich Sensationen besser verkaufen, eine Informationspflicht. Wird diese nicht wahrgenommen, fördert die damit erzeugte Unwissenheit die Bereitschaft zu Ressentiment, Wut und Enttäuschung. Ich hätte mir gewünscht, dass die Medien ausführlich über die EU-Nachhaltigkeitsstrategie berichten. Ich hätte mir auch gewünscht, dass sie deren zukunftsträchtiges Potenzial ausführlich darstellen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., die EU-Erweiterung ist sicherlich - wir sind uns da alle einig - ein großes Ziel. Aber das ist, meine ich, kein Grund, in Ihrem heute vorliegenden Antrag zu den Ergebnissen von Göteborg bezüglich des Zukunftsprojektes „Nachhaltigkeit“ nicht ein einziges Wort zu sagen. ({5}) - Nein, ich glaube nicht. - Gestern hat ein Kollege aus Ihrer Fraktion gemeint, Nachhaltigkeit sei ein Modewort. Das ist es Gott sei Dank nicht. Vielmehr wird Nachhaltigkeit endlich Mode. Das ist ein riesengroßer Unterschied. ({6}) Nachhaltige Entwicklung erfordert globale Lösungen. Darüber sind nicht nur wir uns einig. Das hat auch der Europäische Rat in Göteborg erkannt. Die EU wird versuchen, auf dem Nachfolgegipfel in Rio im Jahr 2002 ein globales Übereinkommen über nachhaltige Entwicklung zu vereinbaren. Die in der Agenda 21 angestoßene Beteiligung von gesellschaftlichen Akteuren auf lokaler Ebene könnte dadurch neue Impulse erfahren. Dies wird jedoch nur mit einer stärkeren Einbeziehung der Öffentlichkeit ein Erfolg werden. Das wissen wir alle. Das ist der Grund, warum ich Sie eindringlich bitte: Helfen Sie alle mit, den Wert der Nachhaltigkeit auch und gerade im Sinne der Generationengerechtigkeit herauszustellen sowie uns und der Öffentlichkeit bewusst zu machen, wie wichtig Nachhaltigkeit für unsere Zukunft ist. Wir alle wissen doch - vielleicht müssen wir es den Medien noch öfter erklären -: Nachhaltige Entwicklung bedeutet die Erfüllung der Bedürfnisse der derzeitigen Generation, ohne dabei die Möglichkeit zukünftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, zu beeinträchtigen. ({7}) Für Ihre Hilfe beim Einsatz für Nachhaltigkeit bedanke ich mich schon jetzt. Ich bin sicher, wir alle werden nachhaltig daran arbeiten, auch diejenigen, die bisher meinten, Nachhaltigkeit sei nur ein Modewort. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P.? ({0}) Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag der F.D.P.-Fraktion mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der F.D.P.- Fraktion und Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion und der PDS-Fraktion abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag der PDS-Fraktion mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der PDS- Fraktion abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a bis 4 d sowie den Zusatzpunkt 1 auf: 4. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Agrarbericht 2001 Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung - Drucksache 14/5326 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus W. Lippold ({3}), Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz sein - Zukunftsfähige Landwirtschaft ermöglichen - Gegen BSE mit einem vernetzten Bekämpfungsplan vorgehen - zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff ({4}), Heino Wiese ({5}), Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller ({6}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Neuausrichtung der Agrarpolitik: Offensive für den Verbraucherschutz - Perspektiven für die Landwirtschaft - Drucksachen 14/5222, 14/5228, 14/5580 Berichterstattung: Abgeordnete Helmut Heiderich Waltraud Wolff ({7}) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({8}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Zucker KOM ({9}) 604 endg.; Ratsdok. 12087/00 - Drucksachen 14/4945 Nr. 2.49, 14/5908 - Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Heinrich Gustav Herzog Norbert Schindler d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({10}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Burchardt, Heidemarie Wright, Christel Deichmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Nachhaltige Entwicklung für ländliche Räume - zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU Ländlichen Raum gemeinsam mit der Landwirtschaft stärken - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung „Politik für ländliche Räume“ Ansätze für eine integrierte regional- und strukturpolitische Anpassungsstrategie - Drucksachen 14/4544, 14/5080, 14/4855, 14/5909 Berichterstattung: Abgeordneter Heino Wiese ({11}) ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeitraum 2001 bis 2004 - Drucksache 14/5900 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Zum Agrarbericht 2001 liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und zwei Entschließungsanträge der Fraktion der F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der CDU/CSU-Fraktion.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Monaten wurde uns eine Agrarwende angekündigt. Populistische Reden wurden teils ohne jeden realisierbaren Hintergrund gehalten. Vieles orientierte sich mehr am Politbarometer als an der Notwendigkeit, die europäische und die nationale Agrarpolitik weiterzuentwickeln. Inzwischen steht fest: Eine Agrarwende wird manchmal auch zur eigenen Karikatur. ({0}) Deutschland hat in der Europäischen Union einen Beschluss mitgetragen. Bei der Umsetzung dieses Beschlusses macht man aus einem ausgewachsenen französischen Bullen einen Ochsen, damit die Franzosen für Ochsen Prämien kassieren können, die man ihnen für die Bullen verwehrt hat. Obwohl dies lächerlich ist, muss man die Sache leider ernst nehmen. Ich sage das nur, damit die deutschen Bauern nicht wieder für diesen Quatsch in Anspruch genommen werden, ({1}) damit nicht später wieder gesagt wird, die deutschen Bauern seien dafür verantwortlich. Nein, verantwortlich dafür sind der Ministerrat und die deutsche Verbraucherschutzministerin. ({2}) Ich kann Ihnen nur sagen: Wer dauernd eine Wende ankündigt, ohne sie zu vollziehen, dreht sich irgendwann im Kreis. ({3}) Ich trete deswegen dafür ein, den Prozess des Dialoges mit den Bauern in der Bundesrepublik Deutschland wieder aufzunehmen, weil sich die Bauern manchmal als klüger erweisen. Ich halte das jedenfalls für richtig. In Bezug auf den Rindfleischmarkt ist eine Korrektur beschlossen und auf bestimmte Forderungen verzichtet worden. Die deutschen Bauern haben zu keiner Zeit mehr produziert, als ihnen jetzt durch Beschluss vorgegeben worden ist. Es hat sich erwiesen, dass sie schon immer so klug waren, wie es der Ministerrat auf europäischer Ebene jetzt erst geworden ist. Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen: Der EU-Verbraucherschutzkommissar Byrne und die deutsche Verbraucherschutzministerin, Frau Künast, haben beschlossen, die vier noch zugelassenen Antibiotika, die nach wie vor in den Futtertrog hineinwandern - zehn sind ja schon verboten worden -, bis zum Jahre 2005 zu verbieten. Die deutschen Bauern haben sich inzwischen als klüger erwiesen. Sie sind bereit, bereits jetzt Antibiotika aus dem Futter herauszulassen. Das, was von Frau Künast auf europäischer Ebene nicht erreicht werden konnte, wird jetzt von den deutschen Bauern selbst vollzogen. ({4}) Die Ministerin sagt, in der Agrarproduktion sei Klasse statt Masse notwendig. Das bedeutet nichts anderes, als dass man einen Teil der deutschen Agrarproduktion ins Ausland verlagert. Ich sage: Wir brauchen Masse und Klasse. Wir müssen in der Agrarproduktion Quantität mit Qualität zusammenbringen. ({5}) Das sind wir dem deutschen Verbraucher schuldig, darauf hat der deutsche Verbraucher einen Anspruch. Der deutsche Verbraucher will keine Verlagerung der Agrarproduktion ins Ausland. Eine solche Verlagerung wird aber das Ergebnis der Politik von Frau Künast sein. ({6}) Wir wollen und wir müssen möglichst viele der in Deutschland benötigten Nahrungsmittel im Lande erzeugen. Das gilt für den ökologischen Landbau genauso wie für die konventionelle deutsche landwirtschaftliche Produktion. Das ist auch eine der Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Räume. Die Landwirtschaft ist nach wie vor das Rückgrat für die ländlichen Räume. Sie sichert Wirtschaftsstandorte über die eigentliche Nahrungsmittelproduktion hinaus. Deshalb würde bei einer Abwanderung der Agrarproduktion ins Ausland die Wirtschaftskraft der ländlichen Räume in der Bundesrepublik Deutschland geschwächt. Die jetzige wirtschaftliche Situation vieler - ich sage nicht: aller - ländlicher Räume ist ohnehin schon schwierig genug. Wir treten - ich sage das ganz klar - gemeinsam dafür ein, dass die ländlichen Räume eine Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung haben. Welche Teilhabe sollen die ländlichen Räume aber noch haben, wenn es in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt keine wirtschaftliche Entwicklung mehr gibt? ({7}) Die ländlichen Räume werden zum Leidtragenden einer verfehlten Wirtschaftspolitik gemacht. ({8}) Wir müssen auch über die Agrarpolitik die Wirtschaftskraft der ländlichen Räume stärken. Deshalb hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion immer wieder eine Steuerpolitik eingefordert, die die flächengebundene bäuerliche Landwirtschaft genauso entlastet, wie es Rot-Grün bei der flächenarmen agrargewerblichen Produktion umgesetzt hat. Ich finde es nicht gut, wenn man die bäuerliVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms che Produktion steuerlich belastet, nachdem man die agrargewerbliche Produktion entlastet hat. ({9}) Das zeigt im Grunde genommen, welche Perspektiven Rot-Grün in der Agrarpolitik in den Vordergrund gestellt hat. Ich möchte nach wie vor - einiges haben wir schon auf den Weg gebracht -, dass wir die Agrarsozialpolitik aktiv mitgestalten. Es kann dann aber nicht angehen, dass man aus der Alterskasse 400 Millionen DM nimmt und in die Knappschaft steckt. Ich habe nichts dagegen, dass die Knappschaft mehr Geld bekommt. Aber dieses Geld darf man nicht der Landwirtschaft nehmen. ({10}) Wir wollen durch diese Politik die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft für eine qualitätsorientierte Produktion steigern. 1998 ist ein ganz wichtiger Beschluss auf der europäischen Ebene gefallen. Der Tierschutz ist in die Aufgabenstellung der Europäischen Union einbezogen worden. Es besteht jetzt die Möglichkeit der Weiterentwicklung des Tierschutzes auf europäischer Ebene. Daher kann es nicht angehen, so wie Rot-Grün zu handeln: Erst hat man auf europäischer Ebene einer Änderung der Vorschrift bezüglich der Hennenhaltung zugestimmt. Dafür hat man sich im Deutschen Bundestag selbst gefeiert. Jetzt aber verhindert Frau Künast, dass der eigene Beschluss von Rot-Grün umgesetzt wird. Auf was sollen sich denn die Landwirte in unserem Land noch verlassen können? Wenn sie sich auf Frau Künast und auf Rot-Grün verlassen, dann sind sie verlassen. ({11}) - Das ist richtig. Auf der anderen Seite - da besteht wahrscheinlich ein Stück Einigkeit - müssen wir auch bei der Seuchenbekämpfung ein Mehr an Tierschutz durchsetzen. Wir dürfen die Seuchenbekämpfung nicht aus dem veterinärmedizinischen Fortschritt entlassen und dürfen es nicht zulassen, dass das Keulen und Verbrennen zur letzten Antwort der Seuchenbekämpfung wird. Es wird viel über Modulation gesprochen. Ich finde es gut, dass Frau Künast Prinz Charles mag. Wenn sie aber die deutschen Bauern anders behandelt, als die britische Regierung Prinz Charles behandelt, dann muss man darüber natürlich diskutieren. In mehreren Gesprächen mit den Ländern ist angeklungen, dass im Rahmen der Modulation in Deutschland einem Betrieb mit einer Größe von 50 Hektar möglicherweise die Prämien um 20 Prozent gekürzt werden. ({12}) Vielleicht kann der bayerische Staatsminister Miller das bestätigen. Staatssekretär Wille, der anwesend ist, hat ständig davon gesprochen, dass das eine politische Zielvorgabe der Ministerin ist. ({13}) Wenn diese Zielvorgabe umgesetzt wird, dann würde das bedeuten, dass Prinz Charles zwar 4,5 Prozent weniger Prämien bekommt. Aber ein deutscher Bauer, der 50 Hektar bewirtschaftet, würde 20 Prozent weniger Prämien bekommen. Das halte ich für unerträglich. ({14}) Es ist jede Woche angekündigt worden, die Tiermehle, die noch in Deutschland herumliegen, endlich zu beseitigen. Jede Woche gibt es eine Ankündigung, dass das nächste Woche passiert. Bisher ist aber nichts passiert. ({15}) Wenn man hinsichtlich des Verbots der Tiermehlfütterung so gehandelt hätte, dann wäre dieses Verbot in der Bundesrepublik Deutschland auf keinen Fall durchgesetzt worden. ({16}) Verbraucherschutz beinhaltet immer etwas Konkretes. Deshalb werden wir Frau Künast nicht an den Seifenblasen messen, die sie ständig von sich gibt, sondern daran, welche Politik Frau Künast im Einzelnen realisiert. Da ist bisher nur sehr wenig passiert. Was passiert ist, ging in die falsche Richtung. Vielen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Ronsöhr, es gab noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Aber Sie wollten sie anscheinend nicht beantworten. ({0}) - Nein, Herr Kollege Ronsöhr, jetzt ist es zu spät. ({1}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Beitrag der Opposition zeigt, ({0}) dass es der CDU/CSU-Fraktion um Populismus pur geht. ({1}) Es ist hier gesagt worden, die Agrarwende sei eine Karikatur. Hören Sie bitte gut zu. Sie werden anhand meines Beitrags erkennen, dass das keine Karikatur, sondern zukunftsweisend ist. Im Übrigen: Wenn deutsche Bauern von sich aus Antibiotika bei der Fütterung herauslassen, dann zeigt das, dass sie unternehmerischen Geist haben. So muss es ja wohl sein. Anders können Unternehmer nicht handeln. ({2}) Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit, gläserne Produktion, artgerechte Tierhaltung - diese und andere Begriffe sind heute zum alltäglichen Wortschatz geworden und drücken mehr als deutlich den Wunsch der Bevölkerung nach sicherer, gesunder Nahrung und Lebensweise aus. Dies sind neben der Agrarsozialpolitik die wichtigsten Themen, die wir im Jahre 2001 zu bearbeiten haben. Deshalb schlagen sie sich im diesjährigen Agrarbericht auch nieder. Was in anderen Wirtschaftsbereichen schon lange Normalität ist, nämlich nachgewiesene Qualitätsstandards, wird es zukünftig auch im Ernährungsbereich in breitem Maße geben müssen. ({3}) Bei den Debatten über neue Agrarpolitik gefällt mir nach wie vor das Wort Wende nicht sonderlich gut; denn wir erfinden das Rad doch eigentlich nicht neu. ({4}) In der Landwirtschaft werden zwar neue Prioritäten gesetzt. Aber im Grunde genommen gibt es keine andere landwirtschaftliche Produktion und der Berufsstand arbeitet weiterhin bestmöglich. Aus diesem Grund ist mit Neuausrichtung Sicherheit für die Bauern gemeint; denn sie gehören nicht an den Pranger, sondern sie sollten - genauso wie die Verbraucherinnen und Verbraucher - unterstützt werden. ({5}) BSE und die damit verbundene Unsicherheit waren letztendlich der Auslöser für die intensive Diskussion in allen Bereichen. Mit dem Verbot der Verfütterung von Tiermehl hat die Bundesregierung äußerst schnell gehandelt. Wir sind fest entschlossen, die Transparenz im Lebensmittel- und Futtermittelbereich durch verbraucherfreundliche Etikettierung und offene Deklaration aller Inhaltsstoffe zu verbessern. Damit geben wir den Menschen die Möglichkeit, ihre Konsumentscheidungen ganz bewusst zu treffen. Eine durchgängig nachvollziehbare Produktion kann meiner Überzeugung nach auch durch ein gutes regionales Marketing unterstützt werden. Ich weiß, Regionalvermarktung ist nicht die Lösung. Aber sie ist wenigstens ein kleiner Stein in dem gesamten Mosaik. ({6}) - Richtig, auch ein wichtiger. Mit der Einführung eines Qualitätssiegels für ökologische Produkte sind wir auf dem richtigen Weg; denn größere Vereinheitlichung und mehr Markttransparenz schaffen hier Sicherheit. Mit ins Boot muss neben den Produzenten und dem Verarbeitungsbereich natürlich auch der Einzelhandel. Einige positive Erfolge sind ja schon zu verzeichnen. Die kleinen Ökonischen in den Lebensmittelketten verschwinden zum Teil. Uns Verbrauchern steht ein wesentlich breiteres Sortiment zur Verfügung. Jedenfalls erlebe ich es so, wenn ich einkaufen gehe. ({7}) Aber - auch das muss man sagen - Qualitätssiegel sind nicht alles. Es bleibt die Frage: Sind bewusste Konsumentscheidungen eine Modeerscheinung oder zeigt sich jetzt wirklich eine anhaltende Entwicklung in diesem Bereich? Hier ist die Politik gefragt. Um das langfristige Ziel eines auf die Gesundheit bedachten Verbraucherverhaltens zu entwickeln, bedarf es nicht nur der Aufklärung, sondern auch einer intensiven Schulung von Kindheit an. Deshalb fordern wir eindringlich, dass Inhalte zur Verbraucheraufklärung in die Lehrpläne der Schulen und in Ausbildungsprogramme aufgenommen werden. ({8}) Es wird, wie ich denke, deutlich, dass die künftige Qualität der Nahrungsmittel und die weitere Entwicklung ihrer Produktion von dem Zusammenspiel vieler verschiedener Akteure abhängen. Meine Damen und Herren, ein wichtiger Aspekt unserer Politik ist die Vernetzung der Bereiche Gesundheit, Bildung und Forschung mit Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Nur auf diese Weise wird effizient Wissen gebündelt und Forschung zielgerichtet betrieben. Das im Agrarbericht genannte Institut für Tierschutzforschung in Celle steht kurz vor seiner Gründung. Hier werden schwerpunktmäßig Fragen der artgerechten Tierhaltung und des den Tieren angemessenen Transports bearbeitet werden. Allerdings können wir diese Frage nicht nur national betrachten - vorhin ist von der Opposition dazu bereits etwas gesagt worden -, sondern wir brauchen auch grenzübergreifende Regelungen. Generelle Transportzeiten sind ebenso von Bedeutung wie strenge Anforderungen an die Bedingungen während des Transportes. Dazu brauchen wir fundierte Forschungsergebnisse, die sich europaweit in neue Regelungen umsetzen lassen. Zum Stichwort Tierhaltung gehe ich auf die Kollegen und Kolleginnen aus der CDU/CSU-Fraktion ein: Sie haben vorhin von Populismus gesprochen und werfen in Waltraud Wolff ({9}) Ihrem Entschließungsantrag der Bundesregierung vor, den Agrarbericht für Polemik gegen die Landwirtschaft zu missbrauchen. Ich halte Ihren Einwand an dieser Stelle für mehr als polemisch, denn Sie verwenden in Ihrem Antrag doch nur Halbsätze. ({10}) Sie schreiben: Die landwirtschaftliche Praxis wird mit den Begriffen „Tierquälerei“ und „Raubbau“ gezielt falsch dargestellt. Werfen Sie sich vielleicht Fehler und Versäumnisse aus Ihrer eigenen Regierungszeit vor? Demgegenüber zitiere ich, was tatsächlich im Agrarbericht steht: Der Erfolg der Agrarwende muss durch ein Bündel agrarpolitischer Maßnahmen abgesichert werden. Das sind unter anderem: - keine Finanzierung von Überschüssen, sondern von Qualität, - keine Tierquälerei, sondern artgerechte Tierhaltung, - kein Raubbau, sondern Schutz von Umwelt und Natur, insbesondere von Boden und Wasser! Meine Damen und Herren, dies ist das Bild einer selbstbewussten und nachhaltigen Landwirtschaft. Wir werden sie weiter stützen; schwarze Schafe sollen es in Zukunft noch schwerer haben. Im Übrigen halte ich es für müßig, dass die CDU/CSUFraktion immer wieder utopische Forderungen nach Ausgleichszahlungen für die Landwirtschaft stellt. Sie sollten doch mittlerweile begriffen haben, dass der Konsolidierungskurs fortgesetzt wird, mit dem wir bisher sehr gut gefahren sind. Ich habe auch keine Lust mehr, Sie darauf hinzuweisen, dass es letztendlich Ihrer Politik zu verdanken ist, dass wir den Gürtel noch immer nicht lockern können. Trotzdem wird der Agraretat im Jahr 2002 um 150 Millionen DM und im Jahr 2003 um 180 Millionen DM aufgestockt werden. ({11}) Außerdem werden wir die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe von 1,7 Milliarden DM auf rund 1,85 Milliarden DM anheben. Ihr ewiger Einwurf, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, die Ökosteuer solle zurückgezogen werden, wird langsam langweilig. ({12}) Sie wissen sehr wohl, dass die Landwirtschaft von der zweiten und der dritten Stufe der Ökosteuer ausgenommen ist. Den nachgeordneten Zweigen, die nicht von der Ökosteuer befreit sind, kommt der volle Nutzen durch die Senkung der Lohnnebenkosten zugute. ({13}) Wir wollen diese positiven Effekte in Zukunft nicht missen. Dazu möchte ich Ihnen ein Zitat des früheren Umweltministers Klaus Töpfer, CDU, nicht vorenthalten, der in einem „Spiegel“-Interview vom 13. November 2000 - man höre und staune - erklärte: Wir können es uns nicht leisten, ein sinnvolles Instrument wie die Ökosteuer einfach wegzuwerfen. Wir brauchen auch in Zukunft ökologische Steuerkomponenten über die marktwirtschaftliche Preisgestaltung hinaus - nicht nur in Deutschland, sondern europa- und weltweit.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. Ich empfinde es als äußerst bedauerlich, dass Sie hier Meinungsmache gegen ein nachweislich positives Regularium der rot-grünen Steuerpolitik betreiben. ({0}) Meine Damen und Herren, zur Gewinnentwicklung im landwirtschaftlichen Bereich sage ich Folgendes: Natürlich gibt es nicht d e n landwirtschaftlichen Betrieb, und niemand stellt in Abrede, dass auch im letzten Wirtschaftsjahr eine gewisse Zahl von Betrieben wirtschaftliche Schwierigkeiten hatte. Der Vergleich zwischen der Landwirtschaft und anderen Wirtschaftsbereichen zeigt aber auch, dass die alte Subventionspolitik nicht von heute auf morgen geändert werden kann. Wir sind auch weiterhin bestrebt, die Landwirtschaft zu unterstützen, denn nur durch starke Wirtschaftsstrukturen ist ihr Überleben gesichert. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass auf die veränderten Produktionsbedingungen mit unternehmerischer Initiative reagiert werden muss. Wenn ich etwas verdienen will, muss ich auch bereit sein, Einsatz zu leisten. ({1}) Meine Damen und Herren, der Agrarbericht zeigt sehr genau die Situation der Betriebe ({2}) und auch die der davon abhängigen Familien auf. Aus diesem Grund will ich noch einmal kurz auf den Agrarbericht 2000 und unseren damaligen Antrag zurückkommen. Im Bereich der Agrarsozialpolitik ist die Situation der im ländlichen Raum lebenden Frauen und jungen Menschen ein genauso wichtiger Aspekt wie in anderen Zweigen. Deshalb erschien uns damals eine Beschreibung der Waltraud Wolff ({3}) Lebens- und Erwerbssituation von Frauen im ländlichen Raum ebenso notwendig wie die Darstellung der weiteren Perspektiven für die Jugend. ({4}) Beides forderten wir in einem Entschließungsantrag am 17. Mai letzten Jahres. Heute stelle ich fest, dass diese Dokumentation leider nicht klar herausgestellt ist. Ich bitte von dieser Stelle aus, dies im nächsten Bericht explizit auszuweisen. Meine Damen und Herren, es gäbe noch viele Stichpunkte, zu denen ich mich äußern könnte. Als Beispiele nenne ich nur Forst- und Fischereipolitik, nachwachsende Rohstoffe oder mein Lieblingsthema landwirtschaftliches Sozialversicherungssystem. Leider habe ich nicht die gesamte Redezeit der SPD-Fraktion bekommen und kann deshalb keine weiteren Ausführungen machen. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Ulrich Heinrich von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerin Künast, Sie sind jetzt ein halbes Jahr im Amt und haben die Politik, die Sie machen wollen, in einer für die Öffentlichkeit sehr verständlichen Sprache dargestellt. Sie haben sich sozusagen der sonst üblichen Sprache der Agrarpolitik entzogen und wurden verstanden: ({0}) Klasse statt Masse, Reinheitsgebot beim Rindfleisch. In der Zwischenzeit, Frau Ministerin, haben Sie sich eingearbeitet. Dabei haben Sie lernen müssen, dass das alles nicht so einfach ist. ({1}) Sie mussten zum Beispiel lernen, wie sich die Verhältnisse in Brüssel darstellen. Erst vorgestern haben Sie erneut drei bittere Niederlagen hinnehmen müssen. Die vorhergehenden Niederlagen möchte ich jetzt gar nicht erwähnen. ({2}) Sie haben lernen müssen, was es heißt, im eigenen Land mit einem Finanzminister Eichel zurechtzukommen. Sie haben vor allen Dingen in Verhandlungen mit den Bundesländern - zum Beispiel über die Durchsetzung der Gemeinschaftsaufgabe und all die Dinge, die damit zusammenhängen - auch lernen müssen, dass von sehr selbstbewussten Partnern komplizierte und verflochtene Sachverhalte vertreten werden. Im Laufe der kurzen Zeit hat sich auch Ihre Sprache verändert. Sie sind sozusagen in die „Niederungen“ der Agrarpolitik eingestiegen ({3}) und das Interesse der Öffentlichkeit an Ihrer Politik hat wesentlich nachgelassen. Das wiederum könnte man ja noch verschmerzen, wir als F.D.P. jedenfalls. Was aber viel weittragender ist: Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. ({4}) Die Krise, die Sie in das Amt gebracht hat, haben Sie bisher nicht bewältigt. ({5}) Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Nach wie vor lagern Restbestände von Tiermehl und Futterbestandteilen, die möglicherweise kontaminiert sind, in den Ländern und warten jetzt - ein halbes Jahr nach In-Kraft-Treten des Verfütterungsverbots - auf eine entsprechende Entsorgung. ({6}) Ebenso wenig ist - ein halbes Jahr danach - die Finanzierung dessen gesichert und klargelegt. ({7}) Ein weiteres Beispiel: Sie führen immer wieder den Tierschutz im Munde, haben es aber nicht geschafft, dass die Tiere, die zur Marktentlastung herausgekauft worden sind, auch verwertet werden. ({8}) Sie wurden schlichtweg zu Tiermehl verarbeitet und dann verbrannt. Ethik und Tierschutz sind hier wirklich nicht zu erkennen. Das ist ein Skandal! ({9}) Bis vor kurzem waren Sie nicht bereit, für die von BSE betroffenen Rinderherden das so genannte Schweizer Modell mit der Kohortentötung zu übernehmen. Sie waren nicht bereit, von den Schweizern zu lernen. Die Schweizer haben mit diesem Modell eine jahrelange Erfahrung. Sie haben es ignoriert. ({10}) Wir haben Ihnen von Anfang an dieses Schweizer Modell anempfohlen. Erst jetzt dämmert es bei Ihnen langsam, aber sicher, dass Sie in diesem Punkt eine andere Regelung anstreben sollten. ({11}) Waltraud Wolff ({12}) - Ich glaube, keiner der Zwischenrufer weiß, wie viele Tiere im Rahmen dieser Gesamtherdentötung beseitigt worden sind, ({13}) Es waren über 10 000. Es geht hier also um keine geringe Menge. Dies hat gravierende Auswirkungen. ({14}) Frau Ministerin Künast, Sie vernachlässigen den berechtigten Verbraucherschutz, indem Sie - ({15}) - Können wir uns bitte darauf einigen, dass ich jetzt rede? Nachher kommen Sie dran. Sie vernachlässigen den berechtigten Verbraucherschutz, indem Sie nach wie vor Rindfleischimporte von nicht getesteten Rindern zulassen. Das Gleiche gilt für Kälber, die außerhalb von Deutschland gemästet und mit Tierfetten gefüttert wurden und die ein sehr hohes Risiko aufweisen, BSE-infiziert zu sein. Mit einem Wort: Sie haben viel angekündigt und recht wenig recht bescheiden umgesetzt. Lassen Sie mich etwas zur Maul- und Klauenseuche sagen: Nach wie vor gibt es eine unkoordinierte Aussage zur zukünftigen Impfpolitik. Ich fordere Sie deshalb auf, alles daran zu setzen, Markerimpfstoffe gegen die Maulund Klauenseuche sowie die Schweinepest zu entwickeln und die notwendigen Genehmigungen zum Einsatz bei der akuten Seuchenbekämpfung zu erteilen. ({16}) Es ist allerhöchste Zeit, diese Maßnahmen jetzt zu ergreifen! Wir dürfen nicht warten, bis die nächste Seuche ausgebrochen ist. Die unsinnige Vernichtung, die es derzeit noch bei der Seuchenbekämpfung gibt, also das Vernichten eines riesigen Volksvermögens durch die radikale Keulung der Bestände, muss endlich aufhören. Das einzig klare Ergebnis, das Sie bisher vorzuweisen haben, ist das Ökosiegel. ({17}) Dies ist aber nicht neu und auch nicht auf Ihrem eigenen Mist gewachsen. Sie haben sich nur bereit erklärt, das, was auf europäischer Ebene bereits verabschiedet worden ist, anzuerkennen und zu übernehmen. ({18}) Man reibt sich erstaunt die Augen und stellt fest: Masse statt Klasse! ({19}) Frau Ministerin, Sie hatten uns etwas anderes versprochen. ({20}) Ich warne Sie eindringlich vor einem zweiten Prüfsiegel für konventionelle Produkte. ({21}) Das wäre kontraproduktiv und würde die Verbraucherinnen und Verbraucher verwirren. Damit würden Sie nichts bewegen, sondern nur Unruhe stiften. ({22}) In diesem Zusammenhang möchte ich genauso eindringlich von einer regionalen Kennzeichnung sprechen, die ich für dringend notwendig halte. Diese schafft in ganz besonderer Weise ein enges Verhältnis zwischen der Landwirtschaft und den Verbrauchern. Das ist besonders nötig, denn wir stellen fest, dass die Kenntnis über die Landwirtschaft bei der allgemeinen Verbraucherschaft gegen Null tendiert. Hier sind in der Tat mehr Kenntnisse und ein engeres Verhältnis notwendig. ({23}) Ein weiterer Kritikpunkt, den ich hier anzuführen habe, betrifft die katastrophale und verheerende Naturschutzpolitik dieser Bundesregierung, ({24}) die das Eigentum missachtet, den gut funktionierenden Vertragsnaturschutz vernachlässigt, zurückdrängt und allem ein Ordnungsrecht überstülpt. Dies hat natürlich nicht mehr die Bereitwilligkeit der Landwirte zur Folge, wie das beim freiwilligen Naturschutz der Fall ist. ({25}) Ebenso ist für uns Liberale das Verschenken von Land bzw. Forstflächen an Greenpeace absolut unakzeptabel. ({26}) Diese Flächen gehören privatisiert. Nur dann werden sie auch entsprechend bewirtschaftet werden. Die Liste der Kritik an der Bundesregierung ist fast endlos: Ich nenne als weiteres Beispiel das Stop-and-go bei der grünen Gentechnik. Weiß eigentlich der Herr Bundeskanzler, dass die Wirtschaft verlässliche Rahmenbedingungen braucht und mit einer auf Stimmung angelegten Politik nichts anfangen kann? Bei den Pflanzenzüchtern haben wir gestern Abend gehört, dass die Wirtschaft daraus bereits ihre Konsequenzen zieht und mit ihren Forschungsabteilungen auswandert. Die sind bereits über den großen Teich! Die F.D.P. hat klare Vorstellungen zur grünen Gentechnik sowie zum Verhältnis von Eigentum und Naturschutz. Wir bringen noch vor der Sommerpause erneut den Antrag ein, den Tierschutz in das Grundgesetz aufzunehmen. Wir wollen erneut diesen Anlauf unternehmen; ich will, dass dieses Haus da wirklich Farbe bekennt. ({27}) - Ich bedanke mich für den Beifall. Wir wissen, dass wir hier schon seit längerer Zeit auf der gleichen Linie liegen. ({28}) Wir vermissen bei der Bundesregierung aber eine klare Aussage, wie sie die Agrarpolitik in der Zukunft gestalten will. Nur ein bisschen mehr Öko reicht nicht aus. Ein Ansatz von 130 Millionen DM, um eine Agrarwende herbeizuführen, die ihren Namen auch verdient, ist mehr als bescheiden. Ich wiederhole mich: Das wird nur ein bisschen mehr Öko und sonst nichts erreichen. Die Voraussetzungen für die Einführung der Modulation fehlen, weil sich bis auf eine Ausnahme alle Bundesländer dagegen ausgesprochen haben. In der Agrarministerrunde der Länder hat man sich nur auf Selbstverständlichkeiten geeinigt. Da können wir alle mitziehen. Diese Eckpunkte, die großartig herausgestellt wurden, nämlich Verbraucherschutz, Tierschutz und Umweltschutz, können wir alle so lange mittragen, wie sie allgemein und unverbindlich formuliert werden. Im Detail ist überhaupt nichts geregelt. Das ist auch kein Wunder; denn eine so weit reichende Regelung, die in die Einkommen der Landwirte und in die Strukturen eingreift, darf nicht übers Knie gebrochen werden. Hier muss sehr sorgfältig recherchiert und müssen auch wissenschaftliche Erkenntnisse mit eingebaut werden. Es darf nicht sein, dass dies schon zum 1. Januar 2002 zur Anwendung kommen soll. Ich bin absolut dagegen. Das ist verfrüht. Lassen Sie mich nun noch einige Ausführungen zu unserem eigenen Entschließungsantrag, der heute an den Ausschuss überwiesen werden soll, machen. Er beinhaltet klare Aussagen zur zukünftigen Agrarpolitik. Im Mittelpunkt steht für uns der unternehmerisch handelnde Landwirt. Dazu gehört, dass man ihm den nötigen Freiraum wieder zurückgibt, den Wettbewerb stärkt, ihn von überflüssigen Kosten und von überbordender Bürokratie entlastet, Verbrauchersicherheit durch verbesserte Produkthaftung herstellt und Zertifizierungssysteme einführt, um die Lebensmittelherstellung zu verbessern,

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- und die Europäische Union - das ist der letzte Punkt - vor dem Hintergrund ihrer Osterweiterung und der anstehenden WTO-Runde handlungsfähig macht. Diese Voraussetzungen brauchen wir. Ich empfehle, weil meine Redezeit abgelaufen ist, dazu die detaillierten Vorschläge der F.D.P.-Fraktion im Entschließungsantrag zu lesen, gemäß denen produktbezogene Förderungen abgebaut bzw. abgeschafft werden sollen und stattdessen eine Kulturlandschaftsprämie eingeführt werden soll. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Renate Künast.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Herr Präsident! Meine Damen und Herren, insbesondere Herr Heinrich! Ich habe zu keinem Zeitpunkt - auch nicht in der Regierungserklärung - behauptet, dass es eine Agrarwendeparty gibt und dass wir sozusagen nach Jahrzehnten verkrusteter Politik nach drei oder vier Monaten sagen könnten: Ab heute ist alles anders. ({0}) Diese Agrarwendeparty wegen des einen Ereignisses wird es nicht geben. ({1}) - Was ist denn eigentlich los, meine Herren? Nervös, oder was? - Ich habe schon in der Regierungserklärung gesagt, dass wir bei dem Agrarwendeprozess durch ein langes Tal gehen werden. Zu Ihrer Verwunderung, Herr Heinrich, werde ich mich jetzt ausdrücklich bei Ihnen bedanken, und zwar nicht für Ihre Rede, sondern für Ihren Antrag. ({2}) Ich meine, Sie unterstützen mit Ihrem Antrag meine und unsere Politik. Erstens. Sie fordern uns auf, ein schlüssiges Konzept vorzulegen, um die bisherige produktbezogene Förderung durch eine flächenbezogene Bewirtschaftungsprämie zu ersetzen. - Daran arbeiten wir. Guten Morgen, danke für die Unterstützung! ({3}) Zweitens. Sie fordern uns auf, Qualitätsmanagement, Ökoaudit, Zertifizierung und eine konsequente Produkthaftung stärker zu verankern. - Danke für die Unterstützung. Daran arbeiten wir. ({4}) Drittens. Sie fordern uns auf, durch regionale Herkunftszeichen für Agrarprodukte neue Vermarktungschancen zu nutzen und auszubauen. - Auch daran arbeiten wir. Eine Aufgabe der CMA wird die regionale Vermarktung sein, weil sie nicht deutsche Produkte vermarkten darf. Für Vermarktungschancen und Ähnliches geben wir Geld aus. Danke für die Unterstützung. Viertens. Wir sollen die Vorschläge zur so genannten Modulation, die zu Prämienkürzungen von bis zu 20 Prozent führen würden, zurückziehen und überarbeiten. Ich schlage vor: Ziehen Sie diese Forderung zurück. Ich habe nie gesagt, dass ich 20 Prozent will. ({5}) - Ich arbeite an einer realistischen Summe. Damit werden wir Erfolg haben. Fünftens. Einen freiwilligen Vertragsnaturschutz können wir gerne einführen. Sechstens. Sie fordern die Einführung eines ÖkoPrüfzeichens nach den Richtlinien der EU in Deutschland und die Verschärfung der Richtlinien. - Danke für die Unterstützung. Wenn ich diese Forderung aufnehmen würde, müsste ich allerdings wochenlang rückwärts laufen. Das habe ich nicht vor. ({6}) Die Entscheidung ist gefallen. Sie stand in den Zeitungen. Sie werden kaum glauben: Der Agrarrat hat in Luxemburg die Kommission aufgefordert, ein Aktionsplan „Ökologischer Landbau für Europa“ vorzulegen. Ich habe vor einigen Wochen mit Herrn Fischler darüber gesprochen - das ist auch vor zwei Tagen diskutiert worden -, dass die EUÖko-Verordnung überarbeitet und verschärft werden soll. An diesem Punkt ist also Ihr Papier vom 20. Juni überholt. Nur in einem waren Sie konsequent, nämlich darin, dass der Antrag der F.D.P. auf grünem Papier verteilt wurde. Dafür danke ich Ihnen. ({7}) - Ich bin ja schon weiter als dieses Papier. Nun zu den Fakten, meine Damen und Herren: Die finanzielle Situation der deutschen Landwirtschaft ist gut. ({8}) - Ja. Sogar der Rindfleischmarkt kommt wieder auf die Beine. Schlachtkälber kosteten im Mai mehr als vor einem Jahr, also vor der BSE-Krise. Die Schweine- und Geflügelhalter haben in den vergangenen Monaten wirklich sehr gut verdient. Die Erzeugerpreise bei Schlachtschweinen lagen im Durchschnitt der ersten vier Monate dieses Jahres um 50 Prozent über den Preisen des Vorjahres, bei Schlachtgeflügel lagen sie um 15 Prozent über den Preisen des Vorjahres. Die Milcherzeuger - das macht 40 Prozent unserer Agrarbetriebe aus - haben von den höchsten Auszahlungspreisen seit 1992 profitiert. Da packt Sie der Neid, nicht wahr? Die Auszahlungspreise für die Erzeuger lagen rund 8 Prozent über den Vorjahreswerten. Also lassen Sie doch bitte die Kirche im Dorf.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu. Ich habe zu wenig Zeit. Knapp 50 Prozent der 82 BSE-Fälle sind in Bayern aufgetreten. Ich möchte an dieser Stelle Bayern nicht kritisieren, sondern Sie, Herr Miller, ausdrücklich loben, weil Bayern erkannt hat, dass es bei den Tiermehlkontrollen Defizite hatte. ({0}) In Bayern sind knapp 50 Prozent der BSE-Fälle aufgetreten, es findet dort aber nur 35 Prozent der Rindfleischproduktion statt. Bayern ist also an der BSE-Krise überproportional beteiligt. Ich möchte das Bundesland Bayern ausdrücklich für das Programm, das Sie auflegen, loben, denn damit werden Sie dem Defizit entgegenwirken und dafür sorgen, dass es in Zukunft Lebensmittel- und Futtermittelkontrolleure auch in Bayern gibt. ({1}) Darüber hinaus hat Bayern noch weitere Vorhaben auf den Weg gebracht, die man nur loben kann. Wir haben in letzter Zeit wirklich konsequent und flächendeckend ({2}) Verbraucherschutz betrieben. - Wenn die Bauern solch ein Problem hätten, gäbe es doch eine Demonstration. Gucken Sie einmal hinaus: Dort sind Leute, die die Agrardebatte hören wollen und nicht etwa demonstrieren. ({3}) - Das ist nun wirklich Quatsch. Dann hätte Herr Sonnleitner doch Trauer, wenn es keine mehr gäbe. Er vertritt ja einen großen Verband. ({4}) - Passen Sie einmal mit Ihren Zwischenrufen „Kleine“ auf. Können Sie mir sagen, woran denn die kleinen Höfe kaputtgehen? Doch nicht an einer neuen Agrarpolitik! ({5}) Die sterben seit Jahren, weil Sie ihnen keine Perspektive gegeben haben. ({6}) Wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen: das BSE-Maßnahmengesetz, Vorsorgeverordnung, Tests, die Ausweitung der Liste der Risikomaterialien, verschärfte Kontrollen und Sanktionen. Ich will mit ein paar Worten auf die letzte Agrarratssitzung eingehen. Wir haben uns mehr vorgestellt, und trotzdem ist dieser Agrarrat ein guter Rat gewesen. Statt dass das Verfütterungsverbot am 30. Juni, also in wenigen Tagen, Ende nächster Woche, geendet hätte, gibt es ein umfassendes Verfütterungsverbot für Tiermehl, das noch eine ganze Zeit lang halten wird, und zwar gegen den Widerstand einer Reihe von Mitgliedstaaten, die gern gutes Geld mit dem Tiermehlverkauf verdienen würden. Wir sind bei der Verordnung über tierische Nebenprodukte weitergekommen. Es gibt umfassende Neuregelungen. Wir werden gemeinsam mit den Ländern - und dabei bitte ich Sie um Unterstützung - eine Menge zu tun haben, damit diese auch in der Praxis umgesetzt werden und wir nicht wieder aus England Hinweise bekommen, dass wir demnächst einen Exportstopp, eine Sperre haben, weil Risikomaterialien angehaftet sind. Wir sind gemeinsam mit den anderen Agrarministern und der Kommission an dem Punkt angelangt, dass wir sagen können: Wir gehen von der Bestands- zur Kohortentötung. Ich halte das für einen Erfolg. Herr Heinrich, was Sie gesagt haben, war ein luxurierender Standpunkt. Denn Sie haben in den Kategorien einer alten Agrarpolitik gesprochen. ({7}) Sie haben hier von dem tränenden Herz eines jeden Bauern und einer jeden Bäuerin gesprochen, wenn die Herde getötet wird. Sie haben aber nicht über den Anspruch der Verbraucherinnen geredet, wirklich sicher zu sein, dass wir nur gesundheitlich vertretbares Fleisch in die Lebensmittelkette kommen lassen - und dafür stehe ich! Das werden wir immer wieder so tun. ({8}) - Nein, es ist kein Widerspruch, Herr Heinrich. Ich habe am Anfang des Jahres klar gesagt, und darauf können Sie sich in den nächsten Jahren verlassen: Wir prüfen das, wir testen. ({9}) Wir haben bei der Herauskaufaktion noch einmal circa 90 000 Tiere getestet. Es gab nur ein positives. Wir haben in Deutschland nur zwei Fälle, in denen die Geburtskohorte betroffen ist. Wir haben mit Brüssel zusammen verglichen, welche Erkenntnisse sie dort haben. Das Ergebnis ist: Heute können wir es vertreten, zu sagen, dass wir auf die Kohorte gehen. ({10}) Wer von mir die Einzeltiertötung haben will, dem sage ich deutlich: Lassen Sie uns nicht in eine Situation kommen, bei der wir in einigen Jahren hier sitzen und erklären müssen, dass wir einen Fall von Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in Deutschland haben und vorher nicht hinreichend Sicherheit geschaffen haben. Sie alle wissen: Für die Auswirkung von Creutzfeldt-Jakob auf den Menschen ist die Inkubationszeit noch nicht vorbei. In England sind circa hundert Menschen daran gestorben. Wir wissen noch nicht, ob und wie viele in Deutschland sterben werden. Deshalb bin ich an dieser Stelle beinhart. ({11}) Ich weiß, dass mich viele im Parlamentsausschuss über alle Fraktionsgrenzen hinaus dabei unterstützt haben, und ich danke dafür. Wir haben in Brüssel auch bei den Regelungen zum Tierschutz noch unter schwedischer Präsidentschaft ein paar Verbesserungen bekommen. Ich hätte gerne mehr gehabt; aber in Brüssel ist der Erfolg eine Schnecke: Hauptsache, sie bewegt sich. Wir haben jetzt Regelungen für die Sauen. 12 Millionen Tiere in der EU werden in Zukunft nicht mehr in Anbindehaltung dastehen, wenn sie trächtig sind, sondern andere Bedingungen haben. Das ist schon einmal etwas! Der nächste Punkt wird sein, dass wir uns mit den Mastschweinen beschäftigen. Jeder kann in seinem Bundesland im Rindermastbereich - in Bayern oder in NRW oder in Niedersachsen - dafür kämpfen, dass sich als Vorwegnahme hier schon etwas verbessert. Wir haben in den ersten fünf Monaten dieses Jahres bei Rindfleisch einige Erfolge gehabt. Wir haben am Dienstagabend im Agrarrat mit anderen Ländern eines hinbekommen: In den nächsten zwei Jahren werden die Großvieheinheiten pro Hektar Fläche im Rinderbereich reduziert. Nicht mehr zwei Tiere werden gefördert, sondern nur 1,8. Das ist ein Schritt, den Sie einmal nach- oder vormachen sollten, Herr Heinrich. Das haben Sie nicht geschafft. ({12}) Das ist ein Schritt wider alle - auch gegenläufigen - Interessen einiger Länder, auch Südfrankreichs. Wir haben es geschafft, aus der 90-Tier-Grenze etwas Neues zu machen, nämlich die Knüpfung an Umwelt- und Beschäftigungsaspekte. Und die Steuerzahler fragen: Wofür zahle ich eigentlich? Wozu muss ich eigentlich Produktion bezahlen? Es ist doch eine freie Marktwirtschaft. Nicht wahr, Herr Heinrich? Wir haben es geschafft, dass in Zukunft ab dem 91. Tier Umwelt und versicherungspflichtige Arbeitsplätze zählen werden. ({13}) Ist das etwa nichts? Ich bin darauf stolz und auch darauf, dass wir in Deutschland und nicht jemand in Brüssel die Kriterien festlegen. ({14}) Wir haben es erreicht, dass im November in Brüssel unter belgischer Präsidentschaft ein großer Kongress zur Auswertung der Maul- und Klauenseuche und auch zur Auswertung der Impfpolitik stattfinden wird. Ist das etwa nichts? Sie müssen es erst einmal schaffen, dass sich alle die, die Interesse an hohen Exporten haben, zum Beispiel Dänemark in die USA und nach Japan, überhaupt auf die Debatte einlassen. Das allein ist ein Zeichen für die Forschung, dass es sich lohnt, den Marker-Impfstoff zu entwickeln. Wer wüsste denn besser als Sie, dass man auch die finanziellen Interessen der Wirtschaft animieren muss? Wir haben sie animiert. Wir haben, deshalb weiß ich gar nicht, woher die Auseinandersetzung kommt ({15}) auf der Konferenz der Agrar- und Umweltminister der Bundesländer am 13. Juni in Potsdam ein Papier einstimmig verabschiedet. Ich weiß gar nicht, wo der Dissens sein sollte. Ich habe den Eindruck, in den großen, wesentlichen Punkten bin ich mir mit den Bundesländern einig. Das reicht von der Umwandlung in Grünlandprämien über Tierhaltungsbedingungen bis hin zu dem Punkt, dass Klärschlamm gar nicht auf die Felder gehört bzw. der Schadstoffeintrag auf die Felder reduziert werden muss. Ich habe im Augenblick so viel Geld für die Agrarwende zur Verfügung, dass sich die Länder fragen, wie sie überhaupt mitmachen. Das müssen Sie erst einmal hinbekommen. ({16}) - Doch. - Wir haben Projekte dafür. Wir haben Kreativität. Selbst in diesem Ministerium wecken wir die kreativen Kräfte. Sie von der F.D.P. dürfen, wenn Sie dazu etwas beizutragen haben, gern mitmachen, sollten aber bitte mehr tun, als auf Ihrem grünen Papier nur unsere alten Positionen von vor drei Monaten abzuschreiben. ({17}) Wir haben 1,8 Milliarden DM in der Gemeinschaftsaufgabe, die wir für neue Dinge ausgeben werden. Wir werden mehr als die Hälfte für Neues ausgeben. Wir haben beim Haushalt zusätzliches Geld aus dem Bundesfinanzministerium bekommen. Wir werden diese 90-TierGrenze für den Umweltschutz nutzen und wir werden die Modulation einführen. Wir werden dafür sorgen, dass die deutschen Bauern nicht wieder die Bremser sind, sondern dass die deutschen Bauern mit uns gemeinsam ihre Zukunft organisieren. Diese heißt: Weg von den Beihilfen. Nach der Halbzeitbilanz - im nächsten, übernächsten Jahr - und nach der Erweiterung der EU, spätestens dann, wenn die Agenda 2000 im Jahre 2006 ausläuft, wird es eine andere Agrarpolitik geben, bei der wir gut beraten sein werden, bis dahin nicht nur Beihilfeempfänger zu sein, sondern tatsächlich das Neue zu tun. Das Neue heißt an dieser Stelle, meine Damen und Herren, auch, dass es auf die Frage der Steuerzahler eine neue Antwort gibt. Die Steuerzahler haben in der Vergangenheit immer gefragt: Wofür zahlen wir? Sie haben gesagt: Dafür wollen wir nicht zahlen. Was glauben Sie, warum es keinen Aufschrei gegeben hat, als in der Zeitung stand, jetzt bekommt Frau Künast von Herrn Eichel noch einmal 330 Millionen DM dazu, anstatt - wie andere Ressorts auch - einsparen zu müssen? ({18}) Doch nicht, weil die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen draußen sagen: Das ist eine tolle Idee, immer hinein in den Agrarbereich!, ({19}) sondern weil sie wissen, das Geld ist bei uns in guten Händen, wir werden es in Zukunft anders ausgeben. Das ist unser Angebot. ({20}) Wir werden dafür sorgen, dass diese Gesellschaft zur Agrar- und Umweltpolitik sagt: Das sind Bauern, denen wir für ihre Leistungen zahlen, dafür, dass sie die Natur und die Umwelt erhalten. Da dürfen Sie in Zukunft gern weiter abschreiben, weiterhin kreative Ideen haben. Ich glaube aber, eingeholt haben Sie uns noch lange nicht. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich Heinrich das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wollte eine Zwischenfrage stellen, aber die Frau Ministerin hat keine zugelassen. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als eine Kurzintervention zu machen, und zwar zu dem Bereich, in dem sie mich mehrmals persönlich direkt angesprochen hat, nämlich der Kohortentötung bei BSE-befallenen Beständen. Frau Ministerin, Sie haben es so dargestellt, als hätten Sie durch Ihre Weigerung, das Schweizer Modell anzuwenden, hier mehr Verbraucherschutz durchgesetzt. Genau das stimmt nicht. Alle Untersuchungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass ein höheres Verbraucherschutzniveau nicht allein dadurch erreicht werden kann, dass man die gesamten Herden schlachtet, sondern dass es ausreicht, das erkrankte Tier und, wenn es ein Muttertier ist, die nachgeborenen Kälber sowie den Jahrgang zu töten. Das heißt im Klartext, es wäre weniger als ein Drittel aller getöteten Tiere getötet worden, wenn man das auf dieser Grundlage durchgeführt hätte. Ich habe das mit Tränen in den Augen nicht nur im Blick auf die Landwirtschaft gesagt, sondern auch deshalb, weil es die Gesellschaft insgesamt aufgeregt hat. ({0}) Die Menschen konnten es nicht mehr sehen und nicht mehr ertragen, mit welcher Medienpräsenz und in welcher Art und Weise die Betriebe belagert und bis zum Abholen der Kadaver begleitet worden sind. Ich weiß nicht: Haben Sie tatsächlich so ein kurzes Gedächtnis, dass nicht einmal diese Bilder nach diesen wenigen Monaten zum Vorschein kommen? Ich habe die Bilder noch nicht vergessen. ({1}) Ich habe schon damals klipp und klar gesagt, wir müssen ein anderes Verfahren wählen. Deshalb habe ich mich jetzt noch einmal zu Wort gemeldet. Ich wollte den Widerspruch noch einmal darstellen, dass Verbraucherschutz nur durch das System der Tötung der gesamten Herde, nicht aber durch die Kohortentötung erreicht werden könne. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Künast, wollen Sie erwidern?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Herr Heinrich, Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass es einen ungeheuren Druck der Medien auf die Bauernhöfe gab. Ich bin mit Ihnen froh darüber, dass sich die Spannung und der Druck in dieser Hinsicht gelöst haben. Aber wir wissen beide: Auch bei einer Kohortentötung wird eine Tötung teilweise auf anderen Höfen erfolgen, weil sich Tiere aus einer Geburtsgruppe manchmal an anderen Höfen als dem, auf dem positiv getestet wurde, aufhalten. Ich habe das Beispiel der Schweiz genannt, weil ich einmal darauf hinweisen wollte, dass man nicht einfach das Endprodukt eines langen Prozesses aus der Schweiz übernehmen kann. Die Schweiz hat zehn Jahre lang systematisch verhindert, dass Tiermehl an Wiederkäuer, also auch an Rinder, verfüttert wird. Sie hat das systematisch kontrolliert. Sie hat die verschiedenen Risikomaterialien der Tiere aus der Nahrungsmittelkette genommen, das Jahr für Jahr weiter definiert und brillante Kontrollen an den Schlachthöfen durchgeführt. Sie ist da noch besser und weiter als wir; deshalb können wir von ihr lernen. Nach circa zehn Jahren hat sie die Tötung auf die Kohorten reduziert. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass die letzten Monate seit dem 26. November letzten Jahres, als es den ersten positiv getesteten BSE-Fall gab, nicht zehn Jahre systematischer Arbeit sind. Deshalb war ich auch dort zurückhaltend, weil ich glaube, dass man erst die Schlachtvoraussetzungen schaffen muss, bevor man den Verbrauchern sagen kann, dass wir das, was jetzt auf den Markt kommt, verantworten können. Aber ich bin mit Ihnen froh, wenn wir gemeinsam sagen: Von der Schweiz zu lernen ist etwas Positives. Deshalb hoffe ich, dass Sie mit mir gemeinsam dafür kämpfen werden, dass im Bundesrat die Legehennenverordnung mit den Stimmen der F.D.P.-regierten Länder durchkommt; denn von der Schweiz lernen heißt: keine Eier aus Käfighaltung. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDSFraktion.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So viel Übereinstimmung zwischen Frau Künast und der F.D.P. macht mich schon stutzig, ({0}) vor allem, wenn ich mir die Politik der F.D.P. ansehe. Beim Lesen des Agrarberichtes wird es den Landwirten die Tränen in die Augen treiben, aber natürlich keine Freudentränen, sondern Tränen aus Wut. Was dort in Worte gefasst ist, geht im großen Bogen an den Hauptsorgen der Bauern vorbei. Im letzten Agrarbericht war Unternehmertum das Hauptanliegen, nun, nach BSE, wird die Diskussion über eine Agrarwende überstrapaziert. Die Bauern wollen aber keine Kehrtwende hin zu Strukturen aus Urgroßmutters Zeiten. Abgesehen davon, dass die Bundesregierung Multifunktionalität und Nachhaltigkeit in der Nahrungsmittel- und Rohstoffproduktion bislang nicht ernst genug genommen hat, muss sich Nachhaltigkeit für die Landwirte rechnen, aber auch der Umwelt und den Verbrauchererwartungen Rechnung tragen. Meine Damen und Herren von der Regierung, zugegeben, in Ihrem Bericht steht viel Positives. Aber die wirtschaftliche Situation vieler Landwirte ist so miserabel wie nie zuvor, und zwar nicht nur aufgrund von BSE. Zu den Fakten: Erstens. Der langjährige Abwärtstrend der Bruttound Nettowertschöpfung hält weiter an. Zweitens. Der weitere Verfall der Agrarpreise konnte nicht gestoppt werden. Drittens. Die gesetzliche Verpflichtung aus dem Landwirtschaftsgesetz wurde wiederum verfehlt. Viertens. Die Landwirtschaft wird weitgehend vom Agrarbusiness bestimmt. Fünftens. Der Differenzierungsprozess in den Agrarstrukturen geht weiter vonstatten. Zur Unterlegung der Fakten Folgendes: Die Aussagen zur Wertschöpfung in der Landwirtschaft vermitteln mit einem Anstieg der Bruttowertschöpfung um 3,7 Prozent und der Nettowertschöpfung um 6,5 Prozent einen sehr positiven Eindruck. Genauer betrachtet fand aber gar kein echtes Wachstum statt. Der Anstieg der Bruttowertschöpfung ist ausschließlich auf die verringerte Inanspruchnahme von Vorleistungen zurückzuführen. Die Nettowertschöpfung basiert auf gestiegenen Ausgleichszahlungen und Subventionen. Gleichzeitig wurden jedoch 30 000 Arbeitsplätze abgebaut. Von einem Bericht der Bundesregierung erwarte ich eine gründliche analytische Arbeit; denn nur im langjährigen Trend wird sichtbar, dass die Bruttowertschöpfung stagniert und die Nettowertschöpfung abnimmt. Mit 22,9 Milliarden DM liegt die Nettowertschöpfung immer noch unter dem Niveau des Zeitraums von 1995 bis 1998. Auch für den Berichtszeitraum bestätigt sich, was seit Jahren als eine der Hauptursachen für die ungenügenden Ergebnisse der wertmäßigen Reproduktion festgestellt werden muss: Trotz einer gewissen Erholung vom Preisschock des Vorjahres auf dem Schweinefleischmarkt zeigt die mehrjährige Entwicklung kein Ende der Preisschere. Durch den Preisdruck wird der Konkurrenzdruck zunehmen. Höfesterben, Arbeitsplatzverlust, Billigarbeitsplätze, Produktionsintensivierung und Monokulturen sind die Folgen. Viele Betriebe wirtschaften am Rand der einfachen Reproduktion oder leben gar von der Substanz. Bereits seit Jahren weist die PDS auf die Gefahr hin, dass der Preisdruck auf die landwirtschaftlichen Produzenten zum Unterlaufen von sozialen und gesundheitlichen Standards und ökologischen Anforderungen führt. Die aktuellen Preissteigerungen für Lebensmittel resultieren weder aus einer Qualitätssteigerung noch aus mehr Lebensmittelsicherheit und schon gar nicht aus noch höheren Erzeugerpreisen. Schön wäre es, wenn beim Bauern tatsächlich etwas mehr Einkommen über Erzeugerpreise ankäme. Aber die Bauern arbeiten mehr und verdienen weniger. Das Landwirtschaftsgesetz wird nach wie vor ignoriert. Ich frage mich: Wozu haben wir eigentlich Gesetze? Sie sind bestimmt nicht dazu da, dass sie ständig unterlaufen werden. Bei einer Neuausrichtung der Agrarpolitik muss der gesamte Agrarindustriekomplex mit seinen inneren Machtstrukturen auf den Prüfstand. Im vergangenen Jahr gab es im Agrarbericht erstmals einen Abschnitt zum Agrarbusiness. In diesem Agrarbericht ist er weggefallen. Wahrscheinlich passt Agrarbusiness nicht zur Agrarwende. Somit gibt es aber keinerlei Aussagen über den Konzentrationsgrad und die Gewinnerwirtschaftung in der Nahrungsmittelindustrie und im Handel. Fakt ist aber: Die Bauern sind, bezogen auf die Erwerbstätigen in der gesamten Branche, nur zu einem Viertel an der Nahrungskette bis zum Verbraucher beteiligt. ({1}) Will man aber negative Wirkungen in der Kette einschränken, braucht man konkrete Analysen der ökonomischen Stellung der Partner und ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten. Deshalb unterstützt die PDS die Forderung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, sie in die Lösung der Krise und Neugestaltung der Agrarpolitik einzubeziehen. Im Agrarbericht werden die noch immer vorhandenen spezifischen Probleme der Landwirtschaft der neuen Länder unzureichend widergespiegelt. Tatsächlich ist die leistungsfähige ostdeutsche Landwirtschaft so ausgebootet worden, dass sie gegenwärtig nicht einmal die geringer gewordene ansässige Bevölkerung ernährt. Bei Lieferrechten und Quotierungen sind die ostdeutschen agrarwirtschaftlichen Betriebe eindeutig diskriminiert. Der Anteil ostdeutscher Betriebe an der Verarbeitung sieht noch schlechter aus. Milch und Fleisch aus den neuen Bundesländern werden größtenteils im Westen verarbeitet und kommen dann als veredelte Produkte zurück. Wettbewerbsfähigkeit und Strukturwandel sind von der Politik national und EU-weit gewollt. Damit werden Betriebe gegeneinander ausgespielt. Das Preissegment ist das A und O aller Handlungserfordernisse in der Region, in der Nation und auf dem Weltmarkt. Vergessen Sie nicht, dass im Welthandel wie auf kaum einem anderen Gebiet Öko- und Sozialdumping ausgeprägt sind. Damit aber wird der nachhaltige Ansatz permanent unterlaufen. Die Bundesregierung sitzt im Grunde genommen in der Liberalisierungsfalle, nämlich dann, wenn dieser Prozess nicht von Rahmenbedingungen in der gesamten Branche sozial-ökologisch begleitet wird. Das jedoch kostet den Bund und die Länder mehr Geld. Die Gemeinschaftsaufgaben „Agrarstruktur und Küstenschutz“ sowie „Regionale Wirtschaftsstruktur“ müssen stärker verzahnt und vor allem aufgestockt werden. Als ein gesellschaftliches Erfordernis ist dies nicht nur dringend notwendig, sondern wird auch vom Steuerzahler und Verbraucher akzeptiert. ({2}) Wenn man sich vor Augen hält, dass sich Minister Scharping großzügig aus den Erlösen des Verkaufs von Liegenschaften und Waffen bis zu einem Betrag von 2 Milliarden DM bedienen kann, dann lesen sich die 330 Millionen DM für die nächsten zwei Jahre für die Neuausrichtung in der Landwirtschaft wie Peanuts. ({3}) Landwirtschaft hat nicht nur einen Preis, sondern vor allem auch einen gesellschaftlich anzuerkennenden Wert. Ich hoffe, wir sind uns alle darin einig: Eine Neuausrichtung der Landwirtschaft darf nicht auf dem Rücken der Bauern ausgetragen werden. ({4}) Die PDS fordert im Agrarbericht 2002 und in den Folgeberichten erstens, die Analyse der Einkommenssituation der Landwirte für alle Rechtsformen und einen Einkommensvergleich mit anderen Berufsgruppen vorzunehmen, zweitens, regionale Analysen aus Bundessicht zu erstellen, um die Fortschritte und Probleme bei der Verwirklichung der angekündigten stärkeren Regionalisierung der Agrarwirtschaft bewerten zu können, drittens, die Entwicklung der Bedingungen und Leistungen der multifunktionalen Landwirtschaft abzurechnen und viertens, einen gesonderten Abschnitt zum Agrarindustriekomplex aufzunehmen, damit auch der politische Ansatz des „magischen Sechsecks der Agrarwende“ tatsächlich nachvollzogen werden kann. Die Bauern in diesem Land können sich darauf verlassen, dass sich die PDS dafür einsetzt, dass die Neuausrichtung der Agrarpolitik nicht gegen die Interessen der Bauern, sondern mit ihnen zusammen gestaltet wird. Ich erwarte dies natürlich auch von der Bundesregierung. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Karsten Schönfeld von der SPD-Fraktion.

Karsten Schönfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003229, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erfreulichste Entwicklung gleich am Anfang: Die landwirtschaftlichen Betriebe konnten im abgelaufenen Wirtschaftsjahr gegenüber dem Vorjahr einen erheblichen Gewinnzuwachs verzeichnen, unterschiedlich zwar je nach Rechtsform, aber in allen Bereichen positiv, und das deutlich. Bei Einzelunternehmen waren es sogar 13,5 Prozent, bei Personengesellschaften und juristischen Personen waren es immerhin 7 Prozent. Ich denke, das ist sehr erfreulich, und das muss an dieser Stelle festgestellt werden. Die Verluste aus dem Vorjahr konnten damit mehr als ausgeglichen werden. Hauptursache für den Einkommenszuwachs waren ein deutlicher Anstieg bei den Schweinepreisen und höhere Erlöse aus dem Getreideanbau. Auch die Betriebe in der Rechtsform der juristischen Person - meist eingetragene Genossenschaften in den neuen Bundesländern - konnten ihre wirtschaftliche Situation verbessern. Rund 27 Prozent der betrieblichen Aufwendungen dieser Unternehmen - das ist eine interessante Zahl - entfielen bei diesen Betrieben auf Löhne und Gehälter. Diese Betriebe bilden weiterhin das Rückgrat in den ländlichen Regionen der neuen Bundesländer. Im Vergleich der Bundesländer erzielten Marktfruchtbetriebe mit relativ geringem Arbeitskräftebesatz in Mecklenburg-Vorpommern weiterhin das höchste Einkommen je Arbeitskraft. Die niedrigsten Einkommen waren in Thüringen und in Sachsen zu verzeichnen. Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir gerade für diese Betriebe, die in Regionen mit überwiegend benachteiligten Flächen liegen und die mit einem hohen Personalaufwand wirtschaften, weitere Verbesserungen erreichen. Wir werden bei den anstehenden Reformen, auch in der Frage der Modulation, dafür sorgen, dass es für diese Betriebe nicht noch zu weiteren Belastungen kommt. Wir werden, wie es in unserem Entschließungsantrag formuliert ist, den Faktor Arbeitsplätze entschieden in die künftige Förderstruktur einbringen. ({0}) Die Aussage von Frau Bundesministerin Künast auf dem Landesbauerntag in Sachsen-Anhalt, dass Belastungen aus der Modulation nicht einseitig zulasten der landwirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundesländern gehen werden, findet deshalb unsere volle Unterstützung. ({1}) Ich möchte es allerdings noch etwas deutlicher formulieren: Die einbehaltenen Gelder aus der Modulation müssen in den jeweiligen Regionen bzw. im jeweiligen Bundesland verbleiben. ({2}) So, denke ich, werden wir dort eine entsprechende Akzeptanz erzielen. Um das zu erreichen, wird sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für die Genehmigung weiterer modulationsfähiger Maßnahmen einsetzen. Wir werden sie dabei unterstützen. Ich kann Sie von der Opposition nur einladen, das ebenfalls zu tun. Wenn wir zurückblicken, dann sehen wir, dass wir einiges erreicht haben: Mit dem Beschluss zur Agenda 2000 im Jahre 1999 sind die Rahmenbedingungen für die Land- und Ernährungswirtschaft der EU einschließlich ihrer Finanzierung bis zum Jahre 2006 gelegt worden. Wir haben mit der zweiten Säule der Agrarpolitik jetzt ein gutes Instrument, um Betrieben zu helfen, unabhängig von der landwirtschaftlichen Produktion zusätzliche Einkommen zu erwirtschaften. Wir haben darüber hinaus die nationalen Gestaltungsspielräume der Agenda genutzt und die Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit der Betriebe gestärkt. Heute stellt sich die Situation auf den Märkten deshalb überwiegend positiv dar. Nur der Rindfleischmarkt - das wissen wir - ist durch die BSE-Krise massiv unter Druck geraten. Wir haben - das ist schon bei meinen Vorrednern deutlich geworden - entschlossen gehandelt und Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung von BSE zu verhindern, den Verbraucherschutz zu verbessern und zusätzliche Erkenntnisse über die BSE-Infektion zu gewinnen. Wir Sozialdemokraten haben uns zum Ziel gesetzt, die Krise als Chance zu begreifen. Wir haben uns von einer klassischen Agrarpolitik verabschiedet, weil deutlich geworden ist, ({3}) dass sie die Probleme nicht lösen konnte. Wir sind auf dem Weg hin zu einer Politik für sichere, gesunde Nahrungsmittel und hin zu einer umfassenden Politik für den ländlichen Raum. ({4}) Die Erwartungen der Verbraucher an eine umweltgerechte Erzeugung gesunder Nahrungsmittel waren mit den Mitteln der alten Agrarpolitik offensichtlich nicht mehr zu erfüllen. Die BSE-Krise war für viele Verbraucherinnen und Verbraucher ein Anlass, ihr Konsumverhalten zu ändern. Auf diesem Gebiet hat ein Umdenkungsprozess begonnen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind heute nicht nur bereit, genauer hinzuschauen, was sie an der Ladentheke bekommen, sondern sie sind auch bereit, dafür mehr Geld auszugeben. Sie wollen sicher sein, dass die Lebensmittel umweltfreundlich und tiergerecht erzeugt worden sind. Das bietet auch unseren Landwirten neue Chancen. Wir unterstützen unsere Betriebe dabei und setzen neue Schwerpunkte in der Agrarpolitik. Der Entwurf des Agrarhaushaltes sieht für das Jahr 2002 Ausgaben in Höhe von über 11 Milliarden DM vor. Trotz weiterhin notwendiger Konsolidierung des Gesamthaushaltes und trotz der Entlastung der Bürgerinnen und Bürger durch die große Steuerreform ist es gelungen, weitere Mittel im Einzelplan 10 für das Jahr 2002 in Höhe von 150 Millionen DM und im Jahr 2003 in Höhe von 180 Millionen DM bereitzustellen. Wir Sozialdemokraten haben immer darauf gedrungen, verstärkt Mittel für einkommenswirksame und investive Maßnahmen bereitzustellen. Eine zentrale Rolle in unserer Agrarpolitik spielt deshalb die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derAgrarstruktur und des Küstenschutzes“. Die Mittel für diese Gemeinschaftsaufgabe werden wir deutlich anheben. Mit 1,845 Milliarden DM werden wir 2002 deutlich mehr Mittel als in diesem Jahr zur Verfügung stellen. Wir ermöglichen den landwirtschaftlichen Betrieben so, die Chancen zu ergreifen, die sich aus dem geänderten Konsumverhalten der Menschen ergeben. Wir stärken den ökologischen Landbau und wir verbessern die Förderung der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung ökologischer Erzeugnisse. ({5}) Durch das Agrardieselgesetz entlasten wir alle landwirtschaftlichen Betriebe weiter. Seit dem 1. Januar 2001 gilt ein fester Steuersatz von 57 Pfennig je Liter Dieselkraftstoff. Jetzt haben wir eine weitere Absenkung auf 50 Pfennig je Liter auf den Weg gebracht. ({6}) - Ein Vergleich mit Frankreich und den Niederlanden ist nur dann sinnvoll, wenn man alle Bereiche miteinander vergleicht. Man kann sich nicht immer nur die Punkte herausgreifen, die einem passen. ({7}) Im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe haben wir neue Förderprogramme aufgelegt. Wir fördern die Erzeugung von Strom aus Bioenergie durch das Gesetz über den Vorrang erneuerbarer Energien. Auch hier sichern wir den Landwirten zusätzliche Einkommensquellen. Wir stehen vor der großen Aufgabe, unsere Landwirtschaft für die Zukunft zu rüsten. Wir müssen die Ansprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher an die Gesundheit und die Unbedenklichkeit der Nahrungsmittel ebenso erfüllen wie die einer naturnahen und tiergerechten Erzeugung der Lebensmittel. Gleichzeitig werden die WTO-Verhandlungen ebenso wie die Osterweiterung der Europäischen Union ohne jeden Zweifel zu weiterer Liberalisierung des Agrarhandels und zur Ausweitung des internationalen Agrarhandels führen. Wir unterstützen unsere landwirtschaftlichen Betriebe, damit sie sich diesen Herausforderungen erfolgreich stellen können. Wir sind in der Agrarpolitik auf einem guten Weg. Die Fakten des vorliegenden Agrarberichts sprechen eine andere Sprache als der von Ihnen hier aufgeführte Popanz. Wer alles mies redet, braucht sich nicht zu wundern, wenn niemand oder kaum mehr jemand - das hat der ansonsten von mir geschätzte Kollege Deß in der gestrigen Ausschusssitzung gesagt - bereit ist, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Das hängt mit dem Popanz zusammen, den Sie hier und auf Bauernversammlungen aufführen. ({8}) Sorgen Sie lieber dafür, dass die Landwirte auch in den von Ihren Parteikollegen regierten Ländern erkennen, dass Sie eine Zukunft haben! Dass die Bauern eine Perspektive haben, machen unsere Politik und der Agrarbericht deutlich. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der bayerische Staatsminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Josef Miller. ({0}) Josef Miller, Staatsminister ({1}): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundesministerin Künast fordert die Agrarwende und erläutert dazu immer wieder, dass sie die deutsche Agrarpolitik in eine Agrarumweltpolitik umwandeln wolle. Wenn sich diese Agrarwende allerdings darin erschöpft, im vorliegenden Agrarbericht die landwirtschaftliche Praxis erstmals mit Ausdrücken wie „Tierquälerei“ und „Raubbau“ gezielt in ein schiefes Licht zu rücken, und dazu führt, dass Ökoproduktion, die nach bisherigem deutschem Recht nur in den Betrieben möglich ist, die ihre gesamten Flächen nach Maßgabe ökologischer Grundsätze bewirtschaften, auch in solchen Betrieben erlaubt sein soll, die nur einen Teil ihrer Fläche ökologisch bewirtschaften, dann wissen unsere Bauern, aber auch unsere Verbraucher, was sie von dieser Bundesregierung zu erwarten haben. ({2}) Mich macht die Dreistigkeit, mit der Sie Selbstverständlichkeiten als Erfolg verkaufen wollen, äußerst nachdenklich. Sie sagen zum Beispiel: Die Agrarministerkonferenz hat einstimmig beschlossen. Ich muss Ihnen sagen: Die Beschlüsse der Agrarministerkonferenz sind immer einstimmig. Wenn die Beschlüsse nicht einstimmig gefasst würden, kämen sie gar nicht zustande. Beschlossene Selbstverständlichkeiten werden als Erfolg gefeiert. Aber wie will derjenige, der wie die Regierungskoalition in der Frage der Modulation nicht einmal die eigenen Agrarminister hinter sich bringt, jemals in Brüssel Erfolg haben? ({3}) Die Bundesländer werden sich zwar dem Einbau von mehr Umweltkompetenzen in die deutsche Agrarpolitik nicht grundsätzlich widersetzen. Aber dies darf nicht zum Ruin unserer Bauern führen. Der Staat hat schon aus Gründen der Sicherung einer gesunden Ernährung und einer intakten Umwelt auch eine Fürsorgepflicht gegenüber unseren Bauern. Wir können unsere Bauern nicht außen vor lassen, so wie Sie das mit Ihrer Agrarpolitik tun. Wer noch mehr Umweltkomponenten als bisher in die Agrarpolitik integrieren will, muss es entweder in Brüssel durchsetzen oder er muss es - wie wir das in Bayern tun durch eine entsprechende Leistungskonzeption ausgleichen. ({4}) Die Agrarberichte der letzten Jahre zeigen, dass die deutschen Bauern keine Zusatzbelastungen mehr ertragen können. ({5}) Wenn Sie, Frau Bundesministerin, Agrarpreise mit Einkommen gleichsetzen und dabei die Produktionskosten außen vor lassen, muss ich feststellen, dass es mit Ihrem Sachverstand nicht weit her ist. ({6}) Unsere Bauern können die Modulation nach rot-grünem Muster nicht ertragen. Sie können sie deshalb nicht ertragen, weil sie bei ihren schwierigen Einkommensverhältnissen - siehe Agrarbericht - überproportional belastet würden. Es macht doch keinen Sinn, den Bauern das Geld aus der einen Tasche herauszuziehen, ohne es durch einen entsprechenden Ausgleich in die andere Tasche wieder hineinzustecken. ({7}) Das gilt insbesondere für die mittelbäuerlichen Betriebe, die auf eine Unterstützung angewiesen sind. ({8}) Es gehört schon Mut dazu, sich hierher zu stellen und zu sagen, die Bauern hätten günstige Produktionskosten, nachdem die Preise für einen Liter Agrardiesel von 21 Pfennig auf 57 Pfennig angehoben wurden. Die folgende Reduzierung auf 50 Pfennig als Erfolg darzustellen verlangt ebenso Mut, wenn man sieht, dass in Italien ein Liter Agrardiesel 16,5 Pfennig kostet. Die Bauern lassen sich nicht für so dumm verkaufen, wie Sie sich das vorstellen. ({9}) Das Gleiche gilt für die bereits geplante Förderung von 330 Millionen DM - auch in diesem Bereich ist in den letzten Jahren gekürzt worden -, mit der Sie nun zusätzliche Umweltleistungen honorieren wollen. Ich weiß, wovon ich rede. Wir haben in Bayern mit unserem Programm „2 000 - Leistungen für Land und Leute“ bis zum Jahr 2006 800 Millionen DM jährlich für Umweltleistungen im Agrarbereich aufgewandt. Zudem hat Bayern mit einer Verbraucherinitiative für zwei Jahre zusätzlich 600 Millionen DM bereitgestellt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Heidi Wright? Josef Miller, Staatsminister ({0}): Nein, die Zeit ist knapp.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Staatsminister, es wird nicht auf die Redezeit angerechnet. Josef Miller, Staatsminister ({0}): Nein, ich gestatte trotzdem keine Zwischenfrage. Zwei Drittel der Flächen in Bayern unterliegen besonderen Umweltauflagen. Als Ausgleich dafür erhalten die Bauern 400 Millionen DM. ({1}) Wir handeln in unserem Zuständigkeitsbereich verantwortlich und warten nicht darauf, bis der Bund halbherzig Maßnahmen einleitet, die wir schon längst eingeleitet haben. Ich wehre mich dagegen, wenn man jetzt so tut, als hätte man mit der Agrarumweltpolitik erst ab diesem Jahr begonnen. ({2}) - Ich kann Sie gerne über den bayerischen Weg informieren: Wir haben bereits 1970 Agrarumweltmaßnahmen in einem eigenen Leistungsgesetz vorgesehen, um den Umbau der deutschen Agrarpolitik in eine Agrarumweltpolitik zu unterstützen. ({3}) Ich zitiere in diesem Zusammenhang Kommissar Fischler aus „top agrar“, der von einem „wohlfeilen Wortgeklüngel“ gesprochen hat. Ich weise darauf hin: Wenn Sie Ihre Politik so fortsetzen, wie Sie sie begonnen haben, verschlechtern Sie die Wettbewerbsfähigkeit unserer Bauern ganz erheblich. Tun Sie was, damit unsere Bauern im Wettbewerb in Europa bestehen können, und schwächen Sie nicht unsere Landwirtschaft! ({4}) Sie haben bisher in Brüssel keine Bündnispartner gefunden. Mich wundert das nicht. Auch EU-AgrarkomStaatsminister Josef Miller ({5}) missar Fischler, einer der Väter der Agrarsozialpolitik in Österreich, äußert sich ziemlich skeptisch. Darüber hinaus konzentrieren sich die Aktivitäten der Bundesregierung zu wenig auf die zentralen Belange der Landwirtschaft und der Ernährungswirtschaft in Deutschland. Allein die Förderung von mehr Ökoproduktion ist zu wenig; denn wir sind für die Ernährung von 100 Prozent unserer Mitbürger und für 100 Prozent unserer Bauern verantwortlich und nicht nur für 3, 10 oder 20 Prozent. ({6}) Mir fehlen vor allem folgende Ansätze: Erstens. Erforderlich sind hinreichend konkrete Vorschläge für Maßnahmen zur Weiterentwicklung der gemeinsamen Agrarpolitik im Hinblick auf „mid term review“, WTO-Verhandlungen, Osterweiterung sowie Vorschläge zur Ausweitung der Kofinanzierung in der Agrarpolitik. Zweitens. Wir brauchen eine starke Vereinfachung des Fördersystems. Was Sie im Rahmen der Modulation machen - das haben Ihnen die Kollegen schon gesagt -, ist undurchführbar. Drittens. Es fehlen hinreichende Maßnahmen zur Erschließung des Non-Food-Marktes und des Dienstleistungsmarktes. Viertens. Wir brauchen eine Reform des Marktstrukturrechts als effektive Voraussetzung für die Entwicklung transparenter, geschlossener Produktlinien. Fünftens. Überfällig ist eine Novellierung des Landwirtschaftsgesetzes des Bundes mit dem Ziel der Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Einkommenssicherung und der Festlegung ökologischer Komponenten. Sechstens. Erforderlich ist die Zusammenfassung des Agrarfachrechtes in einem Agrargesetzbuch. Siebtens. Wir brauchen die Einführung der Kohortenkeulung. Zur Neuorientierung der Agrarpolitik auf der Ebene der Europäischen Union muss Deutschland sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen. Als Hauptfinanzier der Europäischen Union darf es Deutschland nicht zulassen, dass eine Wende in der Agrarpolitik auf dem Rücken der Bauern und am Ende auf Kosten und zulasten unserer Verbraucher ausgetragen wird. Wenn die Agrarpolitik so fortgesetzt wird, wird die Zahl der Landwirte drastisch zurückgehen. Die Folgen haben die Verbraucher zu tragen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Neuerungen, für die Bayern von Ministerin Künast gelobt wurde, nicht auf Ihrem Mist gewachsen sein können, Herr Miller. Ich hatte Verständnis dafür, dass sich die Staatsregierung dazu entschlossen hatte, einen Verbraucherschutzminister Sinner einzusetzen. Aber der bayrische Weg, den Sie verfolgt haben, hat doch nur dazu geführt, dass es in Bayern die meisten BSE-Fälle gibt - ein Skandal -, wie die für Bayern desaströsen Ergebnisse von Kontrollen der EUKommission zeigen. ({0}) Sie sind nicht der Protagonist einer zukunftsfähigen Landwirtschaft. Aber Sie können ja noch dazulernen. ({1}) Heute stimmen wir im Bundestag über Anträge bezüglich einer Agrarreform ab. Es soll eine neue Verbraucherschutz- und Agrarpolitik geben. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Modulation einzuführen. Herr Minister Miller, damit gibt der Bundestag der Ministerin Künast die notwendige Rückendeckung, um dieses Instrument einzuführen. Es ist der politische Wille nicht nur der Grünen, sondern auch der Koalitionsfraktionen, der Bundesregierung und der Gesellschaft, die Modulation und weitere Elemente der Neuausrichtung der Agrarpolitik einzuführen. Die Notwendigkeit, dieses Instrument einzuführen, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass das bisherige System schlicht und ergreifend nicht mehr finanzierbar ist, dass die Osterweiterung im Jahre 2004 ansteht und dass es daher eine Neuorientierung geben muss, die gerade im Bereich der finanziellen Förderung ansetzt. Dieses bisherige System ist auch nicht mehr haltbar, weil im Rahmen der WTOVerhandlungen - das ergab sich auch schon im Rahmen der Uruguay-Runde - Bedingungen gestellt wurden, die bewirken, dass das alte System nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Es gibt also eine unabweisbare Notwendigkeit, in Deutschland eine Neuausrichtung vorzunehmen. Der Agrarbericht zeigt auch, dass die in einigen Punkten beklagenswerte Situation der landwirtschaftlichen Betriebe durch die Politik der alten Bundesregierung verursacht wurde. Dies zeigt sich vor allem an der hohen Zahl sterbender Betriebe. ({2}) Wir brauchen neue Perspektiven und auch eine Politik, die verhindert, dass es weitere kontraproduktive Fehlallokationen ({3}) im Bereich der Agrarförderung gibt, zum Beispiel ein Durchreichen der Fördermittel an die Grundstückseigentümer. Das Eigentumsrecht ist in Ordnung. Aber es Staatsminister Josef Miller ({4}) muss doch keine staatlich subventionierte Förderung von Landeigentum geben, wie die F.D.P. es will. Es kommt also notwendigerweise zu einem Abbau der Garantiezahlungen. Daher sind wir alle in der Verantwortung. Das betrifft auch die Opposition. Das betrifft vor allem die Bundesländer, die an diesem Prozess und an dem Instrument der Modulation konstruktiv mitwirken müssen; ({5}) denn sonst werden gerade die Elemente, die von den Ländern gefordert werden, nicht installiert werden können. Das geht nur bei entsprechender Mitwirkung. Ich will einen Satz zu der 90-Tier-Grenze sagen. Ich bin sehr dafür, Elemente, die Arbeitsplätze fördern, einzuführen. Ich schlage vor, noch einmal darüber zu diskutieren, ob man es gerade im Bereich Bullen machen sollte, in dem es eine sehr geringe Verbindung zu dem Arbeitskräftebesatz gibt. Man sollte überlegen, dies im Bereich der Einnahmeseite der Modulation zu machen. Zumindest geht das und ist sicherlich überlegenswert. Das bisherige System hat keine Akzeptanz. Die neue Politik muss die Anforderungen der Gesellschaft erfüllen. Dazu gehören Lebensmittelsicherheit und -qualität, Tierschutz, Kulturlandschaftspflege und natürlich auch Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze. Dazu bedarf es einer Strategie, die wir entwickeln müssen, was in der Vergangenheit leider nicht geschehen ist. ({6}) Es ist schon richtig: Verbote und reine Ordnungspolitik sind Elemente, die auch Abwanderung - beispielsweise im Bereich der Tierhaltung - zur Folge haben können und daher mit anderen Maßnahmen verbunden werden müssen. Die Grenzen dicht zu machen, wie die CSU es immer wieder fordert, geht nicht. Daran denkt niemand. Übrigens ist der letzte Punkt in dem Antrag der CDU/CSU wieder so ein Punkt, der im Rahmen der internationalen Politik überhaupt nicht zu realisieren ist. Hingegen ist es möglich - darauf setzen wir hauptsächlich -, die Verbraucher für die neue Politik zu gewinnen und Anreize für neue Produktionsverfahren zu schaffen. Für diese Politik braucht man Konzepte, die die Bundesregierung liefert, und man braucht Geld, und zwar einerseits aus der Modulation und andererseits aus dem Bundeshaushalt. Hier ist das passiert, was Renate Künast gesagt hat. Sie hat nämlich erreicht, dass der Bundesfinanzminister für Investitionen in die Neuausrichtung Mittel in einem Rahmen zur Verfügung stellt, den man angesichts der erforderlichen Konsolidierung des Bundeshaushalts nur als riesigen Erfolg und riesige Unterstützung für die Politik der Landwirtschafts- und Verbraucherministerin werten kann. Unsere Neuausrichtung der Agrar- und Verbraucherpolitik basiert auf vier Säulen. Eine Säule ist: Verbraucherschutz, Transparenz und Lebensmittelsicherheit. Eine andere ist, im Bereich der konventionellen Produktion die Wettbewerbsfähigkeit für umwelt- und artgerechte Produktion zu verbessern. Der Ökolandbau soll als eine der vier Säulen gefördert werden. Eine weitere Säule ist, neue Perspektiven im Bereich der erneuerbaren Energien zu straffen. Ich will nur zu zwei Punkten etwas sagen, und zwar zunächst zum Bereich Verbraucherschutz und Transparenz: Diejenigen, die sich jetzt hier hinstellen und die Ministerin und uns anklagen, BSE-Schutzmaßnahmen durchgeführt zu haben, Herr Heinrich, sind genau die Rattenfänger, die vorher gesagt haben, BSE-Maßnahmen seien gar nicht nötig, Deutschland sei BSE-frei. ({7}) Dass der Tierschutz als Vorwand für die Beendigung der Seuchenbekämpfungspolitik in Fällen von für Menschen gefährlichen Krankheiten genommen wird, ist etwas, was ich nicht unterstützen möchte. Der andere Punkt ist folgender: Sie fordern - die Ministerin hat es schon erwähnt - eine Unterstützung des ökologischen Landbaus. Das ist im Bereich des Ökosiegels bereits realisiert worden und es gibt einen Aktionsplan für den ökologischen Landbau. Durch die vielen Elemente, die in den sechs Monaten, die die Ministerin im Amt ist, bereits realisiert worden sind, hat die Bundesregierung mehr Reformen durchgeführt, als es in der gesamten Regierungszeit der alten Bundesregierung der Fall gewesen ist, Reformen, die wirklich in dem Sinne sind, wie Verbraucher, Steuerzahler, Tierschützer und die Menschen in diesem Lande sich Verbraucherschutz und Agrarpolitik wünschen. Danke. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Peter Harry Carstensen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Debatte hat mir bisher ein Wort von Uli Höfken am besten gefallen: die kontraproduktive Fehlallokation. Ich stelle mir gerade vor, ich verwendete diesen Begriff in meinem Wahlkreis; insoweit wäre ich dankbar, wenn man mir die Bedeutung dieses Begriffes erklärte und vielleicht noch eine plattdeutsche Übersetzung mitlieferte. Ich weiß nicht, was es ist, und weiß noch nicht einmal, ob ich es richtig geschrieben habe; aber es hörte sich zumindest gut an. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen und habe auch nicht vor, vielen Dingen hinterherzulaufen, die in der Agrarpolitik von manchen Seiten vorgetragen werden. ({1}) Ich nehme zu einigen Punkten Stellung, die von Ihnen, Frau Ministerin, und von der Frau Kollegin Wolff angesprochen worden sind. Sie haben davon gesprochen, Frau Ministerin, dass die Einkommenslage in der Landwirtschaft gut sei. Sicherlich gibt es bei Milch gute Ergebnisse und bei Schweinen dadurch, dass nicht mehr so viel Rindfleisch verzehrt wird, ebenfalls. Bei Getreide wissen wir es noch nicht, weil die Ernte noch aussteht. Aber ich sage Ihnen auch, dass wir bei denjenigen extrem schlechte Ergebnisse haben, die Rindfleisch produzieren. Sie haben nichts davon, dass es in anderen Bereichen gute Ergebnisse gibt. Dies führt ebenso wie Ihre Politik und die Unsicherheiten, die diese Politik verursacht, dazu, dass mir zum Beispiel der größte Landmaschinenhändler in SchleswigHolstein sagte, dass er in diesem Jahr 33 Prozent weniger Schlepper verkauft habe. Das bedeutet, dass aus der Landwirtschaft heraus keine Investitionen getätigt werden. ({2}) - Matthias, ‘n büschen zuhören, min Jung! Das hast du früher zu deinen Jungs auch immer gesagt, als du noch Lehrer warst. ({3}) Das hat mit der Stimmung in der Landwirtschaft und der Unsicherheit zu tun, die von dieser Politik ausgeht; die Landwirte wissen nämlich nicht genau, wohin die Reise geht. ({4}) Mehrere Wenden in einem Jahr führen dazu, dass die Leute nicht mehr wissen, in welche Richtung es geht. Sie haben vorhin gesagt, von der Schweiz lernen, heiße - - Ich weiß nicht mehr genau, was es war. ({5}) - Legehennen, richtig. Von der Schweiz lernen, heißt aber auch, Eier zu importieren lernen. ({6}) Das bedeutet, keine Produktion mehr im eigenen Land zu haben, sondern sie aus dem Land hinauszujagen. ({7}) Frau Ministerin, Sie und auch Uli Höfken haben ein Defizit bei den Tiermehlkontrollen in Bayern angesprochen. Nun will ich mich dazu nicht äußern. Ich glaube nur, dass dann, wenn die Kommission - das wissen Sie - woanders kontrolliert hätte, die Ergebnisse wesentlich schlimmer ausgefallen wären. ({8}) - Nein, ich sage dazu noch etwas. - Deswegen halte ich es für unfair, bei diesem Punkt immer auf Bayern einzuschlagen. ({9}) In Schleswig-Holstein gab es bis 1996 zwei Futtermittelkontrolleure. 1996 wurde einer pensioniert oder war auf Dauer krank; die Stelle wurde nicht wieder besetzt. Im schleswig-holsteinischen Haushalt waren für die Futtermittelkontrolle 360 000 DM veranschlagt. Von dieser Summe wurden im Jahre 2000 35 000 DM ausgegeben, davon 30 000 DM für Bodenproben. Angesichts dieser Tatsache ist es nicht fair, Bayern den schwarzen Peter zuzuschieben und zu sagen, dort sei es besonders schlimm. ({10}) Frau Ministerin, Sie haben die Luxemburger Beschlüsse zum Thema Tiermehlverfütterungsverbot gelobt. Ich zitiere dazu die „FAZ“: ({11}) Die Sitzung in Luxemburg war noch keine drei Stunden alt, da hatte die Verbraucherschutzministerin Renate Künast schon drei Abstimmungsniederlagen hinnehmen müssen. Im Weiteren wird geschrieben, dass das beim Mehrheitsprinzip des Öfteren vorkomme. Aber dass sich ein Vertreter der Bundesregierung gleich bei drei wichtigen Gesetzesvorlagen eine Abfuhr für seine Änderungswünsche holt und ein nutzloses Nein zu Protokoll geben muss, das kommt nicht alle Tage vor. Besonders schwer wiegt für Frau Künast die Niederlage in den Verhandlungen über das Tiermehlverbot. Schließlich ist das auch eine Schlappe für Bundeskanzler Gerhard Schröder. Nun kann man natürlich fragen, wie und warum sie entstanden ist. Frau Ministerin, diese Niederlage ist auch ein Zeichen dafür, dass der Stellenwert der deutschen Position im Agrarministerrat nicht mehr der gleiche wie früher ist, ({12}) als wir CDU-Landwirtschaftsminister hatten, aber auch nicht mehr der gleiche wie in der Zeit, als Karl-Heinz Funke noch Minister war. Es ist schon ein besonderer Vorgang, dass bei Abstimmungen in diesem Agrarministerrat ohne Skrupel und ohne Zögern über deutsche Positionen hinweggegangen und abweichend davon abgestimmt wird. Frau Ministerin, darüber sollten Sie sich Gedanken machen. Ich finde es auch sehr bemerkenswert, dass Sie es nicht für nötig hielten, bei der Debatte zum Tiermehlverfütterungsverbot die Diskussion über die Tierfette einzubringen. Frau Ministerin, Sie sagten gerade, Verbraucherschutz bedeute für Sie, dass nur gesundheitlich vertretbares Fleisch in die Nahrungsmittelketten hinein Peter H. Carstensen ({13}) gebracht werde. Wenn wir insoweit über Wettbewerbsfähigkeit sprechen, dann muss man sich fragen, ob es für Sie vertretbar ist, dass Milchaustauscher mit bei uns verbotenen Fetten in Holland und anderen Ländern eingesetzt werden können und anschließend die Kälber bei uns auf den Markt kommen und bei uns gemästet werden können. Man muss sich ferner fragen, ob es für Sie vertretbar ist, dass die Diskussion über Fischmehl in anderen Ländern in völlig anderer Weise als bei uns geführt wird, dass Rindfleisch bei uns getestet wird, sobald die Rinder 24 Monate alt sind, während in anderen Ländern lediglich das Fleisch von 30 Monate alten Rindern getestet wird oder überhaupt nichts geschieht, und dass wir immer noch argentinisches bzw. südamerikanisches Rindfleisch bekommen, das überhaupt nicht getestet ist, obwohl wir wissen, dass gegen Maul- und Klauenseuche geimpft wird, sodass wir den Verbrauchern eigentlich sagen müssten, dort gelte ein anderer Standard als bei uns. ({14}) Frau Ministerin, Sie haben mit Stolz vermerkt, dass Sie mehr Geld im Haushalt haben. Sie haben aber auch viel mehr Aufgaben bekommen. Wenn ich das Mehr an Aufgaben in Ihrem Ministerium dem Mehr an Geld gegenüberstelle, dann ergibt sich daraus aber, dass Sie weniger Geld für die Agrarpolitik und für unsere Bauern zur Verfügung haben, wenn Sie die zusätzlichen Aufgaben erfüllen wollen. Das müssen Sie den Bauern aber auch sagen. ({15}) Sie haben erwähnt, dass die 1,8 Milliarden DM für die Gemeinschaftsaufgabe ein für Sie ganz wichtiger Posten sind. Ich halte die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für eine ganz wesentliche Aufgabe. Aber Sie müssen dann auch sagen, was die Länder mit diesem Geld machen, ob sich die Länder überhaupt an den Ausgaben für die Gemeinschaftsaufgabe beteiligen und ob diese Ausgaben auch in Ihrem Sinne sind. ({16}) Ich erinnere daran, dass Schleswig-Holstein im letzten Jahr von den reichlich 90 Millionen DM, die es aus der Gemeinschaftsaufgabe erhalten hat, 9,3 Millionen DM nicht ausgegeben hat. ({17}) Rechnet man zu diesen 60 Prozent die 40 Prozent Landesmittel hinzu, ergeben sich Zuschüsse in Höhe von 15 Millionen DM für die Landwirtschaft, meinetwegen auch für die Umstrukturierung der Landwirtschaft. Aber nichts davon ist ausgegeben worden. ({18}) Weil wir immer davon sprechen, dass die Agrarwende dazu führen soll, dass wir mehr ökologischen Landbau bekommen, ({19}) erinnere ich auch daran, Frau Ministerin, dass in diesem Bereich ebenfalls einige Ausgaben vorgesehen sind. Schleswig-Holstein hat für die Förderung des ökologischen Landbaus im letzten Jahr 930 000 DM ausgegeben. ({20}) Dagegen hat der Freistaat Bayern - lieber Kollege Weisheit, Sie werden das sicher gleich lobend erwähnen für die Förderung des ökologischen Landbaus 44 Millionen DM ausgegeben. Das sind Zahlen, die sich sehen lassen können! ({21}) Herr Minister Miller sprach Geld für Naturschutzaufgaben an. ({22}) - Nein, mein Lieber, das glaube ich nicht. Nehmen Sie das erst einmal so hin. Warten Sie, bis der nächste Vergleich kommt. Bis vor einigen Jahren gab es die Richtlinie 2078 der Europäischen Union. Diese Richtlinie beinhaltete, dass man Geld für Umweltmaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft ausgeben konnte, Herr Minister Miller. In Bayern, in Baden-Württemberg und - um nicht nur die westdeutschen Länder zu nennen - in Sachsen ({23}) - bei Thüringen weiß ich es im Moment nicht - sind über 400 DM je Hektar ausgegeben worden. In Schleswig-Holstein wurden 31 DM pro Hektar ausgegeben, ({24}) in Niedersachsen 29 DM pro Hektar. Stellen Sie sich bitte nicht hier hin und sagen, Sie wollten eine Agrarwende, sondern sagen Sie das erst einmal Ihren roten und grünen Freunden, damit sie das machen, was sie bei Ihnen machen können. ({25})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Carstensen, kommen Sie bitte zum Schluss.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich habe es schon gemerkt. Ich konnte meine fantastisch vorbereitete Rede zur Seite legen. ({0}) Ich glaube, es war notwendig, auf einige Punkte hinzuweisen. Peter H. Carstensen ({1}) Frau Ministerin Künast, hier hat niemand etwas gegen ökologischen Landbau. ({2}) Der ökologische Landbau verzeichnet einen Boom. Viele haben aber etwas dagegen, dass dieser Boom zusätzlich unterstützt wird und dass dieser dazu führt, dass 97 bis 98 Prozent unserer Landwirte durch Äußerungen, wie Sie sie im „Stern“ gemacht haben, diskreditiert werden. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Matthias Weisheit von der SPD-Fraktion das Wort.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Das lief mal wieder so ab, wie es zu erwarten war. ({0}) Als ich den Antrag der F.D.P.-Fraktion gelesen habe, habe ich mich gewundert. Der Kollege Heinrich brennt hier ein Feuerwerk an Negativäußerungen über die Regierung und die Koalition ab; ({1}) dies geht beim Kollegen Miller nahtlos weiter. ({2}) Bei den Kollegen Carstensen und Ronsöhr habe ich ohnehin nichts anderes erwartet. Ganz am Schluss kommt in Ihrer Rede eine Auflistung all der Forderungen Ihres Antrages, die wir, seit wir an der Regierung sind, in Brüssel umzusetzen versuchen. ({3}) - Natürlich. - Diese wurden vorher niemals angegangen. Erst einmal muss alles niedergemacht werden, um danach flugs dieselben Forderungen zu stellen, ({4}) um dabei gewesen zu sein, weil Sie genau wissen, dass das, was die Regierung als Agrarwende bezeichnet - ich bezeichne es eher als Neuorientierung der Agrarpolitik -, in Brüssel und bei uns durchgesetzt werden kann. Da können Sie schreien und lamentieren, soviel Sie wollen. ({5}) Dieser Agrarbericht bietet die Chance dazu, das zu tun, was die Opposition gemacht hat. Er bietet aber auch die Chance, ein wenig in die Zukunft zu blicken. ({6}) Die BSE-Krise und die anschließenden öffentlichen Diskussionen um BSE haben deutlich aufgezeigt, dass es eine riesige Diskrepanz gibt zwischen dem, was sich eine große Mehrheit der Bevölkerung und der Verbraucher unter landwirtschaftlicher Lebensmittelproduktion vorstellt, und den Erwartungen, die sie an die Landwirtschaft hat, sowie der Realität. Diese Diskrepanz ist durch BSE das erste Mal sehr deutlich geworden. Daraus gilt es Konsequenzen zu ziehen. Ich will nicht darüber philosophieren, welche Gründe diese Diskrepanz hat und wer dafür Verantwortung trägt. Tatsache ist, dass wir die Agrarpolitik in der Zukunft so gestalten müssen, dass die Verbraucherwünsche nach höchster Sicherheit der Lebensmittel erfüllt werden und dass die Produktionsprozesse vor allem in der Tierhaltung und der Fütterung den ethischen Maßstäben genügen, die in der Bundesrepublik nun einmal höher sind als anderswo. Dies gilt auch für die Tierschutzmaßstäbe. Das bedeutet, es darf in Zukunft kein Tiermehl mehr im Futter geben. Wenn Sie den Erfolg, dass nicht am 30. Juni dieses Jahres, sondern erst am 31. Dezember des nächsten Jahres wieder neu über das Tiermehl geredet wird und sein Einsatz bis dahin verboten bleibt, auch mithilfe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ - was soll sie auch anderes schreiben, es ist schließlich Ihre Zeitung ({7}) niederreden wollen, dann tun Sie genau das, was Sie auch gegenüber den Bauern immer tun: Sie malen Schwarz und sagen, es gehe nicht mehr schlimmer. Sie behindern damit jeglichen Fortschritt und jegliche Zukunftsorientierung. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weisheit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich mag heute nicht. - Es darf, wie gesagt, um diesen Verbraucherwünschen gerecht zu werden, kein Tiermehl mehr im Futter geben, und zwar auch über 2003 hinaus nicht. Dafür werden wir uns einsetzen. Ich bin mir sicher, dass wir das auch durchsetzen. ({0}) - Nicht „oh, oh“, sondern da bin ich mir sicher, Uli. Es muss eine offene Futtermitteldeklaration geben und eine Positivliste verbindlich werden. Die Antibiotika müssen verschwinden, und zwar früher als 2005. Wenn man im Wissen darum, wie langsam sich die Schnecke EU bewegt, früher damit angefangen hätte, mit Nachdruck auf EU-Ebene zu verhandeln, dann wären wir vielleicht heute schon so weit. Aber es ist eben erst recht spät damit begonnen worden. Dass inzwischen unsere Bauern - das hat die Waltraud eben schon gesagt - als Marktwirtschaftler schon selber darauf verzichten, ist doch hervorragend. Dann müssen wir das nur noch für die anderen verbieten. Wir können mit einem deutschen bzw. regionalen Qualitätssiegel unsere Produktion zertifizieren und Peter H. Carstensen ({1}) erreichen dadurch einen Wettbewerbsvorteil für die Betriebe. Auf diesem Weg befinden wir uns. Die Tierhaltungsformen müssen den hohen Ansprüchen der Bevölkerung gerecht werden. Eine gegliederte Kulturlandschaft, die Pflege von Natur, die Sorge für Artenvielfalt und sauberes Wasser und ein möglichst geringer Einsatz von Chemie sind weitere Ansprüche der Gesellschaft, denen Agrarpolitik stärker als bisher gerecht werden muss. Zukünftig gilt es, hierfür Geld auszugeben. Der „mid term review“ der EU-Agrarpolitik bietet hierfür eine große Chance, die ja nicht unbeträchtlichen Steuermittel der EU endlich dafür zu verwenden, gesellschaftlich gewollte Leistungen der Landwirtschaft und nicht wie bisher Produkte angemessen zu entlohnen. Die bisherige Logik des Preisausgleichs führte doch zu dem auch sozialpolitisch unverträglichen Zustand, dass diejenigen Landbewirtschafter - ich wähle das Wort mit Absicht - mit den besten Böden und den günstigsten Strukturen den Löwenanteil der Ausgleichszahlungen kassierten. Das ist die Fehlallokation, Peter Harry, von der die Rede war. Für die Bewirtschaftung der besten Böden mit den günstigsten Voraussetzungen und dem niedrigsten Aufwand bekommt man die höchsten Ausgleichszahlungen. Das ist die bisherige Praxis der EU-Agrarpolitik. Genau die muss geändert werden. ({2}) - Das ist so. ({3}) - Natürlich. Diejenigen, die unter schwierigsten Bedingungen - zum Beispiel bei uns im Allgäu, Herr Minister Miller, oder im Bayerischen Wald - Kultur- und Erholungslandschaften pflegen und damit eine sehr wichtige und gesellschaftlich gewollte Leistung erbringen, bekommen von der EU nur die Brosamen, die übrig bleiben, und vom Land nur dann etwas drauf, wenn es sich das leisten kann - es ist schön, dass Bayern es sich leisten kann. Letztendlich muss es zum Grundprinzip werden, dass die EU-Milliarden für diese Leistungen und nicht mehr für an die Produktion gekoppelte Ausgleichszahlungen ausgegeben werden. Die zweite Säule der Agenda stellt einen ersten Schritt in diese Richtung dar, sie muss aber weiter ausgebaut werden, da sie bisher zu knapp ausgestattet ist. Es gibt viel zu viele bürokratische Hemmnisse, um diese Idee umzusetzen. Das trifft auch auf die Modulation zu, die wir heute mit unserem Antrag beschließen werden. Wenn aber so viel Bürokratie von Brüssel verlangt wird, ist das ungeheuer schwierig. Deswegen wird sich auch die Summe in Grenzen halten, die wir für die Modulation einsetzen können. Selbstverständlich muss da in Brüssel noch einiges bewegt werden, um hier Lockerungen zu erreichen und andere Schwerpunkte zu setzen. Die Bundesregierung und wir als Fraktionen arbeiten aber daran, indem wir in Gesprächen mit unseren Kollegen in Frankreich, Großbritannien und Dänemark über diese Probleme versuchen, eine Veränderung der Einstellung hinzubekommen. ({4}) Jetzt muss ich einmal nachschauen, was ich sagen wollte. ({5}) - Nein, jetzt reizt ihr mich aber gewaltig. - Ich möchte noch etwas zu dem Problem der Kulturlandschaftspflege, die zu entlohnen ist, sagen. Das wird bisher immer als ein Punkt angesehen, der eigentlich nicht notwendig ist, und man sagt: Über den Preis für die Produkte wird das Einkommen erzielt und das andere geht nebenbei. ({6}) - Hier stimme ich mit euch ausdrücklich überein, Uli Heinrich, ({7}) aber eure bisherige Politik hat dem natürlich nicht entsprochen. ({8}) - Weil sie nicht vorbereitet war. ({9}) - Jetzt rede nicht so daher. - Die Agenda 2000 war ein Einstieg - das habe ich gerade gesagt - und es muss noch viel weiter gehen. ({10}) - Wir konnten es gar nicht vorbereiten. Ihr wart vorher in der Regierung. Die war nicht vorbereitet. Eure Regierung hat dafür gesorgt, dass anstatt einer Gründlandprämie diese sinnlose Silomaisprämie wieder eingeführt worden ist. Das ist die Wahrheit im Zusammenhang mit der Agenda 2000. ({11}) - Hör doch endlich einmal auf damit. ({12}) - Nein, wir waren erst kurz an der Regierung, als wir das verhandelt haben. Ihr habt sie nicht vorbereitet. Das ist der springende Punkt. ({13}) Jetzt zwingt ihr mich aufgrund eurer Zwischenrufe, zum Schluss zu kommen. Nun sind wir an der Regierung. Die Regierung und die Fraktion bereiten diesen „mid term review“ auf allen Ebenen hervorragend vor. Wir werden dafür sorgen, ({14}) dass die EU-Milliarden und das Steuergeld in Zukunft für gesellschaftlich gewollte Leistungen der Landwirtschaft und nicht für Produkte ausgegeben werden. ({15}) Dann brauchen das die Länder auch nicht mehr in dem großen Maße wie bisher zusätzlich zu finanzieren, sondern dann wird das aus der EU-Kasse finanziert. Da ihr immer so auf Bayern und Baden-Württemberg abfahrt, möchte ich jetzt noch auf einen Punkt zu sprechen kommen. Vorhin wurde der Strukturwandel bejammert. Woran liegt es denn, dass Baden-Württemberg und Bayern heute dieses Geld ausgeben können? Das liegt daran, dass in den vergangenen 20 Jahren in der Gesamtwirtschaft dieser beiden Länder ein massiver Strukturwandel hin zum Guten stattgefunden hat. ({16}) Wenn der nicht stattgefunden hätte, dann wären die Länder noch heute Empfängerländer. Genauso ist es. Deswegen muss Strukturwandel auch in der Landwirtschaft stattfinden. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Peter Harry Carstensen.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Erstens. Ich kann auch andere Zeitungen zitieren. Wenn es der Kollege Weisheit gerne möchte, zitiere ich aus dem „Spiegel“, der nun wirklich nicht die Zeitung der CDU ist. Zweitens. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Erklärung, was die kontraproduktive Fehlallokation ist. Drittens, sage ich aber, Kollege Weisheit, ist es nicht richtig, dass derjenige mit den besten Böden und der besten Struktur die meisten Flächenprämien bekommt. Die Flächenprämien waren Preisausgleichszahlungen und wurden nach dem durchschnittlichen Ernteertrag berechnet. Ich kann dazu feststellen, dass zum Beispiel in Schleswig-Holstein die Flächenprämie nach einem Durchschnitt von 72 Doppelzentner berechnet wird. Diejenigen, die gute Böden und gute Strukturen haben sowie einen guten Ertrag etwa von 100 Doppelzentner erwirtschaften, bekommen wesentlich weniger und diejenigen, die schlechte Böden und schlechte Strukturen haben, bekommen wesentlich mehr. Insofern ist das, was Sie gerade gesagt haben, falsch. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zur Erwiderung hat der Kollege Weisheit das Wort. ({0})

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, es gibt nichts zu entschuldigen. Meine Ausführungen gelten im Prinzip trotzdem. Wenn Schleswig-Holstein nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, dass das Land in Regionen eingeteilt wird, wie das andere Bundesländer getan haben, und einen Durchschnittsertrag für das gesamte Land berechnet, dann mag das dort stimmen, aber nur dort.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5326 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen, und zwar zunächst zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen auf Drucksache 14/6346. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6347 federführend an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und zur Mitberatung an folgende Ausschüsse zu überweisen: Finanzen, Wirtschaft und Technologie, Arbeit und Sozialordnung, Gesundheit, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Angelegenheiten der Europäischen Union und an den Haushaltsausschuss. - Das Haus ist damit einverstanden. Die Überweisung ist so beschlossen. Die Entschließungsanträge der Fraktion der F.D.P. auf Drucksachen 14/6343 und 14/6345 sollen überwiesen werden: zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und zur Mitberatung an die Ausschüsse für Wirtschaft und Technologie, Arbeit und Sozialordnung, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. - Auch dies ist so beschlossen. Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/5580. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf der Drucksache 14/5222 mit dem Titel „Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz sein - Zukunftsfähige Landwirtschaft ermöglichen - Gegen BSE mit einem vernetzten Bekämpfungsplan vorgehen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksache 14/5228 mit dem Titel „Neuausrichtung der Agrarpolitik: Offensive für den Verbraucherschutz - Perspektiven für die Landwirtschaft“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 4 c. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/5908. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des „Vorschlags für eine Verordnung des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Zucker“, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 4 d. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5909 die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/4544 mit dem Titel „Nachhaltige Entwicklung für ländliche Räume“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das ist ja langweilig: Immer dieselben Abstimmungsverhältnisse! ({0}) Also: Angenommen mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/5080 mit dem Titel „Ländlichen Raum gemeinsam mit der Landwirtschaft stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenergebnis wie soeben angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Kenntnisnahme des Berichts der Bundesregierung auf Drucksache 14/4855 mit dem Titel „Politik für ländliche Räume: Ansätze für eine integrierte regional- und strukturpolitische Anpassungsstrategie“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Es hat doch gewirkt, was ich gesagt habe. ({1}) Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenom- men. Zusatzpunkt 1. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5900 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis h sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2000/52/EG der Kommission vom 26. Juli 2000 zur Änderung der Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen ({2}) - Drucksache 14/6280 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. November 1999 zur Ergänzung des Abkommens vom 9. September 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta über den Luftverkehr und zu dem Protokoll vom 27. Mai 1999 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Katar zum Abkommen vom 9. November 1996 über den Luftverkehr - Drucksache 14/6109 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) Finanzausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Medizinproduktegesetzes ({5}) - Drucksache 14/6281 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung offener Fragen des Rechts an Grundstücken in den neuen Ländern ({6}) - Drucksache 14/6204 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({7}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Schutzes gefährdeter Zeugen - Drucksachen 14/638, 14/6279 ({8}) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({9}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend f) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Vermögensgesetzes ({10}) - Drucksache 14/5091 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({11}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Völkerrechtliche Ächtung von Munition, die Uran oder andere radioaktive Elemente enthält - Drucksache 14/5509 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({12}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga, Annette Faße, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Kerstin Müller ({13}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Schiffssicherheit auf der Ostsee verbessern - Drucksache 14/6211 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Dreiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Drucksache 14/6311 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({15}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Beschäftigung älterer Arbeitnehmer fördern und Einstellungshindernisse abbauen - Drucksache 14/5579 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({16}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/6311, Zusatzpunkt 2 a, soll, abweichend von der Tagesordnung, nicht an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis j, 26 sowie die Zusatzpunkte 3 a bis c auf. Eine Aussprache ist hier ebenfalls nicht vorgesehen. Tagesordnungspunkt 30 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Dezember 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Panama über den Luftverkehr - Drucksache 14/4988 ({17}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18}) - Drucksache 14/6123 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich ({19}) Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/6123, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Kollege Ronsöhr, möchten Sie sich enthalten? ({20}) - Das ist gut. - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Mai 1997 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Estland über den Luftverkehr - Drucksache 14/4989 ({21}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({22}) - Drucksache 14/6124 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich ({23}) Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/6124, auch diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte noch einmal diejenigen, die zustimmen möchten, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Keine Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom 27. April 1999 und 8. Juli 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit, Auslieferung, Rechtshilfe sowie zu dem Abkommen vom 8. Juli 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Durchgangsrechte - Drucksache 14/5735 ({24}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({25}) - Drucksache 14/6333 Berichterstattung: Abgeordnete Günter Graf ({26}) Sylvia Bonitz Marieluise Beck ({27}) Dr. Max Stadler Ulla Jelpke Der Innenausschuss empfiehlt auf der Drucksache 14/6333, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, um ihr Handzeichen. ({28}) - Setzen, Herr Kollege Uldall. Also noch einmal: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU bei Gegenstimmen der PDS und Enthaltung der F.D.P. angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich jetzt zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Ergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 30 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit - Drucksache 14/6100 ({29}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({30}) - Drucksache 14/6336 Berichterstattung: Abgeordnete Doris Barnett Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf der Drucksache 14/6336, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer diesem Gesetzentwurf zustimmen möchte, hebe bitte die Hand. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einmütig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung von Gesetzen und anderen Vorschriften auf dem Gebiet des Gesundheitswesens auf Euro ({31}) - Drucksache 14/5930 ({32}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({33}) - Drucksache 14/6306 Berichterstattung: Abgeordneter Eike Maria Hovermann Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 14/6306, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer möchte zustimmen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte die zustimmenden Kolleginnen und Kollegen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Tagesordnungspunkt 30 f: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Korea über soziale Sicherheit - Drucksache 14/6110 ({34}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({35}) - Drucksache 14/6334 Berichterstattung: Abgeordnete Ekin Deligöz Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/6334, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer stimmt zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu einem Wahleinspruch gegen die Gültigkeit der Berufung eines Listennachfolgers gemäß § 48 Bundeswahlgesetz ({36}) - Drucksache 14/6201 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Wolfgang Bötsch Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6201, den Wahleinspruch zurückzuweisen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen nun unter Tagesordnungspunkt 30 h bis 30 j zu Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 30 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 274 zu Petitionen - Drucksache 14/6183 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 274 ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 30 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 275 zu Petitionen - Drucksache 14/6184 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Sammelübersicht ist bei Enthaltung der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 30 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 276 zu Petitionen - Drucksache 14/6185 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 276 ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 26: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes ({40}) - Drucksache 14/5943 ({41}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({42}) - Drucksache 14/6335 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Kramme Wer stimmt zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der F.D.P. und bei Enthaltung der PDS angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer stimmt zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen. Zusatzpunkt 3 a: Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({43}) a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Jüdisches Museum Berlin“ - Drucksache 14/6028 ({44}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({45}) - Drucksache 14/6331 Berichterstattung: Abgeordneter Eckhardt Barthel ({46}) Dr. Norbert Lammert Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Dr. Antje Vollmer Hans-Joachim Otto Dr. Heinrich Fink bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({47}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/6356 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Hans Georg Wagner Jürgen Koppelin Dazu darf ich mitteilen, dass es eine Erklärung mehrerer Abgeordneter nach § 31 der Geschäftsordnung gibt, und zwar der Abgeordneten Norbert Lammert, CDU/CSU, Bernd Neumann ({48}), CDU/CSU, Hartmut Koschyk, CDU/CSU, Anton Pfeifer, CDU/CSU, Margarete Späte, CDU/CSU, Erika Steinbach, CDU/ CSU, Rita Süssmuth, CDU/CSU, Hans-Joachim Otto, F.D.P. Die Erklärung wird zu Protokoll genommen.1) Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Zusatzpunkt 3 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung der umweltrechtlichen Vorschriften auf den Euro ({49}) - Drucksache 14/5641 ({50}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({51}) - Drucksache 14/6351 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Kelber Marie-Luise Dött Winfried Hermann Birgit Homburger Eva Bulling-Schröter Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie zustimmen möchten. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 3 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/5944 ({52}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({53}) - Drucksache 14/6350 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Brinkmann ({54}) Volker Kauder Volker Beck ({55}) Rainer Funke Dr. Evelyn Kenzler Wer möchte dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung angenommen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. Haltung der Bundesregierung zu den erneut korrigierten Wachstumsprognosen der deutschen Wirtschaftsinstitute und den daraus resultierenden Folgen Ich gebe für die antragstellende Fraktion dem Kollegen Rainer Brüderle das Wort.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! „Die Konjunktur schmiert ab“, schreibt „DER SPIEGEL“ von diesem Montag. „Inflationsein- bruch in der Euro-Zone“, titelt die „Financial Times Deutschland“ am Dienstag. „Regierung rechnet mit Null- wachstum“, steht in der „Welt“ vom Mittwoch. „Progno- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters 1) Anlage 2 sen im Sturzflug“, lautet die Schlagzeile in der „Berliner Morgenpost“ von heute. ({0}) Jeden Tag gibt es eine neue Hiobsbotschaft - Sie verstehen es anscheinend nicht - von der Konjunktur- und Preisfront. Das ist die Lage im Sommer 2001 in Deutschland. Ich zitiere noch einmal den Kommentar in der „Financial Times Deutschland“: Viel zu lange haben Politiker wie Bundeskanzler Gerhard Schröder glauben machen wollen, dass der Abschwung nur ein Phantom ist, von bösen Pessimisten herbeigeredet. Gleichzeitig wird die Bundesregierung auf dem EU-Gipfel in Göteborg von den europäischen Regierungschefs für ihre schlechte Wirtschafts- und Finanzpolitik gescholten, denn die lahme Ente Deutschland reißt ganz EuroLand in eine Wachstumskrise. Was macht diese Regierung? Nichts! Grün-Rot leistet sich ein fröhliches „Weiter so!“. Der Kanzler schweigt und taucht ab. Wenn einmal Monopolminister Müller in einem Anflug von schonungsloser Ehrlichkeit vom „Nullwachstum“ spricht, wird er offensichtlich sofort zum öffentlichen Widerruf und zur Selbstkritik bewegt. Jetzt erzählt Herr Müller wieder das Märchen von einem Wachstum von 2 Prozent in diesem Jahr. Zuvor hat er das Märchen von einem Wachstum von 2,75 Prozent erzählt. Aber wir brauchen keine Märchentanten. Wir brauchen ganze Kerle und „Kerlinnen“, die den Kampf gegen die drohende Stagflation aufnehmen. ({1}) - Man muss dem Zeitgeist Rechnung tragen, Frau Kollegin. Diese sitzen aber offensichtlich nicht auf der Regierungsbank. Herrn Müller, Herrn Eichel, Herrn Riester und erst recht Herrn Schröder scheint nicht zu interessieren, was die Menschen im Lande bewegt. ({2}) Heute ist, wie ich in der Zeitung gelesen haben, der Tag des Schlafes. Vielleicht gönnt sich die Regierung ein ausgiebiges Schläfchen. ({3}) Ich kann im Interesse Deutschlands nur sagen: Aufwachen, Herr Bundeskanzler! Das ist Ihr Abschwung. ({4}) 3,5 Prozent Inflationsrate in Deutschland und 3,4 Prozent in Euro-Land sind Werte, wie wir sie seit acht oder neun Jahren nicht kannten. Die Inflation kehrt offenbar zurück. Die Stichworte hierzu sind: Ökosteuer und Stromumlage. In Deutschland haben wir eine saisonbereinigte Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Das ist keine Bewertung von bösen Vertretern der Opposition. Herr Noé, der bis vor kurzem noch Staatssekretär der SPD im Bundesfinanzministerium war, ({5}) spricht das aus, was auch andere Konjunkturforscher sagen. Diese Entwicklung ist eine Art Frühindikator einer anstehenden Rezession. ({6}) Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sieht eine Rezessionsgefahr in Deutschland. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Walter, sagt öffentlich, dem Bundeskanzler werde sein Versprechen, die Arbeitslosigkeit auf bescheidene 3,5 Millionen zu senken, um die Ohren fliegen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute korrigieren in Rekordzeit ihre Wachstumsprognosen. Was tun Sie? Sie tun nichts bzw. das Falsche. Sie erhöhen die Krankenversicherungsbeiträge. Sie werden morgen die Mitbestimmung verschärfen. Diese Regelung werden Sie durchziehen ({7}) und den deutschen Mittelstand damit drangsalieren. Morgen Abend um 20 Uhr wird das Postmonopol in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlängert und damit werden Zehntausende von Arbeitsplätzen in Deutschland aktiv gefährdet. ({8}) Sie versündigen sich am Wirtschaftsstandort Deutschland. ({9}) Ich appelliere an die Regierung: Schauen Sie nicht weiter tatenlos zu, wie die Konjunktur bei uns immer schwächer, wie der Verfall erkennbar wird, wie die Stagflation droht und eine Rezession nicht auszuschließen ist. Was wir brauchen, ist ein schnelles Handeln, ein Blitzprogramm, und zwar besser heute als morgen. ({10}) Erstens. Grün-Rot muss die Steuerreformstufen vorziehen. Frau Scheel als Dampfplauderin erzählt uns das Gleiche. Natürlich wird es nicht gemacht, genauso wie Rezzo Schlauch als Dampfplauderer etwas Richtiges vom Arbeitsmarkt erzählt. Nur handelt keiner. Zweitens sollte der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung so schnell wie möglich um einen Prozentpunkt sinken. Das bringt eine Entlastung in Höhe von 13 Milliarden DM. Drittens. Grün-Rot muss auf die mittelstandsfeindliche und teure Verschärfung der Mitbestimmung, auf die nächste Stufe der die Inflation anheizenden Ökosteuer und auf die investitionsschädlichen neuen Abschreibungstabellen verzichten. Sie sehen, die Amerikaner haben gehandelt. Sie haben ihre Steuerreform vorgezogen. Die Amerikaner bekommen in Kürze die ersten Steuerentlastungsschecks in die Hände. Die Amerikaner handeln und werden deshalb auch diese Konjunktureinbrüche eher als wir bewältigen können. Sie können es täglich an den Währungsbörsen der Welt sehen: Der Wert des Euro spiegelt die Bewertung des Euro-Landes und insbesondere des größten Teils des Euro-Landes, von Deutschland, in der Welt wider. ({11}) Der Euro ist mit einem Wert von 1,18 US-Dollar gestartet. Jetzt dümpelt er bei 85 Cent herum. ({12}) Weil die Entwicklung draußen in der Welt genauso empfunden wird, sind seit der Einführung des Euro mehr als 400 Milliarden Euro aus dem Euro-Land abgezogen worden. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres sind aus Deutschland 80 Milliarden Euro abgeflossen und woanders angelegt worden.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Brüderle, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dies geschah, weil man dieser Regierung nicht mehr zutraut, zu handeln. Deshalb: Tun Sie es! Beschimpfen Sie nicht die Opposition, die ihre Pflicht tut! Erfüllen Sie vielmehr Ihre Pflicht, damit es in Deutschland nicht noch weiter abwärts geht. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Karl Diller, das Wort.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die von einigen Wirtschaftsforschungsinstituten vorgelegten neuen Prognosezahlen ({0}) lauten: Das Kieler Institut für Weltwirtschaft prognostiziert statt wie im März 2,1 Prozent jetzt 1,3 Prozent, das Hamburger Weltwirtschaftsarchiv prognostiziert statt wie im März 2,3 Prozent jetzt 1,7 Prozent, Herr Professor Rürup vom Sachverständigenrat prognostiziert eine Spanne von 1,6 bis 1,8 Prozent. Bemerkenswert ist an diesen Zahlen im Prinzip nur eines, meine Damen und Herren: ({1}) Trotz der Verlangsamung des Wachstums sind die genannten prognostizierten Zahlen von 1,6 bis 1,8 Prozent immer noch deutlich höher als die durchschnittliche Steigerungsrate in Ihrer Regierungszeit, die in den Jahren 1991 bis 1998 bei 1,3 Prozent lag. ({2}) Herr Brüderle, wäre er damals schon hier gewesen und hätte es jedes Jahr eine solche Steigerungsrate gegeben, wie er sie heute befürchtet und beklagt, hätte dies zum Anlass genommen, eine freudige Pressemitteilung zu machen. ({3}) Dank unserer Wirtschaftspolitik erreichte das Wirtschaftswachstum im letzten Jahr stolze 3 Prozent real. Dabei hatten wir schon im zweiten Halbjahr 2000 eine konjunkturelle Abschwächung mit Zuwächsen von nur 0,3 Prozent im dritten und 0,2 Prozent im vierten Quartal. Im ersten Quartal dieses Jahres dagegen hat sich diese Entwicklung nicht fortgesetzt; denn das Bruttoinlandsprodukt erhöhte sich um 0,4 Prozent gegenüber dem vorigen Quartal und übertraf damit die entsprechenden Zuwächse in der zweiten Hälfte des letzten Jahres. Schaltet man noch Kalendereinflüsse aus, lag das bereinigte BIP um 2 Prozent höher als im ersten Quartal des Jahres 2000. Die Entwicklung der aktuellen Konjunkturindikatoren - Geschäftsklima, Auftragseingänge, Produktion - liegt im Rahmen der Erwartungen der Frühjahrsprojektion der Bundesregierung. Wir waren damals realistisch und haben einiges von dem, was die Institute nun in ihren Prognosen korrigieren, schon vorweggenommen. Es ist noch zu früh, eine Einschätzung des Wirtschaftswachstums für das zweite Quartal vorzunehmen. Die meisten Konjunkturexperten gehen aber von einer Fortsetzung der Aufwärtsbewegung im weiteren Jahresverlauf aus; das gilt im Übrigen auch für das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ein Wachstum, das innerhalb des Bereichs unserer Prognose liegt, sind weiterhin günstig, Herr Brüderle: Erstens. Die Auftragsbestände der Unternehmen lagen von Januar bis April dieses Jahres um rund 3 Prozent über dem schon sehr hohen Niveau des Vorjahres. Zweitens. Die Produktionstätigkeit ist seit Jahresbeginn noch um 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Drittens. Der Umfang der Exporte übertraf in den ersten vier Monaten dieses Jahres trotz weltwirtschaftlicher Abschwächung das hohe Niveau des Vorjahres real um - sage und schreibe - 11,5 Prozent. ({4}) Viertens. Die Kapazitätsauslastung im verarbeitenden Gewerbe ist im langfristigen Bereich noch sehr hoch. Fünftens. Die langfristigen Nominalzinsen sind niedrig. Sechstens. Die Lohnabschlüsse aus dem Vorjahr sind stabilitäts- und beschäftigungsorientiert. ({5}) Die wirtschafts- und finanzpolitischen Weichenstellungen der Bundesregierung tragen zu einer Stabilisierung der konjunkturellen Entwicklung bei; denn mit dem Nachlassen der durch Sonderfaktoren bedingten Preissteigerungen im Verlauf des Jahres, Herr Michelbach, werden die positiven Effekte der Steuerreform zunehmend spürbar. Ich zitiere Professor Scheide vom Weltwirtschaftsinstitut. Er sagte in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ gestern als Antwort auf die Frage, weshalb sich die Geldentwertung plötzlich beschleunige, Folgendes: Es sind reine Sondereffekte: Benzin ist sehr teuer geworden, weil die Amerikaner auf dem Rotterdamer Markt eingestiegen sind und so den Preis in die Höhe getrieben haben. Hier gibt es bereits wieder eine gewisse Beruhigung. Und dann BSE und die Maul- und Klauenseuche: Wir wussten, dass es diese Seuchen gibt, aber wie sehr dies die Preise antreibt, das konnten wir nicht ahnen. ({6}) Ohne diese Sondereffekte läge die Inflationsrate deutlich unter 1,5 Prozent. Die Auswirkungen dieser Sondereffekte werden bis Ende dieses Jahres auslaufen. Herr Brüderle, nach allem gibt es keinen Anlass, die konjunkturelle Lage schwarz zu malen; wohl aber gibt es Anlass, über die Seriosität des Herrn Brüderle nachzudenken; ({7}) denn Herrn Brüderles Blitzprogramm würde in das absolute Chaos führen. Er hat heute wiederholt, was er fordert. Den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung um einen Prozentpunkt zu senken ({8}) würde bedeuten, dass die Bundesanstalt für Arbeit im Jahr 14 000 Millionen DM weniger zur Verfügung hätte. Das heißt, das Programm für eine aktive Arbeitsmarktpolitik müsste um ein Drittel oder sogar um die Hälfte zusammengestrichen werden. ({9}) Das zöge Hunderttausende von zusätzlichen Arbeitslosen nach sich. Das ist das Rezept von Herrn Brüderle. ({10}) Wenn man seiner Forderung folgte und aus dem Haushalt des Bundes der Bundesanstalt für Arbeit 14 Milliarden DM zuweisen würde, dann wäre der Haushalt des Bundes sofort wieder verfassungswidrig. ({11}) Ich stelle fest: Herr Brüderle war als Wirtschaftsminister meines Bundeslandes ein sehr seriöser Mann. ({12}) Er wurde in Rheinland-Pfalz Wirtschaftsminister, als unsere Partei mit seiner dort eine Koalition eingegangen war. Seitdem er hier ist, ist er leider Gottes von der waigelschen Krankheit befallen, nämlich immer mehr Schulden zu machen. Das ist Ihr Rezept. ({13}) Außerdem fordert er jetzt, die Steuersenkungen für das Jahr 2005 auf das Jahr 2002 vorzuziehen. Das zu tun, würde bedeuten, dass Bund, Länder und Gemeinden im nächsten Jahr zusätzliche Einnahmeminderungen von mehr als 45 000 Millionen DM verkraften müssten. Dadurch wäre nicht nur der Haushalt des Bundeslandes Rheinland-Pfalz verfassungswidrig; vielmehr wären auch die Haushalte des reichen Bayern, des reichen Hessen und des reichen Baden-Württemberg verfassungswidrig. ({14}) Das Gleiche gilt erst recht für den Bund. Ihre Rezepte sind die Rezepte des Herrn Waigel, der von der Bevölkerung zu Recht abgelehnt wurde. ({15}) Schauen wir uns doch noch einmal an, was uns die Wirtschaftswissenschaftler empfehlen. Professor Scheide vom Kieler Institut für Weltwirtschaft ist im vorhin genannten Interview gefragt worden: Was empfiehlt der Konjunkturforscher in dieser Situation den Politikern? ({16}) Seine Antwort lautete: Die Abschwächung wurde nicht durch Fehler der Politik ausgelöst, deshalb gibt es auch keine solchen zu korrigieren. Unser Rat ist: Keine Hektik! Weiter heißt es: Der Rat an die Finanzpolitik heißt ebenfalls: Ruhe bewahren! Genau das ist unsere Linie. Vielen Dank. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Gunnar Uldall.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wir haben eben gehört, wie Herr Staatssekretär Diller versucht hat, die schlechten Wirtschaftsdaten und insbesondere die schlechten Wachstumsraten zu verniedlichen. Herr Kollege Diller, Sie können sicherlich viel darum herumreden. Nur eines können Sie nicht machen, nämlich die renommierten Wirtschaftswissenschaftler der Forschungsinstitute in Deutschland als Kronzeugen Ihrer Politik benennen; denn diese verurteilen einhellig die Politik, die Sie heute betreiben. ({0}) Insofern ist es geradezu eine Loriot-reife Nummer, wenn Sie diejenigen, die Sie kritisieren, zu Ihrer Unterstützung zitieren. ({1}) Fest steht: Die Steuerreform ist ein Fehlschlag gewesen. Es hat nicht den erwarteten Konjunkturschub gegeben. 89 Prozent der deutschen Bevölkerung sagen, dass sie die Auswirkungen der Steuerreform in ihrem Portemonnaie nicht oder nur in ganz geringem Maße spürten. Der deutsche Arbeitsmarkt stagniert. Es hat keinen Sinn, darum herumzureden oder es schönzureden. Es gibt nur eines, was permanent steigt, nämlich die Preise. Seit dem Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt - das ist fast 20 Jahre her - hat es nie eine solch hohe Inflationsrate wie in diesem Jahr gegeben. Damals stiegen die Preise um 5 Prozent. Seit der Übernahme der Regierung durch Gerhard Schröder kletterte die Preissteigerungsrate von 0,6 Prozent auf jetzt 3,5 Prozent. Als die Regierungsverantwortung an die Sozialdemokraten ging, herrschte Preisstabilität. Aber die Sozialdemokraten haben die Preisstabilität wiederum verspielt. ({2}) Hier wiederholt sich die Geschichte. Ich habe nachgelesen und festgestellt: Beim Antritt der SPD-Regierung im Jahre 1969 machten die Preise einen Sprung nach oben. Innerhalb der ersten drei Regierungsjahre der SPD verdreifachte sich die Inflationsrate und stieg Mitte der 70er-Jahre - das war der traurige Höhepunkt - auf 7,1 Prozent. Mit einer einzigen Ausnahme hat es in den 13 Jahren SPD-Regierung nicht ein einziges Jahr gegeben, in dem die Preissteigerungsrate unter 3,5 Prozent gelegen hätte. Genau dort sind wir jetzt wieder angekommen. Offensichtlich ist es so, dass eine Preissteigerungsrate von 3,5 Prozent der SPD-Mindestinflationssatz ist. Eine solche Wirtschaftspolitik dürfen wir uns in Deutschland nicht bieten lassen. ({3}) Dass es nicht so sein muss, haben wir in den 80er-Jahren erlebt. Damals herrschte 16 Jahre lang faktische Preisstabilität, allerdings mit einer einzigen Ausnahme, die immer wieder gerne angeführt wird, nämlich mit Ausnahme des Jahres der deutschen Wiedervereinigung. Aber es ist völlig klar, warum die Preise damals angestiegen sind: Als die Mauer geöffnet wurde, haben die Menschen aus der DDR, die jahre- und jahrzehntelang auf Autos, Telefonanschlüsse und Südfrüchte verzichten mussten, alles Versäumte nachgeholt. Aber wir haben es fertig gebracht, die Preissteigerungsrate sofort wieder zu senken. Insofern haben wir Ihnen damals ein gut gemachtes Bett hinterlassen, das Sie aber regelrecht verlottern ließen. ({4}) Dass Sie dies selber verursacht haben und eben nicht die Ölscheichs oder die Entwicklung der US-amerikanischen Konjunktur daran schuld ist, kann man zum Beispiel an der Entwicklung der Strompreise sehen. Es gibt eine Umlage für Kraft-Wärme-Kopplung, die Ökosteuer und einen Aufschlag für erneuerbare Energien. Das alles hat die Preise für Strom so nach oben getrieben, dass ein Vierpersonenhaushalt zusätzliche Kosten in Höhe von 660 DM pro Jahr verkraften muss. Da kann ich nur sagen: Egal, welche Erleichterungen Sie im Rahmen der Steuerreform versprechen, Sie können die Mehrbelastung nicht ausgleichen, treiben aber die Preise nach oben. Das trifft wiederum vor allen Dingen die sozial Schwachen. ({5}) Schauen wir uns einmal an, wer von den negativen Folgen getroffen wird: Getroffen werden vor allem die Rentnerhaushalte. Die Rentner mussten im vergangenen Jahr einen Kaufkraftverlust von 1 Prozent hinnehmen, in diesem Jahr kommen noch einmal 1,5 Prozent hinzu. Ich kann nur noch einmal feststellen: Es betrifft immer die sozial Schwächsten. Die Arbeitnehmerhaushalte werden in diesem Jahr einen realen Kaufkraftverlust von 1 Prozent zu verzeichnen haben. Es kann sich jeder ausrechnen, dass sich die Gewerkschaften das nicht bieten lassen und in den nächsten Tarifrunden kräftig zulangen werden. Auf diese Weise wird genau das Problem verstärkt, das wir heute schon zu beklagen haben, nämlich eine Stagflation. Die Konjunktur und der Abbau der Arbeitslosigkeit stagnieren, aber die Preise werden inflationiert. Deshalb kann man nur sagen: Herr Bundeskanzler, geben Sie mit einer vernünftigen Politik hinsichtlich Energie, Steuern und Arbeitsmarkt endlich die richtigen Signale für eine gute Wirtschaftspolitik nach vorne. Vielen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe der Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Uldall, es ist ein bisschen übertrieben, wenn Sie sagen, Sie hätten uns ein nettes Bett hinterlassen. Sie haben uns einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen. ({0}) Dieser Schuldenberg hat unsere Spielräume eingeengt, sodass wir das, was wir gerne tun würden, nicht mit der notwendigen Geschwindigkeit tun können. ({1}) Das ist das Problem, wenn man eine verantwortungsvolle Finanzpolitik macht: Man muss die Umstände, die man vorfindet, berücksichtigen und kann nicht alle Wünsche in dem Zeitrahmen erfüllen, den Sie sich vorstellen. ({2}) Gegenüber der letztjährigen Prognose haben wir bei der konjunkturellen Entwicklung derzeit eine Wachstumsdelle. Das ist unbestritten und darüber muss man nicht diskutieren. ({3}) Die Forschungsinstitute legen fast jeden Tag neue Zahlen vor, die wir nicht ignorieren wollen und können. Karl Diller hat sehr richtig auf die Sondereffekte bei den Preissteigerungen hingewiesen. Wir haben gesehen, dass der Konjunktureinbruch in den USA auch bei uns Wirkung zeigt. Das war zu erwarten, da der Anteil Deutschlands an den Ausfuhren in die USAim letzten Jahr 10,9 Prozent betrug. Daran kann man sehen, welcher Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Situation in den USA und den deutschen Ausfuhren in die USA besteht. Wenn weniger Aufträge eingehen, wird in den entsprechenden Sektoren ein geringeres Wirtschaftswachstum erwartet werden können. Das ist ein ganz normaler Effekt. ({4}) Auch wenn Sie so tun, als sei die Entwicklung eine absolute Katastrophe, muss man die Sache in einer vernünftigen und ruhigen Art und Weise betrachten. Wenn wir uns ansehen, wie sich das Wachstum in den 90er-Jahren entwickelt hat, müssen wir feststellen, dass das durchschnittliche Wachstum in den Jahren 1992 bis 2000 bei 1,5 Prozent lag, obwohl wir im Jahre 2000 bereits ein Wachstum von 3 Prozent hatten, was die Durchschnittszahlen entsprechend beeinflusst. Dagegen hatten wir zum Beispiel 1996 - in Ihrer Regierungszeit, wenn ich Sie daran vielleicht einmal erinnern darf - ein Wachstum von nur 0,8 Prozent. ({5}) Die Gesamtsituation gibt Anlass zu ernsthaften Sorge um den Arbeitsmarkt, etwa darüber, dass die Zahl der Arbeitslosen nicht so schnell abgebaut werden kann, wie wir uns das wünschen. Wir haben aber Voraussetzungen für bestimmte Effekte geschaffen, die erst mit einer späteren Wirkung greifen: Die Steuerreform, die umgesetzt worden ist und in diesem Jahr eine massive Senkung des Steuersatzes für die Steuerzahler und die Wirtschaft gebracht hat, bedeutet ein Entlastungsvolumen von 45 Milliarden DM in diesem Jahr. ({6}) Viele Steuerpflichtige, die einkommensteuerveranlagt sind und Jahresabschlüsse machen, haben diese Abschlüsse für das Jahr 2000 noch gar nicht gemacht. Deswegen sind auch die Umfragen irreführend, in denen Menschen gefragt werden, ob sie die Steuerentlastung spüren. Sie können sie überhaupt noch nicht gespürt haben, weil sie ihre Jahreseinkommensteuererklärung noch nicht abgegeben haben. ({7}) Dieser Effekt, der noch nicht zu spüren ist, muss aber trotzdem berücksichtigt werden. Von den kleinen und mittleren Unternehmen hört man die klare Aussage, dass die Vorauszahlungen geringer geworden sind. ({8}) Die Überraschung darüber, wie sich die Anrechnung der Gewerbesteuer auf ihre Einkommensteuer auswirkt, war doch sehr groß. Man hat nämlich nicht geglaubt, dass bei einem durchschnittlichen Hebesteuersatz keine Gewerbesteuer gezahlt wird. ({9}) Diese Wirkungen, die jetzt langsam wahrgenommen werden, hat man unterschätzt. Neben der Steuerentlastung gibt es noch andere Maßnahmen, die sich auf die Nachfragesituation auswirken. Eine Maßnahme ist zum Beispiel, dass wir im nächsten Jahr, also im Jahr 2002, knapp 5 Milliarden DM mehr für die Familienförderung ausgeben. Durch die zweite Maßnahme, nämlich durch die Einführung der privaten Altersvorsorge im Jahr 2003, wobei die zu leistenden Beiträge steuerbefreit sind, entlasten wir die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zusätzlich um 5,5 Milliarden DM. Diesen Effekt muss man ebenfalls betrachten. Herr Brüderle spricht immer das Beispiel USA an. Dazu will ich sagen: Wenn wir die vergleichbaren Daten aus den USAbetrachten, dann können wir feststellen, dass es gemäß den Bush-Vorschlägen in den USA eine Steuerentlastung von rund 88 Milliarden DM im Jahr gibt. ({10}) Wenn wir die gleiche Berechnungsmethode auf unser Land anwenden, dann können wir feststellen, dass es bei uns eine Steuerentlastung von rund 100 Milliarden DM pro Jahr gibt. ({11}) Das heißt, wir brauchen den USA nicht zu folgen, indem wir die Steuerreform vorziehen, weil wir bereits einen Vorsprung haben. ({12}) Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich habe immer eine Kombination zwischen einer soliden Haushaltspolitik, dem Abbau der Nettoneuverschuldung bis zum Jahr 2006 auf Null und der Frage, welchen Spielraum man gewinnen kann, hergestellt. Wenn man diesen Spielraum gewonnen hat, kann man über ein Vorziehen der Steuerreform reden - aber nur dann. Das ist die Voraussetzung. Dazu stehe ich. Danke. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass jede Konjunkturprognose zu einer neuen Steuerdebatte führt. Diese Konjunkturprognose zeigt doch nur, dass insbesondere die westdeutsche Wirtschaft nach wie vor extrem vom Export abhängig ist. Ich will nur drei Gründe anführen, warum die wieder aufgenommene Debatte aus meiner Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion falsch ist. Erstens - das kann man in diesem Haus offenbar nicht oft genug betonen -: Wirtschaftsentwicklung über Steuern steuern zu wollen funktioniert einfach nicht. ({0}) Es ist doch eine Tatsache, dass bei den Kriterien für Investitionen die abstrakten Steuersätze unter „ferner liefen“ rangieren. Diese Steuersätze rangieren in der Hitliste auf Rang acht oder neun. Wir sollten uns daher nicht immer auf dieses Thema fokussieren. ({1}) Wo ist der Beweis dafür, dass niedrige Steuersätze zu mehr Arbeitsplätzen führen? Wer garantiert eigentlich, dass niedrige Einkommen-, Spitzen- und Körperschaftsteuern tatsächlich zu neuen Arbeitsplätzen in Bitburg oder Löbau führen und nicht stattdessen auf den Malediven verfrühstückt oder in Taiwan investiert werden? ({2}) - Herr Niebel, wir können gerne darüber reden. Ich glaube aber, Sie sollten sich nur zu Themen äußern, von denen Sie etwas verstehen. ({3}) Die Spielräume für mehr Beschäftigung durch einen ernsthaft angegangenen sozialen und ökologischen Umbau würden weiter verengt. Um das zu verhindern - nur darum muss es der Wirtschaftspolitik gehen -, muss sie neue Märkte, die zukunftsträchtige Arbeitsplätze versprechen, per Ordnungsrecht definieren und bei ihrer Ausfüllung auch helfen können. Politik, die auf das Prinzip Hoffnung, also auf Steuersenkungen setzt, beraubt sich selbst der erforderlichen Mittel, um aktiv handeln zu können. ({4}) Damit bin ich bei einem zweiten Aspekt: Was nützen einem jungen Wissenschaftler niedrige Steuersätze, wenn ihm schon das Geld für eine Existenzgründung fehlt, um so seine Ideen umsetzen zu können? Hinzu kommt das Verhalten der Banken, das diese schon seit Jahren an den Tag legen. ({5}) Wenn er das Geld zusammenbekommt, fehlen ihm Geschäftspartner und qualifiziertes Personal für die Verwirklichung seiner Geschäftsidee. Hier ist Politik gefragt. Sachverständige haben gestern in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses die Rahmenbedingungen für mehr Arbeitsplätze genannt. Steuersenkungen waren nicht darunter, obwohl Lothar Späth und auch der Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt dabei waren. Sie haben aber genannt: Förderung der Umsetzung von Innovationen, Schaffung und Unterstützung von regionalen und internationalen Netzwerken sowie eine Bildungsund Qualifizierungsoffensive, die diesen Namen tatsächlich verdient. Darüber, wie man dort öffentliches und privates Geld am effizientesten einsetzen kann, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen und wie viel das kosten würde, sollten wir gemeinsam reden, ({6}) beispielsweise auf der Ministerpräsidentenkonferenz in den nächsten Tagen. Haushaltspolitik ist Gestaltungspolitik. Haushaltskonsolidierung wird zum Wahn, wenn sie Zukunftschancen verbaut. Abschließend ein dritter Grund, warum diese Debatte eigentlich nur nervt. Ich stimme mit dem Bundeswirtschaftsminister nicht häufig überein. Aber wenn er betont - wie er es vorgestern Abend im ZDF getan hat -, ein Festhalten an den bis 2005 beschlossenen Spitzensteuersätzen sei auch eine Frage der Verlässlichkeit gegenüber den Unternehmen und Investoren, eine Frage der Planungssicherheit, so kann ich das nur unterstützen. Wer jede Woche die Illusion nährt, es könnte ja noch günstiger werden, der behindert geplante Investitionen, weil er zu ihrem Aufschub einlädt. Warum sollte jemand jetzt investieren, wenn wir ihm ständig erklären, die Lage könnte in zwei, drei Monaten noch etwas besser sein? Dann wird er sein Geld parken und es dann einsetzen, wenn er meint, dass es so weit ist. In den zwei, drei Monaten passiert dann aber nichts. Das muss einfach einmal gesagt werden. ({7}) Aber vielleicht ist gerade das von den früheren Regierungsparteien - entgegen ihren öffentlichen Bekundungen - beabsichtigt. Ich will auch sagen, Frau Kollegin Scheel: Ich weiß, was man mit einzelnen Sätzen machen kann, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt. Dienlich war Ihr Vorschlag, die Steuerreform vorzuziehen, nicht, zumindest nicht für die Diskussion innerhalb der Koalition. ({8}) - Herr Staffelt, ich übernehme gern Verantwortung - das wissen Sie doch -, auch für die Kollegin. Das gilt im Übrigen nicht nur für Einkommen- und Unternehmensteuer, sondern auch für die Ökosteuer. Auch wenn die jetzige Ökosteuer sozial ungerecht und ökologisch wenig optimal ist - wovon wir nichts zurücknehmen -, ist festzuhalten: Wer wegen jedes Ausschlags an den Welterdölmärkten ihre Höhe infrage stellt, der beraubt sie nicht nur ihrer letzten bescheidenen ökologisch wie auch ökonomisch sinnvollen Lenkungswirkungen. Er macht Politik auch endgültig zur Geisel weniger großer Konzerne. Auf diesem fatalen Weg ist selbst Rot-Grün mit seinem berüchtigten Verbändekonsensunwesen schon sehr weit fortgeschritten. Ich verweise nur auf den so genannten Atomausstieg oder das Tauziehen um KraftWärme-Koppelung. Kurzum: Rot-Grün muss tatsächlich umsteuern, aber bitte nicht in schwarz-gelbe Richtung. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Reinhard Schultz für die Fraktion der SPD das Wort.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweifellos ist es sinnvoll, dass sich das Plenum über die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und in Europa unterhält. ({0}) - Wir diskutieren das selbstverständlich auch innerhalb der SPD-Fraktion und innerhalb der Koalition. Erhebliche Abweichungen von Prognosen müssen natürlich besorgt machen und man muss zu einer Einschätzung kommen. Unserer Einschätzung nach ist es ein Problem, aber es ist nicht Panik angesagt. Man sollte nicht in hektische Scheinaktivitäten verfallen und suggerieren, man könnte mit fiskalpolitischen oder anderen staatlichen Mitteln kurzfristig etwas herbeiführen, wodurch die Prognose in diesem Jahr deutlich nach oben korrigiert werden könnte. Ich bin etwas verwundert darüber, Herr Brüderle - ich bin sehr gespannt darauf, was Herr Rexrodt sagen wird -, mit welcher Staatsgläubigkeit nun ausgerechnet die F.D.P. in eine solche Diskussion geht. Herr Rexrodt, der Erfinder des großen klassischen Spruchs „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“, lässt hier heute erklären, dass alle Mittel der Steuer- und Haushaltspolitik in den Dienst einer kurzfristigen konjunkturpolitischen Verbesserung gestellt werden müssen. Ich wäre froh gewesen, wenn das eine oder andere davon im vergangenen Jahrzehnt, als das Wachstum deutlich niedriger war, als es jetzt ist, stattgefunden hätte. Wir sind davon überzeugt, dass wir im Schnitt der kommenden Jahre ein Wachstum von deutlich mehr als 2 Prozent haben werden, sobald erstens Schwächen auf unseren Exportmärkten überwunden sein werden, die wir politisch kaum beeinflussen können - dies gilt insbesondere für den amerikanischen Markt -, sobald sich zweitens Sondereffekte im Bereich der Energiepreissteigerungen weitgehend neutralisiert haben werden - selbst wenn sie auf hohem Niveau verblieben, führte dies nicht zu weiteren vergleichbaren Steigerungen -, und sobald der Sondereffekt im Nahrungsmittelsektor neutralisiert sein wird, wovon wir ebenfalls noch für dieses Jahr ausgehen. Ferner gehen wir davon aus, dass eine stetige, planbare und sichere Politik im Hinblick auf die Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Wachstum viel wichtiger als kurzfristige Konjunkturprogramme ist. Unsere Steuerpolitik führt schrittweise zu einer Entlastung von Bürgern und Wirtschaft; Jahr für Jahr wird dadurch mehr „freies“ Geld in den Kreislauf gegeben. Wir haben eine Entlastung bei den Beitragssystemen. ({1}) Wir haben dazu beigetragen, dass Unternehmen sich wesentlich leichter aufstellen können, was ihre Zugehörigkeit zu Unternehmensgruppen und den Verkauf von Beteiligungen angeht, und dass Strukturreformen in der Wirtschaft selber möglich werden in Bereichen, die zuvor steuerlich belastet waren. Ich bin davon überzeugt, dass die Bemühungen der Bundesregierung zur Flexibilisierung der Arbeitsmarktspolitik dazu beitragen werden, dass Arbeitslose vermittelt werden können, wenn wir den Menschen auf ihre Situation zugeschnittene Programme anbieten. Auch bin ich davon überzeugt, dass eine Qualifizierungsoffensive und eine vernünftige Einwanderungspolitik bewirken werden, dass die seltsame, das Wachstum bremsende Schere zwischen relativ hoher Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel geschlossen werden wird. All dies geht nicht über Nacht. Wir haben hier einen riesigen Reformstau aus Ihrer Regierungszeit übernommen, ({2}) den wir nun abarbeiten müssen. Damit sind wir seit gut zwei Jahren beschäftigt. ({3}) Nun ist erkennbar, dass wir nicht nur ein Lüftchen durchs Land wehen lassen, sondern die gesamte strukturpolitische Kulisse dahin gehend verändern, dass stetiges Wachstum möglich sein wird. Ich gebe hier dem Bundeskanzler völlig Recht: Abgerechnet wird am Ende dieses Jahres und am Ende der Wahlperiode. ({4}) Sie werden dann erleben, dass stabile Wachstumsbedingungen, eine Entlastung des Arbeitsmarkts und Innovationen möglich werden. Das, was heute noch zu Recht kritisiert werden kann und was - übrigens mit Zustimmung unserer Bundesregierung; das war eine einstimmige Erklärung der Regierungschefs - in Göteborg im Hinblick auf Deutschland ja auch kritisiert wurde, wird dann als eine Bilanz erscheinen, die ersichtlich macht, was aus der Vergangenheit bis heute fortgeschrieben werden musste und womit wir aufgeräumt haben. Deswegen appelliere ich an die vereinigte Opposition, insbesondere an die CDU/CSU, aber auch an die F.D.P.: Wirken Sie mit, gemeinsam mit uns das abzubauen, was von Ihnen an Reformstau aufgebaut worden ist! Entflammen Sie keine Strohfeuer! Setzen Sie nicht auf eine kurzfristig wirksame expansive Haushaltspolitik! Setzen Sie nicht darauf, für kurzfristige Konjunkturerfolge die Verschuldung um zig Milliarden D-Mark in die Höhe zu treiben, wie Sie, Herr Brüderle, es eben vorgeschlagen haben, als Sie sich für das Vorziehen der nächsten Stufen der Steuerreform und das Absenken der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung aussprachen! Machen Sie vielmehr eine seriöse, planbare Politik! Dann stellt sich auch dauerhaftes, arbeitsmarktwirksames Wachstum ein. Vielen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin Dagmar Wöhrl. ({0})

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Konjunkturforscher an den Wirtschaftsforschungsinstituten sind keine Berufspessimisten. Sie sind Wissenschaftler, die Daten zusammenführen und unter Berücksichtigung volkswirtschaftlicher Regeln bewerten. So ist es eine gnadenlose Unverschämtheit, ({0}) wenn Sie die jüngsten Wachstumsprognosen der Institute von 1,3 Prozent und 1,7 Prozent als „Wasserstandsmeldungen“ abqualifizieren. Ich verstehe ja, meine lieben Kollegen von der Koalition, ({1}) dass Sie Berufsoptimisten sein müssen. Aber wie hier Kanzler Schröder und seine Kabinettskollegen die Wirtschaftslage in Deutschland schönreden, ist weit mehr als regierungsüblicher Optimismus. Sie stecken einfach den Kopf in den Sand und wenn ein Minister hier die Wahrheit zu sagen versucht, wird er ganz schnell wieder zurückgepfiffen. Was ist Fakt? - Fakt ist, dass unsere Wirtschaft krankt. Wenn es einen Kranken gibt, stellt man zunächst einmal eine Diagnose. Danach sucht man nach der Therapie. Was machen Sie? Sie weigern sich, überhaupt eine Diagnose zu stellen. Sie betreiben reine Realitätsverweigerung und schaden somit unserem Standort Deutschland. ({2}) Würden Sie eine Diagnose stellen, dann merkten Sie ganz schnell, dass die jetzige Konjunkturschwäche zum größten Teil hausgemacht ist. Sie verweisen immer auf das schwächere Wirtschaftswachstum in den USA. Das aber erklärt nicht, warum wir mit unserem Wirtschaftswachstum im europäischen Vergleich an letzter Stelle liegen. Das erklärt auch nicht, warum wir die Arbeitslosenquote im europäischen Vergleich bei uns am langsamsten zurückgeht. Das erklärt auch nicht die Entwicklung auf einem Gebiet, auf dem wir immer vorbildlich waren, nämlich bei der Währungsstabilität. Das erklärt nicht, warum es jetzt im Mai zu einer Preissteigerung von 3,6 Prozent gekommen ist, was bei weitem über dem EU-Durchschnitt liegt. Ich erinnere nur einmal an Folgendes: 1998, als wir endlich eine Phase hatten, in der es mit der deutschen Wirtschaft wieder aufwärts ging - wir wissen, welche Schwierigkeiten international im Hinblick auf das Wirtschaftswachstum bestanden -, sagte Gerhard Schröder, seinerzeit noch Kanzlerkandidat, in einer Anmaßung ohnegleichen: „Dieser Aufschwung ist mein Aufschwung.“ Jetzt kann man zu Recht sagen: Dieser Abschwung ist Ihr Abschwung! Denn seit drei Jahren stellen Sie die Regierung. Jetzt liegt es an den von Ihnen getroffenen Fehlentscheidungen. ({3}) Jetzt rächt es sich, dass Sie den Arbeitsmarkt mit der Verschärfung des Kündigungsschutzes, mit der Neuregelung der 630-DM-Jobs, mit dem Gesetz zur Scheinselbstständigkeit, mit dem Teilzeitanspruch, um nur einige der Regelungen hier aufzuführen, noch unflexibler, noch starrer gemacht haben. ({4}) Jetzt rächt es sich, dass Sie mit jedem Ihrer Gesetze den Mittelstand immer weiter benachteiligen, besonders krass durch die Steuerpolitik. Jetzt rächt es sich, dass Sie mit der Ökosteuer die kleinen Leute belasten und so die Binnenkonjunktur schwächen. ({5}) Jetzt rächt sich auch, dass wir einen Kanzler haben, der noch vor einigen Monaten sagte, ein schwacher Euro sei gut für unsere Wirtschaft, ohne zu erkennen, dass ein schwacher Außenwert ebenso die Preisstabilität im Inland gefährdet. Vor allem aber rächt sich - darauf möchte ich besonders hinweisen - jetzt der Versuch, mit guter Laune eine sehr schwierige Lage retten zu wollen. Die jetzige Preissteigerung ist fünfmal höher als 1998. Das heißt: Das Realeinkommen der Normalverdiener sinkt, die Ersparnisse werden entwertet. Das heißt: Höchstwahrscheinlich wird es im nächsten Jahr höhere Reinhard Schultz ({6}) Tarifabschlüsse geben. Das heißt: Verteuerung der Arbeit im internationalen Vergleich. ({7}) Sie sollten langsam den Ernst der Lage erkennen. Setzen Sie Rahmenbedingungen für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum! Wir wollen und fordern keinen blinden Aktionismus. ({8}) Wir wollen Rahmenbedingungen für ein dauerhaft stärkeres Wirtschaftswachstum. ({9}) Die Investitionsquote darf nicht weiter gesenkt werden. Wir brauchen eine Stärkung der Investitionsfähigkeit. Ich appelliere an Sie: Ziehen Sie die Steuerreform vor und lockern Sie endlich unseren verkrusteten Arbeitsmarkt! Einen ersten Schritt dazu können Sie morgen machen: Stimmen Sie der mittelstandsfeindlichen Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes, wie Sie sie geplant haben, nicht zu. Zeigen Sie endlich: Mittelständische Betriebe, wir wissen, dass ihr es seid, die die Arbeitsplätze schaffen. Mittelständische Betriebe, wir wissen, dass ihr Flexibilität braucht. Mittelständische Betriebe, wir wissen, dass ihr euch im internationalen Wettbewerb behaupten müsst und dass ihr das nur könnt, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Ich hoffe, dass es in Zukunft nicht mehr heißen muss - wie es heute zu Recht in der „Berliner Zeitung“ steht -: Die ökonomische Kompetenz der rot-grünen Regierung erreicht mitunter die Stufe des Analphabetismus. Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen das Wort.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Wöhrl, die ökonomische Kompetenz dieser Regierung reicht - von wegen Analphabetismus - allemal noch aus, um Ihnen die Leviten zu lesen. ({0}) - Haben Sie Lust, etwas von mir zu hören, oder wollen Sie die Rede mit Zwischenrufen begleiten? Herr Brüderle hat die alte Platte aufgelegt: 630-MarkGesetz, Ökosteuer, Scheinselbstständigkeit und Teilarbeitslosigkeit im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes bei hoher Inflationsrate ergeben Stagflation. ({1}) Das ist alles, was Ihnen einfällt. Wenn Sie an einer seriösen Diskussion interessiert wären - ({2}) - Hören Sie doch einmal zu!

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas mehr Ruhe, damit der Redner zu seinem Recht kommt. ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Rexrodt, wenn Sie von mir eine Antwort auf Konrad Weiß erwarten, dann hätten Sie für diese Aktuelle Stunde ein anderes Thema wählen müssen, denn ich würde Ihnen darauf gern eine Antwort geben. ({0}) - Das hat was mit Politik zu tun. ({1}) - Überhaupt nicht! Sie können die wirtschaftliche Lage - die uns natürlich Sorgen macht, denn die Prognosen werden permanent korrigiert - nicht in einer Aktuellen Stunde abhandeln. Diese Debatte ist die Wiedervorlage sämtlicher Diskussionen, die wir vor drei Wochen in diesem Haus geführt haben. ({2}) Sie bringen kein einziges neues Argument. Es hat sich auch nichts verändert. Ich glaube nicht, dass wir gut beraten sind, im Wochenrhythmus, so, wie sich die Prognosen ändern, oder so, wie Professor Walter in die Kristallkugel der Deutschen Bank schaut, diese Diskussionen zu führen. Natürlich ist es richtig, dass sich die Konjunktur abgeschwächt hat. Alle Experten warnen aber den deutschen Staat davor, jetzt einen hektischen Aktionismus zu betreiben. Ihr Blitzprogramm - nun wahrlich kein Geistesblitz hat in dieser Richtung nichts zu bieten. Herr Brüderle, wenn man beispielsweise Ihren Einschätzungen und Empfehlungen gefolgt wäre - bei der Haushaltsberatung zum Haushalt 2001 haben Sie uns vorgeworfen, wir würden die Wachstumsraten zu gering ansetzen, wir wollten das Geld den Bürgern nicht zurückgeben, wir wollten Steuern und Nettokreditaufnahme nicht senken -, würden wir uns jetzt in einer außerordentlich prekären Situation befinden. Deshalb: Über Ihre Empfehlung, jetzt die Steuerreform vorzuziehen, kann man natürlich reden. Es ist sicher eine Möglichkeit, um solchen Phasen abgeschwächter Konjunktur entgegen zu wirken. ({3}) - Natürlich, das machen wir jetzt in der Aktuellen Stunde, so wie Helmut Kohl das in Ihrer Zeit in Aktuellen Stunden entschieden hat. Ich kann mich bestens daran erinnern: Die großen politischen Entscheidungen unter Bundeskanzler Kohl, Wirtschaftsminister Rexrodt und solch großen Könnern der Wirtschaftspolitik sind in Aktuellen Stunden getroffen worden. ({4}) Was Sie hier verbreiten, ist Hysterie. Sie verbreiten einen Zweckpessimismus. Sie wollen diese Regierung angreifen und ihr vorwerfen, dass sie nichts tut. Sie ignorieren die gesamten Reformen, die in der letzten Zeit durchgeführt wurden, von der Rentenreform über die Steuerreform bis hin zur Haushaltskonsolidierung, und verschweigen, dass die Situation in Deutschland noch lange nicht so dramatisch ist wie in anderen Ländern. Schauen Sie sich einmal den letzten OECD-Bericht an! Dort wurden Korrekturen bezüglich der Erwartung des Inlandsprodukts vorgenommen: USA 1,8 Prozent, Japan 1,2 Prozent, Niederlande 0,9 Prozent, OECD 1,3 Prozent und Deutschland 0,5 Prozent. Bei der Produktivitätsentwicklung haben wir im gesamten Euro-Raum momentan Einbußen zu verzeichnen, nur in Deutschland besteht immerhin ein leichtes Plus. Ich möchte das nicht übertreiben: Ich nehme diese Dinge wirklich ernst und wir sind in der Tat gut beraten, diese Sache sehr aufmerksam zu verfolgen und zu überlegen, was man tun kann. Dies haben alle Redner - auch Staatssekretär Diller - herausgestellt. Aber Ihren blinden Aktionismus mit der ewig gleichen Platte, was schief laufe, sollten Sie uns wirklich ersparen. Das ist genauso unfruchtbar und unproduktiv wie das Bemühen, der Frage nachzugehen, ob Herr Eichel oder Herr Müller mit ihren Prognosen Recht haben. Am Ende dieses Jahres werden wir über all den Unsinn, den Sie, Herr Brüderle, hier geredet haben, erneut debattieren; das verspreche ich Ihnen. ({5}) Die Sache sieht dann etwas anders aus. Ich glaube, auch Sie sehen dann etwas anders aus. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Günter Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schulz, erlauben Sie mir einmal ein ganz persönliches Wort: Die Lage ist ernst; man kann sich auch aufregen; aber wenn man in der Regierungsverantwortung - das gilt auch für Ihre Partei - steht, sollte man nicht die Nerven verlieren. ({0}) Was Sie hier vorspielen, gibt kein überzeugendes Bild ab. Zur Sache haben Sie kein Wort gesagt. Sie haben sich nur über unsere Vorschläge aufgeregt, aber zur Sache kein Wort gesagt. ({1}) Die Lage ist in der Tat ziemlich besorgniserregend und auch der Kassenbericht, den Herr Diller hier abgegeben hat, hat nicht darüber hinwegtäuschen können, dass Aktionen und Maßnahmen notwendig sind. Wir haben deshalb die Aktuelle Stunde beantragt, um die Gründe für die wirtschaftliche Schwäche aufzuzeigen und Korrekturen anzumahnen. ({2}) Das ist ja wohl legitim. Wir wissen sehr wohl - ich sage das ganz nüchtern -, dass die Lage der Wirtschaft immer von vielen Datenkonstellationen abhängt. Wenn man sich aber die unsrige hier in Deutschland anschaut, kommt man sehr schnell zu dem Ergebnis, dass es sich um eine hausgemachte Krise und um eine hausgemachte Schwäche handelt. Das muss gesagt werden. ({3}) Ich sage es nüchtern: Die Lage in der Weltwirtschaft ist nicht besonders günstig, aber auch nicht besonders schlecht; ich denke dabei an die europäischen Nachbarn. Auch der Euro-Kurs - bei aller Problematik, die da an anderer Stelle hereinkommt - stützt unsere Exportwirtschaft immer noch. Die Wirtschaft hat in den letzten Jahren durch eigene Anstrengungen Enormes geleistet: in technologischer Hinsicht, in der Einstellung auf die Globalisierung und in der Umstellung auf Dienstleistungen. In vielen Bereichen haben wir Kostenführerschaft, dennoch bildet unser Land in Bezug auf die gesamtwirtschaftlichen Daten das Schlusslicht. ({4}) Das gilt für die fünf Rahmendaten, die bei der Bewertung der Wirtschaft eine Rolle spielen. Wir sind Schlusslicht, die anderen stehen nicht so übel da: Die Probleme sind also hausgemacht. Aus dieser Verantwortung können Sie sich, meine Damen und Herren, nicht herausstehlen. ({5}) Ich sage Ihnen einmal ganz klar: 1998 hatte der Aufschwung mit einem Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent eingesetzt. Als Reaktion von der SPD kam darauf nur - ich erinnere mich noch -: „Das geht ja nur auf den Export zurück.“ 1999 haben wir dann Ihr Desaster mit einem Wachstum von etwas mehr als 1 Prozent erlebt. ({6}) Da hieß es von Ihrer Seite: „Das ist das Erbe von Helmut Kohl“; dabei war dieses Desaster auf Ihr erstes Regierungsjahr zurückzuführen. ({7}) Werner Schulz ({8}) Dann kam das Jahr 2000; das war ein gutes Jahr. Zur Hälfte ist dieses Ergebnis Ihnen anzurechnen - ich bin da ganz fair -, weil die Steuerreform und andere Weichenstellungen Anlass zu ein wenig Optimismus gaben. Zur anderen Hälfte geht dieses Ergebnis auf die günstige Exportkonjunktur zurück, die Sie vorher ja abgetan hatten. Aber das Ergebnis war in Ordnung. Für 2001 zeichnet sich wieder ein Desaster in Bezug auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum ab. Das hat nicht weltwirtschaftliche oder europäische Gründe, sondern im Gegenteil eher folgende: Sie haben die Stimmung in der deutschen Wirtschaft kaputtgemacht und das Vertrauen verspielt. ({9}) Das fing bei der Steuerreform an, die ja von der Richtung her okay ist - darüber haben wir lange diskutiert -, aber den Mittelstand diskreditiert. ({10}) Das hat die Stimmung kaputtgemacht. Die Leute fühlen sich geprellt. Dann kam diese unselige Ökosteuer, eine abwegige Steuer, die die Stimmung ganz und gar kaputtgemacht hat. Nur darum geht es. ({11}) Dann haben Sie groß angekündigt, Sie wollten die Lohnnebenkosten senken. Ich weiß, wie schwierig das ist, und will hierbei auch angesichts des Vorhabens einer Gesundheits- und Rentenreform ganz fair sein. Aber dieses Versprechen, die Lohnnebenkosten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu senken, können Sie nicht einhalten. Der entscheidende Grund aber sind meines Erachtens die Fehlentwicklungen im gesamten Bereich Arbeitsrecht, Mobilität und Flexibilisierung der Arbeitswelt. ({12}) Das ist das große Handicap der deutschen Wirtschaft. Sie tun da nicht nur nichts, weil Sie sich mit den Gewerkschaften nicht anlegen wollen - die mussten ja für die Steuer- und Rentenreform eingekauft werden -, sondern Sie drehen das Rad sogar zurück. Dazu gehören die Verpflichtungen im Zusammenhang mit Teilzeitarbeit, das 630-Mark-Gesetz, alles das, was wir in Sachen Scheinselbstständigkeit erlebt haben, ({13}) die Rückführung des Schwellenwertes beim Kündigungsschutz und vieles andere mehr. ({14}) Meine Damen und Herren, nun haben wir auch noch Inflation. Die Inflation ist zu weiten Teilen hausgemacht. Ich rechne Ihnen dabei gar nicht den Sondereffekt, nämlich die Verteuerung der Lebensmittel, an, ({15}) wohl aber, dass sie drauf und dran sind, 40 Prozent des liberalisierten Energiemarktes in die Regulierung zurückzuführen. Das führt zusammen mit der Ökosteuer zu einer Verteuerung. ({16}) - Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind außerhalb der Redezeit!) Mein letzter Satz, Herr Präsident. Während andere Länder ihr Arbeitsrecht flexibilisieren und eine Mobilisierung in der Gesellschaft herbeiführen, fällt uns ein großes probates Mittel ein: Deutschland erfindet das Dosenpfand. ({17}) Das Dosenpfand - 1,5 Milliarden DM werden so zusätzlich abgeschöpft - wird unsere Probleme lösen. Dosenpfand und eine Verlängerung des Briefmonopols - das ist die deutsche Wirtschaftspolitik im Tagesablauf. So richten Sie die Wirtschaft zugrunde und machen Sie die Stimmung kaputt! Das muss ein Ende haben. Danke. ({18})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Nina Hauer das Wort.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Lieber Herr Rexrodt, es ehrt Sie, dass Sie am Schluss Ihres Redebeitrages über Ihre Ausführungen selber lachen mussten. Es ist hier ohnehin immer nett mit Ihnen. ({0}) Herr Brüderle, der Hang zum staatlichen Interventionismus ist offensichtlich derzeit eine Marktlücke in der politischen Meinungsbildung. Mir macht es Spaß, dass ausgerechnet die F.D.P. meint, diese Marktlücke für sich besetzen zu müssen. Richtig ist natürlich: Es scheint offensichtlich ein Wettbewerb der deutschen Wettbewerbsinstitute ausgebrochen zu sein, die Prognosen nach unten zu korrigieren. Die beängstigende Begeisterung, die die Opposition schon am Anfang der Debatte gezeigt hat, nämlich diese Korrektur nach unten zu beklatschen, mag damit zusammenhängen, dass sich Ihre Umfrageergebnisse genauso verhalten. Verlassen Sie sich aber nicht auf diesen Zusammenhang! Dieselben Wirtschaftsinstitute sagen, es sei zu erwarten, dass das Wachstum in der zweiten Hälfte des Jahres steigt. Dann kann es sein, dass Sie den Anschluss verpassen. Wir nehmen den Rückgang der Konjunktur in einigen Bereichen der Wirtschaft sehr ernst, weil wir wissen, dass dies für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland nicht nur günstige Auswirkungen hat. Aus diesem Grunde prüfen wir jeden Vorschlag, der in der politischen Debatte in diesem Zusammenhang gemacht wird. Ich gebe zu, dass die Vorschläge der F.D.P. nach höheren Inverstitionen besser sind als die der CDU. ({1}) Der CDU wäre es am liebsten, wir steckten unser Geld in den konsumtiven Teil unseres Haushalts, zum Beispiel in den Bereich Verteidigung, was bedeuten würde, dass dieses Geld für Investitionen verloren ist. Sie hingegen, Herr Brüderle, schlagen ein Blitzprogramm vor, sagen aber nicht, wie das funktionieren soll. Auch wenn Sie in der Marktlücke eines staatlichen Interventionismus bleiben wollen, sage ich Ihnen: Die Wirtschaft kann besser wirtschaften als der Staat. ({2}) Ich meine, dass wir uns auch in Zukunft auf diesen Mechanismus verlassen können. Der Staat muss seine Hausaufgaben in den Bereichen machen, in denen es von der Marktentwicklung her nicht unbedingt dann zu Investitionen kommt, wenn sie nötig sind. Das tun wir auch. Wenn Sie sich den neuen Haushaltsplan ansehen, dann stellen Sie fest, dass wir auf Zukunftsinvestitionen setzen, vor allem im Bereich der Forschung und der Bildung. Darüber hinaus setzen wir im Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf Weiterqualifikationen für ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt wegen ihrer mangelnden Qualifikation im Moment nicht so gut sind. ({3}) Dann gibt es den Vorschlag, der auch aus der CDU kommt, man möge doch die nächste Stufe der Steuerreform vorziehen. Ich weiß nicht, ob Sie darüber einmal mit den Ländern gesprochen haben, in denen die CDU mit ihrer Mehrheit die Verantwortung trägt. ({4}) Ich kann mir kaum vorstellen, dass es Begeisterung dafür geben wird, die Haushalte der Länder mehr zu belasten, obwohl die immer noch besser dastehen als der Bundeshaushalt. Abgesehen davon ist das Vorziehen der Steuerreform von der volkswirtschaftlichen Wirkung her nicht notwendig. Die Zahlen für die einzelnen Stufen liegen ja auf dem Tisch. Wir geben auf der Nachfrageseite allein in diesem Jahr mit der Steuerreform 45 Milliarden DM in die Volkswirtschaft hinein, ({5}) nämlich durch Senkung der Einkommensteuersätze, von der auch der Mittelstand in erheblichem Maße profitiert. Allein dadurch, dass die gezahlte Gewerbesteuer nun von der Einkommensteuerschuld abziehbar ist, erfahren die mittelständischen Unternehmen eine Entlastung von rund 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr. ({6}) Dies wird sich auch im Jahresabschluss zeigen. Darüber hinaus machen wir das deutsche Steuerrecht wieder international wettbewerbsfähig, ({7}) indem wir den Systemwechsel den anderen Ländern und ihren Volkswirtschaften anpassen. Auf diese Veränderungen hat die deutsche Wirtschaft unter Ihrer Regierung jahrelang gewartet. Ein letzter Punkt: Ich kann ja verstehen, wenn sich die Opposition an jeden Strohhalm klammert, der ihr hingeworfen wird. Was ich nicht verstehen kann, ist, wenn Leute, die sich für ernst zu nehmende Wirtschafts- und Finanzpolitiker halten mögen, den Standort Deutschland bewusst und mit Begeisterung hier im Parlament herunterreden. ({8}) Das ist wirtschaftspolitisch und angesichts der Entwicklung, die wir nehmen können, grob fahrlässig. Die Branchen weisen ja durchaus unterschiedliche Wachstumsraten auf. Im Bereich der Kommunikationstechnologien, in der Elektrotechnik, in Teilen der Metall verarbeitenden Industrie herrscht die Erwartung riesiger Wachstumsraten. Die Prognosen in einigen Branchen sind sehr positiv. Das ist in den letzten Monaten überall deutlich geworden und auch von Unternehmensverbänden bestätigt worden. ({9}) Dann als Politiker zu sagen, das alles könne nicht richtig sein und daran glaube man nicht, bedeutet, der psychologischen Wirkung, die das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort braucht, einen Riegel vorzuschieben. Insofern kann ich Sie nicht verstehen. Ich denke aber, dass auch niemand darauf hören wird, was Sie hier sagen, weil das Vertrauen des Auslandes in die Wirtschaftskraft Deutschlands ungebrochen ist. Vielen Dank. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Dietrich Austermann für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um mit dem Letzten anzufangen, was die Kollegin gesagt hat: Das Vertrauen des AusNina Hauer landes ist ungebrochen. Das müsste sich ja dann in ausländischen Investitionen in Deutschland niederschlagen, aber auch in der weiteren Entwicklung, die mit unserem Lande zusammenhängt. Was mich an der Diskussion, die wir seit einigen Wochen führen, einigermaßen erstaunt, ist, dass offensichtlich versucht wird, den Eindruck zu erwecken, das, was sich jetzt in der Wirtschaft abspielt, sei überhaupt nicht zu erkennen gewesen, habe sich bisher nicht abgezeichnet. ({0}) Im November 2000 habe ich bei der Haushaltsrede gesagt, dass es dunkle Wolken am Konjunkturhimmel gibt. Ich habe auch klar begründet, weshalb diese dunklen Wolken am Konjunkturhimmel erscheinen. Das konnte jedermann nachvollziehen. Es gab damals böses Gelächter und es hieß, man wolle die Konjunktur schlecht reden. Das war das Gleiche wie das, was Sie heute erzählen. Aber die Situation war in der Tat abzusehen. Es zeigt sich, dass unsere Kritik, die an der Steuerreform angemeldet wurde, auch völlig berechtigt gewesen ist. Diese Steuerreform hat ihre Wirkung nicht entfaltet. ({1}) Anfang der 80er-Jahre gab es einmal den Satz: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin! - Heute könnte man sagen: Stell dir vor, man senkt die Steuern, und keiner merkt etwas davon! Das charakterisiert in etwa die Politik, die Sie hier betreiben. Ganz eindeutig ist aber, dass in den letzten zweieinhalb Jahren eine Reihe von Maßnahmen getroffen worden sind, die schädliche Wirkungen hinterlassen mussten: Bremsspuren beim Wachstum, die seit geraumer Zeit und nicht erst seit den letzten Tagen erkennbar sind. Da ist einmal die Energiepolitik: Es soll der Eindruck vermittelt werden, das habe nur etwas mit den ausländischen Mineralölkonzernen zu tun. Aber 30 Pfennig der letzten Spritpreiserhöhung sind hausgemacht. Dazu kommt noch die schlechte Wirtschaftspolitik, die die Dollar-Euro-Relation verschlechtert. Das war doch mit Händen zu greifen. Und dass die Energiepreiserhöhung mehr auffrisst als die Steuerreform an Entlastung bringt, kann auch jeder nachvollziehen. Deswegen sage ich: Die Regierung stellt sich dumm, aber sie hätte wissen müssen, was sich abzeichnete und was sich tatsächlich verwirklicht. Sie konnten es beispielsweise auch an der Entwicklung der Zahl der Existenzgründer ablesen. Ich habe mich heute noch einmal bei der Ausgleichsbank und der KfW, erkundigt: Was tut sich denn bei der Zahl der Anträge von Existenzgründern, also bei Leuten, die mittelständisch investieren wollen? Absolute Flaute, Trendwende nicht abzusehen. Das heißt doch, Arbeitsplätze, die in absehbarer Zeit entstehen müssten, werden auch in den nächsten Monaten nicht entstehen. Das ist die Situation. Ich habe das Thema Energiepreise angesprochen. Gucken Sie Ihre Haushaltspolitik, auf die Sie ja so stolz sind, an. Das ist auch eine - wie wir heute sagen - Wirkung der falschen und schlechten Haushaltspolitik. Wenn ich das Sparen alleine dadurch erreiche, dass ich die Investitionen reduziere, dann muss ich mich über die Wirkung an vielen Stellen im Lande nicht wundern. ({2}) Das ist aber gemacht worden. Also: Energiepreise - hausgemachte Situation; eine Haushaltspolitik, die die Investitionen bestraft und nicht belohnt; und dann - wie die Kollegen meiner Fraktion schon vor mir gesagt haben - eine Fülle von Nadelstichen gegen die Wirtschaft, die, wenn man sie zusammennimmt, die Wirtschaft in einem unerträglichen Maße zusätzlich belasten. ({3}) Wenn ich an diesen drei Stellen nichts ändere, dann kann ich auch keine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation erwarten; dann geht es tatsächlich in Richtung Rezession. Das heißt - das ist eine Forderung, die wir in nächster Zeit konkretisieren werden -, wir müssen zum 1. Januar eine drastische Steuersenkung vornehmen. Dabei ist es relativ egal, ob Sie sagen, ich verzichte auf die gesamte Ökosteuer - das trifft dann vor allen Dingen den Bund; Sie brauchten mit den Ländern gar nicht lange darüber zu verhandeln -, oder ob Sie sagen - wie die Kollegin Scheel, die ja außerhalb des Parlaments manchmal mutig redet - ich ziehe die gesamte weitere Steuerreform auf den 1. Januar des kommenden Jahres vor. Das war ja unsere Kritik: dass man eine Salamireform, also in Scheiben, macht, und zwar so dosiert, dass überhaupt keine positive Wirkung mehr entsteht. Sie müssen natürlich auch mit den Maßnahmen aufhören, mit denen Sie die Wirtschaft belasten. Gucken Sie sich die Situation im Einzelhandel an. Gucken Sie sich die Situation bei der Bestellung von Kraftfahrzeugen an. Gucken Sie sich - das ist heute in den Zeitungen zu lesen die reduzierten Gewinnerwartungen vieler Betriebe an. Gucken Sie sich an, was im Handwerk passiert. Viele im Handwerk - nicht nur im Bauhandwerk - sagen, so dramatisch wie jetzt war die Situation in den letzten Jahrzehnten nicht - nicht in den letzten drei Jahren, nicht in den letzten 16 Jahren! Das ist die Folge einer falschen Finanz-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik dieser Regierung. ({4}) Ein Eingeständnis dafür, dass das so ist, war vor kurzem in einer kleinen Randnotiz zu lesen, in der die Kollegin Wolf - sie ist ja im Moment nicht da -, gesagt hat: Wir überlegen, ob wir dieses Teilzeitzwangsgesetz zum Ende des Jahres auslaufen lassen. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass es Arbeitsplätze kostet, aber keine neuen Arbeitsplätze schafft. ({5}) Das merkt man gelegentlich bei den Grünen. Ab und zu kommt einmal so ein konservativer Gedanke, natürlich nur außerhalb des Parlaments, außerhalb der Regierungstätigkeit. Das, was Sie in der Regierung machen, ist genau das Gegenteil: Sie belasten Wirtschaft und Betriebe und die Steuerzahler. Dazu kommt dann noch diese gewaltige Inflation. Lassen Sie mich mit einer weiteren Bemerkung schließen. Heute Morgen war vom Kindergeld die Rede. In unserer Regierungszeit haben wir das Kindergeld übrigens beim ersten Kind von 50 DM auf 220 DM erhöht. Darüber wurde geschwiegen. Was hilft denn die kümmerliche Erhöhung des Kindergeldes von 30 DM vom 1. Januar an, wenn bei einem durchschnittlichen Einkommen von 3 000 DM durch die Inflation 105 DM weggefressen werden? Wie soll sich derjenige denn noch über die Erhöhung des Kindergeldes freuen? Und den Rest kriegt er dann noch durch die nächste Stufe der Ökosteuer. Diese hohe Inflation und dieses mickrige Wachstum belasten Bürger und Betriebe. Deswegen sagen wir: Ohne eine Kurskorrektur werden Sie keine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in Deutschland erreichen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003239, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal bedauere ich die Tatsache, dass hier in aller Massivität versucht wird, die Fakten, über die wir heute in dieser Aktuellen Stunde an sich reden sollten, in einer Weise zu entstellen, ({0}) dass wir in diesem Hause zu keiner ernsthaften Debatte über Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik fähig sind. Ich sage Ihnen: Der Opposition stünde es gut an, wenn sie den Standort Deutschland nicht in der Art und Weise, in der sie es hier praktiziert, schlechtreden, ({1}) sondern mithelfen würde, diesen Standort Deutschland zu gestalten. Ich habe überhaupt keine vernünftigen, realisierbaren Vorschläge von Ihrer Seite gehört. ({2}) Da kommt der Rexrodt - Günter Bleichgesicht in früheren Tagen; seit er nicht mehr Minister ist, hat er ein bisschen rote Farbe -, der in all den Jahren seiner Tätigkeit als Bundeswirtschaftsminister nun überhaupt nichts vom dem, was er hier gefordert hat, durchgesetzt hat. ({3}) Warum haben Sie denn nicht die Arbeitsmärkte dereguliert? ({4}) Warum haben Sie denn, bitte schön, Rentenreform, Steuerreform und andere Dinge nicht durchgesetzt? ({5}) Sie reden hier, als hätten Sie keine Geschichte und als hätte es nicht eine Bundesregierung gegeben, für die Sie höchstpersönlich mitverantwortlich waren. ({6}) Schauen Sie sich doch einmal das Ergebnis an, über das wir heute reden und das natürlich dazu führt, dass wir in dieser Zeit in massiver Weise Haushaltskonsolidierung durchführen müssen. Sie haben das Land in die Schuldenkrise gestürzt, mit all den Wirkungen, die das am Ende eben auch für die konjunkturelle Entwicklung in unserem Lande hat. ({7}) Da werden Argumente ins Feld geführt, bei denen ich nur sagen kann: Sie versuchen mit aller Kraft, Negativpunkte zusammenzuführen. Sie reden davon, die Gesetze zur Lohnfortzahlung, zum Kündigungsschutz, zu den 630-Mark-Jobs, zur Förderung der Selbstständigkeit - beschlossen übrigens in 1999 - hätten den Unternehmerinnen und Unternehmern das Investieren sozusagen unmöglich gemacht. ({8}) Wie kommt es denn, dass die konjunkturelle Entwicklung trotz dieser beschlossenen Gesetze gerade in 2000 so positiv war, wie sie war? Das sind doch Argumente, die an den Haaren herbeigezogen sind. ({9}) Ich setze ausdrücklich dagegen: Wir haben unsere Schularbeiten gemacht. ({10}) Schauen Sie sich das doch einmal an! Wir haben eine Steuerreform und eine Rentenreform verabschiedet, wir haben die Lohnnebenkosten gesenkt. Wenn Sie heute an der Wall Street, in Washington, in Kanada wie in Europa über den Standort Deutschland reden, dann werden Sie hören, dass man aufgeatmet hat, dass diese Regierung diese Reformen eingeleitet hat ({11}) - ja, so ist es - und Deutschland wieder zu einem interessanten Investitionsstandort in Europa geworden ist. ({12}) Da können Sie noch so viel erzählen; das sind die objektiven Tatsachen. Ich sage Ihnen noch eines: Die Binnenkonjunktur ist das, was im Moment das allgemeine Bild aufhellt; sonst hätten wir in sehr viel stärkerem Maße eine Konjunkturdelle. Ohne Steuerreform sähe die konjunkturelle Entwicklung sehr viel schlechter aus. ({13}) Reden Sie doch nicht andere Standorte gut. Schauen Sie sich die USA mit ihren aktuellen Problemen an; daraus erklären sich auch viele der Exportprobleme, die wir im Moment haben. So einfach, wie Sie es sich machen, geht es wirklich nicht. Herr Rexrodt ist ja jetzt auf dem Wege, Agitprop zu machen, seitdem er mit bestimmten politischen Kräften auf der Straße zusammenarbeitet, ({14}) und hier predigt er das Lied des Kleinunternehmers. Ich sage Ihnen eines, Herr Rexrodt: Wir bleiben bei unserem Kurs, eine offensive Politik für die kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Lande zu machen. Wir haben viele Reformen in Gang gesetzt und wir haben darüber hinaus eine Förderkulisse geschaffen, die sich sehen lassen kann, die wirkt und greift. ({15}) Deshalb wird der Standort Deutschland auch durch Ihr Gerede nicht schlechter werden. ({16}) Sie sollten sich überlegen, ob Sie mit dieser Art der Argumentation irgendwo Gehör finden; denn sie ist destruktiv und nicht konstruktiv nach vorne gerichtet. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Peter Rauen für die Fraktion der CDU/CSU.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Es ist schon sonderbar, dass Wirtschaftsminister Müller heute bei der Debatte nicht anwesend ist. ({0}) Entweder darf er nicht mehr kommen, nachdem er vom „Nullwachstum“ gesprochen hat, oder er will die Position der Bundesregierung nicht mehr verteidigen. Herr Staffelt, wir reden hier von Fakten. Es liegt mir fern, von anderen Dingen zu sprechen. Bereits im Frühjahr haben die führenden Wirtschaftsinstitute festgestellt, dass wir Deutsche beim Wachstum in Europa das Schlusslicht bilden. ({1}) Sie haben festgestellt, dass wir beim Beschäftigungszuwachs weit unter dem Durchschnitt in Europa liegen und dass wir bei der Abnahme der Arbeitslosigkeit auf die zwölfte Stelle zurückgefallen sind. Diese Prognosen wurden im Februar aufgestellt. Atemberaubend und beängstigend ist, wie schnell diese Daten noch einmal nach unten korrigiert worden sind. Das muss uns doch in höchstem Maße zu denken geben. Ich wundere mich nach wie vor, dass von der Regierung nicht zur Kenntnis genommen wurde, was uns die Bundesbank im Februar mitgeteilt hat, dass nämlich in 2000 das reale Wachstum mit 3,1 Prozent um 0,4 Prozent höher als das nominale Wachstum war. Das hat es im letzten Jahrhundert nur zweimal gegeben: einmal bei der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre und einmal nach der Korea-Krise 1953. Ich habe der Regierung wegen dieses Phänomens geschrieben und eine erstaunlich klare Antwort bekommen. Man hat die Tatsache festgestellt, dass im Jahr 2000 viele Betriebe ihre durch höhere Energiekosten entstandenen Mehrkosten nicht über ihre Preise haben weitergeben können. Was heißt das im Klartext? Weniger Gewinne, weniger Investitionsfähigkeit und -tätigkeit und damit weniger Arbeitsplätze. Ferner stand in der Antwort von Frau Hendricks, man erwarte, dass sich die Preise im Jahr 2001 erholen würden. Das bedeutet eine höhere Inflation. Genau das haben wir heute. Auch das ist abenteuerlich. Vor über einem Jahr haben die sachkundigen Männer und Frauen, die die Steuerschätzungen vornehmen, angenommen, dass die Inflationsrate bei 0,6 Prozent liegen werde. Nur zwölf Monate später liegt die Inflationsrate bei 3,5 Prozent. Es ist ein atemberaubendes Tempo, was hier vorgelegt wird. Ich habe vor über einem Jahr vor dieser Entwicklung gewarnt. Im März dieses Jahres haben Sie mir noch Schwarzmalerei unterstellt. Wer so wie Sie eine Politik gegen den Mittelstand und Arbeitnehmer in Deutschland macht, der muss auf dem Arbeitsmarkt scheitern. ({2}) Ich habe bei der hier vorhandenen Ignoranz - man spürt sie auch heute wieder -, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, keine Lust, in die Details zu gehen. Aber der Arbeitsmarkt ist das Spiegelbild einer guten oder schlechten Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Sie stehen vor dem Scherbenhaufen dieser Politik, die gescheitert ist. ({3}) Der Arbeitsmarkt gibt ganz klar Auskunft. Wir hatten im Januar, Februar, März, April und Mai dieses Jahres saisonbereinigt eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um 51 000 Personen. Sie haben zunächst mit einer Abnahme gerechnet. Aber 100 000 Arbeitslose mehr bedeuten 5 Milliarden DM mehr Kosten und nicht vorhandene Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme. Herr Schröder wollte schließlich am Abbau der Arbeitslosigkeit gemessen werden. Was ist jetzt die Realität? Ich will die Verbindung zur vorherigen Regierung durchaus herstellen. Nachdem die Zahlen korrigiert worden sind, wissen wir, dass wir, gerechnet in Erwerbstätigenstunden - nur diese zählen; denn sie sind die Grundlage für die Zahlung von Steuern und Abgaben -, beginnend von Mitte 1997 einen Aufwuchs bis 1998 hatten. Der Arbeitsmarkt ist nach den Erwerbstätigenstunden in 2000 zum Stillstand gekommen und geht in 2001 sogar zurück. Das ist die Realität. ({4}) Der Eindruck, dass diese Regierung auf dem Arbeitsmarkt Erfolge gehabt haben könnte, hat damit zu tun, dass wir bei den Zahlen zwei Jahre im Dunkeln getappt sind, weil statistische Daten korrigiert wurden. Heute werden Teilzeitarbeitsplätze, die 630-DM-Jobs, mitgezählt. Das war früher nicht der Fall. Bei den Arbeitslosenzahlen werden die über 58-Jährigen im Vorruhestand nicht mehr mitgezählt. Das ist die Realität. Wir haben keine Abnahme der Arbeitslosigkeit. Sie kennen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes - damit werde ich schließen -: ({5}) Wir haben im Jahr 1999/2000 einen Rückgang der Arbeitslosenzahl um 370 000. Das ist aber weniger als der Wert, um den die Arbeitslosenzahl im gleichen Zeitraum aus demographischen Gründen zurückgehen musste, weil mehr ältere Leute aus dem Erwerbsleben ausscheiden, als junge Leute in das Erwerbsleben eintreten. Ich sage Ihnen eines voraus: Diese Politik zulasten von Mittelstand und Arbeitsplätzen wird Sie auf dem Arbeitsmarkt einholen. Wir werden am Ende des Jahres noch einmal darüber sprechen. Dann wird die Situation noch schlechter sein. Denn in den Zweigen der Wirtschaft, deren Produkte nicht exportiert werden können, die nicht über Grenzen operieren können, haben wir zurzeit eine Situation, wie sie schlimmer nicht sein kann. Ich weiß, wovon ich rede. Danke schön. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Rainer Wend für die Fraktion der SPD.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Staffelt hat mir gerade gesagt, er habe in der Zeitung gelesen, dass sich Herr Uldall Hoffnungen auf das Amt des Finanzsenators der Freien und Hansestadt Hamburg macht. ({0}) Ich muss sagen, nach Ihrem heutigen Redebeitrag kann man das den Hamburgern nicht zumuten. Ich will mich an einer Stelle mit Ihnen streiten. Sie wissen, dass ich bei vielen Dingen mit Ihnen sehr gerne diskutiere, aber das greife ich auf. Sie haben uns im Jahr 1998 ein „gut gemachtes Bett“ hinterlassen: mit 4,2 Millionen die höchste Arbeitslosigkeit seit Bestehen der Bundesrepublik, mit 1,5 Billionen DM die höchste Staatsverschuldung seit Bestehen der Bundesrepublik, mit 42,3 Prozent Lohnnebenkosten die höchste Abgabenquote seit Bestehen der Bundesrepublik und die höchste Steuerbelastung, die es in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen gegeben hat. Das ist das, was Sie uns als „gut gemachtes Bett“ verkaufen wollen. Das ist im Grunde nicht einmal eine Luftmatratze. ({1}) Es ist ein unglaublicher Vorgang, dass Sie sich heute hier hinstellen und sagen, dass diese Zahlen in Ordnung gewesen sind. Wir sind dabei, das, was Sie uns hinterlassen haben, mit viel Arbeit in Ordnung zu bringen. Selbst diese mühseligen Anfänge, mit denen wir es nicht leicht haben, versuchen Sie heute kaputt- und schlechtzureden. Das ist nicht in Ordnung, Herr Uldall. Das kann ich nicht akzeptieren. ({2}) Wenn wir uns doch wenigstens über drei Dinge verständigen könnten, wobei ich an dritter Stelle ausdrücklich auch etwas in unsere eigene Richtung sagen will. Erstens. Es ist mehrfach gesagt worden, deshalb dazu nur ein Satz: Sie sagen, diese Krise sei hausgemacht. Das ist schon deswegen absurd, weil jeder weiß, die Konjunkturdelle im Euro-Raum wird tiefer - „Handelsblatt“ -; Japan, Amerika, die Zahlen sind bekannt. Zweitens. Wirtschaft hat viel mit Psychologie zu tun. Das sagen alle, das räume ich auch ein. Da das so ist, würde ich Ihnen auch gerne etwas aus dem „Handelsblatt“ vorlesen: Positiv fiel im April nur die Verbrauchsgüterproduktion auf, die als einziger Bereich des verarbeitenden Gewerbes einen Zuwachs ... verzeichnen konnte. Da die Bestellungen von Konsumgütern im April ebenfalls gestiegen sind, werden leise Hoffnungen geweckt, dass der deutsche private Verbrauch nun doch durch die Steuererleichterungen Impulse erhält. Ich sage nicht, es läuft alles prima. Aber all die positiven Dinge, die wir sehen, sollten wir nicht kleinreden, sondern herausheben, um eine gute psychologische Stimmung in der Wirtschaft zu erzeugen. Das wäre unsere gemeinsame Aufgabe und nicht nur unsere Aufgabe. Stellen Sie sich bitte auch dieser Aufgabe. Drittens. Ich glaube, man kann nicht bestreiten, dass es auch in Deutschland Sonderentwicklungen gibt, mit denen man sich beschäftigen muss. Der erste Punkt, den ich nennen möchte - ihn hat der Kollege Austermann angesprochen; er macht auch mir Sorgen -, ist der Umstand, dass in den öffentlichen Haushalten das Verhältnis zwischen Investitionen einerseits und konsumtiven Ausgaben andererseits nicht in Ordnung ist. Dies führt in der Bauwirtschaft, aber nicht nur dort zu großen Problemen. Diese Schwierigkeit besteht aber nicht etwa nur beim Bundeshaushalt, meine Damen und Herren. Es ist fast gleichgültig, in welches Bundesland wir gehen. Es ist fast gleichgültig, in welche Kommune wir gehen. Es ist fast gleichgültig, welche politische Konstellation in diesen Körperschaften an der Regierung ist. Überall besteht das Problem, dass es alle politischen Kräfte bisher letztlich nicht geschafft haben, konsumtive Ausgaben zurückzudrängen und stattdessen investive Ausgaben zu finanzieren. Diese schwierige Aufgabe müssen wir gemeinsam angehen. Ein weiterer Punkt - Sie haben das nicht ganz zu Unrecht angesprochen - betrifft die Arbeitsmärkte. Dazu muss man sagen: Die rot-grüne Regierung kann noch nicht am Ende dessen sein, was in dieser Hinsicht zu tun ist. Stichwort Lohnabstandsgebot: Es ist richtig, dass die Abstände zwischen staatlichen Transferleistungen einerseits und niedrigen Löhnen im Tarifbereich andererseits größer werden müssen. Das darf aber nicht zulasten der Sozialhilfebezieher passieren; vielmehr muss es zugunsten derjenigen arbeitenden Menschen geschehen, deren Einkommen im unteren tariflichen Bereich liegt. Der erste Schritt dazu ist unsere Steuerreform, durch die der Eingangssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt und der Steuerfreibetrag auf 15 000 DM angehoben wird. Für mich persönlich sind weitere Schritte denkbar; Stichwort Lohnsubventionen. Ich meine, man muss diese Dinge ansprechen, wenn man über die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und über Wirtschaftspolitik redet. ({3}) Zusammengefasst: Wir haben es in Deutschland und in Euro-Land mit einer konjunkturellen Delle zu tun. Tun wir unsererseits doch alles, die deutlich werdenden positiven Ansätze in den Vordergrund zu rücken, damit wir den für das zweite Halbjahr prognostizierten Aufschwung tatsächlich erreichen! Reden wir positiv über unser Land! Machen wir weitere Schularbeiten! Stichwort öffentliche Investitionen in den Arbeitsmarkt; diese Investitionen müssen wir vornehmen. Schaffen Sie hier keine Weltuntergangsstimmung, sondern sagen Sie: Wir sind auf einem guten Weg und wir sind bereit, diesen Weg mitzugehen. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Deutsche und Polen in Europa: Eine gemeinsame Zukunft - Drucksache 14/6322 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Markus Meckel von der Fraktion der SPD.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren, am 17. Juni 1991, haben Helmut Kohl und Jan Krzysztof Bielecki den von HansDietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski ausgehandelten Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Voraussetzung dafür war der Abschluss des Grenzvertrages zwischen Deutschland und Polen. Mit diesen Verträgen ist eine neue Epoche zwischen Deutschland und Polen eingeleitet worden. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen diesen Ländern seit 1989 kann als eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden, eines Jahrhunderts, das auch durch schlimmstes Geschehen zwischen Deutschland und Polen gekennzeichnet ist. Polen ist seit mittlerweile mehr als zwei Jahren Mitglied der Nordatlantischen Allianz und wird demnächst Mitglied der Europäischen Union sein. Damit werden die beiden wichtigsten Ziele der polnischen Außenpolitik in den letzten zehn Jahren mit unserer Unterstützung erfüllt. Die deutsch-polnischen Regierungskonsultationen am Anfang dieser Woche haben gezeigt, wie partnerschaftlich unsere Beziehungen auf Regierungsebene sind. Die Kontakte auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene haben sich in den letzten Jahren so intensiv entwickelt, dass auch für Menschen, die sich damit intensiv beschäftigen, ein Überblick kaum möglich ist. Ich nenne beispielsweise die Vielzahl der Kontakte in der Grenzregion, in den vier EU-Regionen an Oder, Neiße, Spree und Bober. In Anbetracht unserer Geschichte mag besonders erstaunen, dass gerade unsere militärische Zusammenarbeit sehr gut ist, wie das trilaterale deutsch-dänisch-polnische „Korps Nordost“ in Stettin zeigt. Ich möchte auch auf die Entwicklung des wirtschaftlichen Austausches zwischen Deutschland und Polen hinweisen. Polen ist heute außerhalb der Europäischen Union unser drittwichtigster Handelspartner nach den USA und der Schweiz. Das ist ein wichtiges Fundament unserer Beziehungen. Diese Entwicklung ist überwältigend. Ich freue mich, dass wir hier angesichts dieses Jahrestages einen parteiübergreifenden Antrag verabschieden werden. Das zeigt, dass die Beziehungen zu Polen kein Streitthema mehr in der deutschen Innenpolitik sind. ({0}) Es ist symbolträchtig, dass auch der Sejm in dieser Stunde über eine Resolution zum zehnten Jahrestag des Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit diskutiert. Ich glaube, dass die guten Kontakte zwischen den beiden Parlamenten für die guten Kontakte zwischen unseren Ländern bezeichnend sind. Die Ereignisse von 1989 haben dazu geführt, dass erstmals in der gemeinsamen Geschichte ein demokratisches Deutschland und ein demokratisches Polen aneinander grenzen - ohne gegenseitige Gebietsansprüche, aber dafür mit stabilen demokratischen Strukturen auf beiden Seiten und dem festen Willen zur Zusammenarbeit. Dadurch hat sich der Charakter unserer Beziehungen grundlegend verändert. Es hat sich ein Perspektivwechsel sowohl für Polen als auch für West- und Ostdeutsche mit ihrer unterschiedlichen Geschichte ergeben. Voraussetzung für diesen Perspektivwechsel in unseren Beziehungen war der Prozess der Aussöhnung von Deutschen und Polen. Zu danken haben wir all denjenigen, die sich in vielen Jahrzehnten in den verschiedensten Bereichen für Versöhnung und die Annäherung von Deutschen und Polen eingesetzt haben. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen vieler Einzelner, aber besonders die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche und der Brief der polnischen Bischöfe. Auf Regierungsebene hat die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt den Versöhnungsprozess eingeleitet. Alle Folgeregierungen haben diesen Prozess fortgesetzt und sich wichtige Verdienste dabei erworben. ({1}) Dies hat möglich gemacht, dass auch in Polen frühere Tabus gebrochen wurden. Ein Beispiel dafür ist, dass die Frage der Vertreibung durch polnische und deutsche Historiker gemeinsam aufgearbeitet wird. Dies hat dazu beigetragen, dass wir mit unserer gemeinsamen Geschichte viel unverkrampfter umgehen können. Zur weiteren Entspannung hat auch die Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“, die Anfang der 90er-Jahre gegründet worden ist, beigetragen. Besonders wichtig war natürlich die Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädigung der Zwangsarbeiter. Die belastete Geschichte unserer beiden Länder wird zwar in unserer Erinnerung bleiben, aber sie stellt eben keine ernsthafte Belastung mehr für unsere Beziehungen dar. Dies ist ein wichtiger Erfolg. Wir hoffen, dass auch das letzte zu lösende Problem in Bezug auf die Vergangenheit, die Rückführung von kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern, in Bälde gelöst werden kann. Wir stehen in unserem bilateralen Verhältnis wahrhaftig noch vor einer Fülle von Herausforderungen. Wenn man sich die gesellschaftliche Entwicklung anschaut, dann stellt man fest, dass zwar die Eliten aus Wirtschaft, Politik und Kultur intensiven Kontakt miteinander haben, dass aber unsere beiden Bevölkerungen vor allem eines gemeinsam haben, nämlich dass sie jeweils nach Westen schauen. Das heißt, dass die Polen nach Deutschland schauen und sich die Deutschen normalerweise nicht nach Osten wenden. In Deutschland mangelt es an Interesse für Polen. Wir müssen deshalb viel dafür tun, dass sich die Menschen aus Deutschland und Polen mehr begegnen, damit Vorurteile abgebaut werden, die auf beiden Seiten noch vorhanden sind. ({2}) Besonders wichtig ist deshalb auch, die Begegnung von Jugendlichen unserer beiden Länder zu fördern, damit sie zusammenkommen, miteinander Zeit verbringen und zusammen arbeiten können. Sehr erfreulich ist, dass sich die beiden Regierungschefs in den Konsultationen vom Anfang dieser Woche darauf verständigt haben, den jeweiligen Beitrag für das Deutsch-Polnische Jugendwerk im nächsten Jahr außerplanmäßig zu erhöhen. Wir, die wir uns lange darum bemüht haben, haben hier einen wichtigen Erfolg erzielt. Das ist ein großer Schritt. Aber wir sollten uns auch darum bemühen, dass es so weitergeht; denn auch diese Erhöhung kann und darf nicht die letzte bleiben. Es ist zu begrüßen, dass die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit ein neues Förderprofil erhalten wird. Die Stiftung wird in Zukunft keine Infrastrukturprojekte mehr finanzieren, sondern sich auf die Förderung wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Austauschprojekte konzentrieren. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Lage der deutschen Minderheit in Polen nicht mehr das wichtigste Thema zwischen der alten Bundesrepublik und Polen ist, wie es das neben der Grenzfrage vor 1989 noch war; denn die Situation der deutschen Minderheit hat sich grundlegend verbessert. Grundsätzlich sehe ich hier keine Probleme mehr. Das Verhältnis zwischen Polen und ihren Mitbürgern deutscher Nationalität, die auch polnische Staatsbürger sind, wird sich weiter normalisieren, wenn Polen Mitglied der Europäischen Union ist. Ich denke, es wäre auch erfreulich, wenn manches, was bisher nicht geschehen ist, in Zukunft ermöglicht würde. Dies betrifft etwa die schon vor zehn Jahren angesprochene Frage von zweisprachigen Ortsschildern. Ich hoffe, dass in Polen der Mut wächst, das zu tun. Dies wäre ein Zeichen der europäischen Normalität, wie es zum Beispiel in den sorbischen Gebieten der Lausitz oder in den deutschsprachigen Regionen Belgiens seit langem die Regel ist. Eine wichtige Rolle in der Annäherung beider Länder kommt den Hunderttausenden deutschen Bürgerinnen und Bürgern zu, die sprachliche, familiäre und kulturelle Bindungen zu Polen haben, sowie den vielen polnischen Staatsbürgern, die in Deutschland leben, arbeiten oder studieren. In all ihrer Verschiedenheit erfüllen sie eine wichtige Mittlerrolle zwischen unseren beiden Ländern. Die deutsch-polnischen Beziehungen werden und wurden schon in den letzten zehn Jahren ganz wesentlich durch die europäische Perspektive geprägt. Wir unterstützen den Weg Polens in die Europäische Union. Dies ist für uns nicht nur eine Sache, die beiläufig geschieht. Sie ist übrigens auch kein Gnadenakt Deutschlands oder Westeuropas gegenüber den Staaten Ostmitteleuropas. Vielmehr macht der Beitritt dieser Staaten die Europäische Union europäischer; ihre eigentliche Identität ist davon wesentlich berührt. In Göteborg ist die Perspektive für die Mitgliedschaft mit dem Vertragsabschluss und der Teilnahme an den Wahlen 2004 auch zeitlich klar beschrieben worden. Das ist zu begrüßen. Klar ist ebenfalls, dass hinsichtlich manMarkus Meckel cher Sorge - ich denke an die Kapitelabschlüsse in den Verhandlungen, wo Polen etwas zurückgefallen ist; wir wissen, dass das auch mit der Behandlung von Themen und politischen Fragen im Wahlkampf zu tun hat - noch Wichtiges zu tun ist. Gleichzeitig ist aber zu sagen, dass Polen insgesamt weit vorangekommen ist. Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen: Wir gehen davon aus, dass Polen demnächst Mitglied ist, und nehmen diese Perspektive heute schon vorweg. Es ist wichtig, nicht nur über die Übergangsregelungen bei der Freizügigkeit und den Fragen des Bodenerwerbs zu reden. Das sind schwierige Fragen, aber ich denke, dass sie in nicht zu ferner Zukunft gelöst sein werden, zumal nach dem Wahlkampf etwas mehr Gelassenheit bestehen wird, wenn es in Polen eine neue Regierung geben wird. Es ist wichtig - wir haben das als Parlamentarier praktiziert -, über die Zukunft Europas gemeinsam nachzudenken. Polen und Deutsche als Partner in Europa, mit den Franzosen vereint im Weimarer Dreieck, müssen sich darüber Gedanken machen, wie das Europa der Zukunft aussehen soll. So haben wir in der deutsch-polnischen bzw. der polnisch-deutschen Parlamentariergruppe in den letzten Monaten zusammengesessen und ein Papier über die Zukunft Europas erstellt, in dem wir uns auf gemeinsame Aussagen zu diesen Fragen geeinigt haben. In der nächsten Woche wird die polnisch-deutsche Parlamentariergruppe mit einer Delegation hier sein und wir werden Mitte der nächsten Woche das Papier der Öffentlichkeit vorstellen. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: Es ist erstaunlich, in welch hohem Maße es uns gelungen ist, Übereinstimmung in wichtigen Fragen der künftigen Europapolitik zu erzielen. Die europäische Integration spielt sich nicht nur in Brüssel und den europäischen Hauptstädten ab. Integration und Annäherung zwischen zwei Gesellschaften sind besonders im Grenzraum konkret erfahrbar. In diesem Bereich müssen wir noch weitere Brücken zwischen unseren Ländern und Völkern schlagen. Dazu gehören neue Grenzübergänge, die Förderung des wirtschaftlichen Austausches sowie die Abfederung der Belastungen, die durch die Erweiterung zumindest zeitweise bestehen werden. Wichtig ist auch, die Bereitschaft zum Erwerb der jeweils anderen Sprache zu unterstützen, denn die Sprachgrenze zwischen Deutschland und Polen ist bis heute eine der schärfsten Grenzen innerhalb Europas. Ich komme zum Schluss: Den direkten Austausch zwischen den Menschen und das gegenseitige Kennenlernen zu fördern, das wird auch in Zukunft die größte Herausforderung im deutsch-polnischen Verhältnis bleiben. Ich hoffe, dass wir diese Herausforderung gemeinsam bewältigen werden. Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Dr. Friedbert Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beziehungen zwischen Ländern haben sehr oft mit herausragenden Persönlichkeiten und deren Leistungen zu tun. Ich will in dieser Debatte zunächst über Lech Walesa sprechen. Zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution stand er mit seiner Solidarnosc auf. Es gab Streiks an der Lenin-Werft und die Umwälzung in Polen. Es war die ungeheure Leistung eines Mannes und einer Bewegung, dieses ganze schreckliche Regime in die Knie zu zwingen. ({0}) Wir danken Lech Walesa und der Solidarnosc für das, was sie auch für uns getan haben. Ohne Walesa hätte es keine Umwälzung in Polen, keine europäische Revolution und keine deutsche Einheit gegeben. Dieser Dank verpflichtet uns, uns jetzt für Polen auf dem Weg in die Europäische Union einzusetzen. Ich möchte über Wladyslaw Bartoszewski sprechen. Was für ein fabelhafter Mann! ({1}) Wir haben ihn hier im Hause anlässlich der Festveranstaltung zum 50. Jahrestag des Endes des Krieges erlebt. Er ist jetzt bald 80 Jahre alt, Außenminister von Polen. Er verbrachte neun Jahre im Gefängnis - für seine Überzeugungen. Zunächst war er in Auschwitz. Auschwitz, das sagt sich so leicht. Danach saß er in stalinistischen Gefängnissen. Er war fast das ganze Leben im Widerstand. Was für eine ungeheure Kraft dieser Mann hat! Dann wurde er Außenminister seines Landes, des jetzt freien Polen. Er hat ein kleines Büchlein „Es lohnt sich anständig zu sein“ herausgegeben. Da sage noch jemand, es gebe zu wenig Vorbilder in Europa. Bartoszewski gehört zum Besten in Europa. Menschen wir Bartoszewski sind eine Bereicherung für unsere Europäische Union. ({2}) Ich möchte über Bronislaw Geremek sprechen. Kurz bevor das Warschauer Ghetto von Deutschen zerstört wurde, schmuggelten ihn seine Eltern heraus. 45 Jahre später erhielt er den Karlspreis der Stadt Aachen und hielt seine Dankesrede - das war das erste Mal überhaupt bei einem offiziellen Anlass - auf Deutsch: Das sei zwar die Sprache der Mörder seiner Eltern, aber er spreche Deutsch, weil sich unser Land mehr als jedes andere Land für Polens Beitritt in die NATO und in die EU eingesetzt habe. Wir beginnen erst jetzt zu verstehen, was es für eine enorme Chance für unser Land ist, wenn wir Anwalt der Wiedervereinigung Europas, der Öffnung von NATO und EU sind. Wir gewinnen nicht nur neue Märkte. Wir gewinnen vor allen Dingen neues Ansehen, neues Gewicht und neues Vertrauen. Diese drei Beispiele stehen für viele Menschen, die sich in den letzten Jahren in hervorragender Weise für die Verständigung zwischen unseren Ländern stark gemacht haben. Das waren nicht nur Politiker - wahrlich nicht -, sondern viele Intellektuelle und Schriftsteller, zum Beispiel Karl Dedecius, Adam Michnik, Siegfried Lenz, Andrzej Szczypiorski und Adam Krzeminski. Man könnte noch viele andere nennen. Denken wir auch an die unzähligen Initiativen von deutsch-polnischen Gesellschaften, des Jugendaustausches, der Städtepartnerschaften, des Sports und der Soldaten. Was ist das für ein Wunder, dass wir nicht mehr aufeinander schießen, sondern zusammen den Frieden auf dem Balkan sichern! Wir haben ein deutsch-dänisch-polnisches Korps. Wir sind zusammen - Volker Rühe sei Dank - Mitglieder der NATO. Ist das nicht eine fantastische Entwicklung, die keiner so hätte voraussehen können? Nehmen wir sie nicht schon viel zu sehr als selbstverständlich hin? Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen bedürfen aber der Pflege. Sie sind besser, als sie es jemals in den letzten 250 Jahren waren. Aber sie sind ein zartes Pflänzchen. Deswegen müssen wir uns fragen, was wir tun können, um diese Freundschaft zu vertiefen. Erstens nehme ich die Beibehaltung der Interessenidentität zwischen unseren Ländern. Wir müssen Polen bei seinem Weg in die EU unterstützen. Eine erste Beitrittsrunde im Jahre 2004 ohne Polen wäre ein schwerer Fehler. ({3}) Dann würde es große Enttäuschung in Polen geben. Das würde zur Abwendung von Europa führen. Dann würde es keine Stabilisierung von Mittel- und Osteuropa geben. Dennoch gibt es einige Kandidatenländer, die nicht auf Polen warten wollen, das aufgrund seiner Größe und Struktur natürlich die meisten Probleme zu bewältigen hat. Aber haben nicht auch die Polen damals, als sie mit Solidarnosc streikten, lange auf die anderen Länder warten müssen, bevor die sich dem polnischen Freiheitskampf angeschlossen haben? EU-Mitgliedschaft und das Ziel, 2004 dabei zu sein, heißt natürlich nicht eine Carte blanche, ein Freifahrtschein. Warschau muss die Kriterien erfüllen. Momentan droht das Land bei den Verhandlungen zurückzufallen. Das hat mit objektiven Problemen zu tun, aber auch mit übertriebenen Ängsten. Diese gibt es allerdings auch bei uns. Weder droht mit der EU-Erweiterung ein Massenansturm von Arbeitern aus Polen, noch werden Deutsche massenhaft polnischen Boden aufkaufen. Wir müssen diese Debatte endlich rationalisieren und von den unsinnigen irrationalen Ängsten wegführen. ({4}) Wir brauchen - zweitens - gemeinsame Strategien mit den Polen, etwa für das Verhältnis zu den baltischen Staaten, für eine gute Zusammenarbeit mit der Oblast Königsberg, mit der Ukraine oder mit Russland. Unsere beiden Länder sollten zusammen konzeptionelle Vordenker für die zweite Runde der NATO-Öffnung sein und das nicht den Amerikanern überlassen. Drittens. Ist Polen das trojanische Pferd der USAin Europa? Das ist absoluter Unsinn. Die Polen wollen die gemeinsame europäische Außenpolitik und die gemeinsame europäische Verteidigung. Aber sie erinnern uns - wie ich finde, zu Recht - daran, dass wir uns nicht überschätzen sollten und dass es ohne die Präsenz Amerikas keine Balance in Europa gäbe. Übrigens würde sie auch zwischen Deutschen und Polen schwerer zu erreichen sein. Nächster Punkt: Eine wichtige Rolle kommt der deutschen Minderheit und den Vertriebenen zu. In Polen gibt es immer wieder Irritationen. Sie wissen, dass auch ich nicht mit jeder Tonlage einverstanden bin. Aber ich finde doch, dass sich die Polen manchmal überlegen sollten, wo auf der Welt es noch Vertriebene gibt, die auf Gewalt verzichten, neue Grenzen anerkennen und Beiträge zur Versöhnung leisten. Dass wir auf diesem Weg voranschreiten können, wird auch dadurch erleichtert, dass in Polen heute das Leid im Zusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen diskutiert wird. Wie sagte es der polnische Bürgerrechtler Jan Józef Lipski: Das uns angetane Böse, auch das größte, ist keine Rechtfertigung für das Böse, das wir selbst anderen zugefügt haben. ({5}) - Das ist keine feierliche Rede, Herr Bundesaußenminister. Aber ich finde Ihre Unaufmerksamkeit völlig unangemessen. Sie ist genauso unangemessen wie der Umstand, dass Sie selbst bei solchen Anlässen immer reden und ständig den Eindruck vermitteln, Sie wüssten sowieso schon alles sehr viel besser. So können wir nicht zusammenarbeiten, vor allem nicht an einem solchen Tag und bei einem solchen Thema. ({6}) Es bleibt viel zu tun, was das Verhältnis unserer beiden Länder angeht. Es gibt immer noch viele Vorurteile und Stereotypen. Das böse Wort von der „polnischen Wirtschaft“ zum Beispiel ist angesichts der polnischen Wirtschaftsdynamik noch lächerlicher geworden. Wenn wir doch so reformfreudig wären oder auch nur annähernd solches Wachstum hätten! Natürlich gibt es in Polen Probleme, auch noch viel Armut. Aber wenn wir in die Städte gehen, sehen wir eine unglaubliche Entwicklung. Da lohnt es sich, mitzumachen, sich zu engagieren, hinzugehen und sich nicht ängstlich abzuwenden. Nein, EU-Erweiterung - in Wahrheit: Vereinigung Europas - ist nicht ein Akt der Nächstenliebe des reichen Westens gegenüber dem armen Osten, sondern das ist - wie wir an diesen großartigen Persönlichkeiten, an dieser Revolution im eigenen Land erleben - eine Bereicherung für uns alle. Es schafft im Übrigen auch Arbeitsplätze bei uns. Wir müssen diesen Osterweiterungsprozess - das gilt für uns im Hause, aber auch generell für die Menschen in unserem Lande - endlich mit mehr Freude, mehr Kraft und mehr Zukunftszuversicht annehmen und dürfen nicht defensiv in der Ecke verharren. Die Menschen, besonders die jungen Leute, müssen sich besser kennen lernen. Polen ist ein so spannendes, ein so schönes, ein kulturell so reiches Land. Es ist für uns im Osten so wichtig wie Frankreich im Westen. Wenn sich Polen und Deutsche so wie Deutsche und Franzosen verstehen, dann haben wir Frieden und Freiheit in Europa. Darum geht es uns allen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Helmut Lippelt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig - die vorhergegangenen Reden haben es belegt -, dass wir heute, anlässlich des zehnten Jahrestages des deutsch-polnischen Vertrages, eine Polen-Debatte führen, und es ist gut, dass, anders als beim letzten Mal, die CDU aus ihrer sektiererischen Ecke herauskommt ({0}) und den gemeinsamen Antrag mitformuliert hat, sodass wir wieder zu einer gemeinsamen, in die Zukunft weisenden Polenpolitik finden. Wie gut dies ist, zeigte eben die Rede von Herrn Pflüger. ({1}) Wer den Vertrag nochmals gelesen hat, weiß, dass es ein historischer Vertrag ist, und zwar in doppeltem Sinne: Mit der Anerkennung der Grenzen des vereinten Deutschlands schloss er eine ganze Etappe des deutsch-polnischen Verhältnisses ab. Zugleich legte er das Fundament für eine gemeinsame Zukunft, wie es der junge polnische Historiker Borodjiei vor zwei Jahren in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ beschrieb: Jetzt müssten Deutsche und Polen endlich nicht mehr übereinander reden, nicht mehr gegeneinander aufrechnen und nach Wegen zueinander suchen, jetzt könne endlich eine gemeinsame Politik gegenüber Dritten definiert werden. Der Vertrag hat eine beachtliche Dynamik entfaltet: Waren 1991 die ersten Artikel im Kern noch ein Nichtangriffsvertrag, so ist Polen heute in der NATO und wir formulieren gemeinsam eine europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Enthält der Vertrag noch das Versprechen, Polen bei der Lösung seiner internationalen Verschuldungsprobleme zu unterstützen, so hat Polen heute eine kräftige Wirtschaft, von der Wachstumsimpulse auch auf die deutsche Wirtschaft ausgehen und in Zukunft sicherlich noch verstärkt ausgehen werden. Enthält der Vertrag noch die Zusage, Polen bei der Annäherung an die EU nach „unseren Möglichkeiten“ zu unterstützen, so befinden wir uns heute in der Endphase der Beitrittsverhandlungen. Vier Bemerkungen möchte ich anschließen: Erstens. Es hat nach Göteborg Irritationen gegeben, die Beitrittsländer hätten sich zu stark auf Termine fixiert, während das eigentlich schwierige Landwirtschaftskapitel noch bevorstehe und die EU sich zuvor auf ihre eigene Reform einigen müsse. Meine Fraktion ist dafür, dass die Mitgliedschaft Polens so schnell wie möglich kommt; auf jeden Fall muss es in die erste Gruppe gehören. Die notwendigen Übergangsfristen sollten so flexibel und kurz wie möglich gehalten werden. Polen muss sich an den EP-Wahlen 2004 beteiligen können. Wir wollen auch, dass Polen an dem einzuberufenden Konvent beteiligt wird. Und die Landwirtschaft? Wir selber wollen doch alle eine Agrarwende, soweit ich heute Morgen wieder gehört habe, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung und nicht ohne Polemik, aber doch quer durch alle Parteien. Diese Wende wird sich aber zwischen der an Subventionen gewöhnten französischen und der noch relativ naturnahen polnischen Landwirtschaft abspielen, zwischen einzelbetrieblicher Förderung und der Förderung des ländlichen Raums. Es liegt doch geradezu nahe, das Weimarer Dreieck, also die französisch-deutsch-polnische Zusammenarbeit, zu intensivieren und, begleitend zu den Kommissionsverhandlungen, eine Initiative dieser drei Länder zur Lösung des Kernproblems Landwirtschaftspolitik zu versuchen. Dann ist auch der ins Auge gefasste Termin spielend zu halten. Zweitens. Im Vertrag von 1991 verpflichten sich beide Seiten, ein Lernen der jeweils anderen Sprache zu unterstützen. Deutschland hat hier einen großen Nachholbedarf. Polnische Freunde in Berlin weisen immer wieder darauf hin, wie schwierig es ist, für ihre Kinder eine Schule zu finden, in der Polnisch eine akzeptierte Unterrichtssprache und nicht nur eine Sprache der Ausgesiedelten ist, die auch in sprachlicher Hinsicht möglichst schnell in Deutschland integriert werden sollen. Wir treten dafür ein, dass wir den Polnischunterricht in unseren Schulen deutlich fördern. Polnische Sprache, polnische Literatur, polnische Geschichte müssen in unseren Schulen und Universitäten einen entschieden größeren Stellenwert bekommen. Drittens. Der Bundestag kann viele der Verhandlungen zur Aufnahme Polens in die EU nur begleiten. Viel mehr können wir aber zur kulturellen Vorbereitung unseres Landes auf die Mitgliedschaft Polens tun. Das ist hier bereits gesagt worden. Wenn es für manche Teile unserer Bevölkerung auch nicht gerade ein Kulturschock werden wird, dass Polen in kurzer Zeit ein völlig gleichberechtigtes Mitglied mit gleichen Rechten, gleichen Pässen, vielleicht bald auch gleichem Geld sein wird, so wird es aber doch ihr Weltbild verändern. Jede Fraktion im Bundestag wird feststellen, dass dieser Schock auf ihre Klientel jeweils etwas anders wirken wird. Wir haben da andere Probleme als die CDU. Gemeinsam sollten wir uns aber dafür einsetzen, dass im zusammenwachsenden Europa die Vielfalt und der kulturelle Reichtum jedes Landes zur gemeinsamen europäischen Kultur gehört. Die Intensivierung der Zusammenarbeit mit unseren jeweiligen Partnern in Polen gehört substanziell dazu. Viertens. Eine aus meiner Sicht schon jetzt zentrale Aufgabe ist die Entwicklung einer gemeinsamen Ostpolitik. Mit Polen kommt ein Land in die EU, das an mehrere osteuropäische Länder grenzt und viele Erfahrungen und Kenntnisse in der Zusammenarbeit mit diesen Ländern hat. Diese Grenzen müssen sicher und zugleich durchlässig für Menschen und Ideen sein. Europa endet nicht an den Grenzen der EU, jetzt nicht und auch in einigen Jahren noch nicht. Am 22. Juni 1941 begann der Einmarsch Hitlerdeutschlands in die Sowjetunion. Die Aufgabe, eine neue gesamteuropäische Friedensordnung zu schaffen, ist noch nicht erfüllt, der Traum vom gemeinsamen europäischen Haus noch nicht ausgeträumt. Polen - da bin ich ganz sicher - ist darin schon jetzt ein sehr wichtiger Partner. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Jürgen Türk für die F.D.P.-Fraktion.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die „FAZ“ titelte am Montag: Göteborger EU-Gipfel für zügige Erweiterung und Die ersten Beitrittsverhandlungen sollen bis Ende 2002 abgeschlossen sein - Deutschland beugt sich. Es ist gut, dass sich die EU zu einem Beitrittsfahrplan durchgerungen hat, wenn auch unter erheblichem Widerstand Deutschlands. Eine weitere Verschleppung verschlechtert die Chancen der Erweiterung. Deshalb kann man es dem liberalen ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán gut nachfühlen, dass er das Göteborger Verhandlungsergebnis überaus bewegt aufgenommen hat. Verstehen kann man auch Polens Außenminister Bartoszewski, der frohlockte: Wir wollten eine Deadline, jetzt haben wir sie. Ich bin vorige Woche von einer Ausschussreise nach Polen und Litauen zurückgekommen, habe also die Aufforderung des Kollegen Meckel schon realisiert. Dort konnten wir uns einerseits davon überzeugen, dass die Beitrittskandidaten bereits gewaltige Anstrengungen unternommen haben, um die Kriterien für die Aufnahme zu erfüllen. Andererseits gibt es noch viele Defizite. So lässt die Verkehrsinfrastruktur sehr zu wünschen übrig. Sie stellt in ihrem derzeitigen Zustand ein Hemmnis für weiteres Wirtschaftswachstum dar; und das ist ja ebenfalls eine Grundlage für die Erweiterung. Dieses und andere Probleme werden nicht ohne Hilfe der EU gelöst werden können; das muss vor dem Beitritt geschehen. Man kann die Aufnahme nicht nach dem Motto, nach dem Beitritt Polens sei alles besser als vorher - so Außenminister Fischer vor kurzem in Cottbus -, dem Selbstlauf überlassen, sondern man muss den Prozess gezielt vorbereiten und begleiten. ({0}) Das liegt in Deutschlands ureigenem Interesse. Wir brauchen die Kooperation mit Polen, das inzwischen Russland hinsichtlich seiner Bedeutung als Handelspartner überrundet hat und in das jährlich deutsche Investitionen in Höhe von mehreren Milliarden Euro fließen, wie uns die Vorstände der vorbildlichen DeutschPolnischen Wirtschaftsfördergesellschaft klar machten. Ich bitte übrigens darum, diese wichtige Gesellschaft bei den nächsten Haushaltsberatungen nicht zu vergessen, ({1}) genauso wenig wie die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, die derzeit unserer Meinung nach kaputtgespart wird, obwohl sie für das Zusammenwachsen von Deutschland und Polen sehr wichtig ist. Ich bin entschieden der Meinung, dass Deutschland alles in seinen Kräften Stehende tun muss, um Polen bei seinen Beitrittsbemühungen zu unterstützen. Deshalb haben wir auch diesen Antrag formuliert. Es ist besonders erfreulich, dass es diesmal sogar ein fraktionsübergreifender Antrag geworden ist und wir uns in dieser Sache einig sind. Es ist bereits vieles eingeleitet worden, das wollen wir nicht ignorieren und leugnen. Das reicht aber noch nicht. Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern: Auf beiden Seiten sind die Grenzregionen nicht ausreichend darauf vorbereitet, dass dort in wenigen Jahren die Schlagbäume fallen. ({2}) Das wird und muss schrittweise geschehen; denn man darf die Kriminalitätsbekämpfung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Dies habe ich gestern auf einem BGSForum in Potsdam gelernt. Das an sich gute Grenzlandkonzept des Bundeswirtschaftsministeriums ist wieder in der Schublade verschwunden; ich bedauere das. EU-Kommissar Verheugen verschiebt Monat für Monat die Herausgabe des groß angekündigten EU-Konzepts für das Grenzland. Da es so lange dauert, hoffen wir, dass dann auch etwas darin steht. Man muss sich nicht wundern, wenn sich bei der Bevölkerung und den Unternehmen in der Grenzregion Verunsicherung und Angst breit machen. Das ist keine Panikmache. Es wird immer gesagt, man solle die Vorteile besser erklären. Besser erläutern kann man aber nur etwas, wenn man etwas zu erläutern hat. Die Konzepte von Bund, Ländern und EU müssen jetzt auf den Tisch und aufeinander abgestimmt werden. Sie müssen also deckungsgleich sein. Im Anschluss daran muss die Umsetzung erfolgen. Herr Kollege Pflüger, ich bin auch bereit, das mit Freude zu tun. Nur mit Freude allein wird es aber auch nicht gehen. Man muss natürlich etwas haben, was man mit Freude machen kann. Ich komme nun zu den umstrittenen Übergangsfristen: Deutschland fordert sie bei der Freizügigkeit für Arbeitnehmer und bei der Gewerbefreiheit. Ich bekenne mich dazu, dass ich dies auch tue. Wir haben in der vorigen Woche erfahren, dass dies in Polen und Litauen auf Protest stößt. Wenn dort aber deutlich gemacht wird, dass diese Einschränkungen sowohl zeitlich als auch vom Umfang her flexibel gestaltet werden, und zwar gemeinsam, nicht einseitig, findet man Zustimmung. Wenn man diese Dinge gemeinsam angeht - das kann und sollte man machen -, wird es gut gehen. ({3}) Ich glaube, dass unsere fraktionsübergreifende Forderung einer regelmäßigen Überprüfung hinsichtlich der Übergangsfristen richtig ist. Die Notwendigkeit, dies vorzunehmen, ist eine vernünftige Zielsetzung. Insbesondere kommt sie den Grenzlandbewohnern - halb Ostdeutschland, das wollte ich bei dieser Gelegenheit noch einmal sagen, besteht aus Grenzland - entgegen. Die Polen wollen Übergangsfristen für den Landerwerb. Während der Reise habe ich gelernt, dass es bei Wirtschaftsinvestitionen die Freizügigkeit beim Landerwerb gibt. Dies wird immer anders dargestellt. Das Problem sind die landwirtschaftlichen Flächen. Hier befürchten die Polen einen Ausverkauf, dem sie vorbeugen wollen. Ich glaube aber, dass man dies verhandeln und so zu einer Lösung kommen kann. Alles in allem müssen jetzt endlich Konzepte auf den Tisch, denn vom allgemeinen Gerede - das ist meine Überzeugung - wird die Infrastruktur nicht besser: Es siedeln sich keine Wirtschaftsunternehmen an und es entstehen keine Arbeitsplätze. Auch die zu beobachtende wachsende Abwanderung kann dann nicht gestoppt werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil sehr viele Menschen bei mir angefragt haben, muss ich zu Beginn erklären und deutlich klarstellen, dass die PDS nicht eingeladen wurde, den gemeinsamen Antrag der anderen Fraktionen mit zu unterzeichnen. Ich bedauere, dass auf diesem unsinnigen Wege immer ein Dialogverlust zustande kommt. Ich will aber auch sagen, dass ich meiner Fraktion empfohlen hätte, den Antrag in der vorliegenden Form nicht zu unterschreiben, und dass wir dem Antrag nicht zustimmen werden. ({0}) Ich möchte das inhaltlich erläutern und zuerst einige Dinge klarstellen, damit keine Missverständnisse aufkommen: Das deutsch-polnische Verhältnis ist für die PDS - auch für mich persönlich - eine zentrale, wenn nicht sogar die zentrale Frage der Osterweiterung der Europäischen Union. Das deutsch-polnische Verhältnis sollte in der deutschen Europapolitik - da stimme ich mit dem Kollegen Pflüger durchaus überein - einen ähnlichen Stellenwert wie das deutsch-französische Verhältnis einnehmen. Dazu muss man sich deutlich bekennen. Für mich ist eine Osterweiterung der Europäischen Union ohne Polen nicht denkbar. ({1}) Ich will zugespitzt sogar sagen: Eine Osterweiterung der Europäischen Union, bei der Polen nicht in der ersten Reihe steht, ist für mich politisch nicht denkbar und nicht gewollt. Ich denke, hierüber kann es aus historischen wie auch aus aktuellen Gründen breite Verständigung geben. Ich bin überzeugt davon, dass das deutsch-polnische Verhältnis unabhängig von politischen Konjunkturen und Mehrheitsverhältnissen in den einzelnen Ländern beständig gemacht werden muss. Es ist aber doch nicht zu übersehen, dass die deutsche Unterstützung für die Aufnahme Polens in die EU sehr zögerlich - aus meiner Sicht zu zögerlich - ausfällt. Rasch kam die deutsche Forderung nach Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Forderung nach Einführung von Fristen wäre nicht nötig gewesen, wenn man rechtzeitiger die Probleme in den Grenzregionen nicht nur betrachtet und allgemein erörtert, sondern sie angepackt und dort konkrete Wirtschaftsentwicklung durchgesetzt hätte. ({2}) Wir wissen seit zehn Jahren, was auf uns zukommt. Jetzt so zu tun, als ob das Problem neu aufgetreten sei, ist diesem Verhältnis aus meiner Sicht nicht angemessen. Wir brauchen gezielte Förderung in den Regionen auf beiden Seiten der Grenze. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Räume zusammenwachsen. Wenn das gelingt, werden Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit wahrscheinlich nicht nötig. Heute muss man konkret eine solche Politik betreiben und sollte sie nicht nur immer allgemein ankündigen. Das bedeutet auch, dass den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg endlich in besserer Form und umfangreicher bei der Bewältigung dieser Probleme geholfen werden muss. ({3}) Ich finde schon, Probleme muss man lösen und darf sie nicht vertagen. Darauf haben auch die Bürger einen Anspruch. So rasch die deutsche Forderung nach Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit kam, so gering fiel das Verständnis für die polnischen Sorgen und das Anliegen der polnischen Politik aus, Übergangsfristen für den privaten Erwerb von Grund und Boden in Polen einzuführen. Ich kann diese polnischen Sorgen verstehen, weil sich die wirtschaftliche Macht noch immer diesseits und nicht jenseits der Grenze zusammenballt. So viel Sensibilität sollten wir doch gemeinsam aufbringen. ({4}) Ich möchte sehr, dass wir eine Politik betreiben, dass in Polen nicht der Eindruck entsteht, dass sein Beitritt zur Europäischen Union ein Beitritt zweiter Klasse sei, wie es polnische Politiker formuliert haben. Systematisch sollten alle Kontakte der zivilen Gesellschaft - da gibt der Antrag sehr viel Konkretes her, was ich für sehr vernünftig halte -, alle Treffen und jede Zusammenarbeit von Menschen aus Polen und Deutschland sowie gemeinsame Projekte gefördert und unterstützt werden. Jugendaustausch, gemeinsame Forschungsprojekte, Universitätsarbeit, kulturelle Beziehungen und gemeinsame Geschichtsforschung stehen immer noch am Anfang und haben ihren Endpunkt noch lange nicht erreicht. Ich würde polnische Politiker und Bürger sehr bitten, sich auch als Brücke der Europäischen Union für die weiter östlich liegenden Staaten zu verstehen. An unsere Adresse richte ich die Bitte, dies zu befördern. Ich komme zum Schluss. Ich finde, das Geschichtsbild im Antrag stimmt nicht. Es klammert nämlich den grundlegenden Wandel in den deutsch-polnischen Beziehungen, der mit dem Warschauer Vertrag und der Entspannungspolitik eingetreten ist, ebenso aus wie, dass alles andere, was danach geschehen ist, auf diesem Werk aufbaut. Das blenden Sie in Ihrem Antrag völlig aus; das wird noch nicht einmal erwähnt. Die Politiker auf der deutschen und auf der polnischen Seite, die Entspannung schon in Zeiten verfochten hatten, als sie gesellschaftlich noch höchst umstritten war, und nicht erst in Zeiten, als sie gesellschaftlich akzeptiert war, müssen mit Namen genannt werden. Das fehlt in Ihrem Antrag. Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf die Tradition der Zusammenarbeit mit der NATO. Ich will Ihnen abschließend sagen, dass es auch eine andere Tradition polnischer wie deutscher Politik gibt, die es wert wäre, sich auf sie zu berufen. Ich nenne hier den Vorschlag des polnischen Außenministers Adam Rapacki einer kernwaffenfreien Zone in Europa. Solche Traditionen hätten Sie zumindest aufnehmen und nicht aus Ihrem Antrag ausblenden sollen. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine lange andere Tradition, die es allerdings viele Jahre vorher gegeben hat, war, dass Polen immer die Sorge haben musste, zwischen Russland und Deutschland germanisiert oder russifiziert zu werden und dabei von der Landkarte der europäischen Geschichte zu verschwinden. 123 Jahre lang war das ja auch der Fall. Genau das ist der Punkt, um den es heute in Polen geht, nämlich dass die Aufnahme in die Europäische Union genau das Dementi dieser schrecklichen langen Geschichte der nationalen Erfahrung, der Demütigung Polens ist. Sich an diesem Dementi zu beteiligen und mitzuhelfen, dass Polen einen festen gesicherten Platz in der europäischen Völkerfamilie hat, ist wohl die große historische Aufgabe, die insbesondere wir Deutschen gegenüber Polen haben und haben müssen. Aus diesem Grund ist die Aufnahme in die Europäische Union der zentrale gemeinsame Punkt, der Polen und Deutsche miteinander verbindet, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Die zweite Republik Polens war von zwei Diktaturen, nämlich der kommunistischen Diktatur und der nationalsozialistischen Diktatur, zerrissen worden. Schmerzhaft ist, dass in das historische Bewusstsein, in das Gedächtnis der Polen eingeschrieben ist, wieder und wieder in der Geschichte gedemütigt worden zu sein. Im historischen Gedächtnis der Polen ist aber auch fest eingeschrieben, wieder und wieder den Mut zu haben, gegen den Selbstlauf der Geschichte aufzustehen, sich aufzulehnen und mutig und gemeinsam dagegen zu handeln. 1980 war das Schlüsseljahr - Solidarnosc -, in dem deutlich geworden ist: Wir Polen wollen gemeinsam aktiv handeln, um uns gegen den Selbstlauf der Geschichte zu wenden und einen eigenen Beitrag in das Geschichtsbuch Europas zu schreiben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen ist es wichtig, dass Namen wie Jan Józef Lipski und Tadeusz Mazowiecki genannt werden. Letzterer hat bereits 1974 auf dem Deutschen Katholikentag deutlich gesagt, was ihn umtreibt und woher seine innere Unruhe kommt, nämlich: Der Glaube selbst ist Unruhe, eine Unruhe um die Authentizität des Lebens. - Das hat etwas mit dem zu tun, was zum Beispiel Vaclav Havel geschrieben hat, nämlich sein Leben zu beschreiben auf der Suche nach der Wahrheit. Das hat etwas mit der Dissidenz in jener Zeit zu tun, die sich gegen die Diktatur aufgelehnt und dabei nichts anderes als den Kern Europas entdeckt hat. Der Kern Europas sind die Werte Europas: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Das ist der entscheidende Punkt, der mit dem Aufbruch Polens - übrigens auch mit dem Aufbruch Tschechiens - verbunden ist. Die demokratische Revolution am Ende der 80er-Jahre konnte nur möglich werden, weil die damalige kommunistische Diktatur von denen, die die Demokratie für sich selbst entdeckt haben, zugrunde gerichtet worden ist, und zwar gewaltfrei und friedlich. Das ist der Kernpunkt dessen, was wir jetzt vollziehen müssen, wenn es darum geht, dass Polen Mitglied der Europäischen Union wird. ({2}) Es gibt keinen Zweifel, dass auch Deutsche dazu etwas beigetragen haben. Dazu gehören natürlich die Entspannungspolitik, Willy Brandt und - er ist eben schon genannt worden - Karl Dedecius, jemand, der vor wenigen Tagen 80 Jahre alt geworden ist und aus Lodz stammt, jener vielfarbigen multikulturellen Stadt, in der Polen und Deutsche jiddisch miteinander gesprochen haben. Dort gab es also schon ein Modell, das wir Europäer noch entwickeln müssen. Wir haben nach 1945 die Homogenisierung des Nationalstaats erlebt. Dabei ist sozusagen - so schrecklich man es auch bezeichnen mag und wie furchtbar es für die Menschen gewesen ist - die Heterogenität dessen entsorgt worden, was es zuvor gegeben hat, zum Beispiel in der zweiten Republik in Polen. Darüber hinaus ist damit eine wichtige Aufgabe verknüpft, die wir gegenüber Polen haben, betreffend zum Beispiel Galizien und die Bukowina, jene Räume, die es zu entdecken gibt. Nehmen Sie bitte das Buch von Karl Schlögel, das er gerade eben veröffentlicht hat, in dem Sie das alles sehr schön nachlesen können: von den Räumen Europas, die es gegeben hat, die vielleicht versunken sind, die es aber zu bergen gilt, die in dieses gemeinsame Europa als ein Schatz eingebracht werden müssen, der nie verloren gehen darf. ({3}) Denken wir an die Diktaturen, unter denen die Polen so unendlich haben leiden müssen: einmal die innere Diktatur des Nationalismus, nicht zu vergessen, auch nicht zu verschweigen, die kommunistische Diktatur am Ende und dazwischen das ungeheure Leid der nationalsozialistischen Diktatur. Gegenwärtig gibt es in Polen eine eruptive Debatte über jenes schreckliche Genozid in Jedwabne, also in jener Stadt in Nordpolen, in der 1 600 Menschen erschlagen, erstochen worden sind, eine furchtbar aufwühlende, aber eine notwendige Debatte, die Jan Tamosz Gross in seinem Buch „Die Nachbarn“ vorangetrieben hat. In dieser Debatte wird deutlich, dass wir, die wir die Nachfolger derer sind, die die Zeitzeugen waren, die dies alles erlebt, erlitten und mit eigenen Augen gesehen haben, als Politiker, die diese Verantwortung tragen, verpflichtet sind, dass das nicht der Vergangenheit überantwortet wird, sondern dass die Verantwortung für die Gegenwart und für die Zukunft heißt, sich mit diesen schwierigen Konflikten auseinander zu setzen. Wenn Adam Michnik sagt: „Es ist mein Gewissen bedrückt und bedrängt, wenn ich höre, dass am 10. Juli 1941 in Jedwabne 1 600 Juden von Polen ermordet worden sind“, dann muss dabei aber auch unverrückbar die historische Wahrheit festgehalten werden: Dieser Genozid war nur möglich, weil es den Überfall Deutschlands gegeben hat, weil es die Vernichtungspolitik der NS-Besatzer gegeben hat und weil Himmler wenige Tage vor diesem Pogrom in der Region war und dazu beigetragen hat, dass es missgeleitete Gefühle auch von anderen gegeben hat. Wer durch die Allee der Gerechten in Jad Vashem gegangen ist, wird wissen, dass die überwiegende Zahl der Gerechten einen polnischen Namen tragen Jedwabne: Das war ein lokales Ereignis. Es ist mit einer ungeheuren Kraft verbunden, was jetzt in Polen geschieht. Die innere Debatte zeigt, dass die polnische Gesellschaft die Kraft hat, mit jenen Konflikten auch umzugehen, sie zu verarbeiten und damit einen Beitrag zu leisten, dass Europa eine Gemeinschaft der gemeinsamen Erinnerung ist, die uns auffordert, dass das, was damals geschehen war, nie wieder geschehen darf. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katherina Reiche für die Fraktion der CDU/CSU.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren unterzeichneten der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag. Vor zehn Jahren begannen Deutsche und Polen, nach bitteren Jahren des Eisernen Vorhanges wieder aufeinander zuzugehen. Heute befinden wir uns im Prozess des Beitritts Polens in die Europäische Union. Heute ist Polen längst zuverlässiger NATO-Partner. Diese Entwicklung ist ohne die Ereignisse der 80erJahre nicht vorstellbar. Es war die oppositionelle Gewerkschaft Solidarnosc, die die kommunistischen Machthaber das Fürchten lehrte. Der Eiserne Vorhang wurde in Polen rissig und war schließlich der Wegbereiter für die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR und im gesamten Ostblock. Der Blick zurück erfüllt uns Deutsche - auch mich als Vertreterin der jungen Generation aus Ostdeutschland daher mit Dankbarkeit, gibt uns aber gleichzeitig ein verpflichtendes Mandat, Polen auf seinem Weg in die Europäische Union zu unterstützen. Es geht heute darum, Polens Weg in die EU engagiert weiter voranzubringen. Es geht vor allem darum, die Menschen diesseits und jenseits der Oder zusammenzubringen. Das deutsch-polnische Verhältnis beruht nicht mehr auf einer verordneten Freundschaft, wie sie vor der Wende in der DDR gepflegt wurde. Es sind nicht mehr die staatlich überwachten Begegnungen, die jede kritische und politische Diskussion zu unterdrücken suchten. Heute gehen Polen und Deutsche selbstverständlich aufeinander zu, sind neugierig aufeinander und schließen Freundschaften. ({0}) Die vielen Aktivitäten im Bereich des Jugend- und Studentenaustausches sind ein eindeutiger Beleg für die großen Gemeinsamkeiten der jungen Generation hier und drüben. Junge Polen und junge Deutsche streben berufliches Fortkommen an und wollen die europäischen Nachbarn kennen lernen. Wie viele Kontakte es bereits gibt, stelle ich immer wieder fest, wenn ich mit jungen Menschen aus Polen und aus Deutschland spreche, mit Schülern, Studenten, Soldaten. Herr Kollege Lippelt, eines möchte ich dann doch gerade stellen: Es war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die einen Antrag zur Zukunft des deutsch-polnischen Verhältnisses eingebracht hat. Dieser Antrag muss offensichtlich so gut gewesen sein, dass wir die Kollegen von SPD und Grünen überzeugen konnten, einen gemeinsamen Antrag zu machen. Der Weg war nicht umgekehrt. ({1}) Worum geht es? Es gibt zwei vordringliche Aufgaben. Zum einen muss es darum gehen, die Kontakte zwischen Deutschen und Polen weiter zu intensivieren. Hierbei bauen wir gerade auf die junge Generation. Deshalb fordere ich: Das Deutsch-Polnische Jugendwerk braucht eine bessere finanzielle Ausstattung. ({2}) Gert Weisskirchen ({3}) Nur wenn das Deutsch-Polnische Jugendwerk auf einer sicheren finanziellen Basis steht, kann der Dialog langfristig fortgesetzt und ausgebaut werden. Ebenso wichtig ist es, sprachliche Barrieren zu überwinden. Im Erlernen der Sprache des jeweils Anderen sehe ich einen Schlüssel zur Verständigung zwischen Deutschen und Polen. Wenn junge Menschen schon früh deutsch bzw. polnisch lernen, wird manch blindes Vorurteil gar nicht erst entstehen können. Die zweisprachige Schulbildung in den Grenzregionen ist nicht nur eine kulturelle Notwendigkeit, sondern wird sich auch als erheblicher Standortvorteil auswirken. Ein Lebenslauf, der eine bilinguale Schulausbildung aufweist, wird nicht nur den Arbeitgeber beeindrucken, sondern auch Jugendlichen selbst neue Perspektiven eröffnen. Als Brandenburgerin habe ich mich immer wieder für Polnischunterricht in der Oderregion eingesetzt. Dieser Forderung möchte ich heute noch einmal Nachdruck verleihen. ({4}) Zum anderen geht es darum, die in den letzten zehn Jahren gewachsenen deutsch-polnischen Beziehungen durch einen zügigen Beitritt Polens zur Europäischen Union auch institutionell zu festigen. Die Aufnahme Polens in die EU darf deshalb keinesfalls verzögert werden. Es würde viel Vertrauen aufs Spiel gesetzt werden. Gewiss, die EU-Osterweiterung ruft bei vielen Menschen Ängste und Vorbehalte hervor. Diese Befürchtungen sind auch verständlich; denn wir müssen verstehen, dass es gerade für die Menschen in den neuen Ländern und in den Grenzregionen erneut um Veränderungen und Anpassungen geht. Aber umso wichtiger ist es deshalb, die Menschen zu überzeugen und ihnen die großen Vorteile dieses Prozesses nahe zu bringen. Was wir deshalb brauchen, ist eine offensive Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Osterweiterung. Lagebeschreibungen reichen nicht aus. Nur konkrete Maßnahmen können den Sorgen der Menschen begegnen. Kommunikation und Öffentlichkeit über das, was geschieht, und über die Chancen schaffen Vertrauen. ({5}) Die Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses ist kein Selbstläufer. Es bedarf immer wieder neuer Impulse. Selbstverständlich sind Übergangsfristen in der Freizügigkeit für Arbeitnehmer und in der Dienstleistungsfreiheit notwendig, um eine Verschärfung der Situation auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Sie müssen aber flexibel gestaltet werden und je nach Beitrittsland und Branche verschieden sein. Sie müssen auch je nach wirtschaftlicher Entwicklung angepasst werden. Es ist nicht angebracht, deutsche Interessen holzschnittartig oder populistisch geltend zu machen. Populismus täuscht Menschen und er ist hier fehl am Platz. ({6}) Die wirtschaftlichen Vorteile einer erweiterten Europäischen Union sind schon heute in Polen und Deutschland zu spüren. Zum einen ist Polen Deutschlands wichtigster Handelspartner im Osten, zum anderen schaffen deutsche Investitionen in Polen Arbeitsplätze. Ich denke zum Beispiel an Kooperationsvereinbarungen zwischen Unternehmen aus Brandenburg und aus Polen im Bereich der Umwelttechnik. Investitionen deutscher Unternehmen in Polen helfen, Umweltstandards zu verbessern und zum Beispiel die Trinkwasserqualität und damit die Lebensqualität zu erhöhen. ({7}) Die deutsch-polnischen Beziehungen stehen heute auf einem soliden Fundament. Der Nachbarschaftsvertrag hat dafür vor zehn Jahren eine gute Ausgangslage geschaffen. Gleichzeitig müssen wir uns immer wieder mit neuen Perspektiven und Entwicklungen auseinander setzen. Manchmal wünsche ich mir etwas mehr Gelassenheit auf beiden Seiten, insbesondere im Alltagsgeschäft. Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland sind heute partnerschaftlich. Beide Länder arbeiten vertrauensvoll zusammen. Gerade deshalb dürfen wir in unserer Anstrengung nicht nachlassen und müssen den richtigen Weg der Vertiefung der europäischen Integration entschlossen weitergehen. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Bundesaußenminister Joseph Fischer. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zehn Jahre seit der Unterzeichnung des Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit waren eine Phase historisch einzigartigen Erfolgs in den deutsch-polnischen Beziehungen. Wichtige Brücken über den Abgrund der Geschichte waren allerdings bereits zuvor geschlagen worden, so etwa durch die ausgestreckte Hand zur Versöhnung der polnischen Bischöfe von 1965, dann vor allem durch Willy Brandts Ostpolitik und seinen historischen Besuch in Warschau im Dezember 1970 und durch den Vertrag über die Bestätigung der gemeinsamen Grenze von 1990. Dies war ein sehr wichtiger Schritt; denn dieser deutsch-polnische Grenzvertrag war die Voraussetzung für die Zustimmung zum Zwei-plusVier-Vertrag und damit zur deutschen Einheit. Das macht klar, wie wichtig die Frage der deutschen Ostgrenze und wie aufs Engste verbunden die Frage der Anerkennung der deutschen Ostgrenze und damit der polnischen Westgrenze für die Wiedererlangung der deutschen Einheit in Freiheit war. ({0}) Es gehört - da hier die Geschichte bemüht wurde - mit zur Tragik, dass der Aufstieg Preußens an die polnische Teilung gebunden war. Wenn über Preußen gesprochen wird - was heute ein abgeschlossenes Kapitel in unserem Geschichtsbuch ist -, wird vergessen, dass es sich bei Preußen nie nur um einen deutschen, sondern immer um einen deutsch-polnischen Staat gehandelt hat. Das hat jenseits aller ideologischen Auseinandersetzungen die ganze Problematik unserer Geschichte mitgeprägt, bis hin zur nationalsozialistischen Barbarei. Dass dieses Kapital abgeschlossen ist, dass heute klar ist, wo die Deutschen zu Hause sind, und damit auch klar ist, wo die Polen zu Hause sind, war nicht nur die Voraussetzung für die Wiedererlangung der deutschen Einheit, sondern ist auch die Voraussetzung für Frieden in ganz Europa und für die europäische Integration. Wir dürfen also nicht vergessen, welche Bedeutung die deutsch-polnischen Beziehungen haben. Ich kann allen nur zustimmen, die gesagt haben: Die Beziehungen müssen ähnlich intensiv, ähnlich gut und ähnlich selbstverständlich werden wie die zwischen Deutschland und Frankreich. ({1}) Gewiss ist die Geschichte nicht alles; doch wir dürfen sie nicht zur Seite legen, wir dürfen sie nicht vergessen. Gerade auch hinsichtlich des deutsch-polnischen Verhältnisses dürfen wir dies nicht tun. Deswegen war es wichtig und richtig, dass wir, angestoßen durch die Initiative von Bundeskanzler Schröder - wir konnten dies gerade wieder bei den deutsch-polnischen Konsultationen in Frankfurt/Oder von der polnischen Seite hören -, eine Lösung für die Zwangsarbeiterentschädigung ({2}) Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hier im Bundestag beschließen konnten. Es geht nicht um Entschädigung für erlittenes Unrecht und erlittenes Leid, sondern um Anerkennung dieses Leids und dieses Unrechts. Dies wurde uns immer wieder gesagt. Gerade für das deutsch-polnische Verhältnis ist das nicht gering zu veranschlagen. Aber auch all jenen, die gesagt haben, die Probleme der Zukunft würden über unser Verhältnis entscheiden, möchte ich Recht geben. Diese gemeinsame Zukunft heißt Europa. Die Osterweiterung ist ein historisches Projekt. Wir haben heute Morgen darüber gesprochen. Ich hoffe, dass all diejenigen, die das in dieser Debatte mit Worten gesagt haben, die ich alle unterschreiben kann, ihre Unterstützung geben, wenn sie sich im wahrsten Sinne des Wortes in materielle Münze umsetzen muss. Wenn wir über eine gemeinsame Agrarpolitik und über die nächsten Finanzvereinbarungen der erweiterten Union im Jahre 2006 reden, wenn wir darüber sprechen, dass wir durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten für einen gewissen Zeitraum durchaus auch Wettbewerbsnachteile haben können, dass aber die Vorteile insgesamt überwiegen, wie die Erfahrungen aus den unterschiedlichen Erweiterungsrunden der Europäischen Union gezeigt haben, wenn wir die sattsam bekannten, unsäglichen Vorurteile über Polen, die bei uns leider noch viele im Kopf haben, untersuchen und ihnen, wie ich hoffe, sehr massiv und rational entgegentreten werden, ({3}) wenn man sich all diese Dinge des praktischen Zusammenlebens und Zusammenfindens im gemeinsamen Europa ins Gedächtnis ruft, dann wird sich erweisen, wie weit diese Bekundungen tatsächlich von Bestand sind, ob es nur Worte sind oder ob sie angesichts der harten Realität im gemeinsamen europäischen Alltag von Bestand sind. Ich will, Herr Türk - ich sage es noch einmal, weil Sie heute Morgen in der Debatte nicht anwesend waren -, ({4}) die Anwaltschaft, die wir für den Erweiterungsprozess haben, ansprechen. Dieser liegt auch aus historischer Verpflichtung im deutschen Interesse, wie dies alle Redner unterstrichen haben. Aber er liegt auch in unserem aktuellen Interesse. Vergleichen Sie einmal die Handelszahlen der deutschen Volkswirtschaft und der EU-Volkswirtschaft mit den Beitrittsländern! Man wird dann feststellen, dass der Handel mit diesen Ländern von überragender Bedeutung ist. Es sind keine Länder, die um Almosen anstehen, sondern Länder, die für uns wie für sich selbst Wirtschaftswachstum kreieren und damit Arbeitsplätze, Beschäftigung, Einkommen auch und gerade für unsere Bürger schaffen werden. Das Wegfallen der EU-Außengrenze ist besonders für die ostdeutschen Grenzländer von überragender Bedeutung. Eine Stadt wie Görlitz in Sachsen hat durch die historischen Veränderungen des Zweiten Weltkrieges nachgerade ihr ökonomisches Hinterland verloren. Das gilt auch für Städte wie Frankfurt/Oder oder andere Bereiche wie Vorpommern, in denen diese Grenzveränderungen dazu geführt haben, dass vorher existente Wirtschaftsräume zerrissen und unterbrochen wurden. Das alles wird sich positiv ändern. Darin liegt eine gewaltige Chance im deutsch-polnischen Verhältnis, und zwar konkret im Verhältnis von Region zu Region. Dass diese Chance bereits genutzt wird, davon konnten wir uns jüngst bei einem Treffen in Breslau selbst überzeugen, bei dem die Ministerpräsidenten und die Woiwoden anwesend waren. Hier entwickelt sich etwas, was für das deutsch-polnische Verhältnis mindestens so wichtig ist wie die Erfahrungen, die wir an unserer Westgrenze gemacht haben, wo über Jahre hinweg das Zusammenwachsen von unten von überragender Bedeutung war. ({5}) Eine dreiviertel Million deutsche und polnische Jugendliche haben am Programm des Deutsch-Polnischen Jugendwerks teilgenommen. Das ist ein positives Zeichen. Noch etwas anderes: Der polnische Ministerpräsident hat dem Bundeskanzler und uns mitgeteilt, dass über zwei Millionen polnische Jugendliche Deutsch als erste Fremdsprache lernen. Auch das ist, wie ich finde, eine beBundesminister Joseph Fischer eindruckende Zahl, auf die wir unbedingt positiv reagieren sollten und müssen. Über die Entwicklung des Handels habe ich schon einiges gesagt. Kollege Pflüger, Sie haben mich ganz zu Unrecht gescholten. Angeregt durch Ihre Rede, in der Sie über die gemeinsamen Interessen der Ostpolitik, wie etwa beim Baltikum oder der Ukraine, gesprochen haben, habe ich dem für die Spätaussiedler zuständigen Kollegen aus dem Innenministerium als Beispiel dafür Kasachstan genannt. Mir sagte der polnische Außenminister: Wir haben gemeinsame Interessen in Kasachstan. Ich fragte ihn, warum. Er antwortete mir schlicht und einfach: Wir haben dasselbe Problem wie auch ihr, nämlich durch Stalin nach Kasachstan deportierte Polen, und zwar in ähnlicher Größenordnung, mit denselben Rückwanderungs- und Integrationsproblemen und demselben Interesse an Kasachstan. Darüber habe ich gesprochen. Ich hoffe, es findet Ihre nachträgliche Billigung. ({6}) - Gut, das beruhigt mich. Dies ist ein Aspekt, der völlig klarmacht, dass wir mit dem Beitritt Polens in der Tat eine verstärkte Hinwendung der Europäischen Union nach Osten bekommen. Das liegt auch im deutschen Interesse. Diese Dimension der Kooperation müssen wir unbedingt ausbauen. ({7}) Die kulturelle, die wissenschaftliche Zusammenarbeit - dies alles mit Zukunftsorientierung, aber nicht gründend auf dem Vergessen der Vergangenheit, sondern aufbauend auf den Erfahrungen der Vergangenheit - wird die deutsch-polnischen Beziehungen als eine der Hauptachsen der europäischen Integration in Zukunft bestimmen und daran wollen wir gemeinsam arbeiten. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort der Kollegin Erika Steinbach, CDU/CSU.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa hört nicht an Oder und Neiße oder am Böhmerwald auf. Europa reicht weit darüber hinaus. Deutschland, das zurzeit den Osten der Europäischen Union markiert, liegt im Grunde genommen im Zentrum und im Herzen Gesamteuropas. Vor diesem Hintergrund ist das zehnjährige Jubiläum des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages ein wichtiges Datum. Es macht deutlich, dass der Weg Europas in Richtung Osten ganz offensiv auch von Deutschland - primär sogar von Deutschland - angegangen wird. Die Tatsache, dass sich im deutsch-polnischen Verhältnis innerhalb der letzten zehn Jahre unendlich viel verbessert hat, ist überall sichtbar. Dass sich etwas verbessert hat, war nicht nur von oben oktroyiert, sondern wuchs auch von unten, wuchs durch die Menschen, die hin und her reisten und miteinander sprachen. Das zu wissen ist wichtig. Der Herr Außenminister hat angeführt, dass auch die Vergangenheit wesentlich ist. Ich glaube, darüber muss man sich im Klaren sein. Die Zukunft der Gemeinschaft von Völkern kann gut gestaltet werden, wenn Vergangenheit und Gegenwart zusammengefügt und gemeinsam fruchtbar aufgearbeitet werden. Nur daraus erwächst ein konstruktives Miteinander in der Zukunft. Zu diesem Aufarbeiten für die Zukunft gehört die schwierige deutsch-polnische Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus und natürlich auch danach. Ich bin fest davon überzeugt, dass es wichtig ist, dass Deutschland seinen Teil der Last bei der Aufarbeitung dieser Geschichte offensiv trägt. Ebenso ist es für Polen unabdingbar notwendig, seinen Teil, das, was nach 1945 kam, aufzuarbeiten und damit verantwortungsvoll umzugehen. Es hat sich vieles positiv entwickelt. Die Menschen, die aus Deutschland in Richtung Polen reisen und wandern, sind in allererster Linie Menschen, die aus dem heute polnischen Bereich kommen, die dort einmal ihre Heimat hatten. Sie reisen nicht mit der geballten Faust in der Tasche dorthin, sondern mit offenem Herzen und sie tun vieles, um in Polen Kirchen aufzubauen oder Krankenhäuser auszustatten. Die meisten anderen Deutschen haben nicht das Bedürfnis, nach Schlesien oder Pommern zu fahren. Es sind in aller Regel die Heimatvertriebenen, die heute dorthin reisen. Sie tun das mit offenem Herzen. Ich wünsche mir für die Zukunft eines: dass wir auch seitens Deutschlands, seitens der Bundesregierung den Teil, der viele Menschen hier im Land betrifft, bei der Aufarbeitung nicht vergessen. Er gehört dazu. Man kann Geschichte ganz oder gar nicht aufarbeiten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Steinbach, Sie müssen zum Schluss kommen.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich. Ich bin auch schon fast am Ende. Man soll keine Schlussstriche ziehen. Man soll in keinerlei Weise Schlussstriche ziehen. Wir haben als Völker gemeinsam eine gute Zukunft, wenn beide willens sind, Polen und Deutsche, die jeweilige Vergangenheit konstruktiv und verantwortungsbewusst in die Hand zu nehmen, aufzuarbeiten und das, was an Schwierigkeiten und Defiziten noch vorhanden ist, aus dem Weg zu räumen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Steinbach, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie eine Kurzintervention angemeldet hatten. Es hat sich haarscharf an der Grenze zu einem Redebeitrag bewegt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten grundsätzlich darauf achten, dass wir die Instrumente, die wir als Abgeordnete haben, den Regeln entsprechend nutzen. Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hartmut Koschyk für die CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Dedecius, der Übersetzer, Schriftsteller und Gründer des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, der heute schon verschiedentlich zitiert worden ist, hat im Hinblick auf das deutsch-polnische Verhältnis einmal die Maxime erhoben, es gelte, Vorurteile durch Urteile zu ersetzen. Dedecius verstand und versteht sich wie kein anderer als Brückenbauer, was die Beziehungen zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk betrifft. Auch die Funktion des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages war es, Brücken zwischen unseren beiden Völkern zu bauen. Der Vertrag war und ist ein Meilenstein in unseren Beziehungen. Zehn Jahre nach seiner Unterzeichnung muss festgestellt werden, dass sein Hauptergebnis, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die wir noch heute im deutsch-polnischen Verhältnis zu beklagen haben, im Abbau von Vorurteilen bestanden hat und besteht. Vorurteile werden bekanntermaßen am besten durch das Kennenlernen des anderen, seiner Sprache und seiner Kultur abgebaut. Der Vertrag hat auf vielen Feldern, im Bereich der Politik, im gesellschaftlichen Bereich, im kirchlichen Bereich und auch im wirtschaftlichen Bereich, Hervorragendes geleistet. Durch den heutigen Antrag und durch den Verlauf der Debatte wird deutlich, wie unstrittig die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen in unserem Parlament, aber auch in unserer Gesellschaft geworden ist. Man kann es nur begrüßen, dass wir in diesem Antrag heute fraktionsübergreifend feststellen, ... dass die Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen und die in Deutschland lebenden Polen und Bürger polnischer Abstammung sowie viele Heimatvertriebene in den bilateralen Beziehungen eine aktive, verbindende und konstruktive Rolle spielen. Sicherlich ist es richtig, wenn wir in diesem Antrag an die Regierungen beider Länder appellieren, die Anliegen dieser Bevölkerungsgruppen bei unseren regelmäßigen deutsch-polnischen Konsultationen entsprechend dem Nachbarschaftsvertrag zu berücksichtigen. Ein solches Anliegen ist zum Beispiel die humanitäre Frage, wie wir mit Altersarmut von Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen umgehen. Wir sollten diese Frage nicht allein der polnischen Seite überlassen. Herr Außenminister, vielleicht ist es möglich, dass wir bilateral, also mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland, versuchen, dieses humanitäre Problem gemeinsam lösen und uns nicht nur auf den Rechtsstandpunkt zurückziehen, wie es zum Beispiel im deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen geregelt ist. Ein solches Anliegen ist die Frage der Ausweitung des muttersprachlichen Unterrichts. Herr Außenminister, Sie haben gesagt, dass in Polen 2 Millionen junge Menschen Deutsch als Fremdsprache lernen. Das zeigt, dass die deutsche Sprache in Polen einen hervorragenden Stellenwert hat. Wir dürfen diese Entwicklung allerdings nicht konterkarieren, indem wir gerade in der auswärtigen Kulturpolitik unsere Mittel zur Stärkung der deutschen Sprache in Polen kürzen. Wir müssen sicherlich noch Anstrengungen zugunsten des muttersprachlichen Unterrichts in denjenigen Gebieten, in denen die deutsche Minderheit lebt, unternehmen. ({0}) Lassen Sie mich ein Thema nennen, das ich dazu nutzen möchte, dafür zu werben, in die Zukunft gerichtete Lösungen anzustreben. Ich denke an die Diskussion um Archivalien im Zusammenhang mit den Verhandlungen über kriegsbedingt verlagerte Kulturgüter. Wir sollten in Deutschland wie in Polen für zukunftsgerichtete Lösungen werben. Eine solche Lösung wäre etwa der gesicherte Zugang zu Archivalien von beiden Seiten, indem wir sie - was deutsche Archivfachleute vorschlagen - mikroverfilmen. Wenn dies geschieht, dann spielt es überhaupt keine Rolle mehr, wo diese Archivalien liegen. Beide Seiten könnten die für die Geschichtswissenschaft notwendigen Archivalien nutzen, ohne dass wir uns darüber streiten, wo die Bestände einzulagern sind. Für mich ist die herausragende Bedeutung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages, dass er auf beiden Seiten die Sicht auf den Nachbarn verändert hat. Die deutschen Heimatvertriebenen haben die Offenheit der deutsch-polnischen Grenze für 1 000fache Besuche in ihrer alte Heimat genutzt und sie haben inzwischen ein festes Beziehungsnetz zu den Menschen in ihrer Heimat - auch zur polnischen Bevölkerung - aufgebaut. Ich glaube, wir können erfreut feststellen, wie unbefangen die politisch-gesellschaftlichen Verantwortlichen in Polen heute auf die Heimatvertriebenen zugehen. Ich möchte das an einer Person festmachen, die zu kommunistischer Zeit in Polen als Unperson galt, nämlich unserem ehemaligen Bundestagskollegen Dr. Herbert Hupka, der heute in Polen ein gern gesehener Gast ist, überall Vorträge hält und sogar vom polnischen Bürgermeister seiner Heimatstadt Ratibor mit einer Verdienstmedaille ausgezeichnet worden ist, weil er sich dafür eingesetzt hat, dass Mittel aus Europa und aus dem deutsch-polnischen Verständigungsfonds für die Kanalisation dieser Stadt bereitgestellt wurden. ({1}) Die polnische Seite - auch das müssen wir sehen - geht heute wesentlich unbefangener mit dem deutschen Kulturerbe in Schlesien, Ostpreußen und Pommern um, weil sie erkannt hat, dass es ein verbindendes europäisches Kulturerbe ist. So, wie es in der deutschen Kultur immer wieder wertvolle Bereicherungen durch die Verwobenheit mit der polnischen Kultur gegeben hat - schauen Sie sich unsere Kulturtradition an -, so gilt das in gleicher Weise auch für Polen. Nach meiner Meinung hat es der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, in einem Interview, ich glaube, mit dem „Spiegel“, mit folgendem schönen Satz auf den Punkt gebracht: Vizepräsidentin Petra Bläss Heute kann man ruhig sagen, die Steine in Breslau sprechen auch deutsch und sie haben sehr viel auf Deutsch zu berichten, sehr viel! Ich glaube, auf beiden Seiten wird vieles enttabuisiert. Ich halte es für einen ganz bemerkenswerten Akt, wenn ein junger Wissenschaftler wie Borodziej in Polen eine Quellenedition über polnische Akten zur Vertreibung der Deutschen herausgibt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Koschyk, ich muss Sie leider unterbrechen.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unterbrechen? ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ja, weil Sie Ihre Redezeit bereits überzogen haben. Da es sich mehrfach so anhörte, als würden Sie Ihren Schlusssatz sagen, war ich bis jetzt geduldig.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Wir sollten nicht verschweigen, dass es noch eine Reihe großer Herausforderungen in unseren Beziehungen gibt. Aber all die Fortschritte, die wir in den letzten zehn Jahren in unseren Beziehungen erreicht haben, sollten uns den Mut geben, die noch bestehenden Herausforderungen anzugehen, sie zu meistern und die Dinge aufzugreifen, die die Menschen jenseits und diesseits von Oder und Neiße heute mehr verbinden, als dass sie sie noch trennen. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. mit dem Titel „Deutsche und Polen in Europa: Eine gemeinsame Zukunft“. Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 14/6322? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten JochenKonrad Fromme, Peter Götz, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Umsetzung des Versprechens der Bundesregierung zur Stärkung der Kommunalfinanzen - Drucksache 14/6163 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Sonderausschuss Maßstäbe-/ Finanzausgleichsgesetz Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Erster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Peter Götz.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Bundesregierung macht eine kommunalfeindliche Politik. Sie verschiebt immer mehr Kosten und staatliche Aufgaben hin zu den Städten, Gemeinden und Landkreisen. ({0}) Gleichzeitig nimmt sie den Kommunen auch noch das Geld weg. ({1}) Das ist unanständig, unredlich und gefährdet die kommunale Selbstverwaltung. ({2}) - Das ist nicht unwahr. Welche Bedeutung die Kommunen für die Bundesregierung haben, ist deutlich an der Präsenz auf der rot-grünen Regierungsbank ablesbar. Niemand sitzt dort! ({3}) Damit steht Rot-Grün fest in zentralistisch-sozialistischer Tradition. ({4}) Sogar Ministerpräsident Clement aus Nordrhein-Westfalen beklagt dieser Tage die „großen zentralstaatlichen Versuchungen“ der Berliner Regierung. Damit meint er diese Bundesregierung. CDU und CSU haben ein anderes Staatsverständnis. Wir wollen eine starke lokale Demokratie. Wir wollen, dass die Bürger mitreden und mitentscheiden können. Wir wollen weniger Staat, weniger Bevormundung und für Städte, Gemeinden und Landkreise eigenverantwortliche Aufgaben und klare Zuständigkeiten. ({5}) Dazu gehört auch die notwendige Finanzausstattung. Durch den Antrag, über den wir heute diskutieren, wird die dramatische Verschlechterung der Haushaltssituation deutscher Städte und Gemeinden sehr deutlich. Wir fordern die Koalitionsfraktionen auf, ihre Versprechungen gegenüber den Kommunen einzuhalten. Leider machen Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt haben. Das ist eine Irreführung der Bevölkerung und ein Betrug an vielen kommunalpolitisch engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich in ihrer freien Zeit ehrenamtlich zum Wohl ihrer Heimatstadt einbringen. In Ihrer Koalitionsvereinbarung steht unter anderem: Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärken und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden Prüfung unterziehen. Die Prüfung des Gemeindefinanzsystems ist in weite Ferne geschoben. Bei der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages in Leipzig im vergangenen Monat hat der Bundeskanzler gesagt, dass er das Thema in dieser Legislaturperiode nicht mehr anpacken will. So einfach macht sich Rot-Grün das Regieren. Wir nennen das: Versprechen gebrochen. ({6}) Im Zusammenhang mit der versprochenen Stärkung der Finanzkraft der Gemeinden will ich nur eine Zahl nennen: 11,3 Milliarden DM, und zwar nicht zur Stärkung der Finanzkraft; das ist vielmehr der Betrag, der seit 1998 deutschen Kommunen vom Bund weggenommen wurde. Also 11,3 Milliarden DM weniger statt auch nur eine Mark mehr. Diese Summe macht etwa ein Zehntel aller kommunalen Steuereinnahmen aus. Ein Abbau um 10 Prozent ist viel und ist deshalb besonders schlimm, weil zusätzlich der Anteil staatlicher Pflichtaufgaben weiter wächst. Die Möglichkeit zur Erfüllung freiwilliger Aufgaben, die den Gestaltungsspielraum eines Gemeinderates ausmachen, wird immer weiter eingeschränkt. Das führt dazu - das gilt für alle Parteien -, dass es immer schwieriger wird, Persönlichkeiten zu finden, die bereit sind, für ein kommunales Mandat zu kandidieren. Auf kommunaler Ebene wollen die Menschen gestalten und nicht nur einen Mangel verwalten. Durch Ihre Politik fügen Sie der lokalen Demokratie einen großen Schaden zu. Sie machen auf diese Weise die kommunale Selbstverwaltung bewusst und ganz gezielt kaputt. ({7}) Sie wollten durch ein höheres Wirtschaftswachstum Mindereinnahmen als Folge Ihrer Steuerreform - ein Jahrhundertreformwerk - ausgleichen. Kaum ein Jahr später bekommen die Deutschen die Quittung Ihrer schlechten Politik präsentiert: Die Konjunktur lahmt - wir wissen es alle und haben es heute wieder gehört -, dafür steigt die Inflation auf inzwischen 3,5 Prozent. Hinsichtlich des Wachstums haben Sie Deutschland zum Schlusslicht in der Europäischen Union herunterregiert. Dadurch ergeben sich weitere Steuerausfälle, von denen neben den Bürgerinnen und Bürgern wiederum die Gemeinden besonders betroffen sind. Für das Jahr 2001 sind 1,9 Milliarden DM weniger Steuereinnahmen zu erwarten. Die Folgen sind katastrophal: Viele Kommunen müssen ihren Verwaltungshaushalt auf Pump finanzieren; für dringend notwendige kommunale Investitionen fehlt das Geld. Das gilt nicht nur für Gemeinden im Osten, sondern betrifft auch viele Regionen des Westens. Besonders schlimm sieht es in den Ländern aus, in denen die SPD in der Regierungsverantwortung steht oder gar die PDS noch mit im Boot sitzt. Nach einer gestern veröffentlichten Umfrage des Bundes der Steuerzahler in Nordrhein-Westfalen fehlen in diesem Jahr in Nordrhein-Westfalen rund 3,64 Milliarden DM in den kommunalen Kassen. Damit ist das Defizit um 15 Prozent höher als im Vorjahr. Seit Jahrzehnten hat es nicht mehr so schlechte Straßenverhältnisse in den Gemeinden gegeben wie heute. Ähnliches gilt hinsichtlich der Unterhaltung von Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Auch der Bauwirtschaft - früher ein kraftvoller Motor unserer Konjunktur - fehlen die Aufträge aus den Kommunen. Das ist auch keine Frage irgendwelcher Konjunkturprogramme, sondern Aufgabe einer verlässlichen und kontinuierlichen Politik. Lassen Sie mich anhand von nur einem Beispiel auf die Folgen rot-grüner Politik für die kommunalen Haushalte etwas näher eingehen: die Versteigerung der UMTSLizenzen. Die Versteigerung der UMTS-Lizenzen hat fast 100 Milliarden DM zusätzlich in die Kassen des Bundes gebracht. ({8}) Wir haben sofort gefordert, Länder und Kommunen zu beteiligen; denn Deutschland ist ein Bundesstaat. Nach dem Grundgesetz müssen Einnahmen und Ausgaben in einem äquivalenten Verhältnis zueinander stehen. Wenn der Bund mit 100 Milliarden DM etwa ein Fünftel mehr einnimmt als geplant, dann gerät dieses äquivalente Verhältnis aus dem Gleichgewicht. Schon alleine deshalb hätte der Bundesfinanzminister Länder und Kommunen beteiligen müssen. Das hat er aber nicht getan. Doch damit nicht genug: Durch die steuerliche Anrechnung der Lizenzkosten verlieren die Kommunen bei der Gewerbesteuer und bei der Körperschaftsteuer über den Abschreibungszeitraum 14 Milliarden DM. Der Bund kassiert; die Städte, Gemeinden und Landkreise zahlen die Zeche. Hinter solch abstrakten Zahlen verbergen sich dramatische Verhältnisse in den Gemeinden, in denen Telekommunikationsfirmen vertreten sind. Ich nenne ein Beispiel: Das Amt Stahnsdorf, eine Gemeinde in Brandenburg mit 12 000 Einwohnern, hatte im vergangenen Jahr 4,2 Millionen DM Gewerbesteuereinnahmen, im Wesentlichen von Telekommunikationsfirmen. 2001 entfällt diese Einnahme völlig. Dafür gibt es keinerlei Ausgleich. So gestaltet sich ganz konkret in der Praxis das Versprechen aus der Koalitionsvereinbarung, die kommunalen Finanzen zu stärken. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Inzwischen hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis Platz genommen. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für mich ist maßgeblich, welches Gewicht die Bundesregierung in ihrer Politik auf Kommunen, Städte und Gemeinden legt. Wie gering dieses Gewicht ist, wird heute demonstriert. In Bundestagsreden ist oft von abstrakten Geldbeträgen die Rede. Aber mit diesen Beträgen werden Leistungen für die Menschen bezahlt. In den Gemeinden sind es die ganz alltäglichen Leistungen, bei denen immer mehr Einschnitte gemacht werden müssen: bei Schulen, Kindergärten, Sportstätten und Bädern, bei der Kultur, bei Bibliotheken sowie bei der Theater- und Vereinsförderung. Viele dieser kommunalen Leistungen sind einfach nicht mehr möglich, weil die rot-grüne Bundesregierung die kommunalen Haushalte kontinuierlich zu ihren Gunsten plündert. ({0}) Im Jahr 2001 müssen die Kommunen über 50 Prozent ihrer Steuereinnahmen für Sozialleistungen aufbringen. Im vorigen Jahr waren es noch 47 Prozent. Ob bei der Grundsicherung im Zuge der Rentenreform oder beim Kindergeld, an dem sich die Kommunen mit 6 Milliarden DM zu beteiligen haben - um nur einige wenige Beispiele aus der Sozialpolitik zu nennen -: ({1}) Überall bei diesen staatlichen Aufgaben bitten Sie die Kommunen mit zur Kasse und stellen dies gleichzeitig - wie bei der Kindergelderhöhung - als Wohltat dieser Bundesregierung dar. Ich könnte mit dem Verbraucherschutz fortfahren, zum Beispiel mit dem so genannten BSE-Schnellgesetz. Auch hier werden den Kommunen und Ländern Aufgaben aufs Auge gedrückt. Für den Bund entstehen keine Kosten, für Länder und Gemeinden aber erhebliche. Damit ist für Rot-Grün das Problem erledigt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Heinz Seiffert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Götz, ich finde es beachtenswert, dass bei diesem wichtigen Thema und angesichts der dramatischen Finanzsituation der Kommunen kein zuständiges Regierungsmitglied auf der Regierungsbank sitzt. Können Sie sich dies erklären?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Seiffert, ich kann mir das nur so erklären, dass diese Bundesregierung ihre Prioritäten so setzt, dass die Städte und Gemeinden für sie überhaupt keine Rolle spielen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Götz, es gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage. Danach lasse ich aber keine Fragen mehr zu, weil wir nicht in der Fragestunde sind.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Götz, teilen Sie meine Meinung, dass sich die Bundesregierung wegen ihrer schlechten Leistungen gegenüber den Kommunen so schämt, dass sich kein Vertreter der Bundesregierung traut, während dieser Debatte anwesend zu sein? ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Fromme, ich teile Ihre Meinung. Die Fälle, die ich vorhin aufgeführt habe, sind keine Einzelfälle. Das Schlimme ist - das wird durch die mangelnde Präsenz der Bundesregierung während dieser Debatte deutlich -: Das Ganze hat System. Deshalb prangern wir es an. Rot-Grün will das Gesicht unserer Demokratie verändern, hin zu mehr Staat, mehr Zentralismus, mehr Sozialismus, mit Regulierung sowie mit Gängelung und Bevormundung der Bürgerinnen und Bürger. Berlin lässt grüßen. ({0}) - Klatschen Sie nur, Sie bei der PDS! Die Union steht für mehr Freiheit und mehr Selbstverantwortung. Wir wollen eine starke Demokratie vor Ort. ({1}) Sie haben auch versprochen, das Konnexitätsprinzip einzuhalten. Das heißt im Klartext, dass jede staatliche Ebene, die durch Gesetz Aufgaben verursacht, auch für die Kosten aufkommt. Einfach ausgedrückt: Wer bestellt, bezahlt. - In Wahrheit machen Sie permanent das Gegenteil und brechen regelmäßig Ihre Versprechen. Sie treten mit Ihrer verfehlten Politik Ihre eigene Koalitionsvereinbarung ständig mit Füßen und entwickeln sich zunehmend zu Künstlern im Brechen von Versprechen. Wir fordern Sie deshalb zu einer Kurskorrektur auf. Halten Sie endlich Ihre Versprechungen und ändern Sie Ihre kommunalfeindliche Politik! Legen Sie die versprochene Gemeindefinanzreform vor und nicht laufend Stückwerk mit neuer Bürokratie! Machen Sie Schluss mit dem ständigen Verschiebebahnhof zulasten kommunaler Haushalte! Wir wollen starke Städte und Gemeinden. Wir wollen eine starke kommunale Selbstverwaltung. Wir wollen bürgerschaftliches Engagement auf kommunaler Ebene. Das erreichen wir nur, wenn wir den Städten und Gemeinden auch die notwendige finanzielle Ausstattung belassen. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Bernd Scheelen.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das, was wir hier gerade erlebt haben, scheint eine neue Veranstaltung zu sein. Die CDU/CSU-Fraktion ist offensichtlich sehr ratlos. Sie muss sich schon selbst befragen. Mittwochs ist ja immer Fragestunde. Wir könnten für Ihre Fraktion eine eigene Fragestunde einrichten, damit Sie sich endlich informieren können. ({0}) Ihnen, Herr Kollege Götz, kann ich nur sagen: Es wäre gut gewesen, Sie hätten Ihre Rede während Ihrer Regierungszeit gehalten. Da wäre sie angebracht und berechtigt gewesen; denn Sie haben heute einen Antrag eingebracht - dazu will ich Ihnen ein paar Dinge sagen -, der acht Seiten umfasst. Drei der acht Seiten sind weiße Blätter. ({1}) Anderthalb Seiten enthalten Unterschriften der Unterzeichner, weitere anderthalb Seiten völlig veraltetes Zahlenmaterial und zwei Seiten unwahre Behauptungen. ({2}) Angesichts dieser Qualität des Antrages kann ich schon verstehen, dass sich die Bundesregierung das nicht antun möchte. Für diesen Antrag sollten Sie sich schämen. Er ist nur peinlich. ({3}) Das will ich Ihnen anhand von zwei Daten Ihres Antrages kurz erläutern. Der Antrag datiert vom 29. Mai 2001. Das ist noch nicht allzu lange her, drei Wochen und zwei Tage. Der Antrag ist demzufolge sehr frisch. Das darin enthaltene Zahlentableau, auf das Sie sich bei Ihrer Kritik im Wesentlichen berufen, stammt allerdings von November vorigen Jahres. ({4}) - Herr Fromme, seien Sie ein bisschen vorsichtig mit Ihren Zwischenrufen. Sie werden gleich hören, warum das an dieser Stelle ein falscher Zwischenruf war. Spätestens seit dem Vermittlungsverfahren, was das Problem Rente angeht - dieses Vermittlungsverfahren lag deutlich vor dem Datum Ihres Antrages -, hätten Sie wissen müssen, dass die Zahlen, die beispielsweise zur sozialen Grundsicherung in Ihrem Antrag niedergelegt sind, völlig verkehrt sind. ({5}) Sie haben unter Bezugnahme auf das Tableau behauptet, die Gemeinden würden durch die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung mit 1 Milliarde DM belastet. Die Wahrheit ist: Die Gemeinden werden durch die Reform der sozialen Grundsicherung nicht mit einer einzigen müden Mark belastet werden. Für unsere Zuhörer bzw. Zuschauer will ich einmal kurz erklären, worum es bei der bedarfsorientierten Grundsicherung geht, damit klar ist, wo hier die Verantwortlichkeiten liegen. Ältere Menschen, deren Rente unterhalb der Sozialhilfe liegt, haben einen Anspruch, diese Rente auf Sozialhilfeniveau aufgestockt zu bekommen. ({6}) Von diesem Recht - das wissen wir - machen viele ältere Menschen keinen Gebrauch. Es sind hauptsächlich ältere Frauen betroffen, die den Gang zum Sozialamt scheuen, weil sie nicht möchten, dass sich das Sozialamt im Wege des Rückgriffs bei unterhaltsverpflichteten Verwandten - das sind in der Regel die Kinder - das Geld zurückholt. Aus diesem Verhalten der älteren Menschen resultiert die so genannte verschämte Altersarmut. Mit dieser verschämten Altersarmut werden wir durch die im Rahmen der Rentenreform beschlossenen bedarfsorientierten Grundsicherung Schluss machen. ({7}) Dies ist ein Meilenstein in der Sozialpolitik dieser Republik; so etwas haben Sie in 16 Jahren nicht zustande gebracht. Nun ist es klar, dass der Verzicht auf den Rückgriff bei den Sozialämtern Geld kostet. Es kostet die Gemeinden schätzungsweise 600 Millionen DM. Das war jedenfalls die Zahl, die Sie schon im November vergangenen Jahres anstelle der von Ihnen behaupteten 1 Milliarde DM in Ihren Antrag hätten übernehmen können. Wiese Ihr Zahlentableau diese 600 Millionen DM wenigstens ansatzweise aus, könnte man Ihren Antrag noch für halbwegs seriös halten, aber eben auch nur für halbwegs seriös; denn die Bundesregierung hat immer klar gemacht, dass sie diese Belastung der Kommunen ausgleichen wird. Sie wird die Kosten dafür übernehmen und die Kommunen mit dem notwendigen Geld versorgen, um diese soziale Leistung erbringen zu können. Im Vermittlungsausschuss hat man sich - das wissen Sie - nicht auf nur 600 Millionen DM, sondern auf eine Erstattung des Bundes in Höhe von 800 Millionen DM geeinigt, und zwar mit der Maßgabe, diese Summe alle zwei Jahre zu überprüfen und, wenn es einen Mehrbedarf gibt, anzupassen. Von kommunalfeindlicher Politik, meine Damen und Herren, keine Spur! ({8}) Ganz im Gegenteil: Hier wird das in der Koalitionsvereinbarung niedergelegte Konnexitätsprinzip voll erfüllt: Wer die Musik bestellt, bezahlt. Das hat es in Ihrer Regierungszeit nie gegeben. Ein zweites Beispiel für die Unseriosität Ihres Antrages ist die von Ihnen propagierte Belastung der Gemeinden durch die Nichtanrechnung der Kindergelderhöhung auf die Sozialhilfe. Wir haben das bei der letzten Erhöhung um 20 DM zum 1. Januar 2000 einmal gemacht. Das hat verfassungsrechtliche Hintergründe, die ich hier nicht näher erläutern will, die Sie aber kennen. Nach Ihrer Lesart belastet dies die Kommunen mit 200 Millionen DM. Ehrlicher wäre es gewesen, Sie hätten darauf hingewiesen, dass der Bund im Zusammenhang mit dieser Kindergelderhöhung den Ländern einen weiteren Viertelprozentpunkt der Umsatzsteuer zugestanden hat, was gute 600 Millionen DM ausmacht. Ehrlicher wäre es auch gewesen, Sie hätten die Kindergelderhöhung zum 1. Januar 1999 in Höhe von 30 DM erwähnt, die bei der Sozialhilfe angerechnet worden ist. Dies entlastete die Kommunen um 300 Millionen DM. Dasselbe wird bei der nächsten Kindergelderhöhung zum 1. Januar 2002 geschehen, was die Kommunen um weitere 300 Millionen DM entlasten wird. Im Saldo ergeben die drei Kindergelderhöhungen also eine Entlastung der Kommunen von mindestens 400 Millionen DM. Darin sind die 600 Millionen DM aus dem Viertelprozentpunkt Umsatzsteuer noch gar nicht eingerechnet. Von kommunalfeindlicher Politik, meine Damen und Herren, wiederum keine Spur! ({9}) Ein dritter Punkt, der zeigt, wie seriös Ihr Antrag ist, sind die verkürzten Zitate, mit denen Sie Ihren Antrag spicken, um ihm eben einen seriösen Anstrich zu geben. Beispielsweise zitieren Sie den Präsidenten des Deutschen Städtetages, Hajo Hoffmann, wie folgt: Die Investitionstätigkeit geht dramatisch zurück. Die Kommunen können wichtige Investitionen - etwa für Straßen, Kanalisation, Schulen und soziale Einrichtungen - nicht mehr vornehmen. Die Länder haben ihre Zuweisungen an die Kommunen der neuen Länder - jetzt achten Sie einmal auf die Jahreszahl seit 1992 um über ein Drittel und in den alten Ländern um über ein Viertel verringert. An dieser Stelle endet Ihr Zitat. Wie unredlich dies ist, zeigt der im direkten Anschluss daran von Hajo Hoffmann geäußerte Satz: Sie - also die Länder tragen damit die Hauptverantwortung dafür, dass die Investitionen der Kommunen heute um 19 Milliarden DM oder fast 30 Prozent unter denen des Jahres 1992 liegen. Er sieht die Verantwortung ganz eindeutig bei den Ländern. Im Übrigen waren Sie 1992, was den Bund angeht, an der Regierung. Auch hier, meine Damen und Herren, von kommunalfeindlicher Politik des Bundes keine Spur! Das sehen die kommunalen Spitzenverbände genauso; ich erläutere es Ihnen ganz kurz am Beispiel der Steuerreform. Hier sind wir, die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen, von den Spitzenverbänden - Sie waren ja selbst bei der Anhörung anwesend - für unser kommunalfreundliches Verhalten im Zusammenhang mit der Beratung der Steuerreform gelobt worden. Das begann damit, dass der Finanzausschuss zu diesem Thema eigens eine Anhörung für die kommunalen Spitzenverbände durchgeführt hat. Das hat es zu Ihrer Regierungszeit niemals gegeben. ({10}) So konnten die Bedenken und Anregungen der Kommunen sofort und unmittelbar eingebracht werden. Das setzte sich in sehr engen Kontakten während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens fort, was für die Kommunen auch zu positiven Resultaten wie der Festschreibung der Absenkung der Gewerbesteuerumlage nach 2005 und der Revisionsklausel für 2004 geführt hat. Der größte Erfolg allerdings, den die Kommunen erzielt haben - wir haben sie dabei unterstützt -, ist ihre unterdurchschnittliche Beteiligung an den Ausfällen, die die Steuerreform mit sich bringt. Es muss doch klar sein: Steuersenkung heißt weniger Einnahmen, und zwar bei Bund, Ländern und Gemeinden. Wer auf der einen Seite ständig Steuersenkung predigt, kann nicht auf der anderen Seite kritisieren, dass dann auch wirklich Steuerausfälle eintreten. Gerade die Steuerausfälle beweisen doch, dass diese Steuerreform richtig ist und die Zielgruppen auch erreicht hat. ({11}) An den Gesamtsteuereinnahmen des Staates - meine Damen und Herren, das wissen Sie - sind die Gemeinden mit 12,2 Prozent beteiligt. Daher wäre es nur gerecht und logisch, wenn man die Gemeinden an den Ausfällen, die eine Steuerreform mit sich bringt, in genau diesem Verhältnis beteiligte. ({12}) - Völlig korrekt, Herr Götz. Aber Sie kennen doch die Zahlen, die Ihnen auch die kommunalen Spitzenverbände bestätigen: Die Gemeinden haben insgesamt nur 8,9 Prozent der Steuermindereinnahmen zu tragen. Sie sind doch sehr dankbar dafür, dass wir diese kommunalfreundliche Politik machen. Von kommunalfeindlichem Verhalten wiederum keine Spur! An dieser Stelle möchte ich den Kommunen und den sie vertretenden Spitzenverbänden - dem Städtetag, dem Städte- und Gemeindebund sowie dem Landkreistag - für ihre Bereitschaft, die Steuersenkungspolitik der Bundesregierung voll zu unterstützen, sehr danken. ({13}) Es ist ein einmaliger Fall, dass die Spitzenverbände die Politik der Bundesregierung unterstützen. Das hat es zu Ihren Zeiten nie gegeben. ({14}) Eines ist klar: Auch eine Beteiligung von 8,9 Prozent bei den Ausfällen ist selbstverständlich eine Belastung für die Gemeinden. Das hat unweigerlich Konsequenzen für die kommunalen Haushalte. Wer wollte das leugnen? Das ist aber im System so angelegt. Steuersenkung heißt eben nicht nur Steuersenkung beim Bund, während alle anderen mehr Geld bekommen, sondern Steuersenkung heißt: geringere Steuereinnahmen bei Bund, Ländern und Gemeinden. Ich glaube, den Kommunen wurde die Zustimmung zur Steuerreform durch die Tatsache, dass wir die Gewerbesteuer in vollem Umfang erhalten haben, sehr erleichtert. Das ist ein wichtiger Punkt. Die Ihnen bekannte Steuerschätzung hat gezeigt, dass die Gewerbesteuereinnahmen in den kommenden Jahren weiter steigen werden. In diesem Jahr werden 48 Milliarden DM erwartet, im nächsten Jahr 53 Milliarden DM und 63 Milliarden DM im Jahr 2005. Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer brechen also nicht weg, sondern steigen ständig. Durch den pauschalierten Abzug der Gewerbesteuer von der Einkommensteuer haben wir erreicht, dass die Gewerbesteuer für die Personenunternehmen, also für den Mittelstand, als Belastung abgeschafft, für die Kommunen aber gleichzeitig als Einnahmequelle erhalten wurde. ({15}) Das ist doch im Grunde ein genialer Trick. Da sollten Sie eigentlich sagen: Wunderbar, auf diese Idee hätten wir früher kommen sollen. - Das ist mittelstandsfreundliche Politik, ein hervorragender Beitrag zur Entlastung des Mittelstandes bei gleichzeitiger Sicherung der Finanzkraft der Gemeinden. Das wissen Städte, Gemeinden und Kreise zu schätzen, denn sie wissen genau, was sie von einer Regierung unter Führung der CDU/CSU oder auch mit Beteiligung der F.D.P. zu erwarten gehabt hätten. ({16}) Die F.D.P. wollte die Gewerbesteuer völlig und ohne Ersatz abschaffen. Die CDU/CSU wollte die Messzahlen absenken. Das hätte einen dramatischen Rückgang der Einnahmen aus der Gewerbesteuer, der wichtigsten kommunalen Steuer, zur Folge gehabt. Sie hätten damit nach meiner Überzeugung Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes ausgehöhlt, der den Gemeinden eine wirtschaftsbezogene Steuer mit eigenem Hebesatzrecht garantiert. ({17}) Sie, meine Damen und Herren, sind ein schlechter Ratgeber und ein schlechter Helfer bei der Durchsetzung kommunaler Interessen. Wir Sozialdemokraten brauchen von Ihnen in Bezug auf Kommunalpolitik nun wirklich keine Ratschläge, denn die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist diejenige Bundestagsfraktion, die besonders stark in den Kommunen verwurzelt ist. Wir sind die Kommunalpartei schlechthin und das seit über 130 Jahren. Wir haben unsere Wurzeln in den Stadt- und Gemeinderäten; das wissen Sie auch. Wir sind dort gut verankert. Wir wissen, woher wir kommen, und vergessen das nicht. ({18}) Das kann man auch sehr gut am Beispiel des Finanzministers klar machen. Der Finanzminister Hans Eichel war Oberbürgermeister in Kassel, er war Ministerpräsident in Hessen und ist jetzt Bundesfinanzminister. Das heißt, er hat alle drei staatlichen Ebenen selbst kennen gelernt ({19}) und weiß, wo die Probleme liegen, und er handelt danach. Wir nehmen den Auftrag der Koalitionsvereinbarung sehr ernst, das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden Prüfung zu unterziehen. Aber Sie wissen doch genau wie ich, dass uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1999 eine sehr knappe Frist im Hinblick auf den Länderfinanzausgleich und das Maßstäbegesetz gesetzt hat. Das ist eine Folge der Klagen, die im Wesentlichen von den süddeutschen Ländern betrieben worden ist.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Scheelen, ich muss leider auch Sie etwas bremsen.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme sofort zum Schluss. Wie Sie wissen, binden die Arbeiten am Maßstäbegesetz und am Länderfinanzausgleich personelle Kapazitäten sowohl in den Ministerien als auch in den Fraktionen. Wir müssen dieses Gesetzesvorhaben zum Abschluss bringen. Deswegen bleibt in dieser Legislaturperiode leider keine Zeit für eine Gemeindefinanzreform. Wir werden sie aber in der nächsten Legislaturperiode anpacken. Dazu ist uns das Thema zu wichtig. Zum Abschluss möchte ich den Kollegen von der Opposition noch einen guten Rat geben: Bereichern Sie die Debatte lieber mit konstruktiven Vorschlägen zur Gemeindefinanzreform und nicht mit einem solch peinlichen Antrag; denn in Ihrem Antrag ist kein einziger Vorschlag zu einer Gemeindefinanzreform enthalten. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Gerhard Schüßler für die F.D.P.-Fraktion.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scheelen, es ist schon vermessen, wie Sie angesichts der Vernachlässigung der Kommunen durch die rot-grüne Bundesregierung, die es in dieser Form noch nie gegeben hat, Ihre Politik mit hehren Worten zu verteidigen versuchen. ({0}) All Ihre hehren Worte aus Ihrer Regierungserklärung, nach denen Sie die Finanzkraft der Gemeinden stärken wollten, sind wie Seifenblasen zerplatzt. Herr Kollege Scheelen, wenn selbst eine Zeitung wie die „Frankfurter Rundschau“, die bekanntlich manche Vorlagen zu ihren Artikeln direkt aus dem Büro des Kollegen Struck bekommt, Alarm schlägt und titelt „Kommunen klagen über finanzielle Zwangsjacke“, und wenn man sich die Zahlen, die für sich sprechen, anschaut, ist mir Ihr Beitrag überhaupt nicht mehr verständlich. ({1}) Jeder vernünftige Mensch muss sich angesichts dieser Aussichten sagen: So kann es nicht weitergehen. Was macht denn diese Bundesregierung? Nichts! Es ist jedes Jahr das gleiche Spiel: Nachdem die Bürgerinnen und Bürger ihre Steuern abgeliefert haben, beginnt eine abenteuerliche, wilde Umverteilung. Je nachdem, wie das jährliche Gezerre ausgeht, bekommen davon der Bund, das jeweilige Bundesland und die Kreise und Gemeinden ihre jeweiligen Anteile. Damit aber nicht genug. Die Länder praktizieren untereinander einen Finanzausgleich und auch die kreisfreien Städte und Landkreise unterliegen noch einmal einem Finanzausgleich. Unser Grundprinzip, gleiche Lebensbedingungen für alle zu erreichen, war sicher eine lange Zeit richtig. Für die neuen Bundesländer müssen auch weiterhin Ausnahmen möglich sein. Alle anderen Umverteilungsszenarien sollten aber so schnell wie möglich abgeschafft werden. Das ganze System taugt nichts mehr. ({2}) Dieses System hat alle Verantwortlichkeiten verwischt. Die Finanzströme sind nicht mehr transparent und auch nicht mehr kontrollierbar. Was wir dringend brauchen, ist eine präzise und punktgenaue Struktur der Steuergesetzgebung. Nur mit einem solch längst überfälligen Schritt kann das Ende der für niemanden mehr nachvollziehbaren Umverteilungsorgien eingeläutet werden. ({3}) Jede Gebietskörperschaft muss in der Lage sein, eigene Steuern zu erheben, sie muss also das Recht auf Erhebung eigener Steuern haben. ({4}) Herr Clement und Herr Beckstein haben in dieser Woche vorsichtige Vorschläge gemacht. Es gibt danach Bundessteuern für die Verpflichtungen, für die der Bund die Verantwortung trägt. Die Länder werden in die Lage versetzt, ihre Hoheitsaufgaben und alles, was ihnen der föderative Staat übertragen hat, zu finanzieren. Die Selbstverwaltung der Kommunen bekommt dann wieder einen Sinn und eigene Gestaltungsspielräume, die ja völlig verloren gegangen sind. In Nordrhein-Westfalen stehen 90 Prozent aller kreisfreien Städte unter Haushaltsbewirtschaftung. Das ist das Ergebnis kommunaler SPD-Politik im Lande NordrheinWestfalen. Das machen sie ja schon seit Jahren. ({5}) Angesichts dieser Zustände haben Sie längst den Anspruch verloren, eine Kommunalpartei zu sein. Das Recht auf eigene Steuern für die Kommunen ist in den meisten Demokratien eine Selbstverständlichkeit. Nicht so bei uns. Zurzeit erleben wir erneut ein peinliches Gezerre um den Bund-Länder-Finanzausgleich und das Maßstäbegesetz. Es ist peinlich, was sich dort abspielt. ({6}) Sie wissen ganz genau, dass dabei nichts anderes herauskommen wird als ein Minimalkonsens, welcher die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerade noch erfüllt. Am Grundübel des Umverteilungspokers wird nichts geändert. Von der dringend erforderlichen Gemeindefinanzreform ist keine Rede. Das wird jetzt mit der knappen Zeit begründet. ({7}) - Herr Kollege Scheelen, Sie haben es nie gewollt. - Es ist nicht einmal ein Silberstreif am Horizont sichtbar. ({8}) Herr Eichel hat als Bundesfinanzminister schon x-mal expressis verbis erklärt, dass er keine Gemeindefinanzreform will. ({9}) Das Ganze erinnert mich sehr an das mehr als peinliche Hickhack um die so genannte größte Steuerreform aller Zeiten. Da erpressten sich Bund und Länder gegenseitig, um noch etwas für sich herauszuschlagen. Da wurden politische Kämpfe gewonnen und verloren, aber da wurde nicht die bestmögliche Steuerreform beschlossen. Wenn jeder für sich - Bund, Länder und Gemeinden - seine eigenen Einnahmen und Rechte hätte, könnten man sich auch nicht mehr gegenseitig erpressen. Das hätte einen ganz besonderen Charme. Kommunalpolitik hatte weder in der Vergangenheit in Bonn noch hat sie heute in Berlin den Stellenwert, der ihr gebührt. Alle gegenteiligen Bekundungen helfen nichts, wenn die Tendenz „Nur ja nichts verändern!“ zum Grundprinzip wird. So ist das! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion fordert seit langem die vollständige Abschaffung der Gewerbesteuer. ({10}) Sie ist und bleibt wettbewerbsfeindlich und ist eine der Hauptursachen - das wissen die Finanzpolitiker auch für unser hochkompliziertes Steuersystem. ({11}) Wir fordern eine angemessene Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer, Herr Kollege Spiller. ({12}) Wenn ich Stadtkämmerer wäre, würde ich jubeln, wenn ich an der Umsatzsteuer beteiligt würde. Außerdem fordern wir ein Recht auf die Erhebung eines Zuschlags auf die Einkommensteuer im Rahmen des geltenden Steuertarifs. Das hat sogar den Charme, dass es dazu keinerlei Verfassungsänderung bedarf. Diese Bundesregierung hat nicht einmal Lösungsansätze aufgezeigt, sondern nur Gesetze beschlossen, die den Kommunen in erheblichem Umfang neue Pflichten und Kosten auferlegen. Damit verschlechtert sich die Situation der Kommunen dramatisch. Da können Sie reden, was Sie wollen. Wenn Sie und in Sonderheit auch die Länder vom Konnexitätsprinzip reden, ist das nichts als eine leere Worthülse. Glaubwürdig werden Sie erst, wenn Sie das System wirklich ändern. Dann können die gegenseitigen Erpressungsszenarien nicht weiter angewandt werden und man braucht sich nach der Tat nicht über die jeweils praktizierten Verfahren aufzuregen. Das nämlich ist unglaubwürdig und löst kein einziges Problem. ({13}) Unsere Gemeinden brauchen wieder Luft zum Atmen. Bund-Länder-Finanzausgleich und Gemeindefinanzreform gehören untrennbar zusammen. Sie aber wollen es nicht begreifen, obwohl Sie es wissen. Wir brauchen eine Rückverlagerung von Kompetenzen an die Länder im Sinne des Subsidiaritätsgedankens. Wir brauchen eine klare Regelung der Kompetenzen von Bund, Ländern und Kommunen. ({14}) In ihrer Haushaltswirtschaft müssen sie selbstständig, selbstverantwortlich und voneinander unabhängig sein. ({15}) Durch die Neufassung des Art. 109 des Grundgesetzes muss die Steuerverantwortung der jeweiligen Gebietskörperschaften klar voneinander getrennt und die Umverteilung über den Finanzausgleich auf das absolute Minimum beschränkt werden. Es sagt jeder, dass sich die Gemeinschaftsaufgaben nicht bewährt haben, wenn man betrachtet, was sie alles in ihrem Gefolge mit sich gebracht haben. Folglich gehören sie abgeschafft. ({16}) Es sind also klare Ausgabenverantwortlichkeiten notwendig. Ich hoffe, dass der Grundsatz „Wer bestellt, bezahlt“, also das Konnexitätsprinzip, hier einmal zum Zuge kommen wird. Dazu bedarf es aber längerer, ausführlicherer und intensiverer Debatten, auch hier im Hause, zumal damit zum Teil Verfassungsänderungen verbunden sind. Ich hoffe, dass diese Debatte zumindest einen Anstoß dazu gibt. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kommunaldebatten im Bundestag haben natürlich immer den Charme, dass hier zwar das Klagelied der kommunalen Ebene angestimmt wird, aber in der politischen Praxis, wenn es wirklich um die Geldverteilung geht, die verschiedenen Ebenen durchaus ihre Pfründe verteidigen. Die Tatsache, dass das Bundesfinanzministerium - inzwischen ist der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller eingetroffen ({0}) und vor allem der Bundesfinanzminister heute im großen Umfang gefordert ist, kennen die Insider. Heute kämpft der Bundesfinanzminister mit 16 Bundesländern um den Finanzausgleich bzw. das Maßstäbegesetz. Dieses Gefecht geht zulasten des Bundes. Im Zweifelsfall scheren sich auch die Länder, egal, von wem sie regiert werden, keinen Deut darum, wie es ihren Kommunen geht. Die Passage aus dem Bericht des Städte- und Gemeindebundes - der Kollege Scheelen hat es angesprochen -, die nicht im CDU-Antrag zitiert ist, spricht eine deutliche Sprache: An den klebrigen Fingern der Länderfinanzminister bleibt so manches Geld hängen, das eigentlich für die Kommunen bestimmt war, auch in der Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern, speziell bei den ostdeutschen Bundesländern. Zur Abwehr der Hiobsmeldungen in Ihrem Antrag möchte ich Folgendes sagen: Ich habe mir die Finanzierungssalden aus den kommunalen Kassenberichten zwischen 1994 und 1998 angeschaut. ({1}) - 1998 nicht mehr. - 1994 lag der Wert bei minus 11 Milliarden DM - ich runde -, 1995 lag er bei minus 14 Milliarden DM, 1996 lag der Wert bei minus 8 Milliarden DM und 1997 lag er bei minus 5 Milliarden DM. Im Jahre 1998 wurde der Wert positiv. In dem Jahr lag er bei 5 Prozent. Im Jahre 1999 - in diesem Jahr hatten wir die Regierungsverantwortung - lag der Wert bei plus 4,5 Milliarden DM. Im vergangenen Jahr lag der Wert bei plus 2 Milliarden DM. Nach einer Hochrechnung der kommunalen Spitzenverbände von Ende Januar - hierin spiegelt sich sicherlich auch die Steuerreform wider, die auch technische Reaktionen bei der Rechtsumstellung zur Folge hatte, was zum Beispiel im ersten Quartal das Gewerbeertragsteueraufkommen betroffen hat - wird in diesem Jahr erstmals in unserer Regierungszeit der Wert negativ, was aber sehr in der steuertechnischen Umstellung und in der nachlassenden konjunkturellen Dynamik begründet liegt. Die Zahlen lassen also nicht den Schluss zu, dass diese Koalition kommunalfeindlicher ist als die Vorgängerregierung, im Gegenteil: Die Zahlen sprechen eher für uns. Ich rede hier als jemand, der auch Abgeordneter in einem Kommunalparlament ist. Im Kreistag in Biberach im Oberschwäbischen, wo es eine gute Beschäftigungslage gibt, sind im vergangenen Jahr die Sozialhilfekosten und die Kosten für Hilfe zum Lebensunterhalt deutlich gesunken. Das ist eine Tatsache, die in vielen Teilen dieser Republik aufgrund des Anziehens der Beschäftigung zu konstatieren war. Das begrüße ich und hoffentlich auch der F.D.P.-Kollege und die Unionsfraktion, weil das natürlich der kommunalen Seite gut tut. Zu Recht hat der Kollege Scheelen darauf hingewiesen, dass bestimmte Sozialleistungen, die wir auf Bundesebene verbessern, automatisch zur Verbesserung der Einnahmesituation der Kommunen führen. Auch der Familienleistungsausgleich des nächsten Jahres wird für die kommunale Seite, wenn das Kindergeld um 30 DM erhöht wird, eine Entlastungskomponente beinhalten. Das darf man nicht unterschlagen. So viel zu diesem Vergleich. ({2}) Ich möchte jetzt den Blick über den Tellerrand wagen. Ich persönlich hatte mich dafür eingesetzt, dass die Passage, auf die Sie Ihren Antrag stützen, in die Koalitionsvereinbarung hinein geschrieben wurde. Das bezog sich auf eine etwas größere Finanzreform und nicht auf eine kleine wie jetzt beim Maßstäbegesetz und Finanzausgleich. Weiter nenne ich die Finanzverfassungsreform und das Konnexitätsprinzip. Die Bundesländer, und zwar in ihrer Gesamtheit - egal, von wem sie regiert werden -, blockieren eine größere Reform. Das kann man heute konstatieren. Wenn wir eine große Finanzverfassungsreform wollen, dann sollten wir den Weg einschlagen, den der Deutsche Landkreistag in der letzten Woche empfohlen hat, nämlich die Einberufung einer entsprechenden Finanzverfassungskommission in der nächsten Legislaturperiode mit dem Ziel, im Grundgesetz die nötigen Rechtsänderungen für die Trennung der Zuständigkeiten herbeizuführen. Gleichzeitig müssen wir natürlich in der Steuergesetzgebung die künftige Entwicklung abbilden. Hierzu gehört zum Beispiel - hierfür hat meine Fraktion durchaus Verständnis -, den Gemeinden Hebesatzrechte auf direkte Steuern einzuräumen, beispielsweise auf die Einkommensteuer. Denn die Trennung der Verantwortlichkeiten hat den Vorteil, dass Ausgaben- und Einnahmeverantwortung auf einer bestimmten Ebene angesiedelt sind und damit künftig die kommunale Seite den schwarzen Peter nicht immer nach oben schieben kann, ({3}) sondern vor Ort zu vertreten hat, was eingenommen und ausgegeben wird. ({4}) Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, der deutlich macht, warum die Gemeinden jetzt in Hab-AchtStellung sind. Sie wissen, dass, wenn man - um die Verantwortung zu bündeln - die beiden sozialen Sicherungssysteme, nämlich die Sozialhilfe, die von den Kommunen bezahlt wird und für die sie rund 50 Milliarden DM pro Jahr ausgeben, und die Arbeitslosenhilfe, die aus dem Bundeshaushalt bezahlt wird, und zwar mit rund 25 Milliarden DM pro Jahr, miteinander verschränkt, sich natürlich sofort die Frage stellt, ob damit der Bund seine Lasten in Höhe von 25 Milliarden DM kommunalisieren will. Dazu sage ich deutlich und spreche es auch als Bundespolitiker an: Das wollen wir nicht. In dem Kontext einer solchen Maßnahme wird der Handlungsdruck für eine Finanzverfassungsreform wesentlich größer; denn wenn Sie dieses Problem für die Gemeinden tatsächlich dauerhaft befriedigend lösen wollen, dann müssen Sie im System Änderungen grundsätzlicher Art vornehmen. Sie müssten etwa das Konnexitätsprinzip auch im Grundgesetz verankern, sodass es verbriefte Ansprüche der Gemeinden, also eine Absicherung, gibt, wie es in manchen Ländern durch landesverfassungsgerichtliche Urteile geregelt wurde. Dort haben die Verfassungsgerichtshöfe entschieden: Wenn die Länder Aufgaben auf die Kommunen übertragen, dann müssen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden, dass dafür auch entsprechende Einnahmen vom Land kommen. Eine solche Koppelung im Grundgesetz ist aus meiner Sicht denkbar. Ich gehe jetzt über den Diskussionsrahmen hinaus. ({5}) - Herr Götz, seien wir reell: Sie waren Bürgermeister in Gaggenau. Alle Redner, die vor mir geredet haben, haben eine kommunalpolitische Funktion: Bernd Scheelen in Krefeld, Schüßler in Hagen. Sie sehen, dass ich den „Kürschner“ aufmerksam studiert habe, während Sie geredet haben. ({6}) - Ich habe auch zugehört. Was ich damit sagen will - Kollege Fromme, Sie können darauf dann eingehen; Sie reden ja noch -, ist etwas anderes: Alle kommunalen Praktiker wissen ganz genau, wie mühsam das Geschäft ist, beiden übergeordneten staatlichen Ebenen, nämlich Ländern und Bund, etwas abzutrotzen. Warum das so ist, ist doch klar: Die Kommunen sind verfassungsrechtlich für den Bund Bestandteil der Länder und die Kommunen haben keine Mitwirkungsrechte verbriefter, verfassungsrechtlicher Art im Gesetzgebungsverfahren. Insofern sitzen sie, wie viele Präsidenten der Städtetage in der Vergangenheit gesagt haben, immer am Katzentisch, wenn im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat Kompromisse zulasten der kommunalen Ebene geschmiedet werden. Weil an den Kompromissen immer der „gesamte Laden“ hier beteiligt ist, weil alle Parteien des Bundestages irgendwo auf Länderseite mitregieren, verbietet sich eine zu stark polarisierende Diskussion; denn alle, die hier im Parlament vertreten sind, sitzen im Glashaus. ({7}) - Nein, ich rate ja zur Mäßigung, Kollegin Kressl. Mäßigung bedeutet: Nehmen wir uns Zeit für eine vernünftige Reform! Nehmen wir den Kommunen in Deutschland die Angst, dass durch die Änderung bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein Generalangriff auf die kommunale Seite geplant ist. Deuten wir vor allem an, dass mit der nächsten Finanzverfassungsreform tatsächlich eine umfassende Reform kommt und nicht das, was an diesem Wochenende zwischen Ländern und Bund „ausgedealt“ wird: Maßstäbegesetz und neuer Finanzausgleich. Für das, was bei diesem Ereignis herauskommt, schäme ich mich fast. Das ist marginal. ({8}) - Die Peinlichkeit allerdings kann kein Abgeordneter mit Überzeugung herausstellen, weil alle diesen Deal im Hinterzimmer mitmachen und der Exekutivföderalismus da fröhliche Urständ feiert, statt dass im Parlament transparent und offen verhandelt und diskutiert wird. Vielen Dank! - Und, Frau Präsidentin: Ich war sekundengenau! ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Solche Punktlandungen sind immer beeindruckend, zweifellos. Nächster Redner für die PDS-Fraktion ist der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da beißt die Maus keinen Faden ab: Die rot-grüne Bundesregierung hat ihre Koalitionsvereinbarung, wonach die Finanzkraft der Gemeinden zu stärken ist, nicht eingehalten. Sie hat sie nicht nur nicht eingehalten, sondern sie hat im Gegenteil sogar die Situation der Kommunen durch ihre Haushalts- und Finanzpolitik weiter verschärft. Der erste Beleg dafür ist die Steuerreform. Es ist eben nicht so, Kollege Scheelen, wie Sie dargestellt haben - ich war auch auf dem Deutschen Städtetag in Leipzig -, dass die Kommunen die großen Profiteure der Steuerreform sind. In diesem Jahr fehlen den Städten, Gemeinden und Landkreisen wegen der Steuerreform immerhin 8,5 Milliarden DM - Zahlen des Deutschen Städtetages - an eigenen Einnahmen. Zweitens. Bundesfinanzminister Hans Eichel - übrigens viele Jahre lang Oberbürgermeister der Großstadt Kassel - hat mit dafür gesorgt, dass der Bundeshaushalt zulasten der Kommunen saniert worden ist. Das ist eine unverantwortliche Praxis. ({0}) Deswegen gibt es heute vielerorts leere Haushaltskassen und Rathäuser verfügen nicht über die notwendigen Geldmittel. Und leere Rathauskassen sind ja wohl die Totengräber für die Unternehmen, sie sind Totengräber für die sozialen Vereine, Totengräber für Kultur, Totengräber für Sport und natürlich auch ein unheimlicher Störfaktor für kommunale Demokratie. ({1}) Die Kommunen haben über Jahre hinweg geringere eigene Einnahmen, müssen dennoch ihre Aufgaben erfüllen. Ein Beispiel: Die kommunalen Investitionen sind seit 1994 - inflationsbereinigt - um 40 Prozent zurückgegangen. Dafür tragen der Bund, aber auch die Länder die Verantwortung. Die Folge ist, dass es beim Baugewerbe, für das die kommunalen Investitionen ein wichtiger Auslöser sind, zu immer mehr Problemen kommt. Wir haben in Deutschland 637 000 arbeitslose Bauleute. Ein gerüttelt Maß davon ist auf die unzureichende Finanzausstattung der Kommunen zurückzuführen. Ein weiterer Faktor: Kommunale Investitionen in Höhe von 1 DM, liebe Kolleginnen und Kollegen, lösen in der Regel private Investitionen in Höhe von 7 DM aus. Sie sehen hieran die unheimliche Flächenwirkung. Oder nehmen wir die sozialen Vereine: Fehlende Zuschüsse behindern das soziale Klima. Kommunale Demokratie wird beeinträchtigt. Ein Bürgermeister, der faktisch nichts mehr zu entscheiden hat, ein Gemeinderat, der nicht über die benötigten Geldmittel verfügt, ist diskreditiert. Die Bürger erkennen das. Die derzeitige Wahlbeteiligung bei einigen Stichwahlen in Ostdeutschland von um die 20 Prozent spricht eine beredte Sprache. Das ist eine Furcht erregende Entwicklung. Und immer weniger Kommunalpolitiker sind bereit, für kommunale Mandate zu kandidieren. Die PDS - ich sage das noch einmal - ist die einzige Partei, die in dieser Legislaturperiode über ein umfassendes Konzept für eine Reform der Kommunalfinanzierung, die vielerorts eingefordert wird, verfügt. ({2}) Unsere Eckpunkte lauten: Wir sind erstens dafür, dass die Kommunen über stabile eigene Steuereinnahmen verfügen und dass sie über diese Einnahmen eine langfristige Planungssicherheit haben. Zweitens Gewerbesteuerumlage: 30 Prozent der Gewerbesteuer müssen an Bund und Länder abgeführt werden. Der Anteil soll noch weiter steigen. Das ist unverantwortlich. Drittens. Wir brauchen in strukturschwachen Regionen für die Kommunen eine Investitionspauschale des Bundes, und zwar für ostdeutsche Städte, Gemeinden und Landkreise und auch für strukturschwache Regionen in Westdeutschland. ({3}) Diese Investitionspauschale soll direkt vom Bund an die Kommunen fließen. Dort soll mit der Sachkompetenz der Bürgerinnen und Bürger und der Gemeinderäte über deren Verwendung für Sozialpolitik, für kommunale Investitionen, für ökologische Fragen sowie das Bildungswesen entschieden werden. So etwas gab es schon einmal, aber es ist notwendig, es sozusagen wieder neu aufzulegen, weil die Situation dramatisch wird. Viertens. In der Tat, Kollege Metzger, brauchen wir eine Reorganisation der Finanzverfassung in der Bundesrepublik überhaupt. Grundlegende Schritte sind notwendig. Jetzt ist es immer noch so, dass die Kommunen - die übrigens bei Treffen, bei denen es um bundesund landespolitischen Entscheidungen geht, meistens am Katzentisch sitzen: eine unverantwortliche Praxis ({4}) in der Finanzverfassung völlig unterbewertet sind. Und es wird nach folgendem Strickmuster gehandelt: Erst wird der Bund bedient, dann die Länder, dann die Kommunen. Die Kommunen als Letzte beißen immer die Hunde. Das muss aber umgekehrt sein. Deswegen brauchen wir sofort die Debatte über die dringend notwendige Kommunalfinanzreform in der Bundesrepublik und nicht deren Vertagung in die nächste Wahlperiode. ({5}) Ein letztes Wort an die Kollegen der CDU/CSU: Viele Beiträge zur Lageeinschätzung kann man unterstützen. Das ist auch unsere Auffassung. Aber Sie müssen sich natürlich fragen lassen, warum Sie in den 16 Jahren Regierungszeit unter Helmut Kohl dafür gesorgt haben, dass wichtige finanzielle Grundlagen kommunaler Selbstverwaltung, Steuergrundlagen, ausgehöhlt worden sind. Deswegen würde ich an Ihrer Stelle auf diesem Gebiet ein bisschen mehr Selbstkritik üben. Sie haben ja jetzt dazu die Gelegenheit. Der nächste Redner ist von der CDU/CSU. ({6}) Wir brauchen in Deutschland eine Kommunalfinanzreform für die Bürgerinnen und Bürger in den Städten, Gemeinden und Landkreisen, für unser Gemeinwohl. Gemeinsam sollten wir jetzt dafür streiten. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Frank Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Frank Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003473, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nur eines richtig stellen: Natürlich bin ich nicht Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, sondern der SPD-Fraktion, Herr Rössel. ({0}) Nach den deutlichen Ausführungen meines Kollegen Bernd Scheelen möchte ich das eine oder andere gerne noch ergänzen. Insbesondere nach dem letzten Redebeitrag hier muss man wohl klarstellen, wer die letzten 16 Jahre vor 1998 regiert hat. Ich denke, es muss auch deutlich gemacht werden, wie kommunalfeindlich die CDU in diesen Jahren gewesen ist. ({1}) Wir können feststellen, dass Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, eine gewisse Bewusstseinsspaltung deutlich macht, da nämlich Sie es waren, die in den Jahren 1982 bis 1998 bewusst und mit gezielten Anträgen, die ich auch gerne noch darlegen möchte, die Gemeindefinanzen auf den Hund gebracht haben. Sie haben in den Jahren 1990 bis 1997 durch Ihre bundespolitischen Entscheidungen dazu beigetragen, dass der Bund in diesem Zeitraum um 69,3 Milliarden DM entlastet worden ist, während die Länder um 13,5 Milliarden DM und die Kommunen um 5,2 Milliarden DM belastet worden sind. Das ist Fakt und das fiel in Ihre Regierungszeit. ({2}) Bei uns Kommunalpolitikern machte damals sehr oft der Ausdruck „Ausverkauf der Kommunen“ die Runde. Die logische Konsequenz aus einer solchen Situation, nämlich dass man mangelnde Einnahmen hat, ist, dass man auch weniger Geld ausgeben kann. Logischerweise gingen die Investitionen zurück. Ich hätte es für gut befunden, wenn der Debattenredner der CDU heute hier einmal dargestellt hätte, wann die Investitionen der Kommunen zurückgegangen sind: Sie sind in den Jahren 1992 bis 1998 massiv von 65,5 Milliarden DM auf 47,7 Milliarden DM zurückgegangen. ({3}) Das war das Ergebnis Ihrer Politik. Dann stagnierten sie und steigen jetzt wieder leicht an. ({4}) Der Grund ist darin zu suchen, dass Sie vor allen Dingen in den Jahren 1992 bis 1997 massiv dazu beigetragen haben, die Sozialhilfekosten, die sozialen Lasten der Kommunen extrem in die Höhe zu treiben. Dabei gibt es Entscheidungen, die man nachvollziehen kann. Sie haben aber einfach tatenlos hingenommen, ({5}) dass ungefähr 4,2 Millionen Menschen in diesem Land arbeitslos waren. Sie rutschen irgendwann in die Sozialhilfe ab, wenn man nichts dagegen tut, und Sie haben 16 Jahre lang nichts dagegen getan. ({6}) Sie haben auch Entscheidungen getroffen - zum Beispiel 1996 - durch die die Arbeitslosenhilfe um 3 Prozent gekürzt worden ist. Sie haben 1997 beschlossen, die Bezugszeit von Arbeitslosenhilfe zu kürzen. Die Folge war: Hunderttausende von Arbeitslosenhilfeempfängern sind in die Sozialhilfe gerutscht - Lasten für die Kommunen. ({7}) Durch einige Entscheidungen, die Sie getroffen haben, haben Sie massiv zulasten der Kommunen gehandelt. ({8}) Das Ergebnis waren 2,9 Millionen Sozialhilfeempfänger in diesem Land mit einem Belastungsvolumen von fast 50 Milliarden DM.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?

Dr. Frank Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003473, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, haben Sie eigentlich zur Kenntnis genommen, dass in der Zwischenzeit eine Pflegeversicherung eingeführt worden ist, durch die viele Menschen aus der Sozialhilfe herausgekommen sind, wodurch kommunale Haushalte im Sozialhilfebereich um 10 Milliarden DM jährlich entlastet worden sind?

Dr. Frank Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003473, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werter Herr Kollege Götz, es ist richtig ({0}) - ich bin noch nicht fertig -, dass die kommunalen Haushalte hinsichtlich der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung in einem Jahr - das war ungefähr um 1996 - massiv entlastet worden sind. Danach sind die Sozialhilfekosten wieder massiv angestiegen. ({1}) Schauen Sie sich die Kurve an: Sie geht erst hoch, dann in einem Jahr, 1996, runter und dann entsprechend wieder hoch, weil Sie nämlich nichts gegen die Arbeitslosigkeit getan haben. ({2}) Schauen Sie sich doch einmal, lieber Herr Kollege, die prozentuale Verteilung zwischen Hilfe in Einrichtungen bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt an. Vor allen Dingen zur Entlastung bei der Hilfe zum Lebensunterhalt haben Sie keinen Beitrag geleistet. Bei der Hilfe in Einrichtungen war das der Fall, aber in dem anderen Bereich nicht. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Götz?

Dr. Frank Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003473, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Götz.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, haben Sie auch zur Kenntnis genommen, dass die Pflegeversicherung nicht nur für ein Jahr eingeführt worden ist, sondern die Sozialhilfekassen jährlich entlastet? ({0})

Dr. Frank Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003473, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme gern auf, was der Kollege Scheelen gerade gesagt hat. Umso schlimmer ist es, dass die Sozialhilfekosten der Kommunen trotz der Pflegeversicherung wieder massiv angestiegen sind. Selbst das, was Sie gemacht haben, hat nicht einmal im Entferntesten ausgereicht, um die Sozialhilfekosten der Kommunen einigermaßen einzuschränken. Weitere Belastungen kamen auf die Kommunen zu. ({0}) Ich denke, ich sollte in meiner Rede fortfahren. Weil Sie dieses Thema gerade angesprochen haben, möchte ich ein aktuelles Beispiel aus meinem Landkreis nennen. Ich komme aus dem Landkreis Limburg-Weilburg. Im Jahre 1990 sind 7 Millionen DM für Sozialhilfe, und zwar für die Hilfe zum Lebensunterhalt, ausgegeben worden. 1998, im - Gott sei Dank - letzten Jahr Ihrer Regierungszeit, waren es bereits 40 Millionen DM. Dies war also eine Steigerung um fast 600 Prozent bei den Kosten für die Hilfe zum Lebensunterhalt. ({1}) - Nein, von 1990 bis 1998. In diesem Zeitraum gab es eine Steigerung von fast 600 Prozent im Bereich der Sozialhilfe. Das ist der sozialpolitische Bankrott, den allein Sie zu verantworten haben. ({2}) Sie haben bewusst viele Menschen in die Armut getrieben. Schauen Sie einmal in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hinein. Dieser Armutsund Reichtumsbericht spiegelt deutlich wider, dass Sie in Ihrer Regierungszeit Hunderttausende von Menschen in Deutschland in die Armut getrieben haben. ({3}) Gleichzeitig haben Sie unsere Kommunen an den Rand des Ruins gebracht. Wenn ich bei fehlenden Einnahmen für riesige Ausgaben sorge, dann brauche ich mich nicht zu wundern, dass Schulden und Defizite entstehen, die bis heute beklagt werden. Aber diese Defizite sind vor allen Dingen in Ihrer Regierungszeit entstanden. ({4}) Es muss konstatiert werden, dass unsere Regierungszeit seit dem Oktober 1998 vor allen Dingen davon geprägt ist, dass wir Entscheidungen getroffen haben, die nicht kommunalfeindlich, sondern besonders kommunalfreundlich sind. Ich greife einmal den Themenbereich der Sozialhilfe auf, einer der Hauptkostentreiber der Kommunen. Die Entscheidungen, die die Bundesregierung und das Parlament hierzu getroffen haben, haben in der Zwischenzeit vor allen Dingen im Bereich der Sozialhilfe sehr stark gegriffen. Ich nehme noch einmal das Beispiel von vorhin auf. Mein Landkreis hatte Sozialhilfeausgaben in Höhe von 40 Millionen DM. Jetzt sind wir wieder bei 32 Millionen DM, und zwar innerhalb von zwei Jahren. Es sind nämlich Entscheidungen getroffen worden, die Dr. Frank Schmidt ({5}) direkt vor Ort umgesetzt werden können: Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist verstetigt worden und hilft dabei, dass nicht noch mehr Leute in die Sozialhilfe rutschen. Wir haben dafür gesorgt, dass ein Modellprojekt auf den Weg gebracht worden ist, bei dem die Zusammenarbeit von Arbeits- und Sozialämtern intensiviert wird und an dem 30 Kommunen teilnehmen. Hier muss angesetzt werden. Es geht nicht nur um die kostenmäßige Verteilung zwischen den Arbeits- und Sozialämtern. Es geht vielmehr darum, dass die Sozialämter in die Lage versetzt werden, die Maßnahmen zu koordinieren. Damit ist angefangen worden. Es wird umgesetzt und sich entsprechend segensreich in den Kommunen auswirken. ({6}) Wir haben durch die Auflage des Sofortprogramms zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit 200 000 Jugendlichen, die arbeitslos waren oder keine Ausbildung hatten, eine Chance für die Zukunft eröffnet. Diese Menschen wären ansonsten in die Sozialhilfe abgerutscht und sind nun aus diesem Gefahrenbereich herausgeholt. Im Zusammenhang mit dem direkten Einfluss auf die Kommunen sind zwei Entscheidungen sehr wichtig. Da Sie eben die Pflegeversicherung angesprochen haben, möchte ich kurz darauf eingehen. Die Erhöhung der Pflegesätze, die wir beschlossen haben, ist ein ganz wichtiger Beitrag zur Reduzierung der Sozialhilfekosten der Kommunen; denn dadurch wird Hilfe in die Ausgaben der Kommunen für die Einrichtungen proportional reduziert. Diese Auswirkungen kann man nachweisen. Dies kann man in den kommunalen Haushalten wiederfinden. Das ist ein Erfolg dieser Regierung. ({7}) Gleichzeitig werden durch die Anhebung des Wohngeldes, die jetzt greift, 170 000 Menschen in diesem Land aus der Sozialhilfe geholt. Wer mehr Wohngeld bekommt, braucht keine Sozialhilfe mehr von der Kommune in Anspruch zu nehmen. Das hat etwas mit der Menschenwürde der Betroffenen zu tun. Vor allen Dingen hat es etwas damit zu tun, dass so die kommunalen Finanzen wieder in Ordnung gebracht werden. ({8}) Allein im Bereich der Sozialhilfe kann ich konstatieren: Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben den Karren in den Dreck gefahren. Wir reißen das Ruder für die Kommunen und für die Menschen in den Kommunen entschieden herum. ({9}) Ich möchte noch ein paar Dinge anmerken, die ebenfalls mit hineinspielen. Ich nenne nur das Programm, das Brennpunkte entschärft: „Die soziale Stadt“. Auch denke ich an die Forderungen der Kommunen, die Infrastruktur sicherzustellen, was wir mit der Post-Universaldienstleistungsverordnung getan haben. Wir haben sichergestellt, dass in jedem Ort eine Post vorhanden ist, welches eine Forderung der Kommunen war. Dies ist eine kommunalfreundliche Politik. Wir haben dafür gesorgt, dass im Rahmen eines Gebäudesanierungsprogramms jedes Jahr 200 000 Wohnungen saniert werden. Das ist für die Innenstädte wichtig. Es hat etwas mit der Ausstattung der Kommunen und den Menschen, die dort leben, zu tun. Das ist kommunalfreundliche Politik. ({10}) Wir haben dafür gesorgt - das ist ein Thema, das uns immer wieder beschäftigt -, dass ein Sonderprogramm zur sprachlichen Integration von Spätaussiedlern aufgelegt und mit einem besonderen D-Mark-Betrag bedacht wird. Das ist auch eine Forderung der Kommunen. Die Kommunen treten immer wieder an uns heran und fordern: Tut etwas für die Integration der Menschen. Wir nehmen Geld in die Hand, um diese Leute zu integrieren. Wir haben - das ist schon erwähnt worden, das möchte ich aber nach den Reden, die hier gehalten worden sind, noch einmal ansprechen - eine kommunalfreundliche Steuerreform beschlossen. Die Steuerreform belastet die Kommunen im Verhältnis zu ihrem Steueraufkommen unterproportional. Einfach ausgedrückt heißt das: Die Kommunen bekommen 12,2 Prozent des gesamten Steueraufkommens. Von allen Steuerausfällen tragen sie aber nur 8,9 Prozent. Den Rest schultern Bund und Länder. Wir haben deutlich gemacht, dass die Kommunen hierbei entlastet werden, und ich sage in Richtung der F.D.P.: Wir haben auch deutlich gemacht, dass für uns die Gewerbesteuer ein Teil des kommunalen Finanzsystems bleibt. Wir sind in der Lage, deutliche Zeichen in die Richtung zu setzen, was die Kommunen für ihren Finanzbedarf benötigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, lassen Sie mich vielleicht einmal anmerken: Angesichts dessen, was diese Bundesländer wie Bayern oder Hessen mit ihren Kommunen getan haben, sollten Sie sich lieber an Ihre eigene Nase fassen. ({11}) - In Bayern ist die Höhe des Finanzausgleichs für die Kommunen in den letzten Jahren nie in gleichem Umfang gestiegen wie die Steuermehreinnahmen des Landes. Dabei gibt es jedes Jahr eine Lücke. Das Ergebnis sehen wir: Die Schulden des Landes Bayern sind seit 1998 um 28 Prozent gestiegen. Bei den Kommunen, die nicht an den Steuermehreinnahmen teilhatten, sind die Schulden im gleichen Zeitraum um 72 Prozent gestiegen. Das ist Ihre Politik in Bayern. So saniert sich das Land Bayern auf Kosten der Kommunen! ({12}) Gleiches sehen wir in Hessen. Dort können wir feststellen, dass die Landesregierung 800 Millionen DM aus der Planung des Finanzausgleichs herausgenommen hat, vor allem im Bereich der Kindergartensubventionierung. Im Städtebau hat das Land Kürzungen beschlossen, die dazu führen, dass die Kommunen weniger Einnahmen haben. Sie haben die Kürzungen bei den Zuschüssen beschlossen, wir nicht. Das ist der Unterschied in der Art, wie Finanzpolitik für die Kommunen betrieben wird. Dr. Frank Schmidt ({13}) Ich möchte gar nicht darauf eingehen, was Sie in den letzten Wochen und Monaten noch an tollen Dingen zum Besten gegeben haben. Sie haben Forderungen mit einem Volumen von mehr als 300 Milliarden DM gestellt. Sie fordern heute - das konnten wir vernehmen -, die Steuerreform vorzuziehen, was jedes Jahr einen Steuerausfall in Höhe von 45 Milliarden DM bedeuten würde. Ich frage mich, wie Sie das Ihren Kommunen beibringen wollen. ({14}) Ich möchte gar nicht davon reden, was derartige Steuerausfälle für das Land Berlin bedeuten würden. Das machen Sie so eben einmal aus der Tasche. Es ist festzustellen, dass die CDU hier einen Schaufensterantrag gestellt hat. Für uns stand und steht fest, dass unser Gedächtnis nicht wie das Ihrige nachlässt. Wir werden in Zukunft weiterhin an Ihre Sünden aus der Vergangenheit erinnern, wenn es sein muss, auch anlässlich eines solchen Eigentores, wie Sie es heute geschossen haben. Danke. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad Fromme von der CDU/CSU-Fraktion.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wenigstens Staatssekretär Diller nach der halben Debatte eingetroffen ist. Ich empfinde es aber schon als einen Skandal, dass das Kommunalministerium hier überhaupt nicht vertreten ist. Herr Kollege Scheelen, ({0}) wenn Sie nicht die leeren Seiten von der Bundestagsverwaltung gelesen hätten, sondern die Textseiten, dann hätten Sie festgestellt, ({1}) dass die angeblich falsche Zahl aus einer Mitteilung des Städte- und Gemeindebundes stammt. Da Sie aber eben leere Seiten lesen, kann ich verstehen, wie Sie zu dem Bild von der Meinung der kommunalen Spitzenverbände kommen. Wenn Sie deren Verlautbarungen lesen würden, kämen Sie zu einem ganz anderen Urteil. Denn die sagen etwas ganz anderes. Wir haben im Hinblick auf die Steuerreform niemals die proportionalen Verluste der Gemeinden gerügt. ({2}) Diejenigen, die das getan haben, waren die Oberbürgermeister Ihrer Partei. Wir haben vielmehr die überproportionalen Verluste gerügt. Herr Kollege Schmidt, Sie haben von einem Anstieg der Sozialhilfekosten in den 90er-Jahren gesprochen. Sie dürfen natürlich nicht vergessen, dass in diesem Anstieg 8 Milliarden DM für Zuwanderer enthalten sind. Sie haben sich geweigert, die Rechtslage zu ändern. Erst als die rheinischen Oberbürgermeister Ihrer Partei Druck gemacht haben, haben Sie sich bewegt. Wenn Ihre Arbeitslosenpolitik wirklich so gut wäre, dann müssten die Ausgaben für Sozialhilfe jetzt dramatisch in den Keller sinken. Auch das kann ich nicht feststellen. ({3}) Herr Kollege Metzger, ich kann Ihnen in vielen Punkten folgen. Aber bei Ihnen ist es genauso wie bei Ihrer Kollegin Scheel: Sie erzählen das eine und tun das andere. Früher haben die Grünen die Kröten über die Straße getragen und heute schlucken sie sie. ({4}) Betreiben Sie doch einmal die Politik, die Sie verkünden. Wenn das geschieht, dann können wir zueinander kommen. Wer einen föderalen Staat haben will, der muss dafür sorgen, dass auf jeder Ebene nach dem Prinzip gehandelt wird, dass die Verantwortung für Einnahmen und Ausgaben in ein und derselben Hand liegt. Das einzig adäquate Mittel, um dafür auf Dauer zu sorgen, ist das Konnexitätsprinzip. Sie haben es in Ihre Koalitionsvereinbarung richtigerweise hineingeschrieben, auch wenn Sie es - wie so vieles - inzwischen vergessen zu haben scheinen. Konnexitätsprinzip heißt: direkt und unmittelbar ausgleichen. Man erkennt den Unterschied zu dem, was Sie jetzt machen. Sie gehen einen doppelten Umweg. Der erste Umweg ist, dass Sie über die Länderhaushalte gehen. ({5}) - Dazu sage ich gleich etwas. - Dabei kommen die klebrigen Finger der Länderfinanzminister ins Spiel, an denen vieles hängen bleibt. Der zweite Umweg besteht darin, dass Sie keinen direkten Ausgleich, sondern, wie bei der Grundrente, den Ausgleich über das Wohngeld vornehmen. Ich kann Ihnen nur sagen: Durch diese beiden Umwege vervielfacht sich das Risiko für die Kommunen. Warum? Der erste Grund sind - ich habe es gesagt - die klebrigen Finger der Länderfinanzminister; der zweite Grund ist, dass nach einigen Jahren überhaupt keiner mehr die Kompensation, die irgendwann einmal festgeschrieben worden ist - am Tage X mag sie zahlenmäßig stimmen -, nachvollziehen kann. Daraufhin verabschiedet sich der Bund möglicherweise aus der Wohngeldfinanzierung; Bund und Länder einigen sich über die Kompensation für Dr. Frank Schmidt ({6}) die Länder, während die Kommunen auf der Strecke bleiben. Aus dem doppelten Umweg wird also ein vierfaches Risiko. So darf es nicht sein. Es ist doch klar: Politik wird von Menschen gemacht, auf denen der Druck lastet, in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern Ergebnisse zu erzielen. Die Kommunen, die bei diesen Verhandlungen nicht dabei sind, bleiben auf der Strecke. Weil das so ist, muss das Grundgesetz entsprechend geändert werden, damit ein rechtstechnischer Druck entsteht und nicht die menschliche Schwäche zum Tragen kommt. ({7}) Herr Kollege Scheelen, Sie haben gesagt, dass, verfassungsrechtlich gesehen, eine Lösung ohne den doppelten Umweg nicht möglich ist. Sie haben anscheinend ein anderes Grundgesetz gelesen. Es gibt drei direkte finanzielle Achsen zwischen Bund und Kommunen. Wenn drei direkte finanzielle Achsen zwischen dem Bund und den Kommunen möglich sind, dann ist auch die Umsetzung des Konnexitätsprinzips möglich. Wir haben den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer im Grundgesetz sogar mit einem Heberecht versehen. Wir haben die Beteiligung an der Umsatzsteuer auf den Weg gebracht. Wir haben die Gewerbesteuerumlage, die leider immer gegenteilig wirkt - gleichwohl besteht hier eine direkte Beziehung -, eingeführt. Außerdem sind in der letzten Wahlperiode die Art. 28 und 106 Grundgesetz geändert worden, sodass man nicht mehr von einem zweistufigen System sprechen kann. Inzwischen ist ein anderes System entstanden, durch das die Rechte der Kommunen besser gewahrt werden können. Herr Kollege Metzger, wenn man Ihre Zahlen hört - Finanzierungssaldo positiv usw. - dann könnte man denken, dass hinsichtlich der Kommunalfinanzen alles in Butter ist. Entsprechend sehen die Veröffentlichungen der Länder und der Europäischen Union aus. Aber die Wahrheit ist doch völlig anders. Warum ist denn der Finanzierungssaldo positiv geworden? Der Finanzierungssaldo ist positiv geworden, weil man Tafelsilber veräußert hat. Man hat Staatsvermögen eingesetzt, um laufende Ausgaben zu finanzieren. Warum haben die Kommunen, insbesondere die großen Städte im Rheinland und in Niedersachsen, so hohe Kassenkredite? Die Höhe der Kassenkredite ist der Maßstab dafür, ob Finanzen geordnet sind oder nicht; denn sie sind nicht beeinflussbar. Da liegt doch der Hase im Pfeffer. Für diejenigen, die es nicht wissen: Kassenkredit heißt Überziehungskredit. Wer etwas auf Dauer über einen Kassenkredit finanziert, der finanziert das Butterbrot auf Pump. Wer das tut, wird finanziell ganz schnell am Ende sein, weil er nämlich von der Substanz lebt. ({8}) Ich sage Ihnen noch einmal: Viele Städte müssen Sozialhilfe oder Personalausgaben auf Pump finanzieren, weil die Defizite in ihren Verwaltungshaushalten nicht mehr beherrschbar sind. Sie summierten sich schon 1999 auf 7,2 Milliarden Mark und werden durch die künftigen Steuerausfälle erheblich zunehmen. Diese Aussage stammt vom Oberbürgermeister - ich muss eigentlich sagen: Noch-Oberbürgermeister - Hajo Hoffmann. Wenn ich mir die Verlautbarung des Deutschen Landkreistages anschaue, an dessen Spitze der Landtagsabgeordnete Axel Endlein von der SPD steht, dann stelle ich fest, dass dort genau dasselbe steht: Für 323 deutsche Landkreise ergibt sich allein im Jahr 2000 ein Finanzierungssaldo von rund 1 Milliarde DM. Ich könnte noch zahlreiche andere Beispiele aufführen. Die kommunalen Investitionen - ich trage Ihnen die Zahlen vor, Herr Kollege Dr. Schmidt, auch wenn Sie sich für sie anscheinend nicht interessieren - sind von 1998 bis heute um 11,3 Milliarden DM - daran sind wir nicht schuld - zurückgegangen. Das sind 0,5 Prozent des Bruttosozialproduktes. Wir dürfen uns über die Wachstumsschwäche nicht wundern, wenn eine solch wichtige Investitionsquelle ausfällt. ({9}) Das ist nicht nur ein Thema für Bürgermeister und Kommunalpolitiker, sondern insbesondere auch für Handwerker sowie Handel- und Gewerbetreibende; denn wenn diese keine Arbeit mehr haben, dann bedeutet das geringere Steuereinnahmen und mehr Sozialhilfe. Wenn man die Zahlen aus Niedersachsen, wo der jetzige Bundeskanzler damals als Ministerpräsident die Verhältnisse lange geprägt hat, als Beispiel nimmt, dann stellt man fest, dass am 30. März 2001 167 von 410 Kommunen Kassenkredite - das ist ein ausgabenschwaches Quartal - in Höhe von insgesamt 3,48 Milliarden DM in Anspruch genommen hatten. Das ist die wahre und schwierige Lage der Kommunen. Was machen Sie? Sie haben die Grundsicherung gelobt. Dabei haben Sie genau das gemacht, was ich eben geschildert habe: Bund und Länder einigen sich zulasten der Kommunen und legen gleich die Zuständigkeiten der Landkreise und der kreisfreien Städte fest. Das bedeutet, gegenüber dem Bund haben die Kommunen keinen Anspruch. Das Land kann sagen: Wir waren es nicht. So ziehen Sie sich aus der Affäre. Von Kommunalfreundlichkeit kann hier keine Rede sein. Jetzt komme ich auf Ihren schlimmsten Sündenfall zu sprechen - das ist ein besonders trauriges Kapitel -, nämlich die Familienleistungen. Sie haben mithilfe der Ministerpräsidenten Voscherau, Schröder, Eichel und Lafontaine - viele kennen diese gar nicht mehr als Ministerpräsidenten - 1996 die Festschreibung eines Sonderlastenausgleiches zur Finanzierung des Kindergeldes im Grundgesetz durchgesetzt. Aber Sie halten sich nicht daran. Sie verteilen die Lasten gemäß dem Verhältnis der Steuerquoten. Der Anteil der Städte, Gemeinden und Landkreise an der Finanzierung des Kindergeldes betrug 1999, wie ich Ihnen bereits vorgerechnet habe, 5,5 Milliarden DM. Im Finanztableau des neuen Gesetzes lässt sich nichts dazu finden, dass sich der Bund mit 74 Prozent und die Länder mit 26 Prozent an der Finanzierung des Kindergeldes beteiligen sollen. Sie haben das bis jetzt nur politisch verlautbaren lassen. Ich bin gespannt, wie Sie das umsetzen werden. Der Bundesrat hat festgestellt, dass - erstens - die Kosten mit 300 Millionen DM zu niedrig angesetzt seien und dass sich - zweitens - daraus ein Anspruchsausgleich der Länder und Kommunen von zusammen 2 Milliarden DM ergebe. ({10}) - Bleiben Sie geduldig; es kommt noch besser. - Die Länder sagen, den Ländern und Kommunen seien in der Zeit von 1996 bis 2001 18,5 Milliarden DM vorenthalten worden. Da die Länder das meiste auf die Kommunen abgewälzt haben, sind Letztere die Leidtragenden. Ich möchte Ihnen einmal Ihre Sündenliste vorlesen: SGB IX, BSE-Kosten, Energiekosten und steigende Krankenkassenbeiträge, die die Kommunen für die Sozialhilfeempfänger und Asylbewerber bezahlen müssen. Wer soll die Zeche für die Veränderungen in der Bildungspolitik bezahlen? Die Kommunen! Auf diese werden Kosten in Höhe von 17 Milliarden DM allein dadurch zukommen, dass für je vier Schüler ein PC gekauft werden soll. Ich nenne als weiteres Stichwort die private Altersvorsorge. Des Weiteren müssen die Kommunen die Zuwanderer integrieren. Das niedrige Wirtschaftswachstum und die hohe Inflationsrate stellen für die Kommunen große Risiken dar. Deshalb fordere ich Sie auf: Folgen Sie Ihren eigenen Erkenntnissen aus der Koalitionsvereinbarung! Folgen Sie beispielsweise den Vorschlägen, die der Deutsche Landkreistag in diesen Tagen auf den Tisch gelegt hat! Der in Österreich existierende Konsultationsmechanismus ist vorbildlich. Wenn wir dieses System übernehmen, dann müssen wir uns hier nicht mehr streiten. Dann kann jeder in Ruhe die Verantwortung auf seiner Ebene wahrnehmen. Das gilt übrigens nicht nur für die Kommunen, sondern auch für die Länder, wie es auch Ministerpräsident Clement gesagt hat. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/6163 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes - Drucksache 14/5399 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) - Drucksache 14/6366 Berichterstattung: Abgeordnete Arne Fuhrmann Gerald Weiß ({2}) Monika Balt b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Haupt, Dr. Irmgard Schwaetzer, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Für ein aktives und mitbestimmtes Leben im Alter - Drucksachen 14/5565, 14/6366 Berichterstattung: Abgeordnete Arne Fuhrmann Gerald Weiß ({4}) Monika Balt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Bundesministerin Christine Bergmann das Wort.

Christine Bergmann (Minister:in)

Politiker ID: 11005290

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Mit der Novellierung des Heimgesetzes haben wir einen wichtigen Schritt zur Weiterentwicklung der Altenpflege in Deutschland getan. Ich finde, es ist sehr erfreulich, dass die vorliegende Novelle über die Fraktionsgrenzen hinweg eine breite Zustimmung findet. Das ist ein gutes Beispiel. ({0}) - Ja, es hat viel Arbeit gekostet, aber ich denke, es hat sich gelohnt. Mit der Novellierung des Heimgesetzes schaffen wir bessere Rahmenbedingungen für die rund 850 000 älteren und behinderten Menschen in Deutschland, die auf Dauer in einem Heim leben. Dabei geht es darum, den Schutz und die Rechtsstellung der Hilfsbedürftigen zu verbessern, die Qualität der Hilfe zu sichern und die Strukturen der Altenhilfe weiterzuentwickeln und effektiver zu gestalten. Ich denke, wir sind uns darin einig, dass sich die Anforderungen an die Betreuung älterer pflegebedürftiger Menschen in den letzten Jahren wesentlich verändert haben. Das haben auch die Ergebnisse des Dritten Altenberichtes gezeigt, den wir bereits im Februar diskutiert haben: Das durchschnittliche Alter bei Eintritt in eine Alteneinrichtung liegt bei über 80 Jahren. Etwa 530 000 Bewohnerinnen und Bewohner von Alteneinrichtungen sind pflegebedürftig. Von diesen sind zwei Drittel schweroder schwerstpflegebedürftig. Etwa 60 Prozent leiden an einer demenziellen Erkrankung oder an einer psychischen Störung. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, alles dafür zu tun, dass Menschen, auch wenn sie pflegebedürftig sind, in diesem Land in Würde leben können. ({1}) Leider werden wir immer wieder mit Missständen in Heimen konfrontiert. Dabei will ich eines ganz klar feststellen: Die meisten Pflegerinnen und Pfleger in den Heimen leisten unter sehr schwierigen Bedingungen eine gute Arbeit. Dafür soll ihnen an dieser Stelle auch gedankt werden. ({2}) Wir können und wollen Missstände in der Pflege nicht hinnehmen. Deshalb schaffen wir mit der Novellierung des Heimgesetzes bessere rechtliche Rahmenbedingungen im Sinne pflegebedürftiger Menschen. Die Neufassung des Heimgesetzes verbessert die Rechtsstellung der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, entwickelt die Mitwirkung in den Heimen weiter, stärkt die Heimaufsicht und institutionalisiert die Zusammenarbeit von Heimaufsicht, Medizinischem Dienst der Krankenkassen, Pflegekassen und Trägern der Sozialhilfe. Ich möchte zu diesen vier Schwerpunkten ein paar Worte sagen: Zum Ersten geht es um die Verbesserung der Rechtsstellung der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner. Wir sorgen mit der Umsetzung des Gesetzentwurfes für mehr Transparenz und mehr Nachvollziehbarkeit in den Heimverträgen. Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass Heimbewohnerinnen und Heimbewohner sowie ihre Angehörigen bei Entgelterhöhungen nachvollziehen können, für welche Leistungen wie viel bezahlt werden muss. Endlich wird in diesem wichtigen Bereich das umgesetzt, was bei jeder Handwerksrechnung selbstverständlich ist. Wir sorgen auch dafür, dass das Entgelt für alle Heimbewohnerinnen und Heimbewohner künftig nach einheitlichen Grundsätzen bemessen wird. ({3}) Zweiter Schwerpunkt, Weiterentwicklung der Mitwirkung: Durch die Öffnung der Heimbeiräte für Dritte, beispielsweise für Angehörige und sonstige Vertrauenspersonen der Bewohnerinnen und Bewohner, sorgen wir für die Weiterentwicklung der Mitwirkung. Das ist notwendig, weil in vielen Fällen ein Heimbeirat aufgrund des hohen Alters und der Pflegebedürftigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner bisher nicht gebildet werden konnte. Diese Situation finden wir leider in vielen Heimen vor.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Stetten?

Christine Bergmann (Minister:in)

Politiker ID: 11005290

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Sie haben eben erwähnt, dass auch Angehörige in Zukunft Heimbeiräte sein können. Teilen Sie meine Sorge, dass Angehörige, die vielleicht jemanden mit schlechtem Gewissen in einem Alters- oder Pflegeheim untergebracht haben, das Pflegepersonal nicht nur mit besonderer Akribie beobachten, sondern vielleicht auch schikanieren, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen?

Christine Bergmann (Minister:in)

Politiker ID: 11005290

Herr Abgeordneter, wir haben all diese Bedenken im Rahmen der Anhörung und der Ausschussberatung sehr ausgiebig diskutiert und - das Gesetz ist im Ausschuss einstimmig bei Enthaltung der PDS angenommen worden - weitestgehend ausgeräumt. Es gibt dafür also eine breite Mehrheit in diesem Hause. Ich teile diese Bedenken grundsätzlich nicht. Es ist wichtig, dass es handlungsfähige Heimbeiräte gibt, damit die Rechte der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner gestärkt werden. ({0}) Dieser Heimbeirat muss künftig auch an Vergütungsverhandlungen sowie an Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen beteiligt werden. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Ich komme zum dritten Punkt: Stärkung der Heimaufsicht. Bei der Stärkung der Heimaufsicht geht es vor allem auch darum, neben der Aufsichtsfunktion die wichtige Beratungsfunktion der Heimaufsicht zu stärken. Es geht um den Grundsatz „Beratung vor Überwachung“. Wir alle wissen, dass es bei diesem Punkt noch einiges zu tun gibt. Aber wenn es um Prävention geht und wenn wir verhindern wollen, dass Missstände in den Heimen überhaupt auftreten, dann ist es wichtig, die Beratungsfunktion zu stärken. Wir wollen und müssen im Hinblick auf die schwarzen Schafe, die es leider auch gibt, die Kontrollen in den Heimen verbessern. Zukünftig wird jedes Heim mindestens einmal im Jahr überprüft. Verantwortungsvoll pflegende Heime - auch das haben wir bei der Anhörung festgestellt haben damit keine Probleme. Es ist nur konsequent, dass künftig Überprüfungen jederzeit sowohl angemeldet als auch unangemeldet erfolgen können, in begründeten Fällen auch nachts, weil bestimmte Dinge nur zu dieser Zeit zu kontrollieren sind. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Kontrolle und Bürokratie sagen. Es gab den Vorwurf, wir würden mehr Bürokratie einführen. Der Entwurf enthält eine Verpflichtung der Träger, Aufzeichnungen über den sachgerechten Umgang mit Arzneimitteln und über die Anordnung freiheitsbeschränkender und freiheitsentziehender Maßnahmen zu machen. Es handelt sich eben nicht um eine unnötige bürokratische Mehrbelastung der Heimträger, sondern um eine Selbstverständlichkeit, die schon nach geltendem Recht zu beachten ist. Im Falle der Arzneimittelverordnung geht es um die Gesundheit der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner. Es geht auch um Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Rechtsposition. Das muss entsprechend dokumentiert werden. ({1}) Viertens. Mit der Novellierung des Heimgesetzes wird schließlich die Zusammenarbeit von Heimaufsicht, Medizinischem Dienst der Krankenkassen, Pflegekassen und Trägern der Sozialhilfe institutionalisiert. Durch die Bildung von Arbeitsgemeinschaften sollen im Sinne der Qualitätssicherung die Prüftätigkeit abgestimmt und Maßnahmen zur Beseitigung von Mängeln und Vermeidung von Fehlern besprochen werden. Es geht also auch um den Abbau von Bürokratie, indem Doppelkontrollen verhindert werden. ({2}) Dabei bleibt die Letztverantwortung der Heimaufsicht unberührt. Parallel zum Heimgesetz wird heute das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz beraten. Beide Gesetzentwürfe ergänzen sich in dem Ziel, die Qualität in der Pflege zu verbessern. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch ansprechen, warum ich mir einen solch breiten Konsens, wie es ihn für das Heimgesetz gibt, auch für das Altenpflegegesetz gewünscht hätte: Die Sicherung von Pflegequalität ist nicht denkbar ohne eine zeitgemäße Ausbildung der Pflegekräfte. Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Betroffenen und Fachleuten, wie dringend notwendig eine bundeseinheitliche Pflegeausbildung im Interesse der pflegebedürftigen älteren Menschen ist. ({3}) Diese einheitliche Pflegeausbildung haben wir nach zehnjähriger Diskussion - auch Teile der CDU/CSU und F.D.P. haben dankenswerterweise zugestimmt - mehrheitlich beschlossen. Sie kennen aber die Lage: Durch den Antrag eines einzelnen Landes - von keinem anderen Bundesland ist diese Auffassung geteilt worden - kann dieses Gesetz zum 1. August nicht in Kraft treten, obwohl die meisten Länder darauf vorbereitet sind. Es ist in der Hauptsache noch nicht entschieden. Die Entscheidung wird noch kommen. Aber es geht wieder wertvolle Zeit verloren. ({4}) Ich komme viel im Lande herum. Selbst in Bayern herrscht im zuständigen Ministerium die Ansicht vor, dass die bayerische Ausbildung verbessert werden könnte, also die zweijährige Ausbildung vielleicht nicht das Nonplusultra ist. Wie ich mir habe sagen lassen, werden zurzeit in Berlin Pflegekräfte für Bayern abgeworben. Ich glaube, Sie haben der Sache keinen guten Dienst erwiesen; denn die einheitliche Ausbildung der Pflegekräfte ist im Hinblick auf die Qualität der Pflege und die Aufwertung dieses Berufes, die wir dringend brauchen, enorm wichtig. ({5}) So viel zu dem Kapitel. Ich möchte Ihnen abschließend dafür danken, dass Sie durch Ihre konstruktive Arbeit einen breiten politischen Konsens für die Novellierung des Heimgesetzes ermöglicht haben. Wir haben diesbezüglich - wie wir wissen - noch einiges zu tun. Hier sind die Länder, die Kostenträger und die Einrichtungsträger gefragt, damit wir das Gesetz entsprechend umsetzen können und gemeinsam dafür sorgen - ich sage es nochmals -, dass pflegebedürftige Menschen in diesem Land in Würde leben können. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der CDU/CSUFraktion.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin Bergmann, die Freude am relativen Konsens - er ist kein absoluter; das werde ich gleich deutlich machen teilen wir. ({0}) Ein gewisser Stolz auf ein Gesetz, das aus dem eigenen Hause kommt und verabschiedet wird, ist auch in Ordnung. Dennoch ist das neue Heimgesetz kein großer Wurf, Frau Bergmann. ({1}) Man kann sich auf den Standpunkt stellen, ein kleiner Wurf sei besser als gar keiner. Aber es ist einige Kritik anzubringen. Trotz mancher positiver Aspekte - Sie haben einige aufgezählt - bleibt das Gesetz stark im bürokratischen Ansatz stecken. ({2}) Eine wirklich durchgreifende Strategie, eine durchgreifende Konzeption zur Verbesserung der Pflege erwächst daraus mit Sicherheit nicht. Dazu bleiben zu viele Felder unbestellt. Das gilt beispielsweise für das Feld einer besseren Betreuung der Demenzkranken, der Altersverwirrten. Damit verbunden - aber unabhängig davon zu betrachten - ist die entscheidende Frage nach ausreichendem und gutem Pflegepersonal. Auch diese Frage haben Sie nicht beantwortet. Eine effektivere Heimaufsicht ist mehr eine Herausforderung für die Länder. Warum pfuschen Sie denn den Ländern ins Handwerk? Die Heimaufsicht qualitativ und quantitativ so auszustatten, dass sie ihre Aufgabe optimal wahrnehmen kann, ist Sache der Länder. ({3}) Der im Gesetz enthaltene Befehl, dass die Heimaufsicht grundsätzlich mindestens einmal im Jahr jedes Heim aufsuchen soll, ist eher lächerlich denn hilfreich. Das ist Sache der Länder. ({4}) An den Kern des Problems gehen Sie nicht. Gute Pflegeleistungen, hinreichende Personalversorgung, leistungsfähige Heimaufsicht - das Gesetz kann auf diesen Feldern zum Teil nichts oder nur wenig bewirken. Im Gegenteil: Je mehr pflegerische Kraft Sie in Administration binden, desto mehr wird dies zulasten der Zuwendung für die Pflegebedürftigen gehen, wenn hinsichtlich der Leistung und Versorgung ansonsten nichts geschieht. So einfach ist das. ({5}) Dennoch stärken Sie die Ordnungsfunktion des Staates. Die Transparenz der Heimverträge und des Leistungsgeschehens wird größer. Die Heimmitwirkung - ein Kollege hat in dem Zusammenhang mit Recht einen kritischen Aspekt angesprochen - wird verstärkt. Das sind im Prinzip alles positive Ansätze. Wir brauchen den starken Staat, wenn es um relativ schwache Menschen geht. Deshalb ist es schon in Ordnung, in dieser Richtung vorzugehen. Aber wie Sie es handwerklich gemacht haben, lässt zu wünschen übrig. Ihnen müssten die Ergebnisse der Anhörungen doch auch ein wenig zu denken geben. Ihre Kolleginnen und Kollegen haben ja nachgedacht: Nicht weniger als 22 oder 23 Anträge hat die Regierung selbst eingebracht, nachdem so viele Mängel in den Anhörungen offenkundig geworden waren, ({6}) darunter vieles, was auch aus unserer Sicht eine vernünftige Reparatur darstellt. Darüber hinaus haben wir viele - auch grundlegende Änderungswünsche gehabt. Wir haben uns auf drei Anliegen konzentriert: Vertragsende, Verjährungsfrist und Differenzierung der Entgelte. Das sind zentrale Fragen im Hinblick auf Rechtssicherheit und fairen Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten, den Heimbewohnerinnen und -bewohnern und den Heimträgern; diese Punkte waren in Ihrem Gesetz falsch geregelt. Immerhin war die Koalition - hier danke ich Ihnen, Herr Fuhrmann und Frau Schewe-Gerigk - in der Lage, was in diesem Hause auch nicht an jedem Tage geschieht, in der Sache auf die Opposition zuzugehen, wie auch wir umgekehrt auf Sie zugegangen sind. Herausgekommen ist, dass Sie zwei dieser zentralen Anliegen, die Rechtssicherheit und einen fairen Interessenausgleich zwischen Heimträgern und den Heimbewohnerinnen und -bewohnern sowie den Erben verstorbener Heimbewohnerinnen und -bewohner schaffen sollen, erfüllt und die entsprechenden Anträge im Ausschuss angenommen haben. Zum Schaden der Sache sind Sie leider nicht unserem Antrag gefolgt, was die mögliche Differenzierung der Heimentgelte anbetrifft. In einer Marktwirtschaft muss eine gewisse Preisdifferenzierung normal sein, wenn beispielsweise die Auslastung sinkt oder Renovierungsmaßnahmen amortisiert werden. Wir sind keine politischen Zechpreller. In diesem Gesetzentwurf hat sich vieles positiv verändert und Sie haben viele unserer Anliegen an- und aufgenommen. Deshalb werden wir trotz der Bedenken, die ich skizziert habe - Herr Kollege Holetschek wird das noch etwas vertiefen -, diesem Heimgesetz unsere Zustimmung nicht verweigern. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegen Irmingard Schewe-Gerigk das Wort.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz, das wir heute beschließen, könnte eigentlich auch aus dem Hause der Verbraucherschutzministerin Renate Künast sein. Die Affinität besteht darin, dass es sich um ein Verbraucherschutzgesetz handelt: ein Gesetz, das die Bewohnerinnen und Bewohner von Altenheimen nicht länger als Objekte staatlicher Fürsorge sieht, sondern ihnen einen Anspruch auf Qualität der von ihnen bezahlten Leistung und mehr Rechte zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen gibt. ({0}) Dass es in diesem Hause für diese Änderung einen breiten Konsens gibt, ist ein Zeichen dafür, dass es im Interesse der alten Menschen gelingen kann, aufeinander zu- und einzugehen. Dafür sei allen gedankt, die an dem intensiven Abstimmungsprozess beteiligt waren. Dieses Gesetz wird hoffentlich dazu führen, dass es künftig zu weniger Missständen in Heimen kommen wird.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie betonten gerade den bürgerrechtlichen Aspekt und Gerald Weiß ({0}) führten aus, dass die Rechte der Heimbewohnerinnen und -bewohner gestärkt würden; das begrüße ich natürlich auch. Aber sehen Sie nicht genauso wie ich, dass den Menschen im Heim, die auf Hilfe angewiesen sind, mehr Personal viel mehr helfen würde als irgendwelche einklagbaren Rechte, zumal sie ja überhaupt keine Möglichkeit haben, zum Rechtsanwalt zu gehen? ({1}) Das Problem, vor dem wir stehen, ist doch, dass es in allen Einrichtungen zu wenig Personal gibt. Ihr Gesetz bringt kein zusätzliches Personal in die Einrichtungen, sondern höchstens noch von den Leuten weg.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Seifert, dies haben wir natürlich bedacht. Sie wissen genau, dass es ein Modellprojekt namens „Plaisir“ gibt, in dessen Rahmen eine angemessene Personalbemessung geprüft wird, sodass man genau erfährt, wie der Personalbestand in einem bestimmten Heim mit einer bestimmten Anzahl von zu pflegenden Menschen und unterschiedlichen Pflegestufen ausgelegt werden muss. Danach wird entschieden, ob es nötig ist, in gewissen Heimen mit mehr Personal zu arbeiten. Den Bericht über dieses Modellprojekt werden wir Ihnen in Kürze vorlegen. Damit tragen wir dazu bei, festzustellen, wie die Situation in den Heimen ist. Ich gebe Ihnen natürlich Recht, dass die Personalsituation in vielen Heimen schwierig ist. Genau das werden wir aufgrund der Ergebnisse des Modellprojektes zu verändern suchen. Wir alle verbinden mit diesem Gesetz die Zuversicht, dass Pflegefehler und ein schlechtes Qualitätsmanagement nun endlich der Vergangenheit angehören werden. Menschen, die abhängig von Pflege in Pflegeeinrichtungen leben, müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Menschenwürde gewahrt bleibt. Deshalb geht es in dem neuen Heimgesetz auch nicht um mehr Bürokratisierung - Herr Weiß von der CDU hat diesen Vorwurf heute wieder erhoben -, sondern es geht um dringend notwendige Schutzvorschriften. Herr Weiß, Sie können doch einfach einmal sagen, dass die Regierung hiermit ein gutes Gesetz vorgelegt hat, dem Sie zustimmen. Machen Sie das doch einfach! Sie suchen jetzt nach Gründen, weshalb es doch nicht so gut ist. ({0}) Mit diesem neuen Gesetz wollen wir das Qualitätsmanagement der Heime durch die Verpflichtung zur detaillierten Buch- und Aktenführung sowie durch kürzere Prüfintervalle verbessern. Bei der Dokumentationspflicht legen wir die Messlatte der Qualitätssicherung gerade so an, dass es bei einem ohnehin schon ordentlich arbeitenden Heim zu keinerlei Mehraufwand kommt. Mehraufwand werden nur die Heime haben, die vorher schlecht gearbeitet haben. ({1}) Vergleichbare Pflichten ergeben sich ohnehin bereits aus dem Bundessozialhilfegesetz und aus dem SGB XI. Die Leistungs- und Aufgabenbeschreibung für die Heime wie auch für die Verträge führt zu deutlich mehr Transparenz. Das war eines unserer Hauptanliegen bei der Novellierung. Jetzt komme ich zu Ihrem Anliegen, Herr Seifert. Sollte es durch die Veränderung für eine Vielzahl von Altenpflegerinnen und Altenpflegern zu einem krassen Mehraufwand kommen, muss also festgestellt werden, dass ein großer Mehrbedarf an Personal besteht, muss in der Heimpersonalverordnung eine angemessenere Personalbemessung verankert werden. ({2}) Mit dem neuen Gesetz soll aber auch die Kontrolle der Heime intensiviert werden. Sie soll mindestens einmal im Jahr erfolgen, und zwar zu beliebiger Zeit und ohne Voranmeldung. ({3}) Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens haben wir weitere wichtige Ergänzungen vorgenommen; Sie haben von der Vielzahl der Änderungsanträge gesprochen. Wir haben durch Modellversuche unter anderem den Weg für echte Mitbestimmungsrechte geöffnet. Durch Modellversuche in geeigneten Bereichen wie beispielsweise im sozialen oder kulturellen Leben sollen die Chancen für die Mitbestimmung zunächst erprobt werden. Auf diese Weise ist zu klären, wie Konflikte zwischen Heimträgern und Bewohnerinnen und Bewohnern, die natürlich vorkommen, gelöst werden können und welche rechtlichen Rahmenbedingungen für eine echte Mitbestimmung künftig zu schaffen sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Abgrenzung zwischen betreutem Wohnen und den Heimen. Die vorgenommene Klarstellung gibt dem Bereich des betreuten Wohnens eine eindeutige Rechtsgrundlage und sichert damit deren Fortbestand. Neue Betreuungsformen werden somit gefördert. Deren Ausbau wird außerdem durch die neuen Erprobungsregelungen weiter in Gang gebracht. Dies ist meines Erachtens von großer Bedeutung, denn die Zukunft des altengerechten Wohnens wird nicht weiter in Altenheimen liegen, sondern in alternativen Wohnformen. ({4}) Menschen, die dort leben, dürfen nicht schutzlos bleiben. Darum brauchen wir so schnell wie möglich ein Ambulante-Dienste-Gesetz. Ich habe mich gefreut, heute in einer Tickermeldung zu lesen, dass die Ministerin gerade an einem solchen Gesetz arbeitet. Ich finde es wunderbar, dass wir das jetzt noch realisieren können. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem neuen Heimgesetz werden die Rechtsstellung und der Schutz der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner deutlich verbessert. Das Gesetz beseitigt eklatante Mängel im geltenden Recht und füllt bestehende Regelungslücken aus. Auf diese Reform haben viele sehr lange gewartet. Ich bin froh, dass wir das heute auf den Weg bringen, und bitte um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Klaus Haupt von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. hat die Beratung über die Novelle des Heimgesetzes von Anfang an konstruktiv begleitet. Wir sehen die Novellierung als notwendig und überfällig an und unterstützen deren Zielsetzung. Allerdings gab es gut begründete Einzelkritik am ursprünglichen Entwurf. Die F.D.P. hat die ihr wichtigsten Punkte in Änderungsanträgen formuliert. Ich freue mich, hier feststellen zu können, dass die Regierung die Kritik - sowohl die aus der Anhörung als auch jene, die aus den Reihen der F.D.P.Fraktion geäußert wurde - weitgehend aufgegriffen hat. ({0}) Es ist gut, dass auch in Zeiten zunehmender politischer Polarisierung eine solche Sachzusammenarbeit noch möglich ist. ({1}) Freiheit und Verantwortung kennen weder Ruhestand noch Altersgrenzen. Deshalb begrüßt es die F.D.P., dass Partizipation und Stärkung der Mitwirkungsrechte der Heimbewohner zu den wichtigsten Zielen der Heimgesetznovelle gehören. Die Öffnung der Heimbeiräte für externe Personen findet unsere Zustimmung. Dies ermöglicht auch die Erschließung einer größeren Sachkompetenz für Heimbeiräte. Das Eintritts- bzw. Durchschnittsalter in Seniorenheimen liegt heute schließlich so hoch wie nie zuvor. Umso wichtiger ist es, dass die Komponente „Heimbeiräte“ ihrer wichtigen Rolle gerecht werden kann. Ich möchte hinzufügen: Im Zusammenhang mit den Heimbeiräten ist auch die erforderliche Ausstattung mit finanziellen Mitteln anzumahnen, dazu Möglichkeiten der Schulung, der externen Unterstützung, aber auch die immer wieder notwendige Bestärkung und Motivation zur Mitgestaltung. Die F.D.P. hatte vorgeschlagen, durch eine Experimentierklausel die Möglichkeit zu schaffen, in bestimmten Teilbereichen Mitbestimmungsrechte in Modellversuchen zu erproben. Es ist erfreulich, dass sich die Bundesregierung diesem Vorschlag angeschlossen hat. Schade ist dagegen, dass unsere Forderung, die Heimbewohnerfürsprecher - wie wir sie lieber nennen möchten - durch Wahl demokratisch zu legitimieren, nicht den gleichen Widerhall gefunden hat. Wir freuen uns, dass unserem Antrag, das Vertragsverhältnis nach dem Tod des Bewohners noch einige Zeit weiterlaufen zu lassen, in der von der CDU/CSU vorgeschlagenen Kompromissform gefolgt wurde. Auch unser Vorschlag, eine kommissarische Heimleitung einzusetzen, wenn das Heim wegen Mängel sonst geschlossen werden müsste, fand Zustimmung. Das ist im Interesse der betroffenen Seniorinnen und Senioren gut so. ({2}) Ein anderes zentrales Ziel der Gesetzesnovelle ist die Transparenz, die bessere Durchschaubarkeit und Rechtswirksamkeit des vertraglichen Miteinanders von Bewohnern und Trägern. Wir begrüßen die Leistungs- und Aufgabenbeschreibung der Heime und die differenzierte Aufstellung einzelner Leistungsbereiche und Entgeltbestandteile. Dass die Unterrichtung und Beratung der Heimbewohner nicht mehr allein dem Heimbetreiber obliegt, ist auch eine Verbesserung der bisherigen Regelung. Beide Neuregelungen können zu einer erhöhten Kundenorientierung beitragen und dienen dem Verbraucherschutz. Nach wie vor haben wir aber leichte Bauchschmerzen mit einigen zu unbestimmten und schwammigen Formulierungen im Gesetzestext. Sie könnten in der Praxis zu erheblichen Interpretationsschwierigkeiten führen. Auch bei der vorgesehenen Aufzeichnungspflicht zur Qualitätssicherung fürchten wir einen erheblichen Mehrbedarf an Arbeitszeit, der nicht auf Kosten der eigentlichen Pflegearbeit gehen darf. Dennoch darf ich für die F.D.P. feststellen: Das neue Heimgesetz ist im Großen und Ganzen ein gutes Gesetz für die Seniorinnen und Senioren in Deutschland. Deshalb findet es die Unterstützung der Liberalen. Danke. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Balt von der PDS-Fraktion.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor circa vier Wochen bekam ich einen Brief, in dem eine 71-jährige Mutter die Zustände in einem Pflegeheim meines Wahlkreises beschreibt, in dem ihre 47-jährige querschnittsgelähmte Tochter gepflegt wird. Sie schreibt: Pampers werden reduziert. Stattdessen müssen Einlagen verwendet werden. Ihr wurde geraten, weniger zu trinken ({0}) - zur Kosteneinsparung! Im Heim wird sie nur alle 14 Tage gebadet. ({1}) Glauben Sie allen Ernstes, dass dieser unwürdige und skandalöse Zustand dadurch beseitigt wird, dass man sich bei der Heimaufsicht beschwert, die ja bekanntermaßen aus dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen und den Kostenträgern besteht? Hinzu kommt - wie diese Frau schreibt - dass ihre Tochter im Moment große Sorge habe, dass durch ihr Eingreifen Nachteile für sie entstehen könnten. Pflegekassen und Sozialhilfeträger können keinesfalls die legitimen Vertreter der Heimbewohner sein; ({2}) denn als Kostenträger und Verhandlungspartner sind sie mitverantwortlich für eine personelle Ausstattung, die der Qualität der Pflege und der Betreuung unter Kostengesichtspunkten sehr enge Grenzen setzt. Dieser Interessenkonflikt wird mit der Änderung des Heimgesetzes nicht aufgelöst. ({3}) Wir fordern daher die Einrichtung einer unabhängigen und mit Befugnissen ausgestatteten Schiedsstelle. ({4}) Meine Damen und Herren, Sie wollen die Qualität in den Einrichtungen der Alten- und Behindertenpflege kontinuierlich verbessern und den Rechtsschutz der 860 000 Bewohnerinnen und Bewohner stärken. Das wollen wir auch. So weit, so gut. Die Rahmenbedingungen und die Anforderungen haben sich aber seit 1974 entschieden geändert. Das durchschnittliche Heimeintrittsalter liegt bei 80 Jahren, das Durchschnittsalter bei 83 Jahren. 530 000 Personen in Heimen sind pflegebedürftig. Für Demenzkranke sieht das Gesetz sogar überhaupt keine Regelungen vor. Wir unterstützen Ihre Schritte zur Stärkung der Heimbeiräte und zur Verbesserung des Rechtsschutzes der Heimbewohner. Wir unterstützen die Forderung nach mehr Transparenz bei den Entgelten. Aber die gravierenden Probleme werden nicht gelöst und die Mängel nicht beseitigt. Bewohnerschutz und Qualität entstehen nicht durch Verschärfung der bestehenden Regelungen. Es sind sowohl im jetzigen Heimgesetz als auch im SGB XI umfassende und ausreichende Instrumentarien vorhanden. Wenn Verfehlungen auftreten, liegt das oft am Fehlverhalten einiger Betreiber oder aber an der fehlenden Anwendung der bestehenden Beratungs-, Prüf- und Kontrollpflichten. Hält man sich nicht daran, greift auch eine Ausweitung der gesetzlichen Bestimmungen nicht. Das neue Gesetz wird darüber hinaus zu einem weiteren Aufblähen bürokratischen Aufwandes führen. Dadurch, dass die Heime immer mehr Unterlagen zu führen und vorzuhalten haben, wird der Verwaltungsaufwand erhöht; das wird wegen der ohnehin knappen Ressourcen einen Rückgang an Pflege zur Folge haben. Das will die PDS nicht. ({5}) Unser Anliegen muss es sein, unbürokratische Hilfen für die Betroffenen durchzusetzen, und nicht, eine aufgeblähte Kontrollbürokratie aufzubauen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort der Kollege Arne Fuhrmann von der SPD-Fraktion.

Arne Fuhrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gar keinen Hehl daraus machen, dass diese zweite und dritte Lesung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes für mich mit ein bisschen Herzblut verbunden ist. Viele unter Ihnen, gerade die Berichterstatter der Oppositionsparteien, wissen das. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen, Herr Weiß, und bei Ihnen, Herr Haupt, dafür, wie wir gemeinsam mit Frau Schewe-Gerigk an die parlamentarische Arbeit herangegangen sind. In dem Zusammenhang möchte ich auch, weil ich gesagt habe, das sei mir ein Anliegen, sehr deutlich machen, inwieweit wir Abgeordnete auf Menschen um uns herum angewiesen sind, die etwas von der Materie verstehen. Diese verrichten ihre Arbeit im Interesse eines großen Anteils, ja fast der gesamten Bevölkerung; denn wir werden ja alle älter und keiner von uns kann heute mit Sicherheit sagen, dass er nicht eines Tages auf Hilfe und Unterstützung in einer Alteneinrichtung angewiesen ist. Wenn ich an der Stelle zwei Personen meinen besonderen Dank ganz öffentlich ausspreche, so soll das nicht bedeuten, dass ich alle anderen vergessen habe. Ich bitte die Ministerin, mir zu erlauben, an erster Stelle Herrn Herweck zu benennen, der hinter der Regierungsbank sitzt. Ohne ihn und seine Unterstützung in Fragen, denen auch ich in der Anfangsphase der parlamentarischen Verhandlung zum Teil hilflos gegenüberstand, hätte ich manchen Schritt nicht gewagt und manches fachliche Wissen kaum vermittelt bekommen. ({0}) Der Zweite ist leider nicht mehr für uns tätig, sondern jetzt in Potsdam als persönlicher Referent der Staatssekretärin im Sozialbereich tätig. Er sitzt auf der Besuchertribüne. Ich freue mich sehr über seinen Besuch. Es ist Herbert Fuchs, der bisherige Referent in unserer Arbeitsgruppe, ({1}) der auch in einer Phase, in der ich vorübergehend außer Gefecht gesetzt war - ich lag aufgrund einer unschönen Operation im Krankenhaus -, die Stellung gehalten und den Kontakt innerhalb des Kreises der Referenten in einer Art und Weise aufrechterhalten hat, die weit über das normale Maß hinausging. Ich habe erstmals in meiner parlamentarischen Geschichte - die ist mittlerweile elf Jahre alt - festgestellt, dass wirklicher Parlamentarismus und wirkliches demokratisches Miteinander zu einem Ziel führen können, das wir alle gewollt haben und für das wir uns alle verantwortlich fühlen. Ich stelle mit großer Befriedigung fest, dass es uns trotz Ihrer Kritik, Herr Weiß - ich vermute, dass auch Herr Holetschek den einen oder anderen Kritikpunkt anführen wird -, ({2}) gelungen ist, diesen wichtigen Gesetzentwurf, der weit über den Rahmen der beteiligten Parlamente hinaus Wirkung erzielen wird, nämlich in den Verbänden, in den Ländern und bei den betroffenen Heimbewohnerinnen und Bewohnern und deren Angehörigen, Freunden und Verwandten, vorzulegen. Ich meine, dass wir nach der Abstimmung erstmals seit längerer Zeit, in der wir uns häufig um Strohhalme gestritten haben, mit Befriedigung feststellen können: Dies ist ein gutes Gesetz. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Klaus Holetschek von der CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Holetschek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003153, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich einen Satz zu Ihnen, Frau Ministerin, sagen: Wenn ein Bundesland verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen Gesetzentwurf hat, dann sollten Sie das nicht in der Weise kommentieren, wie Sie es gemacht haben, sondern einfach akzeptieren, dass das überprüft wird. Wir leben in einem Rechtsstaat und in einem Rechtsstaat ist das durchaus legitim. ({0}) Herr Fuhrmann, ich hoffe, dass ich Ihren Erwartungen gerecht werde, die Sie an mich gestellt haben. Wie der Kollege Weiß schon ausgeführt hat, ist dieser Gesetzentwurf tatsächlich aber nicht der große Wurf. Es ist vielleicht ein Schritt in die richtige Richtung. Positiv ist, dass Sie dieses Mal die Ergebnisse der Anhörung, die wir durchgeführt haben, aufgegriffen haben. Sie haben sich durchaus die Expertenmeinungen zu Eigen gemacht. Das erkennt man zum Beispiel an den 23 Punkten des Änderungsantrages. In der gleichen Weise hätten Sie auch bei vielen anderen Gesetzentwürfen vorher vorgehen sollen; dann hätten wir jetzt wahrscheinlich bessere Gesetze. Aber immerhin: Dieses Mal haben Sie einiges übernommen. Mein Dank gilt daher den vielen Sachverständigen und Experten, die es möglich gemacht haben, dass der Konstruktionsfehler des Gesetzes nicht ganz so groß ist, wie es am Anfang ausgesehen hat. Ein Verbraucherschutzgesetz ist das, was hier vorliegt, sicherlich nicht mehr. ({1}) Das Gesetz wird aber einzelne Verbesserungen in gewissen Bereichen bringen. Unsere zwei zentralen Änderungsanträge, die Verjährung von Ansprüchen nach vier Jahren - das ist rechtssystematisch wichtig und richtig - sowie die weitere Gültigkeit des Vertrages zwei Wochen über den Tod des Heimbewohners hinaus, sind eingeflossen. Diese haben Sie mit Ihrer Mehrheit angenommen. So konnten wir zwei zentrale Anliegen, die wir gehabt haben, durchsetzen. ({2}) Die personelle Ausstattung der Heimaufsichtsbehörden wird sich drastisch ändern, vor allem durch die bundeseinheitliche Regelung in § 15 Abs. 4, die Sie hier eingeführt haben. Ich hoffe, dass gerade die Länder, die von Rot oder Rot-Grün regiert werden, auf diese neuen Aufgaben vorbereitet sind. Ich bin hier sehr skeptisch. Kontrolle ist wichtig und richtig. Um jedoch die Qualität der Pflege zu erhalten und zu verbessern, müssen wir nicht nur die Kontrolle, sondern auch die Verbesserung der Pflege im Auge behalten. Auch hinsichtlich der unabhängigen Sachverständigen, der so genannten Zertifizierer, stellt sich die Frage, wer letztendlich die Zertifizierer zertifiziert. ({3}) Die Verzahnung von Heimgesetz und SGB XI ist rechtssystematisch falsch. Der Grundsatz der strikten Trennung zwischen dem ordnungsrechtlichen Heimgesetz und dem leistungsrechtlichen Pflegeversicherungsgesetz wurde hier durchbrochen, was nicht richtig sein kann. Leider haben Sie unseren dritten Änderungsantrag, meine Damen und Herren, die Differenzierung der Entgelte - der Kollege Weiß hat es vorhin angesprochen -, nicht aufgegriffen. Wenn Sie hier nicht irgendwelchen sozialistischen Träumen anhängen würden, sondern sich auch einmal auf marktwirtschaftliche Dinge verlassen hätten, hätten wir echte qualitative Verbesserungen in den Heimen erreichen können. ({4}) Letztendlich muss, wer Pflege leisten will, auch Geld in die Hand nehmen. Die Argumentationskette für eine menschenwürdige Pflege muss lauten: mehr Zeit und mehr Zuwendung mit mehr Personal und dafür mehr Geld. Das muss die Maxime sein, an der wir unsere Handlungen orientieren. ({5}) Frau Ministerin, weil Sie vorhin auf Bayern abgehoben haben: Ich finde es gut, dass die bayerische Sozialministerin Stewens und der Freistaat Bayern 75 Millionen DM für die Schaffung und Modernisierung von Altenpflegeplätzen in den Haushalt einstellen und dieses Geld dann zur Verfügung steht. Das sind Beispiele, an denen wir uns orientieren können. ({6}) Wir werden diesem Gesetz mit Bauchschmerzen zustimmen, Herr Fuhrmann, ({7}) weil wir glauben, dass wir kleine Verbesserungen erreicht haben, weil wir eine konstruktive Opposition sind, ({8}) wie es die Bevölkerung von uns erwartet, und weil wir letztlich auch zum Wohle der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner entscheiden wollen. Aber ich sage Ihnen jetzt auch: Die Praxis wird uns lehren, dass wir diese Novelle in vielen Ansätzen werden nachbessern müssen, weil wir in der Praxis noch viele Dinge feststellen werden, die uns zu Korrekturen veranlassen werden. Lassen Sie uns das dann auch gemeinsam angehen! Lassen Sie uns keine Scheuklappen haben, sondern dann, wenn es notwendig ist, auch weiter an dem Gesetz arbeiten. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be- kannt, dass eine persönliche Erklärung gemäß § 31 der Geschäftsordnung des Kollegen Dr. von Stetten vorliegt, die wir mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll nehmen.1) Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes, Drucksachen 14/5399 und 14/6366. Der Ausschuss für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a sei- ner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol- len, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. mit Ausnahme der Gegen- stimme des Herrn von Stetten bei Enthaltung der PDS- Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 7 b: Der Ausschuss empfiehlt un- ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ableh- nung des Antrags der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Für ein aktives und mitbestimmtes Leben im Alter“, Drucksachen 14/5565 und 14/6366. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS bei Enthaltung der CDU/CSU ange- nommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie Zu- satzpunkt 5 auf: 8 a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Qualitätssicherung und zur Stärkung des Verbraucherschutzes in der Pflege ({0}) - Drucksache 14/5395 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Leistungen in der Pflege ({2}) - Drucksache 14/5547 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4}) - Drucksache 14/6308 - Berichterstattung: Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({5}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulf Fink, Eva- Maria Kors, Aribert Wolf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Zukunft der sozialen Pflegeversicherung - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Weiterentwicklung der sozialen Pflegever- sicherung - Drucksachen 14/3506, 14/4391, 14/6308 - Berichterstattung: Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zweiter Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung - Drucksache 14/5590 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({6}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Pflege reformieren - Lebensqualität in Gegenwart und Zukunft sichern - Drucksache 14/6327 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss 1) Anlage 3 Zum Entwurf des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Margrit Spielmann von der SPD-Fraktion.

Dr. Margrit Spielmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute zu verabschiedenden Qualitätssicherungsgesetz werden wichtige Weichenstellungen für die Zukunftsfähigkeit der pflegerischen Versorgung in Deutschland vorgenommen. Die demographische Entwicklung in unserem Lande weist, wie wir alle wissen, einen deutlichen Anstieg des Anteils der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung aus. Unsere Lebenserwartung steigt kontinuierlich. Es ist also keine Frage, dass wir uns mit den Folgen dieser Entwicklung beschäftigen müssen, insbesondere natürlich mit den Auswirkungen dieser Entwicklung auf unsere sozialen Sicherungssysteme. Wir müssen uns Gedanken über adäquate Angebote, über Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen für ältere Menschen machen. Ein in die Zukunft weisender Schritt war ja die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung vor sechs Jahren. Sie ist als Grundsicherung konstruiert. Die Leistungen aus der Versicherung decken aber nicht alle erforderlichen Hilfen ab. Sie geben eine wichtige Hilfestellung, um die schwierige Situation von Pflegebedürftigen zu unterstützen. ({0}) Prognosen gehen davon aus, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahre 2010 um bis zu 350 000 ansteigt. Diese Schätzungen verlangen von uns, dass wir mit den Ressourcen der gesetzlichen Pflegeversicherung verantwortungsvoll umgehen. ({1}) Bei allem, was in diesem Bereich in Zukunft noch zu erörtern und zu entscheiden ist, steht hier und heute aber eines im Vordergrund: die Sicherung der Pflegequalität. Es geht bei der Verabschiedung des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes um jeden einzelnen Menschen, dem Pflege zuteil wird, sei es in einer Pflegeeinrichtung oder aber auch in ambulanter Betreuung. Die Sicherung einer guten, einer angemessenen Pflege duldet, so denke ich, keinen Aufschub. ({2}) Pflegebedürftige Menschen sind in ganz besonderer Weise darauf angewiesen, dass der Staat Regelungen zu ihrem Wohl und zu ihrem Schutz trifft, da sie ihre eigenen Interessen, wie wir wissen, oftmals nicht mehr artikulieren können. Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung sind zunächst einmal, wie wir wissen, originäre Aufgaben der Heime. Deshalb haben wir in diesem Gesetz auch Regelungen zum internen Qualitätsmanagement vorgesehen. Aber aus der besonderen Schutzbedürftigkeit der pflegebedürftigen Menschen ergibt sich auch, dass wir weiterhin externe Qualitätssicherung durch die Landesverbände der Pflegekassen und staatliche Kontrollen durch die Heimaufsichtsbehörden durchführen müssen. Die externe Qualitätssicherung und die Kontrolle sind deshalb - das sage ich ganz ausdrücklich - kein Misstrauensbeweis gegenüber den Einrichtungen, sondern eine Pflicht des Staates gegenüber den Schwachen in unserer Gesellschaft. ({3}) Von daher halte ich es für selbstverständlich, dass diese Kontrollen unangemeldet durchgeführt werden. Ich denke, diejenigen, die eine gute Pflege gewährleisten, brauchen sich keine Sorgen zu machen. ({4}) Sie können diesen Kontrollen auch sehr gelassen entgegensehen. Natürlich - auch das wissen wir - ist es mit Kontrollen alleine nicht getan. Deshalb war es uns auch ein ganz wichtiges Anliegen, eine angemessene und - Herr Dr. Seifert - eine qualifizierte Personalausstattung und einen wirksamen Vertrauensschutz zu gewährleisten. Wir wollen mit diesem Gesetz Pflegebedürftige und ihre Angehörigen vor allem durch verstärkte Beratung und Information in die Lage versetzen, ihre Rechte wirksam wahrzunehmen. Mit den Regelungen im Pflege-Qualitätssicherungsgesetz zur Stärkung der Verbraucherrechte war ja nicht einfach brachliegendes Neuland zu betreten, sondern wir sind auf bewährten Wegen fortgeschritten. Der Verbraucherschutz wird im Wesentlichen verbessert - ich möchte einige Punkte nennen - durch die Beteiligung der Pflegekassen an kommunalen Beratungsangeboten, durch die stärkere Verpflichtung zur Durchführung von Pflegeschulen im häuslichen Bereich - übrigens ein sehr wichtiger Aspekt, der auch immer wieder gefordert wird -, durch die Pflicht zum Abschluss und zur Aushändigung eines schriftlichen Pflegevertrages bei häuslicher Pflege, durch die probeweise Inanspruchnahme des Pflegedienstes, durch Rückzahlungspflichten bei Schlechtleistungen und durch die verbesserte Beteiligung der Pflegebedürftigen, der Behinderten und der Berufsverbände an bundesweiten Qualitätsvereinbarungen, an landesweiten Rahmenempfehlungen sowie an der geplanten Verordnung über Beratungs- und Prüfvorschriften. In den Beratungen zu diesem Gesetz gab es den Wunsch nach noch weiter gehenden Regelungen. Ich denke, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf richtige und wichtige Weichenstellungen vorgenommen haben. ({5}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich appelliere an alle, sich unseren Argumenten nicht zu verschließen und dafür Sorge zu tragen, dass wir in der Tat eine bessere Qualität in den stationären und auch in den ambulanten Einrichtungen bekommen. Allen, die uns geholfen haben - ich denke in besonderer Weise an die Wohlfahrtsverbände -, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, möchte ich herzlich danken. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Eva-Maria Kors von der CDU/CSU-Fraktion.

Eva Maria Kors (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider ist es beim Qualitätssicherungsgesetz nicht so wie beim Heimgesetz, dass ein Konsens möglich gewesen wäre. Denn es ist von der Substanz des Gesetzes her nicht möglich. Zwar hat die erste Lesung natürlich ergeben, dass wir alle das gleiche Ziel haben: Verbesserung der Qualität der Pflege. Es hat sich aber auch bis zum heutigen Tag bestätigt, dass unsere Auffassungen über das Wie, über den Weg hin zu mehr Qualität in der Pflege meilenweit auseinander liegen. Während die Regierung und die sie tragenden Fraktionen fast ausschließlich auf mehr Kontrolle und mehr Bürokratie setzen, wollen wir von der Union unter anderem mehr qualifiziertes Personal und damit mehr fachgerechte Pflege und Betreuung für die pflegebedürftigen Menschen. ({0}) Das Gesetz der Bundesregierung verlangt von den Heimen ein unvergleichlich hohes Maß an zeit- und kostenintensiven Maßnahmen, über deren Sinn und Nutzen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nicht nur wir mehr als streiten können, sondern auch die Verbände. ({1}) Von Anreizen für eine wirkliche Qualitätssicherung, geschweige denn Qualitätssteigerung ist in ihrem Gesetz keine Spur. Der Entwurf der Bundesregierung enthält keinerlei Leistungsverbesserungen, die die Qualität der Pflege nachhaltig stärken könnten. Kurz gesagt: Ihr Gesetzentwurf ist unzureichend. Unser Gesetzentwurf hingegen beinhaltet konkrete Vorschläge für wirkliche Leistungsverbesserungen in der Pflege: ({2}) zum einen durch die Einbeziehung des Betreuungsbedarfs altersverwirrter Menschen - dies fehlt bei Ihnen völlig -, zum anderen durch die Schaffung einer besseren Personalausstattung in den Heimen im Wege der Personalschlüsselerhöhung. Um Ihrem Argument wegen der Kosten gleich zuvorzukommen: Wir machen auch seriöse Vorschläge zur Finanzierung dieser Verbesserungen. ({3}) Die erforderlichen Mittel können unserem Gesetzentwurf zufolge einerseits durch die sachgerechte Verlagerung der medizinischen Behandlungspflege in die gesetzliche Krankenversicherung und andererseits - wenn Sie Mut beweisen - durch die Rücknahme der Absenkung der Beiträge für die Bezieher von Arbeitslosengeld aufgebracht werden. ({4}) Im Übrigen wird die medizinische Behandlungspflege im ambulanten Sektor ohnehin bereits von der Krankenversicherung bezahlt. Warum also das nicht auch im stationären Bereich? Lassen Sie uns das doch nachholen! Auf diesem Weg wären immerhin 2 Milliarden DM mehr zugunsten der Pflegebedürftigen vorhanden - 2 Milliarden DM, die in die Pflegeversicherung gehören und den Pflegebedürftigen zugute kommen müssen. Wir wollen mit unseren Vorschlägen vor allem dafür Sorge tragen, dass den wirklichen Bedürfnissen der Menschen, sowohl der Pflegebedürftigen als auch der Pflegenden, Rechnung getragen wird und die Pflegesituation in den Einrichtungen entschärft und verbessert wird. Durch bürokratische Kontrollen wird ein hohes Maß an Qualität, das wir zweifelsohne brauchen, weder erreicht noch gesichert. Qualität und Qualitätssicherung erfordern unserer Auffassung nach mehr gut ausgebildetes Personal, als heute zur Verfügung steht. Dafür schaffen wir mit unserem Gesetzentwurf die Voraussetzungen. Die unzweifelhaft vorhandenen Probleme, deren Lösung wir im Bereich der Pflege in Deutschland dringend angehen müssen, die wir als verantwortliche Politikerinnen und Politiker zu lösen haben, sind keine abstrakten, sondern ganz reale Probleme, die uns alle, Familienangehörige und Freunde eingeschlossen, früher oder später treffen können oder schon getroffen haben, manchmal völlig unvorbereitet. Bei dem Versuch, diese Probleme zu lösen, kann ich mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass wir hin und wieder vergessen, dass es sich um Menschen handelt, die von den Auswirkungen unseres Paragraphenwirrwarrs be- und getroffen sind. ({5}) Es sind Menschen, die unsere besondere Aufmerksamkeit, aber auch unsere besondere Anstrengung brauchen. ({6}) - Dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. - Dies gilt insbesondere für die Demenzkranken. Deswegen enthält unser Gesetzentwurf auch eine Regelung für diese Menschen. Zudem kommen unsere Vorschläge auf diesem Gebiet auch den professionellen Pflegekräften und den Angehörigen zugute. Wir als Politiker haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass der Verwaltungsaufwand in den Einrichtungen aufgrund neuer gesetzlicher Regelungen nicht noch größer wird und dadurch noch weniger Zeit für die eigentliche Pflege am Menschen übrig bleibt. ({7}) Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass beruflich Pflegende ebenso wie pflegende Angehörige nicht immer stärkeren physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt werden. Ebenso haben wir die Pflicht, zu verhindern, dass sich immer mehr Beschäftigte in den Pflegeheimen mit dem Gedanken tragen, ihren erlernten Beruf aufzugeben oder - noch schlimmer - sich nicht mehr in der Lage sehen, so zu pflegen, wie es den fachlichen Anforderungen und ihrer Ausbildung entspricht und wie es vor allem die pflegebedürftigen Menschen brauchen und verdienen. ({8}) Vor diesem Hintergrund muss die Frage erlaubt sein, warum Sie glauben, mit einem Mehr an Verwaltungsaufwand und zusätzlichen Kontrollen Qualität in der Pflege schaffen und sogar sichern zu können. Diesen falschen Weg werfen nicht nur wir Ihnen vor. Das sagen auch die betroffenen Verbände, liebe Frau Spielmann, zum Beispiel der Paritätische Wohlfahrtsverband. Ich zitiere: Durch die neuen Gesetze werden in erster Linie Dokumentations- und Zertifizierungspflichten sowie Hygienebestimmungen und -kontrollen übermäßig ausgeweitet, strukturelle Mängel aber nicht beseitigt. Wer die Qualität der Pflege in den Einrichtungen ernsthaft verbessern wolle - so der Hauptgeschäftsführer dieses Verbandes -, müsse mit einer durchgreifenden Reform der Pflegeversicherung den bereits jetzt überzogenen Verwaltungsaufwand in den Einrichtungen eindämmen. Zudem müsse endlich der Betreuungsaufwand demenzkranker Menschen in der Pflegeversicherung angemessene Berücksichtigung finden. Diese berechtigten Forderungen erfüllt unser Gesetzentwurf. ({9}) Ihr Gesetzentwurf hingegen ist von einem generellen Misstrauen gegenüber Pflegeeinrichtungen und damit auch gegenüber den dort Beschäftigten durchzogen. Mit noch mehr Bürokratie und noch mehr Kontrollen schaffen Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nur noch mehr Frust und noch mehr Stress, der seinen Ausdruck in mangelhafter Pflege finden und im schlimmsten Fall zu den allseits beklagten Missständen in einzelnen Heimen führen kann - aber nicht muss. Wie wollen Sie dem Pflegepersonal oder jungen Menschen, die in der Altenpflege tätig werden wollen, erklären, dass sie in Zukunft immer weniger Zeit für die persönliche Betreuung der Pflegebedürftigen, also für ihre eigentliche Aufgabe, haben und einen noch größeren Teil als bisher für Verwaltungsaufgaben aufzuwenden haben? Wir von der Union wollen, dass insbesondere junge Menschen den Pflegeberuf wählen, weil sie sich mit Freude den Anforderungen stellen und weil sie sich der Aufgabe annehmen wollen, pflegebedürftige ältere Menschen in einem Abschnitt ihres Lebens zu begleiten, der ein hohes Maß an pflegerischer und sozialer Kompetenz erfordert, aber eben auch Raum für menschliche Zuwendung lässt. ({10}) Unser Entwurf bringt dementsprechend - ich darf das kurz zusammenfassen - konkrete Verbesserungen für die Demenzkranken, die bisher durch alle Raster gefallen sind, er bringt Verbesserungen für das Personal und er ist seriös finanziert. Damit setzen wir die richtigen Rahmenbedingungen für mehr Pflegequalität und deren Sicherung und damit, meine Damen und Herren, auch für mehr Menschlichkeit für die Pflegebedürftigen. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für das Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Katrin Göring-Eckardt das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich könnte mich eigentlich meiner Fraktionskollegin Schewe-Gerigk anschließen, die vorhin hier gesagt hat, dass das, was wir beim Heimgesetz machen, eigentlich ein echtes Verbraucherschutzprojekt ist. Ich glaube, das trifft auch für das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz zu. Wenn wir das Gesetz heute verabschieden, werden wir einen großen Schritt auf dem Weg weiterkommen, den wir mit der Pflegeversicherung beschritten haben. Die Pflegeversicherung hat ja eine letzte Lücke in den sozialen Sicherungssystemen gegen Lebensrisiken geschlossen. Von der Pflegeversicherung leiten heute immerhin rund 60 Millionen Menschen Ansprüche ab. Natürlich wurde die Pflegeversicherung ganz bewusst als Teilabsicherung konzipiert. Das dürfen wir in der Debatte, die wir heute auch um die Finanzierung, auch um die Frage, welche Möglichkeiten es über die Pflegeversicherung hinaus gibt, nicht vergessen. Die Pflegeversicherung ist als Teilabsicherung konzipiert worden, und trotzdem gibt es nach wie vor unakzeptable Lücken in der Versorgung. Auch hier haben wir es mit einer Hinterlassenschaft zu tun, die auf jahrelange Untätigkeit zurückgeht. Das wiederum betrifft vor allem und in erster Linie die Qualität der Versorgung in der ambulanten und stationären Pflege. Die Berichte über Mängel häufen sich. Wenn man Besuche in Pflegeheimen macht oder Berichte in den Medien verfolgt, dann wird man oft von entwürdigenden Zuständen in Pflegeheimen erfahren. Dem steht natürlich eine große Zahl von Pflegenden gegenüber, die Pflegeleistungen in hoher Qualität erbringen. Aber ein Qualitätssicherungsgesetz ist dringend notwendig, weil es diese Missstände gibt, weil es schwarze Schafe in der Pflege gibt, die erkannt werden müssen, und weil insbesondere Konsequenzen daraus gezogen werden müssen. ({0}) Worum geht es? Es geht um Qualität, es geht aber auch um Eigenverantwortung und mehr Patientenrechte. Die Anhörung hat aus meiner Sicht gezeigt, dass sich alle BeEva-Maria Kors teiligten einhellig für bessere Instrumente der externen und internen Qualitätssteuerung aussprechen. Es ist gerade ein positives Merkmal dieses Gesetzes, dass es beide Elemente, die Qualitätskontrolle von außen und die Qualitätskontrolle innerhalb der Heime, aufweist. Ich glaube, nur beides zusammen wird vernünftig funktionieren. Nun sprechen Sie, Frau Kors, von Misstrauen, von Kontrolle und von mehr Bürokratie. Nein, interne Qualitätssteuerung bedeutet nicht in erster Linie mehr Bürokratie. Sie bedeutet vielmehr in jedem Unternehmen und insbesondere dort, wo es um Menschen, wo es - das ist hier zu Recht gesagt worden - um die Schwächsten geht, auch Eigenkontrolle dessen, was passiert. ({1}) Dazu gehört selbstverständlich, dass Kontrolle auch von außen stattfinden kann. Eine solche Kontrolle von außen müssen diejenigen, die eine gute Pflege leisten, natürlich nicht fürchten. Wir werden genau das erkennen, was wir brauchen, nämlich die Stellen, an denen es tatsächlich Lücken und auch Verfehlungen gibt. ({2}) Sie haben, Frau Kors, zwei Sachen miteinander vermischt - das ist auch in Ihrem Entwurf so -, nämlich auf der einen Seite Leistungsverbesserungen, die auch wir uns sicherlich an der einen oder anderen Stelle, gerade bei den Demenzkranken, wünschen, und Qualität auf der anderen Seite. Beides ist aber nicht dasselbe. Sie haben von seriöser Finanzierung gesprochen. Dazu muss ich sagen, dass das, was Sie unter seriöser Finanzierung verstehen, offensichtlich darauf beruht, Lücken in anderen Versorgungssystemen herzustellen, beispielsweise in der GKV. Vor dem Hintergrund der Gesamtsituation, in der wir uns gegenwärtig befinden, ist das nicht sehr verantwortungsbewusst und es macht den Menschen vor, dass es genügt, ihnen etwas zu versprechen, ohne es auch einzuhalten. Ich halte das nicht für verantwortungsvoll. Was heißt Qualität? Qualität heißt: Es geht um angemessene Versorgung, die vor allen Dingen Würde und Selbstbestimmung gewährleistet. ({3}) Eine solche Vorstellung von Qualität haben wir sowohl im Hinblick auf das Heimgesetz als auch im Hinblick auf das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz ganz oben auf die Agenda gesetzt. Das Pflegepersonal ist keine Verschiebemasse im Falle von chronischer Unterbesetzung und Fehlmanagement. Fehlende Qualitätsvereinbarungen dürfen nicht mehr auf dem Rücken der zu Pflegenden und des Pflegepersonals ausgetragen werden. Auch aus diesem Grunde ist es notwendig, über objektive Kriterien der Qualitätskontrolle zu verfügen. Solche Kriterien streben wir mit diesem Gesetz an. Ich kann Sie im Interesse der Pflegenden und der zu Pflegenden nur herzlich bitten, unserem Entwurf zuzustimmen. Er ist ein großer und wichtiger Schritt. Er wird noch nicht alles erfüllen, was auch wir uns wünschen; ich habe über die Leistungsverbesserungen gesprochen. Auch uns ist klar - wir werden in den nächsten Wochen entsprechend handeln -: Gerade was die Demenzkranken angeht, bedarf es weiterer Verbesserungen. ({4}) Verschließen Sie sich bitte trotzdem nicht diesem Schritt der Qualitätssicherung. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Detlef Parr von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist der Tag des Schlafes, aber den dürfen wir uns als Gesetzgeber gegenüber Missständen in der Pflege und Leistungslücken, wie bei der Betreuung Demenzkranker, nun wirklich nicht leisten. Die F.D.P. möchte jedoch nicht zulassen, dass den Heimen auf dem Wege zu Verbesserungen immer mehr formaler Aufwand aufgebürdet wird und dadurch Mittel für die Pflegebedürftigen der Bürokratie zum Opfer fallen. Frau Göring-Eckardt, der Arbeitgeber- und Berufsverband Privater Pflege hat als Folge des vorliegenden Gesetzentwurfs der Bundesregierung - sie hört gar nicht zu allein Prüfkosten in Höhe von 120 Millionen DM errechnet. ({0}) Sie sollen über die Pflegepreise refinanziert werden und mindern den Anspruch der Versicherten auf Pflegeleistungen damit erheblich. ({1}) Dies geschieht auch noch vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung die Einnahmebasis durch Absenkung der Bemessungsgrundlage beim Bezug von Arbeitslosengeld deutlich geschmälert hat. Das ist sozialpolitisch nicht akzeptabel. ({2}) Wie Pflegequalität kostengünstiger gesteigert werden kann, hat die Stadt München bewiesen. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen führt nach Überprüfungen in Bayern die bessere Situation der Stadt gegenüber dem ländlichen Raum auf die schlichte Tatsache zurück, dass die bayerische Hauptstadt eine Beschwerdestelle eingerichtet hat und dass in der Folge viel für die Heime getan werden konnte. ({3}) Ich wiederhole deshalb unsere Forderung - hören Sie zu, Frau Kollegin -: Es müssen mehr unabhängige Anlaufstellen nach dem Muster „Pflege in Not - Krisentelefone und Beschwerdestellen“ - davon gibt es im Bundesgebiet bereits 14 - eingerichtet werden. Das sollte man vielleicht sogar verpflichtend in Verträge einarbeiten. Wir brauchen im System mehr Transparenz. Je mehr bekannt wird, umso eher kann gezielt gehandelt werden. ({4}) Ein gezieltes Handeln zur Qualitätsverbesserung ist aus unserer Sicht zum Beispiel bei der Arzneimittelversorgung von Pflegeheimen vonnöten. Die definierten Qualitätsstandards müssen in die bald gesetzlich vorgesehenen Versorgungsverträge zwischen Heimen und Apotheken einbezogen werden. Wir sollten in Modellversuchen, getrennt nach Stadt und Land, ausgewählte Apotheken bestimmte Heime versorgen lassen. ({5}) - Ich weiß nicht, ob Sie da weiter sind, Frau Kollegin. Mit der Garantie einer Lieferung und Dokumentation von Medikamenten unter pharmazeutischen Gesichtspunkten, was zum Beispiel die Dosierung und Verordnungsintervalle angeht, könnte eine Schulung des Pflegepersonals und eine Überwachung der Arzneimittelversorgung bzw. der Lagerhaltung verbunden werden. Damit können der sachgerechte Umgang mit Arzneimitteln und die ordnungsgemäße Verabreichung sichergestellt werden. Wir vermeiden Fehlgebrauch und steigern die Arzneimittelsicherheit. Das wäre ein Schritt hin zu einer notwendigen Umstrukturierung in den Pflegeheimen mit dem Ziel, auf die Bedürfnisse der Patienten besser einzugehen. Der Gerontologe Rolf Hirsch fordert zu Recht überschaubare Heime mit einem professionellen Management, das einen kooperativen Führungsstil pflegt und auf die Fachkompetenz des Personals setzt. ({6}) Dazu tragen aus unserer Sicht die vorliegenden Anträge und Gesetzentwürfe nicht hinreichend bei. Wir lehnen einerseits eine Überreglementierung der Heime und andererseits finanzielle Verschiebebahnhöfe zugunsten der Pflege- und zuungunsten der Krankenversicherung zur Gegenfinanzierung besserer Leistungen ab. ({7}) Die wachsenden Probleme in der Pflege werden so nicht gelöst. Unsere Vorstellungen - zwei Punkte möchte ich nennen - sind: Erstens. Die Pflegeversicherung ist bekanntlich nur eine Teilkaskoversicherung. Wir müssen verdeutlichen, dass die Menschen, bereits während sie jung und mobil sind, viel mehr Vorsorge für den Fall der Pflegebedürftigkeit treffen müssen. Zweitens. Qualitätsverbesserungen kann man nicht von außen in die Heime „hineinregulieren“. Gemeinsam mit den Betreibern der Heime wollen wir überlegen, wie hausintern qualitätssichernde Maßnahmen durchgeführt werden können. Hier wäre die Einrichtung eines runden Tisches vielleicht sinnvoller und würde eher zu konkreten Ergebnissen führen als der Versuch, die Gesundheitsreform mithilfe von runden Tischen voranzutreiben und damit eigentlich nur weiße Salbe auf die Probleme zu reiben. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn auch halbherzig, so versucht die CDU/CSU-Fraktion doch jetzt wenigstens, die Pflegeversicherung zu reparieren. Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, bauen die falschen Ersatzteile ein. Das kann man wirklich nicht gutheißen. ({0}) Pflegequalität muss an der Frage gemessen werden, ob die richtige, die benötigte Assistenzleistung zum gewünschten Zeitpunkt und in ausreichendem Umfang vorhanden ist. Das ist das einzig wahre Kriterium. ({1}) Deshalb haben wir Ihnen in unserem vorliegenden Antrag entsprechende Vorschläge unterbreitet. Ich bitte Sie: Lassen Sie Ihren Gesetzentwurf fallen und greifen Sie die in unserem Antrag enthaltenen Vorschläge auf; denn unser Antrag beinhaltet eine Konzeption, nach der man wirklich arbeiten könnte. Es muss endlich damit Schluss gemacht werden, die Qualität der Pflege anhand der Kriterien „satt, sauber und - bestenfalls - trocken“ zu definieren. Wir müssen einen Pflegebegriff finden, der die Ganzheitlichkeit und die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt und der sich nicht wie bisher an Teilleistungen orientiert, weil man die Pflegeversicherung als Teilkaskoversicherung begreift. Das ist das Problem, vor dem wir stehen. Liebe Dr. Margrit Spielmann, Sie wissen so gut wie ich, dass sich das, was wir wollen, eigentlich nur erreichen lässt, wenn es eine ausreichende Zahl von in der Pflege tätigen Menschen gibt, die auch über die entsprechenden Qualifikationen verfügen. Sie müssen nicht unbedingt ein Hochschulstudium absolviert haben. Aber sie müssen ordentlich ausgebildet und in ihre Arbeit eingewiesen worden sein. Das Problem besteht nicht allein darin, dass es kein für Gesamtdeutschland geltendes Pflegeausbildungsgesetz gibt. Vielmehr besteht das Problem darin, dass diejenigen, die bereits ausgebildet und in der Pflege tätig sind, ihren Beruf auf Dauer nicht ausüben können, weil sie psychisch kaputtgehen. Wir wissen doch, dass nach fünf Jahren nur noch 10 bis 20 Prozent der ausgebildeten Pflegekräfte in den Einrichtungen arbeiten, weil sie es nicht mehr aushalten. Sie halten es nicht mehr aus, weil sie Arbeitsbedingungen vorfinden, die sie daran hindern, das umzusetzen, was sie gelernt haben, nämlich die pflegebedürftigen Menschen ganzheitlich zu betreuen, sie zu aktivieren und sie nicht nur satt, sauber und trocken zu halten. Im Zusammenhang mit dem Heimgesetz las meine Kollegin Balt einen Brief vor, in dem sich eine 71-jährige Mutter darüber beklagt, dass ihre etwa 45-jährige querschnittsgelähmte Tochter im Heim inzwischen keine Pampers mehr bekomme, sondern nur noch Einlagen. Aber auch die Versorgung mit Pampers, also mit „pflegeerleichternden Maßnahmen“, ist doch schon unanständig. Die Frau gehört auf die Toilette gesetzt! Wenn es sein muss, zehnmal pro Tag. An diesem Punkt müssen wir durch qualitätsverbessernde Maßnahmen ansetzen. Es nützt nichts, pflegeferne Bereiche wie die Kontrolle zu stärken und in diese Geld fließen zu lassen, während in den Bereichen gespart wird, in denen Menschen direkt profitieren könnten. Jede Minute der Arbeitszeit, die nicht am Menschen gearbeitet wird, sondern der Dokumentation dient, ist für die Menschen verloren. Sie wissen das so gut wie ich. Sie können Ihr Vorhaben nicht als großen Erfolg darstellen. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass das nur ein mickriger Erfolg ist. Machen Sie etwas Vernünftiges, dann werden Sie uns und erst recht die Menschen, die es brauchen, auf Ihrer Seite haben. Fassen Sie sich ein Herz, ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück und machen Sie etwas Vernünftiges. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch das Wort.

Gudrun Schaich-Walch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001939

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es liegt in der Tat kein neues Leistungsgesetz vor, das hier jetzt verabschiedet werden soll. Es liegt vielmehr ein Gesetz vor, mit dem wir die Qualität der bisher erbrachten Leistungen sichern wollen. ({0}) An diesem Anspruch muss der Gesetzentwurf gemessen werden. Wir wollen mit dem geplanten Gesetz bestimmte Sachverhalte regeln; andere Probleme, die durchaus ebenso gelöst werden müssen, haben wir nicht in unseren Entwurf einbezogen. Dafür wird es dann andere Gesetzesvorhaben geben müssen. ({1}) Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie alle sehr genau wissen, dass wir Mängel und Defizite in der pflegerischen Versorgung haben und dass diese inzwischen leider keine Einzelfälle mehr sind. Wir sind uns aber auch dessen bewusst, dass diese Defizite weder alleine den Einrichtungen noch alleine den Kostenträgern und schon gar nicht dem Personal, das eine sehr aufopferungsvolle Arbeit leistet, zuzuschreiben sind. Wir sind aber auch verpflichtet, den Ursachen der Mängel nachzugehen. Dabei stellen wir fest, dass es ein ganzes Bündel von Ursachen gibt: Es können Managementfehler in den Einrichtungen oder das Qualifikationsniveau der Pflegekräfte - das ist bereits angesprochen worden - eine Rolle spielen. Auch wenn heute verfassungsmäßige Rechte wahrgenommen worden sind, ist es natürlich traurig, feststellen zu müssen, dass wir nun immer noch keine bundeseinheitliche Ausbildung für die Pflegeberufe haben, die eine einheitliche Qualität der Pflege sichert. ({2}) Einige Menschen werden den Beruf des Altenpflegers jetzt sicherlich nicht ergreifen, weil wir nicht in der Lage sind, die Berufsausbildung finanziell abzusichern. Eine Sicherung des Qualitätsniveaus in der Ausbildung wäre eine wesentliche Voraussetzung für die Qualität in der Pflege. Qualität in der Pflege lässt sich nicht nur mit mehr Geld erreichen. ({3}) Der andere Punkt - Herr Seifert, darin gebe ich Ihnen Recht - ist: Eine Verbesserung wird wesentlich von der Personalausstattung abhängen. Wir müssen in diesem Punkt ehrlich miteinander umgehen: Wir haben eine Pflegeversicherung, die einen Zuschuss zur Pflege gewährt. Wir müssen aber vor der Gewährung von Leistungen ermitteln, an welchen Orten welches Maß an Pflege benötigt wird. In den einzelnen Häusern werden sehr unterschiedliche Leistungen angeboten. Wir brauchen zur Herstellung von Transparenz, Herr Parr, Daten, und diese erhalten wir nur über Dokumentation. ({4}) Erst nach dem Abschluss der Dokumentation wissen wir, für welche Leistungen wir welches und wie viel Personal brauchen. Durch die Schaffung von Transparenz haben wir für die Zukunft eine vernünftige Grundlage. Eine solche vernünftige Grundlage will dieser Gesetzentwurf schaffen; er sieht die Notwendigkeit entsprechender Vereinbarungen durch die Selbstverwaltung vor. Diese bieten für die Häuser eine vernünftige Grundlage bei ihren Honorarverhandlungen. Uns allen ist dabei klar gewesen, dass es das nicht zum Nulltarif gibt. Ich kann mir vorstellen, dass einige Häuser etwas mehr und einige Häuser etwas weniger brauchen. Ich wundere mich aber schon ein wenig, dass Häuser des gleichen Trägers für die gleiche Pflegestufe Preise mit Unterschieden von bis zu 1 000 DM im Monat haben. Auch darauf muss man achten. Qualität kostet Geld. Zu dem ausgehandelten Pflegesatz wird die Pflegeversicherung einen bestimmten Beitrag leisten. Dieser ist beschränkt, solange der Beitrag zur Pflegeversicherung 1,7 Prozent beträgt. Man lügt sich selbst in die Tasche, Frau Kors, wenn man den Menschen erklärt, mit einem Beitragssatz von 1,7 Prozent wäre sehr viel mehr zu machen und zu erreichen, als das bis jetzt der Fall ist. ({5}) Damit weckt man bei den Menschen Erwartungen, die so nicht zu erfüllen sind. Das ist für meine Begriffe absolut unredlich. Zu Ihren Finanzierungsvorschlägen, mit denen Sie den Verschiebebahnhof von Herrn Seehofer, dem Sie zugestimmt haben und der Grundlage für das Zustandekommen dieses Gesetzes war, rückgängig machen wollen, muss ich sagen: Die Gesundheitspolitiker meiner Fraktion haben damals dagegen gestimmt. Es kann nicht angehen, dass Sie sagen, es müsse so weiterlaufen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Staatssekretärin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Fuchs von der PDS-Fraktion?

Gudrun Schaich-Walch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001939

Ja.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Verehrte Frau Staatssekretärin, es hört sich für mich logisch an, dass Sie sagen, Sie können nicht alle Erwartungen an die Qualität bezüglich der Pflege erfüllen. Sie sprachen davon, dass wir ehrlich sein müssen und dass wir bei den Menschen nicht Erwartungen wecken dürfen, die wir nicht erfüllen können. Wäre es dann aber nicht ehrlicher gewesen, beim PflegeQualitätssicherungsgesetz nicht von einem Gesetz zur Qualitätssicherung und zur Stärkung des Verbraucherschutzes, sondern von einem Ergänzungsgesetz, mit dem ein Problem bei der Pflege gelöst wird, zu sprechen? Mit diesem Titel wecken Sie Erwartungen bei den Betroffenen, die Hilfe benötigen, die nicht erfüllt werden können. ({0}) Das bedauere ich. ({1})

Gudrun Schaich-Walch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001939

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Qualität der bestehenden Leistungen gesichert werden. Alle dazu notwendigen Instrumente sind enthalten. Wir haben an keiner Stelle gesagt, es handele sich um ein neues Leistungsgesetz. Ich habe zwar davon gesprochen, dass es an manchen Stellen durchaus teurer werden könnte. Aber das bedeutet nicht, dass in diesem Fall die Pflegeversicherung mehr bezahlt. Sie zahlt immer einen festen Zuschuss. Man muss den Menschen ehrlicherweise sagen, dass der Einzelne oder die Sozialhilfe die zusätzlichen Kosten tragen muss. ({0}) Wir wollen aber dafür Sorge tragen, dass sich jemand, der Pflege braucht, darauf verlassen kann, dass mithilfe unserer Gesetze die Leistung und die Qualität der Pflege gesichert werden. Der Betroffene soll genau wissen, welche Leistungen ihm zustehen und was er zu erwarten hat. Nur wenn man beide Gesetze - das Heimgesetz und dieses Gesetz - in Kombination sieht, Frau Dr. Fuchs, kann man sie unter dem Gesichtspunkt der Qualitätssicherung beurteilen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Schaich-Walch, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Ilja Seifert? - Bitte schön, Herr Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Staatssekretärin, in der von Ihnen gerade vorgetragenen Logik gedacht: Stimmen Sie mir zu, dass der Eigenanteil, der für die pflegenahen Bereiche aufgebracht werden muss, größer wird, wenn die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten übernimmt, aber gleichzeitig ein Teil der Finanzmittel in die pflegefernen Bereiche, also zum Beispiel in die Dokumentation, geht? Das heißt mit anderen Worten, dass Sie die Leistung, die ohnehin schon nicht ausreicht, sozusagen von den Menschen abziehen und hin zur Bürokratie verschieben. Sind Sie also nicht der Meinung, dass dies auch unter Berücksichtigung der von Ihnen gerade vorgetragenen Logik zum Nachteil für die pflegebedürftigen Menschen ist? ({0})

Gudrun Schaich-Walch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001939

Herr Dr. Seifert, aus folgendem Grunde sehe ich das nicht so: Es gibt oftmals das Problem, dass Einrichtungen nicht in der Lage sind, bei Verhandlungen über Pflegesätze bestimmte Pflegesatzhöhen auszuhandeln. Mit der Prüfung, was bei den einzelnen Menschen gemacht werden muss, schaffen wir ein Instrument, um die notwendige Transparenz bei Verhandlungen über Pflegesätze zu erreichen. Wenn es nicht zu vernünftigen Pflegesatzverhandlungen und -abschlüssen kommt, wird sich nichts ändern. Das Gesetz trägt dazu bei, dass diese Basis gefunden wird. ({0}) - Was sagten Sie? ({1}) - Nein, sie müssen dadurch nicht mehr bezahlen. Es wird dadurch Transparenz und die Grundlage für die Abwägung dessen geschaffen, was notwendig ist. Das derzeitige System enthält eine Art Blackbox. Wir geben einen bestimmten Betrag aus. In vielen Bereichen ist das gut und in Ordnung. In anderen Bereichen aber wird es kritisiert. Durch das Gesetz werden gute Arbeitsgrundlagen für die Selbstverwaltung geschaffen. Dadurch ist es möglich, nachzuvollziehen, was für Personal man für welche Leistungen braucht. Dass wir darüber hinaus für die Versorgung alter Menschen - das hat meine Kollegin Frau Spielmann schon gesagt - und für den Bereich der Dementen im ambulanten Bereich Regelungen brauchen, ist klar. Der Gesetzentwurf dafür ist in Vorbereitung. Ein Arbeitsentwurf ist schon zugestellt worden. Man kann auf dieser Basis diskutieren. ({2}) - Das kommt. Wir werden in der Zukunft auch noch einmal prüfen müssen, inwieweit es an den Schnittstellen zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und Pflegeversicherung Probleme gibt und welche Alternativen vorhanden sind. Da gibt es aus der Enquête-Kommission Anregungen, mit denen wir uns inhaltlich auseinander setzen. Ich denke, wir werden das Ganze Stück für Stück erarbeiten müssen. Jetzt haben wir eine Einheit von Qualitätssicherung und von Regelungen im Heimgesetz, durch die Kontrolle und Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher geschaffen wird. ({3}) Wir haben dafür im Bundesrat eine große Mehrheit gefunden. ({4}) - Nein, wir haben im Bundesrat für beides eine große Mehrheit gefunden. ({5}) Ich wünschte mir sehr, wir würden für das schrittweise Vorgehen mit Plausibilität und Seriosität auch hier weiterhin eine gemeinsame Mehrheit finden. Danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes auf Drucksache 14/5395. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6308 die Annahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/6329? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis wie bei der vorherigen Abstimmung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Verbesserung der Leistungen in der Pflege auf Drucksache 14/5547. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6308, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU bei Enthaltung von F.D.P. und PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 8 d: Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU zur Zukunft der sozialen Pflegeversicherung, Drucksachen 14/3506 und 14/6308. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Was ist mit den Grünen? ({0}) Ich frage erneut, wer für diese Beschlussempfehlung stimmt. - Wer stimmt dagegen? ({1}) Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange- nommen. Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- sache 14/4391 zur Weiterentwicklung der sozialen Pfle- geversicherung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktio- nen angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/5590 und 14/6327 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis d auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, Anita Schäfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Erfolge und Defizite der Weltausstellung EXPO - Drucksachen 14/4956, 14/5344 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Gunnar Uldall, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Weltausstellung EXPO 2000 als Chance für den Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutsch- land nutzen - Drucksachen 14/3374, 14/6332 - Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brähmig c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung Haushaltsführung 2000 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 02 Titel 682 27 - Finanzierungsbeiträge an die EXPO 2000 Hannover GmbH - sowie Erhö- hung des Regressverzichts bei den gewährten Bürgschaften an die EXPO 2000 Hannover GmbH - Drucksache 14/4008 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über den Verlauf der Weltausstellung EXPO 2000 in Hannover ({3}) - Drucksache 14/5883 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Herr Kollege Ernst Hinsken von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“, sagt ein altes Sprichwort. Es trifft auch auf die EXPO zu. Die EXPO war eine großartige Werbung für Deutschland; das ist unbestritten. Deutschland hat sich gerade bei dieser EXPO als weltoffenes, attraktives und tolerantes Reiseland präsentiert. Aber die Zahl der Besucher blieb unter den Erwartungen und der Anteil ausländischer Besucher betrug nur 17 Prozent. Das war ungefähr die Hälfte derer, die einige Jahre vorher zur Weltausstellung nach Sevilla gekommen sind. Dies ist besonders bemerkenswert, da sich 155 Länder auf der Ausstellung ein Stelldichein gaben. ({0}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerade hinsichtlich der EXPO gab es viel negative Begleitmusik, hervorgerufen durch gravierende Mängel. Dadurch ist in der Öffentlichkeit nicht das positive Bild entstanden, das hätte entstehen müssen. So wirkte zum Beispiel die Ausstellung „Mensch - Natur - Technik“ wie eine langweilige Lehrveranstaltung zur Ökosteuer. Zu hohe Eintrittspreise waren eine weitere Ursache dafür, dass der Zuspruch des kleinen Mannes nicht so groß war, wie es an und für sich hätte sein sollen. ({1}) Familientarife haben wir erkämpfen müssen. ({2}) - Wir haben sie erkämpft; von selbst wäre man nicht darauf gekommen. Von Ihnen, Frau Ganseforth, habe ich diesbezüglich überhaupt keinen wesentlichen positiven Beitrag dazu gehört, dass aus der EXPO etwas Vernünftiges hätte werden können. Die wirtschaftspolitische Bilanz dieser EXPO ist sehr, sehr mager. Statt 40 Millionen wurden nur 18 Millionen Tickets verkauft. Ein Defizit von sage und schreibe 2,32 Milliarden DM ruft Heulen und Zähneknirschen hervor. Die Verantwortlichen - das ist unbestritten festzustellen - haben die Wirklichkeit immer zurechtgebogen. Als zum Beispiel die Prognosen für den Inlandsverkauf zurückgingen, hat man das Planziel für den Auslandsverkauf einfach erhöht. Die Folge ist das gigantische Defizit, von dem ich eben gesprochen habe. Frau Kollegin Ganseforth, damit Sie es genau wissen: 2,32 Milliarden DM sind 2 320 Millionen DM.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ganseforth?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, gerne, weil ich sie sehr, sehr schätze.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hinsken, halten Sie es für eine richtige Planung, die Völker der Welt, 40 Millionen Menschen, einzuladen und keine Mark dazuzahlen zu wollen? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Professor Ganseforth, wenn 2 Milliarden DM Peanuts sind, wenn ein solcher Betrag keine Rolle spielt, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Reden Sie einmal mit Ihrem Finanzminister, der momentan als Pfennigfuchser durch die Lande zieht! Hier sind über 2 Milliarden DM ausgegeben worden, ohne dass man sich vorher Gedanken darüber gemacht hat, wie man vermeiden könnte, dass das Defizit insgesamt zu groß wird. Das prangere ich hier zu Recht an, weil diese 2,32 Milliarden DM zu guter Letzt nicht als Manna vom Himmel kommen, sondern vom bundesrepublikanischen Steuerzahler erbracht werden müssen, unabhängig davon, wo der Einzelne wohnt. ({0}) Verehrte Frau Präsidentin, bei der Beantwortung einer Frage kann die Uhr nicht weiterlaufen. Ich war noch dabei, die Frage zu beantworten. Wenn sich die Fragestellerin hinsetzt, brauche ich die Antwort nicht mehr zu Ende zu führen. Das ist nicht fair. Auf diese Art und Weise werden mir kostbare Minuten gestohlen. ({1}) Meine Damen und Herren, ich frage mich, wo bei dieser Angelegenheit der prominent besetzte Aufsichtsrat war. ({2}) Dieser Aufsichtsrat hat versagt. Das stelle nicht ich fest, sondern das sagt sinngemäß der Niedersächsische Landesrechnungshof. Wo waren zum Beispiel die aufeinander folgenden Ministerpräsidenten, der jetzige Bundeskanzler Schröder, Herr Glogowski und Herr Gabriel? An sechs von 14 Sitzungen haben sie überhaupt nicht teilgenommen. Sie haben, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt, „die Zeichen an der Wand ignoriert“. ({3}) Auch so kann man mit dem vom Steuerzahler aufgebrachten Geld umgehen. Man kann sich in irgendein Gremium wählen lassen und dann zu guter Letzt nicht anwesend sein. Meine Damen und Herren, in Berlin hat man wegen des Bankenskandals die Regierung gestürzt. Die SPDVerwaltungsräte verblieben hier in der Regierung, obwohl sie versagt haben. Auch bei der EXPO haben führende Genossen versagt. Sie werden in ihren Ämtern bleiben und der Steuerzahler zahlt das Defizit. ({4}) Das ist, schlicht und einfach gesagt, eine Heuchelei, die ich nicht nachvollziehen kann ({5}) und die an den Pranger gestellt gehört. Daraus sollen jetzt vor allem diejenigen Konsequenzen ziehen, die für dieses Defizit verantwortlich zeichnen. ({6}) Wir haben uns über das, was als Erfolg zu verzeichnen war, gefreut, aber wir freuen uns nicht über das entstandene Defizit. ({7}) Dafür tragen mehr als sechs der zehn Aufsichtsratsmitglieder, die eingetragene Genossen sind, die Verantwortung. Das muss dem Wähler draußen auch gesagt werden. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Abgeordnete Hinsken ist immer für eine lebhafte Debatte gut. ({0}) Man muss nur die Dinge, die nicht ganz richtig sind, ({1}) aus der Debatte herausnehmen. Lieber Ernst Hinsken, zunächst einmal sollten wir gemeinsam feststellen: Die EXPO hat der Welt mit über 18 Millionen Besuchern und einem spannenden, interessanten Programm ein gutes Bild Deutschlands vermittelt. Das ist ein Erfolg für Deutschland. Ich glaube, das sehen Sie auch so.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Staatssekretär, Sie haben zwar den ersten Satz noch nicht beendet, aber es gibt schon eine erste Frage des Kollegen Hinsken.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Vielleicht darf ich meinen zweiten und dritten Satz noch sagen. Ernst, hast du eine Sekunde Geduld? Dann kannst du die Fragen gleich stellen. Die EXPO hat mit über 18 Millionen Besuchern eine große Resonanz gefunden. Was ich besonders bemerkenswert finde, ist, dass 2 Millionen junge Leute dort waren. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. Auch ein großer Erfolg ist, dass 17 Prozent der Besucher aus dem Ausland kamen. Wir haben mit dieser EXPO deutlich gemacht, dass das moderne, wiedervereinigte Deutschland weltoffen ist, und gezeigt, dass wir neugierig sind und uns um Fragen der Natur und der technologischen Entwicklung kümmern. Wir haben die ganze Welt eingeladen, an diesen großen Zukunftsprojekten mitzuwirken. Wenn sich jetzt die EXPO-Weltorganisation zum Ziel gesetzt hat, diesen globalen Dialog, den wir in Hannover begonnen haben, fortzusetzen, dann ist das, glaube ich, ein wichtiges Zeichen dafür, dass dieser globale Dialog in einer globalen Welt mit dieser EXPO sehr gut gestartet worden ist. Das sollte man auch einmal herausstellen. Es ist nämlich nicht selbstverständlich, dass das auch gelingt. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Staatssekretär, bevor sich der Kollege Hinsken die Beine in den Bauch steht, möchte ich Sie an die Zwischenfrage erinnern. ({0})

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Ja, ich lasse sie jetzt zu. Ich könnte das nicht verantworten.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich darf mich zunächst für Ihre Fürsorge bedanken und auch dafür, dass Sie den Redner noch einmal daran erinnert haben, dass er die Frage, die ich stellen möchte, zulassen wollte. Herr Staatssekretär Mosdorf, sind Sie bereit, nochmals zur Kenntnis zu nehmen, dass ich die inhaltliche Gestaltung der EXPO großartig fand? ({0}) - Das ist die Frage. Passen Sie bitte auf! - Was ich angeprangert habe, waren vor allen Dingen die Zahlen. Sie haben mir unterstellt, dass ich keine richtigen Zahlen genannt bzw. keine richtigen Aussagen getroffen hätte. ({1}) Ich habe ein Dokument dabei, nämlich einen Auszug aus der „Süddeutschen Zeitung“, aus der ich eine Vielzahl von Informationen bezogen habe. Ich meine, dass Sie auch dieser Zeitung unterstellen müssten, dass sie nicht richtig recherchiert habe; denn sonst hätte sie solche Zahlen nicht veröffentlichen können. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Laut Geschäftsordnung ist dies durchaus noch drin. Herr Kollege Hinsken, würden Sie bitte eine Frage stellen.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin, ich möchte die Bemerkung des Kollegen Hinsken in eine Frage umwandeln: Der Kollege Hinsken wollte fragen, ob ich denn glaube, ({0}) dass die „Süddeutsche Zeitung“ richtig recherchiert und richtig festgestellt hat, dass die Aufsichtsräte nicht anwesend waren. Lieber Kollege Hinsken, ich spreche für die Bundesregierung. Ich muss auch einmal Kollege Rexrodt in Schutz nehmen, der immer da war, genauso wie unser Wirtschaftsminister Müller. Dafür ist die Bundesregierung zuständig. Ob sonst jemand gefehlt hat, habe ich nicht im Kopf. Ich weiß auch nicht, wer gefehlt hat. Wenn die „Süddeutsche Zeitung“ das berichtet, dann wird es - ich möchte die vernünftige Recherche gar nicht bestreiten richtig sein. Die Bundesregierung war aber immer ordentlich vertreten, genauso wie ich als Mitglied des Aufsichtsrats des deutschen Pavillons. Wir, Rexrodt, Minister Müller, sind also auf der richtigen Seite. Ich komme jetzt zu den Zahlen: ({1}) Ernst Hinsken hat gesagt, wir hätten viel zu hohe Preise genommen. Gleichzeitig hat er aber das Defizit beklagt. Das geht auch in deinem Backwarengeschäft nicht. Man kann doch nicht sagen, die Preise waren zu hoch, und gleichzeitig beklagt man sich über das Defizit. Wir haben - Herr Hirche, Sie wissen das - große Anstrengungen unternommen: Wir haben das Abendticket und entsprechende Vergünstigungen für Familien und für viele andere mehr, auch für Schüler, eingerichtet. Dies hat auch einen positiven Effekt gehabt. Wir sind jetzt in der glücklichen Lage, Ihnen mitteilen zu können, dass nicht der „worst case“ mit einem Defizit von 2,4 Milliarden DM eingetreten ist, sondern dass wir von einem Nettodefizit von 2,1 Milliarden DM ausgehen. Wir alle wissen auch - das ist ein positives Ergebnis -, dass wir etwa 2,7 Milliarden DM Steuermehreinnahmen haben. ({2}) Man darf nicht nur die Defizite betrachten, sondern muss sich einmal die makroökonomische Gesamtbilanz ansehen. ({3}) - Jetzt nicht, ein andermal wieder, Herr Brähmig. Darüber hinaus können wir feststellen, dass die Infrastruktur, die für die EXPO aufgebaut wurde, dem Land wirklich hilft und dass die Messestadt Hannover dank der EXPO zu einer ersten Adresse für Weltmessen überhaupt geworden ist. Insofern haben wir ein nachhaltiges Konzept verfolgt und nicht nur eine kurzfristige Showmesse durchgeführt. ({4}) Die Messe wirkt gerade auch in den nächsten Jahren nach. Deshalb sollten wir sie positiv bewerten. Meine Damen und Herren, die Inhalte großer Messen dieser Welt orientieren sich natürlich an neuen Prozessen und neuen technologischen Entwicklungen. Wenn man sich anschaut, welche Projekte auf dieser EXPO gezeigt wurden, wie viele Länder dieser Welt sich engagiert haben und wie viele Nationen ihre eigenen Projekte präsentiert haben - 155 Länder und 17 internationale Organisationen haben sich auf dieser großen EXPO präsentiert -, dann erkennt man, dass wir als führendes Land in der technologischen Entwicklung hier eine Chance genutzt haben. Die nach der EXPO weiter genutzte Infrastruktur hat einen Wert von gut 1 Milliarde DM. Internationale Teilnehmer haben fast 1,5 Milliarden DM für den Bau ihrer Pavillons ausgegeben, 80 Prozent dieser Pavillons werden weiter genutzt; auch das ist eine wichtige Entscheidung gewesen. Zugleich war das Thema „Mensch, Natur, Technik - eine neue Welt entsteht“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein anspruchsvolles Thema, das auch die Veranstalter so ausgelegt haben. Das erkannte man an ihrem Engagement. Ich glaube, dass mit der EXPO auch ein Signal für den Tourismus gesetzt wurde. ({5}) Im letzten Jahr gab es in diesem Bereich mit 108 Millionen Gästen und 326 Millionen Übernachtungen ein Rekordergebnis für Deutschland. Das wissen wir alle. Die Zahl der inländischen Gäste hat um 6 Prozent, die der ausländischen Gäste um 11 Prozent zugelegt. ({6}) Das heißt, die EXPO war ein wichtiges Signal eines offenen Deutschlands an die Welt und hat neugierig gemacht. Mit dem Jahr des Tourismus in diesem Jahr knüpfen wir an die EXPO an; hiermit machen wir einen wichtigen Schritt nach vorn. Deutschland muss auch in Zukunft eine Zielregion für viele Besucher und für Leute, die sich für Europa und für unser Land interessieren, sein. Die EXPO war dafür ein wichtiger Türöffner. Wir werden sehen, die Zahl der Touristen, die Deutschland besuchen, wird auch in diesem Jahr enorm zunehmen. Das ist nicht nur für Hotellerie und Gastronomie gut, sondern auch für unser Ansehen in der Welt. Insofern war die EXPO ein großer Erfolg. Zwar rief die EXPO über viele Jahre auch Skepsis und Kritik hervor, aber im Ergebnis - so habe ich auch Ernst Hinsken verstanden - wird die EXPO als ein positives Ereignis in die Geschichte Deutschlands eingehen. Wir tun jetzt alles, damit die Ergebnisse der EXPO auch positiv in die Zukunft wirken. Das gilt auf alle Fälle für die aufgebaute Infrastruktur. Wir sind aber auch dabei, das Defizit so zu bearbeiten, dass wir damit umgehen können. Wir warten noch die letzten Daten ab, aber dann werden entsprechende Entscheidungen getroffen. Ich glaube, die EXPO war ein Erfolg. Wir haben etwas riskiert und unternommen. Von daher kann man sagen: Die Gesamtbilanz der EXPO ist positiv. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Staatssekretär Mosdorf, dem letzten Satz kann ich zustimmen: Das Gesamturteil über die EXPO ist sicherlich positiv. Die EXPO hat Deutschland viel gebracht. Sie hat ohne jeden Zweifel ein positives Bild vermittelt. Wer selbst bei der EXPO war, konnte auch die wirklich gute Stimmung spüren, die dort geherrscht hat. Darüber sind wir uns, so denke ich, in diesem Hause alle einig. ({0}) Trotzdem muss kritisch nachgefragt werden, was nicht so gelaufen ist, wie es hätte laufen können. Wir haben bereits die Zahlen gehört. Anstatt 40 Millionen Besucher waren es am Schluss 18 Millionen Besucher. Es fehlten die ausländischen Besucher. Natürlich muss jetzt kritisch gefragt werden, worin die Fehler lagen. Meine Damen und Herren, es gab ein EXPO-Management mit Frau Breuel an der Spitze. Wenn solche Fehler passieren, dann ist dafür natürlich zuallererst das Management verantwortlich. ({1}) Im Vorfeld gab es Dinge, die nach wie vor völlig unverständlich sind und nicht nachvollzogen werden können. Die Besucherprognosen wurden rechtzeitig nach unten korrigiert. Allerdings wurde nach wie vor mit 40 Millionen Besuchern kalkuliert. In den Sitzungen des Tourismusausschusses konnten wir oftmals nicht glauben, was uns präsentiert wurde. Einiges haben wir im Ausschuss alle zusammen korrigiert. Ich erinnere an die Schülertarife, die Familientarife und anderes, was sonst wahrscheinlich erst recht schief gegangen wäre. Es gibt allerdings ein Defizit von 2,4 Milliarden DM. Wenn man die 200 Millionen DM, die Herr Wellensiek noch erwirtschaften will, abzieht, dann beträgt das Defizit 2,2 Milliarden DM. Das ist zu viel. Das durfte nicht passieren. ({2}) Herr Mosdorf, interessant ist, dass Sie sagen, dass Entscheidungen getroffen wurden. Mich würde allerdings interessieren, welche Entscheidungen das sind. Mit welchem Anteil wird sich der Bund beteiligen, fünfzig zu fünfzig oder zwei Drittel zu einem Drittel? Es kann nicht sein, dass der Bundeskanzler und der niedersächsische Ministerpräsident etwas ausmauscheln. Es gab klare Regeln. Diese müssen auch in dieser Situation gelten. ({3}) Es geht überhaupt nicht darum, Schuld zuzuweisen. Sehr geehrter Herr Staatssekretär Mosdorf, einen Vorwurf kann ich aber der Bundesregierung nicht ersparen: ({4}) Wir haben relativ schnell nach Eröffnung der EXPO gesehen, dass die Besucherzahlen weit unter dem prognostizierten Maß liegen. Die F.D.P. hat sehr früh beantragt, 50 Millionen DM für zusätzliches Marketing zur Verfügung zu stellen. Das wurde von Ihnen abgelehnt. Das war der entscheidende Fehler. ({5}) Als Sie dann die 50 Millionen DM für die berühmte Werbekampagne mit Verona Feldbusch zur Verfügung gestellt haben, hat es etwas genützt. Es kam allerdings zu spät. Das ist der Fehler, den die Bundesregierung gemacht hat. ({6}) - Nein, es lag an den Finanzen. - Es gab einen zweiten Fehler. Wir wissen heute genau, dass das Management die Werbekampagne wollte. Man durfte es aber nicht offen fordern. Das war damals die Krux. Lieber Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, dass die EXPO für den Deutschlandtourismus positiv war, dann stimmt das zwar. Aber der Erfolg hätte viel größer sein können. ({7}) Ich bemängele heute nach wie vor, dass es nicht gelungen ist, die EXPO mit dem Deutschlandtourismus insgesamt zu verknüpfen, nämlich Leute von anderen Ländern zu uns zu holen und sie dazu zu bringen, in Verbindung mit dem EXPO-Besuch einen Urlaub in Deutschland zu machen. ({8}) Das waren die Versäumnisse. Wenn wir heute über Konsequenzen reden, dann ist es erforderlich, dass auch die Regierung sagt: Ja, wir haben einen Fehler gemacht. Wir müssen bei künftigen Ereignissen - ich denke an die Fußballweltmeisterschaft und an andere Großveranstaltungen - den Mut haben, Geld in die Hand zu nehmen das würde jeder Betrieb machen -, um das Marketing zu verstärken. Außerdem müssen wir im Deutschlandtourismus vernetzte Angebote schaffen und solche Großveranstaltungen nutzen, damit Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, Deutschland kennen lernen und ein wenig Geld hier lassen. Hierdurch könnte der Erfolg noch viel größer werden. ({9}) Zum Schluss: Es geht nicht um irgendwelche parteipolitischen Auseinandersetzungen, sondern darum, dass man Fehler klar aufzeigt und daraus Konsequenzen zieht. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Voß von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnetenkollegen! Die CDU/CSU hat offensichtlich ein seliges und glückliches Gedächtnis. Nach der Rede von Herrn Hinsken kann einem das jedenfalls so vorkommen. Ich kann Herrn Burgbacher nur zustimmen, dass wir hier etwas kritisch hinterfragen müssen. Deswegen spreche ich auch noch einmal das Gedächtnis an, Herr Hinsken. Es gab ein hässliches Entlein, das dann doch noch zu einem schönen Schwan wurde. Die CDU/CSU und die F.D.P. bemühten sich damals, das Ei EXPO nach Deutschland zu bekommen, haben sich dann aber beim Bebrüten wie die Rabeneltern benommen. ({0}) In den ersten Jahren nach dem Zuschlag hat nämlich die Kohl-Regierung kaum ein nennenswertes Engagement für dieses Projekt EXPO entwickelt. ({1}) Die Wirtschaft gründete erst 1993 die EXPO-Beteiligungsgesellschaft. - Genau! Sie erzählen sogar Märchen. Deswegen erzähle ich Ihnen jetzt das vom hässlichen Entlein. ({2}) Die Folge dieser späten Gründung und des späten Engagements der CDU/CSU-Regierung war, dass die EXPO GmbH und ihr Management jenseits jeder Entscheidungsstruktur der Parlamente angesiedelt waren. Es war eine privatrechtliche GmbH. Sie sind ohnehin immer so veranlagt, dann, wenn es Ihnen passt, etwas zu privatisieren, und wenn etwas privatisiert ist, zu fragen: Wo bleibt der Staat? ({3}) Genau das war Ihr Fehler! Es gab ebenso falsche Berechnungen der Besucherzahlen. Das haben Sie selbst im Ausschuss immer angeprangert. Deswegen können Sie jetzt hier so viel schreien, wie Sie wollen. Die Besucherzahlen waren einfach falsch berechnet. Es waren zu viele berechnet. Wer selbst auf der EXPO war - wir vom Ausschuss waren mehrfach dort -, kann sagen: Im Juni 2000 war es noch ziemlich angenehm. Da waren aber die Besucherzahlen noch so niedrig, dass sie stark beklagt worden sind. ({4}) Es war ein angenehmes Wandern. Es gab wenig Gedränge, und man brauchte sich nicht so lange anzustellen. An und für sich waren das die richtigen Besucherzahlen für ein Wohlfühlen auf der EXPO. Im letzten Monat hatten wir dann 160 000 Besucher. Da war es schon weniger angenehm; da gab es nämlich mächtig viel Gedränge und ganz lange Warteschlangen, sodass man sagen kann: Wenn man so hohe Besucherzahlen zugrunde legt, ist man nicht davon ausgegangen, dass sich dann auch ein Besucher auf einer solchen Ausstellung wohlfühlen kann. Alle diese Fehler - Berechnung, Management, Werbung und Verkauf - waren solche, die schon unter Ihrer Ägide installiert worden sind ({5}) und die uns sozusagen ein krankes Entlein EXPO hinterlassen haben. Wir haben uns als Ausschuss gemeinsam bemüht - das wissen Sie auch ganz genau -, dieses kranke Entlein mit vereinten Kräften doch gesunden zu lassen, und haben es auch geschafft, dass es gesünder und kräftiger wurde. ({6}) - Ich rede nicht von den Grünen. Ich habe gesagt: der Ausschuss gemeinsam. Bitte genau hinhören! Wir haben es also geschafft, dass aus diesem hässlichen Entlein doch noch ein schöner Schwan geworden ist. Wir haben es tatsächlich geschafft - das haben alle bisherigen Redner auch schon betont -, hiermit Deutschland etwas für die Welt zu bescheren: ein weltoffenes Fest der Völkerverständigung. Und was bleibt davon? Nicht nur die Begeisterung aller, die dort waren, die auch mehrfach hingefahren sind, weil es dort eben so schön war, sondern es bleibt erstens ein weltweit schönes und fröhliches Deutschlandbild, das die internationalen Besucher mit nach Hause genommen haben. Auch leben heute noch Spuren der weltweiten EXPO-Projekte: Wiederaufforstung im tropischen Regenwald, durch medizinische Forschungsprojekte, durch Jugendhilfeprojekte in der Welt, durch Umwelttechnikprojekte in der Dritten Welt. Es gab auch Projekte speziell für die indigenen Völker. Insofern kann man sagen: Die EXPO lebt weiter, und das ist ein hervorragender Effekt, den wir mit angeschoben haben. ({7}) Es ist außerdem auch zu einer Bereicherung der deutschen Kulturlandschaft gekommen. Das darf man auch nicht vergessen! Wir haben jetzt eine Preussag-Arena, in der man hervorragende Veranstaltungen durchführen kann. Auch dorthin können viele Leute aus ganz Europa und der Welt zu kulturellen oder sportlichen Veranstaltungen kommen. Wir haben ein Europahaus mit einer sehr großen Fläche, in das jetzt zum Beispiel arg bedrängte Hochschulen einziehen können und Studenten endlich einmal bessere Möglichkeiten für ihr Studium haben. So haben wir auch noch andere wunderbare Dinge, die wir von der EXPO in Deutschland nachnutzen und durch die die EXPO weiterlebt. Ich möchte hier auch noch einmal die wirklich gut gelungenen 280 dezentralen Projekte hervorheben, die den gesamten deutschen Raum, alle Bundesländer, alle Regionen bis heute bereichern. Das ist meiner Meinung nach auch ein sehr positiver Effekt der EXPO für unser eigenes Land. ({8}) Was lehrt uns jetzt all das, was wir, auch im Ausschuss, immer wieder an Kritik am Management und an dem, was ich auch in Ihre Richtung sagen muss, angebracht haben? Wenn man etwas will, dann muss man es ganz wollen. Man hätte also schon Ihre anfänglichen Brutfehler beseitigen müssen. ({9}) - Sie haben selbst immer beklagt, dass wir immer nur zufüttern dürfen, aber selbst in die Entscheidungen wenig eingreifen können. Also bitte! ({10}) Wenn man sich ein Ei ins Nest holt, dann muss man auch für die Entwicklung sorgen. Das haben Sie nicht getan. Sie haben das Konzept angelegt. Deswegen fassen Sie sich doch endlich einmal an Ihre eigene Nase und kritisieren Sie nicht ständig an uns herum. Wir haben, wie gesagt, die Fehler, die wir entdeckt haben, gemeinsam zu beseitigen versucht. Dadurch ist die EXPO noch ein hervorragender Erfolg geworden und aus diesem hässlichen Entlein wurde der schöne Schwan, den wir uns gewünscht hatten und dessen Wirkungen wir jetzt in Deutschland und in der ganzen Welt weiterhin haben. Schönen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde sagen, wir kommen jetzt auf den Boden der Tatsachen zurück und versuchen, dem Vorwort des Berichts der Bundesregierung, in dem es heißt: „Die EXPO 2000 war eine gelungene Inszenierung“, einmal etwas auf den Zahn zu fühlen. Dem Wort „Inszenierung“, Herr Staatssekretär, kann ich durchaus zustimmen, doch mit dem Begriff „gelungen“ habe ich große Schwierigkeiten. Da wir hier jetzt eine Märchenstunde haben, denke ich, wir sollten etwas konkret werden. Vergleichen wir die hehren Ziele und Versprechungen im Vorfeld, die Intendanten dieser Inszenierung wie Frau Breuel - oder, im Sprachgebrauch des Kollegen Hinsken, „führende Genossen“ - gemacht haben, ({0}) mit dem, was unter dem Strich herausgekommen ist, dann bleibt der herbe Beigeschmack, der bereits im Vorfeld entstanden war und der die EXPO die ganze Zeit über begleitet hat. Dementsprechend lustlos fällt auch die Bilanz der Bundesregierung aus. Sie ist noch nicht einmal in der Lage, die 18,1 Millionen verkaufter Tickets in Tages- und Abendkarten zu unterteilen. Eine Bewertung der inhaltlichen Präsentation der Länderpavillons und Projekte der teilnehmenden Staaten fehlt in der Bilanz gänzlich. Hier findet man lediglich einen Hinweis auf „lateinamerikanische Tänze, fernöstliche Kunst oder afrikanische Musik“. Ausführlich wird lediglich die eigene Präsentation abgefeiert: der Deutsche Pavillon und die verschiedenen Themenparks. Doch wer lange genug sucht, findet sogar ein paar Zeilen zur Entwicklungspolitik, zum „global dialogue“ und ein paar Hinweise auf einige wenige der 218 dezentralen Projekte außerhalb des hannoverschen EXPO-Geländes. Dass die EXPO unter dem Motto „Mensch - Natur Technik“ stand, scheinen die Autoren der Bilanz ebenso vergessen zu haben wie das Wort Nachhaltigkeit. Erst in der abschließenden Betrachtung heißt es: Die EXPO 2000 stand unter dem Leitthema „Mensch, Natur, Technik - eine neue Welt entsteht“. Erst dort findet sich ein Hinweis auf die Agenda 21. Immerhin war Bundesumweltminister Trittin von Anfang an schlau genug, sich erst gar nicht an der EXPO zu beteiligen. So muss er heute auch keine Kritik einstecken. Die Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda 21 für die ökonomischen, sozialen und ökologischen Handlungsoptionen zugunsten einer Eine-Welt-Politik blieb und bleibt aus. Doch nachhaltig wirken sich die finanziellen Verluste insbesondere für das Land Niedersachsen sowie die niedersächsischen Städte und Gemeinden aus. Nachhaltig sind die Verluste für Gastronomiebetreiber, die zum Teil Konkurs anmelden mussten, weil die versprochenen Besucherzahlen nicht erreicht wurden. Nachhaltig wirkt sich natürlich der Autobahnbau aus. Allerdings vermissen wir auch hier die ökologische Lenkungswirkung, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Nachhaltig ist auch der Bau des EXPO-Knastes am Flughafen Langenhagen, der zum Abschiebeknast umgewandelt wurde. Diese Nachhaltigkeit hat einen sehr herben Beigeschmack. Eine mögliche positive Nachhaltigkeit durch die dauerhafte Weiterfinanzierung sinnvoller Projekte bleibt leider aus. Stattdessen werden viele Regionen mit ihren Projekten heute allein gelassen. ({1}) Der letzte Absatz des Berichts der Bundesregierung macht deutlich, worum es den Intendanten der EXPO ging. Dort heißt es: Es bleibt festzustellen, dass die EXPO 2000 die mit ihr verbundenen qualitativen Ziele in vollem Umfang erreicht hat und insgesamt ein großer Erfolg war: Zufriedene Besucher, ein Gewinn für den Standort Deutschland, eine Aufwertung des Messeplatzes Hannover... Dieses Ziel hat Frau Breuel mehr oder weniger erreicht. Doch unter einer „gelungenen Inszenierung“ hätten wir erwartet, dass das anspruchsvolle Thema „Mensch - Natur - Technik“ qualitativ mit Inhalten gefüllt wird und Lösungsansätze für einen ökologischen und sozialen Umbau, für eine gerechte Weltwirtschaftspolitik und letzt endlich für einen Ausgleich zwischen Industriestaaten und der so genannten Dritten Welt aufgezeigt werden. Unter dem Strich bleibt mir nur zu sagen; Kolleginnen und Kollegen von der CDU im Hause, Frau Breuel: Thema verfehlt! Ungenügend! Eigentlich müsste Frau Breuel, wenn sie Anstand genug hätte, einen Teil ihres Honorars zurückzahlen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Birgit Roth für die SPD-Fraktion.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die EXPO 2000 war schon des Öfteren unser Thema: im Tourismusausschuss, im Haushaltsausschuss, in anderen Ausschüssen, aber selbstverständlich auch hier, im Plenum des Deutschen Bundestages. Wir alle sind uns darüber im Klaren, dass Fehler gemacht worden sind; aber es waren in erster Linie eklatante, gravierende Managementfehler. Herr Hinsken, ich möchte auf einen Punkt eingehen, den Sie gleich am Anfang angesprochen haben. Der Schwerpunkt Ihrer Kritik lag aber auf der angeblich mangelnden Kontrolle durch den Aufsichtsrat. Da muss ich Ihnen ganz klar sagen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, so einfach können Sie es sich wahrhaft nicht machen. Selbst die F.D.P. hat das bestätigt: Es waren in erster Linie Managementfehler. ({0}) An diesem Punkt finde ich Ihre Kritik überzogen. Ich hatte mehr erwartet, nämlich dass von Ihrer Seite eine Sachanalyse und sachliche Kritik kommen und nicht irgendwelche parteipolitischen Spielchen. Erinnern wir uns doch einmal ein bisschen: Wie war es denn 1987? Da hat die niedersächsische Finanzministerin - damals Birgit Breuel - zusammen mit dem Ministerpräsidenten - damals Albrecht von der CDU - und dem Bundeskanzler damals Helmut Kohl von der CDU - die EXPO angeworben. Ich finde es nicht fair, wenn jetzt auf diese Art und Weise parteipolitisch aufgerechnet wird. Wir sollten ganz klar sehen: Die Defizite lagen im Managementbereich. ({1}) Und die hat die EXPO-GmbH verursacht, bei der Frau Breuel und Herr Volk den Vorsitz innehatten. Sowohl Frau Breuel als auch Herr Volk mussten uns des Öfteren bei Anhörungen im Ausschuss Rede und Antwort stehen. Ich glaube, wir waren parteiübergreifend der Meinung, dass sie das mehr schlecht als recht getan haben. Doch Sie führen jetzt im Nachhinein eine parteipolitisch motivierte Diskussion. Wir beziehen unsere Kritik ganz klar auf die sachliche Ebene. Herr Burgbacher hat es bereits angesprochen: Die Fehler lagen in erster Linie im Werbekonzept, in der Vermarktungsstrategie, im Ticketing. Vor allem ist die touristische Positionierung der EXPO 2000 im Kontext Deutschlands eigentlich gar nicht erfolgt. Wir haben die Werbestrategie bemängelt, die die Zielgruppe, die breite Masse, im Grunde genommen gar nicht erreicht hat. ({2}) Sie war abgehoben und wurde nur schlecht verstanden. Herr Burgbacher, Sie haben gesagt, die 50 Millionen DM für den Werbeetat seien erst viel zu spät, nämlich nachträglich, bewilligt worden. ({3}) Da kann ich Ihnen nur sagen: Hätten wir dies gleich am Anfang getan, dann wäre die EXPO noch weitaus mehr heruntergeredet worden, als es sowieso leider schon der Fall war. ({4}) Doch ich stehe hier, um die Vorteile und die positiven Errungenschaften zu nennen, die Niedersachsen und die Stadt Hannover, aber auch Deutschland insgesamt von der EXPO 2000 gehabt haben. Wir hatten 18 Millionen Besucher auf der EXPO, die sich gerade auch die Themenparke angeschaut haben. 155 Nationen haben sich präsentiert. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Lippmann, finde ich, dass dort ein faszinierendes Kulturprogramm geboten wurde. ({5}) Die EXPO 2000 hat sicherlich auch einen weiteren, vielleicht nur ganz kleinen Schritt in Richtung Weltoffenheit, in Richtung Toleranz, aber auch in Richtung Integration gemacht. Wenn es auch nur ein kleiner war, muss ich Ihnen sagen: Ich finde es richtig. Die EXPO 2000 hat sicherlich auch den Standort Hannover als Messestadt und den Standort Deutschland gestärkt. Auch dafür gebührt ihr unsere Anerkennung. ({6}) Im Gegensatz zu Ihnen finde ich, dass durch die Themenparke das Thema Nachhaltigkeit wirklich gut aufgearbeitet wurde. ({7}) Wir haben darüber geredet: Wie will der Mensch leben, nicht nur morgen, sondern auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten? Es sind wegweisende Botschaften von der EXPO ausgegangen, von denen wir in den nächsten Jahren sicherlich profitieren werden. ({8}) Herr Hinsken, noch einmal zur finanziellen Situation: Sie haben gesagt, es sei ein Defizit von 2,3 Milliarden DM entstanden. Darin muss ich Ihnen - leider - zustimmen. Aber ich bitte darum, dass nicht nur die Seite mit den Defiziten dargestellt wird, sondern dass man auch die andere Seite sieht: Inwiefern haben Hannover, die Umgebung von Hannover und das Land Niedersachsen profitiert? Die Infrastrukturmaßnahmen sind nicht nur für einen Tag gebaut worden, sondern es sind dort dauerhafte Maßnahmen getroffen sowie Institutionen und Einrichtungen geschaffen worden, von denen wir noch Jahre und Jahrzehnte profitieren werden. Allein in das Messegelände wurden 528 Millionen DM investiert, in Hallenneubauten und Erweiterungsbauten 285 Millionen DM, von denen die Messegesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten profitieren wird, ganz abgesehen von den technischen Innovationen in Höhe von 106 Millionen DM. Auch in Grün- und Freizeitanlagen, die alle erhalten bleiben, sind 68 Millionen DM investiert worden, um hier nur einige Beispiele zu geben. Deswegen muss ich sagen: Ja, die EXPO hat Defizite gemacht, sicherlich viel mehr, als wir befürchtet hatten. Aber die qualitativen Ziele der EXPO 2000 sind erreicht, indem das Leitthema „Mensch - Natur - Technik“ und Nachhaltigkeit wirklich aufgearbeitet worden ist, indem es eine Ausstellungs- und Diskussionsplattform gegeben hat und die Botschaften über die Zeit hinaus präsent sein werden. Nehmen Sie zum Beispiel das internationale Weltausstellungsbüro in Japan. Es wird wahrscheinlich so sein, dass diese Idee der weltweiten dezentralen Projekte - Sie haben es selber gesagt, es waren über 200 aufgegriffen wird und dass andere Staaten die Idee nachahmen, um nicht nur eine Stadt, sondern auch das Umland und die Regionen insgesamt mit einzubeziehen. Insofern schließe ich mich der Bilanz des Staatssekretärs an: Der Standort Deutschland und gerade auch der Messestandort Hannover haben durch die Weltausstellung 2000 ganz klar gewonnen. ({9}) Birgit Roth ({10}) Wir haben unsere Leistungsfähigkeit und insbesondere unsere Lösungskompetenz präsentiert. Ich glaube, dass sich viele Dinge, die die EXPO 2000 gebracht hat, nicht durch Zahlen aufzeigen lassen. Manchmal lässt sich ein Gewinn eben nicht in Zahlen verdeutlichen. Insofern ziehen wir von unserer Seite ganz klar eine positive Bilanz. Danke schön. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus Brähmig für die CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Bühne frei“ hieß es vor fast 13 Monaten in Hannover bei der Eröffnung der ersten Weltausstellung auf deutschem Boden. „Manege frei“ lautet anscheinend das Motto der heutigen Plenardebatte. Diesen Eindruck vermitteln mir zumindest die Zauberkünstler und Finanzjongleure der rot-grünen Bundesregierung. ({0}) In dem Bericht der Bundesregierung über den Verlauf der EXPO heißt es, die EXPO 2000 sei eine „gelungene Inszenierung“ gewesen. Darauf stellt sich für mich die Frage: Was gehört zu einer gelungenen Inszenierung? Eine gelungene Inszenierung bedeutet im Normalfall ein volles Haus und volle Kassen. Frau Roth, ich weise darauf hin, dass es zu einfach ist, die Verantwortung für all das, was in den nächsten Monaten noch zu klären ist, auf die Geschäftsleitung abzuwälzen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass uns Herr Volk und Frau Breuel immer wieder darauf hingewiesen haben, dass der Aufsichtsrat sowie die Bundesregierung für die dringend notwendigen Entscheidungen leider nicht das notwendige grüne Licht gegeben haben. ({1}) Das Defizit von 2,4 Milliarden DM und eine Besucherzahl von nur 18,1 Millionen widerlegen die These von der gelungenen Inszenierung. Im Vorfeld wurde eine Besucherzahl von 40 Millionen Menschen prognostiziert, die für eine nahezu ausgeglichene Bilanz am Ende der EXPO 2000 sorgen sollte. Warum wurde das national und international anerkannte gute Projekt nicht besser in Szene gesetzt? Schon im Vorfeld der EXPO-Eröffnung zeigte der schleppende Kartenvorverkauf dringenden Handlungsbedarf im Bereich Marketing. ({2}) Schon damals hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus Verantwortung für einen erfolgreichen Verlauf der Weltausstellung eine deutliche Erhöhung der Marketingmittel eingefordert. ({3}) Die rot-grüne Bundesregierung schenkte diesen Forderungen kein Gehör. Am 8. Juni 2000, also nach der EXPOEröffnung, forderte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hier im Bundestag aufgrund der schlechten Vorverkaufsund Besucherzahlen eine Erhöhung der Marketingmittel um 50 Millionen DM. Branchenkenner aus dem Tourismus sahen in dieser Forderung den Königsweg für ein Plus bei den Besucherzahlen. Sie, sehr geehrte Frau Roth, haben mich damals in Ihrer Rede für diese Forderung mit Häme überschüttet. Die Debatte war nach Ihrer damaligen Ansicht unnötig. Sie appellierten an das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Steuerzahler und zweifelten an meinen „hellseherischen Fähigkeiten“. ({4}) Dabei vergaßen Sie, dass ich mir als Ostdeutscher ein gesundes Maß an Skepsis und Realismus in Bezug auf Planzahlen bewahrt habe. Meine Aussagen haben sich später voll bewahrheitet und meine Forderungen wurden erfüllt. Zwei Monate später wurde unserem Drängen nachgegeben und sogar 70 Millionen DM für eine zweite Marketingkampagne zur Verfügung gestellt. Rasant stiegen die Besucherzahlen, doch die Maßnahmen kamen zu spät, um das Einnahmendefizit entscheidend zu minimieren. Meine Vorredner sind darauf schon eingegangen. Meine Damen und Herren, bei Gesamtausgaben von 10,5 Milliarden DM für die Expo 2000 wurden in zwei Stufen nur circa 140 Millionen DM für die Vermarktung Ihrer „gelungenen Inszenierung“ ausgegeben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brähmig, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Brähmig, Sie haben in Ihrem Beitrag die Versäumnisse der Bundesregierung angeprangert. Bis 1997 hat das Management der Expo, das vom damaligen Ministerpräsidenten Albrecht, bekanntlich CDU, und Bundeskanzler Kohl eingesetzt wurde, ({0}) mehrmals gewechselt. ({1}) - Schröder war aber damals noch nicht Ministerpräsident, Herr Hirche. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Aber jetzt bin ich dran. Sie können später selbst eine Frage stellen. Birgit Roth ({2}) Ich möchte von Ihnen gern wissen, ob Sie glauben, dass die Maßnahmen, die in der Zeit ab Mitte 1998/1999 getroffen wurden, die Fehler der Jahre 1990 bis 1997, in denen wirklich die Geschäftsführer, die Sprecher, die Manager - ({3}) - Ich sagte ja: Glauben Sie wirklich, dass die Maßnahmen ausgereicht hätten, um die Versäumnisse dieser sieben Jahre wettzumachen? ({4})

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Irber, ich glaube, wir sind uns darin einig - das haben wir im Ausschuss im Konsens debattiert -, dass es an dem Produkt - ich habe schon versucht, das darzustellen - trotz des Wechsels von Personen und auch bei den Strukturen nicht gemangelt hat. Es hat vielmehr eindeutig Mängel in der Vermarktung gegeben. Das sagt jeder, der sich mit der Sache beschäftigt. Wir haben ausreichend und recht frühzeitig darauf hingewiesen. Wir sind auch auf Initiative unseres Ausschussvorsitzenden, Herrn Kollegen Hinsken, mehrfach in Hannover gewesen und haben uns dort an hochkarätiger Stelle informiert. Wir haben die Verantwortungsträger nach Bonn und nach Berlin eingeladen. Wir haben mit der BCG über das Auslandsmarketing verhandelt. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass all das, was gesagt worden ist, nicht umgesetzt worden ist; ob das Norwegen, Schweden, Österreich oder die Schweiz betrifft, überall Fehlanzeige. ({0}) Eine Expo kann nur letztendlich funktionieren - das ist uns allen klar -, wenn ein Mix aus internationalen und einheimischen Gästen - wie es in Sevilla der Fall war und wie es, da bin ich sicher, in den nächsten Jahren auch in Japan gelingen wird - ein solches Event besucht. ({1}) Dies war bei uns nicht der Fall. Das können Sie nicht abstreiten. ({2}) Meine Damen und Herren, von der Marketingsumme in Höhe von 140 Millionen DM gingen nur 38 Millionen DM in die Auslandsvermarktung - kein Wunder, dass nur 17 Prozent der Besucher aus dem kaufkraftstarken Ausland den Weg nach Hannover fanden. Bei der Weltausstellung in Sevilla betrug der Anteil der ausländischen Besucher noch 34 Prozent. Was ich jetzt sage, tut mir zwar Leid, aber es ist der Sachverhalt: Auf diese Weise degenerierte die Weltausstellung in Hannover zu einer größtenteils norddeutschen Nabelschau. ({3}) Die große Chance, das wiedervereinte Deutschland als gastfreundliche, innovative und moderne Kulturnation auf die Weltbühne zu rücken, wurde unzureichend genutzt. Ich frage Sie, Frau Roth: Sind Sie bereit, eine Teilverantwortung für das Defizit von 2,4 Milliarden DM gegenüber dem Steuerzahler zu übernehmen? ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brähmig, Sie haben zwar Frau Roth gefragt, aber Frau Roth hat jetzt eine Frage an Sie. Gestatten Sie die?

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Die eine noch, dann ist Schluss.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Brähmig, Sie haben eben die Expo als norddeutsche Nabelschau bezeichnet. Glauben Sie wirklich, dass dieses Nachkarten nach einem Dreivierteljahr dem Standort Deutschland oder dem Messestandort Hannover in irgendeiner Weise zuträglich ist? ({0})

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie werden nicht abstreiten können, dass der Sachverhalt, den ich mit diesen Worten beschrieben habe, durchaus zutrifft, wenn Sie sich die Struktur der Besucherströme anschauen, die im Wesentlichen aus dem Raum Hannover, aus Hamburg, aus Sachsen-Anhalt und aus Niedersachsen kamen. ({0}) Darüber kann man sicherlich streiten. Ich lasse diese Aussage mal so im Raume stehen. ({1}) Was fehlte der EXPO 2000 weiterhin, um ein Zuschauermagnet zu sein? Meines Erachtens fehlte ihr ein identitätsstiftendes Symbol wie der Eiffelturm in Paris oder das Atomium in Brüssel, das die Thematik „Mensch - Natur - Technik“ bildhaft veranschaulicht. Im Transrapid schlummerte dieses Potenzial. ({2}) Der moderne Mensch wird von Mobilität, Flexibilität und schneller Kommunikation bestimmt. Der Transrapid verursacht keine klimagefährdenden Emissionen und ist im Vergleich zu anderen Verkehrssystemen im Hinblick auf den Flächenverbrauch genügsam. ({3}) Der Transrapid stellt zurzeit wie kaum ein anderes deutsches Produkt die technische Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft dar. Leider hat die rot-grüne Bundesregierung unseren Vorschlag zum Spatenstich bzw. zum Startschuss für die erste Transrapidstrecke auf deutschem Boden während der EXPO 2000 nicht umgesetzt, obwohl das Land Niedersachsen - SPD-regiert - den Transrapid als weltweites EXPO-Projekt angemeldet hatte. Die Kollegen in Niedersachsen, auch die der SPD, wären natürlich sehr erfreut gewesen, wenn der Transrapid zu solch einem Projekt geworden wäre. Dank Rot-Grün werden sich chinesische Städte in Zukunft mit deutscher Hightech gelungen inszenieren - ein Treppenwitz der Industriegeschichte, übrigens, wie uns allen bekannt, nicht der erste und nicht der einzige. Abschließend stellt sich die Frage: Was von der EXPO 2000 war wirklich gelungen und wie können wir dies für die Zukunft des Tourismusstandorts Deutschland - Kollege Burgbacher hat dazu schon einige Anregungen gemacht - nutzen? Die farbenfrohen Kulturveranstaltungen auf der EXPO 2000 mit ihrer internationalen Vielfalt waren eine wirklich gelungene Inszenierung. Sie erfreuten sich des größten Interesses. Von diesen Erfahrungen kann zum Beispiel die Fußballweltmeisterschaft 2006 profitieren. Bund, Länder und die WM-Austragungsorte sind schon heute aufgerufen, aktiv zu werden. Durch ein buntes Kulturprogramm können wir unserer Bevölkerung die gottgewollte Vielfalt und Schönheit anderer Kulturen vermitteln. Gleichzeitig zeigen wir den Fans der Gästemannschaften nicht nur die Attraktivität Deutschlands; vielmehr geben wir ihnen auch ein Stück Heimat in der Fremde. Die Fans werden nachher als Botschafter deutscher Gastfreundschaft in die Heimat zurückkehren - ein Beitrag für gelebte Völkerverständigung und eine wirklich gelungene Inszenierung des Tourismusstandortes Deutschland auf der Weltbühne. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 14/6332 zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Weltausstellung EXPO 2000 als Chance für den Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutschland nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3374 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4008 und 14/5883 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es besteht im gesamten Hause Einverständnis. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zusatzpunkt 6 auf: 10. - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr ({0}) - Drucksache 14/5446 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr ({2}) - Drucksache 14/5934 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) - Drucksache 14/6305 Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm-Josef Sebastian ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({6}) Nr. 881/92 des Rates vom 26. März 1992 über den Zugang zum Güterkraftverkehrsmarkt in der Gemeinschaft für Beförderungen aus oder nach einem Mitgliedstaat oder durch einen oder mehrere Mitgliedstaaten hinsichtlich einer einheitlichen Fahrerbescheinigung KOM ({7}) 751 endg.; Ratsdok. 13905/00 - Drucksachen 14/5172 Nr. 2.71, 14/6305 Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm-Josef Sebastian Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.

Angelika Mertens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002734

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wettbewerb ist allgemein der Motor der Marktwirtschaft; er ist ein effizientes Instrument zur Kostensenkung und zur Produktivitätssteigerung sowie eine wesentliche Grundlage für Wachstum und Beschäftigung. Voraussetzung ist aber: Er ist fair. Die Liberalisierung des Transportmarktes in Europa haben einige Unternehmen dazu genutzt, sich ungerechtfertigt Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. So, wie der Markt jetzt ist, ist er nicht fair. Seit Einführung der Kabotagefreiheit in der EU am 1. Juli 1998 nehmen in Deutschland die Probleme der illegalen und missbräuchlichen Beschäftigung von Arbeitnehmern aus Nicht-EU-Staaten zu. In- und ausländische Transportunternehmer haben Wettbewerbsvorteile, indem sie beim Einsatz von Fahrern Regelungen des Aufenthalts-, des Arbeitsgenehmigungs- und des Sozialversicherungsrechts verletzen oder umgehen. Immer häufiger beschäftigen Unternehmen mit Sitz in der EU auf ihren dort zugelassenen Fahrzeugen Fahrer aus Osteuropa. Diese werden zu extrem niedrigen Löhnen für Transporte eingesetzt. Die Folge ist ein ruinöser Preisdruck für das gesamte Transportgewerbe. Hinzu kommen die gemeinwirtschaftlichen Schäden durch Wettbewerbsverzerrungen, Ausfälle bei Steuern und Sozialbeiträgen sowie negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Obwohl diese Folgen absehbar waren, hat die alte Bundesregierung keinerlei Vorkehrungen dagegen getroffen, übrigens auch eine Form des „Weiter so!“ ({0}) Wir gehen zum Schutz des deutschen Transportgewerbes konsequent gegen diese Praktiken vor. Wir warten nicht, bis ein entsprechender Entwurf eines Gesetzes der EU-Kommission zur Bekämpfung dieses Missbrauchs verabschiedet ist. Das tun wir im Interesse des deutschen Transportgewerbes und auch im Interesse eines fairen europäischen Wettbewerbs. ({1}) Ein kurzer Satz zu dem Änderungsantrag der CDU/CSU: Die in unserem Gesetzentwurf vorgesehene Ausweitung der Verladerhaftung auf Fälle von Fahrlässigkeit destabilisiert den Güterverkehrsmarkt nicht. Im Gegenteil: Ihr Vorschlag, die Verladerhaftung auf Fälle von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit zu beschränken, würde definitorische Graugrenzen schaffen ({2}) und die geplante Zielsetzung des Gesetzes ins Leere laufen lassen. Die Regelungen für das Transportgewerbe können im Übrigen auch nicht mit denen für die Bauwirtschaft verglichen werden, weil diese den steuerlichen Bereich betreffen und nichts mit den von uns geplanten Regelungen zu tun haben. ({3}) Mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr stoppen wir den ruinösen Preis- und Wettbewerbsdruck zulasten der gesetzestreuen Unternehmer und wir verhindern illegale Beschäftigung. Wir haben folgende Sofortmaßnahmen vorgesehen: Pflicht des Unternehmers, nur Fahrer einzusetzen, die ihre Arbeitsgenehmigung im Original mit einer amtlich beglaubigten Übersetzung bzw. ein entsprechendes Negativattest mit sich führen; Ausdehnung dieser Verpflichtung auch auf die Verlader; Verpflichtung der Verlader, nur solchen Unternehmen Aufträge zu geben, die Inhaber einer Erlaubnis oder Gemeinschaftslizenz sind; deutliche Erhöhung der Bußgelder für Verstöße gegen diese Pflichten und Kontrollzuständigkeit des Bundesamtes für Güterverkehr für die Einhaltung der Bestimmungen des Aufenthalts-, des Arbeitsgenehmigungs- und des Sozialrechtes von Fahrern aus Drittländern. Unser Ziel lautet: Wettbewerb ja, aber zu fairen Bedingungen, und das überall. Unser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Wir lösen mit ihm - das muss auch gesagt werden - ein Versprechen ein, das die Regierung und vor allem die sie tragenden Koalitionsfraktionen dem Transportgewerbe gegeben haben. Heute ist der Tag, an dem wir dieses Versprechen einlösen. Darüber können wir alle sehr froh sein. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Wilhelm-Josef Sebastian.

Wilhelm Josef Sebastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, Sie haben behauptet, dass die alte Bundesregierung in dieser Frage nie etwas unternommen habe. Ich muss das zurückweisen. Sie haben angedeutet, dass Sie unserem Änderungsantrag nicht zustimmen werden. Das ist uns unverständlich, weil Ihre Regierung und Ihre Koalitionsfraktionen ähnliche Formulierungen in den Regelungen für das Baugewerbe gewählt haben. Wir glaubten, einen guten Vorschlag für das Transportgewerbe zu machen. Heute wird ein wichtiges Gesetz beschlossen, um in einem Bereich des sich öffnenden Europas eine große Lücke zu schließen. Seit der Öffnung des europäischen Marktes für Kabotage hat die illegale Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr in Besorgnis erregendem Maße zugenommen. Mit der jetzt bevorstehenden gesetzlichen Regelung wird in Deutschland ein erster Schritt gemacht, um die illegale Beschäftigung einzudämmen. Damit wird der europaweit geplanten Einführung einer einheitlichen Fahrerlizenz vorgegriffen und auf europäischer Ebene klargemacht, dass Deutschland hier keine Kompromisse macht. Unsere gemeinsamen Ziele sind die Wahrung eines freien Wettbewerbs, faire Wettbewerbschancen für unsere deutschen Unternehmen, ({0}) die Wahrung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen für alle eingesetzten Fahrer und die Gewährleistung von Verkehrssicherheit auf unseren Straßen. In der parlamentarischen Beratung ist sehr schnell klar geworden, dass in diesen Fragen eine grundlegende Übereinstimmung zwischen Regierung und Opposition besteht. ({1}) Dies ist auch bereits in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes sowie bei den Ausschussberatungen deutlich geworden. Eine Frage jedoch hat sich als Knackpunkt erwiesen, nämlich die Frage der Verladerhaftung. Soll der Auftraggeber die Verantwortung übernehmen, wenn der von ihm beauftragte Spediteur Fahrer illegal beschäftigt? Wenn ja: In welchem Rahmen soll er haften und wie soll er seiner Sorgfaltspflicht nachkommen? Diese scheinbar marginale Frage ist in der äußerst komplexen Wirtschaftswelt von nicht zu unterschätzender Tragweite. Logistische Verkehrsbewegungen gehören sicher zu den kompliziertesten Abläufen, die es in einer arbeitsteiligen Ökonomie zu organisieren gilt. Gerade an diese Tatsache knüpfen sich die entscheidenden Fragen. Wie soll der neue § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes verstanden werden, wenn es heißt, dass ein Auftraggeber einen Auftrag nicht ausführen lassen darf, wenn er weiß oder fahrlässig nicht weiß, dass sich der Spediteur einer illegalen Beschäftigung schuldig macht? Juristisch und politisch unstrittig ist sicher der Fall des Vorsatzes. Selbstverständlich muss der Auftraggeber, der solche illegalen Praktiken wissentlich unterstützt, mit zur Rechenschaft gezogen werden. Gerade daran setzt die Regelung unseres Entwurfs an, weil aus der Tatsache, dass Anbieter und Nachfrager von Transportleistungen gesetzliche Regelungen missachten, kein wirtschaftlicher Profit gezogen werden darf. Eine solche Regelung ist auch ordnungspolitisch zu vertreten. Sie alle wissen, dass sich Wettbewerb nur im Rahmen der Gesetzesnormen und niemals unter Missachtung von Gesetzen vollziehen darf. Für die aktuelle Diskussion relevant ist damit nur der Bereich der Fahrlässigkeit. Alle Teilnehmer der Arbeitsgruppen wissen, dass es zu dieser Frage im Vorfeld zahlreiche Eingaben von Verbänden gegeben hat, seien es die Spediteure oder die Wirtschaftsverbände als Sachwalter der potenziellen Auftraggeber. Wir wissen aber auch alle, dass es eine Kompromisslinie gibt, auf die sich die beteiligten Fachleute mit den Ministerien geeinigt haben. Gestatten Sie, dass ich diese Linie hier kurz skizziere: Grundsätzlich muss der Auftraggeber von der Gesetzestreue des Spediteurs ausgehen können, so wie das auch in allen anderen Wirtschaftsbereichen der Fall ist. Die Tatsache, dass wir illegale Beschäftigung im Güterkraftverkehr als Problem erkannt haben, gibt uns nicht das Recht, eine ganze Branche gleichsam von vornherein zu kriminalisieren. ({2}) Ausgehend von der Vermutung der Rechtstreue des Vertragspartners kann sicher nur eine stichprobenartige Kontrolle der Papiere durch den Auftraggeber verlangt werden. Soll allein die Tatsache, dass nicht jeder Transport kontrolliert wird oder werden kann, als fahrlässiges Handeln ausgelegt werden? Nach unserer Meinung wäre das nicht richtig. Nach unserer Meinung muss es nachvollziehbare Kriterien geben, an denen sich ein Anfangsverdacht eines Auftraggebers, der ihn zum Handeln veranlassen sollte, festmachen lässt. Nicht zu Unrecht ist die Kombination eines sehr niedrigen Angebotspreises durch den Spediteur in Verbindung mit einer mehrmaligen Unzulänglichkeit der kontrollierten Papiere als beispielhafter Anhaltspunkt ausgemacht worden. Fakt ist, dass eine Kontrolle durch den Auftraggeber umso schwieriger wird, je weiter er von der Organisation und Durchführung des Transportes entfernt ist. Dies sollte ein klarer Anhaltspunkt dafür sein, dass die Kontrollpflicht durch den Auftraggeber umso geringer ist, je weiter er vom Transportgeschehen entfernt ist. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es auch im Bereich des Güterkraftverkehrs grundsätzlich Aufgabe staatlicher Stellen sein sollte, Gesetzesnormen zu kontrollieren. Wenn wir eine solche Kontrolle von privaten Vertragsparteien im Übermaß verlangen, so leisten wir einer Reglementierung und Bürokratisierung des Wirtschaftslebens in Deutschland Vorschub. ({3}) Die Diskussion dieses Fragenkomplexes hat uns von der CDU/CSU-Fraktion zu der Überzeugung gebracht, dass letztlich nur eine Verdeutlichung der Formulierung die Rechtssicherheit der Beteiligten erheblich erhöhen wird. Daher schlagen wir eine veränderte Formulierung von § 7 c des Gesetzentwurfes in dem Sinne vor, dass der Auftraggeber nur haften soll, wenn ihm grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Es ist unsere Überzeugung, dass das realistischerweise Machbare im heutigen Logistikgeschehen einer großen Volkswirtschaft am ehesten durch diese Formulierung abgebildet werden kann. Wenn man Juristendeutsch für die Menschen verständlich machen will, so heißt Fahrlässigkeit doch: Das kann jedem passieren. Grobe Fahrlässigkeit bedeutet dann: Das hätte nicht passieren dürfen. Wir würden uns freuen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie diesen Weg des Kompromisses und des Ausgleichs mit uns gehen könnten, und fordern Sie auf, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Albert Schmidt.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern haben 420 Beamte des Bundesgrenzschutzes, des Zolls, der Steuerfahndung und des Bundeskriminalamtes in der saarländischen Stadt Perl die Geschäftsräume einer bundesweit tätigen Spedition durchsucht. Nach Mitteilungen der Staatsanwaltschaft hat diese Spedition Fahrer aus früheren Ostblockstaaten zu Dumpinglöhnen beschäftigt. Die Razzia, die übrigens auch in zwölf weiteren Niederlassungen der Spedition in ganz Deutschland stattgefunden hat, hat zutage gefördert, dass offenbar Monatslöhne in der Größenordnung von 100 DM pro Fahrer plus 10 Pfennig pro gefahrenen Kilometer gezahlt worden sind. Dieses aktuelle Beispiel illustriert, wie ich finde, in beeindruckender Weise, wie verkommen, wie kaputt und wie selbstzerstörerisch der Markt im speditierenden Gewerbe inzwischen geworden ist. ({0}) - Auf Schwyzerdütsch kann man auch „speditieren“ sagen. ({1}) Nun sind wir uns, glaube ich, alle darin einig, dass es höchste Zeit ist, dass wir regulierende Maßnahmen - nicht nur im Sinne der Beschäftigten, sondern auch im Sinne der Verkehrssicherheit - ergreifen. Genau das tun wir mit dem Gesetz, das heute zur Abstimmung und zur Schlussberatung vorliegt. Das Europäische Parlament hat zu Beginn dieses Jahres eine Studie zum Sozialdumping im Straßengütertransportgewerbe durch Unternehmen aus Drittländern veröffentlicht und dabei zutage gefördert, dass das Lohnund Sozialkostengefälle zwischen Deutschland und einigen Ländern Mittel- und Osteuropas bei 10:1 liegt, dass sich die Löhne also um den Faktor zehn unterscheiden. Das bewirkt genau jenes Sozialdumping, das hierzulande Arbeitsplätze gefährdet und darüber hinaus die Verkehrssicherheit in den EU-Mitgliedstaaten massiv in Mitleidenschaft zieht. In derselben Studie werden - ich möchte das gerne wörtlich zitieren - „die missbräuchliche Verwendung und Fälschung von Lizenzen sowie die illegale Beschäftigung von Fahrern aus Drittländern auf Fahrzeugen, die in der Gemeinschaft zugelassen sind“, als wesentliche Missbrauchstatbestände konstatiert. Insbesondere wird in dieser Studie die Kontrolllücke reklamiert, die darin besteht, dass es keine EU-einheitliche Fahrerbescheinigung gibt, die es ermöglicht, im Inland wie im Ausland die Rechtmäßigkeit des Fahrereinsatzes zu überprüfen. Genau in diese Regelungslücke stoßen die gesetzlichen Bestimmungen vor, die wir heute beschließen werden. Im Vorgriff auf beabsichtigte EU-Lösungen beschließen wir heute im Deutschen Bundestag als Sofortmaßnahme die Normierung der Pflicht eines jeden Transportunternehmens, nur noch Fahrer einzusetzen, die eine Arbeitsgenehmigung im Original mit einer amtlich beglaubigten Übersetzung bzw. ein entsprechendes Negativtestat mit sich führen. Wir beschließen heute - nämlich durch die Änderung des § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes - dass die Ausdehnung dieser Verpflichtung auch die Verlader trifft. Das heißt im Klartext: Wer zukünftig als Auftraggeber, als Verlader, arglistig vom Transportunternehmer getäuscht wird, muss nicht mit Strafe rechnen. Wer aber fahrlässig handelt, indem er wegschaut und sich nicht vergewissert, dass er es mit legitimen Auftragnehmern zu tun hat, ist möglicherweise verantwortlich. Ich finde diese Formulierung der Fahrlässigkeit durchaus richtig und angemessen. ({2}) Damit wird die gesamte Transportkette vom Verlader über den Transportunternehmer im engeren Sinne in die Mitverantwortung einbezogen. Des Weiteren wird in beträchtlichem Umfang das bei Verstößen gegen dieses Gesetz angedrohte Bußgeld erhöht. Darüber hinaus wird die Zuständigkeit des Bundesamtes für Güterverkehr für die Kontrolle festgehalten, das übrigens auch mit zusätzlichen Mitteln, zusätzlichem Personal und zusätzlichen Fahrzeugen ausgestattet wird. Summa summarum ist dies, glaube ich, heute ein wesentlicher Schritt zur Regulierung eines ruinösen Konkurrenzkampfes, der letztlich zulasten aller geht, vor allem aber zulasten der mittelständischen Transportunternehmen. Diese wollen wir schützen. Wir wollen keinen Wettbewerb mit unlauteren Mitteln, sondern wir wollen fairen Wettbewerb. Wir wollen die Einhaltung von Sozialstandards. Dafür lassen Sie uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute möglichst gemeinsam sorgen. Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der F.D.P. spricht der Kollege Horst Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schmidt, es wird Sie überraschen, dass ich mit den wesentlichen Inhalten Ihres Vortrags durchaus einverstanden bin. Das ist gar nicht die Konfliktlinie. Auch wir sehen das Problem. ({0}) Wir haben immer kritisiert, dass Sie das, was am Schluss kommen sollte, zuerst machen, und das in einer Zeit, in der Sie - im Gegensatz zu uns, die wir vor der Kabotagefreigabe am 1. Juli 1998 die Steuern gesenkt und zumindest seit 1994 keine Mineralölsteuererhöhung mehr vorgenommen haben - drei Stufen der Ökosteuer mit 18 Pfennig plus Umsatzsteuer eingeführt haben. Darüber hinaus haben Sie die AfA-Tabellen verschlechtert und im letzten Jahr Ausnahmeregelungen für die Konkurrenz in Europa zugestimmt, durch die das deutsche Gewerbe benachteiligt wird. Sie haben eine Steuerreform gegen den Mittelstand gemacht. Ferner haben Sie - jetzt erst wieder - weitere Steigerungen bei den Lohnnebenkosten zugelassen. Nach wie vor haben Sie keine verlässlichen Entlastungen zum 1. Januar 2003 für die Umstellung der LKW-Gebühr von Zeit auf Strecke zugesagt. Es gibt nichts außer der blumigen Äußerung, dass es dann zu einer größtmöglichen Harmonisierung auf europäischem Niveau kommen muss, was auch immer das heißen mag. ({1}) Vor dem Hintergrund all dieser Themen, die wir immer kritisiert haben, kommt jetzt Ihre Aussage, dass Sie nun ein Problem lösen müssen. Zugegeben, es handelt sich um ein Problem. Es wäre aber wahrscheinlich ein sehr viel kleineres Problem in Deutschland, wenn Sie all das, was ich eben aufgezählt habe, nicht beschlossen hätten. ({2}) Nun kommen wir zum eigentlichen Thema. Der Knackpunkt ist - das wird eine juristische Überprüfung jederzeit ergeben -, dass Sie die verladende Wirtschaft in Deutschland bereits bei einfacher Fahrlässigkeit voll in die Haftung nehmen. Herr Kollege Schmidt, es stimmt eben nicht, dass Wegschauen eine einfache Fahrlässigkeit ist. Nach BGB handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Zur Definition heißt es in der Kommentierung im Palandt zu § 277 BGB: Einfache Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn die Handlung als Fehlverhalten gedeutet werden kann, die jeder Person passieren kann. Das ist mit Wegschauen noch lange nicht erreicht. Anders verhält es sich bei der groben Fahrlässigkeit, bei der subjektive Maßstäbe angelegt werden. Mir leuchtet immer noch nicht ein, warum Sie in dem Gesetzgebungsverfahren betreffend die Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im Baugewerbe bei Steuerhinterziehung die grobe Fahrlässigkeit ansetzen, während Sie bei der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im Transportbereich auf einmal die einfache Fahrlässigkeit konstruieren und damit einer Rechtsunsicherheit Tür und Tor öffnen. Wie groß diese Unsicherheit ist, kann man daraus ersehen, dass es den beteiligten Verbänden DIHT, BDI, BGL und BSL sowie der Regierung nicht gelungen ist, sich in ihrem Gespräch Anfang April auf eine einheitliche Regelung zu verständigen, obwohl die Transportverbände zugestanden haben, dass nicht jede Fahrlässigkeit bestraft werden soll. Hierüber kam aber keine einheitliche Definition zustande. Deswegen habe ich bereits in der Ausschusssitzung darauf hingewiesen, dass hier mehr rechtliche Übereinstimmung vonnöten ist. Ich habe dem Haus die Fundstelle - wir haben das zu Zeiten unserer Regierung beschlossen - gezeigt, weil es sie nicht gekannt; aber es hat offensichtlich nicht zum Nachdenken geführt. Dem, was heute beschlossen werden soll, können auch wir zu 99 Prozent zustimmen. Sie brauchen lediglich aus der einfachen Fahrlässigkeit bei der Haftung des Verladers eine grobe Fahrlässigkeit zu machen, was dem Tatbestand schon allein deswegen angemessen wäre, weil wir in das Güterkraftverkehrsgesetz in Abstimmung mit dem Gewerbe die persönliche Zuverlässigkeit ganz bewusst aufgenommen haben. Ein Unternehmer, der in Deutschland Güterkraftverkehr betreibt und Fahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 3,5 Tonnen bewegt, hat bereits jetzt besondere Sorgfaltspflichten zu beachten. Wer dagegen verstößt, müsste schon nach dem geltenden Güterkraftverkehrsgesetz die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Das ist übrigens auch eine Aufgabe des Gewerbes. Wir legen Ihnen nochmals unseren Antrag zur Abstimmung vor. Sollten Sie ihn ablehnen, sehen wir leider keine Möglichkeit, dem Gesetz insgesamt zuzustimmen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Winfried Wolf für die PDS-Fraktion.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Damen und Herren! Der Tatbestand ist bekannt; er wurde hier bereits angesprochen. Im LKW-Gewerbe gibt es Sozialdumping und ruinösen Wettbewerb. Der krasseste Ausdruck dafür sind illegal Beschäftigte in Unternehmen mit Sitz in der Europäischen Union oder im EWR. Es ist auch angesprochen worden, dass das Lohngefälle illegal eingesetzter osteuropäischer Arbeiter zu den EU-Arbeitern bis zu 1:10 ausmacht. Wir wissen, dass es Bemühungen auf europäischer und jetzt auch auf deutscher Ebene gibt, hier Abhilfe zu schaffen. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen machen hier etwas, was sie nachher bei dem CDU/CSUAntrag zum Thema Lokführerschein nicht machen werden, nämlich im nationalen Alleingang etwas zu beschleunigen, was auf EU-Ebene läuft. Im Grundsatz sind sich alle Parteien einig, dass gegen Sozialdumping und ruinösen Wettbewerb etwas getan werden muss und dass die vorgelegten Vorschläge in die richtige Richtung gehen. Ich wiederhole sie an dieser Stelle nicht; sie sind kompliziert genug. Die Debatte über § 7 c und den Begriff der groben Fahrlässigkeit berührt tatsächlich den entscheidenden Punkt. In der ersten Lesung am 8. März sagte ich, dass ich unsicher sei, ob die Kritik von CDU/CSU und F.D.P. nicht doch berechtigt ist. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu einer anderen Meinung gekommen. Nach dem Lesen der Ergebnisniederschrift der Besprechung zwischen den Verbänden und dem zuständigen Ministerium vom 2. April bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Verbände - darunter der BDI, aber auch die ÖTV - eine Vereinbarung unterschrieben haben, in der das fahrlässige Horst Friedrich ({0}) Nichtwissen relativ verladerfreundlich definiert und festgestellt wurde, dass sogar im Falle extrem niedriger Transportpreise, die Dumpingpreise zu sein scheinen, keine erhöhte Sorgfaltspflicht vonnöten sei, sondern man misstrauisch sein und Rückfragen stellen müsse. Es wurde sogar gesagt, dass man in solchen Fällen keine Verzögerung der Fracht oder Vertragsstrafen in Kauf nehmen müsse. Unter den Bedingungen dürfte das Papier gerichtlich belastbar sein, wenn Unterschriften darunter stehen. Insoweit ist die Definition korrekt. Wir stimmen daher dem Gesetzentwurf zu und lehnen wegen der Präzisierung in dieser Vereinbarung die beiden Änderungsanträge ab. Wie bereits in der ersten Lesung und wie auch einige Redner in der heutigen Debatte verweisen wir weiterhin darauf, dass damit nur ein Ausschnitt von Sozialdumping angetippt wurde. Im Grunde kann die Liberalisierung des EU-Marktes in diesem Bereich nicht funktionieren, wenn solche krassen Beispiele von Sozialdumping vorkommen, wie sie Albert Schmidt zu Beginn seiner Ausführungen dargelegt hat. Ich verweise weiter darauf, dass vor allem die falsche Verkehrspolitik - die von uns in einem anderen Sinne als vom Kollegen Friedrich als falsch definiert wird -, wodurch Verkehr immer billiger wird und immer mehr abstrakte und absurde Arbeitsteilungen produziert werden, im Zentrum der Debatte stehen müsste. Danke schön. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute wirklich sagen: Dies ist ein guter Tag für das mittelständische deutsche Fuhrgewerbe. ({0}) Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr, das wir heute beschließen werden, treten wir einer Verschärfung der schwierigen Wettbewerbssituation des deutschen Transportgewerbes deutlich entgegen. Zu oft - die Frau Staatssekretärin hat das schon angesprochen - sind bereits heute auf deutschen Straßen LKWs unterwegs, die von Fahrern gelenkt werden, die aus europäischen Drittstaaten kommen und illegal hier arbeiten. Dies hat schon zu Marktstörungen deutlichen Umfangs geführt. Wir verpflichten deshalb einerseits die Fuhrunternehmer aus den Staaten der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums, auf deutschen Straßen nur Fahrer einzusetzen, die im Staat des Unternehmenssitzes eine Arbeitsgenehmigung haben. Die Unternehmer müssen auch dafür sorgen, dass das Fahrpersonal die Arbeitsgenehmigung im Original zusammen mit einer beglaubigten Übersetzung mit sich führt. Zum Schutz unseres Gewerbes greifen wir der Einführung der europäischen Fahrerlizenz in diesem Sinne vor und berechtigen das Bundesamt für Güterverkehr zukünftig, die Arbeitsgenehmigungen der Fahrer zu kontrollieren. ({1}) Es ist heute in der Diskussion schon deutlich geworden: Die Beschäftigung von illegalen Fahrern wäre ohne die stillschweigende Duldung eines Teils der verladenden Wirtschaft - das sind beileibe nicht alle - schon bisher schlicht nicht möglich gewesen. ({2}) Machen wir uns nichts vor: Dem Verlader muss es auffallen, wenn der Transportpreis eines Spediteurs regelmäßig niedriger ist als der seiner Konkurrenten, ({3}) wenn die Fahrer immer aus Osteuropa kommen und wenn bestimmte Dokumente nicht freiwillig vorgelegt werden. ({4}) Sicherlich haben diese schwarzen Schafe unter den Verladern auch einen nicht unerheblichen finanziellen Vorteil aus der illegalen Beschäftigung. Wäre dem nicht so, dann wäre auch die Wettbewerbsverzerrung im Fuhrgewerbe, die durch diese Praxis mitbestimmt wird, anders, als sie ist. Der Bericht des Europäischen Parlaments ist bereits vom Kollegen Schmidt angesprochen worden. Dort spricht man von Preisunterschreitungen von bis zu 30 Prozent. Deshalb haben wir in das Gesetz die so genannte Verladerhaftung aufgenommen. Wir wollen damit bewirken, dass zukünftig Verlader und Spediteure ein wirkliches Interesse an der Durchführung der Transporte nach Recht und Gesetz haben. ({5}) Genau hier scheiden sich die Geister. Das Gesetz verwendet in § 7 c - wir haben das von den Kollegen schon ausführlich gehört - den Begriff des fahrlässigen Nichtwissens. Seit Mitte Mai drängt nun insbesondere der BDI darauf, diesen Begriff durch den des grob fahrlässigen Nichtwissens zu ersetzen. Die F.D.P. und die CDU/CSU haben diese Idee in ihrem Antrag aufgenommen. ({6}) Aber auch nach reiflicher Überlegung können wir diesem Begehren nicht folgen. Der Begriff der Fahrlässigkeit nach § 276 BGB wird in der juristischen Literatur - als Dr. Winfried Wolf ({7}) Nichtjuristin muss man das nachlesen - als das AußerAcht-Lassen der erforderlichen Sorgfalt beschrieben. ({8}) Wer also als Verlader in diesem Sinne fahrlässig nicht wissend einem Fuhrunternehmer oder Spediteur sein Gut zur Beförderung anvertraut, das heißt bewusst nicht überprüft, ob dieser Unternehmer seine Fahrer nach Recht und Gesetz einsetzt, wird zukünftig eventuell mit einem hohen Bußgeld rechnen müssen. ({9}) Der Verlader muss sich - das ist der Sinn hinter diesem Gesetz - so weit wie möglich um diese Erkenntnis bemühen. Er muss Stichproben machen und sich nach Anzeichen erkundigen. Der Formulierung im vorliegenden Gesetz haben übrigens auch der Bundesrat und bei Abstimmungsgesprächen Anfang April zunächst auch alle befragten beteiligten bzw. betroffenen Gruppierungen einschließlich des BDI und des Deutschen Industrie- und Handelstages zugestimmt. Erst Mitte Mai kam dann der Sinneswandel. ({10}) - Mit mir haben sie doch gesprochen, wahrscheinlich genauso wie mit Ihnen, Herr Friedrich. Lassen Sie mich ganz klar sagen: Wer hier ein grob fahrlässiges Nichtwissen einführen möchte, muss zur Kenntnis nehmen, dass eine Formulierung - die ich gefunden habe - bezüglich der groben Fahrlässigkeit besagt, dass die verkehrsübliche Sorgfalt in besonders grobem Maße verletzt wird, dass also selbst einfachste, jedem einleuchtende Überlegungen nicht angestellt werden. Das heißt, der Verlader müsste erst tätig werden, wenn es sehr offenkundige Hinweise auf die Illegalität des Beschäftigungsverhältnisses gibt, wenn sich ihm also die Erkenntnis über das illegale Beschäftigungsverhältnis förmlich aufdrängt, sodass er die Augen davor nicht mehr verschließen kann. Das ist - so meine ich - zu spät und das ist uns zu wenig. Würden wir uns hier nur auf die grobe Fahrlässigkeit beschränken, wären dem Gesetz alle Zähne gezogen, die es hat. ({11}) Wir würden insbesondere der aktiven Rolle, die der Verlader bei dem Geschäft spielt, mit dieser Regelung nicht gerecht. ({12}) Auch der Hinweis auf das Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe geht wegen des völlig anderen Kontextes, in dem die grobe Fahrlässigkeit dort angeführt wird, in die Irre. Sie haben es doch nachgelesen: Es geht um den § 48 Abs. 3 EStG. Dort wird die Haftung des Auftraggebers bei grob fahrlässiger Unkenntnis geregelt. Diese Unkenntnis bezieht sich aber nur auf die rechtswidrige Erlangung der vom Bauunternehmer zu beantragenden Freistellungsbescheinigung. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, auch Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es gibt außerdem eine ganze Reihe anderer Beispiele: Sowohl im Arbeitnehmer-Entsendegesetz, im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz als auch im Zollrecht stellen fahrlässige Verstöße gegen Rechtsvorschriften eine Ordnungswidrigkeit dar. Fest steht: Würden wir dem Drängen nachgeben, ließen wir unser Fuhrgewerbe im Regen stehen. ({0}) Genau das wollen wir nicht, das ist nicht das Ziel dieses Gesetzentwurfes.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Graf, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sollten sich auch die Antragsteller überlegen. Wir bitten Sie deshalb um Zustimmung für den Gesetzentwurf und dass Sie den Änderungsantrag der F.D.P. und der CDU/CSU mit uns ablehnen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/6305. Der Ausschuss empfiehlt unter II seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr auf Drucksache 14/5446 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Unter I seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr auf Drucksache 14/5934 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6360? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen Angelika Graf ({0}) die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/6361? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Ziffer III seiner Beschlussempfehlung, den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung über den Zugang zum Güterkraftverkehrsmarkt hinsichtlich einer einheitlichen Fahrerbescheinigung zur Kenntnis zu nehmen und eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dirk Niebel, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Wehrpflicht aussetzen - Drucksachen 14/5078, 14/6274 Berichterstattung: Abgeordnete Kurt Palis Paul Breuer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.-Fraktion sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die F.D.P.-Fraktion ist der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es bezweifelt niemand, dass es gute Argumente für eine Wehrpflichtarmee gibt. Die muss uns niemand nennen. Wer wollte denn die erfolgreiche Geschichte der Bundeswehr in der Nachkriegsgeschichte der alten Bundesrepublik Deutschland, das Verwachsen zwischen Gesellschaft und Armee sowie die Prinzipien der Inneren Führung bestreiten? ({0}) Aber auch die Befürworter einer Wehrpflicht müssen heute erklären, wie sie gegenüber einer jungen Generation in der Bundesrepublik Deutschland angesichts des Endes der bipolaren Welt und einer völlig geänderten sicherheitspolitischen Lage die Wehrpflicht begründen wollen, ({1}) wenn am Ende nur noch 20 Prozent eines Jahrgangs tatsächlich in der Bundeswehr ihren Dienst versehen. ({2}) Das wäre auf den Plenarsaal übertragen etwa so, als wenn von allen Abgeordneten nur noch so viele den Dienst tun würden, wie jetzt noch anwesend sind. Das ist keine Wehrgerechtigkeit mehr. Mit dem Verfall der Wehrgerechtigkeit verfällt aus unserer und meiner Überzeugung auch die Wehrpflicht. Es mag noch so häufig an eine bestimmte Größenordnung der Bundeswehr erinnert und ihre finanzielle Ausstattung schön ausgemalt werden. Selbst die Personalstärke, die die lieben Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU vorschlagen, trägt die Wehrpflicht nicht mehr. ({3}) Das sicherheitspolitische Umfeld trägt sie nicht mehr und auch nicht mehr die finanzielle Ausstattung. Wir befinden uns ja im Übrigen in guter Gesellschaft. ({4}) Ich sage dieses jetzt an die Adresse der Sozialdemokraten: Der von uns sehr geschätzte Wehrbeauftragte hat es zurückhaltend ({5}) in eine Fragestellung gekleidet. Er hat gefragt, ob überhaupt noch von der allgemeinen Wehrpflicht gesprochen werden kann, wo doch der immer größere Teil eines Jahrgangs gar nicht eingezogen wird. Ich zitiere immer korrekt, deshalb wiederhole ich es noch einmal: Die Frage war, ob überhaupt noch von der allgemeinen Wehrpflicht gesprochen werden kann, wo doch der immer größere Teil eines Jahrgangs gar nicht eingezogen wird. Die Beantwortung dieser Frage können Sie nicht dauernd verschieben und sich vor einer Entscheidung drücken. Irgendwann stellt sich Ihnen diese Frage. ({6}) Im Übrigen wäre ich mir gar nicht so sicher, auch wenn wir jetzt nur eine halbe Stunde diskutieren und unser Antrag mit Sicherheit abgelehnt wird, ({7}) - ja, ja - ob wir uns nicht dereinst wiederbegegnen: Im Leben sieht man sich meistens zweimal. ({8}) Vizepräsidentin Petra Bläss Ich wäre nicht so sicher, ob nicht Karlsruhe alsbald auch eine Entscheidung trifft, die Ihre Überzeugung infrage stellt und uns zwingt, uns erneut damit zu befassen. ({9}) Da viele ja immer sagen, die Politik solle lieber selber Lösungen anbieten, als abzuwarten und dann Gerichtsentscheidungen zur Kenntnis nehmen zu müssen, empfehle ich Ihnen, dieses im Vorgriff politisch zu entscheiden. Ich frage noch einmal die SPD: Wie haben Sie sich denn beim Thema „Frauen in die Bundeswehr“ verhalten? Sie haben es verschoben und verschoben. ({10}) Wir haben es dauernd gefordert und beantragt. Heute ist es so weit. Ich sage Ihnen heute voraus, dass dieser Antrag alsbald wieder auf die Tagesordnung kommt und Sie sehr wahrscheinlich gezwungen sein werden, eine andere Entscheidung zu treffen. ({11}) Sie sollten Helmut Schmidt ({12}) Beachtung schenken, der darauf hinweist, dass die politisch-psychologische Vorbedingung für die Beibehaltung des Wehrpflichtprinzips ein hohes Maß an tatsächlicher Allgemeinheit der Wehrpflicht ist. Ein hohes Maß an tatsächlicher Allgemeinheit der Wehrpflicht gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr. Die Frage danach beantwortet sich ganz einfach. ({13}) Ganz besonders interessant - das habe ich nachgelesen - ist die Haltung der Grünen. ({14}) In einer Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses ist Folgendes festgehalten: Die Position der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist, dass die Wehrpflicht sicherheitspolitisch nicht für unverzichtbar und verfassungsrechtlich für schwer begründbar gehalten wird. Was denn jetzt, meine Damen und Herren von den Grünen? ({15}) - Man verwendet ja nicht selten gewundene Formulierungen, um um die Lösung eines Problems herumzukommen. Meine Damen und Herren, angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage - im Übrigen im Konzert der NATO-Mitgliedstaaten, von denen heute zehn von 19 keine Wehrpflichtarmee mehr haben -, ({16}) angesichts der tatsächlichen Lage, dass nur jeder Fünfte einer Jahrgangsstärke derer, die nach der Verfassung wehrpflichtig sind, tatsächlich eingezogen werden wird, und angesichts des Missverhältnisses, dass 40 Prozent Zivildienst leisten und 20 Prozent die Wehrpflicht erfüllen, während der Verfassungsauftrag eine Priorität für Wehrpflicht und Respekt für Kriegsdienstverweigerer und die Anerkennung ihrer Leistung als Zivildienstleistende vorsieht, kann doch niemand von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen der verfassungsrechtlichen Pflicht und der wirklichen Lage sprechen. Sie machen sich doch etwas vor, wenn Sie so über dieses Thema diskutieren. ({17}) Der Bundesverteidigungsminister sagt, es seien mehr einzuziehen, weil noch Stellen aus anderen Bereichen zur Verfügung stünden. Tatsache ist aber, dass selbst von denen, die wehrtauglich sind und eingezogen werden könnten, wegen der Haushaltsausstattung nur zwei Drittel eingezogen werden. Das führt das Ganze ad absurdum, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen. ({18}) Es mag gute gesellschaftliche Gründe für eine Wehrpflicht und überzeugende Befürworter einer Wehrpflicht geben, aber der Kaiser hat sein Recht verloren, wenn es der Wirklichkeit nicht mehr entspricht. ({19}) Es war für meine Partei keine einfache Entscheidung gewesen. Es gab Gegner und Befürworter. ({20}) Aber wir wollten eigentlich keine politischen Argumente vortragen, die von der Wirklichkeit geradezu zerschlagen werden. ({21}) Deshalb empfehlen wir Ihnen, sich der Realität zu stellen, ({22}) angesichts der sicherheitspolitischen Veränderungen die Wehrpflicht auszusetzen, wie das in bedeutsamen NATOPartnerländern auch geschehen ist, und der jungen Generation keine Wehrpflicht mehr aufzuerlegen, wozu Ihnen die junge Generation heute aus guten Gründen sagen kann, dass Sie ihr die Wehrgerechtigkeit nicht mehr garantieren können. ({23}) Wenn das nicht mehr zu garantieren ist, nützen alle guten, wünschenswerten gesellschaftspolitischen Argumente nichts. Politik darf nicht an der Wirklichkeit vorbeigehen. Deshalb - wenn Sie es heute nicht entscheiden wollen, werden Sie es später entscheiden müssen - ist das Ende der Wehrpflichtarmee in der Bundesrepublik Deutschland gekommen, ob wir es mögen oder nicht. Die Wehrgerechtigkeit ist eine tragende Akzeptanzsäule unserer Verfassung. Wenn die nicht mehr gegeben ist, kann niemand eine Wehrpflichtarmee begründen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({24})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Reinhold Robbe von der SPD-Fraktion. ({0}) - Noch habe ich hier vorne das Kommando, Herr Kollege Niebel.

Reinhold Robbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So kennen wir ihn: immer für einen flotten Spruch gut. Unabhängig von der Tatsache, dass der Kollege Niebel das gar nicht so meint, will ich jetzt ein paar Ausführungen zur Sache machen. Nicht zum ersten Mal beschäftigen wir uns im Deutschen Bundestag mit der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland. Was die heutige Debatte jedoch von vorherigen Diskussionen unterscheidet, ist die von der F.D.P.Fraktion eingebrachte Forderung nach einer Aussetzung der Wehrpflicht. Begründet wird dieser Antrag mit dem knappen Hinweis, die allgemeine Wehrpflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr zwingend notwendig. Auch wenn dieser Antrag zumindest indirekt die Frage offen lässt, Herr Gerhardt, ob die Aussetzung zu einem späteren Zeitpunkt zurückgenommen werden kann, würde die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht - darüber müssen wir uns im Klaren sein und das müssen Sie auch dazusagen - praktisch bedeuten, dass wir die Wehrpflicht in Deutschland de facto abschaffen. ({0}) Vollkommen unabhängig von der Tatsache, dass sich die beiden großen Volksparteien eindeutig und auch ohne Wenn und Aber für die Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen haben, sollten wir die heutige Aussprache auch dazu nutzen, noch einmal sehr intensiv darüber nachzudenken, was eine Abschaffung der Wehrpflicht tatsächlich für Folgen hätte. Ich plädiere in diesem Fall also nicht unbedingt dafür: Die Mehrheit ist für die Wehrpflicht - und damit basta! Lassen Sie uns lieber Argumente ins Feld führen. Wir müssen, wenn wir es mit der Wehrpflicht wirklich ernst nehmen, sehr verantwortungsvoll und vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Situation, der gesellschaftspolitischen Auswirkungen und nicht zuletzt auch unter dem Aspekt der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen durchaus sensibel argumentieren. ({1}) Da ist zunächst das Hauptargument derer, die behaupten, aufgrund der seit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs völlig veränderten sicherheitspolitischen Situation habe die eigentliche Hauptaufgabe unserer Bundeswehr, nämlich die nationale Landesverteidigung, eine ganz untergeordnete Bedeutung bekommen. Gleichzeitig wird daraus die nach meiner Auffassung falsche Schlussfolgerung gezogen, bei der Bundeswehr handele es sich heute um eine reine Interventionsarmee, die praktisch nur noch außerhalb unserer eigenen Landesgrenzen zum Einsatz kommen würde. ({2}) Das Gegenteil, meine Damen und Herren, ist richtig: Die Landes- und Bündnisverteidigung ist immer noch die Hauptaufgabe der Bundeswehr, ({3}) auch wenn die Auslandseinsätze auf dem Balkan in der Öffentlichkeit und im allgemeinen Bewusstsein den Eindruck hinterlassen haben sollten, dass die Notwendigkeit der Landesverteidigung de facto gar nicht mehr gegeben sei. Natürlich müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie sich die sicherheitspolitische Lage unseres Landes verändert hat. Wir sind praktisch nur noch von Freunden umgeben, und wohl niemand im Deutschen Bundestag und auch darüber hinaus wird bestreiten, welch großes Glück unser Volk aus der Tatsache gewinnt, dass ehemalige Feinde, die noch vor wenigen Jahren ihre Massenvernichtungswaffen auf uns richteten und umgekehrt vom Westen auch bedroht wurden, jetzt unsere Bündnispartner werden wollen. ({4}) Dies alles ist richtig, und trotzdem möchte ich nicht wissen, was beispielsweise unsere wichtigsten Verbündeten in London, in Paris und in Washington dazu sagen würden, wenn wir die originäre Landesverteidigung als überholt bzw. überflüssig deklarieren würden. Ohne an dieser Stelle negative sicherheitspolitische Szenarien entwickeln zu wollen: Wer von uns vermag denn mit hundertprozentiger Sicherheit auszuschließen, dass sich irgendwann sicherheitspolitische Konstellationen ergeben, die das Thema „Landesverteidigung“ von heute auf morgen wieder auf die Tagesordnung bringen könnten? ({5}) Insofern ist die militärische Landesverteidigung unabdingbare Verfassungspflicht unseres Staates. Die Wehrpflicht ist eine verfassungsrechtlich abgesicherte Pflicht. ({6}) Ihre Einführung war seinerzeit bekanntlich eine Entscheidung von sehr hohem staatspolitischem Rang. Sie wirkt in sämtliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens hinein. Die Ableistung der Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens und ihre Erfüllung ist demokratische Normalität. Im Jahre 1985 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass der Verfassungsgeber mit den nachträglich in das Grundgesetz eingeführten wehrverfassungsrechtlichen Bestimmungen eine „verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung getroffen“ habe. Demnach haben Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr heute verfassungsrechtlichen Rang. ({7}) Die allgemeine Wehrpflicht, meine Damen und Herren, wird in dem Urteil als eine „gemeinschaftsbezogene Pflicht hohen Ranges“ bezeichnet. Aus dieser Verantwortung heraus haben sich bisher alle Bundesregierungen für die Beibehaltung der Wehrpflicht entschieden. Hierfür sprechen neben sicherheitspolitischen auch allgemeinpolitische, gesellschaftspolitische und auf Streitkräfte bezogene Erwägungen. ({8}) Ihre erste Begründung erfährt die Wehrpflicht aber in der Absicht, auch in Zukunft eine funktionstüchtige Landesverteidigung sicherzustellen und einen wesentlichen Beitrag zur Bündnisverteidigung zu leisten. In diesem Zusammenhang will ich auf einen zusätzlichen Punkt eingehen, der zwar nicht unbedingt von verfassungsrechtlicher Relevanz ist, aber im Hinblick auf die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft trotzdem nicht vernachlässigt werden darf. Eine Aussetzung der Wehrpflicht, wie sie von der F.D.P. gefordert wird, hätte natürlich automatisch eine Aussetzung des Zivildienstes zur Folge. Sie hätte darüber hinaus eine Aussetzung aller Ersatzdienste zur Folge. Ich weiß, dies kann nur ein Hilfsargument sein, weil sicherheitspolitische Gründe selbstverständlich absolut im Mittelpunkt der Debatte stehen. Meine Damen und Herren, zusammenfassend darf ich für die SPD-Fraktion feststellen: Erstens. Sicherheitspolitisch hat sich an der Notwendigkeit für die Beibehaltung der Wehrpflicht nichts geändert. Zweitens. Es gibt viele gute Gründe für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Am Leitbild „Bürger in Uniform“ kann ohne die Wehrpflicht nicht festgehalten werden. Drittens. Auf der Grundlage der Vorschläge der Weizsäcker-Kommission hat die Bundesregierung mit Zustimmung der sie tragenden Parteien beschlossen, die Wehrpflicht als wesentlichen Bestandteil der künftigen Struktur unserer Bundeswehr einzuplanen. Viertens. Unabhängig von tagespolitischen Meinungsverschiedenheiten sind zwei Drittel der Mitglieder des Deutschen Bundestages der Auffassung, dass die Wehrpflicht auch in Zukunft unverzichtbar ist. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Helmut Rauber.

Helmut Rauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002755, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU lehnt den Antrag der F.D.P. auf Aussetzung der Wehrpflicht - was de facto einer Abschaffung gleich kommt - ab. ({0}) Herr Dr. Gerhardt, Ihr Antrag ist nicht sachlich, sondern rein parteipolitisch motiviert. Dieser Antrag ist ein Tribut an den Zeitgeist mit dem Ziel, auf eine populistische Tour Wählerstimmen zu fangen. ({1}) Nur sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass laut einer Emnid-Umfrage zwei Drittel der Bevölkerung nach wie vor für die Beibehaltung der Wehrpflicht sind, und ich sage: mit guten Gründen. ({2}) - Ich komme noch dazu. Es ist ja schon erstaunlich, dass die gleichen F.D.P.-Verteidigungs- und Außenpolitiker, die auf ihrem Parteitag leidenschaftlich auch mit sicherheitspolitischen Argumenten für die Wehrpflicht gekämpft haben, jetzt plötzlich total die Fronten gewechselt haben. ({3}) Die Faktenlage hat sich in den letzten Monaten nicht verändert. ({4}) Wir leugnen nicht, dass auch uns die sinkende Zahl der einzuberufenden Wehrpflichtigen große Sorgen macht. Wenn das neue Wehrpflichtmodell mit rund 53 000 Wehrpflichtigen und 27 000 freiwillig Grundwehrdienst Leistenden in Zukunft greift, dann können wir, aufs Jahr gerechnet, noch 85 000 junge Menschen einziehen, je nachdem, wie viele freiwillig dienen. Diese Zahlen sind zu niedrig und wir plädieren für eine Aufstockung; ({5}) denn während unserer Regierungszeit waren immerhin noch 160 000 Wehrdienstleistende in der Bundeswehr. Ein Teil dieser Lücke lässt sich schließen, wenn wir von dem erweiterten Sicherheitsbegriff ausgehen und die jetzt schon vorhandenen Freistellungsmöglichkeiten zum Beispiel bei der Freiwilligen Feuerwehr, dem THW, dem Deutschen Roten Kreuz usw. erweitern. Dies würde die Arbeit der betroffenen Hilfsorganisationen vor allem an der Schnittstelle zwischen militärischer und ziviler Risikovorsorge stärken. Wir als CDU teilen die Meinung derer ({6}) - das steht ja auch in Ihrem Antrag -, die meinen, dass die Wehrpflicht in erster Linie sicherheitspolitisch begründet werden muss. ({7}) Dies gilt aber nicht nur für die Wehrpflicht, sondern dies gilt für die Bundeswehr allgemein. Wenn wir allein unsere momentane Bedrohungssituation betrachten - wobei die Betonung auf momentan liegt -, dann droht Deutschland kein militärischer Überfall von irgendeiner finsteren Macht. Aber wie die bisherige Menschheitsgeschichte gezeigt hat, kann leider niemand eine Garantie dafür geben, dass dies auf Dauer so bleibt. Ein Blick auf die aktuellen Krisenherde und Kriege weltweit macht deutlich, dass der Frieden leider kein Allgemeingut für alle Menschen geworden ist. ({8}) Zur Zeit des Kalten Krieges war Deutschland Bündnisund auch Blockgrenze. Diesseits und jenseits unserer Grenzen stand ein Zerstörungspotenzial, das jede Vorstellungskraft sprengte. Diese tödlichen Gefahren des Krieges sind bei uns - ich betone: bei uns - Gott sei Dank verschwunden. Nur darf uns das nicht dazu verführen, die an den Bündnisgrenzen nach wie vor latent vorhandenen Bedrohungen außer Acht zu lassen und uns aus der Gesamtverantwortung für das Bündnis herauszustehlen. ({9}) Unsere Landesverteidigung beginnt an den Bündnisgrenzen. Nicht von ungefähr wurde die neue NATO-Strategie dahin gehend verändert, Konflikte auf Distanz zu halten. Wenn wir von diesem Ansatz, dem Unsicherheitsfaktor und der neuen Bündnisgrenze ausgehen, dann gibt es eine sicherheitspolitische Begründung sowohl für eine starke Bundeswehr als auch für die Wehrpflicht. Die strategische Begründung für die Beibehaltung der Wehrpflicht liegt in unserer exponierten geostrategischen Lage als stärkste Zentralmacht Europas. Wir als Bundesrepublik Deutschland stehen in der besonderen Verantwortung, ausreichend Kräfte für die Verteidigung Gesamteuropas zur Verfügung zu stellen. Die dazu notwendige Aufwuchsfähigkeit im Rahmen unserer Bündnis- und Landesverteidigung, die nach wie vor im Grundgesetz verankert ist, ist ohne Wehrpflicht nicht gewährleistet. ({10}) Auch der laufende Betrieb bei der Bundeswehr wäre ohne die Wehrpflichtigen so nicht möglich. Dass allerdings 8 000 Wehrpflichtige auf Unteroffiziersstellen dienen, ist auch nach unserer Meinung ein unhaltbarer Zustand. Die Wehrpflichtigen repräsentieren ein sehr breites Spektrum von Fähigkeiten, Wissen und auch Fertigkeiten. Gerade die Erfahrungen auf dem Balkan zeigen, wie unverzichtbar es ist, aus dem Wehrpflichtpotenzial Spezialisten zu rekrutieren, die die Bundeswehr selbst aus vielerlei Gründen nicht ausbilden kann. Derzeit sind auf dem Balkan rund 7 300 Soldatinnen und Soldaten eingesetzt, darunter 1 600 Wehrpflichtige, überwiegend freiwillig Grundwehrdienst Leistende, die hervorragende Arbeit leisten. Mit anderen Worten: Über 22 Prozent der Soldaten im Auslandseinsatz kommen aus der Wehrpflicht. Würden wir auf die Wehrpflicht verzichten, wäre die Belastung für die restlichen Berufs- und Zeitsoldaten noch größer und damit die Nachwuchsgewinnung noch schwieriger. Damit sind die Gründe für die Wehrpflicht jedoch bei weitem nicht erschöpft. Die Wehrpflicht hält die Bundeswehr jung. Dies gilt nicht nur für das Durchschnittsalter, das bei uns um zehn Jahre niedriger liegt als in der Berufsarmee der Belgier, sondern ebenso für das Jungsein im Denken. Die Wehrpflichtigen sind es, die Meinungen, Moden, Denkrichtungen in die Bundeswehr tragen und so für die Führung auf allen Ebenen eine ständige Herausforderung darstellen. Die Gefahr von Verkrustungen im Denken wird so am ehesten gebannt. Wehrpflichtige sind weiterhin ein entscheidendes Kontrollorgan der Armee. Diejenigen, die nicht zu befürchten brauchen, durch zu viel Zivilcourage berufliche Nachteile zu erleiden, sind am ehesten bereit, Kritik zu üben und tatsächliche oder vermeintliche Missstände beim Namen zu nennen. ({11}) Für die Wehrpflicht sprechen auch die Erfahrungen der Staaten - mit denen sollten Sie sich einmal unterhalten -, die die Wehrpflicht abgeschafft haben. ({12}) Die werden Ihnen nämlich in Vier-Augen-Gesprächen etwas gänzlich anderes sagen, als offiziell verlautbart wird. ({13}) Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Leistungswettbewerbe unserer „gemischten“ Armee mit den Berufsarmeen anderer Staaten zeigen, dass wir uns vor keiner Armee dieser Welt zu verstecken brauchen. ({14}) Wer die Wehrpflicht abschafft, löst auch den Zivildienst auf - mit allen Konsequenzen für unseren Sozialstaat. Ich komme zum Schluss: Der Prophet Jesaja, der Sohn des Amos, hat 700 vor Christus in einer Vision davon gesprochen, dass der Herr vom Berg Zion Recht im Streit der Völker spricht und die Nationen zurechtweist.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Rauber, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting? ({0})

Helmut Rauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002755, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich. Jetzt wollte ich zum Propheten Jesaja kommen und schon kommt der Kollege Nolting mit einer Zwischenfrage. ({0}) Sie bringen mich ganz aus dem Konzept. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das wäre wohl zu viel der Rücksichtnahme. Schießen Sie los. ({0})

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Rauber, können Sie noch einmal etwas zur Legitimation der Wehrpflicht sagen, wenn in Zukunft nur noch 20 Prozent eines Jahrgangs den Grundwehrdienst, aber fast 40 Prozent eines Jahrgangs Ersatzdienst leisten? Das heißt, der Sekundärdienst dient als Legitimation für die Wehrpflicht. Können Sie auch etwas zur Wehrgerechtigkeit sagen, die vom Fraktionsvorsitzenden der F.D.P., Dr. Gerhardt, angesprochen wurde? ({0})

Helmut Rauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002755, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Nolting, ich habe einleitend gesagt, dass es auch uns große Sorgen bereitet, dass zukünftig nur noch 85 000 junge Menschen einberufen werden können. Auch wir als CDU plädieren dafür, dass diese Zahl erhöht wird. ({0}) - Nicht viel. Wenn ich die 53 000 Wehrpflichtigen und diejenigen nehme, die freiwillig Grundwehrdienst leisten, sind es 80 000. Aber streiten wir nicht darüber. Wir hatten schon mal die Situation - wer die Geschichte kennt, weiß dies -, in der durch Losverfahren entschieden wurde, wer als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr geht und wer nicht. ({1}) Das ist damals nicht verfassungsrechtlich angegriffen worden. Warten wir einmal ab, wie das Verfassungsgericht entscheidet. Ich sehe aber nicht ein, als Parlament, als legitimes Organ, in vorauseilendem Gehorsam gegen unsere Überzeugungen in eine falsche Richtung zu gehen. ({2}) - Jetzt komme ich zum Propheten Jesaja. Jesaja, der Sohn des Amos, hat 700 vor Christus in einer Vision davon gesprochen, dass der Herr vom Berg Zion Recht im Streit der Völker spricht und die Nationen zurechtweist. Dazu das berühmte Zitat: Sie werden umschmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern. Nimmer wird Volk gegen Volk zum Schwerte greifen; üben wird man nicht mehr für den Krieg. - Jesaja 2, 4. Wie lange ist das her und wie oft hat der Mensch gegen den Menschen das Schwert gezückt und für den Krieg geübt? Wir können und wir müssen wie in der Vision Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Aber wir dürfen nie vergessen, wie oft leider vergeblich versucht wurde, dieses Ziel zu erreichen. Alles in allem hat sich die Wehrpflicht bewährt. Es gibt heute keine überzeugenden Gründe für ihre Abschaffung. Deshalb lehnen wir den F.D.P.-Antrag mit großer Entschiedenheit ab. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei das Wort. ({0})

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr billigte das Bundeskabinett die Eckpfeiler der vom Verteidigungsminister eingebrachten Bundeswehrreform und damit die Beibehaltung der Wehrpflicht. ({0}) Die von uns geforderte Abschaffung der Wehrpflicht wurde somit vorläufig ausgesetzt. Solange sich dazu die Meinung in der Koalition nicht ändert, werden die Koalitionsfraktionen in der Sache gemeinsam handeln. ({1}) Unabhängig davon geht natürlich die politische Debatte um dieses Thema unvermeidlich weiter, und zwar nicht einfach wegen dieses F.D.P.-Antrages, sondern weil es für die jungen Leute schlichtweg immer ein Problem ist, sich zu entscheiden. Dabei geht es um die Legitimation der Wehrpflicht. ({2}) Ich sage nichts Neues und kann nur immer wieder betonen, dass die Grünen, unabhängig von der Koalitionsposition, in der wir eine gemeinsame Linie vertreten, an ihrer Position zur Überwindung der Wehrpflicht festhalten. ({3}) Vor dem Hintergrund finden wir zunächst einmal den Positionswechsel der F.D.P. begrüßenswert. ({4}) - Herr Nolting, Sie haben immer wieder das Problem, nicht richtig hinhören zu können. ({5}) Wenn Sie die letzten zwei Minuten hingehört hätten, dann hätten Sie bereits eine Antwort. Hier im Saal müsste Einigkeit darüber bestehen, dass die entscheidende politische Begründung für die Wehrpflicht eine sicherheitspolitische Begründung sein muss. Ich glaube, darin stimmen auch alle überein. Die F.D.P. leistet diesem gemeinsamen Anspruch allerdings einen ziemlichen Bärendienst, wie man feststellt, wenn man sich ihre Verlautbarungen von Anfang 2000 anschaut. Darin steht: sicherheitspolitisch unbedingt notwendig, unverzichtbar. Ein paar Monate später: sicherheitspolitisch nicht mehr unverzichtbar. ({6}) Wenn Sie dies wenigstens mit einer veränderten sicherheitspolitischen Lage begründen würden! Ich glaube, es ist ein bisschen schwierig, das nachzuweisen. ({7}) Das gibt uns Aufschluss darüber, dass nicht eine veränderte sicherheitspolitische Lage, sondern eine veränderte parteiinterne Bedrohungssituation für Ihren Wechsel entscheidend ist. Wie aber verhält es sich nun mit der sicherheitspolitischen Begründung? Es wird immer gesagt: Die Wehrpflicht muss sicherheitspolitisch notwendig sein. Und dann vielleicht: Sie muss nützlich sein. - Das ist richtig; die Wehrpflicht ist nützlich, zum Beispiel was die Nachwuchsgewinnung anbelangt. Das ist nicht in Abrede zu stellen. Nur, der Anspruch an eine sicherheitspolitische Begründung ist ein anderer: Es geht um einen massiven Grundrechtseingriff. Deshalb geht es nicht einfach nur um Notwendigkeit und Nützlichkeit. Die Wehrpflicht muss vielmehr unverzichtbar und alternativlos sein, um die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten. ({8}) Das ist der Kernpunkt; darauf muss man es bringen. Das kann man nicht daran messen, wie der Auftrag der Bundeswehr lautet. Man muss zunächst einmal fragen: Wie ist die mittelfristig absehbare Lage? Diesbezüglich behaupten wir, dass mittelfristig auch kein Restrisiko eines großen Verteidigungsfalles für die Bundesrepublik und das Bündnis besteht, dass dieses Risiko mittelfristig ausgeschlossen werden kann. Wie die Lage später ist, beispielsweise in 15 Jahren, kann keiner sagen. Das ist völlig richtig. ({9}) Von daher ist nach unserer Auffassung die sicherheitspolitische Unverzichtbarkeit der Wehrpflicht nicht mehr gegeben. Wir müssen feststellen, dass schon die Vorgängerregierung eigentlich davon ausging, dass dieses Restrisiko nicht mehr besteht. Denn wie anders ist es zu erklären, dass schon die Vorgängerregierung aus dem Zivilschutz, aus der Zivilverteidigung ausgestiegen ist und dass die bekannten Regierungsbunker zum Verkauf stehen? Insofern besteht ein gewisser Widerspruch. ({10}) Ein Letztes: Die sicherheitspolitische Begründung muss plausibel sein, und zwar gerade für junge Leute. ({11}) Ich glaube, wir stimmen darin überein, dass es schwer fällt, diese Plausibilität angesichts der sicherheitspolitischen Lage darzustellen. Hinzu kommt der Umstand, dass wir, ehrlich gesagt, nicht mehr von einer allgemeinen Wehrpflicht reden können. Wir haben eine allgemeine Dienstpflicht für Männer bzw. Wehrpflicht für einen Teil der Männer, der immer geringer wird. ({12}) Es besteht also in der Tat ein Problem hinsichtlich der Wehrgerechtigkeit. Zusammengefasst: Einer Wehrstruktur, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen und den sicherheitspolitischen Notwendigkeiten entsprechen soll, ist mit Bekenntnissen nicht gedient. Was wir brauchen, ist eine sorgfältige und offene Diskussion über die Begründungen und über die verantwortbaren Alternativen. Darüber sollten wir unabhängig davon, wie unsere Position zur Wehrpflicht direkt ist, diskutieren. In etlichen anderen Ländern ist dies schon so geschehen: Man hat sich an der einen Wehrform festgehalten, dann hat es einen plötzlichen Wechsel in den Reihen der Regierung gegeben, man war überrascht und stand auf einmal vor dem schnellen Wechsel. Über diese Dinge sollte man rechtzeitig und sorgfältig diskutieren. Wenn diese Debatte dazu einen Beitrag leistet, ist es gut. Danke schön. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lieber Kollege Nachtwei, ich kann dir zu dieser Rede nur gratulieren. Ich denke, du hast einen fantastischen Spagat zwischen deinem politischen Anspruch und der Machtbeteiligung hingelegt. ({0}) Heilige Kühe darf man nicht schlachten und für CDU/CSU und SPD ist die Wehrpflicht eine heilige Kuh. Kollege Robbe, Sie haben selbst gesagt: „... und damit basta!“ Bundespräsident Rau hat vor einem halben Jahr gesagt: Wenn die Gründe, die für die Beibehaltung der Wehrpflicht sprechen, nicht mehr gelten sollten, dann muss über sie neu nachgedacht werden. Man macht sich unglaubwürdig, wenn man an Positionen festhält, die sich unter veränderten Bedingungen nicht mehr halten lassen. Zu den veränderten Bedingungen gehört nun einmal das Ende des Kalten Krieges und damit die Tatsache, dass wir nur noch von Freunden und Partnern umgeben sind. ({1}) Vor dem Hintergrund dieser sicherheitspolitischen Analyse hat auch der Kollege Penner Recht, wenn er sagt: „Ich bin ... davon überzeugt, dass Wehrpflicht vom Staat nur abverlangt werden kann, wenn es um Landesverteidigung geht.“ Aber selbst in der Logik von CDU und SPD ist nicht ersichtlich, warum man derart starr an der Wehrpflicht festhält. ({2}) Denn Sie wollen doch eine Bundeswehr, die im Kern auf Kriseninterventionsfähigkeiten zugeschnitten ist. Dafür brauchen Sie eine hochprofessionalisierte Hightecharmee, die sich auf erheblich weniger Personal stützen kann. ({3}) Es bleiben zwei Gründe: Der eine, Kollege Kahrs, ist praktischer Natur, nämlich die Nachwuchsgewinnung für die Streitkräfte. ({4}) Für diesen Zweck leisten Sie sich - das wurde hier schon erwähnt - einen Auswahlwehrdienst, der nach 2004 nur noch 20 Prozent der jungen Männer eines Altersjahrgangs erfassen wird. In drei Jahren werden 40 Prozent eines Jahrgangs andere Dienste leisten und 40 Prozent werden ganz verschont bleiben. Es wird wieder einmal die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes sein, dem Parlament zu sagen, wie das Grundgesetz zu interpretieren ist. Der andere Grund für Ihre Hartnäckigkeit ist ausschließlich ideologischer Natur: Sie fürchten um den Verlust der gesellschaftlichen Legitimation der Streitkräfte, wenn auf die Wehrpflicht verzichtet wird. ({5}) Ihnen geht es um Gesellschaftspolitik. Sie haben Angst, dass Sie Ihr militärisches Tschingderassabum nicht mehr so öffentlich wie bisher präsentieren können. Sie haben Angst davor, dass die militärische Akzeptanz in den Familien der jungen Wehrpflichtigen verblassen wird. Das ist nicht nur hochgradig fantasielos, sondern auch gefährlich, weil Sie damit das Denken in Richtung Entmilitarisierung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen blockieren. Die F.D.P. schreibt völlig zu Recht: Die Allgemeine Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch nicht mehr zwingend notwendig. Die F.D.P. möchte die Wehrpflicht aussetzen. Wir gehen einen Schritt weiter und sagen: Wir wollen die Wehrpflicht aufheben. ({6}) Trotzdem werden wir dem F.D.P.-Antrag zustimmen. Zwangsdienste sind Relikte aus Zeiten des Kalten Krieges. Machen Sie endlich damit Schluss, steigen Sie in die Debatte ein! Diskriminieren Sie nicht länger einen bestimmten Anteil der jungen Männer in diesem Land und legen Sie endlich ein Konzept zur Aufhebung des Zivildienstes und zur Reform der sozialen Dienste vor, damit der Zivildienst nicht länger zur Legitimation der Wehrpflicht herangezogen werden muss! Danke. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Kollegen Johannes Kahrs von der SPD-Fraktion das Wort.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hochverehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir scheint, die F.D.P.-Fraktion führt hier einen Dauerkalender für Anträge auf Aussetzung der Wehrpflicht. ({0}) Im letzten Jahr hatten Sie bereits einen Antrag gestellt, den Sie aus internen Gründen nicht weiterverfolgt haben. Dann haben Sie am 19. Januar dieses Jahres einen Antrag gestellt. ({1}) Nach Ihrer Logik müssten Sie, wenn weitere fünf Monate vergangen sind, den nächsten Antrag stellen. Dann haben wir den 21. November. Da findet zwar keine Sitzung statt; aber immerhin ist dies der Bußtag. ({2}) Das bietet für Sie vielleicht Zeit und Gelegenheit, Ihre bisherigen Anträge in aller Ruhe zu überdenken, Herr Nolting. ({3}) Offensichtlich sind Sie nicht willens oder dazu in der Lage, die Realitäten zu erkennen. ({4}) Zu diesen Realitäten gehört nun einmal, dass die überwältigende Mehrheit Ihrer Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause die Notwendigkeit für die Beibehaltung der Wehrpflicht sieht, sie vertritt und sich zu ihr bekennt. ({5}) - Die Wehrgerechtigkeit ist auch weiterhin gegeben, trotz Ihrer Unkenrufe, Herr Kollege. Ich frage mich, welche Ihrer neuen sicherheitspolitischen Erkenntnisse Sie dazu veranlasst haben, Ihren Antrag heute erneut zu stellen. ({6}) Bisher haben Sie sie noch nicht genannt. Lassen Sie uns doch an Ihrem Wissen teilhaben. Sagen Sie mir, was sich seit dem Sommer des letzten Jahres in diesem Land sicherheitspolitisch so grundlegend verändert hat! Damals, als Sie, Herr Nolting, noch das Kommando hatten, hieß es: Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch unverzichtbar. Deswegen dürfen Sie heute wohl nicht mehr reden. Sie stellen nicht nur alte Anträge endlos neu, Sie widersprechen sich auch noch. Das ist nicht nur taktisch unklug, sondern auch unglaubwürdig. ({7}) Sie mögen Ihre Überzeugungen im vorauseilenden Gehorsam über Bord schmeißen. Wir dagegen stehen zu unseren Überzeugungen und begründen sie. ({8}) Ich durfte nun lesen, dass Sie angesichts einer erneuten öffentlichen Diskussion über die Wehrpflicht bereit sind, weiterführende Konzeptionen zu entwickeln und vorzustellen. Das finde ich zwar gut. Aber im Umkehrschluss heißt das doch, dass Sie sich zurzeit in einer konzeptionslosen Phase befinden und wider besseres Wissen versuchen, eine erneut unnötige Debatte loszutreten. Ehrlich gesagt, etwas anderes habe ich von Ihnen im Moment auch nicht erwartet. ({9}) Ihrem jüngsten Beitrag, man dürfe die Wehrpflicht nicht aus der Notwendigkeit des Ersatzdienstes heraus legitimieren, stimme ich dagegen zu. Damit haben Sie ausnahmsweise einmal Recht. Das ist ein typisches Stammtischargument, das sich kein ernsthafter Politiker zu Eigen machen würde. Von diesem haben wir jedenfalls noch nie Gebrauch gemacht. Deswegen rennen Sie hier gegen Wände an, die es gar nicht gibt. Die F.D.P. ist der Ansicht, dass die Aufgaben der Bundeswehr auch mit einer Freiwilligenarmee bestritten werden könnten. Diese Feststellung mag in einigen kleinen Teilbereichen zutreffend sein. Aber die weiterführende Frage ist doch, ob wir bereit sind, den Preis dafür zu zahlen. Die Wehrpflicht steht für den Charakter der Bundeswehr. Sie symbolisiert eine gute bundesrepublikanische Tradition. Ich spreche hier nicht von Rentabilitäts-, Effizienz- oder reinen Kostenfragen. Darauf lässt sich die Debatte über die Wehrpflicht nicht reduzieren. Auch das, Herr Nolting, wussten Sie noch vor einem Jahr. ({10}) - Sehen Sie! - Viele von uns betonen, wie wichtig die Beteiligung des Einzelnen am Staate ist, und zwar zu Recht. Das sollte eigentlich auch die F.D.P. wissen. ({11}) Auch wenn die Wehrpflicht eine Pflicht ist: Wo sonst finden wir eine solch deutliche Verbindung von Bürger und Staat? Wo sonst wird so deutlich, dass die Grundbedingung für unser Gemeinwesen die Teilnahme des Einzelnen ist? In den vergangenen vier Jahrzehnten haben über 8 Millionen Wehrpflichtige Mitverantwortung für die Sicherheit unseres Landes übernommen. Fast 50 Prozent des Führungsnachwuchses an Offizieren und Unteroffizieren der Bundeswehr werden aus den Reihen der Wehrpflichtigen gewonnen. Das trägt dazu bei, dass der Soldat in unserer Gesellschaft fest verankert ist. Auch das Genöle der F.D.P.-Fraktion und ihres Vorsitzenden wird daran nichts ändern. ({12}) Vielleicht ist es nunmehr an der Zeit, zu erkennen, dass die Wehrpflicht in der Bundeswehr - ich wiederhole das gern für Sie - eine bundesrepublikanische Tradition ist, die nicht dadurch getrübt wird, dass sich andere Demokratien gegen eine Wehrpflichtarmee entschieden haben; denn die Erfahrungen unserer Bündnispartner, die die Wehrpflicht aufgegeben haben, bestärken uns ein um das andere Mal, an derselben festzuhalten.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von der PDSFraktion?

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von wem?

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Kollegin Lippmann.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ach, nein, von der heute nicht. ({0}) - Frau Kollegin, wir reden einmal in aller Ruhe und Sachlichkeit miteinander. Die Wehrpflicht ermöglicht es, die Potenziale an Intelligenz, Fähigkeit und beruflicher Qualifikation unserer jungen Männer effizient miteinander zu verbinden. ({1}) - Herr Kollege, halten Sie etwas an sich! ({2}) Eine Bundeswehr mit Berufs- und Zeitsoldaten sowie Wehrpflichtigen ist in ihrer Qualität jeder Berufsarmee überlegen. Haben Sie, verehrte Kollegen von der F.D.P.Fraktion, überhaupt gedient? ({3}) Offenbar nicht; denn ansonsten könnten Sie gar nicht solch unsinnige Aussagen machen. ({4}) Die Wehrpflicht ist nicht nur eine Bereicherung für die Bundeswehr. Die Wehrpflicht ist ein Gewinn für die ganze Gesellschaft. Die Wehrpflicht ist der lebendige Ausdruck dafür, dass die Bevölkerung und ihr Gemeinwesen zusammengehören, sich bedingen und gegenseitig bereichern. Das hat auch die F.D.P. mehr als 50 Jahre gewusst. Was Sie hier veranstalten, ist trauriges Schielen nach neuen Mehrheiten - die Sie vielleicht im Container finden werden, aber nicht hier und heute! ({5}) Ich hoffe daher, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., dass wir für die nächste Zeit von solch albernen Anträgen verschont bleiben. Zum Schluss möchte ich gerne den früheren Verteidigungsminister Georg Leber zitieren: Der Wehrdienst heute, wie ihn Gesetz und Recht gebieten, ist ein ehrenhafter Dienst, nicht mehr und nicht weniger ehrenhaft als beispielsweise der Dienst unserer Richter, deren Aufgabe, wenn auch von anderer Art, der Wahrung von Freiheit und Recht zugewandt ist. Deswegen glaube ich, dass der Spruch: ...wovon er ganz besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt“ vielleicht für Sauerkraut, Gulasch und Eintopf gilt, aber garantiert nicht für Anträge der F.D.P. Vielen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 14/6274 zu dem Antrag der F.D.P. mit dem Titel „Wehrpflicht aussetzen“. Zu diesem Antrag gibt es eine Erklärung zur Abstimmung des Kollegen Winfried Nachtwei, die wir zu Protokoll nehmen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5078 abzulehnen. Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS bei Enthaltung des Kollegen Nachtwei angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen - Drucksache 14/5642 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Die Aussprache ist eröffnet. Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Eckhart Pick das Wort.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf, dessen Inhalt in den letzten Jahren bekanntlich ausgesprochen intensiv öffentlich diskutiert worden ist. Ich finde, es ist bemerkenswert, dass hierbei Argumente parteiübergreifend ausgetauscht worden sind. Auch die Öffentlichkeit hat sich intensiv engagiert. Wir haben zahlreiche Eingaben, Zuschriften und Briefe von Organisationen, Kirchen und Einzelpersonen erhalten. Das zeigt das große Interesse der Menschen an diesem neuen Technologiebereich und gibt Hinweise auf die Bedeutung dieses Themas. Der vorliegende Gesetzentwurf regelt nicht - ich möchte das gleich zu Anfang sagen - die Möglichkeiten und Grenzen eines neuen Technologiebereichs. Es geht nicht um das, was Forschung darf oder nicht darf, sondern es geht um den rechtlichen Schutz von Erfindungen. Das Recht des geistigen Eigentums, also insbesondere das Patentrecht, soll modernisiert und auf einen möglichst aktuellen Stand gebracht werden. Eines ist wichtig: Wir bewegen uns beim Schutz des geistigen Eigentums in einem internationalen Bereich. Man muss diesen Aspekt, wenn man ehrlich mit dem Thema umgeht, deutlich machen. Deswegen muss unser Schutzsystem konkurrenzfähig bleiben. Denn wenn es keinen angemessenen Schutz von Forschungsergebnissen gibt, wird sich das mit Sicherheit auch auf die Qualität unserer Forschung auswirken. Die Diskussionen über den zu beratenden Entwurf geben Anlass, klarzustellen, dass der Forschung nicht etwas erlaubt wird, was ethisch nicht vertretbar ist, sondern es um den angemessenen rechtlichen Schutz von Forschungsergebnissen, die die Forschung in legitimer Weise erzielt hat, geht. Das Patentrecht ist - ich sagte es schon - wie kaum ein anderer Rechtsbereich durch europäisches, aber auch durch internationales Recht geprägt. Es geht vor allem darum, einen effektiven Patentschutz auf allen Gebieten der Technik zur Verfügung zu stellen. Heute haben wir eine europäische Richtlinie umzusetzen: die Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechJohannes Kahrs nologischer Erfindungen. Dabei bleibt uns wenig Spielraum. Richtlinien sind - auch das ist zu betonen - geltendes europäisches Recht und müssen umgesetzt werden. In diesem Fall ist die Umsetzungsfrist bereits am 30. Juli des letzten Jahres abgelaufen. Zur Biopatentrichtlinie und ihrer Entstehung will ich nicht viel sagen, mir aber den Hinweis erlauben, dass ihr auch auf der europäischen Ebene - insbesondere im Europäischen Parlament - eine intensive Diskussion vorangegangen ist. Man kann den Abgeordneten des Europäischen Parlamentes mit Sicherheit nicht die Ernsthaftigkeit ihres Bemühens absprechen. Die europarechtliche Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien liegt auf der Hand. Die Biopatentrichtlinie sollte aber, wie ich finde, auch wegen ihres Inhalts bald umgesetzt werden, denn sie bringt - das will ich ganz deutlich sagen - für das Patentrecht ganz erhebliche Vorteile, auf die nicht verzichtet werden sollte. Das geltende Patentrecht bleibt zwar die wesentliche Grundlage für den Rechtsschutz von Erfindungen; mit der Biopatentrichtlinie und ihrer Umsetzung werden aber gerade für biotechnologische Erfindungen mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit erreicht. Damit wird für die Nutzer des Patentsystems, insbesondere aber auch für unsere Forschung und für unsere Industrie, im rechtlichen Bereich ein verlässlicher Rahmen geschaffen. Die Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten der EU vor, dass sie bestimmte und fundamental wichtige Patentierungsverbote in ihre Patentgesetze aufnehmen müssen. Dabei geht es um die gebotenen ethischen Grundsätze, die die Würde und Unversehrtheit des Menschen gewährleisten. Auch das ist nichts Neues; aber ich denke, es war gerade dem europäischen Gesetzgeber wichtig, dass die wichtigsten Verbote in der Richtlinie und damit später in den nationalen Gesetzen genannt werden. Der wichtigste dieser Grundsätze ist sicher der, wonach der menschliche Körper in allen seinen Phasen - seiner Entstehung und Entwicklung - nicht patentierbar ist. ({0}) Die Biopatentrichtlinie dient also vor allem der Konkretisierung der Grundsätze der Ethik und Menschenwürde für das Patentrecht. Es ist unser Ziel, dass diese Grundsätze bald auch in unserem deutschen Patentrecht ausdrücklich verankert werden. Wir wollen - weil wir wissen, dass das notwendig ist die Entwicklung genau beobachten. Die Bundesregierung hat im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Gesetzes klargemacht, dass sie die Beobachtung der künftigen Entwicklung ernst nimmt. Zudem ist die Kommission zur Berichterstattung aufgefordert - wozu es ja in diesem Jahr kommen wird. Darüber hinaus sind wir von unserem Hause aus an die Europäische Kommission herangetreten, um mit ihr in einen Meinungsaustausch über eine Verbesserung und Präzisierung der Richtlinie einzutreten. Wir wissen, dass es im Moment ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gibt. Genau vor einer Woche hat der Generalanwalt dafür plädiert, die Nichtigkeitsklage zweier Staaten der Europäischen Union abzulehnen. Ich denke, dass die Begründung, die er genannt hat, auch für uns von Bedeutung ist. Er hat nämlich gesagt, es handele sich bei der Richtlinie nicht um eine Neuerfindung des Patentrechts, sondern um eine Weiterentwicklung; ({1}) in der Richtlinie würden Grenzen neu definiert. Ich bin sicher, dass wir diese Frage in diesem Hause weiterhin kontrovers, aber ernsthaft diskutieren, und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die CDU/CSUFraktion erteile ich dem Kollegen Norbert Hauser das Wort.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Dein Gen gehört mir.“ Die Möglichkeit, dass dieser Satz einmal Wirklichkeit werden könnte, darf nicht am Ende der Beratungen über die Umsetzung der EUBiopatentrichtlinie in deutsches Recht stehen. ({0}) „Genpatente als Blankoscheck für die Ausbeutung natürlicher Güter“, so formulierte Jeremy Rifkin seine Ablehnung. „Genpatente sind notwendige Voraussetzungen für die Forschung in der Medizin“, heißt es von der anderen Seite. Damit sind die Fronten abgesteckt. Wir haben uns zu fragen: Müssen wir, sollen wir, dürfen wir die Richtlinie mit dem Gesetz, dessen Entwurf uns die Bundesregierung vorgelegt hat, umsetzen? Art. 15 - das klang eben an - hat die Umsetzung bis zum 30. Juli 2000 gefordert. Das Verfallsdatum ist also längst überschritten. Das Justizministerium - das ist gerade noch einmal bekräftigt worden - hat erklärt, eine Aussetzung verstoße gegen europäisches Recht. Im Übrigen sei die Richtlinie im Prinzip bereits geltendes Recht. Nur Großbritannien, Irland, Dänemark und Finnland haben die Richtlinie umgesetzt. Die Niederlande haben eine Nichtigkeitsklage eingereicht. Italien hat sich angeschlossen. Frankreich hat die Umsetzung in nationales Recht zurückgestellt, weil es die Patentierung menschlicher Gene mit der Menschenwürde für unvereinbar hält. ({1}) Es gibt also offenbar in den meisten Ländern der Europäischen Union Bedenken, die auch der Bundesrat teilt und so zum Ausdruck gebracht hat: Die bahnbrechenden Fortschritte in der Entschlüsselung der Erbanlagen des Menschen und anderer Lebewesen und die anhaltende Diskussion in einer Reihe von Mitgliedstaaten der EU geben aber deutliche Hinweise darauf, dass das auf diesem Wege umzusetzende europäische Patentrecht in einer Reihe von Punkten noch keine endgültigen Antworten auf die Herausforderungen des neuen Technologiebereichs gefunden hat. Ebenso denkt offensichtlich die Mehrheit in der Enquête-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, die uns einen Teilbericht mit der Überschrift „Schutz des geistigen Eigentums in der Biotechnologie“ vorgelegt hat. Sie, Herr Staatssekretär, haben gerade noch einmal darauf hingewiesen, durch die Richtlinie werde kein besonderes und auch kein neues Patentrecht geschaffen. Die Biopatentrichtlinie schaffe größere Rechtsklarheit und Rechtssicherheit und führe die ethischen Grenzen der Patentierung ins Bewusstsein und benenne sie konkret. Die meisten der in neun Eckpunkten aufgestellten Forderungen der Enquête-Kommission seien ja bereits seit vielen Jahren im deutschen Recht verwirklicht - ich frage mich, was die Enquête-Kommission hierbei übersehen hat -, andere Eckpunkte würden mit der Umsetzung der Biopatentrichtlinie deutsches Recht. Das klingt gut, trägt aber offensichtlich nicht; denn gleichzeitig heißt es - Sie haben das heute noch einmal bekräftigt -, auch die Bundesregierung wolle eine Überprüfung der Reichweite des Stoffpatents. Also kann es mit der Klarheit und Rechtssicherheit so weit nicht her sein. Dieser Eindruck wird auch durch den Gesetzestext selbst erhärtet. § 1a Abs. 1 Patentgesetz soll lauten: Der menschliche Körper ... sowie die bloße Entdeckung seiner Bestandteile ... können keine patentierbaren Erfindungen sein. So weit, so gut. In Abs. 2 heißt es aber: Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers ...kann eine patentierbare Erfindung sein... Dies gilt ohne jede Einschränkung, wie sie etwa für Gene gilt. Nur für sie fordert Abs. 3 die Angabe der Funktionen bei der gewerblichen Anwendbarkeit. Das ist wie Feuer und Wasser. Was gilt denn nun? Ist der menschliche Körper patentierbar oder ist er nicht patentierbar? ({2}) Die katholischen Bischöfe haben in einer Stellungnahme dazu erklärt: Diese Vorschrift widerspricht der Würde des Menschen und dem daraus folgenden Grundsatz, dass menschliches Leben nicht patentiert werden darf. Die Regelung - gemeint ist § 1 a Abs. 2 Patentgesetz steht zudem in sachlichem Widerspruch zu § 1a Abs. 1 PatG, der den menschlichen Körper ausdrücklich von der Patentierung ausnimmt. Ein weiteres Beispiel: In § 2 Abs. 2 Nr. 3 des Entwurfs wird die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken ausdrücklich ausgeschlossen. So weit wäre dies noch eine unmissverständliche Regelung. Jedoch schränkt der Gesetzentwurf selbst in seiner Begründung mit Hinweis auf den Erwägungsgrund 42 der EU-Patentrichtlinie ein, dass darunter nicht solche Erfindungen fallen, „die therapeutische oder diagnostische Zwecke verfolgen und auf den menschlichen Embryo zu dessen Nutzen angewendet werden“. Dies würde bedeuten, dass Forschungsergebnisse an Embryonen oder auch Stammzellen, die der gentechnischen Therapierung eines Embryos dienen, patentierbar wären. Meine Damen und Herren, dies ist ein erstaunliches Ergebnis vor dem Hintergrund der bundesweit geführten Ethikdiskussion. Aber es gibt darüber hinaus auch Unklarheit in einem ethisch wesentlich unproblematischeren Bereich, nämlich in der Landwirtschaft: Es ist nicht abschließend geklärt, ob ein durch Auskreuzung in den Patentschutz gelangendes Erntegut der Nachbauregelung unterliegt, was für zahlreiche Landwirte weit reichende und kostenträchtige Folgen bis hin zu einem unwissentlichen Verstoß gegen das Patentrecht hätte. Klarheit und Rechtssicherheit? Die Antwort ist wohl eher Nein. Es lohnt sich also, innezuhalten. Aber es reicht nicht - wie Sie, Kollege Pick, es anlässlich der Debatte am 10. Mai getan haben - die Frage nur nach den „Voraussetzungen einer Patentierbarkeit von Genen, Gensequenzen und Teilen von Gensequenzen“ zu stellen. Die Frage lautet grundsätzlicher: Dürfen überhaupt Gene, dürfen Bestandteile des menschlichen Körpers, darf die Natur patentiert werden? Oder kommerziell gefragt, wie es der in letzter Zeit oft gescholtene Professor Dr. Winnacker ausdrückte: ... wem denn am Ende das menschliche Genom gehört, den Investoren, den diversen Biotechfirmen ... der Öffentlichkeit? „Oder der Wissenschaft?“, ließe sich hinzufügen. Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, hat die Antwort so formuliert: Das genetische Erbe der Menschheit ist Allgemeingut und keine Handelsware. Dies sei auch nicht beabsichtigt, wenden die Befürworter ein und verweisen auf den Entwurf des § 1 a Abs. 3. Danach sei eine Patentierung nur möglich, wenn „in der Anmeldung die gewerbliche Anwendung konkret unter Angabe der von der Sequenz oder Teilsequenz erfüllten Funktion beschrieben“ werde. Damit seien Vorratspatente oder spekulative Patente ausgeschlossen, die Wissenschaft könne ungehindert forschen und diejenigen, die Geld in die Forschung gesteckt hätten, könnten ihren wohlverdienten Nutzen daraus ziehen. Vorratspatente oder spekulative Patente werden jedoch nicht ausgeschlossen. Dazu noch einmal Professor Winnacker: Gene und ihre Produkte können nämlich Teile verschiedener Eiweißnetzwerke in unseren Zellen sein, die sie, je nach Netzwerk, ganz unterschiedliche Funktionen ausüben lassen. Norbert Hauser ({3}) Er macht dann mit einer Frage, die die Biopatentrichtlinie ebenfalls nicht beantwortet, deutlich, dass wir die Antwort vor der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht kennen sollten: Sollen die Entdecker einer einzigen dieser Eigenschaften zugleich auch die Rechte für bislang nicht entdeckte Anwendungen erhalten, die sich aus diesen Beobachtungen gegebenenfalls ableiten lassen? Die Antwort kann nur Nein lauten. Aber genau so sieht die Praxis des Europäischen Patentamtes in München aus, das unter Berufung auf die Biopatentrichtlinie Patente auf Gene erteilen will, wenn für ein Gen eine bestimmte Funktion angegeben werden kann, diese Funktion bisher nicht bekannt war und eine daraus abgeleitete gewerbliche Anwendung beschrieben wird. Ein solches Stoffpatent, meine Damen und Herren, zieht nicht nur einen kommerziellen Schutzzaun um die beschriebene gewerbliche Anwendung, ein solches Stoffpatent zieht einen kommerziellen Schutzzaun um das Gen an sich. ({4}) Da sind wir wieder: „Dein Gen gehört mir.“ Ebenso wenig wie ein Wissenschaftler für Elemente wie Sauerstoff, Blei, Chlor oder Zink geistiges Eigentum reklamieren kann, dürfen Gene, Gensequenzen oder Teilsequenzen zum geistigen Eigentum werden. Gene sind keine Rohstoffe und Patentbehörden keine Bergämter für genetische Bodenschätze. ({5}) Genetische Informationen sind keine Software, an denen Urheberrechte begründet werden dürfen. Dies gilt es klarzustellen, bevor die Biopatentrichtlinie umgesetzt wird. ({6}) Wie bei der Stammzellenforschung sollten wir uns dazu die notwendige Zeit nehmen. Die Bundesregierung hat ihrerseits die Pflicht, dafür zu sorgen, dass in Brüssel die notwendigen Klarstellungen erfolgen. Vielen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über die Biopatentrichtlinie. In der „FAZ“ heißt es: Jeder kennt die Goldmine und holt sich etwas heraus. Darauf werde ich dann noch zurückkommen. Eine Änderung des geltenden Patentrechts ist jedenfalls überfällig. Das deutsche Patentrecht datiert von 1877 und ist auf die Probleme biotechnologischer Forschung und Entwicklung tatsächlich in keiner Weise vorbereitet. Gleichzeitig schafft das Europäische Patentamt derweil durchaus problematische Fakten, denen wir parteiübergreifend keinesfalls zustimmen, wie die gerade gestern von Greenpeace dargestellte Patentierung eines so genannten Brustkrebsgens, ein Patent, das - an eine Firma vergeben - dann gleichzeitig auch das Monopol auf alle anderen, von ihr nicht konkret beschriebenen Funktionen dieses Gens halten kann. Das zeigt: Eine sowohl ethisch wie auch rechtlich deutliche Grenzziehung ist in diesem Bereich dringend geboten. Eine Novellierung des Patentgesetzes ist jedenfalls besser als der jetzige Zustand; das muss man zugeben. Aber in diese Debatte fließt ein, dass seit wenigen Monaten bekannt ist, dass die Menschen - im Übrigen auch Tiere und Pflanzen - insgesamt nur über weniger Gene als bisher angenommen verfügen. Seitdem ist auch klar, dass ein einziges Gen nicht nur wenige Proteine kodiert, sondern viele Hunderte, möglicherweise sogar Tausende. Wenn nun ein Gen aufgrund seiner beschriebenen Eigenschaften patentiert würde, dann wäre nach derzeitigem Stand der Richtlinie gleichzeitig die Nutzung Hunderter anderer Eigenschaften exklusiv in der Hand des Patentnehmers. Die Gefahr des Entzugs von für das Allgemeinwohl wichtigem Wissen, der Monopolisierung und der daraus resultierenden negativen Folgen für die Forschung und die Gründung junger Unternehmen liegt auf der Hand. ({0}) Viele Ethiker, Ärzte und Forscher haben uns wiederholt darauf hingewiesen. Diese Gefahr besteht trotz Forschungsfreiheit, trotz Lizenzmöglichkeiten, trotz Zwangslizenzmöglichkeiten, weil faktisch der ökonomische Anreiz für eine solche Forschung nicht mehr vorhanden ist und sich möglicherweise auch die Investitionen für teure Forschungsaktivitäten nicht mehr lohnen. Es ist auch kein wirkliches Argument, dass es in den USA noch sehr viel schlechter ist. ({1}) Wir stimmen also mit der Enquête-Kommission darin überein, dass Stoffpatente grundsätzlich nicht geeignet sind, den Besonderheiten des biologischen Wirkungszusammenhangs der Gene Rechnung zu tragen. ({2}) Das Problem besteht doch in Folgendem: Man kann sagen, das bisherige Patentrecht umfasst eben auch Stoffpatente; man muss konsequent sein. Man muss aber auch bedenken, dass Stoffpatente in Deutschland erst seit 1967 Norbert Hauser ({3}) überhaupt erlaubt sind. Erst nach etwa 200 Jahren chemischer Forschung und Produktion war die Zeit reif, um eine solche Entwicklung zuzulassen. Ich habe in diesem Artikel der „FAZ“ interessiert nachgelesen, dass die Patentrechtler selbst dieser Entwicklung kritisch gegenüberstanden. Die Zukunft darf also nicht schon heute verbaut werden, denn wir stehen bei der Biotechnologie schlichtweg am Anfang einer solchen Entwicklung und nicht an deren Ende. ({4}) Es muss Präzisierungen der neuen Regelung geben, die eine möglichst weit gehende Einschränkung der Patenterteilung auf eine bestimmte Funktion oder ein Verfahren erreichen kann. Auch wenn ich nur noch sehr wenig Redezeit habe, möchte ich kurz auf diesen „FAZ“-Artikel zurückkommen. Darin kommen drei Experten des Patentamtes zu Wort, Herr Schatz, Herr Moufang und Herr Claes, die sich sehr kritisch äußern. Herr Claes sagt: „Meistens sind die Patentansprüche sehr weit gefasst ...“, und fährt fort, dass „auch Ansprüche auf noch unbekannte Faktoren“ angemeldet werden. Sie widmen sich vor allem der Frage - ich zitiere Herrn Schatz -, ob nicht schon der absolute Stoffschutz, wie er heute praktiziert wird, an sich ein zu umfassender Claim ist, weil er Rechte an Folgeentwicklungen abdeckt. Herr Schatz sagt weiter: Wir könnten uns auch einen Patentschutz rein auf die konkrete Anwendung bezogen vorstellen. ({5}) Eine solche Haltung zieht sich durch die gesamte Diskussion, die sehr differenziert geführt wird. Herr Moufang führt aus: Immer mehr Unternehmen sehen, dass ein zu weiter Patentschutz den Wettbewerb nicht fördert, sondert hemmt. Sie weisen auch darauf hin, dass die Kompetenz letztlich im Bereich des nationalen Rechts liegt. Zum Schluss bemerkt Herr Schatz: Das Patentrecht ist nicht dafür da, maximale Gewinne zu erzielen, sondern spezifische Erfindungen zu schützen, zu belohnen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, damit andere damit auch umgehen können. Für mich steht das Patentrecht im Dienst der Allgemeinheit. Ich denke, das ist eine sehr ernst zu nehmende Einschätzung dieser drei hochrangigen Vertreter des Patentamtes. Sie bietet Anlass genug für eine grundsätzliche Kritik und Überarbeitung. Das ist auch die Haltung der Fraktion der Grünen. Wir sind uns mit der Ministerin einig, dass wir hier Erfindungen und nicht Entdeckungen belohnen möchten. Wir melden unseren Änderungsbedarf in diesen Punkten noch einmal an. Wir sehen einen Handlungsbedarf bei der Beschränkung des Schutzumfanges der Patente, der wirksamen Ausgestaltung des Embryonenschutzes, der Sicherung der Persönlichkeitsrechte Betroffener, der Sicherheit für Entwicklungsländer und indigenen Völker gegen Biopiraterie und der Absicherung landwirtschaftlicher Nutzung von Saatgut und Tierrassen. Diese Bereiche werden in der EU-Richtlinie sehr widersprüchlich geregelt. Natürlich werden wir auch konkrete Anträge für die Neugestaltung der EU-Patentrichtlinie einreichen. Wir werden zur Klärung all dieser Fragen gemeinsam eine Anhörung durchführen und sicherlich noch intensive Diskussionen führen. Danke schön. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die F.D.P.-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Professor Edzard Schmidt-Jortzig.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der gigantischen Zeit von 3,5 Minuten, die mir ganz streng zugeteilt wurde, will ich mit einer eindeutigen Feststellung beginnen. Im Nachhinein werde ich diesbezüglich aber auch einige Vorbehalte äußern. Die F.D.P. ist nach wie vor der Ansicht, dass die Umsetzung der EU-Biopatentrichtlinie eine wünschenswerte Modernisierung und Präzisierung des Schutzes geistigen Eigentums auf dem Gebiet der Gentechnologie bedeuten kann. Dies setzt allerdings die Bereitschaft voraus - ich habe das immer wieder betont -, mit dem betreffenden deutschen Gesetz die vorhandenen Gestaltungsspielräume offensiv zu nutzen. Das bezieht sich - wegen der Kürze der Zeit muss, wie gesagt, alles sehr global bleiben - auf zweierlei. Beide Dinge sind auch schon zur Sprache gekommen. Zum einen geht es um die Schärfung und Revitalisierung des patentrechtlichen Grundgedankens, das heißt, es muss wieder klarer herausgearbeitet werden, dass wirklich nur geistige Innovationen, also Erfindungen, ({0}) nicht aber bloße Neufeststellungen oder clevere Geschäftsideen, also im weiteren Sinne Entdeckungen mit Ausschließungsanspruch und Vergütungsvorbehalt unter Schutz gestellt werden. ({1}) Das ist bekanntlich in der Entwicklung der Patentierungspraxis ein wenig aus dem Blick geraten. ({2}) Zum anderen muss durch das Gesetz den spezifischen Gefahren Rechnung getragen werden, die sich bei genetischen Patentierungen auftun können, sei es, dass ethische Grenzen überschritten werden, sei es, dass medizinisch-wissenschaftlicher bzw. therapeutischer Fortschritt blockiert würde, der möglichst im vollen Umfang allen Menschen zugute kommen soll. Hier bietet die EU-Biopatentrichtlinie bzw. der vorgelegte Umsetzungsentwurf gute Ansätze, die jedoch noch ausgebaut werden sollten. Wir haben darauf im Minderheitenvotum des Teilberichts der Enquête-Kommission in der bekannten Drucksache schon hingewiesen. Wegen der nur noch 1,47 Minuten, die mir zur Verfügung stehen, will ich nur noch auf zwei einzelne Aspekte eingehen. Den ersten kann ich relativ pauschal abhandeln: Ich halte es für wenig zielführend, dass die Bundesregierung in keiner Weise auf die Parlamentsdebatte am 10. Mai dieses Jahres zu reagieren bereit zu sein scheint. ({3}) Zur heutigen ersten Lesung steht jedenfalls unverändert der Gesetzentwurf in der Fassung vom 23. März zur Diskussion. Ich hoffe, das ist nur der Geschäftsordnung geschuldet und stellt noch keine inhaltliche Positionierung dar. Ansonsten könnte sich das als fahrlässig erweisen. Zweitens. Einen eklatanten Widerspruch - Herr Kollege Hauser hat schon darauf hingewiesen - bietet der neue § 1 a des Entwurfs des Patentgesetzes. In Abs. 1 heißt es - ich wiederhole das -: Der menschliche Körper … sowie die bloße Entdeckung eines seiner Bestandteile … können keine patentierbaren Erfindungen sein. In Abs. 2 heißt es dann: Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers … kann eine patentierbare Erfindung sein, ... Was soll denn nun gelten? ({4}) - Die Einschränkung in Abs. 3, so haben Sie gesagt, sei nur für einen ganz kleinen Ausschnitt gedacht. - Ist möglicherweise der hier geäußerte Verdacht doch begründet, dass der Widerspruch gewollt ist, damit dann umso besser im Trüben gefischt werden kann? Ich hoffe es nicht. Ich hoffe aber sehr, dass wir im Laufe der Beratungen noch Verbesserungen am Gesetz vornehmen können; sonst sehe ich wirklich schwarz für diesen an sich guten Ansatz, der da geboten wird. Danke sehr. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die PDS erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eingerahmt von so viel geballtem juristischen Sachverstand soll ich jetzt mit meinem schlichten Gemüt in dieser Debatte eine Meinung äußern. Dabei fällt mir zunächst einmal auf, dass die Regierung offensichtlich gemerkt hat, dass sie auf einem falschen Wege ist. Sie sagt nämlich: Nachdem wir dieses Gesetz verabschiedet haben, werden wir uns in Brüssel darum kümmern, dass es geändert wird. Aber wenn ich einen Weg als falsch erkannt habe, würde ich doch erst den Fehler beseitigen und dann versuchen, eine Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Dann könnte man vielleicht all die Widersprüche, die die Kollegen Hauser und Schmidt-Jortzig dankenswerterweise aufgedröselt haben, von vornherein auflösen. Weiterhin stelle ich mit meinem schlichten Gemüt fest, dass sich die Bundesregierung gegenüber dem Bundestag sozusagen wie ein Übersetzungsbüro verhält. Es wird nämlich die von der EU-Kommission erfundene Richtlinie genommen, ins Deutsche übersetzt und dann gesagt: Das ist jetzt deutsches Recht. Ich finde, das deutsche Parlament hätte anderes verdient, als bloße Übersetzungen vorgelegt zu bekommen. Wir haben als gesetzgeberisches Organ dieses Staates den Anspruch auf Gestaltung. Wir sollten diesen Einfluss auch geltend machen und nicht so tun, als ob wir bloß Vollzugsorgan von irgendjemand anders wären. ({0}) Außerdem stelle ich mit meinem schlichten Gemüt fest, dass sich die Pharmakonzerne einen Dreck um irgendwelche ethischen oder patentrechtlichen Dinge kümmern. Die machen das einfach. Gerade geht wieder durch die Presse, dass ein Brustkrebsgen patentiert worden ist. Nun erkläre mir bitte einmal jemand, welchen Fortschritt das für die Menschheit bringt, dass jemand jetzt die Rechte hat, alles kommerziell zu verwerten, was mit diesem Brustkrebsgen zusammenhängt! Gewiss keinen für die Frauen, die Angst um ihre Brüste haben. Der entscheidende Punkt für mich ist - das will ich auch im Namen der PDS ganz deutlich sagen -, dass wir dann, wenn wir wirklich wollen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, überhaupt nichts von ihm unter das Eigentumsrecht von irgendjemand stellen können. Ich weiß nicht, wo da die Gesetzeslücke ist. In welchem bisherigen Gesetz steht, dass der Mensch Eigentum von irgendjemand sein kann? Soweit ich mich entsinne, ist die Sklaverei abgeschafft. Das war das letzte Mal, dass es Eigentumsrecht auf Menschen gab. Ich finde, dass wir es nicht nötig haben, jetzt die Sklaverei über die Gene wieder einzuführen. Ich hatte die Aufgabe, in noch kürzerer Zeit als der Kollege Schmidt-Jortzig - ich habe nur drei Minuten, und Sie hatten die sagenhafte Zeit von 3,5 Minuten - die Position der PDS darzustellen. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist. Ich hoffe aber, Ihnen ist klar: Wir lehnen jegliche Eigentumsansprüche auf Menschen oder irgendwelche Teile von ihnen ab. Das soll auch so bleiben. Ich danke Ihnen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Margot von Renesse, der wir für ihren Arm gute Besserung wünschen. ({0})

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie es sich gehört, legt die Bundesregierung als Vertragspartner der Europäischen Union - nicht mehr ganz fristgemäß, aber in Respekt vor dem Parlament und seinen bisherigen Debatten zur Bioethik bzw. zum Patentrecht - ihren Gesetzentwurf zur Umsetzung vor. Auch ich, Herr Seifert, bin der Meinung, dass dies nicht das Ende der Fahnenstange ist. Trotzdem finde ich es richtig - genau wie die Bundesregierung -, dass man die EU-Patentrichtlinie umsetzt; denn sie stellt einen Fortschritt dar, der allerdings noch nicht an sein Ende gelangt ist. Herr Schmidt-Jortzig hat das Minderheitenvotum der Enquête-Kommission zitiert. Darin steht - wer Ohren hat zu hören, der höre, und wer Augen hat zu sehen, der lese -, dass alle Mitglieder der Enquête-Kommission der Auffassung sind, dass das Patentsystem beim Biopatent an seine Grenzen stößt. Dieses System als solches muss verändert und angepasst werden, möglicherweise auch an andere Teile der Wissenschaft und Technik, nämlich der Informatik. Das kann sein. Das ändert aber nichts daran, dass es nur international fortgeschrieben werden kann. Denn unser nationales Patentrecht, mit dem wir es jetzt zu tun haben, ist inzwischen längst die Facette eines internationalen Geflechts, aus dem wir uns beim besten Willen, selbst wenn wir wollten, nicht ausklinken können. Denn - das hat uns Herr van Raden bei der Anhörung deutlich gemacht - wenn unser Patentrecht nicht mit der EU-Patentrichtlinie kompatibel ist, wird der Senat des entsprechenden Patentgerichts das beim Europäischen Gerichtshof vorlegen müssen. Und dann bekommen wir den Salat. Jetzt können wir es noch inhaltlich verändern. ({0}) Wenn der EuGH nach der Patentrichtlinie verfährt, dann ist es vorbei. Dann bekommen wir es per Ukas durch die dritte Gewalt aufgebrummt. Das möchten wir vermeiden. Wir möchten unser nationales Patentrecht innerhalb der EU-Patentrichtlinie so anpassen, dass wir so weit wie möglich, Frau Höfken, auf das Problem eingehen, das meines Erachtens die Systemgrenze markiert, nämlich die Gefahr der Überbelohnung dessen, der insbesondere auf dem Gebiet der Naturstoffe ein Stoffpatent erhält. Das wird vor allem an den Genen deutlich, weil sie multifunktional sind. Mit einer Funktion alleine das Stoffpatent zu gewähren birgt im Ergebnis die Gefahr der Überbelohnung. Deswegen sollten wir so weit wie möglich in die von mir dargestellte Richtung gehen. Dabei hoffe ich auf die Hilfe der Patentrechtler, dass sie uns sagen, wie wir das Stoffpatent auf die gefundene Funktion einschränken und nichts hinzugeben. Das wäre ein Fortschritt, denn darin liegt ein ethisches Problem. Es liegt jedoch kein ethisches Problem - das sage ich mit aller Deutlichkeit - in der Patentierung von Naturstoffen, und zwar auch bei Genen. Es gibt zwei Gründe, das anzunehmen. Der eine Grund ist die berühmte Formel von Greenpeace - ich habe das Opus Dei der Naturreligion genannt -: Kein Patent auf Leben. Welche Gleichsetzung des Genoms mit Leben! Dies kann ich aus ethischen Gründen nicht akzeptieren. Ich habe das bereits in der Debatte über das Patentrecht gesagt. Was ist nicht alles mit Leben gleichgesetzt worden: Blut, Herz, Gehirn. Man hat sich immer geirrt. Das Leben ist viel komplexer als das Genom. ({1}) Es ist im Ergebnis gegen alle abendländische Kultur, das Leben mit dem Genom gleichzusetzen. So materialistisch, so biologistisch ist insbesondere menschliches Leben nicht. Das hat übrigens auch die Genforschung sehr deutlich gemacht. Es kommt darauf an, dass wir nicht die Entdeckung und die Vermehrung des Wissens patentieren - das ist nämlich der Sinn dieser scheinbar so widersprüchlichen Sätze, die hier zweimal zitiert worden sind -, sondern die Vermehrung des Könnens. Das ist in der Tat ein Problem beim Genom, nämlich die Differenz zu den bisherigen Patentierungsmöglichkeiten für Naturstoffe, nur weil man sie findet und isoliert. Insoweit ist die Patentrichtlinie Gott sei Dank tatsächlich eine Einschränkung. Denn das muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden: Die EU-Patentrichtlinie und, ihr folgend, das nationale Recht, wenn wir sie umsetzen, erfinden nicht das Patent im Biotechnologiebereich, sondern sie schränken es ein - möglicherweise nicht genug, Frau Höfken. Möglicherweise müssen wir und können wir mehr tun. Aber dass wir in Richtung von Greenpeace einen Gewinn machen, wenn wir sie nicht umsetzen und damit das bisherige Patentrecht in seiner viel größeren Reichweite behalten - wonach sogar, Frau Höfken, die Züchtung patentierbar ist, was seit längerem in Deutschland üblich ist, das wird jetzt mit der Patentrichtlinie ausgeschlossen und so gehört sich das -, wage ich zu bezweifeln. Es ist wie bisher ausgeschlossen, dass das reine Finden eines Naturstoffes schon zu einem Patent führen kann. Man muss nämlich wissen, was man damit machen kann. Das ist der Sinn dieses zweiten Satzes: Patentierbar ist nur der Naturstoff - auch der, der im Körper des Menschen vorzufinden ist -, mit dem ein Erfinder etwas machen kann. Damit ich das auch noch deutlich sage: Das Patent gibt nie ein dingliches Recht an diesem Naturstoff. Dem Patentinhaber gehört nicht, was patentiert wird. Was ihm gehört, ist seine Idee. Ihr Genom bleibt Ihres und Sie brauchen keine Lizenz zu zahlen, wenn Sie mit Ihrem Genom Kinder haben. Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel. Die interessante Geschichte für den Erfinder ist, dass er etwas damit machen kann, was in der Natur nicht vorkommt. Davon lebt und damit überlebt der Mensch. Die Natur ist dem Menschen nicht wohlgesonnen. Sie ist gleichgültig, manchmal feindselig. In der Natur bestehen wir nur als Wesen, die kein Fell haben, um sich zu wärmen, keine Klauen, um Beute zu schlagen, indem wir die Stoffe der Natur und die Kräfte der Natur erkennen und neu montieren. Das ist unser Gestaltungsauftrag und dem tragen wir Rechnung. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/5642 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({0}), Gunnar Uldall, Peter Rauen, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Zukunft der deutschen Messewirtschaft in der Globalisierung - Drucksachen 14/4816, 14/5581 - Dazu liegt ein Entschließungsantrag der CDU/CSU vor. Es ist zwar eine Redezeit vorgesehen, aber alle Reden sind zu Protokoll gegeben worden.1) Deswegen eröffne ich die Aussprache und schließe sie auch gleich wieder. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6340 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und zur Mitberatung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, an den Haushaltsausschuss, an den Auswärtigen Ausschuss und an den Ausschuss für Tourismus zu überweisen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Schmidbauer ({2}), Gudrun Schaich-Walch, Marga Elser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Kerstin Müller ({3}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung - Drucksachen 14/4263, 14/6307 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Schmidbauer ({4}) Auch hierfür war eine Aussprache vorgesehen, aber alle Reden sind zu Protokoll gegeben worden.2) Deswegen eröffne und schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 14/6307. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4263 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion ist die Beschlussempfehlung angenommen. Nun rufe ich die Beratung des Tagesordnungspunktes 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Eduard Lintner, Dirk Fischer ({6}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU Erlaubnis zum Führen von Schienenfahr- zeugen - Drucksachen 14/4933, 14/6035 - Berichterstattung: Abgeordneter Wieland Sorge Auch dafür war eine Redezeit vorgesehen, aber die Re- den sind zu Protokoll gegeben worden.3) Deswegen eröffne und schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/6035. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4933 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen. Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung ({7}) - Drucksache 14/4661 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({8}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Hier ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden. Ich hoffe, dass Sie alle noch die letzte halbe Stunde hier bleiben; denn diese Debatte ist ganz spannend. Ein Mit- glied des Bundesrates hat sich zu der späten Stunde noch zu uns gesellt. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Jus- tizsenatorin der Freien und Hansestadt Hamburg, Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit. 1) Anlage 4 2) Anlage 5 3) Anlage 6 Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Senatorin ({9}) ({10}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Stunde ist wirklich vorgerückt. Aber es stimmt, es ist ein sehr interessantes Thema. Ich danke Ihnen, wenn Sie diese Aufmerksamkeit trotz großer und berechtigter Ermüdung noch aufbringen. Das Gesetz zur Stärkung der Verletztenrechte, wie wir es genannt haben, ist aus unserer Sicht ein ganz wichtiger Schritt, um endlich etwas Neues und Zusätzliches für Opfer, für Verletzte aus Straftaten zu schaffen. Der von uns im Rahmen der Hamburger Initiative erarbeitete und vom Bundesrat über ein Jahr - damit sehr gründlich - beratene und dann beschlossene Gesetzentwurf sichert die Grundlage für ein neues, einheitliches Konzept. Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, im Bundesrat ein einstimmiges Votum aller 16 Länder für die Einbringung dieses Gesetzentwurfes in den Deutschen Bundestag zu erreichen. ({11}) Dieses Ergebnis - das wissen wir alle - ist bei solchen grundlegenden Reformvorhaben eher selten. Es lässt uns alle hoffen, dass das Gesetz, dessen Inhalt ich gleich kurz skizzieren möchte, die noch ausstehenden Hürden im Bundestag rasch und mit Bravour meistern kann. Wir werden natürlich gefragt, warum wir ein solches Gesetz brauchen. Wir brauchen eine grundlegende Neubestimmung der Rolle des Verletzten im Strafprozess. ({12}) Nach wie vor ist das geltenden Recht im Hinblick auf das Opfer, auf den Verletzten oder die Verletzte aus einer Straftat unübersichtlich und vor allen Dingen inkonsistent. Handlungsbedarf besteht insbesondere im Hinblick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates gegenüber den Verletzten. Die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes verpflichtet die staatlichen Organe bei einer Straftat natürlich zur Aufklärung des Sachverhaltes. Sie verpflichtet auch dazu, den mutmaßlichen Täter in einem fairen Verfahren dem gesetzlichem Richter zuzuführen. Das alles ist selbstverständlich. Niemand will etwas daran ändern. Aber diese unsere Grundrechtsordnung verpflichtet die staatlichen Organe auch - und zwar keineswegs nachrangig, sondern mindestens in gleicher Weise -, sich schützend und fördernd vor die Verletzten zu stellen, ihre Rechte zu schützen und ihnen zu ermöglichen, ihre Interessen wirksam, also justizförmig, und in angemessener Frist durchzusetzen. Denn im Gegensatz zum Beschuldigten haben sie, die Verletzten, nur in den seltensten Fällen zu der Straftat und damit zur Störung des Rechtsfriedens beigetragen und verdienen schon deshalb mindestens dieselbe Aufmerksamkeit und Fürsorge wie der Beschuldigte. ({13}) Die notwendige sachangemessene Berücksichtigung der Interessen der Verletzten im Strafverfahren erhöht im Übrigen nach unserer Erfahrung die Frieden stiftende Funktion der Strafjustiz und ermöglicht damit zugleich eine bessere, eine effektivere Strafverfolgung. Da mehr als 90 Prozent aller Ermittlungsverfahren durch Anzeigen von Privatpersonen in Gang gebracht werden, hängt die effektive Verbrechensbekämpfung langfristig von der Bereitschaft der Verletzten, sich aktiv am Strafverfahren zu beteiligen, ab. Ziel unseres Gesetzentwurfes - zur Erinnerung: eines einstimmigen Entwurfes der Länderkammer - zur Stärkung der Verletztenrechte ist es, ein aus vielen Elementen bestehendes ganzheitliches Konzept umzusetzen, in dem die Rolle der Verletzten nach einer Straftat grundsätzlich neu definiert wird. Ich will kurz verdeutlichen, worum es geht. Es geht nämlich um drei Ebenen: Erstens. Wir wollen die Persönlichkeitsrechte der Verletzten besser schützen. Zweitens. Wir wollen die Verletzten im Strafverfahren aktiver werden lassen als bisher. Drittens. Wir wollen den Verletzten den Weg zum Schadensersatz erleichtern. Zunächst einmal geht es also um die Persönlichkeitsrechte, die wir stärken wollen. Befragungen von Opferzeugen zeigen, dass mehr als die Hälfte von ihnen die Auswirkungen eines Prozesses auf ihr Befinden im Nachhinein negativ bewertet. Verbrechensopfer leiden noch Monate nach der Tat unter der Schwächung ihres Selbstwertgefühls. Sie nehmen sich in der Prozesssituation als schwach und unsicher wahr. Sie haben Ängste und können deshalb ihnen an sich zustehende Rechte oft nicht nutzen. Dem wollen wir durch die Einführung einer Pflicht des Gerichts vorbeugen, die Zeugen nicht nur über ihre Pflichten, sondern auch über ihre Rechte zu belehren. Jeder Mensch, der je eine Zeugenladung bekommen hat, weiß, dass darin steht: Sie müssen kommen; wenn Sie nicht kommen, können Sie bestraft werden. - Diese Belehrung ist zwar notwendig; aber wir wollen erreichen, dass nicht nur die Pflichten eines Zeugen in einer solchen Ladung stehen, sondern zugleich auch Hinweise auf die wesentlichen Rechte, die ein Zeuge hat. Wir wollen, dass ihm mitgeteilt wird, dass er nicht über alles aussagen muss. Wir wollen vor allen Dingen, dass ihm mitgeteilt wird, dass er sich einen Beistand beschaffen darf, mit dem er kommen kann. Das muss nicht, kann aber ein Rechtsanwalt sein. Zweitens wollen wir dieser Angstsituation des Zeugen durch eine verstärkte Verpflichtung des Gerichts zur Rücksichtnahme auf das Schamgefühl von Zeuginnen bei körperlichen Untersuchungen vorbeugen. Dazu haben wir im Einzelnen Vorschläge gemacht. ({14}) Wir wollen die Videovernehmung von ängstlichen Zeugen ausbauen. Sie soll nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Opfern sexueller Straftaten möglich sein. Darüber hinaus wollen wir einem Verbot der Herausgabe von Aufzeichnungen der Aussagen von Zeugen das Wort reden. Wir wollen erreichen, dass solche Aufzeichnungen nicht ohne Weiteres herausgegeben werden dürfen. Schließlich wollen wir - das schien uns besonders wichtig - die Rechtsstellung des Verletzten dadurch stärken, dass wir einem nicht anwaltlichen Zeugenbeistand mehr Rechte als bisher geben. Denn viele Zeugen fürchten sich und haben wegen ihrer innerlichen Verfassung gar keine Möglichkeit, einen Anwalt bzw. eine Anwältin zu beauftragen. Wenn sie das tun, sind sie schon geschützt. Aber es würde ihnen schon reichen, wenn sie eine Person ihres Vertrauens, mit entsprechenden Rechten ausgestattet, mitbringen könnten. Die zweite Ebene. Wir wollen den Verletzten bzw. die Verletzte im Strafverfahren aktiv werden lassen. Die Zeugnispflicht im Strafverfahren - ich habe das ausgeführt - ist zwar ganz außerordentlich notwendig, weil immer noch das Zeugnis eines Verletzten das wichtigste Beweismittel ist. Aber diese Situation ist für den Opferzeugen und für die Opferzeugin zugleich besonders belastend. Viele Verletzte beklagen ihre passive Rolle als Zeugen und vermissen insbesondere die Möglichkeit, ihre Ängste, ihre Wut, ihre Verletztheit - kurz: ihre Empfindungen - in das Verfahren einzubringen. Die aktive Teilnahme des Verletzten am Verfahren durch Wahrnehmung eigener Rechte trägt wesentlich zum Abbau dieser Belastung bei. Wir wollen erreichen, dass der Verletzte in solchen Fällen mit dem Beschuldigten auf gleicher Augenhöhe stehen kann, dass ihm vom Gesetz so viel Selbstbewusstsein ermöglicht wird, dass er sich gleichberechtigt neben dem Schädiger wiederfindet. Zudem führt eine solche Stärkung des Verletzten im Verfahren zu einer besseren Akzeptanz des Verfahrens, insbesondere auch aufseiten der Geschädigten. Die aktivere Teilnahme soll durch Stärkung der Rechte der Verletzten erreicht werden, insbesondere durch eine Pflicht des Gerichts zur Mitteilung des Termins gegenüber solchen Verletzten, die nebenklageberechtigt sind. Das Gesetz sagt genau, wann jemand nebenklageberechtigt ist; es gibt einen Katalog von Taten. Aber es gibt keine Pflicht des Gerichtes, einem nebenklageberechtigten Verletzten, der sich noch nicht erklärt hat, mitzuteilen, wann die Hauptverhandlung ist. Diese Pflicht setzt erst ein, wenn die Nebenklage erklärt ist. Wir meinen: Das muss viel früher einsetzen, damit der Verletzte sich überlegen kann, ob er zur Hauptverhandlung geht und ob er vielleicht einem länger währenden Verfahren beitritt. ({15}) Wir wollen deswegen auch erreichen, dass der nebenklageberechtigte Verletzte, auch wenn er die Nebenklage nicht oder noch nicht erklärt hat, im Verfahren anwesend sein darf. Wenn das Verfahren für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich ist, darf er das sowieso. Aber er soll auch dann anwesend sein dürfen, wenn die Öffentlichkeit nicht anwesend sein darf. Schließlich wollen wir erreichen, dass die Nebenklage auch im Sicherungsverfahren zulässig sein soll. Die dritte Ebene unseres Vorschlages betrifft die bessere und schnellere Erreichung des Schadensersatzes. Kriminologische Untersuchungen zeigen, dass für die Opfer von Straftaten ein rascher und unkomplizierter Ausgleich ihrer materiellen Schäden besonders wichtig ist. Es ist deshalb nötig, die gerichtliche Möglichkeit zum Schadensersatz zu verbessern. Für viele Verletzte ist die Trennung - auf der einen Seite die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und auf der anderen Seite das Zivilverfahren, in dem sie sich selbst um ihren Schadensersatz bemühen müssen - weder nachvollziehbar noch aushaltbar. Die Verbesserung der Möglichkeiten für Geschädigte, vermögensrechtliche Ansprüche bereits im Strafverfahren geltend zu machen, stärkt den Verletzten im Kernbereich seiner legitimen Interessen. Außerdem werden natürlich auf diese Weise Ressourcen des Gerichtes geschont, wenn diese Fragen in einem Verfahren geklärt werden. Wir haben deshalb - so steht es in unserem Gesetzentwurf - die Einführung eines sofort vollstreckbaren strafrechtlichen Wiedergutmachungsvergleichs vorgeschlagen, der direkt im Strafverfahren geschlossen wird. Auch haben wir ein Anerkenntnisurteil im Strafverfahren vorgeschlagen. Das kann auch ein Grundurteil sein. Es geht ja oft darum, dass die Entschädigung noch nicht bis auf den letzten Pfennig ausgerechnet ist. Aber es ist wichtig klarzumachen: Hier wird Schadensersatz geschuldet. Schließlich schlagen wir die Einschränkung der bisherigen Befugnis des Strafrichters im Adhäsionsverfahren - so heißt dieses Verknüpfungsverfahren - vor. Heute kann nach geltendem Recht ein Strafrichter sagen: Ich führe kein Adhäsionsverfahren durch; ich behandle den zivilrechtlichen Teil der Angelegenheit nicht, weil das den Abschluss des Strafverfahrens verlängern kann. - Diese Erklärung kann sehr schnell abgegeben werden, sodass es auf diese Weise kaum zu einem Adhäsionsverfahren kommt. Wir schlagen vor: Ein Richter, der dieses Adhäsionsverfahren nicht durchführen möchte, muss begründen, warum er es nicht tut. Wir sind sicher, dass es auf diese Weise sehr viel häufiger zu einem Adhäsionsverfahren kommen wird. ({16}) Ich werbe für dieses Länderkammergesetz, weil die Verbesserung des Verletztenschutzes eine so wichtige und bisher oft vernachlässigte Aufgabe in unserem Rechtsstaat ist. Ich freue mich, dass diese bedeutsame rechtspolitische Initiative aus meiner Heimatstadt Hamburg nun auf gutem Wege ist. ({17}) Gerade weil so oft beklagt wird, im Strafverfahren kümmere man sich nur oder vorwiegend um den Angeklagten, war es nötig, die Weichen eindeutig neu, nämlich in Richtung auf den Geschädigten und auf den Verletzten oder die Verletzte, zu stellen. Ihm oder ihr gebührt Aufmerksamkeit und Fürsorge. Von ihm - ich sagte es bereits -, der zu der Straftat fast nie beigetragen hat, muss ein Rechtsstaat so gut wie möglich weiteren Schaden abwenden. Senatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit ({18}) Auch die Bundesregierung plant eine Reform des Strafprozesses und geht ähnliche Wege wie der Bundesrat. In den an die Landesjustizverwaltungen übersandten Eckpunkten für eine Reform der Strafprozessordnung finden sich einzelne Ansätze dieses Entwurfs wieder, wie etwa der Wiedergutmachungsvergleich. Wir meinen, dass es einer grundlegenden Neubestimmung der Rolle des Verletzten im Strafverfahren bedarf. Für diese umfassende und abgestimmte Reform bildet unser Entwurf, so glaube ich, eine sehr gute Grundlage. Ich danke Ihnen. ({19})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute beschäftigt uns ein Thema, das vielen Opfern von Verbrechen schon lange auf den Nägeln brennt. Es geht um den strafrechtlichen Opferschutz im Rahmen eines neuen Gesetzes zur Stärkung der Verletztenrechte. Der vom Bundesrat einstimmig eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung der Strafprozessordnung, der über ein Jahr lang beraten wurde, ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg, den deutschen Strafprozess in seiner Funktion grundlegend zu erweitern. Die Länder gehen in die richtige Richtung und reihen sich in die gute Tradition der Rechtspolitik von CDU und CSU ein. ({0}) Die Bestrebungen der Länder finden in dieser Sache deshalb grundsätzlich unsere Unterstützung, bauen sie doch gerade auf dem Opferschutzgesetz von 1986 und dem Zeugenschutzgesetz von 1998 auf ({1}) - in einer bürgerlichen Koalition, verehrter Herr Kollege van Essen -, den maßgeblichen Gesetzen zum Opferschutz, die von der Union und der F.D.P. auf den Weg gebracht und verwirklicht worden sind. Bisher stellt das Strafprozessrecht vor allem ein Instrument dar, mit dessen Hilfe die zuständigen staatlichen Stellen im Falle einer Straftat die Aufklärung des Sachverhalts und die Verurteilung des Täters durchführen können. Das Opfer spielt im Grunde genommen lediglich die Rolle eines reinen Beweismittels, das sich in vielen Fällen noch nicht einmal seiner Persönlichkeitsrechte sicher sein kann. Denken Sie nur an die Herausgabe von Videoaufzeichnungen der Aussage von Opferzeugen oder die Untersuchungen und zum Teil entwürdigenden Befragungen von Opfern sexueller Straftaten. Das bestehende Strafprozessrecht muss um einen entscheidenden Aspekt ergänzt werden, wenn wir das Vertrauen der Bürger in die Rechtssicherheit stärken wollen. Es geht um den Aspekt, dass der Staat gerade gegenüber dem Opfer einer Straftat seiner Fürsorgepflicht entsprechen muss. Der Grundrechteschutz darf nicht dort aufhören, wo das strafrechtliche Verfahren beginnt. So manches Mal hat man den Eindruck, dass auf die Grundrechte der Täter mehr geachtet wird als auf die der Opfer. ({2}) Der Entwurf des Bundesrates sieht vor, die Betroffenen zu gleichberechtigten Prozessbeteiligten zu machen und sie nicht mehr nur als passive Teilnehmer, denen im Grunde nur die Nebenklage zur Verfügung steht, auf die Zuschauerbank zu verbannen. Hier besteht Handlungsbedarf. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die entsprechenden Weichen und setzt dazu an drei Punkten an: erstens an der Betonung des Persönlichkeitsrechts des Opfers, zweitens an der aktiven Teilnahme des Opfers am Verfahren und an der Wahrnehmung eigener Rechte und drittens an der Verbesserung der Möglichkeiten für Geschädigte, vermögensrechtliche Ansprüche schon im Strafverfahren geltend zu machen. Zu Punkt eins. Bei der Verbesserung der Persönlichkeitsrechte der Opfer ist die Einführung einer Pflicht zur Belehrung von Zeugen vorgesehen, die nicht, wie bisher, eine bloße Aufklärung über ihre Pflichten, sondern auch über ihre Rechte erhalten sollen. Neben all den weiteren Verbesserungsvorschlägen wie die vermehrte Rücksichtnahme bei körperlichen Untersuchungen von Zeuginnen und die Verbesserungen im Bereich der Videovernehmungen ist dieser Punkt besonders geeignet, endlich ein Umdenken hin zu einem verstärkten Opferschutz zu bewirken, da der Betroffene wieder mehr in das Geschehen gerückt wird. Die zweite Zielsetzung widmet sich der vermehrten aktiven Teilnahme des Verletzten am Verfahren. Es soll ermöglicht werden, dass auch persönliche Empfindungen und Einschätzungen der Opfer Berücksichtigung finden. Dann würden endlich Betroffene und Täter gleichberechtigt gehört. Denn für wen ist eigentlich ein solches Strafverfahren da? Soll das gerichtliche Strafverfahren eine Verständnisveranstaltung für den Täter sein oder soll es zur Durchsetzung des staatlichen Sanktionsanspruchs, zur Herstellung des Rechtsfriedens und eben auch zum Opferausgleich dienen? Niemand möchte die Schlechterstellung des Straftäters im Prozess. Ich bin aber überzeugt, dass auch ganz bestimmt niemand die gerichtliche Schlechterbehandlung von Verbrechensopfern will. Der letzte Punkt, die Ausweitung des so genannten Adhäsionsverfahrens, verdient besonderes Augenmerk. Damit wird den Verbrechensopfern die Möglichkeit gegeben, ihre zivilrechtlichen Ansprüche wie beispielsweise den Schadensersatz schon im Strafverfahren geltend zu machen. Ein schneller materieller Schadensausgleich auf der Opferseite könnte erheblich zu einem erhöhten Vertrauen in die Rechtspflege führen, da die Trennung zwischen zivil- und strafrechtlichem Verfahren von Nichtjuristen oft nicht verstanden und auch nicht akzeptiert wird. ({3}) Senatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit ({4}) Es ist an der Zeit, dass wir verhindern, dass die Opfer nach einem Verbrechen, das sie ohnehin schon aus ihrem Alltag herausreißt, durch die Justiz möglicherweise erneut zu Opfern werden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, hoffentlich bewirkt der Gesetzentwurf des Bundesrates noch etwas Gutes, nämlich dass sich die Räder des Bundesjustizministeriums endlich in die Richtung von mehr Opferschutz bewegen. Denn was von dort bis jetzt zum Opferschutz gekommen ist, sind nur Worte, aber leider keine Taten. ({5}) Die Stellungnahme der Bundesregierung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates, in der die Rede davon ist, dass - ich zitiere - sich die Bundesregierung besonders der Opfer annehmen will, ({6}) ist ebenso vollmundig wie zweifellos öffentlichkeitswirksam. Aber sie ist fern jeder Realität. ({7}) Ich frage Sie: Wie und wo nimmt sich die Bundesjustizministerin der Opfer an? Etwa in ihrem Referentenentwurf zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems? Wenn man erklärt, dass künftig 10 Prozent der Einnahmen aus Geldstrafen den Opfern zugute kommen sollen, dann kommt das zwar gut an und man kann damit gut hausieren gehen; es ist aber zu bedenken, dass ein solches Vorgehen zulasten der Länder geht, weil dadurch ausschließlich deren Haushalte betroffen sind - ganz zu schweigen von dem immensen Mehraufwand, den die Länder zu leisten haben. Soll vielleicht das Eckpunktepapier zur Reform des Strafprozesses der große Wurf sein? ({8}) Dazu kann ich nur sagen: Dieses Papier hilft den Opfern nicht; vielmehr macht es sie erneut zu Opfern. ({9}) Was in diesem Papier als Beteiligungsrechte des Beschuldigten verkauft wird, läuft in Wahrheit auf groteske Verfahrensverzögerungen hinaus. So sollen in Ermittlungsverfahren beispielsweise ein so genanntes Rechtsgespräch und ein Anhörungstermin im Zwischenverfahren eingeführt werden. Der Sachaufklärung wären diese Maßnahmen in keiner Weise dienlich. Im Gegenteil: Sie würden das ohnehin schon langwierige Verfahren noch mehr aufblähen, ganz zu schweigen von der erheblichen Mehrbelastung aller Prozessbeteiligten. ({10}) Oder will die Koalition zu diesem Zweck das im letzten Jahr verabschiedete Gesetz zur strafrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs als eigenen Erfolg ins Feld führen? ({11}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nur der Union ist es zu verdanken, dass dieser Gesetzentwurf nicht die Interessen des Täters, sondern des Opfers an die erste Stelle setzt. ({12}) Wir haben - in guter Zusammenarbeit mit der F.D.P. durchgesetzt, dass der ursprüngliche Entwurf in entscheidenden Punkten zugunsten des Opferschutzes verbessert worden ist. ({13}) Wir begrüßen die Bundesratsinitiative auch deshalb, weil vonseiten der Bundesregierung und der Regierungskoalition zum Opferschutz bisher nichts Nennenswertes gekommen ist. Der Entwurf geht in die richtige Richtung. Über Einzelheiten werden wir im Rechtsausschuss beraten. Wir werden hoffentlich große Einigkeit darüber erzielen, dass die Interessen der Opfer von Straftaten vor denen der Täter stehen. Ich bedanke mich. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich dachte, dass wir uns endlich einmal alle einig sind. Herr Kollege, da Sie die Koalition und die Bundesregierung angegangen sind - Sie machen immer wieder dasselbe -, muss ich Ihnen einfach sagen: Wenn Ihnen das so am Herzen liegt, dann hätten Sie das schon vor vielen Jahren machen können. ({0}) Wir haben uns mit der Bundesregierung zusammengesetzt und über eine ganze Reihe von Vorschlägen diskutiert. Nun ist ein Gesetzentwurf in der Mache, der noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. Der Gesetzentwurf, der verabschiedet werden wird, wird wesentliche Teile des Gesetzentwurfs des Bundesrates übernehmen. Die Teile, die wir hinzufügen, sind ein kleines bisschen besser. Genau darauf komme ich nun zu sprechen. Wir sehen natürlich - gerade die Bündnisgrünen haben das immer gesagt -, dass die Opfer von Straftaten in den Strafverfahren sehr häufig nicht anständig behandelt werden: Sie werden schikanösen Vernehmungen ausgesetzt, sie werden über ihre Rechte und Möglichkeiten im Strafverfahren nicht ausreichend informiert und können sie deshalb nicht wahrnehmen. Daher finden wir es positiv und richtig - auch das gehört in das Gesetz hinein -, dass die Opfer von Straftaten möglichst früh, möglichst bei der ersten Anzeige, über ihre Rechte informiert werden: dass sie natürlich die Möglichkeit haben, sich der Hilfe eines Rechtsanwalts zu bedienen, der zur Not vom Staat bezahlt wird. Wir sind ebenfalls dafür, dass die Opfer von Straftaten zu Vernehmungen bei der Polizei oder vor Gericht grundsätzlich Personen ihres Vertrauens mitnehmen können, wenn dem nicht ganz besondere Gründe entgegenstehen. Das hilft ihnen, das stärkt sie, das macht sie sicher. Deshalb ist es gut so. Wir wollen natürlich auch, dass die Opfer von Straftaten darüber informiert werden, dass ein Strafprozess über das, was sie angezeigt haben, überhaupt stattfindet. Häufig wissen sie das gar nicht. Jahre später - manchmal überhaupt nicht - erfahren sie, dass inzwischen ein Strafverfahren stattgefunden hat. Sie wissen gar nicht, was dabei herausgekommen ist, weil sie daran nicht beteiligt waren. Auch das soll nicht sein. Sie sollen über die Termine informiert werden, damit sie die Gelegenheit haben, zu erfahren, was eigentlich passiert. Wir sind darüber hinaus dafür, dass Opfer von Straftaten bei körperlichen Untersuchungen, vor allem bei solchen, durch die in den Intimbereich eingegriffen wird, entscheiden können, ob sie - das gilt nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer - von einer Ärztin oder einem Arzt oder von einer weiblichen oder von einer männlichen Person untersucht werden. Ich denke, es gehört zur Würde des Menschen, dass er dieses Wahlrecht hat. Es muss ihm also grundsätzlich eingeräumt werden. Wir wollen auch, dass die Opfer von Straftaten nicht erst in der Hauptverhandlung, wenn sie zum Beispiel als Nebenkläger auftreten, sondern schon im Vorverfahren die Unterstützung eines Rechtsanwaltes haben, dass sie entsprechende Informationen bekommen und beteiligt werden sowie dass sie schon im Vorverfahren Personen ihres Vertrauens hinzuziehen dürfen. Ein ganz großer Missstand, den ich auch aus meiner Praxis als Strafverteidiger kenne, ist, dass die Opfer von Straftaten nicht nur nichts über die Verfahrenseinstellung erfahren - viele Verfahren werden ja nach § 153 oder § 153 a der Strafprozessordnung eingestellt -, sondern auch nicht am Verfahren beteiligt werden. Sie erfahren vielleicht erst von Nachbarn, wie das Verfahren ausgegangen ist; sie sind völlig überrascht - man hört oft die Frage: Der ist so davongekommen? Es hat noch nicht einmal ein Strafverfahren stattgefunden? - und haben überhaupt kein Verständnis für die Verfahrenseinstellung. Ich denke, es ist im Interesse aller, sowohl der Verletzten als auch der Beschuldigten, wenn die Verletzten schon in einem frühen Stadium, also vor der Hauptverhandlung, über eine beabsichtigte Einstellung des Verfahrens informiert werden, und wenn sie Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen, um dann möglicherweise Argumente vorzubringen, warum diese Geldbuße oder jene Auflage nicht ausreicht, um den Rechtsfrieden wieder herzustellen. Das ist eine ganze Reihe von Punkten, die man bedenken muss und die im Gesetz berücksichtigt werden müssen, damit sich die Opfer von Straftaten in Zukunft nicht mehr als Opfer von Strafprozessen fühlen müssen. Das wollen wir nicht. Das entsprechende Gesetz ist in Vorbereitung. Wir haben in zahlreichen Diskussionen weitgehende Einigkeit erzielt. Die Anregungen des Bundesrates sind uns sehr willkommen. Wir werden darüber im Rechtsausschuss beraten. Ich bin sicher, dass wir angesichts des bisherigen Tempos noch in dieser Legislaturperiode einen gemeinsamen Gesetzentwurf verabschieden werden. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die F.D.P.-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr darüber, dass es einen Wettbewerb gibt, wie wir den Opfern im Strafverfahren am besten helfen können. Trotzdem gibt es noch etwas Besseres, als die Rechte der Opfer von Straftaten zu verbessern, nämlich dafür zu sorgen, dass Menschen erst gar nicht zu Opfern werden. Frau Justizsenatorin, wenn ich mir die Kriminalitätsbelastung in Ihrer Heimatstadt Hamburg anschaue, dann denke ich, dass gerade der Hamburger Senat, für den Sie gesprochen haben, eine Menge zu tun hat. ({0}) Nicht umsonst ist in dem beginnenden Wahlkampf die innere Sicherheit eines der zentralen Themen. Deshalb sollten wir uns verpflichten, die Kriminalitätsbekämpfung an allererste Stelle zu setzen. Zur Stärkung der Rechte der Opfer ist eine Menge an Vorschlägen gemacht worden, über die sich wirklich nachzudenken lohnt. Wir haben zu Zeiten der christlichliberalen Koalition zwischen 1994 und 1998 eine Menge an Fortschritten hinsichtlich der Stärkung der Rechte von Verbrechensopfern erzielt. ({1}) - Nein, es ist nicht zu wenig geschehen. Aber es kann natürlich noch mehr getan werden. Dafür sorgen wir jetzt auch. Wir werden uns dementsprechend einbringen. Wenn ich an die Möglichkeit der Videoaufnahmen von Vernehmungen oder daran denke, dass nun die Opfer an die Gewinne, die der Täter aus dem Verbrechen selbst erzielt hat, herankommen können, was früher nicht möglich war, muss ich feststellen, dass wir ganz erhebliche Fortschritte erzielt haben. Ich möchte außerdem auf etwas hinweisen, das mir auch ganz wichtig ist: Auch wenn wir noch so viele gesetzliche Vorschriften ändern und verbessern, bleibt es doch wichtig, wie wir mit den Opfern selbst umgehen. Deshalb scheinen mir solche Pilotprojekte, wie ich sie aus Baden-Württemberg kenne, dass beispielsweise Referendare zur Betreuung von Zeugen eingesetzt werden, die ihnen erklären, was geschieht, sodass das Verfahren für die Zeugen verständlicher ist, wichtig. Die Zeugen haben auf diese Weise das Gefühl, mit ihren Sorgen ernst genommen zu werden. Die Tatsache, dass Referendare für Beratung sorgen, ist etwas, was nach meiner Auffassung vorbildlich ist. Dazu gehört auch - daran müssen wir unsere richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Kollegen immer wieder erinnern -, dass man die Zeugen wirklich ernst nimmt. Ich kann mich daran erinnern, dass ich selbst als Angehöriger der Justiz als Zeuge in einem Meineidsprozess geladen war; ich war für 9.30 Uhr geladen, aber bis 16 Uhr tat sich nichts. Der Richter war hinterher sehr überrascht, er hatte uns als Zeugen vor dem Gerichtssaal sitzen lassen und komplett vergessen. Sie können sich vorstellen, dass ich nicht der einzige war, der das Gefühl hatte, von der Justiz nicht wirklich ernst genommen zu werden. All das, was wir an gesetzlichen Bestimmungen verbessern werden, wird nicht wirklich greifen, wenn wir nicht insgesamt in unserer Gesellschaft zu einer Veränderung der Situation der Opfer kommen. Dazu gehören auch die Medien. Wenn wir in den Medien beispielsweise immer wieder von Tätern lesen, wenn wir Aufsätze lesen, in denen sehr feinfühlig auf die Lebensgeschichte von Tätern eingegangen wird, dann ist das sicherlich richtig, weil auch sie den Anspruch darauf haben, ernst genommen zu werden. Trotzdem würde ich mir wünschen, wenn in gleicher Breite und Tiefe auch über die Wirkungen von Taten berichtet werden würde. Wer beispielsweise einmal erlebt hat, welche Auswirkungen die Ermordung eines kleinen Mädchens auf deren Familie hat - die Familie wird nie wieder ein normales Leben führen können, die Tat wird immer wieder die Familie belasten -, weiß, in welcher Verantwortung wir stehen, Opfer ernst zu nehmen. ({2}) Deshalb müssen wir uns über das hinaus, was wir heute hier diskutieren und was ich, Frau Justizsenatorin, für einen wirklich guten Vorschlag halte, Gedanken darüber machen, wie wir solchen Familien helfen, die Opfer einer Straftat geworden sind. In Familien, in denen zum Beispiel die Tochter Opfer eines Mordes geworden ist, gibt es ganz erhebliche Betreuungsnotwendigkeiten. Auch diese Probleme müssen uns beschäftigen. Soweit die ersten Ausführungen der F.D.P.-Bundestagsfraktion; wir werden uns einbringen. Ich freue mich auf eine Diskussion, weil alle angedeutet haben, sie wollten die Rechte der Opfer stärken. Auf diese Weise macht Arbeit im Parlament Spaß. Vielen Dank. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Kollegin Kenzler von der PDS hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1 Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4661 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss, Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft - Drucksache 14/6032 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuss Auch hier war eine Redezeit vorgesehen. Alle Reden zu diesem Punkt sind zu Protokoll gegeben.2) Deswegen eröffne und schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/6032 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. Juni, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend. Die Sitzung ist geschlossen.