Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben täglich, wie die
Lebenswissenschaften mit wachsender Geschwindigkeit
ihr Wissen und ihr Können sowie die Möglichkeiten erweitern, in die Natur und damit auch in die menschliche
Natur einzugreifen. Das ist das Problem, vor dem wir stehen. Auf der einen Seite erfüllt das uns alle mit Hoffnung,
dass die Möglichkeiten des Menschen, sein eigenes
Schicksal zu bestimmen, die Ohnmacht vor dem Zufall zu
bekämpfen und ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu
führen, damit erweitert werden.
Auf der anderen Seite erfüllt uns alle die Angst, dass
damit auch die Eingriffe des Menschen in die menschliche Natur tiefer werden und die Möglichkeiten erweitert
werden, auch das, was den Menschen ausmacht, zu verändern, anscheinend zu verbessern oder nach dem Menschenbild des jeweilig Handelnden zu formen und damit
den Menschen in seiner Substanz zu verwerfen, zu bewerten, über ihn zu verfügen und ihn zu manipulieren.
Dies ist das, was viele Menschen mit Schmerz erfüllt,
weil sie die Sorge haben, dass sie selber verworfen werden können, dass insbesondere krankes, behindertes und
geschädigtes Leben auf diese Weise einem Maßstab unterworfen wird, der nicht mehr menschengerecht ist.
Sind die Menschenwürde und unsere wunderbare Verfassung eine Grenze, mit der wir uns beruhigen können
und die uns hilft, mit den neuen Herausforderungen fertig zu werden, sodass wir die segensreichen Wirkungen
der Biotechnologien in Anspruch nehmen können und
gleichzeitig das, was uns Angst macht und was uns schädigen könnte, mit Aussicht auf Erfolg zurückweisen
können?
Erst einmal sollten wir festhalten, in welchen Punkten
Konsens besteht. Ich denke, in diesem ganzen Hause, bei
der Regierung wie beim Parlament, bei allen Kräften des
Staates und bei allen Wissenschaftlern herrscht darüber
Einigkeit, dass die immer wieder neu gestellte Frage:
„Dürfen wir alles tun, was wir tun können?“ mit Nein beantwortet werden muss.
({0})
Ich fürchte aber, dass uns die Antwort auf diese Grundfrage - leider - nicht viel weiterhelfen wird. Denn was
dürfen wir tun? Was müssen wir lassen?
An dieser Stelle ergibt sich Streit, der zu führen sein
wird vor dem Hintergrund unserer eigenen Wertordnungen, indem wir unsere eigenen Wertordnungen erkennen
und das, was uns als Person ausmacht, von dem unterscheiden lernen, was wir als allgemein verbindlich für die
gesamte Gesellschaft feststellen dürfen. Wir sind das Parlament. Wir haben die Gesetze zu machen. Die Gesetze
kennen keine Ausnahmen. Die Gesetze sind allgemeinverbindlich; unsere Wertordnungen sind es nicht. Es ist
ein großer Unterschied zwischen dem, was ich in meinem
eigenen Leben für richtig halte und woran ich mich halte,
und dem, was ich in Allgemeinverbindlichkeit für alle mit
der Kraft des Gesetzes gebieten und verbieten kann. Die
Ethik des Gesetzgebers verlangt von ihm Zurückhaltung
in Wertfragen. Denn wir sind ein Staat der weltanschaulichen Neutralität, in dem Katholiken und Protestanten,
Atheisten und Moslems, Juden und alle anderen Religionen, die es auf der Welt gibt und die bei uns vorhanden
sind, in Eintracht miteinander leben können müssen. Niemand darf in seinem Gewissen vergewaltigt werden. Die
Rechtsethik erwartet von uns, dass wir diese Unterscheidung treffen, dass wir das, was uns als Person ausmacht,
kennen lernen und unterscheiden lernen von dem, was die
Allgemeinheit von uns erwartet.
Die Menschenwürde ist ein Begriff, der sich nicht benutzen lässt wie eine binomische Formel in der Mathematik. Dies hat das Verfassungsgericht in ständiger
Rechtsprechung immer wieder festgestellt. Jede Form
von Verdichtung zur Ideologie hat es zurückgewiesen,
und es hat es abgelehnt, die Menschenwürde positiv zu
beurteilen und zu definieren. Menschenwürde ist immer
nur erklärbar und feststellbar anhand der Verletzungen,
bei denen es um Schwache, um Geschädigte, um Ohnmächtige geht, die von der Verletzung der Menschenwürde besonders gefährdet werden. Ich meine, daran sollten wir uns halten und daran sollten wir uns erinnern: dass
die Menschenwürde nicht ein Gerinnungsprodukt von
Ideologie ist und sich schon gar nicht als Knüppel eignet,
mit dem man auf den Kopf eines anderen einschlägt, sondern genau der Punkt ist, an dem wir uns im Konsens aufeinander zubewegen müssen; denn Gesetze auf diesem
Gebiet entstehen nur im Konsens.
({1})
Präsident Wolfgang Thierse
Lassen Sie mich einmal kurz rekapitulieren, was wir
als Parlamentarier auf dem Gebiet der Gesetzgebung eigentlich zu entscheiden haben. Wir haben Konsens - darüber wird nicht gestritten -, dass die Möglichkeiten der
nachgeburtlichen Genomanalyse insgesamt vom Gesetzgeber neu erörtert und neu eingegrenzt werden müssen. Persönlichkeitsschutz, Datenschutz, das Recht auf
Wissen und das Recht vor allem auch auf Nichtwissen,
das Recht der Versicherungen, das Recht beim Eingehen
eines Arbeitsverhältnisses - dies alles ist unstreitig und
hätte eigentlich schon vorgestern erledigt sein können. Ich
hoffe, dass das in dieser Legislaturperiode noch klappt,
und zwar mit Zustimmung des ganzen Hauses.
Sehr viel schwieriger wird es bei der Frage - die wir
wahrscheinlich nicht zu erörtern haben, weil wir dazu
keine Anträge vorliegen haben und in dieser Legislaturperiode wohl auch nicht bekommen -, inwieweit ein Embryo, der in vitro erzeugt worden ist, als Forschungsobjekt
zur Verfügung steht. Ich halte die Entscheidung des Gesetzgebers von vor elf Jahren - ich nehme an, dass ich da
auch weitgehende Zustimmung bei Ihnen finde -, die Invitro-Fertilisation der natürlichen Zeugung und Empfängnis nachzubilden, nach wie vor für richtig. Ein Embryo, auch im Glas erzeugt, ist das zukünftige Kind
zukünftiger Eltern und sonst nichts.
({2})
Er steht für andere Zwecke nicht zur Verfügung. Weder ist
er ein Medikament zur Behandlung irgendeiner Fruchtbarkeitsstörung noch ist der Embryo ein Werkstück, das
man unter Mangeleinreden betrachten kann, noch ist er
ein Rohstoff für andere Zwecke.
({3})
Diese Grundentscheidung, die der Gesetzgeber getroffen hat, sichert die Menschenwürde sowohl des Paares als
auch des Embryos. Wir werden sicherlich in dieser Legislaturperiode und auch in der nächsten keine Anträge zur
Veränderung des Embryonenschutzgesetzes bekommen
und das ist gut so.
Dann gibt es das große Problem der PID, der Präimplantationsdiagnostik. Meine Damen und Herren, ich
stehe nicht an zu sagen, Präimplantationsdiagnostik ist
nichts Gutes, genauso wenig wie der Schwangerschaftsabbruch. Wir wünschen uns Eltern, wir wünschen uns
Paare, die Kinder annehmen, so wie sie sind, und nicht
erst prüfen, ob sie für ihre Zwecke taugen.
({4})
Aber ebenso wie beim Schwangerschaftsabbruch reden wir hier nicht darüber, ob Präimplantationsdiagnostik
oder Schwangerschaftsabbruch etwas Gutes ist. Wir reden
über die Grenzen des Strafrechts. Das Strafrecht ist dazu
da, das ethische Minimum zu sichern; es ist die schärfste
Waffe des Staates. Hinter jedem Gesetz, hinter jedem Urteil steht das Wort: Ich an deiner Stelle hätte anders gehandelt. - Wer mag das in jedem dieser Fälle sagen?
Wir müssen im Hinblick auf die schwer belasteten
Paare und die Hochrisikopaare - sie sind ihrerseits Geschlagene - darüber nachdenken, ob wir sie mit dem
Knüppel des Strafrechts noch treffen können, ob wir mit
dem Strafrecht noch das erreichen können und sollten,
was elterliche Hingabe im Grunde genommen so wichtig macht. Die Frage, die sich hier stellt, ist Thema der
Bergpredigt: Richten wir hier nicht und müssen dabei in
Kauf nehmen, dass wir selbst gerichtet werden? Ich
finde, dass wir über das, was Strafrecht ist, nachdenken
müssen und nicht über die Frage, ob diese Technologie
das Selbstwertgefühl oder die Selbstbestimmung eines
Menschen erweitert; das tut sie nicht. Wir müssen hier
über die mit Konflikten und Belastungen verbundenen
Probleme diskutieren. Es geht dabei nicht um eine
flächendeckende Technik zur Erweiterung des gelingenden Lebens.
({5})
Ich möchte Sie bitten - meine Zeit geht zu Ende -, dass
wir von einem, was sich im Vorfeld dieser Debatte öfter
gezeigt hat, Abstand nehmen: Wenn wir es richtig angehen, dann haben wir es nicht damit zu tun, die Guten und
die Bösen voneinander zu trennen und Autodafés zu errichten, auf denen die Ketzer verbrannt werden. Ich bitte
um alles in der Welt darum, dass wir davon Abstand nehmen, weil es der Debatte nichts nützt. Wir sollten auch davon Abstand nehmen, Wissenschaft zu dämonisieren.
Wissenschaft dient der Gesellschaft nicht nur dadurch,
dass sie neue Möglichkeiten des Handelns, des Heilens
und des Helfens entwirft, sondern auch dadurch, dass sie
Tabus verletzt; sonst gäbe es keine Anatomie, keinen
Darwin und keinen Freud.
({6})
Wir müssen uns gefallen lassen, dass uns die Wissenschaft nicht in Ruhe lässt, wenn wir die wohltuende Binde
des Nichtwissens vor unseren Augen behalten. Nicht-wissen-Wollen ist das Recht des Einzelnen, aber nicht das der
Gesellschaft.
({7})
Herr Präsident, wenn Sie es mir erlauben, dann möchte
ich als Letztes Folgendes erzählen, um Ihnen deutlich zu
machen, dass auch unsere Söhne und Töchter, unsere Brüder und Schwestern, unsere Väter und Mütter
Wissenschaftler sein können: Als ich in Münster studierte,
gab es dort einen Anatomieprofessor, der dafür bekannt
war, dass er immer mit auf den Friedhof ging, wenn die
kümmerlichen Reste der Leichen, die für Präparierkurse
der Medizinstudenten dienten - unter den Studenten waren diese Kurse so etwas wie Initiationsriten, oft mit derben Späßen begleitet -, beerdigt wurden. Das war für uns
alle und auch für mich als Jurastudentin dahin gehend stilbildend, wie man auch dann, wenn man das Objekt
Mensch auf dem Tisch hat, mit dem Menschen, der er ist
und der er war, menschenwürdig umgeht. Das war für
mich ein Vorbild.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich erteile der Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Bio- und Gentechnologie beschreiten wir nicht nur in der Forschung,
sondern auch in der Ethik Neuland. Erstmals ist der
Mensch in bisher ungeahnter Weise Gegenstand der Forschung. Erstmals zeichnet es sich ab, dass der Mensch in
die Entwicklung des Menschen selbst eingreifen und seinen genetischen Code verändern kann. Es stellt sich die
Frage: Inwieweit ist der Mensch noch Geschöpf? Inwieweit wird er zum Produkt? Diese Frage geht tief in das Innerste des Menschseins. Wir müssen uns diesen fundamentalen Fragen stellen und wir ringen um die Antworten. Ich
bin froh, dass wir das in diesem Hohen Hause heute tun.
Hoffnungen und Ängste, euphorische Begeisterung,
aber auch Ratlosigkeit treffen in diesen Diskussionen aufeinander. Wir sind mit überwältigenden Ergebnissen in
der Grundlagenforschung konfrontiert; aber wir wissen
noch längst nicht, ob die Anwendung damit auch gelingen
kann.
Das hat sich bei der Entschlüsselung des menschlichen
Genoms in besonderer Art und Weise gezeigt. Das Buch
des Lebens liegt geöffnet vor uns. Wir können die Buchstaben entziffern; aber wir können deshalb noch längst
nicht den Sinn begreifen. Das zeigt: Je weiter wir in diese
Geheimnisse des Lebens vordringen, desto schwieriger
wird es, sie zu entschlüsseln. Vor uns liegt eine Jahrhundertaufgabe. Wir wissen nicht, ob es Wissenschaftlern je
gelingen wird, den Stein der Weisen zu finden. Deshalb
sollten wir uns auch in Diskussionen wie dieser in Bescheidenheit üben und - ich benutze jetzt einen Begriff
des Bundespräsidenten - das menschliche Maß sehr wohl
beachten. Wir brauchen ein entsprechendes Bewusstsein.
Wir alle wissen, dass es um die Fragen der Schöpfung und
um die Fragen geht, wer wir sind und wie wir leben wollen. Wenn die Schallmauer einmal durchbrochen ist, dann
sind Entscheidungen nicht mehr rückholbar.
Mir hat John Geerhart, einer der bekanntesten Stammzellenforscher in den USA, eine Mahnung mit auf den
Weg gegeben. Er sagte zu mir: „Be patient!“ Er hat uns als
Politikerinnen und Politiker ins Stammbuch geschrieben,
Geduld zu haben, Geduld zu haben auch deshalb, weil
sich der letzte Stand der Forschung schon morgen möglicherweise in einem ganz anderen Licht darstellt. Die
Forschungsentwicklungen sind im Falle der Bio- und
Gentechnologie rasant. Zugleich werden wir mit neuen
ethischen Dimensionen konfrontiert.
Wir müssen aber auch vonseiten der Politik die Wissenschaft auffordern, Geduld mit uns hinsichtlich der zu
treffenden Entscheidungen zu haben; denn wir haben ein
Recht auf Nachdenklichkeit, wenn es um solche zentralen
Fragen des Menschseins geht. Wir brauchen eine breite
Debatte in der Öffentlichkeit: über die Leitbilder von
Menschenwürde, über die universelle Gleichheit aller
Menschen, über das Verhältnis von Mensch und Natur,
von Gesundheit und Lebensstilen sowie von unerlaubten
Eingriffstiefen und gebotenen Grenzziehungen. All das
steht zur Diskussion.
Die Fragen müssen erörtert werden. Aber die Entscheidungsfindung gehört in den Deutschen Bundestag.
({0})
Die Politik darf und kann Themen von einer derartigen
Tragweite nicht einfach an Wissenschaftler und Gremien
delegieren. Die Politik und auch wir selbst müssen in diesen schwierigen Fragen Position beziehen. Wir müssen
uns auch die Zeit lassen, um diese Fragen - seien es die
grundsätzlichen, seien es Einzelfragen - zu beantworten.
Wir haben im Deutschen Bundestag die EnquêteKommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ eingesetzt. Wir können nicht anderen Gremien die
Entscheidungen überlassen oder sie durch andere Gremien möglicherweise sogar vorwegnehmen lassen. Diese
Aufgabe müssen wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier verantwortungsvoll wahrnehmen.
({1})
Wer Neuland betritt, der braucht einen Kompass. Der
Kompass liegt in dem, was ethisch verantwortbar ist. Er
liegt in der Unverfügbarkeit des Menschen, im Schutz des
Lebens von Anbeginn und in der Wahrung der Menschenwürde. Dazu können wir uns auf entsprechende
rechtliche Grundlagen stützen.
Wann beginnt das zu schützende menschliche Leben?
Diese Frage stand in den letzten Wochen und Monaten immer wieder in der Diskussion. Ich meine, es gibt eine klare
Antwort. Ich hoffe auf eine große Übereinstimmung in
dieser Frage. Es ist die Grundfrage, von der alles Weitere
ausgeht. Zu schützendes Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle; denn von Anbeginn
ist das volle Potenzial, also das volle genetische Programm des Menschen, vorhanden. Der Embryo ist
menschliches Leben und nichts anderes. Es gilt, dieses
menschliche Leben zu schützen und seine menschliche
Würde zu wahren.
({2})
Wer anderes denkt, muss auch bedenken, was er aufgibt. Wer glaubt, dass das volle Lebensrecht erst danach
anfange und dass es hinsichtlich der Menschenwürde Abstufungen gäbe, der muss überlegen, was es bedeutet,
wenn man heute den 12., morgen den 14. und übermorgen
den 16. Tag als Grenze nimmt. An diesem Beispiel wird
deutlich, welche Willkür diesen Entscheidungen anhaftet.
Solche Entscheidungen sind nicht tragfähig. Wir müssen
klar sagen, dass es sich von Anfang an, also ab der Verschmelzung, um menschliches Leben handelt. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, diesen Schutz
des Lebens von Anfang an zu gewährleisten.
Ich will noch ein Wort zu den Konsequenzen sagen, die
sich daraus ergeben. Zwei Fragen treiben uns nämlich in
ganz besonderem Maße in der aktuellen Diskussion um:
Die eine Frage berührt die Fortpflanzungsmedizin und die
andere die Embryonenforschung.
Bei der Fortpflanzungsmedizin sind viele von der
Frage bewegt: Ermöglicht es die Präimplantationsdiagnostik eventuell Eltern, die sich brennend ein Kind wünschen,
ein gesundes Kind zu bekommen, auch wenn sie genetische Dispositionen haben, die dagegen sprechen? Auf der
einen Seite müssen wir diese Sorge sehr ernst nehmen. Auf
der anderen Seite liegt aber in der Waagschale das Leben
als solches. Überlegen wir uns einmal, was es konkret bedeutet, eine Präimplantationsdiagnostik durchzuführen:
Das heißt, dass im frühesten Stadium geprüft wird, ob der
Embryo genetisch beschädigt ist. In der Konsequenz führt
das dazu, dass dieser aussortiert wird. Aussortieren heißt
selektieren, heißt, möglicherweise behindertes Leben
wegzuwerfen und zu töten. Ich glaube, an dieser Stelle ist
aus Achtung vor dem Leben und dem sich daraus ergebenden Schutz für dieses eine solche Schlussfolgerung
nicht zulässig. Deshalb scheidet für mich die Präimplantationsdiagnostik aus.
({3})
Ein Leserbrief, den ich gestern in der „Welt“ gesehen
habe, hat mich sehr bewegt, nicht allein wegen seines Inhaltes, sondern auch deswegen, weil ich die Schreiberin
dieses Leserbriefes seit ihrer Geburt kenne. Heute ist dieses Mädchen 14 Jahre alt und hat Mukoviszidose. Sie hat
in der „Welt“ geschrieben - ich weiß, wie die Eltern darüber denken und wie sehr diese Frage das Mädchen in
ihren jungen Lebensjahren schon persönlich bewegt hat -:
Sie findet ihr Leben trotz aller Beschwernisse ganz und
gar nicht lebensunwert. Sie geht ins Gymnasium, sie
spielt, hat Freunde und vor allen Dingen Ziele. Sie will in
diesem Leben etwas erreichen. Zugleich sagt sie aber
auch: Sie habe die Sorge, dass sie, wenn die Diagnosemöglichkeit PID vor Jahren zugelassen worden wäre
- über die Zulassung diskutieren wir ja jetzt -, heute nicht
in dieser Welt wäre, nicht leben könnte und nicht all das,
was an Fülle des Lebens vor ihr liege, erfahren könnte.
Die Botschaft, die uns ein behindertes Mädchen, ein
Mädchen mit einer schweren Krankheit, hier mit auf den
Weg gibt, lautet: Lasst mich leben! Zerstört nicht das Leben, sondern sagt Ja dazu und ermöglicht es, dass
behindertes und von Krankheit umfangenes Leben eine
Chance hat in dieser Welt! Ich glaube, wir sind in besonderem Maße aufgerufen, diesen Ruf zu hören und diesem
Ruf auch nachzugehen.
({4})
Ich hoffe und setze darauf, dass wir in diesem Bewusstsein eine Entscheidung für das Leben treffen.
Das gilt auch dann, wenn wir darüber entscheiden, ob
wir verbrauchende Embryonenforschung wollen.
Wenn wir wissen, dass es auf der einen Seite eine Illusion
wäre, wie uns Forscher sagen, zu glauben, dass die Hoffnungen auf Heilung von Krankheiten bald eingelöst werden können, aber auf der anderen Seite feststeht, dass ein
Embryo Leben ist, dann muss an dieser Stelle klar sein,
wo wir den Schutz verstärken müssen. Es gibt viele andere Möglichkeiten im Bereich der Stammzellenforschung, die ethisch unproblematisch sind. Lassen Sie uns
diese Möglichkeiten ergreifen. Chancen, die sich bieten,
sollen wir nutzen, aber zugleich das Leben schützen. Es
darf nie und nimmer zur Disposition stehen!
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Andrea Fischer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass
wir heute diese ungewöhnliche Debatte im Bundestag
führen, hat damit zu tun - das wurde schon gesagt -, dass
unser Wissen um den Menschen durch die rasanten Fortschritte der biotechnischen Wissenschaften in den letzten
Jahren unglaublich gestiegen ist. Das Humangenomprojekt hat uns Erkenntnisse über das Innerste des
menschlichen Körpers verschafft. Damit einher gingen
Entwicklungen in der Medizin oder zumindest Aussichten
darauf.
Gentechnisch hergestellte Medikamente und Diagnostika sind längst eine Selbstverständlichkeit und haben
schon sehr, sehr vielen Menschen geholfen. Es bestehen
gute Chancen, dass auf diesem Weg noch weitere segensreiche Neuerungen zu erwarten sind. Das gilt unter anderem für den Bereich der Pharmakogenetik. Es ist offen,
welche weiteren Wege uns durch die zu erwartenden Erkenntnisse aus dem Humangenomprojekt und der
Proteomicsforschung noch eröffnet werden. Deswegen ist
es gut, dass hier vielfach geforscht und dies auch durch
Förderung vonseiten des Staates unterstützt wird.
Als Zuschauer, als interessierte Laien und auch als eines Tages vielleicht von diesen Fortschritten Begünstigte
stehen wir staunend und fasziniert vor diesen Entwicklungen und den Verheißungen, die darin liegen. Wir
bewundern den großartigen wissenschaftlichen Fortschritt. Wir sind neugierig auf immer neue Erkenntnisse
über unseren Körper, was ihn steuert, was ihn krank
macht. Ironischerweise lernen wir dabei gerade von den
Genforschern, dass all diese Prozesse viel komplizierter
sind, als es der boulevardeske Ausdruck von einem Intelligenzgen oder der genetischen Bestimmung glauben machen könnte.
Die Besonderheit dieser neuen Forschung, dass wir die
Vorgänge in unseren Körpern besser verstehen, ist ihre
große Stärke und zugleich stellt sie uns genau dadurch vor
Herausforderungen. Wir müssen uns ihnen stellen, gerade
wenn und weil wir die positiven Potenziale der Gentechnik weiter erschließen und nutzen wollen.
Selbstverständlich werden wir alle anstehenden Entscheidungen unter der Prämisse treffen, dass wir die
Chancen auf Heilung nutzen wollen. Niemand, der sich an
dieser Diskussion beteiligt, ist gegenüber den Hoffnungen
auf Hilfe vonseiten der Schwerkranken unempfindlich.
Deswegen sollten wir es uns auch nicht gegenseitig unterstellen.
({0})
Was es aber für uns so schwierig macht, ist, dass wir
mit dem Willen zu heilen allein keinen Maßstab haben,
wenn wir unsere Entscheidungen treffen. Wenn Heilung
nämlich der alleinige Maßstab wäre, gäbe es gar keine
Grenzen, die wir aus Respekt vor dem Lebensrecht eines
anderen Menschen ziehen könnten und müssten. Hier eine
Abwägung zu finden und diese Aufgabe zu lösen bedeutet, die Chancen von Biomedizin und Gentechnik verantwortungsbewusst wahrzunehmen.
Es gibt zurzeit - davon war bereits bei den Kolleginnen die Rede - vor allem ein Verfahren aus der Biomedizin und einen Bereich der gentechnischen Forschung, die
im Zentrum dieser Abwägungen stehen und die Frage
nach der Grenzziehung aufwerfen. In den letzten Wochen
war die Diskussion auf die Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik sowie Forschung unter Verbrauch von
Embryonen konzentriert. Oft genug konnte man den Eindruck gewinnen, an der Haltung gegenüber diesen beiden
Fragen entscheide sich die grundlegende Haltung zur
Gentechnik und die Erschließung ihrer Chancen. Das ist
in der Sache nicht zutreffend; denn es handelt sich bei der
PID um einen sehr randständigen Bereich der Anwendung
neuer Diagnoseverfahren und bei der Forschung an embryonalen Stammzellen um einen unbestreitbar sehr
wichtigen, aber eben nicht um den einzig entscheidenden
Bereich der Forschung. Wer in diesen beiden Punkten für
Grenzziehung plädiert, wird sich vielen kritischen Fragen
danach stellen müssen, ob dies berechtigt ist und ob er die
Grenze richtig zieht. Aber er wird sich nicht vorwerfen
lassen müssen, dass damit der gesamten Forschungsrichtung und allen neuen Heilungschancen der Weg abgeschnitten würde.
({1})
Das heißt, es geht auf der materiellen Ebene nicht um
ein Ja oder Nein zur Gentechnik. Trotzdem halte ich es für
berechtigt, dass wir genau über diese Fragen mit so viel
Energie streiten; denn hier geht es um unser Menschenbild, unsere Werte, die Regeln unseres Zusammenlebens und vor allem auch darum, wie wir sie in
Zukunft im Angesicht der medizinischen Fortschritte gestalten wollen.
In der Bündnisgrünen-Fraktion haben wir uns mit einer
großen Mehrheit für eine Grenzziehung ausgesprochen,
die sich an der Unverfügbarkeit des menschlichen Embryos für die Auswahl von Kindern ebenso wie für die
fremdnützige Forschung festmacht. Selbst wenn wir in
der Fraktion eine große Mehrheit für diese Position haben,
so gibt es auch bei uns andere Meinungen und vor allem
- das ist in einer weltanschaulich nicht gebundenen Partei wie jener der Bündnisgrünen selbstverständlich - unterschiedliche Begründungen für diese Position. Dabei
verbindet uns das verfassungsrechtliche Gebot der Wahrung der Menschenwürde.
Bei der Präimplantationsdiagnostik stehen wir vor
der Frage, ob wir zulassen wollen, dass menschliche Embryonen sich nur dann zu Menschen entwickeln sollen,
wenn sie nicht Träger einer bestimmten genetischen
Krankheit sind. Wir, auch ich ganz persönlich, verstehen
gut die Angst der Eltern vor der Belastung für sie und das
Kind, die von dieser Erkrankung ausgeht. Trotzdem wollen wir dieses Verfahren nicht zulassen, weil wir nicht damit beginnen wollen, Kinder nach ihren gesundheitlichen
Eigenschaften auszuwählen.
({2})
Diejenigen, die für dieses Verfahren sprechen, verweisen darauf, dass es heute vielfach zu Schwangerschaftsabbrüchen kommt, wenn die künftigen Eltern im Verlauf
der Schwangerschaft die Information über die Behinderung ihres Kindes erhalten; dann sei es schonender, diesen Schwangerschaftskonflikt von vornherein zu vermeiden.
Ich möchte gegenfragen: Kann es sein, dass aus der immer mehr um sich greifenden Praxis, ein Kind wegen seiner künftigen Behinderung nicht anzunehmen, zwangsläufig folgt, diese Praxis auch noch zu vereinfachen? Oder
müssen wir nicht vielmehr andersherum fragen, warum
Eltern nicht den Mut fassen können, ein Kind mit einer
Behinderung anzunehmen? Wir alle stehen doch in der
Pflicht. Wir können etwas dafür tun, dass das Leben mit
einem kranken oder behinderten Kind nicht so schwer ist,
wie es den Eltern heute häufig gemacht wird.
({3})
Obwohl es schwer ist, nehmen heute viele Eltern diese
Herausforderung an. Sie zu unterstützen und den anderen
die Chance zu geben, dass sie so leben können, darum
sollten wir mit viel Energie streiten, statt darum, wie wir
das Leben mit einer Behinderung vermeiden können.
({4})
Deswegen plädiere ich dafür, die Praxis der pränatalen
Diagnostik und die daraus oft folgenden Schwangerschaftskonflikte in den Mittelpunkt unserer Überlegungen
zu stellen.
Diese Praxis muss uns auch beeindrucken, wenn wir
darüber sprechen, ob wir dieses Verfahren nicht wenigstens in engen Grenzen zulassen könnten, eine Frage, die
hier nahe liegt, wie Frau von Renesse gesagt hat. Aber mit
Blick auf diese Erfahrungen steht doch zu erwarten, dass
sich auch bei der Präimplantationsdiagnostik eine Begrenzung nicht einhalten lässt, dass die Nachfrage nach
diesem Verfahren steigen wird,
({5})
Andrea Fischer ({6})
sodass es immer selbstverständlicher sein wird, von künftigen Eltern zu verlangen, dass sie kein krankes Kind bekommen oder dass sie sich vielleicht sogar, wenn sie es
doch wollen, dafür rechtfertigen. Aber ein Kind braucht
doch gerade Eltern, die es annehmen, wie es ist, die es lieben, unabhängig von seiner Gestalt und seinen Fähigkeiten.
({7})
Diese Haltung steht nicht im Widerspruch zu unserer
Position zur Rechtslage hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs. Hier wird bei bestehenden Schwangerschaftskonflikten darauf verzichtet, das Grundrecht des
Kindes gegen den Willen seiner Mutter strafrechtlich
durchzusetzen. Die Frau hat das Recht, selbstbestimmt
eine Entscheidung zu treffen. Bei der PID aber gibt es
keine Schwangerschaft, die eine Notlage begründen
könnte und in der die Lebensansprüche gegeneinander abgewogen werden könnten.
Eine kritische Überprüfung der bestehenden Praxis bei
der Diagnose von behinderten Föten sollte uns alle zum
Nachdenken darüber anregen, ob das unsere Haltung zu
behinderten Menschen zum Schlechten verändert und ob
wir hier nicht zur Umkehr aufgefordert sind.
Keinesfalls aber kann es dabei um eine Gesetzesänderung gehen. Im Gegenteil verweise ich darauf, dass das
dem Geist des 1995 reformierten § 218 des Strafgesetzbuches entspricht, in dem die eugenische Indikation
ausdrücklich abgeschafft worden ist. Ich bin sicher, dass
niemand etwas gewinnt, wenn er die Entscheidungen, die
in der Biopolitik anstehen, mit einer Neuauflage der Diskussion um den § 218 verbindet.
({8})
Eine ebenso schwierige Entscheidung wird von uns bei
der Forschung mit Stammzellen erwartet, die unter dem
Verbrauch von Embryonen gewonnen werden. Das wäre
nach all den Schritten, die wir schon jetzt gegangen sind,
ein Schritt, der eine andere Qualität hat. Embryonen zu
verbrauchen hieße, menschliches Leben zu einem außerhalb seiner selbst liegenden Zweck zu benutzen. Es macht
aber doch gerade die Menschenwürde aus, dass der
Mensch für sich selbst steht, dass er keinem Zweck dienbar sein muss und sein darf.
Wir entkommen diesem Problem nicht, indem wir den
Status des Embryos erst graduell unter Schutz stellen.
Dies hieße, willkürlich eine Grenze zu setzen; denn die
Biologie hilft uns nicht mit einer eindeutigen Bestimmung, wann jenseits der Befruchtung noch einmal Einschnitte in den Entwicklungsprozess des Embryos zu
rechtfertigen sind. Eine einmal unter Nutzenkriterien gesetzte Grenze lässt sich jederzeit wieder verschieben;
denn der entscheidende Schritt wäre damit getan.
Das ist eine schwere Entscheidung. Denn die Aussagen
der Forscher über das, was sie sich davon erwarten, sind
sehr viel versprechend. Sie wird uns jedoch dadurch erleichtert, dass die Fortschritte bei der Forschung an
Stammzellen von Erwachsenen in letzter Zeit gewaltig
sind. Aber ich meine, dass es auch aus der Perspektive von
kranken und behinderten Menschen wichtig ist, dass
menschliches Leben nicht verfügbar ist. Dass der Schutz
des menschlichen Lebens an keine Bedingung geknüpft
wird, weder an Fähigkeiten noch an die Entwicklungsstufe, ist für uns alle ein Schutz, besonders aber für diejenigen Menschen, die dieses Schutzes aufgrund von
Schwächen insbesondere bedürfen.
({9})
Diese Diskussionen, die in einer breiten Öffentlichkeit
geführt werden, stehen erst am Anfang. Die Entscheidung
des Parlaments ist noch in weiter Ferne. Es wird auf uns
alle ankommen, wie wir diese Debatte führen. Sie braucht
gegenseitigen Respekt und Ernsthaftigkeit. Wir müssen
die Wünsche und die Ängste, die in dieser Debatte auftauchen, ernst nehmen. Es gibt keine falschen Wünsche.
Es kann aber gute Gründe geben, sie nicht zu erfüllen.
Keiner von uns sollte sich mit seiner eigenen Moral
hochmütig über die anderen stellen. Jeder von uns sollte
sich in dieser Diskussion immer wieder einmal durch die
Argumente des anderen verunsichern lassen.
({10})
Die Biowissenschaften haben uns neue Freiheiten geschenkt. Sie haben uns damit neue Fragen aufgegeben.
Der Mensch hat immer die Freiheit, sich für Selbstbeschränkung zu entscheiden.
({11})
Ich erteile dem Kollegen Edzard Schmidt-Jortzig, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Wie gut es ist, dass sich der Bundestag einmal ganz
grundsätzlich, und zwar vor einer konkreten Befassung
mit Regelungsvorhaben oder Gesetzentwürfen, über den
Bereich der modernen Biomedizin Gedanken macht, ist
schon mehrfach unterstrichen worden. Mir erscheint dabei in der Tat wichtig, die Erwägungen über den engeren
Bereich der reinen Gentechnik hinaus auf das ganze Feld
neu in den Blick gekommener Grundbelange menschlicher Existenz zu erstrecken.
Der Fächer staatlicher Regelungsbedarfe ist angesichts des medizinisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts umfassend geöffnet; machen wir uns da bitte überhaupt nichts vor. Dieser Fächer beginnt mit der Spende
von Keimzellen und deren künstlicher Verschmelzung,
den Möglichkeiten genetischer Diagnostik an embryonalen Stammzellen und der Erforschung sowie Klonierung
dieser Bestandteile. Er umfasst pränatale Biopsien, die selektive Abtreibung von Föten, die Gentherapie sowie den
Keimbahneingriff und reicht bis zum Ende des menschliAndrea Fischer ({0})
chen Lebens, bis zu den Fragen von Sterbehilfe, Patientenselbstbestimmung und den Bedingungen von Organentnahmen. Es ist wichtig, diese Einzelprobleme immer
als Teil eines Gesamtbogens zu sehen, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht.
({1})
All unsere Gestaltungs-, all unsere Steuerungs- und
Regelungsbemühungen haben sich auf das Wohl des
Menschen hin auszurichten und nicht irgendwelche abstrakten Vorteile ins Auge zu nehmen:
Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der
Staat um des Staates willen.
Dies war bekanntlich der Eingangsartikel im Vorentwurf
unserer Verfassung und gilt inhaltlich heute noch immer
und genauso - und vielleicht mehr denn je.
Dafür hilft aber sicherlich eine Beschwörung guter alter medizinischer Idylle wenig. Der Rubikon für die Möglichkeit des Eingriffs in die menschlichen Lebenssubstanzen ist am Beginn des Lebens mit der Zulassung von
In-vitro-Fertilisationen und am Ende des Lebens mit der
Gestattung von Organtransplantationen längst unwiderruflich überschritten.
({2})
Sich hier heute noch im Stand der Unschuld und in der
vollen Entscheidungshoheit über Gut und Böse oder Ja
oder Nein zu wähnen wäre reichlich realitätsfern.
({3})
Zu viele Einzelentscheidungen haben schon Richtpunkte gesetzt. Dazu gehört auch, verehrte Frau Kollegin
Fischer, § 218 a Abs. 2 StGB.
({4})
Das kann man auch mit noch so hohem Argumentationsaufwand nicht mehr ungeschehen machen. Die Zulassung
etwa der Tötung von Föten - mit welch guten Gründen
auch immer - steht natürlich im Abgleich mit der Frage
einer Zulässigkeit des Tötens von Embryonen. Die dankbare Hinnahme von Zellkultivierung und Implantationen
bei Läsionstherapien von Blutsubstanzen, Haut oder
Rückenmark hat natürlich Vorwirkungen auf das therapeutische Klonieren anderer Zellen. Es ist ein Flickenteppich einzelner Präjudizien entstanden, die zusammenzuführen nur schwer noch gelingen will. Auch um deswillen
ist eine Besinnung auf das Grundsätzliche unerlässlich.
In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit will
ich dazu nur zwei Stichworte geben:
Erstens. Es wird gewiss darum gehen, verlässlich die
Bedingungen menschlichen Lebens, das heißt, seinen für
das Recht maßgeblichen Beginn und sein Ende zu bestimmen, und damit die Skala seines ethischen wie rechtlichen Schutzbedarfs festzulegen.
Gleiches gilt - wahrscheinlich noch viel grundsätzlicher und schwieriger - für die Menschenwürde. Lebensschutz und Würdeschutz sind jedenfalls deutlich auseinander zu halten. Beide betreffen ganz unterschiedliche
Ebenen menschlicher Realität: der Lebensschutz die physische, der Würdeschutz die geistig-reflektorische. Leben
ist ein biologisches Faktum, Würde eine soziale Wertung.
Nichts ist in dem schwierigen Diskurs störender und vernebelnder als der immer wieder zu hörende sich auf die
Verfassung stützende Vorwurf, hier werde aber nun doch
die Würde des menschlichen Lebens bedroht. So steht es
eben nicht in der Verfassung. Es geht in Art. 1 Grundgesetz vielmehr um die Würde des Menschen und nicht des
menschlichen Lebens. Das körperliche Element von Leben und Gesundheit wird dagegen in Art. 2 Grundgesetz
unter völlig anderen Bedingungen geschützt. Wer immer
dies durcheinander wirft - egal, ob bewusst oder unbewusst und von welch hohem Podest auch immer - und
dazu noch - wie kürzlich geschehen - die Verfassungskeule schwingt, der verhindert eine angemessene, differenzierte Linienführung und Linienfindung.
({5})
Menschenwürde ist eben gegen nichts abwägbar, auch
mit noch so vielen guten Gründen nicht. Dies war - jedenfalls in meinen Augen - auch das Missverständnis in
der Abtreibungsdebatte. Menschenwürde ist, wie die Verfassung sagt, unantastbar. Der Schutz des Menschenlebens aber lässt sehr wohl Einschränkungen zugunsten anderer Rechtsgüter zu. So steht es ausdrücklich im
Grundgesetz. Dies ist auch für eine intakte, tragfähige Gesellschaftsordnung unerlässlich.
Zweitens, meine sehr verehrten Damen und Herren
Kollegen, muss von Beginn an jedem gedanklichen Absolutismus abgeschworen werden. Es gilt, die verschiedensten Facetten, Rechtsbelange, Zwecke, Interessen und
Schutzbedürfnisse zu berücksichtigen und gegebenenfalls
durch wechselseitige Aufeinanderabstimmung zu harmonisieren. Bei der Präimplantationsdiagnostik geht es eben
nicht nur um kompromisslosen Schutz des embryonalen
menschlichen Lebens, sondern auch um die sozialen
Chancen des künftigen Kindes, um das psychische
Zurechtkommen der Eltern mit seiner begrenzten Perspektive und den ärztlichen beruflichen Heilungs- und
Leidensvermeidungsauftrag.
Hüten wir uns also - das wäre mein größter Wunsch in
dieser Debatte - in diesem hochdifferenzierten sensiblen
Gelände vor Einseitigkeiten und Fundamentalismen, vor
unkritischem Fortschrittsglauben genauso wie vor bunkerhafter Fortschrittsverweigerung.
Aufgegeben sind uns ein mühsames, intensives Abwägen zwischen den verschiedensten Aspekten und die Suche nach Ausgleich zwischen all dem Gegenläufigen. Die
heutige Debatte kann dafür nur ein erster, ein vager Anfang sein.
Danke sehr.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Spannende und zugleich
das Verführerische in dieser Bioethikdebatte ist doch
wohl, dass Chancen und Gefahren so dicht beieinander
liegen. Ich finde es gut, hier mitzuerleben, wie wir Abgeordneten uns als Suchende, Hoffende, zu wenig Wissende
öffentlich darstellen, wo wir doch sonst als Politikerinnen
und Politiker gern die Wegweisenden, die Alleswissenden
geben. Zu dieser Offenbarung will ich gern beitragen und
unumwunden eingestehen, dass wir demokratischen Sozialisten uns dabei schwer tun, weil tradierte Wertevorstellungen für diese Debatte nicht ausreichen. Das geht
uns wohl nicht allein so. Ich finde es auch ehrlich, dass
man uns das anmerkt.
Die PDS-Fraktion vertritt in dieser Debatte verschiedene Positionen und wir werden das auch kenntlich machen. Der einigende Grundsatz heißt auch für uns: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar.“
Ich will dem Herrn Bundespräsidenten nicht näher
treten, als das für ihn unschädlich ist, aber für seine Berliner Rede zu diesem Thema gibt es in meiner Fraktion
sehr viel Zustimmung. Das zu sagen muss dann ja auch erlaubt sein.
({0})
Johannes Rau hat schwierige Dinge so gesagt, dass
alle, die es denn wollen, ihn verstehen können. Ich fände
es gut, wenn diese Art des Umgangs mit dem Thema vom
Fernsehen aufgegriffen würde, ich will sagen: in einer Art
Serie und nicht Talkshow, im Sinne von Aufklärung und
nicht zum Zwecke medialer Schaukämpfe.
Ich will dem Versuch das Wort reden, uns alle hier im
Bundestag nicht hastig in verschiedene Lager einzuteilen.
Was zum Teufel treibt uns eigentlich zu einer vorschnellen Polarisierung? Sind es nicht die selbst geschaffenen
Zwänge, wegen vermeintlicher Klarstellung und Erkennbarkeit Fronten aufzumachen und uns an den Polen zu
versammeln? Ist es so sonderlich demokratisch, die Fraktionsgrenzen aufzuheben, um sich sofort danach in oder
hinter neuen Gräben wieder einzurichten?
({1})
Warum in aller Welt müssen wir ganz am Anfang einer
wirklich großen Debatte zuerst über die Versetzung von
Rechtsnormen reden? Das leuchtet mir nicht ein. Warum
können nicht die Argumente in gegenseitiger Achtung erst
einmal ausgetauscht werden?
Lassen Sie uns doch zunächst über die Chancen, vor
allem über die vielen ungenutzten Chancen, reden. Die
Wendung „Es ist viel Raum diesseits des Rubikon“ hat
Johannes Rau ja sehr treffend formuliert. Diesseits des
Rubikon ist mit moderner Biotechnologie auch jede
Menge neuer Arbeit denkbar, zum Beispiel in der Anwendung der Tropenmedizin, bei der Aidsbekämpfung, bei
der Abwehr wiederkehrender Seuchen wie der Tuberkulose, auch bei der Bekämpfung von Hungersnot. Es wäre
daher verantwortungslos, den öffentlichen Eindruck zu
verbreiten, mit Biotechnologien könnten Arbeitsplätze
nur dort entstehen, wo gerade die Goldrauschmentalität
der Gentechnik zu Hause ist.
({2})
Ich meine, die Debatte läuft auch deshalb so, wie sie
momentan läuft, weil Politik ihrer gesellschaftlichen Verantwortung heute nicht ausreichend gerecht wird. Es ist
ein Bild etwa der Art verbreitet, Hightech sei modern und
Ethik sei etwas von gestern. Ich meine, das darf so nicht
hingenommen werden. Was wir brauchen, ist eine politische Verantwortungsgemeinschaft, in der fachwissenschaftlicher und ethischer Vorlauf befördert werden. Das
nenne ich modern.
({3})
Die Menschheitsgeschichte zeigt doch deutlich genug,
dass ihr nicht alles, was im Namen von Fortschritt und
Modernisierung angelegt war, auch zum Nutzen gereichte. Natürlich brauchen wir Wissenschaftsfreiheit,
aber zugleich auch die gesellschaftliche Abwägung der
Folgen von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es
geht doch nicht an, nach der Logik zu verfahren: Forschungsfreiheit jetzt, industrielle Vermarktung sofort und
die Folgenabschätzung kommt irgendwann später.
({4})
Rechtliche Schranken machen einen Sinn, solange die
Folgen neuer Technologien nicht einigermaßen ergründet
sind; ich weiß, ganz geht das nie. Man erwirbt sich so auch
den wenig beliebten Titel eines Bedenkenträgers. Sei es
drum - das ist mir lieber, denn als Träger von Bedenkenlosigkeit zu gelten.
({5})
Stefan Heym hat im Juni 1989 - also vor zwölf Jahren,
und wenn wir uns erinnern, in einer noch anderen Welt in einer Debatte unter dem Titel „Über eine Ethik von
morgen“ in Frankfurt am Main vor den Folgen des Ausbleibens gesellschaftlicher Vernunft bei der ungezügelten
Anwendung und Vermarktung der Gentechnik gewarnt.
Er sagte:
Es stimmt nicht mehr, dass erst das Fressen kommt
und dann die Moral - nein, wenn nicht die Moral sein
wird, zuerst und allzeit von nun an, wird es nichts
mehr zu fressen geben und nichts mehr zu atmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns über
die Verantwortung von moderner Politik für Technologieentwicklung unvoreingenommen, aber verantwortungsbewusst streiten und dann entscheiden, damit nicht eintritt, wovor uns Stefan Heym einst warnte.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile dem Abgeordneten Gerhard Schröder, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, das Wichtigste, was in dieser
Debatte deutlich geworden ist, ist, dass wir nicht nur für
die Inhalte dessen, was gesagt wird, sondern auch für die
Form Verantwortung haben und nach dem Ablauf der Debatte auch wahren. Deswegen war es wohltuend, dass hier
niemand dem Andersdenkenden Gewissen, Moral, auch
Ernsthaftigkeit abgesprochen hat.
({0})
Niemand bestreitet, dass die wichtigste Grenze, die uns
gesetzt ist, Art. 1 des Grundgesetzes ist. Das ist eine
Grenze, die von der Würde des Menschen handelt. Sie ist
und sie bleibt für uns unantastbar. Ich denke, dies eint uns.
Worüber wir aber streiten und weiter streiten werden, ist,
was das denn im Einzelnen heißt, was also bezogen auf
unsere Handlungen im Einzelnen ethisch vertretbar ist
und was nicht.
Diese Fragen zu entscheiden, das setzt zunächst einmal
möglichst viel an Information voraus, und zwar an umfassender und vorurteilsfreier Information. Das bezieht
sich nicht nur auf diejenigen, die hier an der Debatte teilnehmen, sondern auf die ganze Gesellschaft. Nur eine Gesellschaft, die Bescheid weiß und offen über Optionen
diskutieren kann, ist in der Lage, über eine solch schwer
wiegende Zukunftsfrage wie die der umfassenden Nutzung der Gentechnik zu entscheiden.
({1})
Entgegen manchem Missverständnis möchte ich sagen, dass der von mir einberufene Nationale Ethikrat
kein Ersatzparlament sein soll. Das könnte er auch gar
nicht.
({2})
- Vielleicht kann man das in dieser Diskussion mal lassen.
Der Ethikrat soll kein Ersatzparlament sein; er bietet
die Möglichkeit, die Diskussion in der Gesellschaft zu erweitern und sachverständiger werden zu lassen und sie
immer wieder zu bereichern. Natürlich ist er auch eine
Möglichkeit, sachverständigen Rat zu geben. Ich denke,
dagegen spricht wenig.
Herr Kollege
Schröder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert?
Nein, ich würde meine
Rede gerne im Zusammenhang vortragen.
Zu den umstrittensten Themen gehört sicherlich - das
ist auch hier deutlich geworden - der Embryonenschutz.
Soweit ich die Diskussion verfolgen konnte, bietet das bestehende Embryonenschutzgesetz einerseits ausreichenden Schutz und lässt andererseits genügend Spielraum für
Wissenschaft und Forschung. Ich meine deshalb, dass wir
gut beraten sind, dieses Gesetz nicht vorschnell zu ändern.
Wir können uns also auf der Basis dieses Gesetzes für eine
ausführliche, offene und gewissenhafte Diskussion Zeit
lassen. Darum geht es uns allen.
({0})
Ich stimme Herrn Schmidt-Jortzig ausdrücklich zu,
wenn er darauf hinweist, dass uns der Rückgriff auf das
Verfassungsgericht zurzeit wenig hilft; denn sowohl Altbundespräsident Roman Herzog als auch die Präsidentin
des Bundesverfassungsgerichts haben überzeugend deutlich gemacht, dass zu dieser Frage die Judikatur des Gerichts nicht vorliegt. Das Gericht ist mit dieser Frage - jedenfalls bislang - nicht direkt beschäftigt worden. Wer
also den Gesichtspunkt der Verfassungswidrigkeit des einen oder anderen Handelns bemüht, sollte diese Stimmen
unbedingt zur Kenntnis nehmen.
({1})
Das eigentliche Potenzial der Gentechnik liegt darin,
neue Medikamente und neue Behandlungsmethoden zu
entwickeln, mit denen schwerste, bisher nicht heilbare
Krankheiten unter Umständen geheilt oder gelindert werden können. Sicherlich ist die religiös motivierte Position
zu respektieren, die das Schicksal von Schwerstkranken
und Patienten, die zum Beispiel an Krebs, Alzheimer,
Parkinson, Mukoviszidose oder an einer anderen Krankheit leiden, als bedauerlich, am Ende aber unabänderlich
empfindet. Aber ich frage mich: Ist nicht der Wunsch, die
ärztliche Pflicht, alles nur Menschenmögliche für die Heilung schwerstkranker Menschen zu unternehmen, ebenso
zu respektieren?
({2})
Ich denke, die Ethik des Heilens und des Helfens verdient
ebenso Respekt wie die Achtung der Schöpfung. Ich sehe
nicht, dass wir in einer Situation sind, in der sich beides
gegenseitig ausschließt.
({3})
Ich bin der festen Überzeugung: Man darf den Forschern, die beispielsweise große Hoffnungen in die
Stammzellenforschung setzen, nicht pauschal dunkle, unethische Motive unterstellen. Es mag auch unter Wissenschaftlern Aufschneider und Scharlatane geben, aber die
allermeisten forschen Tag für Tag mit dem großartigsten
Ziel überhaupt, nämlich Menschenleben zu retten. Dafür
haben sie Respekt und Anerkennung verdient.
({4})
Wir stimmen sicherlich darin überein, dass das medizinische und therapeutische Potenzial der Gentechnik nicht
allein - darin stimme ich Ihnen zu, Frau Fischer -, aber
doch auch von der Forschung an Stammzellen abhängt.
Es besteht in der Gesellschaft augenscheinlich Einigkeit
darüber, dass die Forschung mit adulten Stammzellen erlaubt ist, ja sogar noch intensiviert werden soll. Wie aber
verhält es sich mit den embryonalen Stammzellen? Es gibt
eine Reihe von Forschern, die embryonale Stammzellen
für wirksamer halten, wenn es um die Entwicklung neuer
Therapiestrategien zur Ersetzung abgestorbener Zellen
geht. Es gibt jene in unserem Land, die auf die Notwendigkeit vergleichender Forschung hinweisen. Das Embryonenschutzgesetz von 1991 schließt die Herstellung
von Embryonen allein zu Forschungszwecken aus. Ich
denke, dabei sollte es bleiben.
({5})
Aber wie wollen wir es mit den überzähligen befruchteten Eizellen halten, die bei der künstlichen Befruchtung
in Deutschland anfallen? Nach Schätzungen lagern mehr
als 100 Embryonen in Deutschland. Unser Gesetz erlaubt
eine künstliche Befruchtung nur, um eine Schwangerschaft herbeizuführen. Genau dafür aber werden diese
befruchteten Eizellen nicht mehr benötigt. Die Frage ist:
Was wird mit ihnen passiert? Ist es angesichts der Alternative, sie wegzuwerfen, nicht doch vertretbar, begrenzte
Forschung an ihnen zu ermöglichen? Diese Frage wird
uns nicht loslassen.
({6})
Noch eine andere Frage bewegt mich: Laufen wir nicht
Gefahr, den Streit um die PID überzubewerten? Die PID
ist ein rein diagnostisches und kein therapeutisches Verfahren.
({7})
Bei ihr findet kein Eingriff in die Erbsubstanz statt. Mit
der PID werden somit keine genetisch veränderten Menschen erzeugt. Die Befürworter der PID sagen, aufgrund
einer medizinischen Indikation könne eine Schwangerschaft straffrei abgebrochen werden. Statt die entsprechenden Tests erst im Mutterleib vorzunehmen,
plädieren sie dafür, diese Tests bei genetisch belasteten
Eltern bereits vorher zuzulassen. Ich denke, dafür gibt es
Gründe, die achtbar sind.
({8})
Ist der Rubikon wirklich überschritten, wenn ein Verfahren, das im Mutterleib angewendet werden darf, unter
den gleichen Bedingungen - das ist zu betonen - wie bei
der medizinischen Indikation auf Embryonen, die durch
künstliche Befruchtung entstanden sind, übertragen werden soll? Ist das ein Verfahren, das man wirklich unter
allen Umständen ausschließen darf? Ich meine: nein.
({9})
Ich meine, dass wir dieses Verfahren in genau den gleichen Grenzen verantworten können, in denen wir eine
medizinische Indikation zulassen. Ich will auf eines
hinweisen: Dies bei uns zu ermöglichen, gibt uns die
Chance, die Grenzen zu setzen, ohne zusehen zu müssen,
dass sie in anderen Ländern überschritten werden. Es geht
um schwierige Abwägungsfragen. Die heutige Debatte
wird ein wichtiger und ein für alle hilfreicher Beitrag sein;
aber eben nur ein einzelner Beitrag.
Die Diskussion muss und wird weitergehen. Das ist gut
so und hilfreich für die politische Kultur in unserer
Gesellschaft. Dabei werden wir uns immer wieder klarmachen, dass wir in schwierigen Abwägungsfragen in
einer doppelten Hinsicht Verantwortung tragen, weil wir
nicht nur für uns selber, sondern für die gesamte
Gesellschaft und ihre Entwicklung verantwortlich sind.
Eine Verantwortung haben wir für das, was wir tun, wir
haben aber auch eine Verantwortung für das, was wir unterlassen.
({10})
Dies - und nicht platter Ökonomismus - ist gemeint,
wenn ich darauf hingewiesen habe, dass wir auch die Folgen des Unterlassens für Forschung und Entwicklung
und damit für die Richtung, die unsere Gesellschaft
nimmt, zu bedenken haben.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({11})
Ich erteile dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Der Abgeordnete
Schröder hat in seiner Funktion als Bundeskanzler - ich
denke jedenfalls, so war es gemeint - auf die Funktion
und Bedeutung des von ihm eingesetzten Ethikrates
hingewiesen. Dieser Nationale Ethikrat, wie er
genannt wird, wird in der nächsten Woche zum ersten
Mal zu einer Sitzung zusammentreten.
Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, dass diese Debatte, die
wir heute führen, nicht in der zeitlichen Abfolge zwischen
Parlamentsdebatte und Sitzung des Nationalen Ethikrates
in der nächsten Woche eine reine Alibifunktion hat.
({0})
Ich sage das deshalb, weil ich mir gewünscht hätte, dass
es aus den beiden, die Regierung tragenden Fraktionen,
den Mehrheitsfraktionen, einen scharfen Protest gegen
die Einsetzung eines solchen Nationalen Ethikrates
gegeben hätte.
({1})
Dieses Gremium - so empfinde ich es jedenfalls - ist eine
Zumutung für den Deutschen Bundestag, der zu Beginn
dieser Legislaturperiode eine Enquête-Kommission
eingesetzt hat, die sich genau zu diesem Sachverhalt so
sachkundig machen soll, dass der Deutsche Bundestag
eine Entscheidungsgrundlage findet.
({2})
- Die Ernsthaftigkeit des Themas spricht ja nicht dagegen,
dass auch kritische Fragen angesprochen werden.
({3})
Ich beobachte insbesondere bei diesem Thema mit
großer Sorge eine voranschreitende Entparlamentarisierung der Politik in Deutschland.
({4})
Deswegen hoffe ich, dass es so ist und auch so bleibt, wie
Sie es gesagt haben, dass nämlich nicht etwa in Beiräten
der Regierung, sondern hier im Parlament die notwendigen Debatten geführt und Entscheidungen getroffen werden.
({5})
Wir sind uns einig, dass die moderne Biotechnologie
und die Gentechnik große Chancen beinhalten. Chancen
zur Heilung von Krankheiten, gewiss auch große
wirtschaftliche Chancen. Ich will auch heute Morgen darauf hinweisen, dass diese großen Chancen nicht erst von
der neuen Regierung gesehen worden sind.
({6})
- Es mag ja sein, dass Sie darauf mit Zwischenrufen
reagieren, meine Damen und Herren,
({7})
aber auch der Kammerton dieser Debatte darf nun wirklich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die alte Bundesregierung war, die gegen den erbitterten Widerstand
der damaligen Opposition von SPD und Grünen das
durchsetzen musste, was in der Bundesrepublik Deutschland bis heute in Fragen der Biotechnologie und der Gentechnik erreicht worden ist.
({8})
Ich füge eine weitere kritische Anmerkung hinzu: Herr
Bundeskanzler, Sie haben uns aufgefordert, die Debatte
über Fragen der Biomedizin und der Biotechnologie ohne
ideologische Scheuklappen zu führen. Dieses Wort haben
Sie heute Morgen dankenswerterweise nicht wiederholt.
Sie haben es zu einem Zeitpunkt gesagt, an dem Ihre Bundesregierung auf dem Höhepunkt der Krise um BSE und
Maul- und Klauenseuche aufgefordert hat, man solle
jetzt im Bereich der so genannten grünen Gentechnologie
eine Atempause einlegen und zunächst einmal auf diesem
Weg nicht weiter vorangehen.
({9})
Hier geraten die Prioritäten und die Maßstäbe durcheinander. Die ethisch und moralisch viel weniger
diskussionsbedürftige so genannte grüne Gentechnologie hätte gerade angesichts der Krise um BSE und
Maul- und Klauenseuche eine verstärkte Zuwendung
der Politik sowie Anstrengungen in der Forschung und
Entwicklung verdient.
({10})
Lassen Sie mich etwas zu den Chancen und den
Risiken sagen, die sich durch die Biomedizin ergeben:
Wir stehen ganz gewiss erst am Anfang der modernen
Fortpflanzungs- und Zellbiologie. Damit werden viele
Hoffnungen verbunden. Es werden vermutlich auch viele
Hoffnungen enttäuscht werden. Ich stimme jedenfalls all
denjenigen zu - Frau von Renesse, Sie haben es heute
Morgen sehr eindrücklich gesagt -, die mit diesen neuen
Erkenntnissen und Möglichkeiten quasi religiöse
Heilsversprechen verbinden. Es wird aber auch enttäuschte Hoffnungen mit der Biomedizin geben.
Meine Damen und Herren, es werden uns eine Reihe
von alten Fragen neu gestellt, vor allem die Fragen: Was
ist menschliches Leben? Wann beginnt menschliches
Leben? Bleibt menschliches Leben ungeteilt und ohne
Abstufungen schützenswert?
Weitgehende Übereinstimmung besteht in Wissenschaft und Politik bisher wohl darüber, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle beginnt. Von diesem Zeitpunkt an entwickelt es
sich - hier gibt es Hinweise in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes - nicht zum Menschen, sondern von dieser Verschmelzung an entwickelt es sich als
Mensch.
({11})
Deswegen müssen diejenigen, die den Zeitpunkt des
Beginns menschlichen Lebens etwa auf den Zeitpunkt,
von dem an die Fähigkeit der Selbstachtung besteht, verschieben wollen, wie der Staatsminister im Bundeskanzleramt gesagt hat, wissen, dass damit nicht nur am Beginn
des menschlichen Lebens, sondern auch während und
am Ende des menschlichen Lebens der bisher absolute
Schutz unseres Grundgesetzes relativiert wird.
({12})
Ich wünsche mir jedenfalls, dass es dabei bleibt, dass
die Unantastbarkeit der Würde nicht nur dem Embryo,
sondern auch dem schwer Geisteskranken, dem schwerbehinderten Kind und dem im Alter schwer Demenzkranken niemals abgesprochen werden darf.
({13})
Es mag andere Setzungen geben, die den Beginn des
menschlichen Lebens und damit den Beginn des
Schutzes seiner Würde zutreffend bestimmen, etwa - darüber wird diskutiert - den Beginn der Schwangerschaft
zwei Wochen nach der Befruchtung mit der Nidation der
befruchteten Eizelle in der Gebärmutter. Wer aber diesen
Zeitpunkt annimmt, der muss wissen: Dann gibt es auch
keinen unbedingten Rechtsschutz für im Reagenzglas befruchtete Eizellen vor ihrer Einpflanzung mehr; deren
Zeitpunkt ist bekanntlich an Fristen nicht gebunden.
Meine Damen und Herren, diese bisherige Überzeugung, dass menschliches Leben mit der Befruchtung beginnt, muss meiner Meinung nach beachtet werden, wenn
es um die Zulässigkeit der so genannten PID, der
Präimplantationsdiagnostik, geht. Natürlich geht es bei
der Präimplantationsdiagnostik nicht um Diagnose, sondern um die Konsequenzen aus der Diagnose, nämlich um
die Entscheidung über Einpflanzung oder Vernichtung der
befruchteten Eizelle.
({14})
Hier lege ich Wert auf Klarheit in der Sprache. Wollen wir
uns dann wirklich anmaßen zu entscheiden, welche
genetischen Defekte der befruchteten Eizelle ihre Vernichtung erlauben?
({15})
Ich weiß, wir haben alle die Bilder von Kindern mit
schwersten genetisch bedingten körperlichen und geistigen Defekten vor Augen. Ihre Spätabtreibung wäre nach
geltendem Recht in vielen Fällen in Deutschland erlaubt.
Aber im Reagenzglas werden genauso wie die schweren
genetischen Defekte auch positive genetische Dispositionen feststellbar sein. Wo ist die Grenze? Wer trifft die
Entscheidung? Wer garantiert, dass mit PID der Selektion
nicht Tür und Tor geöffnet wird?
({16})
Meine Damen und Herren, bei der Entscheidung dieser
schwierigen Frage werden uns - jedenfalls nach meiner
festen Überzeugung - die Regeln über die Indikation
beim Schwangerschaftsabbruch nicht weiterhelfen,
denn anders als bei der Abwägung zwischen zwei prinzipiell als gleichwertig angesehenen Rechtsgütern, nämlich
dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes und dem
Leben der Mutter, fehlt es bei der PID gerade an dieser
Gleichwertigkeit zweier gegeneinander abzuwägender
Rechtsgüter. Dem Schutzrecht der befruchteten Eizelle
kann kein gleichwertiger Anspruch der Eltern auf Geburt
eines Kinder oder gar auf Geburt eines gesunden Kindes
entgegengehalten werden. So hart das für die Betroffenen
klingen mag: Es gibt in unserer Rechtsordnung keinen
Anspruch auf die Geburt eines gesunden Kindes.
({17})
Den Maßstab dafür bestimmt unsere Verfassung. Er
kommt in Art. 1 unseres Grundgesetzes zum Ausdruck.
Dieser Artikel ist nach Maßgabe der Präambel formuliert,
eben nicht wertneutral, sondern, so heißt es dort, in „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Lassen Sie uns
bei allem, was noch im Detail geklärt werden muss, nie
diesen Wertmaßstab unseres Grundgesetzes aus dem
Blick verlieren. Er ist Maßstab für alle Entscheidungen,
die wir im Deutschen Bundestag zu treffen haben.
({18})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten!
Ich glaube, wir Abgeordnete, das gesamte Parlament, haben allen Grund, selbstbewusster als der Kollege Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion zu sein,
({0})
Selbstbewusster, weil ich mir ganz sicher bin, dass sich
dieses Parlament die Aufgabe, über das auf der heutigen
Tagesordnung stehende schwierige Thema ernsthaft zu
diskutieren und Entscheidungen zu treffen, nicht von
Kommissionen, Institutionen und zahllosen Diskutanten
aus Publizistik und Wissenschaft aus der Hand nehmen
lassen wird.
({1})
Ich denke, Herr Kollege Merz, anders wird ein Schuh
daraus: Wenn wir die Ratschläge und Beiträge aus Publizistik und Wissenschaft in unserem parlamentarischen Beratungsprozess selbstbewusst aufnehmen, dann
werden wir wie schon in vergleichbaren anderen schwierigen Debatten - ich erinnere an die Diskussion über das
Transplantationsgesetz - substanzvolle und auch tragfähige Entscheidungen treffen können. Das scheint mir der
richtigere Weg zu sein, als über irgendwelche Kommissionen zu räsonieren.
In den letzten Monaten wurde zu Recht immer wieder
eine offene Debatte im Parlament eingefordert. Heute
führen wir sie. Aber diese Debatte braucht auch inhaltliche Standpunkte und Positionen. Eine Diskussion zwischen Menschen und Gruppierungen ohne Standpunkte
ist schlechterdings nicht möglich. Ich glaube auch, dass
die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ein Anrecht
darauf haben, zu erfahren, welche Position die Parteien zu
der wichtigen Frage der Biotechnik einnehmen. Wenn ich
es richtig sehe, dann gibt es in dieser Hinsicht noch einen
gewissen Nachholbedarf. Deshalb ist es gut, dass wir uns
darauf einvernehmlich verständigt haben, uns ausreichend Zeit für diese Diskussion zu lassen und Entscheidungen in dieser wichtigen Frage erst in der nächsten Legislaturperiode zu treffen.
Durch die Entwicklung der Biotechnologie sind
Grundwerte und Grundrechte berührt, die unser Selbstverständnis angehen, also die Art und Weise, wie wir uns
selber als Individuen und als Gesellschaft ethisch verorten. Deshalb ist es unverzichtbar - das tun wir ja heute -,
dass wir zuallererst eine ethische Debatte führen.
Aber wir wissen auch, dass die ethischen Fragen sehr
schwierig und komplex sind. Die Herausbildung eines
ethischen Standpunkts ist immer ein äußerst anstrengender Prozess, der ein hohes Maß an Selbstverständigung und Differenzierung erfordert.
Wir haben es mit mehreren konkurrierenden Grundwerten zu tun, die alle höchsten Verfassungsrang genießen. Es geht um den Schutz des menschlichen Lebens
in einem frühen Stadium, um den Anspruch Kranker und
Behinderter auf Heilung und um die Frage, in welcher Gesellschaft wir in Zukunft leben wollen.
Ich glaube, gerade diese Frage haben wir noch zu wenig beleuchtet. Welche Vorstellungen von Identität legen
wir zugrunde? Und wie sind die emanzipatorischen Wurzeln unserer modernen Gesellschaft einzuordnen - was
wird aus den Werten Freiheit und Selbstbestimmung?
In komplexen modernen Gesellschaften wächst die
Verunsicherung und die Sehnsucht nach den einfachen
Antworten. Die einfache Antwort ist jedoch oft unFriedrich Merz
ethisch, da sie sich eben nicht auf die unterschiedlichen
Facetten der moralischen Frage einlässt.
({2})
Ich will meine Warnung noch etwas genauer fassen. Die
Entwicklung der Gentechnik ist eine Herausforderung, die
eine deutliche ethische Antwort und klare Grenzziehungen
braucht. Ich glaube, dass eine ethische Position und eine
ethische Grenzziehung umso stärker ist, je mehr sie den
verschiedenen Aspekten von Menschenwürde gerecht
wird und insofern eine differenzierte und damit auch moralisch angemessene Antwort gibt.
({3})
Die Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft
- das wissen wir, das geht ja auch bei uns so, das müssen
wir eingestehen - ist doch hin- und hergerissen zwischen
verschiedenen moralischen Aspekten, die mit der Gentechnik verbunden sind. An einem Tag lesen sie von den
Heilungschancen, die sich eröffnen, und sehen die Chancen dieser Technologie. Am nächsten Tag lesen sie vom
Klonen von Menschen und Embryonenverbrauch und
sind zutiefst skeptisch und ablehnend. Seien wir ehrlich:
Ein Stück weit tragen wir diese Ambivalenz doch auch
alle in uns selbst; denn hier konkurrieren nicht etwas Moralisches und etwas Unmoralisches, sondern hier konkurrieren zwei moralische Impulse. Das macht die Sache etwas schwierig.
({4})
Ich bin überzeugt davon, dass nur derjenigen Position
Glaubwürdigkeit zugebilligt wird, der es gelingt, beiden
Impulsen gerecht zu werden und sie in einem Konzept
von Menschenwürde und Schutz des menschlichen Lebens zu integrieren.
Meine Kollegin Fischer hat unsere Position, die in dem
Papier „Politik in der Verantwortung“ festgehalten ist
und die ja breite öffentliche Resonanz bekommen hat,
ausführlich dargelegt. Wir haben damit die massiven Gefahren für Menschenwürde, Menschenleben, Selbstbestimmung und Pluralität aufgezeigt. Sie sind für meine
Begriffe und aus unserer Sicht Grund genug, der Gentechnik, insbesondere auch in den beiden konkreten Problemkreisen, die hier diskutiert werden, PID und Stammzellenforschung, mit einer kritischen Grundhaltung
gegenüberzutreten. Der Schutz der Embryonen verbietet
eine verbrauchende Forschung an embryonalen Stammzellen wie auch eine Auslese durch PID. Gleichzeitig nehmen wir die Hoffnung der Kranken und die Sorgen der Eltern sehr ernst und wollen Gentechnik deshalb dort
zulassen, wo sie den Menschen tatsächlich hilft und sie
nicht gefährdet. Bei der Herstellung von pharmazeutischen Produkten in Diagnostik und Therapie beispielsweise eröffnete die gentechnische Forschung viele neue
Möglichkeiten, die wir weiter fördern wollen.
Wir haben damit, meine ich, einen Versuch unternommen, Freiheit und ethische Verantwortung zu verbinden,
da wir der festen Überzeugung sind, dass Freiheit ohne
ethische Verantwortung ein Wegbereiter der Unfreiheit
ist. In diesem Sinne wollen wir diese Diskussion weiter
begleiten und die Entscheidung mitgestalten.
Danke schön.
({5})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wir diskutieren komplizierte
Fragen der Menschenwürde, des menschlichen Lebens
und medizinischer Potenziale in einer offenen Gesellschaft. Die offene Gesellschaft hat mit der Aufklärung begonnen. Die drei Fragen von Immanuel Kant „Was kann
ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ sind
die Fragen, die uns bewegen.
Diese Debatte haben schon andere Gesellschaften
- auch solche in unserer europäischen Nachbarschaft mit den gleichen Verfassungsbestimmungen, mit den gleichen Argumenten über Menschenwürde, mit der gleichen
Zivilisations- und Kulturgeschichte wie wir geführt. Sie
haben die Fragen anders, als es uns von manchen Fundamentalisten in der Diskussion empfohlen wird, beantwortet. Wir sollten auf diese Gesellschaften nicht ethisch herabblicken. Auch unsere französischen und britischen
Nachbarn haben keine leichtfertigen Entscheidungen getroffen, auch wenn sie anders aussehen, als es manche
Diskussionsbeiträge hier verlangen.
({0})
Die Diskussion, die uns in Zonen moralischer Ratlosigkeit führt, muss frei von Fundamentalismen bleiben. Es
kann weder eine Überdehnung der Freiheit im Namen der
Freiheit noch eine Monopolisierung der Moral im Namen
einer ganz bestimmten Moral geben.
({1})
Im Übrigen scheint es mir auch wichtig zu sein, darauf
aufmerksam zu machen, dass die Heuristik der Furcht,
wie Hans Jonas sagt, nicht ausschließlicher Ratgeber sein
kann. Sie schwingt zwar immer mit; aber sie darf eine Gesellschaft nicht kopflos machen.
({2})
Es ist nicht so, dass es in Deutschland eine Scientific Community, also Wissenschaftsorganisationen wie
die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die
Max-Planck-Gesellschaft, und hervorragende Forscher
gibt, die nur drauf und dran sind, die Menschenwürde zu
verletzen, die sich nur in nicht mehr kontrollierbare Forschungen hineinbegeben und die selbst nicht begriffen haben, wo die Grenzen von verantwortbarer Forschung liegen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Blick auf
einen einzigen - katastrophalen - Abschnitt der deutschen
Geschichte darf uns das Vertrauen in die deutsche
Forschungslandschaft nicht verbauen.
({3})
Auch die deutsche Forschung hat einen Anspruch darauf,
ihre Chancen verantwortbar zu suchen.
Eine offene Diskussion, wie wir sie führen wollen, findet natürlich in einem anthropologischen, in einem
menschlichen Kontext statt. Wir führen diese Diskussion
nicht nur über Forschungsfreiheit, die die Verfassung sichert, sondern auch über den Sinn von Chancen, die die
Forschung ausloten soll. Ich glaube - das sage ich für die
Freien Demokraten -, dass diejenigen, die sich für die
Präimplantationsdiagnostik und für die Forschung an
Embryonen aussprechen, dafür gute ethische und moralische Gründe in Feld führen können.
({4})
Wir sind nicht der Überzeugung, dass menschliches
Leid vermieden werden könnte, dass es keine Krankheiten mehr geben würde und dass der Hunger in der Welt beseitigt werden könnte. Aber wir sind der Überzeugung,
dass es legitim, ethisch und moralisch begründbar ist, in
einem begrenzten, gesetzlich beschränkten Rahmen per
Forschung auszuloten, ob menschliches Leid gelindert
werden kann.
({5})
Wenn eine offene Gesellschaft diese Debatte in den von
der Verfassung und von der Zivilisations- bzw. Kulturgeschichte gebotenen Grenzen führt und sich der Zone moralischer Ratlosigkeit verantwortbar annähert, dann ist
das ein ganz legitimer, moralisch-ethisch begründeter
Prozess, der davon bestimmt wird, dass wir prüfen wollen, ob Menschen geholfen werden kann.
Das mag in vielen Fällen nicht möglich sein. Deshalb
entsteht am Ende vielleicht nur ein bescheidener Beitrag,
geringer als das, was sich viele Forscher heute erhoffen.
Aber für einen einzigen Menschen kann ein solch bescheidener Beitrag schon etwas ganz Großartiges sein. Ich
denke an einen Mukoviszidosekranken, von dem der
frühere Bundespräsident Herzog sprach. Er will ihm nicht
erklären, warum ihm nicht geholfen werden kann - auch
ich nicht! Deshalb möchte ich Sie bitten, mit uns zusammen in Deutschland nach langer Diskussion eine Mehrheit dafür zu finden, die es uns ermöglicht, diesen verantwortbaren Versuch zu unternehmen. Er ist vertretbar.
({6})
Argumente sollten den Zusammenhang mit der Lebenswirklichkeit nicht ganz außer Acht lassen. Wenn man
sagt, menschliches Leben beginne mit der Befruchtung
und das sei schon ein Mensch, dann nimmt man eine
großflächige rechtsethische Bewertung vor. Diese Bewertung habe ich hier gehört und ich habe sie in deutschen
Feuilletons gelesen. Diejenigen, die so vorgehen, müssen
aufpassen, dass sie nicht schon dann in gewaltige geistigmoralische Konflikte kommen, wenn sie über Verhütungsmittel diskutieren. Wir nehmen in unserer Lebenswirklichkeit die Spirale hin, führen aber im weiten Rahmen ethisch aus, wo das Leben und der Mensch beginnen,
und zerbrechen uns den Kopf über die Präimplantationsdiagnostik.
Neulich schrieb ein kluger Mann einen langen Leserbrief an eine Zeitung und führte uns die Lebenswirklichkeit vor Augen. Er schrieb, dass Embryonen, die der Mutter nicht eingepflanzt worden sind, ihr Leben in
Tiefkühlfächern in Kliniken fortsetzen - prägen Sie sich
das Bild ein: ihr Leben in Tiefkühlfächern in Kliniken
fortsetzen -, ohne jede Chance, dieses Gefängnis jemals
verlassen zu können. Dann fragt er, warum diese Dauerexistenz im Kühlfach, woraus es kein Entrinnen gibt, mit
der Menschenwürde gesunder Embryonen vereinbar ist,
aber schwerlich mit der Menschenwürde schwerbeschädigter Embryonen unvereinbar sein soll? Es ist eine zugespitzte Frage. Diese Frage muss aber so zugespitzt werden, weil die Präimplantationsdiagnostik und das, was wir
erforschen können, uns vor solchen Zuspitzungen nicht
bewahrt. Unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde
wird es immer eine Abwägung geben.
Wir, die Fraktion der Freien Demokraten und ich persönlich, sprechen uns deshalb dafür aus, die Präimplantationsdiagnostik zuzulassen, weil wir nicht verstehen können,
warum angesichts der Lebenswirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland die Pränataldiagnostik in einem
fortgeschrittenen Stadium der individuellen menschlichen
Lebensentwicklung erst die mit hoher Tötungsgefahr für
die Leibesfrucht verbundene Konfliktsituation schafft, die
die Präimplantationsdiagnostik verhindern könnte.
({7})
Wir führen überzeugende Argumente ins Feld. Wir haben in unserer Fraktion eine große Mehrheit gefunden.
Aber niemand von uns denkt daran, einen Fraktionsbeschluss zum Maßstab für alle zu machen. Natürlich wird
jede Kollegin und jeder Kollege nach eigenem Gewissen
abstimmen. Das war übrigens auch bei dem Mehrheitsbeschluss der Fall. Diese Entscheidung hat sich niemand
leicht gemacht. Ein Teil der Öffentlichkeit hat kritisch
festgestellt, wir hätten zu schnell entschieden. Ich kann
nicht jeden Feuilletonchef in die Fraktion der F.D.P. einladen. Wir diskutieren seit zwei Jahren. Wer unsere Diskussion aufmerksam verfolgt hat, kennt unsere Position.
({8})
Wir haben uns diese Entscheidung vom Frühjahr wahrhaftig nicht leicht gemacht. Die deutsche Gedankenschwermut, die große Metaphysik und dieses tränenreiche
Gesicht zeigen wir nicht. Wir schauen schon mit etwas
Zuversicht auf die Möglichkeiten und die Potenziale, die
unsere Forschungslandschaft bietet.
Ich möchte denen, die anders denken als ich, sagen: Ich
finde es eine Missachtung menschlichen Leids, im Übrigen auch eine Missachtung der Wünsche von Paaren, die
ja nicht leichtfertig einen Kinderwunsch hegen - es ist in
Deutschland nicht gerade Mode geworden, Kinder haben
zu wollen; es wäre ja schön, wenn es mehr Kinderwünsche gäbe ({9})
und die genetisch vorbelastet sind, wenn man das Totschlagargument anführt, es gebe keinen Rechtsanspruch
auf diese Art medizinischer Hilfe. Beispielsweise verdient
der Kinderwunsch von Paaren, sofern er in einer offenen
Gesellschaft in vertretbarer Weise erfüllt werden kann,
Respekt, wenn diese Paare nicht in der Lage sind, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, wie das in vielen Familien der Fall ist.
({10})
Es ist daher falsch, davon zu sprechen, der eine habe die
Moral für sich und der andere gegen sich.
Am Ende werden sich in den Abstimmungen Überzeugungen gegenüberstehen. Entscheidend ist aber, dass wir
die Diskussion mit menschlichem Maß führen und dass
jeder am Ende gemäß seinem Gewissen entscheiden kann.
Ich sage abschließend: Wir wollen die Chancen suchen. Wir sind der Überzeugung, dass das Kriterium der
Hilfe, die wir Menschen gegen ihr Leid geben, ein wichtiges Argument dafür ist, in Deutschland die Forschung in
diesem Bereich in gewissen Grenzen zuzulassen. Wir halten das für verantwortbar. Wir vertrauen auch denen in
Deutschland, die zukünftig im Rahmen einer gesetzlichen
Regelung forschen.
Es gehört - das sage ich zum Schluss - in diese Diskussion: Niemand darf glauben, dass wir durch ein Gesetz
verhindern oder hemmen können, dass eine Forscherpersönlichkeit Missbrauch betreibt. Weder mit Gesetz noch
ohne Gesetz kann das immer und überall sichergestellt
werden.
({11})
Es führt deshalb nichts daran vorbei, dass wir uns immer
wieder untereinander verständigen und aufmerksam bleiben müssen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Pia Maier, PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir alle kennen eineiige Zwillinge.
Sie sehen sich ähnlich, aber sie sind nicht gleich. Dabei
stammen sie aus nur einer befruchteten Eizelle, die sich in
einer Laune der Natur so geteilt hat, dass zwei Organismen entstanden, die zunächst genetisch identisch sind.
Dennoch entstehen nie identische Menschen. Der Mensch
ist nicht nur ein natürliches, sondern auch ein soziales Wesen.
({0})
Ein Mensch entsteht nach meinem Verständnis nicht
nur durch den biologischen Akt der Zeugung. Die befruchtete Eizelle verfügt über das Potenzial, Mensch zu
werden. Aber ohne die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter gibt es keine Menschwerdung.
Oder anders gesagt: Ohne die positive Entscheidung der
Frau wird aus der befruchteten Eizelle kein Mensch. Daher wird nach meinem Verständnis die vollständige
Gleichsetzung von Embryonen innerhalb und außerhalb
des Mutterleibes dem Phänomen der Menschwerdung
nicht gerecht, denn diese Sicht negiert die Rolle der Mutter und alle sozialen und psychischen Einflüsse.
Embryonen, die außerhalb des Leibes erzeugt werden,
bergen das Potenzial zu menschlichem Leben und unterscheiden sich damit von x-beliebigen Dingen. Sie dürfen
keinesfalls aus egoistischen Motiven hergestellt, aufgrund von Designwünschen verworfen oder zu Profitzwecken erzeugt werden. Die Gleichsetzung der befruchteten Eizelle und des werdenden Menschen mit
vollen Schutzrechten steht meiner Meinung nach gegen
das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Diese Gleichsetzung bedeutet, konsequent zu Ende gedacht, ein völliges Abtreibungsverbot und ein Verbot der Spirale als Verhütungsmittel. Eine solche Sichtweise lehne ich ab, denn
ich finde: Frauen sollten weiterhin Herr über ihren Körper
bleiben.
({1})
Die aus Embryonen gewinnbaren Zellen bergen offensichtlich Heilungschancen, die anders nicht zu erreichen
sind. Diese gilt es zu erforschen. Hier gilt es abzuwägen,
ob die Interessen der Kranken an Heilung höher
einzuschätzen sind als die Nutzung möglichen menschlichen Lebens. Keinesfalls dürfen andere Methoden vernachlässigt werden. Aber hier ist der Gesetzgeber gefragt.
Möglichkeiten, die Menschen helfen könnten, gar nicht
erst zu erforschen, erscheint mir ethisch nicht vertretbar.
Ob der Gefahr des Missbrauchs durch Einzelne ganze
Forschungsansätze zu verbieten, entmündigt uns selbst,
wenn wir uns nicht zutrauen, Kontrolle und Überwachung
leisten zu können.
Meine Damen und Herren, noch ein Gedanke zur Präimplantationsdiagnostik. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass hier ein fauler Kompromiss aus der
Abtreibungsdebatte offensichtlich wird. Solange die
Spätabtreibung über den Weg der medizinischen Indikation erlaubt ist, weil ein behindertes Kind geboren werden
würde, ist das Verbot der PID für betroffene Frauen ein
tiefer Widerspruch. Wenn mit einer künstlichen Befruchtung ohnehin in die Natur eingegriffen wird, ist es für die
betroffene Frau besser, die befruchteten Eizellen werden
untersucht, bevor sie in ihr zu einem Menschen heranwachsen, statt sie später möglicherweise abzutreiben. Die
Methode der PID auf Fälle zu begrenzen, in denen diese
Form der Diagnostik wirklich hilft, das ist unsere Aufgabe
als Parlament.
Zum Schluss möchte ich noch einmal deutlich sagen:
In dieser Debatte hilft es weder, wegen der Befürchtungen, was alles passieren könnte, alles zu verbieten, noch
hilft es, alles, was wissenschaftlich machbar ist, auch
ethisch für vertretbar zu halten.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Struck, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Ich korrigiere mich: SPD-Fraktion.
Das ging aber wirklich zu
weit, Herr Präsident.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die öffentliche Wahrnehmung vieler Debatten verläuft bei uns in
Deutschland nach einem eigenartigen Prinzip - die jetzige
über die Gentechnik ist übrigens ein Musterbeispiel
dafür -: Solange sich die Debatte im wissenschaftlichen,
forschenden, medizinischen Bereich bewegt, werden die
widerstreitenden Meinungen in den Feuilletons und in
den Wissenschaftsteilen der Medien positiv, als Ringen
um den richtigen Weg beurteilt. Sobald sich diese Suche
aber in den politischen Bereich, in die Parteien verlagert,
wird das Ringen und Suchen in den Schlagzeilen der gleichen Medien unversehens in Streit umgemünzt. Das ist
eine grobe und unzulässige Verkürzung.
({0})
Denn in diesen politischen Kontroversen spiegelt sich lediglich die Breite wider, wie sie exakt auch in der Forschung und in der Philosophie zu finden ist. Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft vertritt eine andere Meinung als
der Deutsche Ärztetag. Die evangelische Kirche setzt andere Akzente als die katholische.
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einer
anderen Qualität von Fragen zu tun als bei all denen, die
wir in dieser Legislaturperiode beantworten und entscheiden mussten. Ich will für mich freimütig gestehen: Ich bin
weit davon entfernt, Rat geben zu können. Ich suche Rat,
um mich entscheiden zu können. Und ich räume ein:
Meine Entscheidung fällt mir nicht leichter dadurch, dass
die Forschung im Bereich der Präimplantationsdiagnostik
eher drängt und die deutsche Ärzteschaft in ihrer Mehrheit eher mahnt.
Johannes Rau hat Recht, wenn er sagt, dass sich jeder
Einzelne von uns in seiner Entscheidung hinter keiner Enquête-Kommission des Bundestages, keinem Ethikrat der
Regierung, keiner Empfehlung des Ärztetages oder keiner
Denkschrift der Kirchen verstecken darf. Aber ich glaube
ebenso, jede einzelne dieser Empfehlungen kann jedem
Einzelnen helfen, zu einer Entscheidung zu kommen.
Niemand kann dem Gesetzgeber Entscheidungen abnehmen. Umso wichtiger ist es, dass er sich gründlich beraten lässt.
({2})
Es gehört zur Ungeduld dieser Zeit, dass die Suche
nach Lösungen gern als Zaudern, als Drücken vor Verantwortung interpretiert wird. Lösungen müssen da sein, bevor die Probleme ausgebreitet und erörtert sind. Aber
nicht das Drängen der Leitartikler darf für uns ausschlaggebend sein. Wir müssen vielmehr all die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen, für die diese Fragen mit
Ängsten und Befürchtungen besetzt sind. Die Medien haben die Pflicht, zu drängen und die Politik zu Lösungen
zu mahnen. Aber ich muss offen sagen: Der Rigorismus,
mit dem in diesen Fragen mancherorts eine Meinung vertreten wird, ist unangemessen und trägt nicht weiter.
({3})
Er hilft nicht bei der Problemlösung, sondern führt eher
zur Verhärtung der Positionen.
Im Gegensatz dazu finde ich es durchaus positiv, wie
viele Fragen die meisten Beiträge der Kolleginnen und
Kollegen dieses Hauses, die diese bislang zu den Themenkomplexen veröffentlicht haben, enthalten - die sie
auch in dieser Debatte artikuliert haben -, wie sie sich
bemühen, Antworten auf diese schwierigen Fragen zu finden - übrigens nicht nur hier, sondern auch in meiner
Fraktion. Ein Alleinvertretungsanspruch verbietet sich bei
diesen Fragen. Es muss Platz für kontroverse Meinungen
bleiben. Wir haben das Recht, ja die Pflicht zum Zögern,
meine Damen und Herren.
Es gehört kaum etwas dazu, seine Meinung in Talkshows auszubreiten. Aber es gehört sehr viel dazu, Meinungen und Mehrheiten gerade in solch schwierigen Fragen, wie sie die Kollegin Margot von Renesse in ihrer
Einleitung so hervorragend skizziert hat, zu organisieren,
Regelungen zu finden, die die Gesellschaft zusammenführen, statt sie zu spalten.
Ich lehne es ab, bei meiner Entscheidungsfindung lediglich die Interessen der Wissenschaftler zu berücksichtigen, die damit drohen: Wenn ihr nicht bald eine positive
Entscheidung über die Forschung an embryonalen
Stammzellen erlaubt, wenden wir uns ab vom Standort
Deutschland. Mir steht es nicht an, diesen Standpunkt zu
verurteilen. Aber im Gegensatz zu diesen Forschern dürfen wir nicht nur die Interessen der Handelnden, sondern
müssen auch den Schutz des behandelten Lebens im Auge
behalten. Und umgekehrt: Ich habe Verständnis für alle,
die zur Vorsicht raten und beispielsweise die Präimplantationsdiagnostik ablehnen.
Aber ich frage auch: Sind wir in der Lage, die Entwicklung bei PID aufzuhalten? Haben wir die Chance, auf
einem globalisierten Forschungsmarkt eine Insel der Restriktiven zu bleiben? Oder ist es vielleicht ein Stück doppelter Moral, diese Forschung bei uns zu verbieten und
darauf zu hoffen, dass die Errungenschaften der Forschung aus dem Ausland zu uns herübergetragen werden?
Oder riskieren wir stillschweigend einen Gentourismus,
wie wir in den 60er- und 70er-Jahren einen Abtreibungstourismus in Kauf genommen haben?
Ich habe mit großem Respekt das Bekenntnis von Altbundespräsident Roman Herzog gelesen, der geschrieben hat - es ist schon vom Kollegen Gerhardt zitiert worden -:
Ich bin nicht bereit, einem muskoviszidosekranken
Kind, das, den Tod vor Augen, nach Luft ringt, die
ethischen Gründe zu erklären, die die Wissenschaft
daran hindern, seine Rettung möglich zu machen.
({4})
Er beschreibt treffend das Dilemma, vor dem wir stehen,
wenn wir unsere Entscheidung treffen.
Wir brauchen sie nicht heute oder morgen zu fällen.
Wir führen diese Debatte hier ja gerade deshalb, weil wir
darüber eine breite Diskussion in der ganzen Gesellschaft
wollen. Ich bin mit Bundeskanzler Gerhard Schröder der
Meinung, dass wir uns bei möglichem Handlungsbedarf
nicht unter Druck setzen lassen sollten. Als Erstes wäre
dann zu klären, welche Handlungsräume das Embryonenschutzgesetz erlaubt.
Ich selbst bin in vielen der sich hier stellenden Fragen
überhaupt noch nicht festgelegt. Fest steht dagegen für
mich, dass die hier zu klärenden Fragen keine Fragen von
Fraktions- oder Parteidisziplin sind. Ich werbe dafür, dass
alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus mögliche
zukünftige Entscheidungen allein nach ihrem Gewissen
fällen.
({5})
Ich erteile das Wort
Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Menschliches Leben beginnt
mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Das ist
für mich der Fixpunkt in der heutigen Debatte und das ist
für mich in der christlichen Verantwortung vor Gott begründet.
Wenn wir heute - in einer Zeit, in der wir wissen, dass
wir am Anfang von vielen technischen Möglichkeiten stehen - hier eine Debatte führen, dann ist es gut und richtig,
einen solchen Fixpunkt zu haben. Wir müssen aufpassen,
dass wir einen solchen Fixpunkt nicht deshalb verschieben, weil wir gerne zu manchen Entscheidungen kommen
würden, die mit diesem Fixpunkt nicht vereinbar sind.
({0})
Ein solcher Fixpunkt verschafft Klarheit. Er ist aber nicht
starr und gibt deshalb auf viele Fragen, die uns gestellt
werden, keine abschließenden Antworten.
Uns sind Fragen von der Ärzteschaft in Bezug auf PID
gestellt worden, uns sind Fragen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bezug auf die Frage der embryonalen Stammzellenforschung gestellt worden. Wir brauchen deshalb neben einem solchen Fixpunkt auch
Maßstäbe für unsere Debatte.
Der erste Maßstab ist: Dürfen wir in einem internationalen Umfeld national entscheiden? Ich sage - deshalb
gefällt mir der vorschnelle Vergleich mit der Insellösung
nicht -: Wir sind als Abgeordnete in diesem nationalen
Parlament verpflichtet, Entscheidungen zu treffen,
({1})
und unsere Entscheidungen müssen unabhängig davon
gefällt werden, was andere - mit Sicherheit mit respektablen Argumenten - entscheiden.
Der zweite Maßstab ist für mich, dass die Würde des
Menschen als Wert absolut ist.
Der dritte Maßstab ist: Wenn es um Güterabwägung
geht - ganz offensichtlich sind Antworten auf viele konkrete Fragestellungen nicht ohne Güterabwägung möglich -, dann darf nur menschliches Leben gegen menschliches Leben abgewogen werden.
({2})
Deshalb warne ich auch vor falschen Vergleichen. Ich
habe die Aussage von den ideologischen Scheuklappen,
Herr Bundeskanzler, im Zusammenhang mit dieser Debatte als ausgesprochen unangemessen empfunden.
({3})
Der Wirtschaftsstandort Deutschland - bei aller Wichtigkeit, bei aller Notwendigkeit und bei aller Sehnsucht der
Menschen nach Arbeitsplätzen - wird nicht auf der gleichen Ebene behandelt wie die Abwägung der Güter, die
wir in den Fragen der Gentechnik vorzunehmen haben.
({4})
Weil diese Güterabwägungen so schwierig sind, müssen wir uns Zeit nehmen; Maria Böhmer hat es bereits gesagt. Gründlichkeit geht hier vor Schnelligkeit. Um unsere Entscheidungen treffen zu können, müssen wir sie in
einen vernünftigen Prozess einmünden lassen. Deshalb
halte ich diese Debatte heute für ausgesprochen wichtig.
Nun werden die Fragen konkret. Wie ist es mit der
Präimplantationsdiagnostik? Es gibt kein Recht auf ein
gesundes Kind. Es gibt nicht einmal ein Recht auf ein
Kind. Aber es gibt doch den Wunsch nach einem gesunden Kind. Genauso gibt es die Hoffnung auf ein gesundes
Kind. Diese Hoffnung haben wir immer wieder durch medizinische Möglichkeiten zu erfüllen versucht. Dass wir
dies getan haben, ist doch niemals ein Grund dafür gewesen zu sagen: Behinderte bzw. Kranke sind in unserer Gesellschaft nicht willkommen. Ich finde, das müssen wir
ganz deutlich feststellen.
({5})
Natürlich ist die Präimplantationsdiagnostik eine neue
Methode, bei der wir uns fragen müssen: Halten wir den
Dammbruch hin zur Selektion auf? Für mich wiegen die
Bedenken derer, die diese Frage verneinen, außerordentDr. Peter Struck
lich schwer. Aber vielleicht war schon die Pränataldiagnostik ein solcher Dammbruch. Ich bin deshalb sehr
froh, dass wir uns entschieden haben zu sagen: Wir wollen die Präimplantationsdiagnostik, die Pränataldiagnostik und das schwierige Problem der Spätabtreibungen in
einem Zusammenhang besprechen, weil sich diese Dinge
nicht voneinander trennen lassen.
({6})
Ich persönlich betone: Für den Fall, dass jemand ein
behindertes Kind hat, dass jemand - wie in Amerika geschehen - ein Kind hat, das dem Tod geweiht ist, und ein
zweites Kind will, weil er die Hoffnung auf ein gesundes
Kind hat und dieses zweite Kind vielleicht dazu beiträgt,
das erste zu retten, fällt es mir schwer, radikal zu sagen:
Nein, in diesem Fall unterstütze ich die Präimplantationsdiagnostik auf keinen Fall.
({7})
Sicherlich müssen wir uns eines Tages entscheiden. Aber
bevor wir in dieser Frage keine Entscheidung getroffen
haben, darf es in Deutschland keine PID geben. Auch das
ist klar. Lassen Sie uns dies gut überdenken.
Viel wichtiger ist die Frage der Forschung an embryonalen Stammzellen, weil dort die Dynamik der Forschung am stärksten ist. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat uns Empfehlungen auf den Tisch gelegt.
Dazu ist heute wenig Konkretes gesagt worden. Herr Bundeskanzler, ich bin genauso wie Sie der Meinung: Wir
wollen das Embryonenschutzgesetz nicht ändern. Aber
zur Ehrlichkeit gehört, zu sagen, dass im Rahmen dieses
Embryonenschutzgesetzes das Verwenden von so genannten nicht mehr gebrauchten Embryonen nicht zulässig ist.
({8})
Ich halte das für richtig und deshalb dürfen wir uns an dieser Stelle nicht in die Tasche lügen.
Ich gehe weiter und sage: Der Import von pluripotenten Stammzellen, die aus embryonalen Stammzellen gewonnen wurden, ist mit dem Geist des Embryonenschutzgesetzes nicht vereinbar.
({9})
Diese konkrete Möglichkeit ist 1990 nicht erkannt worden; das ist richtig. Aber die Tatsache, dass dies nicht erkannt wurde, ist für mich noch lange kein Grund dafür,
über diese Hintertür bzw. diese Gesetzeslücke die Forschung an embryonalen Stammzellen zu ermöglichen, die
nach der Rechtslage in Deutschland so nicht erlaubt wäre.
Deshalb sage ich: Ich würde mir von dieser Debatte
wünschen, dass wir die Deutsche Forschungsgemeinschaft bitten, auf den Import von Stammzellen zu verzichten und ein Moratorium einzugehen, bevor wir uns in
diesem Hause darüber geeinigt haben, ob wir die Forschung an embryonalen Stammzellen wollen oder nicht
und, wenn ja, unter welchen Bedingungen.
({10})
Ich sage dies als Physikerin, als Naturwissenschaftlerin,
in dem vollen Wissen um den Drang, um den Wettbewerb
und die Wünsche der Forscher, vieles zu schaffen. Ich
sage es in der Erwartung, dass uns in Deutschland die Forschung an adulten Stammzellen ungeahnte Möglichkeiten
brächte, an dieser Stelle wirklich führend in der Forschung zu sein. Darum sollten wir gemeinsam ringen.
Deshalb hätte ich mir an dieser Stelle, Herr Bundeskanzler, zu den ganz konkreten Anliegen der Deutschen
Forschungsgemeinschaft ein klares Wort gewünscht. Die
Wissenschaftler wollen wissen, was wir in diesem Hause
zu dem, was sie uns aufgeschrieben haben, sagen. Ich
wünsche mir ein Moratorium, keine Änderung des Embryonenschutzgesetzes und habe deshalb auch Schwierigkeiten mit der Forschung an den Embryonen, die angeblich nicht mehr gebraucht werden. Denn was tun wir dann,
wenn die Zahl dieser Embryonen eines Tages nicht mehr
ausreicht und wir weitergehen müssen? Ich möchte keine
verbrauchende Embryonenforschung.
({11})
Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Vollmer?
Nein.
Deshalb werden wir weiter debattieren und diskutieren
müssen. Unsere Entscheidungen sollten wir immer im Bewusstsein unserer Maßstäbe treffen. Wir sollten sie - das
sage ich für mich - im Bewusstsein unserer Fixpunkte
treffen.
Ich sage auch: An die Christlich Demokratische Union
Deutschlands werden in dieser Debatte vielleicht höhere
Maßstäbe als an andere Parteien gesetzt.
({0})
Ich sage dies im vollen Bewusstsein dessen, was ich lese
und höre.
({1})
An uns werden höhere Maßstäbe als an andere gesetzt.
({2})
Dies macht die Debatte für uns nicht einfacher, weil nämlich die Verpflichtung auf das christliche Menschenbild
noch keine konkrete politische Entscheidung beinhaltet.
Aber ich sage auch und besonders in diesem Hause - dies
gestatten Sie mir bitte -,
({3})
dass uns diese Verantwortung stolz macht, dass wir uns
dieser Verantwortung bewusst sind, dass wir uns ihr stellen wollen und dass wir dies in aller Ernsthaftigkeit, selbst
bei unterschiedlichen Antworten, tun werden.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile der Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Bei dieser zweifellos hochanspruchsvollen Menschenrechtsfrage der Moderne bin ich außerordentlich froh, über ein besonderes Privileg zu verfügen,
das wir alle gemeinsam teilen: das weltanschaulich offene, in unserer Verfassung verankerte ganzheitliche Menschenbild im Sinne der Aufklärung, das es uns erlaubt, bei
den Grenzziehungen, zu denen wir aufgrund der Entwicklungen in der Bio- und Gentechnologie aufgerufen
sind, die moralischen, ethischen Werte zu wahren.
Die Debatte heute ist so neu nicht. Sie begann, als sich
die Frage stellte: Ist der Mensch schon tot, wenn keine
Hirnfunktionen mehr zu messen sind? Die neuen Therapiemöglichkeiten der Biotechnik am Menschen stellen
uns vor die Frage: Müssen wir unser Verständnis vom
Menschen ändern, den Beginn und das Ende des Lebens
neu definieren, um aus der Leiblichkeit eines anderen ein
Hilfekonzept, ein Therapiekonzept für die moderne Medizin zu entwickeln?
Auch wenn die Frage nach dem Ende des Lebens heute
so nicht mehr aufgeworfen wird, so hat sie doch zentrale
Bedeutung bei der Frage, welchen grundrechtlichen
Schutz der Embryo genießt.
({0})
Der Embryo ist ins Zentrum der Betrachtung gerückt.
Mit Erstaunen muss ich feststellen, dass nicht mehr
von der Frau die Rede ist.
({1})
Wir sprechen von Pränataldiagnostik und tun so, als sei
das eine Therapieform. Wir tun so, als würden Frauen eine
Schwangerschaft auf Probe eingehen, um sich im fünften
oder sechsten Schwangerschaftsmonat über eine Diagnostik
Gewissheit darüber zu verschaffen, ob sie bereit sind,
diese Schwangerschaft bis zum Ende aufrechtzuerhalten.
Es erschreckt mich zutiefst, dass man Frauen ein solches
eugenisches Denken und Handeln unterstellt.
({2})
Wir müssen den ärztlichen Behandlungsauftrag ins
Zentrum rücken, denn die ärztliche Indikationsstellung ist
es, die die Pränataldiagnostik in der Schwangerschaft erst
ermöglicht, und sie ist zu einem Screening-Verfahren geworden. Ich kenne keinen § 218, der eine eugenische Indikation kennt. Es gibt keinen ärztlichen Behandlungsauftrag zur Selektion.
({3})
Ich verwahre mich dagegen, dass die Fehlentwicklungen
in der Pränataldiagnostik heute zur falschen Argumentationsgrundlage genommen werden, um die Präimplantationsdiagnostik zu etablieren.
({4})
Eine wichtige Aussage möchte ich noch machen.
({5})
Ohne die künstliche Befruchtung gäbe es das Interesse
an der Verwertung des menschlichen Embryos in seinem
frühen Entwicklungsstadium nicht. Erst die Entleiblichung, die Entsexualisierung, die Entsinnlichung und das
Herauslösen aus dem Verantwortungskontext der Fruchtbarkeit hat uns diese neuen ethisch-moralischen Fragen
gebracht.
({6})
Der Embryo in vivo ist in seinen frühen Zuständen in
nichts unterscheidbar von dem Embryo in vitro,
({7})
außer in einem: Er ist in seinem schutzlosesten Zustand in
die Welt gekommen; die Frau trägt ihn nicht. Deshalb ist
die Gesellschaft verpflichtet gewesen und muss es bleiben, ihn - weil er ohne die Frau auf der Welt ist - bedingungslos zu schützen, ihn nicht zum biologischen Material werden zu lassen.
({8})
Grundlegend für diese Diskussion, die zu begreifen wir
erst anfangen, möchte ich sagen: Die Menschenrechtsfrage der Moderne ist eine Frauenfrage, wie es noch keine
gab. Lassen Sie uns diese menschenrechtsdogmatische
Herausforderung annehmen und nichts und niemanden in
Dienst setzen, instrumentalisieren oder gar verdinglichen.
Danke schön.
({9})
Für die F.D.P.-Fraktion erteile ich das Wort der Kollegin Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Angesichts der knappen Zeit möchte ich
mich auf eines der beiden zentralen Themen beschränken,
und zwar auf die Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland.
Roman Herzog ist hier bereits zitiert worden. Aber
seine Aussagen sind so treffend, dass ich ihn noch einmal
heranziehen möchte:
Das Recht erbkranker Menschen, durch weitere Forschung gerettet zu werden, hat auch den Wert
menschlichen Lebens an seiner Seite.
Genau das ist der Grund der Beschlüsse der F.D.P. Es darf
nicht um ökonomische Gründe gehen - das kann in
diesem Zusammenhang nicht der entscheidende Faktor
sein - nicht um die Befriedigung reiner Neugier der Forscher und schon gar nicht um unbedarfte oder naive Forschungsgläubigkeit. Aber es geht um die Chance, schwer
kranken Menschen in diesem Lande in absehbarer Zeit zu
helfen. Deswegen, Frau Merkel, bin ich in dieser Frage
dezidiert gegen ein Moratorium.
({0})
Die Zahl derjenigen, die sich von der Stammzellenforschung Therapiemöglichkeiten erhoffen, ist riesig:
150 000 Menschen in Deutschland leiden an Multipler
Sklerose, 700 000 an Epilepsie, 200 000 an Parkinson und
500 000 an Alzheimer.
Meine Damen und Herren, ich kann es auch ethisch
nicht verantworten, diesen Betroffenen zu erklären: Wir
haben eine - wenn auch kleine - Chance, Hilfe für euch
zu finden, aber wir nutzen sie nicht.
({1})
Vor diesem Hintergrund müssen wir lernen, wie die Programmierung von Stammzellen in bestimmte Gewebetypen funktioniert, um eines Tages gezielt Nerven-, Herz-,
Leber- oder Muskelgewebe zu züchten. Ich sage bewusst
„eines Tages“, denn hier handelt es sich eben nicht um
Heilsversprechen, sondern um langfristig angelegte, ungeheuer komplexe Forschungsvorhaben.
Die letzten Monate haben gezeigt, dass wir wertvolle
Chancen ignorieren würden, wenn wir uns nur mit einem
Teil der Zellen, den erwachsenen Stammzellen, beschäftigen würden. Wir können und wollen die Möglichkeiten
der embryonalen Stammzellen nicht außen vor lassen.
Meine Damen und Herren, die Diskussion hat sich in
den letzten Wochen von einem weit ausholenden Rundumschlag auf einen Kompromissvorschlag der deutschen
Forscher konzentriert: Wie kann sich Deutschland an einer internationalen Embryonenforschung beteiligen, ohne
dabei gezielt Embryonen für Forschungszwecke herzustellen? Es geht eben nicht um fabrikmäßig hergestellte
Forschungsembryonen, sondern es geht um überzählige
embryonale Zellkörper, die bei der künstlichen Befruchtung entstehen und derzeit eingefroren werden.
Wir gehen nach allen Aussagen der Fachmediziner für
künstliche Befruchtung von circa 15 bis 30 derzeit in
Deutschland in Kühltruhen lagernden echt verwaisten
Embryonen aus.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?
Nein, ich möchte gern mit meiner Rede fortfahren.
Deren Entwicklung ist unterbrochen, ihr Lebensrecht
eingeschränkt, und zwar faktisch für immer. Das deutsche
Recht erlaubt keine Adoption vor der Geburt, es lässt nur
die Wahl zwischen Einpflanzung in die Mutter und ewigem Eis. Um diese Abwägung handelt es sich, und nicht
um apokalyptische Schreckensbilder. Es geht um die
Frage „Ethik gegen Ethik“.
Natürlich darf dies nur mit ausdrücklicher Einwilligung der Spender nach vorheriger intensiver Beratung in
ganz wenigen, eigens dafür lizenzierten Zentren und mit
völliger Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit geschehen. Das wollen wir. Dafür steht die liberale Partei:
nicht nach Wildwestmanier, sondern streng kontrollierte
Forschung.
({0})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend zu einem Fazit aus unserer Sicht kommen: Viele der
heute vorgetragenen Ängste vor abschüssigen Entwicklungen dürften sich als unbegründet, die meisten echten
Gefahren als hinreichend kontrollierbar erweisen. Gesetzesänderungen können befristet und dann den Erfahrungen angepasst werden. Wir sollten nach langen Diskussionen die engen Klammern des Embryonenschutzgesetzes vorsichtig lockern und die in ihnen festgeschriebene Verweigerung der Chancen für Hunderttausende von
Schwerstkranken beenden.
Menschliche Entwicklung ist niemals risikofrei; das
wissen wir alle. Daraus den Schluss einer Blockade jeder
noch so positiven Entwicklung zu ziehen ist aus unserer
Sicht moralisch zumindest ebenso zweifelhaft. Politisch
wie ethisch dürfte es nicht zu den kleinsten Risiken einer
modernen Gesellschaft gehören, keine Risiken mehr einzugehen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Jetzt hat die Kollegin
Angela Marquardt für die PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dies ist nicht nur
eine Debatte über die Zukunft, sondern auch eine Debatte,
die die Gegenwart betrifft. Die Verkündung der so genannten Entschlüsselung des menschlichen Genoms
hatte geradezu etwas Religiöses. Man dachte, die Genetiker hätten auf dem Berg Sinai neue Gesetzestafeln gefunden. Jahrelang galt die Entschlüsselung des Genoms als
die große Vision. Doch kaum war das Ziel erreicht, bestand schon wieder eine neue: Es wird nicht mehr von
großen Erkenntnissen durch das Genom gesprochen, sondern von der nächsten Ebene der Proteine oder der Funktionsanalyse der Gene. Noch sei das Rätsel nicht gelöst,
also müssten wir selbstverständlich weiterforschen. Dann
erst wüssten wir, wie der Mensch wirklich funktioniert.
Immer wieder wird versichert, dass die Wissenschaftler ganz uneigennützig für den Erkenntnisfortschritt der
Welt forschen. Aber nicht erst seitdem Professor
Rosenthal aus Jena seine aus öffentlichen Mitteln finanzierten Erkenntnissen aus der Genomforschung privat
kommerziell verwertet, wissen wir, dass hier auch eine
Art Goldgräberstimmung mit Blick auf einen neuen, lukrativen Wirtschaftszweig herrscht.
({0})
Seit vielen Jahren wird über pränatale Diagnostik und
ihre Konsequenzen diskutiert. Heute wissen wir, dass es
dabei um die Verhinderung der Geburt behinderter Menschen geht. Bei entsprechender Diagnose folgt in nahezu
allen Fällen die Abtreibung. Wer dennoch ein behindertes
Kind bekommt, ist selbst schuld. Ich glaube, dass damit
behinderten Menschen in unserer Gesellschaft jegliche
Solidarität endgültig entzogen wird.
({1})
Alte Gentests, bei denen nach einem bestimmten Gen
gesucht wurde, muten fast harmlos an, wenn schon heute
mithilfe von Genchips Millionen Gene, wie in einer Art
Rasterfahndung, auf einmal überprüft werden können.
Natürlich ist der flächendeckende Einsatz dieser ArrayTechnologie noch zu teuer. Aber das ist eine Frage der
Zeit.
Eine Masse an Daten wird angehäuft. Deren Aussagekraft für das Individuum tendiert gegen Null. Dennoch
kann dies erhebliche Diskriminierungen nach sich ziehen,
wie es das Beispiel der Hämochromatose-Screenings
zeigt. Dieser Modellversuch der Kaufmännischen Krankenkasse in Hannover in Zusammenarbeit mit Humangenetikern ist ein Einstieg zur Etablierung von Reihengentests. Hier zeigt sich, wie sich die wirtschaftlichen
Interessen von Krankenkassen und die wissenschaftlichen
Interessen der Forscher decken können. Nur bei einem geringen Teil der Genträger kommt es zum Ausbruch dieser
Eisenspeicherkrankheit, und dies noch in unterschiedlicher Schwere und zu einem völlig ungewissen Zeitpunkt.
({2})
Was kann dieser Test also aussagen? Wie reagieren diejenigen, die auf das Gen positiv getestet wurden, aber
nicht erkranken? Werden sie einer Therapie unterzogen,
die sie nicht brauchen? Sorgen sie sich unnötig, daran zu
erkranken? Schon aus Datenschutzgründen hat die Verbraucherschutzzentrale Versicherte davor gewarnt, an diesen Tests teilzunehmen. Ich kann diese Position nur ausdrücklich unterstützen.
({3})
Was geschieht dann mit den anfallenden Ergebnissen
bezüglich anderer so genannter Gendispositionen? Werden Betroffene die Ergebnisse für sich behalten dürfen?
Hinzu kommt die Frage, wo diese Ergebnisse gespeichert
werden. Denkt man daran, dass der Großteil der vorhandenen DNA-Banken in Instituten und Firmen ohne Zustimmung der Menschen zusammengestellt wurde, von
denen die DNA stammt, dann darf man bezweifeln, dass
in Zukunft anders verfahren wird. Das Verlangen, Abfragen und Anbieten von Gentests durch Arbeitgeber und
Versicherungen muss strikt verboten werden.
({4})
Die Fraktion der Grünen arbeitet an einem Gentestgesetz. Wir werden uns sehr gern an dieser Debatte beteiligen. Ich kann diesen Schritt nur ausdrücklich begrüßen.
Aber ich glaube, dass ein Verbot von Gentests für Arbeitgeber und Versicherungen nicht ausreichend ist. Nur
wenn die Ausweitung genetischer Tests vollständig gestoppt wird, kann man das Eindringen einer genetifizierten Medizin in Arbeitswelt und Versicherungswesen auf
Dauer verhindern. Auf jeden Fall sollte ein Moratorium
für die Integration genetischer Tests in die gesetzliche
Krankenversicherung verhängt werden.
Hier hat die unheilvolle Entwicklung in meinen Augen
ihren Ausgangspunkt, eine Entwicklung, die letztlich
dazu führt, dass der Mensch nicht mehr die Gesellschaft
verbessert und lebenswerter macht, sondern dass sich die
Menschen an bestehende Umstände anzupassen haben.
Wer genetisch nicht in diese Leistungsgesellschaft passt,
ist unerwünscht. Der Mensch wird dann nicht mehr nur
eine Ware sein, sondern auch ein Produkt. Spätestens dies
wird das Ende der Politik sein.
({5})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Dr. Wolfgang Wodarg von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben erheblichen Diskussionsbedarf; das wurde heute vermehrt festgestellt. Diese Diskussion findet auch statt. Sie fand bisher überwiegend in den Medien statt. Der Deutsche
Bundestag hat sich aber vorbereitet und die EnquêteKommission zu Recht und Ethik der modernen Medizin
gebildet, um sich beraten zu lassen.
({0})
Die Bundesregierung lässt sich ebenfalls beraten - das
ist gut so -, denn sie trägt sehr viel Verantwortung. Sie
muss Entscheidungen über die Vergabe von Forschungsgeldern fällen. Sie muss die Wirtschaftsförderung richtig
gestalten und richtungsweisend sein. Sie muss zum Beispiel auch das Patentrecht gemeinsam mit dem Deutschen
Bundestag umsetzen. Das heißt, wir stehen in gemeinsamer Verantwortung. Wir müssen die richtigen Entscheidungen treffen und brauchen dafür Rat.
Der Bundestag hat sein Instrument. Der Bundeskanzler hat bei Hofe - ich darf das so sagen, lieber Gerhard sein eigenes Instrument.
({1})
Ich sage als Abgeordneter sehr selbstbewusst: Die Bundesregierung muss sich beim Regieren beraten lassen. Der
Bundestag aber macht die Gesetze. Das soll auch so bleiben.
({2}) - Friedrich Merz
[CDU/CSU]: Das ist wahr! Das können wir be-
stätigen!)
Wir müssen feststellen: Wo gibt es dringenden Entscheidungsbedarf? Welche Probleme stehen an? Wenn
wir uns das in der Enquete-Kommission mit einem längeren Zeithorizont anschauen, dann sehen wir sehr vieles,
was noch auf uns zukommt. Die zwei oder drei Themen,
die heute immer wieder angesprochen werden, sind nur
ein kleiner Bruchteil dessen, was sich uns in den nächsten
zehn Jahren wahrscheinlich als Problem stellen wird.
Ich will ganz kurz auf die Kernthemen eingehen. Im
Zusammenhang mit der PID hat mich besonders animiert,
was Herr Gerhardt gesagt hat. Die Präimplantationsdiagnostik, die im Rahmen der In-vitro-Fertilisation, der
künstlichen Befruchtung, im Ausland, soweit sie erlaubt
ist, angewandt wird, zu befürworten und gleichzeitig zu
sagen, wir bräuchten das auch, um die Forschung nicht zu
behindern, macht mich allerdings stutzig.
({3})
Bei der von den Gynäkologen und Reproduktionsmedizinern genutzten Technik braucht man sechs bis acht
Embryonen. Im Gegensatz dazu braucht man bei dem bisher in Deutschland genutzten Verfahren zwei bis drei Embryonen. Man braucht also mehr Embryonen, um die richtigen aussuchen zu können. Wenn die Tatsache, dass es
dadurch mehr überzählige Embryonen gibt, als Argument
benutzt würde, die PID einzuführen, wären wir auf dem
Holzweg. Das Problem muss klar angesprochen werden.
So etwas geht in Deutschland nicht.
({4})
Wir dürfen nicht so tun, als seien wir die ersten, die
darüber nachdenken. In den Vereinigten Staaten hat die
Regierung gesagt: Wir beschränken uns auf die Forschungsförderung und ansonsten kann in der Reproduktionsmedizin gemacht werden, was der Markt fordert,
das heißt, was die Eltern als Kunden wollen. - In den
USA gibt es Leihmütter, Eispenderinnen und Samenspender - das ist alles im Internet abrufbar -; man kann
alles, wie in einem Katalog, nach Rasse oder Intelligenzgrad aussuchen. Als wohlhabendes Ehepaar in den
USA muss man sich mit den Mühen einer Schwangerschaft gar nicht mehr abgeben. Man kann die Eizelle
kaufen, man kann die Samenzelle kaufen, man kann die
Leihmutter kaufen und kann sich das Kind machen
lassen, wenn man genug Geld hat. Das hat der Markt
ermöglicht. Eine solche Entwicklung wollen wir in
Deutschland nicht.
({5})
Wir sollen die PID als selektive Diagnostik Reproduktionszentren an die Hand geben, die schon jetzt, zum Beispiel für die Pränataldiagnostik, die vorgeburtliche Diagnostik, Verantwortung haben. Hier wird Missbrauch betrieben; wir haben das heute wiederholt gehört. Mit einer
fein auflösenden Diagnostik kann man Behinderungen
leicht erkennen und so werden Kinder abgetrieben, weil
man meint, sie seien der Mutter nicht zumutbar.
Ich habe in einer Diskussion, an der auch Kollegen dieses Hauses teilgenommen haben, erlebt, dass ein Bonner
Gynäkologe von Hebammen gefragt wurde: Weshalb haben Sie in Ihrem Hause wegen einer Lippenkiefergaumenspalte der Mutter freigestellt, ihr Kind abzutreiben?
Er hat gesagt, das Kind mit der Lippenkiefergaumenspalte
wäre der Mutter nicht zumutbar gewesen, sie hätte das
nicht ausgehalten. Neben ihm am Tisch saß ein sehr
berühmter und sehr guter Pädiater, einer der besten deutschen Kinderärzte; man sah ihm an, dass er als Kind an einer solchen Lippenkiefergaumenspalte operiert worden
war. Da wurde für mich sehr deutlich, in welchem Maße
dieses Thema auch mit Menschenwürde zu tun hat und
worüber wir hier diskutieren.
({6})
Bei dem zweiten Thema, der Nutzung embryonaler
Stammzellen, geht es darum, dass am fünften Tag nach
der Befruchtung aus der Blastozyste, dem Keimling, Zellen entnommen und kultiviert werden; wir alle haben darüber gelesen. Diese Zellen sind beliebig reproduzierbar
und halten sich lange; sie werden standardisiert und im
Labor wird eine Zelllinie mit bestimmten Eigenschaften
herausgearbeitet, mit denen dann laboriert wird. Diese
embryonalen Stammzellen sind als Laborreagenzien
weltweit patentiert. Man muss also Lizenzgebühren bezahlen und es gibt Knebelverträge. Das weiß auch die
Deutsche Forschungsgemeinschaft; das heißt, wenn sie
solche Zellen kauft, muss sie zum Teil die Rechte an den
von ihren Instituten erarbeiteten Ergebnissen abtreten.
Aufgrund dieser Tatsache hat sich dieses Verfahren bisher
nicht gelohnt.
Jetzt aber gibt es auf dem Markt günstigere embryonale
Stammzellen aus Australien oder Israel und der Erwerb
dieser Zellen ist nicht mit Knebelverträgen verbunden.
Ich möchte, dass wir uns darum kümmern, dass bei der
Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht deshalb plötzlich eine Wende eingetreten ist, weil die Zellen billiger geworden sind.
({7})
Wir haben uns in der SPD-Fraktion schon lange sehr
intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Wir haben
bei der Anhörung in der Fraktion nicht nur gehört, dass
diesseits des Rubikon noch viel Platz ist, sondern auch,
dass unendlich viele Fragen noch nicht beantwortet sind.
Es wird mit embryonalen Mäusezellen gearbeitet. Dort
gibt es verschiedene Zelllinien, die man erst einmal miteinander vergleichen muss, um zu prüfen, ob sie überhaupt reproduzierbar sind. An Primatenstammzellen ist
kaum geforscht worden. Auf dem Gebiet der adulten
Stammzellen, die man reprogrammieren möchte, sodass
sie vielerlei Verwendung finden können, gibt es noch sehr
viel zu erforschen. Dies ist völlig unproblematisch, weil
man denjenigen, der die Zelle spendet, fragen kann, ob er
mit der Zelle das machen lassen will, was von der Forschung geplant ist. Bei den Regelungen zur adulten
Stammzelle gibt es einen breiten Konsens. Einen Embryo
kann man dagegen nicht fragen; diesen nutzt man einfach.
Wir haben es hier also mit einer anderen Situation zu tun.
Deshalb geht es hier um die Menschenwürde.
({8})
Von daher freue ich mich, dass die Bundesregierung
ganz klar gesagt hat, dass adulte Stammzellen erforscht
werden sollen. Wenn dies richtig durchgeführt werde,
sehe die Bundesregierung darin eine nachhaltige Entwicklung in der Biotechnologie. Wir haben die Nachhaltigkeit in der Biotechnologie bisher zu wenig diskutiert;
dies ist in der Energiewirtschaft und in vielen anderen Bereichen ganz anders. In der Biotechnologie hat die Nachhaltigkeit etwas damit zu tun, wie sich das, was geplant
ist, auf die Regeln auswirkt, nach denen die Menschen zusammenleben, also auf die Solidargemeinschaften und
das Wertgefüge.
({9})
Wenn wir in der Biotechnologie Nachhaltigkeit erreichen und eine Akzeptanz bei denjenigen, die später die
Medikamente kaufen, erzielen wollen, dann müssen wir
uns viel Mühe geben und versuchen, auch im internationalen Wettbewerb - so, wie wir es in der Energiewirtschaft machen - das zu tun, was den geringsten Schaden
anrichtet.
({10})
Es würde mich freuen, wenn die adulten Stammzellen
weiterhin in den Vordergrund gestellt würden. Es ist nicht
nötig, den Engländern, die das therapeutische Klonen erlaubt haben, in der falschen Richtung nachzulaufen. Das
brauchen wir nicht. Wir haben in diesem Bereich sehr viel
zu tun und können auch in Deutschland noch sehr viele
Patente erringen, die weltweit vermarktet werden können.
Bei den von Ihnen genannten Heilsversprechungen handelt es sich ja nicht um konkrete Forschungsprojekte, sondern um die Grundlagenforschung. Bei Ihrer Aussage,
man könne für Alzheimer-Kranke sowie für Personen mit
speziellen Krankheiten etwas tun, handelt es sich um eine
reine Akzeptanzbeschaffung mit dem Versuch einer
Grenzbrechung.
({11})
Man tut den Menschen, denen man so etwas erzählt, Unrecht und weckt in ihnen falsche Hoffnungen. Dies dürfen
wir nicht machen.
Margot von Renesse hat in ihrer Eingangsrede gesagt,
die Wissenschaft müsse Tabus brechen, sonst komme man
nicht weiter. Sie hat Freud und Darwin genannt. Sie hat
Recht, wir müssen Tabus brechen. Es sind aber in
Deutschland bereits Tabus gebrochen worden, aus denen
sich ganz unselige und katastrophale Entwicklungen ergaben. Einige Menschen wurden als lebenswert, andere
als nicht lebenswert erachtet. Bei den damals getroffenen
Entscheidungen handelte es sich auch um Tabubrüche.
Man kann es sich nicht so einfach machen, indem man
sagt, man müsse auch einmal Tabus brechen. Wir müssen
- das tun wir auch bereits - intensiv darüber diskutieren,
wie die Wissenschaft im Auge behalten werden kann,
welcher Spielraum ihr gegeben und an welcher Stelle
Stopp gesagt werden soll. Die Freiheit der Wissenschaft
ist, wie es hier auch schon angedeutet wurde, durch die
Menschenwürde begrenzt.
Frau Präsidentin, zum Abschluss möchte ich ein kurzes
Märchen vorlesen, denn ich finde, dieses passt so gut zum
Thema: Ein Bauer haderte mit Gott, weil sein Getreide
verhagelt war und die Sonne sein Gras hatte verdorren lassen. Da wandte sich Gott an ihn und bot ihm an, er - der
Bauer - möge doch im nächsten Jahr das Wetter selbst gestalten. Der Bauer war dankbar und im nächsten Jahr ließ
er es regnen und die Sonne scheinen, worauf seine Äcker
prächtig gediehen. Als er jedoch das hoch gewachsene
Korn geerntet hatte, stellte er fest, dass die Ähren leer und
ohne Früchte waren. Erneut klagte er zu Gott. Der schalt
ihn und eröffnete dem Bauern, dass er bei seinem Versuch,
die Naturkräfte zu gestalten, leider den Wind vergessen
habe; denn der Wind sorgt dafür, dass die Befruchtung
stattfindet und sich Körner und Früchte im Getreide befinden.
Der Bauer konnte das schnell merken. Die Latenzzeit,
in der er seinen Fehler bemerkt hat, betrug eine Saison.
Das, was wir hier machen, wirkt sich aber erst in 20,
30 Jahren aus. Wir merken vielleicht erst dann, ob aus den
Embryonen, die nach PID aussortiert worden sind, gesunde Kinder hätten aufwachsen können. Dann ist das
aber nicht wieder gutzumachen. Das heißt, wir können auf
diesem Gebiet nicht korrigierbare Fehler begehen. Das
dürfen wir auf keinen Fall tun. Von daher denke ich, dass
wir aufpassen müssen, weil die Gefahr, etwas falsch zu
machen, an etwas nicht zu denken, sehr groß ist.
Wenn wir uns die Vielzahl und den Umfang der genetischen Informationen, die Vieldeutigkeit von Genen, die
wir erst erahnen - wir kennen erst Silben des Genoms, die
wahrscheinlich in vielen Sprachen unterschiedliche
Bedeutung haben -, vor Augen führen, liegt die Vermutung nahe, dass die Sprache des Genoms sogar über Ironie, über Doppeldeutigkeit verfügt. Insofern denke ich,
dass wir hier große Fehler machen können.
Herr Kollege, das
gehört aber jetzt nicht mehr zum Thema Märchen.
Das war kein Märchen, Frau Präsidentin. Das war zum Schluss noch einmal
ein Rückgriff auf die Wirklichkeit.
Ich freue mich auf die Debatte. Wir als Abgeordnete
haben uns zu organisieren, weil es die Fraktionen nicht
machen. Einige Abgeordnete haben heute angefangen und
das Bündnis Menschenwürde wieder ins Leben gerufen.
Ich bin sicher, dass es verschiedene Initiativen aus diesem
Kreise geben wird. Wir werden uns in einer völlig ungewohnten Weise neu strukturieren, um diese Themen intensiv zu debattieren. Dafür brauchen wir Zeit und gegenseitiges Verständnis.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat nun die
Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Der rasante biomedizinische
Fortschritt stellt uns vor völlig neue Herausforderungen.
Faszinierende Perspektiven mit weit reichenden Auswirkungen eröffnen sich Wissenschaft und Forschung. Aber
darf der Mensch alles, was machbar ist? Weder euphorische Überschätzung noch totale Ablehnung der Gentechnik sind richtig. Vielmehr geht es darum, Chancen und Risiken des biotechnologischen Fortschritts gegeneinander
abzuwägen. Dabei stellen sich schwerwiegende Fragen,
die an die Grundwerte unserer Gesellschaft rühren.
Meine Damen und Herren, die Menschenwürde steht
nach Art. 1 des Grundgesetzes nicht zur Disposition. Daher kommt dem menschlichen Leben in allen Lebensphasen ein absoluter Schutz zu. Die Schlüsselfrage lautet:
Wann beginnt menschliches Leben?
Für mich ist klar: Menschliches Leben beginnt mit der
Zeugung. Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein
eigenständiger Mensch mit allen Anlagen und Fähigkeiten. Damit beginnt dieser eine unverwechselbare Mensch.
Nach meiner vollen Überzeugung muss das Leben bereits
von diesem Anfang an geschützt werden. Jede andere Bestimmung des Zeitpunktes, ab dem ein voller Lebensschutz gewährt werden muss, wäre willkürlich.
Das C in unserem Namen steht für den Schutz von Anfang an, weil wir Anfang und Ende des Lebens aus dem
christlichen Glauben heraus definieren. Der Staat ist zum
Schutz und zur Förderung allen menschlichen Lebens
verpflichtet, und zwar vom frühesten Beginn bis zu seinem Ende. Vor diesem Hintergrund muss die Politik die
Rahmenbedingungen für die Entwicklung in der Forschung und deren Anwendung setzen.
({0})
Sie muss dabei die Hoffnung auf künftige Heil- und Hilfsmöglichkeiten ebenso bedenken wie die möglichen Folgen einer vorschnellen Verschiebung ethischer Grenzen.
Es geht um eine ethisch verantwortbare Nutzung der Gentechnologie. Für uns, die CSU, ist das christliche Menschenbild der Maßstab dafür. Die Würde und der Schutz
des Menschen stehen höher als das Forschungs- und Wirtschaftsinteresse.
({1})
Es wäre fatal, wenn durch vorschnelle Entscheidungen
einer Entwicklung, die heute am Anfang steht und noch
keinesfalls eingeschätzt werden kann, Tür und Tor geöffnet werden würden.
Durch den Vorschlag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Embryonen, die für eine Einpflanzung nicht
mehr infrage kommen, für die Forschung zur Verfügung
zu stellen, würde nach meiner Überzeugung die Begehrlichkeit zur Herstellung zusätzlicher Embryos im Reagenzglas geweckt; denn nach dem Verbrauch so genannter überzähliger Embryonen wird man entgegen der
Rechtslage ihre Herstellung für die Forschung nicht mehr
aufhalten können.
({2})
Die Unverfügbarkeit des Lebens lässt nicht zu, dass Eizellen zum Zwecke der Forschung befruchtet werden.
Zwar könnte durch die Forschung an embryonalen
Stammzellen Menschenleben gerettet werden, jedoch nur
um den Preis, dass anderes Leben vernichtet wird. Es steht
Leben gegen Leben. Wenn Leben zu Forschungszwecken
willkürlich geschaffen werden kann, wird die Grenze des
Lebens beliebig. Es kann und darf nicht gegeneinander
abgewogen werden.
Hinzu kommt, dass selbst in der Wissenschaft die Notwendigkeit des Einsatzes embryonaler Stammzellen umstritten ist. In Deutschland ist erfreulicherweise bei der
Forschung an adulten Stammzellen oder an Stammzellen
aus Nabelschnurblut ein hohes Niveau zu verzeichnen.
Daher ist für mich bei der Abwägung des Lebensschutzes
klar: Wir müssen diese Forschung verstärken.
Aus der staatlichen Pflicht, menschliches Leben zu
schützen, folgt auch die Aufgabe, die Praxis der Pränataldiagnostik einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Testung immer
mehr zu einem Screening-Verfahren für Föten entwickelt.
Nicht zuletzt aufgrund des so genannten Oldenburger Urteils raten viele Ärzte auch Schwangeren unter 35 Jahren
zur Pränataldiagnostik. Damit wird diese zu einer Maßnahme der Qualitätssicherung, die mit der Würde des
Menschen nicht mehr vereinbar ist. Auch der ungeborene
Mensch hat einen Anspruch auf menschliche Würde.
({3})
Als wir 1995 bei der Reform des Abtreibungsrechts die
embryopathische Indikation abschafften, hat die Frage
der Pränataldiagnostik eine wichtige Rolle gespielt. Die
Entwicklung zeigt jedoch, dass entgegen der damaligen
Annahme dieses Verfahren heute bei einer großen Zahl
von Schwangeren angewendet und so in vielen Fällen leider ein Automatismus hin zur Spätabtreibung in Gang gesetzt wird. Es droht die Gefahr, dass auch die Methode der
Präimplantationsdiagnostik nicht auf eine eng begrenzte Anwendung beschränkt werden kann, wie die Erfahrung in den USA zeigt. Der Fortschritt in der Wissenschaft darf nicht zu einer gesellschaftlichen Entwicklung
hin zu einer Unterscheidung zwischen lebenswertem und
nicht lebenswertem Leben führen.
({4})
Es stellt sich die Frage: Was ist eigentlich nicht lebenswertes Leben? Wer kann entscheiden, ob zum Beispiel ein Mensch mit Downsyndrom sein Leben als lebenswert oder als lebensunwert empfindet? Wer kann sich
anmaßen, eine solche Entscheidung zu treffen? Der Hinweis, dass die Präimplantationsdiagnostik deswegen erlaubt sein müsse, weil es die Pränataldiagnostik gebe, ist
für mich kein Argument. Bei der Pränataldiagnostik wird
an dem im Mutterleib heranwachsenden Embryo festgestellt, ob er mit einer Krankheit oder Behinderung behaftet ist. Der Gesetzgeber hat klar festgelegt, dass eine Behinderung kein Grund für eine Abtreibung sein kann. Es
geht um die individuelle Abwägung des Lebensrechtes
der Mutter und des Kindes. Das steht im Vordergrund.
Als Gesetzgeber muss unser Ansatzpunkt sein, Eltern
schon vor der Anwendung der Pränataldiagnostik darauf
hinzuweisen, in welche Konflikte diese sie bringen kann,
und sie nicht als selbstverständlich anzubieten. Bei der
Präimplantationsdiagnostik wird bereits der im Reagenzglas erzeugte Embryo auf seine erbliche Belastung hin
überprüft. Nur wenn der Embryo als erblich unbelastet getestet wird, wird er in die Gebärmutter der Frau eingesetzt.
Im anderen Fall wird er vernichtet. Die PID ist damit von
vornherein auf Selektion von menschlichem Leben ausgerichtet. Dies ist aus ethischer und christlicher Sicht nach
meiner Überzeugung nicht akzeptabel.
({5})
Es wird die Qualität von befruchteten Eizellen geprüft
und nicht mehr Leben gegen Leben abgewogen. Genau
das widerspricht unserem christlichen Menschenbild.
Ich verkenne nicht, dass mit dieser Methode Menschen
geholfen werden kann. Aber heute bereits müssen sich Eltern von behinderten Kindern sagen lassen: Hat denn das
sein müssen? Mit der Zulassung der PID würde der Druck
auf Eltern mit behinderten Kindern bzw. mit erblichen
Krankheiten noch größer werden. Ein behindertes Kind
als Schaden für die Gesellschaft anzusehen ist inakzeptabel. Es ist eine Diskriminierung aller Menschen mit Behinderungen.
Meine Damen und Herren, Sie alle haben den Brief des
Deutschen Behindertenrates vom 29. Mai 2001 erhalten.
Darin steht:
Menschen mit Behinderungen sind erschrocken, mit
welcher Selbstverständlichkeit für die Einführung einer Präimplantationsdiagnostik als Selektionsinstrument argumentiert wird.
Gerade als Christen diskutieren wir auf einem sicheren
Fundament: der Verantwortung vor Gott und der Schöpfung. Dieses Fundament dürfen wir nicht verlassen.
({6})
Für Bündnis 90/Die
Grünen erteile ich das Wort der Kollegin Ulrike Höfken.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir hier im Parlament diese
umfassende Diskussion über die Gentechnik führen; denn
die Nutzung der Gentechnik kann unsere Gesellschaft
fundamental verändern. Das gilt für den Bereich der Medizin; das gilt aber genauso für die Anwendung gentechnischer Verfahren in der Lebensmittelerzeugung, aber
auch beim Tier.
Ich bin Agraringenieurin. Im Rahmen meiner beruflichen Praxis und Forschung habe ich Lebewesen selektiert, Lebewesen optimiert. In Kenntnis der Machbarkeit,
teilweise aber auch der Nichtmachbarkeit dieser Technik,
möchte ich auf die Implikationen hinweisen, die die Übertragung eines solchen Berufsbildes auf die Humanmedizin hat.
({0})
Es gibt Art. 3 des Grundgesetzes, der ein Diskriminierungsverbot enthält, das heißt ein Verbot von Selektion.
Es wird unmöglich sein, ohne dieses Fundament unserer
Gesellschaft zu verändern, die PID anzuwenden.
({1})
Ich weise hier auch auf das Embryonenschutzgesetz hin.
Nicht zulässig ist übrigens auch die Verbindung der Diskussion über § 218, der Abtreibungsdiskussion, mit der
Diskussion um die PID. Es ist einfach so, dass sich dieser
Paragraph und die Rechtsprechung dazu nur auf einen
Konflikt in Bezug auf das Kind im Mutterleib beziehen,
auf einen Mutter-Kind-Konflikt. Das können wir nicht
einfach übertragen. Das gilt übrigens auch für die Anwendung der Spirale.
Ich möchte an alle appellieren, die nötige Trennschärfe
nicht aufzugeben. Die DFG, so habe ich in der Diskussion
in der Grünen-Fraktion gehört, möchte, unter Bezugnahme auf Professor Wolfrum, zwischen überzähligen
Embryonen und der Herstellung von Embryonen unterscheiden können, sagt aber gleichzeitig: Das Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle
und der Embryo im Reagenzglas darf nicht schutzlos
sein. - Wie, bitte schön, will man trennen zwischen einem
hergestellten Embryo und einem, der überzählig ist? Es
gibt in Deutschland 15 überzählige Embryonen, die sehr
wohl als „Findelembryo“ in eine Frau eingepflanzt werden könnten, die ein Kind möchte. Ich möchte also appellieren, diese in der Diskussion manchmal fehlende Trennschärfe zu beachten.
Es ist unser Anliegen - ich glaube, dieses Anliegen
wird geteilt -, dass Gentechnik nicht schleichend eingeführt werden darf, wie es große Chemiekonzerne im Bereich der Lebensmittelerzeugung versucht haben. Ich
nenne gentechnisch verändertes Soja. Ein solcher Versuch
wird Widerstand hervorrufen und scheitern. Die Regale
sind, was die gentechnisch veränderten Lebensmittel angeht, leer geblieben. Wir Grünen wollen Motor einer Politik des breiten und offenen gesellschaftlichen Diskurses
sein und wollen dafür sorgen, dass der Entscheidungsprozess demokratisch institutionalisiert wird.
Grundlage unserer Politik ist es ebenfalls, Chancen realistisch zu beurteilen, bestehende Bedenken ernst zu nehmen und die verantwortbaren Innovationspotenziale
der Gentechnik zu definieren und auch zu fördern. Mich
erschreckt der Hinweis unseres früheren Bundespräsidenten auf Mukoviszidosekranke ein bisschen. Dazu muss
man sagen: Es gibt keinen gentechnischen Ansatz zur
Heilung dieser Krankheit. Der gentechnische Ansatz,
PID, wäre, einen solchen Embryo zu verwerfen, ihn also
überhaupt nicht auf die Welt kommen zu lassen.
({2})
Ein solches Verständnis von Heilung lehne ich ab. Ich bin
der Überzeugung, dass auch Herr Herzog es nicht will.
Gleichzeitig muss man im Hinblick auf die Mukoviszidose sagen: Es waren doch die Methoden der ganz
normalen Medizin, die es ermöglicht haben, dass jedes
Jahr enorme Fortschritte zu erzielen sind und dass
Mukoviszidosekranke inzwischen über 60 Jahre alt werden können.
({3})
Was Arbeitsplätze, Freiheit und Markt angeht: Es wird
sich doch ein Markt zur Lösung dieses Problems bilden.
Das bedeutet auch, die vorhandenen Möglichkeiten zu
nutzen. In diesem Fall sind das ganz klar die nicht
gentechnischen Methoden.
Es gilt, ethische und grundrechtliche Grenzen zu ziehen. Das heißt aber nicht, dass nicht mehr geforscht werden darf; vielmehr gilt - ganz im Gegenteil - das, was ich
eben gesagt habe: Bestimmte Anreize schaffen einen bestimmten Markt.
Das Genom des Menschen und das des Schimpansen
stimmen zu etwa 99 Prozent überein. Rein technisch ist
eine Kombination aus Embryozellen von Affen und von
Menschen - eine Chimäre; halb Mensch, halb Tier - wohl
herzustellen. Zwar bezeichnen das EPÜ, das Europäische
Patentübereinkommen, und auch die neue Richtlinie des
Europäischen Parlaments so etwas als sittenwidrig; aber
ich muss Sie einmal fragen: Wo sind denn eigentlich die
Grenzen? Wie viel Schwein darf ein Mensch sein? Wie
viel Mensch darf ein Schwein sein? Längst stehen humanisierte Schweine in Englands und Deutschlands Forschungsställen. Stehen wir an der Grenze zum modernen
Kannibalismus?
Wir müssen uns auch den tierethischen Fragen stellen. Dürfen wir Tiere ohne weiteres klonen? Dürfen wir
Tierarten vermischen? Ich erinnere zum Beispiel an die
Herstellung der „Schiege“, ein Wesen aus Schaf und
Ziege, und an Xenotransplantationen. Nicht vergessen
sollte man die Übertragungen bisher unbekannter Krankheiten, was durchaus sehr ernst zu nehmen ist. Man muss
sich fragen, ob Tiere Ersatzteillager bei der Behandlung
unheilbarer Krankheiten sein dürfen. Unabhängig von
den ungeklärten gesundheitlichen Fragen und Risiken
müssen auch beim Klonen und bei der Xenotransplantation die Anforderungen des Tierschutzes beachtet werden.
Die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung wäre
eine wichtige Hilfe bei der Abwägung der verschiedenen
Gesichtspunkte.
Ich möchte zum Abschluss etwas zur Anwendung der
Biotechnologie im Lebensmittelbereich - Stichwort
„grüne Gentechnik“ - sagen. Was die Kosten-NutzenRelation angeht, müssen die gentechnisch veränderten
Pflanzen eher negativ beurteilt werden. Sie werden nicht
wettbewerbsfähig sein. Insektizidresistente Pflanzen werden im Prinzip nichts anderes als ein selektives Pestizid
mit all seinen Möglichkeiten, aber auch mit all seinen Problemen sein. Im Übrigen werden sie mit hohen Kosten belastet sein. Die Arbeitsplätze, die in diesem Bereich mithilfe der Gentechnik entstehen können, sind vor diesem
Hintergrund realistisch zu betrachten. Es gilt abzuwägen:
Gentechnik ist einerseits eine Rationalisierungstechnik,
sie ist andererseits ein Problem für den Mittelstand und
für einen Teil der Industrie. Arbeitsplätze durch Gentechnik sind allerdings sicherlich kein sozialethisches Argument.
Vielen Dank.
({4})
Für die F.D.P. hat jetzt
der Kollege Detlef Parr das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die F.D.P.-Fraktion hat vor mehr als acht
Monaten einen Antrag zur Präimplantationsdiagnostik
in den Bundestag eingebracht.
({0})
Der Bundesparteitag der F.D.P. hat vor einigen Wochen
mit großer Mehrheit einen eindeutigen Beschluss gefasst:
Ja, wir wollen denjenigen Paaren mit Kinderwunsch, aus
deren Familiengeschichte sich hohe genetische Risiken
zweifelsfrei ergeben, endlich auch bei uns zu einem gesunden Kind verhelfen; wir wollen diese Paare und die
Ärzte ihres Vertrauens von erheblichen Konflikten befreien; wir wollen Rechtssicherheit für alle Betroffenen.
({1})
Wir müssen versuchen, die Widersprüche - diese sind
auch heute in der Debatte deutlich geworden - zu den bestehenden Richtlinien und Rechtslagen der künstlichen
Befruchtung, der Pränataldiagnostik, der Spätabtreibung
und des medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruchs so weit wie möglich aufzulösen.
Auch wenn es die veröffentlichte Meinung manchmal
anders deutet: Die F.D.P.-Fraktion setzt dem einengenden
kategorischen Nein mancher Kolleginnen und Kollegen
kein bedenkenloses Ja entgegen. Zweifel und Skepsis sind
auch uns nicht fremd. Wir haben aber rechtzeitig eine offene Debatte geführt. Wir sind deshalb bei unserer Entscheidungsfindung und bei der Abwägung der Rechtsgüter vielleicht ein bisschen weiter als andere.
({2})
Ich sage das, weil uns in einem Zwischenruf Voreiligkeit
vorgeworfen wurde.
({3})
Eines verwundert uns bei der öffentlichen Diskussion
bis heute sehr: Betroffene Eltern sind nur wenig einbezogen. Ihr Lebens- und Leidensweg wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Ich nenne nur das Beispiel der
Familie Graumann, das deutlich macht, was Betroffene
empfinden. Deshalb war es gut, auf dem Symposium des
BMG vor einem Jahr einem Kinderarzt mit der Fachrichtung Neugeborenen-Medizin genau zuzuhören. Er erzählte die Geschichte eines todgeweihten Mädchens und
schilderte die Verzweiflung der Eltern. Er beschrieb die
hingebungsvolle Pflege dieses Mädchens. Dann kam die
unausweichliche Frage, die sich alle Eltern nach dem Tod
ihres geliebten Kindes in dieser Situation stellen: Können
wir noch einmal aushalten, was wir mit unserem Kind haben durchleiden müssen?
Da mögen Fundamentalisten rigoros auf die nach ihrer
Meinung ethisch einzig angemessene Antwort verweisen,
nämlich: Verzichtet doch auf ein weiteres Kind! - Aber
was gibt uns das Recht, Paaren ex cathedra etwas
abzusprechen, was integraler Bestandteil unseres Lebens
ist? Dürfen wir menschliches Mitgefühl ausblenden und
in unserer Debatte das vergessen, was man Mitleid oder
was man wie Jürgen Rüttgers Barmherzigkeit nennt?
({4})
Sollten wir uns nicht lieber an die christliche Botschaft erinnern, die gerade solch starre Gesetzmäßigkeiten aufgebrochen hat und die klargemacht hat, dass der Mensch nie
in jeder Hinsicht moralisch unanfechtbar wird leben können?
Eine Grundregel der philosophischen Ethik lautet: Der
mögliche Missbrauch verbietet nicht den rechten Gebrauch. - Zum rechten Gebrauch gehören Grenzen. Ich
gebe dem Bundespräsidenten Recht: Ohne Grenzen gibt
es kein Maß. Wir wollen diese Grenzen. Deshalb gehört
aus unserer Sicht zu den unabdingbaren Voraussetzungen
der Zulassung der PID eine umfassende, qualifizierte humangenetische Beratung über Chancen, Gefahren und
Belastungen. Die PID ist eben nicht, wie der hessische
Ministerpräsident Roland Koch glaubt, eine mechanische
Qualitätsprüfung ohne individuelle Abwägung durch die
Frau.
({5})
Wir wollen strenge medizinische Zulassungskriterien,
eine zivilrechtliche Würdigung sowie eine strafrechtliche
Bewehrung. Wir wollen Einzelfallentscheidungen, die
von einer unabhängigen Kommission bestätigt werden
müssen. Dabei soll es aber keinen Indikationskatalog geben; denn wer weiß, ob das, was wir heute über Krankheiten und Therapiemöglichkeiten wissen, nicht schon
morgen überholt sein wird. Wir möchten die Durchführung der PID nur in lizenzierten Zentren und wir
möchten die Dokumentation, Information und Steuerung
fortpflanzungsmedizinischer Fragen über eine Zentralstelle ähnlich der britischen Human Fertility Embryology
Authority.
Diese Grenzen sind nötig. In anderen Punkten müssen
wir uns aber über Grenzen hinwegsetzen. Wir müssen
heraus aus dem deutschen Elfenbeinturm. Ich freue mich
sehr, dass gestern der Gesundheitsausschuss auf unseren
Antrag hin eine Anhörung beschlossen hat, die wir international anlegen wollen. Beispielsweise gab es in Frankreich bereits 1983 die erste Ethikkommission der Welt.
Nach zehn Jahren hatte man ein bislang in Europa einzigartiges legislatives „Bioethik-Paket“ mit detaillierten gesetzlichen Regelwerken geschnürt, die auch die Grenzen
für die PID sorgfältig ziehen.
Das Überraschendste an dieser Diskussion in Frankreich war, dass es in der Frage der Bewertung von Behinderungen in der Gesellschaft keine Polarisierung, ebenso
wenig wie in den Niederlanden, gegeben hat. Im Gegenteil: Bis auf die Querschnittsgelähmten haben alle französischen Behindertenverbände es - Zitat - „als empörend
bezeichnet, den Frauen unnötiges Leid aufzubürden, das
die PID ihnen ersparen könnte“. Wir sehen: Auch in diesem sensiblen Bereich ist Integration möglich.
Das haben auch Patienten und Eltern der deutschen
Mukoviszidose-Vereinigung in einer Erklärung vom
24. September 2000 trotz grundsätzlicher Bedenken zum
Ausdruck gebracht:
Betroffene Eltern, die einen Schwangerschaftsabbruch ablehnen, haben nur mit der PID die Chance
auf ein weiteres Kind ohne diese Erkrankung. Der
Verein will diese Eltern mit ihren Sorgen nicht durch
ein Verbot der PID alleine gelassen sehen.
({6})
Das sind Beiträge zur gegenseitigen Verständigung. Hier
werden Brücken gebaut. Diese Brücken sollten wir bei der
weiteren Debatte gemeinsam nutzen.
Eine letzte Bemerkung: Bei allem Respekt vor den
Hinweisen auf Geduld im Entscheidungsprozess sollten
wir nicht das Wirklichkeit werden lassen, was Professor
Solter, der Direktor des Max-Planck-Institutes in Freiburg, formulierte:
Es werden nicht die Wissenschaftler sein, die die Politiker zu Gesetzesänderungen zwingen, sondern die
Patienten.
({7})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! So
sicher ich weiß, dass es ewige Wahrheit nicht gibt, so sicher weiß ich, dass wir dennoch einige dringend brauchen. Ich erlaube mir in dieser Debatte, in der wir uns der
Wirklichkeit von verschiedenen Seiten zu nähern versuchen, dieses Paradoxon auf poetische Art widerzuspiegeln:
Ein Zeitgeist
Computerspiele,
Traumhaft viele,
Bieten neue Wir-Gefühle.
Manchmal hab‘ ich drei, zehn Leben,
Stirbt eins, wird‘s mir neu gegeben.
Ganz wie‘s wahre Leben eben.
Im Ausland darf man sich bald klonen.
Bei uns lässt sich‘s ganz sicher wohnen.
Mit Ethik darf man mich verschonen.
Viel länger als im Kuschelbett
Zappe({0})n wir im Internet.
Erotik wird zum Eros-Set.
Wozu noch mit den Wimpern
Klimpern?
Mausgeklicke macht uns zimpern.
Zur Not bleibt noch das Onlinebanking.
Fonds-Charts bieten uns ein Ranking.
Moneymaking ohne Denking.
Computerspiele,
Furchtbar viele,
Ersetzen uns bald die Gefühle.
Meine Damen und Herren, solch eine Horrorwelt will
keiner von uns, davon gehe ich aus. Dennoch sind wir auf
dem Wege, sie zu ermöglichen. Das menschliche Genom
wurde von Computern entschlüsselt. Wir stehen inzwischen vor der Frage: Soll die Wissenschaft lieber forschen, wie umweltresistente Menschen entstehen, oder,
wie eine Umwelt aussehen muss, in der sich Menschen,
Tiere und Pflanzen gut entwickeln können?
({1})
Wir stehen inzwischen vor der Frage - das ist keine Alternative, es läuft aber so -, ob die menschheitliche Vielfalt, die eben gerade durch die Zufälligkeit der Entstehung Wirklichkeit wird, in Gefahr gerät, durch Aussonderung dezimiert zu werden.
Zunächst einmal werden nur die so genannten Schlechten ausgesondert. Es gibt jetzt schon Wissenschaftler - ob
verantwortlich oder unverantwortlich -, die sagen, dass
sie nicht nur das „Negative“ weghaben wollen, sondern
auch „positiv eingreifen“ und verändern wollen. Welcher
„Mode“ unterliegen denn bitte schön die Kinder, die dann
entstehen? Wie verhalten die sich, wenn in 20 Jahren alle
gleich aussehen, weil ihr Typ eben vor 20 Jahren in Mode
war? Was sollen wir machen, wenn dann eine andere
Mode herrscht? Sollen wir sie wegwerfen oder sollen die
sich selber wegwerfen, weil sie „unmodern“ sind? Das
wird doch wohl niemand ernsthaft wollen.
Wir stehen hier nicht nur vor der Frage: PID - ja oder
nein? Das ist zu einfach. Wir stehen vor der Frage: Wollen wir, dass sich das Menschenbild so verändert, dass in
Zukunft nur noch jung, schön und dynamisch als Maßstab
gilt? Diese Gefahr ist doch ohnehin in unserer Welt da.
({2})
Wenn wir das jetzt auch noch durch die Erlaubnis von genetischen Eingriffen unterstützen
({3})
- natürlich -, dann hat die Menschheit keine Chance.
Erwin Chargaff, einer der Entdecker der gentechnischen
Möglichkeiten, warnt heute, dass die Gentechnik gefährlicher ist als alle Atombomben der Welt. Er sagt das nicht,
weil die Zerstörungskraft der Gentechnik größer ist als die
der Atombomben - drei- oder fünfmal tot und die Welt
vernichtet, das ist egal; tot ist tot -, sondern er sagt das,
weil allein die Existenz dieser Möglichkeit unser Weltund unser Menschenbild so enorm verändert - viel stärker
noch als die Atombombe -, dass er diese Wirkung nicht
will. Er ist inzwischen ein hochbetagter Mann. Er weiß,
wovon er spricht, fachlich gesehen mehr als wir alle zusammen. Ich meine, man soll die Weisheit des Alters
durchaus schätzen.
Das sind Fragen, vor denen wir heute stehen. Es geht
nicht um Einzelentscheidungen: PID - ja oder nein,
Stammzellenforschung - ja oder nein. Das sind die praktischen Auswirkungen, die praktischen Ergebnisse, um
die es geht, wenn wir hierüber am Ende entscheiden. Ich
freue mich, dass die meisten der Disputanten hier gesagt
haben, sie wollten eine offene Diskussion, sie wollten
nicht heute mit Ergebnissen beginnen, sondern Fragen
stellen, und zwar so laut und so deutlich, dass die Bevölkerung mitdiskutieren kann.
Zum Abschluss erlaube ich mir, ein Gedicht meines
Freundes Christian Schröder vorzutragen; vielleicht
macht es auch Sie etwas nachdenklich:
milliarden vor uns
haben sich gefragt
was kommt nach
uns
antwort
haben alle
irgendwohin
mitgenommen
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Eines der interessanten Ergebnisse dieser Debatte ist, dass wieder deutlich wird, wie
wichtig Politik ist. Denn eines ist klar: Wir stehen hier, am
Beginn der Umsetzung der Biowissenschaft, vor der Aufgabe, diesen Prozess zu gestalten. Das kann man niemand
anders überlassen.
({0})
Hier ist die Politik wie nirgendwo sonst gefordert. Was
man uns höchstens vorwerfen kann, ist, dass wir nicht
früher intensiver damit begonnen haben. Denn jetzt machen wir vieles vielleicht schon unter zu großem Zeitdruck. Aber - davon bin ich überzeugt - die öffentliche
Debatte, die Debatte im Parlament und in der ZivilgesellDr. Ilja Seifert
schaft, ist der beste Beitrag zur Verhinderung eines EthikDumpings.
Das Beste, was wir überhaupt tun können ist: die Prozesse transparent zu machen, die Wissenschaft zu zwingen, auch Alternativen aufzuzeigen, und ihr vor allem einen verantwortbaren Rahmen zu setzen.
Insofern führt diese Debatte hoffentlich dazu - ich
finde, die Beiträge weisen in diese Richtung -, dass die
Politik stark genug wird, um zu erreichen, dass es keinen
Wettlauf der Besessenen um diese Technologie gibt.
Margot von Renesse hat gesagt, abstrakte Bekenntnisse seien wichtig, aber trotzdem gehe es um konkrete
Konflikte. Damit hat sie völlig Recht. Es geht letztlich immer darum, wie bestimmte Prozesse behandelt werden.
Aber es ist auch richtig, dass es nicht um Einzelentscheidungen, nicht um Teilbereiche und auch nicht um Teilwahrheiten geht. Die Biowissenschaft fordert uns in einer
Frage zutiefst: Welche Wirkungen haben Entscheidungen? Das geht weit über die Einzelentscheidung hinaus.
Hier liegt der entscheidende Unterschied.
({1})
Gert Kaiser, der Präsident des Wissenschaftszentrums
von Nordrhein-Westfalen, fordert die Politik auf, die Wissenschaft wieder stärker in die Gesellschaft zurückzuholen. Ich halte das für richtig. Wir müssen sehen, dass es
am Beginn der Wissenschaftsgesellschaft, der biotechnologischen Revolution mit das Wichtigste ist, die Wissenschaft zu zwingen, nicht nur an die jeweilige Fachdisziplin zu denken, sondern auch an ihre Wirkungen auf die
Wirtschaft und die Gesellschaft in der Zukunft.
({2})
Vor allem müssen wir sie zwingen, auch über Alternativen nachzudenken. Das sind zwei zentrale Punkte eines
veränderten Verständnisses in der Wissensgesellschaft.
Denn es gibt keinen autonomen Technikprozess.
({3})
Technik ist immer gestaltbar. Insofern geht es um die
Frage, ob die Politik den Raum für Pluralität und Vielfalt
schafft. In dieser Hinsicht sind wir heute gefordert.
Dabei stehen wir vor drei großen Herausforderungen.
Erstens. Als wir vor etwa 15 Jahren den Bericht „Chancen
und Risiken der Gentechnik“ veröffentlicht und im Parlament diskutiert haben, haben wir geglaubt, wir hätten im
Wesentlichen alle Bereiche abgedeckt, die wir abdecken
mussten. Heute stellen wir fest, dass uns die Entwicklung,
vor allem in den letzten vier Jahren, überrollt hat.
Angesichts dessen, was seit Ende 1997, seit Dolly, passiert ist, stellt Professor Lee Silver von Princeton völlig zu
Recht die These auf, dass diese Aktivitäten nur eine Logik haben, nämlich alle Verfahren schließlich beim Menschen anzuwenden. Genau das ist die Logik dessen, was
in vielen Bereichen heute passiert.
({4})
Der zweite Punkt, der dieses Thema so schwierig
macht, ist, dass wir mit der Globalisierung eine Auflösung
fester Normierungen erleben - der Soziologe Zygmunt
Baumann nennt das existenzielle Unbestimmtheit -, eine
formbare Weichheit, die immer weniger gegebene Grenzen akzeptiert, sondern alle Prozesse fließend macht.
Drittens, das vielleicht größte Problem: Lothar Haak
spricht davon, dass die Wissenschaft immer mehr zur
Vollendung von Tatsachen werde. Das heißt, dass die bisherige Grenze zwischen Grundlagenforschung und Anwendung verschwimmt und der Druck auf die Wissenschaft zunimmt, selbst zur unmittelbaren ökonomischen
Verwertung zu werden. Dies ist eine verhängnisvolle Entwicklung.
({5})
Wir müssen dafür kämpfen, dass die Wissenschaft
auch die Fähigkeit zur Pluralität und zur Abwägung bewahrt.
({6})
Durch die Ökonomisierung der Wissenschaft gehen
diese Grenzen verloren. Es ist einer der zentralen Punkte,
das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und
Gesellschaft so zu organisieren, dass es keinen verhängnisvollen Wettlauf um die schnelle ökonomische Verfügbarkeit gibt.
({7})
Dafür sind die Fragen, die sich uns stellen, viel zu wichtig und viel zu zentral.
({8})
Ich weise darauf hin, dass selbst „Nature“ fragt, ob der
wissenschaftlich-industrielle Komplex außer Kontrolle
gerät. Nein, Wissenschaft muss eine Distanz zu ihrem eigenen Metier bewahren, um überhaupt wissenschaftlich
bleiben zu können. Dafür müssen wir sorgen.
Das bedeutet Transparenz, das bedeutet Vielfalt, das
bedeutet aber vor allem, dass wir klarmachen, was wir unter Menschenwürde verstehen. Die kantsche Philosophie
ist in ihrem Grundentwurf in erster Linie individuell orientiert. Dennoch gibt es dort einen zentralen Punkt, an
dem wir uns orientieren müssen.
Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner
Person als auch in der Person eines jeden anderen
niemals bloß als Mittel brauchest.
Ich glaube, dies ist der wesentliche Punkt. Der Naturphilosoph Meyer-Abich bezeichnet dies so: Die Würde
des Menschen ist im Charakter des menschlichen Mitseins angelegt, und zwar von Anfang an.
Die bisherige Gesellschaftsgeschichte war immer eine
Geschichte von Kontinuität und Veränderung, war immer
„gewachsen und geworden“. Der entscheidende Unterschied der Biowissenschaft scheint mir angesichts des
Michael Müller ({9})
sich auftuenden Möglichkeitsraumes darin zu liegen, dass
diese heute eine gemachte Gesellschaft werden kann. Die
entscheidende moralische Herausforderung liegt von daher darin, dass wir die gemachte Gesellschaft verhindern,
({10})
aber die wachsende aus Kontinuität und Veränderung
stärken und wir und uns für die gewachsene einsetzen.
Das ist der wesentliche Punkt. Wenn wir es zulassen, dass
eine Gesellschaft nicht mehr aus ihrer Geschichte wächst,
dass es nicht immer wieder eine Verbindung zwischen Beständigkeit und Veränderung gibt, sondern nur durch das
Neue abgelöst wird, was zu Entwurzelung und Bodenlosigkeit führen würde, haben wir versagt. Insofern ist der
entscheidende Punkt: Es muss Kontinuität mit Veränderung verbunden werden. Es muss ein gewachsener Fortschritt bleiben und darf kein gemachter werden.
Dies ist aus meiner Sicht entscheidend, um das, was
Kant als die Verbindung von Menschsein und Menschheit
definiert, zu bewahren, den Kern dessen, was die Menschenwürde und letztlich die Gesellschaft ausmacht.
Vielen Dank.
({11})
Nun hat für die
CDU/CSU-Fraktion der Kollege Werner Lensing das
Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Mit
atemberaubender Spannung verfolgen wir den aktuellen
Diskussionsprozess. Als Sprecher der Unionsfraktion in
der entsprechenden Enquête-Kommission treibt mich
nicht von ungefähr die bange Sorge um die in Theorie wie
Praxis verbreitete Doppelmoral, zumindest die Widersprüchlichkeit so mancher oft wiederholter Argumente.
Das gilt selbst für die heutige mit großem Ernst geführte
Debatte. Mitunter droht sogar der ethische Diskurs in die
Defensive zu geraten. Es bleibt die berechtigte Frage, ob
Ethik und Politik mehr bedeuten als eine nachträgliche
Akzeptanzbeschaffung für das Machbare.
Zudem wird gerne vergessen, dass niemand, also wirklich niemand, dem Menschen die alleinige Verantwortung
für sein eigenes Handeln abnehmen kann. Dies gilt für Politiker, Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler
ebenso wie für Anwender und Nutzer. Schließlich hat Gott
den Menschen als freies, eigenverantwortliches Wesen
geschaffen. Daher dürfen wir unsere höchstpersönliche
Entscheidungskompetenz nicht kurzerhand auf ein Gutachtergremium - unter welcher Etikettierung dieses auch
immer firmiert - delegieren.
({0})
Ich warne davor, sich schon allein aufgrund des täglich - auch heute wieder - zu vernehmenden Hinweises,
die Forschung werde durch die Wahrung der Menschenwürde ihre natürliche Begrenzung erfahren, in irgendeiner Weise vordergründig beruhigen zu lassen, unabhängig
davon, dass die Würde des Menschen ohne einen persönlichen Wertebezug keinen Wert hat. Leider präsentiert
sich die Menschenwürde in der Gegenwart als ein inflationär gebrauchter Schlüsselbegriff der Politik und des
Rechts ebenso wie der Ethik und der Moraltheologie.
Der Hauptstreitpunkt liegt meines Erachtens in Folgendem: Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich
mehrfach festgestellt, dass der Schutz des ungeborenen
Lebens von immenser Bedeutung ist, hat aber gleichzeitig bestimmte Ausnahmen zugelassen, mit der fatalen
Folge, dass der Schutz des Lebens bei uns in Deutschland
stark relativiert ist. Entweder fordere ich den absoluten
Schutz von Anfang an - und dies dann ohne Ausnahme oder ich schränke diesen ein, mit der traurigen Folge,
dass, wie derzeit in Deutschland, tagtäglich unsäglich
viele Abtreibungen erfolgen.
({1})
Von daher dürfen wir uns nicht wundern, wenn inzwischen ein in der Petrischale liegender Embryo geschützter zu sein scheint oder gar ist als ein Embryo, der im Mutterleib heranwächst. So wird die Tötung eines Embryos in
vitro mit Strafe bedroht, wohingegen unter geregelten
Voraussetzungen die eines Embryos in vivo straffrei
bleibt. Von einer Kultur des Lebens sind wir weit entfernt,
erst recht, wenn wir uns auf die Spätabtreibung besinnen.
({2})
Vor diesem Hintergrund erscheint es mir widersprüchlich, dass nach gültiger Rechtslage ein Embryo legal getötet werden darf, wenn er sich in der Gebärmutter befindet
und bereits ein vergleichsweise hohes Entwicklungsstadium erreicht hat, eine Verwerfung in einem früheren Stadium aber ausscheidet.
({3})
Es ist für mich schwer nachvollziehbar, weshalb ein
künstlich erzeugter Embryo der Pränataldiagnostik unterzogen werden und unter bestimmten Umständen sogar
abgetrieben werden darf, ohne dass dies angeblich seiner
Menschenwürde widerspricht, wohingegen die Kombination von künstlicher Befruchtung mit einem diagnostischen Verfahren, nämlich der PID, zu einem Verstoß gegen die Menschenwürde erklärt wird.
Auch bei der Bewertung der Stammzellenforschung
begegnen wir einer Reihe evidenter Widersprüche und
ungeklärter Fragen, die ich nur auf zwei fokussieren
möchte: Erstens. Soll es deutschen Forschern verboten
sein, auf Ergebnisse zurückzugreifen, die im Ausland auf
in Deutschland verbotene Weise erzielt wurden? Zweitens. Dürfen und können wir beispielsweise rechtfertigen,
deutschen Patienten bestimmte Behandlungsmöglichkeiten zu verwehren, nur weil diese mithilfe von Verfahren
zustande gekommen sind, die bei uns unzulässig sind?
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, ob Sie annehmen, gerade auch aufgrund der heutigen Debatte, dass wir
eine Einigung erzielen können. Denn - davon bin ich zutiefst überzeugt - die Positionen zwischen den BefürworMichael Müller ({4})
tern eines uneingeschränkten Lebensschutzes ab der Verschmelzung von Ei und Samenzelle und denen eines abgestuften, wachsenden Schutzes der Embryonen liegen so
weit auseinander, dass eine Vermittlung bedauerlicherweise nicht möglich ist.
Gestatten Sie mir für unsere Arbeit in der EnquêteKommission und auch hier im Plenum zum Schluss vier
kurze, aber grundsätzliche Thesen:
Erstens. Bei unserem unendlich schwierigen Bemühen
um eine Konsensbildung sollten wir uns stets vor Augen
halten, dass wir Deutschen den anderen Europäern moralisch nichts voraus haben.
({5})
Zweitens. Mit bloßen Diffamierungen oder einer einseitigen Verweigerungshaltung geraten wir schnell ins
Abseits und verlieren so auch jede Chance, mit unseren
Beiträgen - gleich welcher Art - überhaupt noch wahrgenommen zu werden.
({6})
Drittens. Es ist wichtig, unsere Forschung im Bereich
der Bio- und Gentechnik nicht mehr als unbedingt erforderlich und verantwortlich einzuschränken.
({7})
Viertens. Für mich steht unzweifelhaft fest: Die biotechnische Forschung hat keinerlei Auftrag zu einem achten Schöpfungstag.
Ich danke Ihnen.
({8})
Für das Bündnis 90/
Die Grünen hat jetzt der Kollege Hans-Josef Fell das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Gentechnik bietet ohne Zweifel Chancen für die
Heilung von Krankheiten. Immer mehr wird sie daher zu
einem Schwerpunkt der Forschungsförderung von Bundesregierung und Europäischer Union. Auch deshalb verläuft die Entwicklung der Gentechnik ungeheuer rasant.
Neue Forschungsergebnisse werden mit hoher Geschwindigkeit veröffentlicht, sodass ethische Bewertungen oder
gar das Schaffen rechtlicher Rahmenbedingungen nicht
mehr Schritt halten können. Ethische, ökologische, rechtliche oder soziale Folgen der Gentechnik können kaum
noch rechtzeitig erkannt und diskutiert werden. Nicht zuletzt deshalb haben wir in den letzten beiden Jahren in
Deutschland einen wesentlich höheren Mittelanteil als international üblich für die Technikfolgenabschätzung und
die ethische Betrachtung bereitgestellt.
Die Chancen der medizinischen Gentechnik bergen
aber auch die Gefahr, dass die Gesundheitsforschung zu
sehr auf den gentechnischen Ansatz verengt wird. Viele
Krankheiten sind nicht oder nur teilweise genetisch bedingt. Auch Umweltfaktoren spielen eine größere Rolle.
So stehen etwa Pestizide im Verdacht, Parkinson zu verursachen.
Auch mit Blick auf die Präimplantations- und Pränataldiagnostik nenne ich nur einige Beispiele dafür, wo die
Forschung über den gentechnischen Ansatz hinaus wichtige Beiträge zur Verbesserung der Lebensqualität liefern kann: die Gesundheitsvorsorgeforschung, die Pflege,
die Schmerzlinderung, die gesellschaftliche Integration
von Behinderten und Hilfen für deren Angehörige. Dafür
Forschungsschwerpunkte zu schaffen ist mindestens genauso wichtig wie für die gentechnische Medizin.
({0})
Potenziell kranke bzw. behinderte embryonale Menschen auszusortieren, wozu die PID letztendlich dient,
darf nicht unser Ziel sein. Die PID wird nicht kranken,
schwachen Menschen helfen; nein, sie wird zu deren Aussortierung führen. Das lehnen wir ab.
({1})
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft setzt sich für
die Forschung mit embryonalen Stammzellen ein, die
überschüssig sind und deren Ableben damit besiegelt sei.
Tatsächlich, darauf wurde schon hingewiesen, gibt es in
Deutschland aber nur sehr wenige dieser verwaisten Embryonen. Für diese würden sich sicher unfruchtbare
Frauen bzw. Paare finden, die für eine Embryospende sehr
dankbar wären. Der Argumentation der DFG fehlt daher
die Grundlage, denn todgeweihte Embryonen muss es
nicht geben. Selbst wenn das Überleben der Embryos
nicht möglich wäre: Aus meiner Sicht ist die Tötung von
embryonalem Menschenleben zu Forschungszwecken
ethisch nicht vertretbar.
Aus bündnisgrüner Sicht sind adulte Stammzellen eine
ethisch und wissenschaftlich vertretbare Alternative zu
embryonalen Stammzellen. Hierauf sollten wir unsere
Forschungsanstrengungen konzentrieren.
Meine Damen und Herren, Gentechnik ist nicht nur
Humangenetik. Auch Tier- und Pflanzengenetik müssen
wir kritisch diskutieren. Niemand kann heute schon wissen, welche gesundheitlichen und ökologischen Risiken
sich hinter der Freisetzung und dem Genuss von genetisch
veränderten Pflanzen verbergen. Genfood findet daher
verständlicherweise fast keine Käufer. Welthungerprobleme brauchen andere Ansätze. Gentechnisch stimulierte
Höchsterträge können keine wirkliche Lösung bieten.
({2})
Lassen Sie uns gemeinsam aus der BSE-Krise lernen
und pflanzliche Gentechnik erst dann anwenden, wenn
alle Sicherheitsbedenken mit großer Wahrscheinlichkeit
ausgeräumt sind. Ansonsten werden wir wie Goethes Zauberlehrling die gentechnisch veränderten Pflanzengeister
vielleicht nie mehr los.
({3})
Für die SPD-Fraktion
erteile ich das Wort der Kollegin Christel RiemannHanewinckel.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir debattieren nun schon einige Stunden über die
Würde des Menschen, und zwar vom Beginn bis zum
Ende des Lebens, von der ersten Zellteilung bis zum letzten Atemzug.
Wie soll menschliches Leben aussehen? Gibt es unterschiedlich wertvolles Leben? Welche Andersartigkeit,
welche Abweichung von der Norm akzeptiert die Gesellschaft? Was an Eingriffen ist erlaubt? Ist es vertretbar,
Krankes, Belastendes, Abweichendes am Leben zu lassen
oder dieses Leben zu beenden? Wie viele Prozente müssen erreicht werden, wenn ich als gesund gelten will? Und
wer entscheidet all diese Fragen - die Medizin, die Forschung, der internationale Wettbewerbszwang, die Kassen, die Allgemeinheit, die werdenden Eltern, die Politik?
Der Fragenkatalog ist noch sehr viel umfangreicher.
Das hat die heutige Debatte schon gezeigt. Er macht mir
deutlich, dass die Debatte überall geführt werden muss,
nicht nur hier im Deutschen Bundestag, nicht nur in der
Forschung, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, das heißt überall da, wo Menschen zusammenleben. Ich bin froh, dass der Deutsche Bundestag
heute ein deutliches Signal für die Notwendigkeit dieser
allgemeinen Debatte sendet.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich in meiner
Rede auf einen Punkt konzentrieren. Aber zuvor muss ich
etwas zu der Bemerkung von Frau Merkel sagen, die sie
vorhin gemacht hat: Was ich hier zu sagen habe, sage ich
ganz bewusst als Christin - als Christin, die der sozialdemokratischen Partei angehört. Es gibt keine Partei - nicht
in Deutschland und auch nicht anderswo auf der Welt -,
die das Christsein allein in Anspruch nehmen könnte, die
für sich in Anspruch nehmen könnte, nur sie habe ein
christliches Gewissen.
({0})
Ich rede hier als Christin, als Pfarrerin und - ich sage es
noch einmal - als Sozialdemokratin.
Meine Damen und Herren, der eine Punkt, auf den ich
mich konzentrieren möchte, beschreibt die Situation, in
die werdende Eltern schon heute in Deutschland kommen: Eine Schwangerschaft ist heute weniger eine Normalität als Risiko bis Krankheit. Schwangere haben sich
zig pränatalen diagnostischen Untersuchungen zu unterziehen, über die sie oft genug nicht aufgeklärt werden, geschweige denn, dass ihr Einverständnis vorliegen würde.
Schwangere haben kaum eine Chance, sich der pränatalen Diagnostik zu entziehen, weil sie inklusive im Behandlungsvertrag mit den meisten Ärztinnen und Ärzten
festgeschrieben ist. Dazu gehören Untersuchungen - das
ist meiner Ansicht nach das Wichtigste -, die in der Mehrzahl nicht der Heilung oder Behandlung der werdenden
Mutter oder des werdenden Kindes dienen, sondern dem
Erkennen von Schäden beim Embryo mit der Konsequenz
seiner möglichen Abtreibung wie etwa die Untersuchung
zum Erkennen des Down-Syndroms.
Werdende Mütter bzw. Eltern haben oft keine Chance,
sich mit dem zu erwartenden Krankheitsbild auseinander
zu setzen, weil in der Regel vor der Beratung bzw. Überweisung an eine Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe
das Terminangebot für eine Abtreibung steht. Damit wird
indirekt aus medizinischer Sicht deutlich gemacht: „Nicht
solch ein Kind in dieser Gesellschaft!“
Die Präimplantationsdiagnostik reduziert dies noch
auf die Frage, ob die Qualität des Embryos zum Einpflanzen reicht oder nicht. Die potenziellen Eltern haben
diesen Konflikt ohne das Erleben von Schwangerschaft
zu entscheiden. Damit wird aus meiner Sicht die Entscheidung entpersonalisiert.
({1})
Nicht das Kind steht im Vordergrund, sondern der - zum
Teil auch verständliche - Wille der Eltern nach einem gesunden Kind.
Der Ärztinnenbund, der Behindertenrat und auch andere
Organisationen haben sich gegen die Präimplantationsdiagnostik ausgesprochen. Ich tue das auch, denn Behinderung und Krankheit mindern nicht den Wert des menschlichen Lebens. 1994 haben wir in Art. 3 des Grundgesetzes
verankert: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. - Das gilt meiner Meinung nach für den
Embryo im Reagenzglas genauso wie im Bauch der werdenden Mutter.
Die Präimplantationsdiagnostik ist mit der Würde des
Menschen meiner Ansicht nach nicht vereinbar. Das
menschliche Leben ist nicht in einer bestimmten und gewünschten Art und Weise zu haben. Es ist immer unterschiedlich in seinen Möglichkeiten, Fähigkeiten und
Schönheiten. Es ist auch immer unterscheidbar von anderen Werten. Menschenwürde ist deshalb nicht an eine bestimmte Art von Gesundheit oder Krankheit gebunden.
Sie ist meines Erachtens auch nicht mit der Freiheit der
Forschung verrechenbar und auch nicht aufrechenbar gegen das Bruttosozialprodukt, Arbeitsplätze oder Gewinne
in anderen Bereichen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun der
Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn
ein kleines Missverständnis ausräumen, das offensichtlich bei der Kollegin Hanewinckel aufgetreten ist. Frau
Merkel hat in ihrem Beitrag deutlich gemacht, wie sehr
wir gerade aufgrund unserer Entscheidung, uns Christlich-Demokratische Union zu nennen, mit dieser Frage
ringen.
({0})
Selbstverständlich ist sie genauso wie ich der Auffassung,
dass es engagierte Christen in allen politischen Parteien
und Richtungen gibt.
({1})
Ich wollte das zu Beginn meiner Rede gerne klarstellen.
({2})
Im Zentrum unseres Denkens und Handelns steht die
Würde des Menschen. Wir als Gesetzgeber haben die Verantwortung, menschliches Leben zu schützen. Für mich
ist es ein Gebot des Lebensschutzes, die medizinische
Forschung nach Kräften zu unterstützen. Ich möchte deutlich sagen: Wer die Forschung unter Generalverdacht
stellt, der beschädigt ein wichtiges Gut.
({3})
Unsere Forscher stehen an der Seite der Schwachen
und die Forschung dient schwachen und kranken Menschen.
({4})
Die Erfahrung mit der Stammzellenforschung zeigt, dass
sie schon heute vielen Menschen hilft. Denken Sie beispielsweise an die Therapie leukämiekranker Kinder. Wir
verbinden mit ihr die Hoffnung, auch andere schwere
Krankheiten heilen zu können. Lange haben wir darauf
gesetzt, dass die Forschung mit adulten Stammzellen alle
Fragen zu beantworten in der Lage ist. Drei Jahre nach
den beiden entscheidenden Veröffentlichungen in „Nature“ und „Science“ über die embryonalen Stammzellen
wissen wir durch die sorgfältige Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wie wichtig die vergleichende Forschung mit embryonalen Stammzellen gerade
auch für das Verständnis der adulten Stammzellen und die
Entwicklung wirksamer Therapien ist.
Ich will mit allem Ernst sagen: Keiner weiß heute, ob die
schlimme Rinderkrankheit BSE in Form der CreutzfeldtJakob-Krankheit einmal massiv auf den Menschen
überspringt. Die Folgen wären fürchterlich. Wir alle wünschen uns, dass dies nie eintritt. Aber wir als Gesetzgeber
haben die Verantwortung, schon heute alles Menschenmögliche zu unternehmen, um solche Entwicklungen abwenden zu können. Schwerwiegende Fehler geschehen
nicht nur durch falsches Handeln. Schwerwiegende Fehler entstehen auch dann, wenn man das Richtige unterlässt.
Ich erinnere mich noch genau an den Kampf in den
70er-Jahren gegen gentechnisch hergestelltes Insulin. Er
ist mit aller Erbitterung geführt worden. 1986 haben wir
es in Deutschland zugelassen. Heute ist es für die vielen
zuckerkranken Menschen eine wichtige Überlebenshilfe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erinnere mich, dass
schon damals der Rubikon beschworen wurde, den man
nicht überschreiten dürfe. Heute hören wir von höchster
Stelle genau das Gleiche. Übrigens: Cäsar hat den Rubikon überschritten. Er hat Rom gewonnen und die Geschichte hat ihm Recht gegeben.
({5})
In dieser Debatte ist die Frage nach dem Beginn des
menschlichen Lebens aufgeworfen worden. Unbestritten
ist, dass es mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt. Aber ist dieses beginnende menschliche Leben schon der Mensch? Kann man eine befruchtete Eizelle mit einem Menschen gleichsetzen? Dies wäre aus
meiner Sicht ein gravierender naturalistischer Fehlschluss, vor dem namhafte Wissenschaftler warnen. Ich
nenne hier nur Horst Dreier, Reinhard Merkel und Volker
Gerhardt. Ich verweise auch auf das interessante Interview mit Wolfgang Schäuble, das heute im „Tagesspiegel“ erschienen ist. Ich halte eine deutliche Unterscheidung zwischen einer winzigen Zelle im Reagenzglas und
einem heranwachsenden Kind im Mutterleib unter jedem
denkbaren Aspekt für richtig.
({6})
Ich bin der Auffassung, dass die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts von den Gegnern der diskutierten gentechnischen Methoden in unzulässiger Weise in
Anspruch genommen wird. Ich teile nachdrücklich die
Auffassung von Jutta Limbach, der Präsidentin unseres
Bundesverfassungsgerichtes, und von Roman Herzog,
unserem früheren Bundespräsidenten.
Menschen mit Behinderungen gehören zu unserem
Leben. Ohne sie wären wir ärmer. Diese Menschen können zu Recht von uns erwarten, dass wir alles in unserer
Macht Stehende tun, um Leiden zu lindern. Ich bin Roman
Herzog daher für die Frage, die er aufgeworfen hat, dankbar: Habt ihr alles getan, um diesen Menschen zu helfen?
Darum wollen wir ringen.
Ich setze mich für eine Ethik des Heilens ein. Als Christen sollen wir nach Prinzipien fragen. Das finde ich richtig. Aber ich finde es noch richtiger zu fragen: Wo sind wir
gefordert, Entscheidungen zu treffen, die Menschenleben
retten können? Als Christen sollten wir Menschen retten,
nicht Prinzipien.
({7})
Als Nächster redet der
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gentechnologischen und biotechnologischen Forschungen ermöglichen riesige Chancen in der Entwicklung, aber sie
verlangen unsere Gestaltung. Wir haben bereits heute medizinische Entwicklungen, die ohne die Erkenntnisse dieser neuen Technologien nicht denkbar sind.
Aber es sind in diesem Zusammenhang, neben der Betonung der Chancen und der Förderung der Möglichkeiten, wichtige Fragen zu stellen: Wem gehören die genetischen Programme von Mensch, Flora und Fauna? Welche
Risiken dürfen wir bei der Änderung genetischer Programme in Lebewesen eingehen? Darf und will man die
biologische Arten- und Sortenvielfalt durch genetisch
veränderte Lebewesen gefährden?
All diese Fragen müssen wir als Parlament diskutieren.
Aber all diese Fragen treten in der heutigen Debatte in den
Hintergrund. Die embryonale Stammzellenforschung
und PID treiben fast alle Rednerinnen und Redner um. So
ist es auch draußen in der Gesellschaft. Alle Menschen
spüren: Hier geht es um mehr als nur eine Diagnosemethode oder eine neue Forschungslinie. Es geht um
große Hoffnungen, Heilsversprechungen der Medizin und
der Forschungen, die erst noch bestätigt werden müssen.
Aber es geht auch darum, wo wir menschliches Leben als
menschliches Leben anerkennen und mit welchen rechtfertigenden Gründen wir eine Einschränkung des unbedingten Schutzes des Lebens zulassen wollen.
Wer verfügt über das Leben anderer? Auch wenn wir
im Parlament und in unserem Land keinen Konsens darüber haben, ob es einen Schöpfer gibt, müssen wir doch fragen: Wollen wir uns als Menschen, als Politiker, zu
Schöpfern aufschwingen und zu Richtern über Leben
oder Tod machen?
Das Bundesverfassungsgericht - es wurde hier mehrfach angesprochen - hat sich in der Vergangenheit nie zu
den Fragen geäußert, über die wir heute diskutieren und
die wir irgendwann beantworten müssen. Es hat aber in
früheren Entscheidungen bedeutende Worte gesagt und
Figuren entwickelt, die wir meines Erachtens dieser Debatte zugrunde legen sollten.
({0})
Dies betrifft die Frage: Wann beginnt menschliches Leben? Das Bundesverfassungsgericht hat dazu gesagt,
menschliches Leben beginne, sobald es individuelles, in
seiner genetischen Identität festgelegtes Leben gebe. - Es
ist sinnvoll, das auf den Zeitpunkt festzulegen, an dem Eiund Samenzelle miteinander verschmolzen sind. Es gibt
kein anderes objektives Kriterium, um den Beginn des
menschlichen Lebens festzulegen. Wenn wir bejahen,
dass es ab dann menschliches Leben gibt, dann dürfen wir
dieses Lebensrecht nicht ohne erheblich rechtfertigenden
Aufwand infrage stellen.
Wir kennen in unserer Rechtsordnung nur zwei Fälle,
bei denen wir den absoluten Lebensschutz relativieren
- es handelt sich dabei immer um Situationen, wo das Leben eines anderen Menschen in Gefahr ist -: beim Notwehrrecht und in der Abtreibungsfrage. Bei der Abtreibung rechtfertigen wir übrigens nicht die pränatal
indizierte Abtreibung, sondern die Beschränkung der seelischen und körperlichen Gesundheit der Frau und die
Einwirkung auf sie und zwar als einzigen rechtfertigenden Grund für einen legalen Schwangerschaftsabbruch
nach der Fristenlösung. Diese Tatsache verschwimmt leider etwas in der Diskussion.
Ich meine, wir müssen uns bei der Diskussion um die
Stammzellenforschung und die PID fragen: Wollen wir
andere Grundrechte, die einen geringeren Rang haben als
der Schutz des Lebens, als rechtfertigenden Grund dafür
zulassen, um den Schutz menschlichen Lebens in unserer
verfassungsrechtlichen Ordnung zu beschränken? Die
Beantwortung dieser Frage - wir können keine Einzelfallethik durchführen oder das Verfassungsrecht speziell
für diese Fälle auslegen, ohne dass das zu Weiterungen in
der Zukunft führt - wird den Schutz des menschlichen
Lebens eines jeden Einzelnen in der Gesellschaft betreffen.
({1})
Wenn wir uns im Zusammenhang mit der PID überlegen, was wir im Embryonenschutzgesetz geregelt haben, müssen wir sehen, dass wir bei der Fortpflanzungsmedizin sehr enge Möglichkeiten geschaffen haben,
Paaren, die auf natürlichem Wege nicht zu Kindern kommen können, den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen. Es
handelt sich hier aber nicht um die positive Ausgestaltung
des Grundrechts auf persönliche Entfaltung, indem man
Kinder bekommt, sondern wir wollten Menschen dadurch
helfen und haben dies auch eingeschränkt getan.
({2})
Wenn wir die Praxis der Bundesärztekammer betrachten, können wir feststellen, dass diese die Fortpflanzungsmedizin - ohne dass das bisher rechtlich beanstandet wurde - nur für verheiratete Paare zulässt. Eine allein
stehende Frau oder eine Frau, die in einer nicht ehelichen
Lebensgemeinschaft lebt, kann auf legale Weise auf diesem Wege in Deutschland nicht zu einem Kind kommen.
Wenn im Rahmen der Diskussion über PID gefordert
wird, man müsste diese Grundrechtsverwirklichung für
die Eltern durchsetzen, halte ich das nicht für einen
rechtfertigenden Grund, um die PID zuzulassen; die Zulassung hätte zur Folge, dass ein Embryo nach dem anderen, eine ganze Generation von Embryos, verworfen
werden könnte, weil sie als nicht lebenswert betrachtet
würden.
({3})
Ein Satz zum Schluss als Appell an die Medien: Ich
habe mehrere Fernsehsendungen gesehen, die sich mit
diesem Thema beschäftigten. In diesen Sendungen werden immer wieder Kinder gezeigt, die schwere Krankheiten haben. Es wird gesagt, Kinder mit solchen Erkrankungen wären durch die PID angeblich vermeidbar
gewesen. Überlegen Sie einmal, was Sie den Menschen,
die Sie in den Filmen zeigen, letztlich sagen. Sie sagen ihnen: Hätte es die PID gegeben, hättest du nicht leben müssen.
Haben Sie einmal diese Kinder und Erwachsenen gefragt, ob sie nicht leben wollen, ob sie trotz mancher Beeinträchtigungen und mancher persönlicher Leiden nicht
gerne leben und das Gefühl haben, dass ihr Leben lebenswert ist, obwohl es auch Tage gibt, an denen sie ihre
Krankheit und ihr Leiden verfluchen? Wer als Außenstehender hat das Recht zu sagen, dieses Leben hätte nicht
gelebt werden dürfen? Wir müssen uns sehr genau fragen,
Volker Beck ({4})
welche gesellschaftlichen Implikationen die Diskussion
hat, die wir hier heute führen.
({5})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Helga Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Begegnung und
Auseinandersetzung mit biomedizinischer Forschung gibt
es einige Fragen, die mich in besonderer Weise beschäftigen - die PID, zwar kein zentraler, aber doch ein wichtiger
Punkt in der Debatte, bündelt sie -: Muss der Gesetzgeber
die Nutzung eines neuen biotechnischen Verfahrens ermöglichen? Oder besser: Darf er es verhindern? Wen müssen wir schützen? Welche gesellschaftlichen Prozesse verstärken wir? Wie werden die Interessen der Frauen
vertreten? Wie ist bei Zulassung der PID die Signalwirkung
auf gesellschaftliche Prozesse? Werden hier nicht doch ausgrenzende, stigmatisierende Tendenzen verstärkt? Wird das
von einer definierten Abweichung unbelastete Kind nicht
doch zur Norm? Verurteilen Menschen mit Behinderung
oder chronischer Krankheit nicht zu Recht die mit der PID
verbundenen Angriffe gegen behindertes Leben?
Auf das Nichtdiskriminierungsgebot wurde schon
hingewiesen. Menschen mit Behinderungen wird schwer
zu vermitteln sein, dass die Möglichkeit, die mit PID eröffnet wird, nämlich die Auswahl von Embryonen mit unerwünschten Merkmalen, nicht mit einer Klassifizierung
verbunden ist. Wächst nicht der Erwartungsdruck auf die
Frauen, doch ein gesundes Kind zur Welt zu bringen?
Wer wie ich für die freie Wahl weiblicher Lebensentwürfe eintritt, muss den von der biomedizinischen Forschung vorgegebenen Weg noch lange nicht kritiklos gutheißen. Es stimmt: Das Verbot der PID schränkt die
Wahlfreiheit und die Selbstbestimmung der Frau ein. Es
sei aber auch daran erinnert, dass die Wahl weiblicher Lebensentwürfe nach wie vor und in erster Linie durch patriarchalisch dominierte gesellschaftliche Bedingungen
begrenzt wird, an deren Veränderung wir arbeiten.
Die Wahlfreiheit für alle Fortpflanzungsentscheidungen hat einen hohen Preis: Bewertung von Leben bis hin
zur Verwerfung, Diskriminierung von Behinderungen sowie möglicher Einstieg in die verbrauchende Embryonenforschung. Eine Begrenzung der PID wird rechtlich nicht
haltbar sein.
Die vorgeburtliche Diagnostik bietet dazu eine Parallele. Diese wurde ursprünglich für eine kleine Gruppe von
Menschen geschaffen. Heute kommt sie in der Mehrzahl
der Schwangerschaften zur Anwendung. Die Tatsache,
dass 70 bis 80 Prozent der Schwangerschaften nicht mehr
den Zustand guter Hoffnung und freudiger Erwartung,
sondern ein Risikoereignis darstellen, sollte nicht nur unter dem ökonomischen, sondern auch unter dem Aspekt
des Wertewandels diskutiert werden.
({0})
Werden hier, unter Inkaufnahme erheblicher psychischer
und physischer Belastungen für die betroffenen Frauen
- selten genug von adäquaten Beratungen flankiert -,
nicht technische Lösungsansätze für in erster Linie soziale Probleme gesucht?
({1})
In der Debatte um PID wird häufig das Argument
geäußert, wer die Selektion von Embryonen ablehne,
müsse auch den Schwangerschaftsabbruch infrage stellen. Ich bin mit denen einig, die Bedenken gegen die PID
formulieren, und grenze mich deutlich von jenen ab, die
die PID-Debatte mit einer Neubelebung der Diskussion
über § 218 verbinden wollen.
({2})
Der Unterschied ist offensichtlich: In der Schwangerschaft sind Mutter und Kind in ganz besonderer Weise
körperlich miteinander verbunden. Diese Verbindung
kann nicht gegen den Willen der Frau aufrechterhalten
werden. Aus diesem Grund öffnet der Schwangerschaftsabbruch einen Korridor für eine selbst bestimmte Entscheidung. Diese ist zwar rechtswidrig, kann aber straffrei
getroffen werden.
Die Konfliktsituation, die den Anlass zur PID gibt, ist
nicht vorhanden; sie wird antizipiert.
({3})
Der Ort des Konfliktes ist nicht der Körper, sondern das
Labor. Nicht zuletzt wird die Entscheidung gegen ein behindertes Kind in fremde Hände gelegt.
Bei der PID fallen überzählige Embryonen an; es findet Selektion statt. Vor diesem Hintergrund kann sie dann
eben doch eine Türöffnerfunktion haben.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir führen heute eine der vielleicht
wichtigsten Debatten, die je im Deutschen Bundestag geführt worden sind. Wir stehen nämlich vor der Frage, ob
die Unantastbarkeit der Menschenwürde noch für alle gilt.
Wir stehen vor der Frage ob wir es zulassen, dass Menschen selektiert, vernutzt oder als Forschungsobjekt genutzt werden. Ja, es wird sogar diskutiert, ob man
menschliches Leben in Form von Embryonen produzieren darf, um diese hinterher zu verwerten.
Bisher galt: Jeder hat Lebensrecht und Menschenwürde, einfach nur deswegen, weil er Mensch ist, ohne
dass man Qualitätsmaßstäbe anlegt. Bisher galt auch
Volker Beck ({0})
eindeutig: Der Mensch beginnt mit der Verschmelzung
von Ei- und Samenzelle. Wie anders kann man es auch erklären, dass vor zehn Jahren das Embryonenschutzgesetz
fast einstimmig verabschiedet worden ist?
({1})
Angesichts der neuen Techniken und Heilungsversprechen scheint das alles nicht mehr zu gelten. Plötzlich unterscheidet man zwischen Mensch und Person; von inflationärem Gebrauch der Menschenwürde ist die Rede, ja
von abgestufter Menschenwürde. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft geht ausdrücklich so weit zu sagen: Das Grundrecht auf Forschungsfreiheit kann höher
stehen als das Recht auf Leben. Das ist ein Satz, den ich
nach 1945 auch vor dem Hintergrund der Geschichte der
DFG nie mehr für möglich gehalten hätte.
({2})
Meine Damen und Herren, ich muss auch dies sagen:
Herr Nida-Rümelin glaubt Menschenwürde nur bei dem
zu erkennen, bei dem die Selbstachtung verletzt werden
kann. Wenn wir diese Diskussion führen, dann werden wir
sie bald nicht nur über Embryonen, sondern auch über
Säuglinge, vor allen Dingen behinderte Säuglinge, über
Komapatienten und Menschen mit geistigen Behinderungen führen.
({3})
Die Menschenwürde ist unantastbar. Dies ist ein
grundsätzliches Gebot, in der Tat ein Dogma. Da immer
von Fundamentalismus gesprochen wird, bekenne ich:
Ich bin in dieser Frage ein Fundamentalist.
({4})
Unsere Verfassung enthält diesen Artikel vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Wir können ihn mit keiner
Mehrheit ändern. Dabei soll es auch bleiben.
({5})
Verfolgt man die Debatten der letzten Monate und auch
die heutige Debatte, so scheint es überhaupt kein wichtigeres Problem als die PID zu geben. Angeblich soll sie ja
nur bei 100 Paaren in Deutschland angewendet werden.
Die Forschungsministerin ist dafür, der Präsident der
Deutschen Forschungsgemeinschaft natürlich auch, die
Gesundheitsministerin ist zumindest nicht dagegen.
Kerngesunde Kinder wurden und werden auch heute genetisch belasteten Eltern auf diesem Wege versprochen.
Ich spreche nicht nur von anderen, sondern auch aus Erfahrungen in meinem familiären Bereich. Ich kenne
Behinderungsformen von Hunderten und Tausenden
Betroffenen, die dankbar wären, wenn sie so viel Aufmerksamkeit von Bioethikräten, Kommissionen, Ärztekammern, Forschungsorganisationen, Parteien und Regierungen erhalten würden. Wir sollten uns um diese Menschen
kümmern,
({6})
aber nicht mit Heilungsversprechungen für irgendwann,
in 50 Jahren, sondern für heute.
Vielen, die hier mit Barmherzigkeit und Mitleid argumentieren, scheint es aber um etwas anderes zu gehen.
Denn wie ist es sonst zu erklären, dass die tatsächlichen
Fallzahlen der PID nicht zur Kenntnis genommen werden?
Ich will die größte Datenerhebung zu PID nennen. Sie
umfasste 886 Paare, die die PID in den letzten acht Jahren
in Anspruch nahmen. Trotz teilweise mehrfacher Versuche
haben von diesen 886 Paaren überhaupt nur 123 Paare ein
Kind bekommen. Also konnte nur jede siebte Frau ein Kind
austragen. Was machen wir aber mit der großen Zahl der
Frauen, den anderen sechs von sieben Frauen, die kein Kind
bekommen? Wenn man bedenkt, dass für diese 123 Geburten 6 465 Embryonen produziert worden sind, dann ist das
ein Menschenverbrauch, den ich nicht akzeptieren kann.
Auch das Argument, es gebe danach keine Abtreibungen mehr, ist falsch. Die Statistik belegt, dass 4 Prozent
der Föten, also innerhalb des Mutterleibes, nach Pränataldiagnostik abgetrieben und 5 Prozent durch so genannte
Mehrlingsreduktionen, also durch das Abspritzen im Mutterleib, getötet wurden. Wer diesen Menschenverbrauch
leugnet, der macht sich nicht nur am menschlichen Leben
schuldig, sondern auch an den Eltern, die den Versprechungen der PID-Befürworter glauben.
({7})
Ich habe den Verdacht, es geht nicht um die angeführten 100 Paare, sondern darum, endlich Embryonen zu bekommen, um sie der Forschung zuzuführen.
({8})
Es geht auch darum, den Embryonenschutz zu knacken,
und darum, dass man statt mit Ratten- und Mäuseembryonen endlich mit menschlichen Embryonen experimentieren darf. Welche Embryonen eignen sich besser als
die - schon das ist ein schlimmer Begriff - überzähligen
der PID für die Keimbahntherapie? Denn wer diagnostiziert, wird irgendwann auch therapieren.
Meine Redezeit ist leider zu Ende. Ich hätte noch vieles zu sagen, weil das Thema für mich sehr wichtig ist. Ich
möchte Sie zum Abschluss nur bitten - das ist ein Appell
an alle Kolleginnen und Kollegen -: Lassen Sie uns diese
Tür nicht aufmachen! Fördern wir die Genforschung, die
dem Menschen dient, und nicht diejenige, bei der der
Mensch der Forschung dient! Wir schaffen - auch das ist
meine feste Überzeugung - das Leid nicht aus unserer Gesellschaft, indem wir die Leidenden aus unserer Gesellschaft entfernen. Eine Ethik des Heilens durch Töten darf
es nicht geben!
Vielen Dank.
({9})
Die meisten Kolleginnen und Kollegen überziehen ihre Redezeit sehr weit.
Ich bitte, meine Milde zu beachten, die ich heute an den
Tag lege. Das liegt an dem Thema.
({0})
Nun hat das Wort die Kollegin Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über den
Schutz des Lebens, den wir alle wollen, und darüber, wie
er am besten zu erreichen ist, gibt es zwar in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche
Auffassungen. Aber gerade in dem sensiblen Bereich der
Gentechnik sind Vorsicht und Umsicht dringend geboten. Auffallend ist, dass in den Feuilletons die Debatte
über dieses Thema meistens nur in höheren Sphären
schwebt: Es geht um Ethik, Medizin und deren Grenzen.
Es geht sehr selten um die Hauptakteure des Kinderkriegens, die Frauen. Es geht auch selten darum, unter welchen Umständen sie Kinder bekommen, und noch seltener darum, unter welchen Bedingungen sie mit ihren
Kindern leben.
Die neuen Techniken schaffen einerseits neue Möglichkeiten und andererseits neue Zwänge. Wie die vorgeburtliche Untersuchung findet auch die Präimplantationsdiagnostik nicht in einem wertfreien Raum statt. Viele
befürchten, dass mit ihrer Einführung ein Dammbruch
eintritt, der zu unkontrollierter Selektion von krankem
oder behindertem Leben führt. Diese Befürchtung ist verständlich. Aber wer weiß, dass es weniger erblich bedingte Krankheiten als Schäden aufgrund von ärztlichen
Kunstfehlern bei der Geburt gibt - von Unfällen im späteren Leben ganz abgesehen -, der hat verstanden, dass
der Traum vom gesunden Leben ohne Schmerzen eben
nur ein Traum ist.
Die PID ist ein rein diagnostisches Verfahren. Sie ist
keine Erbgutmanipulation. Sie verändert den Embryo
nicht.
({0})
Es erschließt sich mir nicht, warum eine Untersuchung in
der Petrischale, die später ohne weiteres im Mutterleib
gemacht werden kann, ohne Wenn und Aber kategorisch
verboten sein soll.
({1})
Warum soll die PID erst verboten werden, um später eventuell eine Abtreibung zu ermöglichen?
Um eines klarzustellen: Ich bin nicht für eine völlige
Freigabe der PID. Aber in begrenzten Ausnahmefällen
sollte sie möglich sein.
({2})
Wer glaubt, mit einem rigorosen Verbotsdamm ließe sich
alles aufhalten, der irrt. Gesetze müssen lebbar sein.
({3})
Ein Test, der ohne Probleme im Nachbarland gemacht
werden kann, wird von denen, die ihn unbedingt wollen,
auch gemacht. Statt genereller Verbote scheint mir ein
sorgsames Abwägen im Sinne der Betroffenen lebensnäher zu sein.
({4})
Genauso wenig, wie ein Gentest erzwungen werden kann,
darf meiner Meinung nach der Gesetzgeber ihn unter allen Umständen verbieten.
Wer sich in den Wartezimmern der Frauenärzte und
-ärztinnen umschaut und die Statistiken kennt, der weiß,
dass Frauen ihren Kinderwunsch immer weiter hinausschieben. Je älter sie und ihre Partner werden, desto beunruhigter stellen sie die Frage nach der Gesundheit des
Kindes und desto häufiger benötigen sie medizinische
Hilfe, um sich ihren Kinderwunsch überhaupt zu erfüllen.
Sie ahnen nicht einmal, auf was sie sich da einlassen, was
sie sich zumuten.
Die wenigsten Frauen kalkulieren späte Schwangerschaften. Es sind die gesellschaftlichen Bedingungen, die
zu diesem Ergebnis führen.
({5})
Wer diesen Umstand ausblendet, wird nie verstehen,
warum die Reproduktionsmedizin so boomt.
Gesetze sollten möglichst auch konsistent sein. Wer
schon mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle den
absoluten Schutz der Menschenwürde festlegt, muss fragen, ob dann nicht auch Verhütungsmittel, wie zum Beispiel die Spirale, verboten werden müssten.
({6})
Makaber wird es schließlich, wenn zur Rettung überzähliger künstlich hergestellter Embryonen zur Adoption
aufgerufen wird und Leihmütter für so genannte verwaiste Embryonen als Gebärmaschinen gesucht werden.
({7})
Wer Gesetze in einer pluralistischen Gesellschaft macht,
muss sich auch fragen, ob in einer so bedeutenden Wertfrage mittels Strafrecht alles rigoros verboten werden kann,
was weltanschaulich höchst verschieden gesehen wird. Unser deutsches Trauma besteht doch darin, dass sich der NSStaat in fataler Weise anmaßte, mit seiner Eugenik über
„wertes“ bzw. „unwertes“ Leben zu entscheiden.
Ich ziehe daraus die Konsequenz, dass staatliche Eingriffe eingedämmt und individuelle Freiheitsrechte geschützt werden müssen.
({8})
Es gibt Wege, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Balance herzustellen. Letztlich hat doch die Regelung des
§ 218 einerseits das Strafrecht begrenzt. Andererseits hat
die Praxis das Bewusstsein über den Schutz des Lebens in
dieser Gesellschaft grundlegend zum Guten verändert.
Ich finde, in dieser Richtung sollten wir weitergehen.
({9})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Jetzt hat das Wort der
Kollege René Röspel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Bevor ich 1998 in den Bundestag gewählt wurde, habe ich mich fast fünf Jahre lang
am Uni-Klinikum in Essen wissenschaftlich und forschend mit der Frage befasst: Wie schafft es eigentlich ein
Embryo, sich in der Gebärmutter einzunisten? Je länger
ich mich mit dieser Frage befasste, wie dieser menschliche Zellhaufen in dem für ihn eigentlich unfreundlichen
Milieu des Uterus existieren kann, desto mehr wurde ich
gefangen von dem faszinierenden Geschehen der embryonalen Entwicklung, das seit Jahrtausenden unbeobachtet und ungestört im Körper der Frau ablief.
Der Nobelpreisträger und Entdecker - nicht Erfinder! der Genregulation, der Genetiker François Jacob, hat
diese Faszination wie folgt ausgedrückt:
Das Unglaubliche besteht darin, dass nach der Befruchtung der ersten Zelle das befruchtete Ei sich zu
teilen beginnt. Was zwei Zellen ergibt. Dann vier.
Dann acht. Dann eine kleine Traube von Zellen. Und
dass diese Traube sich dann an die Gebärmutterwand
hängt, länger wird, wächst und einige Monate später
einen Säugling bildet, der in mehr als 95 Prozent der
Fälle mit allem versehen ist, was er braucht, um zu
leben, die Welt zu durchstreifen und sogar um zu
denken. Dies ist das Wunder. Das ist das erstaunlichste Phänomen, das sich auf dieser Welt abspielt. Derart erstaunlich, dass es für alle Menschen Gegenstand
einer tiefen Verwunderung sein müsste und sie nach
den Mechanismen fragen müssten, die einem solchen
Wunder zugrunde liegen.
Je mehr ich mich mit diesem Wunder auseinander
setzte, desto stärker wuchs in mir der Respekt vor dem
menschlichen Leben auch in seiner frühesten Form. Ich
bin heute noch sehr froh darüber, noch nie mit echten Embryonen gearbeitet zu haben. Denn wir haben unsere Arbeit mit Krebszellen durchgeführt, die wir sozusagen als
Modell benutzt haben. Wir haben nicht mit echten embryonalen Zellen gearbeitet, weil es in Deutschland verboten ist, aber auch, weil wir es als ethisch nicht vertretbar hielten.
In anderen Ländern ist die Forschung an Embryonen
erlaubt. In den USA, in Israel, in Großbritannien sind bis
zum heutigen Tage etwa 50 000 Embryonen zu Forschungszwecken verbraucht worden. Einen dieser Embryonen habe ich im Januar dieses Jahres auf einem Symposium in Essen „kennen gelernt“. Ein britischer Forscher
zeigte uns wie selbstverständlich das Dia einer Blastozyste, also eines menschlichen Embryostadiums, auf dem bestimmte Oberflächenmoleküle markiert waren. Es handelte sich übrigens um reine Grundlagenforschung, ohne
irgendeine Anwendung im Bereich der Gesundheit.
Das war zwar wissenschaftlich ohne Zweifel interessant; aber es ging vielen deutschen Kollegen wie mir, als
sie sich fragten: Darf es so weit kommen, dass menschliche Embryonen wie selbstverständlich verarbeitet werden? Dürfen wir die 150 - vielleicht sind es nur 15; die
Zahl ist noch offen - „überzähligen“ Embryonen aus
künstlichen Befruchtungen in Deutschland zu Forschungszwecken benutzen? Wird die Begehrlichkeit nach
mehr begrenzt werden können? Wie realistisch sind die
Versprechungen, Krankheiten zu heilen oder zumindest
zu lindern?
Trotz der Faszination, die ich für das von mir geschilderte Wunder empfinde, sind für mich persönlich die Argumente, die Forschung an menschlichen embryonalen
Stammzellen zuzulassen, noch nicht gut genug, die
Versprechungen noch zu unrealistisch und der Preis noch
zu hoch.
({0})
Wir haben noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die uns zur Verfügung stehen. Wir müssen uns eines klarmachen: Es wird nie eine leidfreie oder auch nur
leidarme Gesellschaft geben können.
({1})
In den zwei Jahren meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag habe ich gesehen, dass Abgeordnete
keine unverletzlichen Wesen oder besonders geschützte
Menschen sind, für die uns einige halten. Viele Kolleginnen und Kollegen haben in dieser kurzen Zeit wie die
Menschen, die wir vertreten, Leid erfahren müssen. Wenn
in nächster Zeit vielleicht wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, dann dürfen sie nicht in den Labors getroffen werden, dann dürfen sie schon gar nicht an
der Börse getroffen werden, dann müssen sie in diesem
Hohen Hause getroffen werden. Es ist ein guter Ort dafür
und es ist der richtige Ort dafür.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Helmut Heiderich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Rote Gentechnik, Entscheidungen direkt für, gegen, am Leben - da fordert der Bundeskanzler: Scheuklappen ablegen, Leinen
los, Vorrang dem wirtschaftlichen Fortschritt!
({0})
Der grünen Gentechnik - für sie spreche ich; denn ich
meine, dass sie zur Debatte des heutigen Tages gehört zieht er dagegen die Zwangsjacke an und hängt ihr den
Maulkorb um, obwohl er noch vor einem Jahr deren Perspektive als „Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts“
herausgestellt hat. So wird vielen Entwicklungen deutscher
Unternehmen, der Kompetenzzentren, der Forschungseinrichtungen die Praxisanwendung verweigert. Das
Dreijahresprogramm zum großflächigen Anbau gentechnisch fortentwickelter Pflanzen wurde vom Kanzleramt
- fertig ausgehandelt - zwei Tage vor Unterzeichnung gekippt, und dies mit völlig unsachlicher Begründung.
({1})
Die noch zuvor herausgestellten Entwicklungschancen, Herr Kollege, sind jetzt blockiert. Dabei gibt es in
Deutschland viele gute Ansätze: Kunststofffolien aus
Kartoffelstärke, Spinnenseide aus Tabakpflanzen, weniger Chemie im Gemüseanbau, Einsparungen von Insektiziden bei Maispflanzen, Einsparungen von Herbiziden
beim Zuckerrübenanbau, bessere Ausnutzung von nachwachsenden Rohstoffen, Einsparungen von Energie und
Kosten in der Verarbeitung. Dies alles sind Entwicklungen, die bei uns vor Ort stattfinden.
Wenn ich dies vortrage, dann wird auch den Fachleuten erkennbar: Die CDU ist, was grüne Gentechnik angeht, nicht der Werbetrommler der internationalen Konzerne, auch wenn dies einer der ebenso beliebten wie
falschen Vorwürfe der Gentechnikgegner ist. Andererseits
hat der Anbau internationaler Produktlinien - jährlich geschieht dies weltweit auf einer Fläche von über 40 Millionen Hektar - dazu beigetragen, den Bedenkenträgern die
Argumente zu nehmen; denn die Prognosen sind nicht
Realität geworden. Im Gegenteil: Es gab wesentliche Vorteile, wie die Reduzierung von Erosionsproblemen oder
die Verminderung des Chemieeinsatzes. Auch deshalb ist
es längst überfällig, in Deutschland endlich eigene Erfahrungen im großflächigen Anbau zu machen - unter Beobachtung der Wissenschaft, mit Auswertung durch die
Züchter und die Experten sowie unter den Augen von Öffentlichkeit und Journalisten.
Der Abgeordnete Schröder hat heute Morgen gesagt
- das ist das wichtigste Element -, dass wir eine Gesellschaft brauchen, die Bescheid weiß. Ich füge hinzu: Wir
brauchen dann auch die Kommunikation mit den Verbrauchern: Denn welcher Verbraucher weiß wirklich etwas über Chancen, Potenziale, Bedingungen der Bio- und
Gentechnik in Ernährung und Umwelt?
Wie sehr sich die Bundesregierung hier drückt, zeigt
das Argument, der Verbraucher wolle keine Produkte der
Gentechnik. Das ist aber doch nichts anderes als das Eingeständnis: Wir haben die Bürger nicht informiert. Oder:
Wir wollen sie nicht informieren.
({2})
Dazu passt auch die gegenwärtige Linie Ihrer zuständigen
Ministerin Künast. Sie verfolgt offenbar das Ziel, grüne
Gentechnik gänzlich totzuschweigen und das bisher zarte
Pflänzchen verdorren zu lassen.
({3})
Dagegen hat die CDU/CSU bereits 1990 mit dem Gentechnikgesetz Maßstäbe gesetzt, die sich bis heute bewährt haben. Seitdem gilt in Deutschland für die Gentechnik: Sicherheit von Anfang an, Sicherheit Schritt für
Schritt, eine an jede einzelne Entwicklung angepasste Sicherheitsforschung und Sicherheitsrabatt an keiner Stelle.
Das muss man den Bürgern deutlich sagen. Ebenso eindeutig waren und sind wir für die Kennzeichnung gentechnischer Produkte. Das heißt aber auch Festlegung von
standardisierten Testverfahren und Grenzwerten sowie
eine europäische Vereinheitlichung.
Wir sind in dieser Technologie für Offenheit und
Transparenz gegenüber unseren Bürgern. Warum sollten
wir verheimlichen, dass seit Jahren Tausende von Schiffsladungen von gentechnisch verbessertem Soja oder Mais
in Deutschland verfüttert und verarbeitet werden, und
zwar ohne jede negative Erkenntnis? Immerhin werden in
unserem Land in diesem Jahr 1 000 Hektar als Versuchsfläche ausgewiesen, was mit Vorteilen und nicht mit Problemen verbunden ist.
Warum - so frage ich - schaffen wir nicht auch in diesem Bereich ein Zehn-Jahres-Zukunftsprogramm für die
Entwicklung der biotechnischen Potenziale in Ernährung,
natürlicher Rohstoffversorgung, Energieeinsparung und
Umweltentlastung analog zur roten Gentechnik? Warum
fördern wir nicht die Einbindung gentechnischer Grundmethoden in den Biologieunterricht unserer Schulen?
Deutschland muss heraus aus seiner Verweigerungsecke, was diese Technologie betrifft. Es muss auch bei der
grünen Gentechnik heißen: Fortschritt in Verantwortung
statt weiterer Erhöhung rot-grüner Ideologiebarrieren.
Die Forschung, die wissenschaftlichen Einrichtungen, die
Kompetenzzentren und die Unternehmen brauchen auch
in Deutschland die Chance, zu beweisen, dass grüne Gentechnik genauso voller Fortschritt für den Menschen ist
wie die Humangenetik.
Lassen Sie mich mit einer Bemerkung schließen. Vor
zehn Jahren noch wurde der Einbau eines menschlichen
Gens in ein Bakterium als Horrorvision dargestellt. Heute
lehnt keiner mehr Insulin aus gentechnischer Produktion
ab. Deshalb ist es heute unsere Verpflichtung, solche
Chancen auch in der grünen Gentechnik für die nächste
Generation zu eröffnen. Gehen Sie auf diesem Weg mit,
statt ihn weiter zu blockieren!
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Karin Kortmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sorge um die Chancen und
Risiken, um den notwendigen Fortschritt und die gebotene Grenzziehung treibt mich ebenso wie viele andere in
unserer Gesellschaft und auch in diesem Parlament um.
Liegt doch die größte Verantwortung für uns in der Abwägung in dem nicht zu leugnenden Konflikt zwischen
den lebens-, den überlebensnotwendigen Forschungen in
der Medizin und der Beachtung und Einhaltung ethischer
Grundlagen.
Als Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken trete ich seit der Beschlusslage im Mai wie viele
andere in diesem Hause für die Erarbeitung eines umfassenden Fortpflanzungsmedizingesetzes ein, welches den
neuen biomedizinischen Entwicklungen Rechnung trägt,
das aber auch nicht hinter den Schutzrahmen des geltenden Embryonenschutzgesetzes von 1990 zurückgehen
darf.
Präimplantationsdiagnostik, Forschung an embryonalen Stammzellen und therapeutisches Klonen erscheinen
für viele kranke Menschen oder auch für Paare, die sich
sehnlichst und auch mit Recht ein gesundes Kind wünschen, als der letzte Rettungsanker. Wer will diesen Menschen die notwendige Hilfe verwehren und vor allem mit
welchem Recht?
Wir haben die Chance, die Entstehung von Krankheiten und ihren Ablauf besser zu durchschauen. Chancen
gibt es sowohl auf der diagnostischen als auch auf der therapeutischen Ebene. Wir müssen uns darin einig sein, dass
wir auf das Genwissen nicht verzichten können. Aber verheißen uns manche Forscher nicht auch Aussicht auf Hilfe
und Linderung, die sie zum jetzigen Forschungsstand leider niemandem garantieren können und dürfen? Diese
menschliche Hoffnung auf den medizinisch-technischen
Fortschritt darf aber doch niemals dazu führen, die Bedingungen für die Forschung und die Menschenwürde auf
ein und dieselbe Stufe der Abwägung zu stellen. Vielmehr
sind doch die Forscher ebenso wie wir alle an ethische
Maßstäbe gebunden.
An der Menschenwürde findet die Forschungsfreiheit
ihre Grenzen, damit diese nicht zu unmenschlichen Konsequenzen führt.
({0})
Darauf haben in den vergangenen Wochen viele Verbände
und Organisationen in Schreiben an uns hingewiesen. Ich
danke den Kirchen für ihre wertvollen Beiträge. Die Deutsche Bischofskonferenz warnt beispielsweise mit Recht
davor, zu glauben, die Fragen der Gentechnik mithilfe von
Mehrheitsentscheidungen klären zu können, und appelliert an die Forscher, dass sie die menschendienliche Perspektive nicht aus den Augen verlieren.
({1})
Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist
Aufgabe aller staatlichen Gewalt; dazu verpflichten uns
das Grundgesetz und die grauen- und leidvollen Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit. Deshalb geht es
bei der Gentechnik nicht allein um einzelne individuell zu
beantwortende Problembereiche, sondern in dieser Debatte geht es vor allem um die zukünftige ethische und
moralische Verfassung unserer Gesellschaft. Wie viel
wollen wir bestimmen, was wollen wir festlegen, was ist
für uns wertvoll, was ist für uns wertlos, was ist schützenswert und was ist aufgebbar?
Die so genannte Menschheitsformel des kategorischen Imperativs von Kant bietet hier Orientierung. Der
Kollege Michael Müller hat darauf hingewiesen, ich zitiere sie gerne noch einmal, weil wir sie als Handlungsrahmen nicht außer Acht lassen dürfen. Kant sagte:
Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner
Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.
Setzen wir uns gemeinsam, liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür ein, die Gentechnik für einen Fortschritt und
für ein Leben nach menschlichem Maß zu nutzen, wie es
der Bundespräsident in der vergangenen Woche angemahnt hat.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katherina Reiche.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Klon-Schaf Dolly,
die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und Berichte über angebliche Designerbabys entfachen einen
Streit im Spannungsfeld zwischen Menschenwürde und
Forschungsfreiheit. Wir erleben eine Spannbreite der Diskussion von der Voraussage der Apokalypse einerseits
und Heilsversprechen der Wissenschaft andererseits.
Viele Fragen müssen geklärt werden. Die Antworten auf
diese Fragen wird uns jedoch kein Rat, auch kein Nationaler Ethikrat, geben können. Am Ende der Debatte steht
eine Entscheidung hier im Deutschen Bundestag.
Ich persönlich führe meine Überlegungen in dem besonderen Spannungsfeld als Mutter, Christin und Naturwissenschaftlerin. Die Sorge um meine Tochter begleitet
mich seit dem Moment, in dem ich erfuhr, dass ich ein
Kind erwarte. Meine ersten Fragen bei den Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt lauteten jeweils, ob alles in Ordnung sei und das Baby gesund sei. Sind solche Fragen
diskriminierend? Die Frage: „Was wäre, wenn ...?“ beschäftigt uns noch immer. Ich denke an meine amerikanischen Gasteltern, die drei von sieben Söhnen verloren.
Alle starben zwischen dem zwölften und sechzehnten Lebensjahr an einer tödlichen Erbkrankheit, der DuchenneMuskeldystrophie. Mir fährt es kalt den Rücken herunter,
wenn ich lese, dass in Paris ein PID-Kind zur Welt kam,
dessen Eltern zuvor zwei Kinder begraben haben, weil sie
einem tödlichen Leberleiden erlagen. Es ist mir unmöglich, Ihnen unmoralisches Handeln zu unterstellen.
In Deutschland ist die PID unzulässig. In zehn Ländern
Europas ist die PID erlaubt. Ich erlaube mir den Hinweis,
dass nationale Sonderwege ethische Probleme ganz eigener Art nach sich ziehen. Ich sehe die PID als Erweiterung
des Spektrums der vorgeburtlichen Diagnostik. Interessiert beobachte ich die Haltung einiger Teile der jetzigen
Koalition und Regierung, in der ich gewisse Widersprüche ausmache. Der Philosoph Robert Spaemann
sagte:
Konsequenz im Denken und im Handeln ist nur dort
eine Tugend, wo man den richtigen Anfang gemacht
hat.
Nun weiß ich im Kontext der heutigen Debatte nicht, ob
Mitte der 90er-Jahre einige Teile der jetzigen Koalition
bei der Reform des § 218 StGB den richtigen Anfang gemacht haben.
({0})
Zurück zur PID. Das Töten des Embryos in vitro ist
strafbewehrt, die eines Embryos in utero jedoch straffrei.
Gespräche mit Seelsorgern und betroffenen Paaren überKarin Kortmann
zeugten mich: Wer sich der Tortur - und ich sage bewusst
„Tortur“ - einer PID unterzieht, will unbedingt ein Kind,
kein perfektes, sondern eines, mit dem die Eltern gemeinsam alt werden können.
({1})
Impliziert ein dezidiertes Nein zur PID nicht auch ein
tiefes Misstrauen gegenüber Eltern, Ärzten und Humangenetikern, eine Diagnose nicht rechtgemäß anzuwenden? Wenn die PID auf wenige Fälle begrenzt wird, wenn
die Beratungspflicht hinzutritt und wenn die endgültige
Entscheidung über jeden Einzelfall einem unabhängigen Gremium übertragen wird, dann sehe ich die
Voraussetzungen für die Zulassung der PID in Deutschland gegeben.
({2})
Ich habe mir diese Position nicht leicht gemacht, vor
allem nicht als Christin. Als Naturwissenschaftlerin weiß
ich, dass wir am Beginn und am Ende des Lebens eben
nicht allein objektives Wissen zur Grundlage unserer Anschauungen machen können. Dort endet Wissen, dort beginnt der Glaube. Ich glaube, dass wir aufgrund unserer
Ebenbildlichkeit zu Gott verantwortlich mit der Schöpfung umgehen müssen. Und doch sage ich gerade als
Christin, dass die Pflicht zur Hilfe durch Heilung und
Leidminderung nicht gering zu schätzen ist. Wer fühlt
sich nicht hilflos gegenüber dem Leid von Kranken,
gegenüber dem Leid der Angehörigen? Die Sprecherin der Deutschen Krebshilfe sagt heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Da ist viel Verzweiflung
im Spiel ...“
Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer
oder Parkinson wird in Zukunft die Stammzellenforschung helfen. Stammzellen haben ihr Potenzial ferner
bei der Behandlung von Rheuma, von Herzkreislauferkrankungen oder von Querschnittslähmung unter Beweis gestellt. Adulte Stammzellen haben sich als Alternativen etabliert. Was aber, wenn die Forschung an adulten
Stammzellen nicht zum Ziel führt oder man die Mechanismen der Zellentwicklung nur an embryonalen Zellen
erforschen kann, um als Ziel die adulten Stammzellen für
die Heilung von Krankheiten nutzbar machen zu können?
Die Forschungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz
ist durch andere Verfassungsgüter eingeschränkt. Bei der
Beurteilung der Forschung an Stammzellen sind die Art und
Weise der Gewinnung, die angewandten Methoden und die
verfolgten Ziele zu unterscheiden. Können wir es rechtfertigen, deutschen Patienten Behandlungsmöglichkeiten zu
verwehren, weil diese mithilfe von in Deutschland nicht zugelassenen Verfahren zustande gekommen sind? Oder importieren wir am Ende Therapien, deren Erforschung wir
mit von hoher Moral getragenem Haupt ablehnen, deren Ergebnisse wir aber annehmen, um Gutes zu tun?
({3})
Wir können uns bei der Beantwortung solch schwieriger Fragen Zeit lassen. Da es nie allein um die Frage geht,
ob wir das, was wir tun können, auch tun dürfen, sondern
auch um die Frage, ob wir es unterlassen dürfen, müssen
wir das Ganze sehr genau prüfen. Der Mensch ist ein Vernunftwesen mit Moral, was ihn zum Handeln mit Augenmaß befähigt. Die Intention des Heilens ist eine zutiefst
christliche. Die Moral des Augenmaßes muss sich auch
bei der Bewältigung des Wissenszuwachses in der Biomedizin bewähren und es ermöglichen, dieser Intention
gerecht zu werden.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Eine Gleichsetzung des Embryos mit dem geborenen
Menschen ist nicht angemessen.
Und:
Forschung am Embryo ist vertretbar, wenn der Embryo überzählig ist und ohnehin sterben wird.
Dies sind Zitate aus der Benda-Kommission, eingesetzt
vom früheren Bundeskanzler, übrigens zu einem Zeitpunkt - der Kollege Merz ist nicht mehr da -, als der Bundestag ebenfalls eine Enquête-Kommission eingerichtet
hatte. Wir sollten uns also hier nicht mit Dingen beschäftigen, die schon in der Vergangenheit ganz anders waren.
Dass wir heute über Bio- und Gentechnologie als
Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts diskutieren,
zeigt, dass wir mit Ambivalenzen zu tun haben. Auf der
einen Seite haben wir mit enormen Ängsten zu tun, die
auch heute zum Ausdruck gebracht worden sind. Auf der
anderen Seite haben wir mit Hoffnungen zu tun, von denen ich meine, dass sie zum Teil, zumindest nach dem
heutigen Stand, übersteigert sind. Wir sollten bei vielen
Kranken nicht übersteigerte Hoffnungen wecken. Über
vieles, was wir heute diskutiert haben, wird erst in den
nächsten Jahren, möglicherweise Jahrzehnten, als Ergebnis berichtet werden können.
Die Debatte ist, glaube ich, deswegen so engagiert,
weil sie eng mit unserer komplexen Gesellschaft verflochten ist, die nicht nur komplex ist, weil sie in vielen
Punkten kompliziert wird, sondern auch deshalb, weil sie
keinen Ort mehr kennt, an dem allgemeingültige und universelle Antworten und Wahrheiten begründet werden
können. Sie ist auch deshalb komplex, weil weder ökonomische Nutzenkalküle noch wissenschaftliche Rationalität, aber auch nicht allein die Religion oder einzelne Juristen für die Gesellschaft als Ganzes sprechen können.
Vieles von dem, was irgendwann einmal als undenkbar, unsittlich oder unmoralisch erschien, wird heute ganz
anders bewertet. Das gilt für den legalen Abbruch von
Schwangerschaften, das galt im Mittelalter für das Öffnen
von Leichen zum Zwecke der Wissenschaft oder das gilt
für das Austragen des Kindes einer unfallverletzten Frau,
bei der der Hirntod festgestellt wurde. Über diese Tabubrüche reden wir. Ich denke, wir reden nicht über Verbrechen der Vergangenheit. Ich würde mich als Forschungspolitiker dagegen wehren, dass die Arbeit der
Deutschen Forschungsgemeinschaft und von vielen Biotechnikern und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in diesem Lande mit jenen Verbrechen gleichgesetzt
wird. Das hat nichts miteinander zu tun. Diese Grenze
sollten wir auch heute deutlich ziehen.
({0})
Dass gerade die Philosophie und natürlich auch die
Theologie diese Fragestellung verstärkt aufgreifen müssen, wie wir gerade hier gehört haben, ist gerechtfertigt.
Ich bedaure, dass die Geisteswissenschaften, die immerhin fast 20 Prozent des Etats der DFG bekommen,
sich bei dieser Debatte mit Beiträgen noch immer bemerkenswert zurückhalten. Ich würde mir wünschen, dass es
auch aus diesem Bereich mehr Beiträge gäbe.
({1})
Es gibt keine kategorischen Antworten. Ich zitiere das
Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das gesagt hat,
die Forschung könne das Gesamt der Forschung nicht
überblicken. Das ist wahr. Im Umkehrschluss heißt dies
aber auch, dass eine Amtskirche das Gesamt der Gesellschaft nicht überblicken kann, genauso wenig wie der Flügel einer Partei dies könnte. Deshalb will ich ein paar
Punkte benennen, bei denen aus forschungspolitischer
Sicht meiner Auffassung nach die Grenzen liegen.
Zunächst will ich keinen Schutz weniger Zellen im
Reagenzglas, der stärker wäre als beispielsweise der
Schutz der Embryonen im Mutterleib. Das ist nicht mein
Verständnis von Menschenwürde. Es kann und darf keine
„Züchtung“ von Menschen geben. Kürzlich hat jemand
gesagt: Wenn Eltern viel Geld für Privatschulen für ihre
Kinder ausgeben, was man ihnen nicht übel nimmt, dann
würden sie auch intelligente Kinder gezüchtet haben wollen. - Ich halte dies für eine Überschätzung der gentechnischen Möglichkeiten. Kinder, Menschen sind mehr als
nur Zellen, sie sind mehr als nur möglicherweise im Reagenzglas erzeugte Gebilde, die beliebig manipulierbar
sind. Wir könnten im Grunde genommen auch die Bildungspolitik einstellen, wenn wir davon ausgingen, dass
man alles im Reagenzglas züchten könnte. Aber eine solche Züchtung darf es nicht geben und bei PID geht es auch
nicht darum.
Es darf keine Eingriffe in die Keimbahn geben. Der genetische Neuentwurf des Menschen ist nicht das Thema,
über das wir hier diskutieren; er ist auch nicht angestrebt.
Die Erzeugung von Embryonen für Forschungszwecke
lehne ich ebenso ab. Im Gegensatz zu manch pessimistischer Aussage, die wir heute gehört haben, sage ich deutlich: Das könnten wir als Gesetzgeber verhindern; wir
wären dazu in der Lage.
Aus diesem Grunde will ich mit einem Zitat von Robert
Leicht aus der heutigen „Zeit“ schließen. - Ich hoffe, wir
sind davor bewahrt, eine ideologisierte Debatte zu führen,
die möglicherweise nur zu Schärfen führt, die schwer
zurückholbar sind. - Robert Leicht hat gesagt: „Ethischer
Maximalismus im Gewand staatlicher Gesetze - das wäre
... der Schritt vom Fundament zum Fundamentalismus.“
Allen, die der Auffassung sind, dass wir diesen Schritt
zum Fundamentalismus gehen sollten, sage ich: Ich
würde nicht mitgehen, selbst dann nicht, wenn er unter
dem Deckmantel der Menschenwürde daherkäme.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte hat
viele Aspekte, ganz gewiss auch rechtspolitische Aspekte.
Es geht angesichts der ungeheuren Möglichkeiten, die die
Humangenetik uns heute bietet, natürlich auch um die
Frage der Grundprinzipien unserer verfassungsmäßigen
Ordnung.
Die Unionsfraktion hat aufgrund ihres Selbstverständnisses schon immer Wert darauf gelegt, dass wir von dieser Grundordnung nicht durch falsche Weichenstellungen
weggeführt werden. Wir haben deshalb schon im Jahre
1990 das Embryonenschutzgesetz vorgelegt, das hier
von allen gelobt worden ist.
Unsere Verfassung hat sich für eine wertgebundene
Grundordnung entschieden, an deren Anfang der klassische Satz „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott
und den Menschen ...“ steht und in deren Mittelpunkt der
Mensch, sein Recht auf Freiheit, sein Recht auf Leben und
sein Recht auf die Unantastbarkeit seiner Würde stehen.
Diese Grundrechte überragen unsere gesamte Rechtsordnung. Sie finden sich nicht in gleichem Maße, in dieser herausragenden Stellung, in anderen Verfassungen.
Das hat nichts mit einer Abwertung anderer Verfassungen,
sondern mit unserer Geschichte und den leidvollen Erfahrungen zu tun, die anderen Völkern erspart worden sind.
Darauf hat das Verfassungsgericht immer wieder hingewiesen, in einer sehr markanten Weise in einem Urteil
vom 25. Februar 1975 zur Fristenregelung.
Die entscheidende Frage, die uns hier bewegt, ist, ob
dem Embryo im Reagenzglas das gleiche Recht auf Leben und die gleiche Würde zustehen wie dem geborenen
Menschen oder dem noch nicht geborenen Menschen. Wir
wissen, dass von Anfang an menschliches Leben besteht;
das wird hier von niemandem bestritten. Aber gibt es einen graduellen Unterschied in der Schutzpflicht des Staates im Hinblick auf das Recht auf Leben und auf das Recht
auf die Unantastbarkeit der Würde? Auch hierzu gibt es
Entscheidungen des Verfassungsgerichtes, die im Zusammenhang mit dem Recht des Embryos in vivo, das heißt
im Mutterleib, stehen. Ich erinnere an die Entscheidungen
von 1975 und von 1993. Hier hat das Verfassungsgericht
nach meiner Auffassung ganz klar festgestellt - das ergibt
sich aus der Logik dieser Entscheidungen -, dass der
Mensch von Anfang an Mensch ist, dass ihm von Anfang
an das Recht auf Leben zusteht und dass er von Anfang an
auch das Recht auf die Unantastbarkeit seiner Würde hat.
Nun ist die Frage, ob einem Embryo im Reagenzglas
- trotz der Technizität seiner Zeugung aufgrund der Tatsache, dass er am Anfang nicht in vivo, sondern in vitro
lebt nicht in gleichem Maße zuzuerkennen sind, wie dies
für den Embryo im Mutterleib gilt. Ich glaube, dies trifft
zu. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Rechte nicht
schon bei einem Embryo im Reagenzglas anzuerkennen.
Alles andere stünde im Widerspruch zur Logik unserer
Rechtsordnung.
Das hat Folgerungen für die Präimplantation und
natürlich auch für die Forschung an Embryonen. Denn
wenn dem Embryo das Recht auf Leben ungeteilt zusteht
und wenn er ein ungeteiltes Recht auf die Unantastbarkeit
seiner Würde hat, dann ist die Forschung an Embryonen
nicht möglich. Dies gilt dann ganz gewiss für die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken, die ja aufgrund unseres Embryonenschutzgesetzes nicht möglich
ist. Aber das gilt auch für die „überzähligen“ Embryonen,
wobei ich bitte, das Wort „überzählig“ immer in Anführungszeichen zu setzen. Denn es erinnert allzu sehr an
Vorgänge, an denen wir noch heute schwer zu tragen haben. Man soll in diesen Fragen mit der Semantik vorsichtig umgehen.
Ich glaube, dass für „überzählige“ Embryonen das
gleiche Recht gelten muss wie für Embryonen, die zu Forschungszwecken hergestellt werden. Das heißt, eine Forschung an solchen Embryonen darf nicht möglich sein.
Unsere Verfassung verweist unsere Forschung auf andere
Wege und diese Wege führen vielleicht eher zum Ziel,
weil sie, wie ich meine, das Humanum mehr achten und
weil sie, wie ich meine, mehr im Einklang mit unserer
Schöpfung stehen.
Das gilt aber auch für die Präimplantationsdiagnostik;
denn hier geschieht keine reine Diagnose. Sie wird vielmehr angewandt, um zu selektieren. Nur gesunde Embryonen sollen übertragen werden. Hier meine ich, dass
der Vergleich zwischen Präimplantationsdiagnostik und
Pränataldiagnostik, das heißt der Vergleich zwischen einem Embryo im Reagenzglas, also außerhalb des Mutterleibes, und einem Embryo im Mutterleib durchaus angezeigt erscheint. Ich sehe im Grunde keinen Unterschied
zwischen der Tötung des Embryos im Reagenzglas und
einer Abtreibung. Es wird immer eingewandt, bei der
Abtreibung komme die Konfliktsituation der Frau mit ins
Spiel. Das mag richtig sein, aber genau dieselbe Konfliktsituation kann bei einer bewussten Übertragung eines
im Reagenzglas befindlichen kranken Embryos in den
Mutterleib gegeben sein. Hier besteht also im Grunde genommen kein Unterschied.
Das kann aber wiederum nicht heißen, dass wir es
dann, wenn wir es hier erlauben, auch dort erlauben. Wir
müssen uns vielmehr die Frage stellen, ob diese Gesetzespraxis, die in unserem Land insbesondere für die Spätabtreibung gilt, noch verfassungskonform ist, das heißt, im
Einklang mit unserem Grundgesetz steht. Diese Frage
darf hier nicht tabuisiert werden; denn es geht auch um einen Vergleich mit der Spätabtreibung.
Da der Embryo im Reagenzglas einer fast unkontrollierbaren Gefährdung ausgesetzt ist, stellt sich noch eine
weitere Frage, der man nicht ausweichen kann, nämlich,
ob die Zeugung im Labor richtig sein kann. Wenn man
diese Frage bejaht, muss aber die Gesellschaft Regelungen treffen, um diese Gefährdung zu reduzieren. Ich
meine, das sollten wir bei künftiger Gesetzgebung mit
berücksichtigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Würde
des Menschen und sein Recht auf Leben sind keine hehren Ziele unserer Verfassung, sondern sie sind das Minimum, das der Staat seinen Menschen zu gewähren hat.
Dieses Minimum steht auch dem Embryo im Reagenzglas
zu.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Hanna Wolf.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
mich in meinem Beitrag mit den Versprechungen und Risiken der Präimplantationsdiagnostik - kurz PID - für
Frauen auseinander setzen. Die Frauen kommen in der
derzeitigen Diskussion kaum mehr vor.
({0})
Heute haben Gott sei Dank einige Kollegen darauf abgehoben. Ich will die Frauen wieder ins Zentrum rücken und
ich werde begründen, warum ich die PID ablehne.
Zur Vorgeschichte: Ohne künstliche Befruchtung im
Reagenzglas fände heute keine Debatte über PID statt.
Diese künstliche Befruchtung wird unfruchtbaren Frauen
angeboten. Sie ist keine Heilung im ärztlich-ethischen
Sinn, sondern eine Art Dienstleistung. Sie geht von der
falschen Vorstellung aus, es gäbe ein Recht auf ein genetisch eigenes Kind. Die künstliche Befruchtung in vitro
verlangt zunächst eine hormonelle Überstimulation und
eine operative Eizellenentnahme. Sie ist nur in maximal
20 Prozent der Fälle erfolgreich. Die physischen und psychischen Folgen dieser so genannten Behandlung sind
bisher nicht in Langzeitstudien erforscht. Bei dieser
künstlichen Befruchtung entstehen mehrere Embryonen.
Deshalb ist dies für mich bereits der Dammbruch hin zur
Embryonenproduktion.
({1})
Unfruchtbare Frauen stehen unter Druck. Das vermeintliche Recht auf ein genetisch eigenes Kind kann zum psychischen Zwang werden.
Nun zur PID. Sie bezieht sich im Prinzip nicht auf unfruchtbare, sondern auf fruchtbare Frauen. Sie könnten jederzeit ein Kind bekommen, allerdings mit dem Risiko einer Erbkrankheit. Auch diese fruchtbaren Frauen werden
einer hormonellen Überstimulation und einer operativen
Eizellenentnahme unterworfen. Hierfür werden noch
mehr Embryonen als für die In-vitro-Fertilisation benötigt.
Die Entscheidung, welche Embryonen eingepflanzt
werden, fällen Spezialisten im Labor - nicht die Frau. Ob
das Kind wirklich ein Risiko trägt, kann aber endgültig
erst während der Schwangerschaft festgestellt werden,
wenn überhaupt. Dann allerdings entscheidet die Frau, ob
sie sich im Konflikt sieht und wie sie sich zu dieser Tatsache verhalten will. Der Konfliktfall gemäß § 218 StGB
bezieht sich nur auf die Einheit in der Zweiheit zwischen
Frau und Fötus.
({2})
Der Fötus kann nur mit der Frau geschützt werden. Um
dieser Schutzmöglichkeit willen gibt es den Kompromiss
der Straffreiheit bei Abtreibung.
Was ist aber durch PID geschehen? Aus dem vermeintlichen Recht auf das genetisch eigene Kind ist ein
vermeintliches Recht auf ein genetisch eigenes gesundes
Kind geworden. Für die Frau entsteht weiter Druck. Ein
nicht gesundes Kind kann ihr zum Vorwurf gemacht werden, vom Partner, von der Familie, von der Gesellschaft.
Eine perfekte Mutter muss also ein perfektes Kind zur
Welt bringen.
Die PID löst auch Begehrlichkeiten auf überzählige
Embryonen aus, für embryonale Stammzellenforschung,
für das therapeutische Klonen, für die so genannte Spende
von Eizellen für unfruchtbare Frauen.
Die Gewinnung von Eizellen für diese Zwecke würde
über kurz oder lang folgen, der Bedarf würde ansteigen.
Eizellen werden aber nicht gespendet wie Blut. Ihre Gewinnung ist mit erheblichen gesundheitlichen Risiken
für die Frauen verbunden. Ein Handel übelster Art könnte
beginnen. Die Worte „Zweck“ und „Gewinnung“ von
Embryonen ist nach meiner Meinung mit Art. 1 des
Grundgesetzes unvereinbar: „Die Würde des Menschen
ist unantastbar“ - nicht nur die Würde werdenden Lebens,
sondern auch die Menschenwürde der Frauen.
Ich lehne also die PID aus moralischen, physischen,
psychischen und sozialen Gründen ab. In dieser Ablehnung weiß ich mich einig unter anderem mit dem Deutschen Ärztinnenbund.
Huxley hat schon 1932 in seinem utopischen Roman
„Schöne neue Welt“ mögliche Entwicklungen der Biomedizin, nämlich die Ablösung der menschlichen Geburt
vom mütterlichen Körper und die Selektion der Embryonen, nicht als Heilsbotschaft für Frauen, sondern als Warnung verstanden. Wir dürfen seine Warnung auch im
neuen Jahrtausend nicht überhören.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hermann Kues.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den Fragen, die wir
heute diskutieren, kann niemand die Verantwortung an jemand anders delegieren, sondern jeder muss sich informieren, wir müssen Argumente austauschen und wir müssen uns schließlich ein Urteil bilden. Das gilt für Forscher,
das gilt für Anwender, das gilt für Nutzer und das gilt für
Politiker gleichermaßen.
Ich sage ausdrücklich: Moral ist keine Frage von Experten oder Fachgremien. Es genügt auch nicht, zu sagen, ich bin Forschungspolitiker, Rechtspolitiker. Die Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch in der
zentralen Frage und die Unterscheidung zwischen Gut
und Böse ist jedem Menschen zuzumuten. Ich bin dafür,
dass wir diese Debatte in Klarheit und Ernsthaftigkeit
führen, ohne dass wir anderen Fortschrittsfeindlichkeit
oder Ideologiebehaftetheit vorwerfen. Dazu passt auch
nicht - das muss ich hier ebenfalls sagen -, dass der Bundeskanzler bereits in einer sehr frühen Phase die Kirchen
und damit auch die Christen in die Nähe der Position mit
„ideologischen Scheuklappen“ gerückt hat.
({0})
Es reicht auch nicht aus, die Christen und die Kirchen
- es ist ja heute vielfach davon die Rede gewesen - in unserem Land zu respektieren und sie sich sozusagen wie in
einem zoologischen Park für ethisches Sondergut zu halten. Nein, ich glaube, sie gehören mit ihren Überzeugungen und ihren Argumenten in die Gesellschaft und in die
gesellschaftlichen Debatten hinein.
({1})
Ich glaube nur, dass wir auch bereit sein müssen, uns von
ihnen, wenn sie sich sehr detailliert und konkret äußern,
ins Gewissen reden zu lassen.
({2})
Das gilt ganz besonders für die heute hier angesprochene Fragestellung. Es ist völlig legitim, verschiedene
Güter und verschiedene Übel miteinander in Konkurrenz
treten zu lassen. Es gibt natürlich eine ethische Verantwortung für Wirtschaft und Arbeitsplätze. Es gibt auch
eine ethische Verpflichtung zum Heilen, insbesondere zur
Vermeidung von schier unerträglichem Leid, zur Bekämpfung von bislang als unheilbar geltenden Krankheiten. Es gibt auch das hohe Gut der Forschungsfreiheit.
Aber es gibt auch nicht zuletzt den Respekt vor der Würde
eines jeden Menschen.
Ich sage ausdrücklich, man kann diese Güter und Interessen gegeneinander abwägen, aber die ethische Abwägung fängt eigentlich jetzt erst an, wenn man sie formuliert hat. Denn jetzt müssen wir Wertentscheidungen
treffen, nach welchen Maßstäben, nach welchen Kriterien
und nach welchen Rangordnungen wir die zu entscheidenden Güter abwägen.
Die christlichen Kirchen in Deutschland - es haben
sich ja heute viele als Christen erklärt - haben uns in den
letzten Wochen unmissverständliche Fixpunkte als Haltegriffe an die Hand gegeben. Das passiert nicht immer, und
es gilt für den Rat der EKD, für die Vereinigung der Evangelischen Kirchen, für die katholische Deutsche Bischofskonferenz und auch für das Zentralkomitee der
Hanna Wolf ({3})
deutschen Katholiken. Nicht nur als Mitglied des Zentralkomitees, sondern auch als Christ und Staatsbürger bin
ich froh, dass sich die aus dem christlichen Menschenverständnis und dem Grundgesetz ergebenden Rangordnungen sehr ähnlich sind. Dort heißt es - das sagen auch
die aktuellen kirchlichen Stellungnahmen -: Die Würde
des Menschen - unabhängig von seinen Entwicklungsstufen und seinen Fähigkeiten - ist unantastbar; sie nimmt
in der Rangordnung der abzuwägenden Güter die erste
Stelle ein.
Konkret heißt das: Die Würde des Menschen wird dort
verletzt, wo der Mensch als Träger der Menschenwürde
vom Staat oder von anderen Menschen zum bloßen Objekt gemacht und ausschließlich für Zwecke anderer genutzt wird, sei es für den Zweck der freien Forschung oder
den Zweck, später Kranke heilen zu können.
({4})
Ich meine, auch ein noch so guter Zweck heiligt nicht
das Mittel, die Würde eines einzelnen Menschen anzutasten. Das - und nur das - ist für mich der Maßstab.
Es geht auch nicht um eine christliche oder kirchliche
Sondermoral. Aber ich glaube, dass den Kirchen ein Erfahrungsschatz zur Verfügung steht, auf den eine plurale
Gesellschaft aufbauen kann. Ein guter Teil dieses Schatzes ist auch in das Grundgesetz eingegangen. Nicht von
ungefähr steht in der Präambel die Verpflichtung zu handeln vor „Gott und den Menschen“.
Ich setze in den kommenden Wochen auf die Kraft der
Argumente und darauf, dass diese klärende Wirkung haben. So haben sich die Positionen als falsch, weil einer rationalen Begründung nicht standhaltend, erwiesen, die
Menschenwürde sei an die Fähigkeit der Selbstachtung
oder des Selbstbewusstseins geknüpft oder der Mensch
werde erst durch die Geburt zum Menschen.
Ebenso ist für mich klar geworden, dass der vielfach
ins Gespräch gebrachte Vorschlag, die im Falle eines
Schwangerschaftskonflikts aus guten Gründen eingeführte Rechtskonstruktion „rechtswidrig, aber straffrei“
auf die bedingte Zulassung der PID zu übertragen, unlogisch wäre. Wir brauchen die Diskussion auch, um Zusammenhänge zu erkennen. So ist mir im Zusammenhang
mit der Diskussion über die bedingte Zulassung der PID
viel stärker bewusst geworden, dass wir die PID nicht ungeachtet des skandalösen Zustands der so genannten
Spätabtreibungen diskutieren können. Dass in Deutschland solche Spätabtreibungen, das heißt Schwangerschaftsabbrüche bei zu erwartender Krankheit oder Behinderung des Kindes bis unmittelbar vor dem Zeitpunkt
der Geburt erfolgen, ist ein Skandal.
({5})
Lassen Sie mich mit einer grundsätzlichen Bemerkung
schließen, die mir wichtig ist. Weder aus dem christlichen
Menschenverständnis noch aus der Bibel ergeben sich
konkrete unmittelbare Handlungsoptionen für ethisches
und politisches Handeln. Wohl aber ergeben sich daraus
Kriterien und Rangordnungen für die anstehende Urteilsbildung. Sie bilden einen Kompass, ein ethisches Koordinatensystem, das mir die Möglichkeit gibt, mich mit meinen Überlegungen an der Urteilsbildung zu beteiligen,
und sie geben mir die Gewissheit, dass Ethik eben nicht
- auch nicht an einen Nationalen Ethikrat - delegierbar
ist. Hierbei sind wir schon selbst gefordert.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margrit Wetzel.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Immanuel Kant gründet die Würde
des Menschen nicht nur in seinem Zweck-an-sich-selbstSein, sondern entwickelt auch die regulative Idee der
Menschheit in der Person als eine uns aufgegebene
Pflicht.
Völlig im Einklang damit sagt das Bundesverfassungsgericht: „Die von Anfang an im menschlichen Sein
angelegten Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde
zu begründen.“ Die Würde des Menschseins liege auch im
ungeborenen Leben im Dasein um seiner selbst willen,
daher verbiete sich jegliche Differenzierung der Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand
dieses Lebens.
({0})
Deutlich auch die Ablehnung der Erzeugung menschlichen Lebens, „um es alsbald wieder zu vernichten“.
Es gibt also gute Gründe, an der Substanz des
Embryonenschutzgesetzes ohne Wenn und Aber festzuhalten.
({1})
Für etwa 50 Paare jährlich in Deutschland wird ihr Kinderwunsch zu einem Problem, weil sie aufgrund genetischer Belastungen mit hoher Wahrscheinlichkeit erbkranke Kinder bekämen. Es gibt verschiedene Konfliktlösungen. Einige dieser Paare verzichten auf die Zeugung
und damit ganz auf eigene Kinder. Andere entscheiden
sich für den Verzicht auf die biologische Vaterschaft und
nehmen eine Samenspende an. Andere nehmen ein fremdes Kind an oder - die vielleicht schwerste aller Entscheidungen - sie nehmen ihr Schicksal in Gestalt eines
erbkranken Kindes bewusst an.
Wer sich in dieser Situation für die Präimplantationsdiagnostik entscheidet, steht damit nicht in einem Konflikt, sondern setzt bewusst den Wunsch nach einem eigenen, genetisch unbelasteten Kind um. Er erteilt einen
ärztlichen Dienstleistungsauftrag zur Erzeugung einer
ausreichend hohen Anzahl von Embryonen durch künstliche Befruchtung und zur Gendiagnose. PID ist ein von
gentechnischen Kriterien geleitetes Handeln in der Petrischale: nicht Konflikt, sondern Kalkül.
Zweck der Diagnose ist die Aussonderung erbkranker
Embryonen, ihre Verwerfung. Es ist die Selektion mit der
Hoffnung, mindestens einen ungeschädigten Embryo für
eine Schwangerschaft zu erzeugen. Wer hier eine Parallele - rechtswidrig, aber straffrei - zur unabwendbaren
Notlage beim Schwangerschaftsabbruch konstruiert, verwechselt den Kinderwunsch, der einen Lebensentwurf
ohne ein eigenes und gesundes Kind scheinbar nicht
zulässt, mit dem ungewünschten Kind, dessen Austragung gegen den Willen der Mutter nicht erzwungen werden kann.
({2})
Sehen wir uns die Erfolgsrate der PID an, die eine entsetzlich hohe Belastung für die betroffenen Frauen bedeutet. Die ESHRE-Studie weist für den Zeitraum von
1993 bis 2000 die Behandlungen von 886 Frauen weltweit
aus, die zu 123 Geburten und 162 Kindern führten. Durchschnittlich wurden dabei pro Geburt 74 Eizellen befruchtet und elf Embryonen transferiert. Ich frage mich, was
sich diese Frauen damit antun. Bezogen auf die circa
50 betroffenen Paare, abzüglich derer, die andere Alternativen wählen, kämen damit bestenfalls zwei bis drei PIDKinder jährlich in Deutschland zur Welt. Sollen wir dafür
den Embryonenschutz aufgeben?
({3})
Einen Indikationenkatalog will aus gutem Grund niemand aufstellen. Eine Begrenzung auf bestimmte Krankheiten wird niemals haltbar sein. Zu verlockend ist die immer wieder in die Debatte gebrachte Qualitätssicherung
der IVF. Schnell sind wir bei der Altersindikation, der Eizellspende und der verbrauchenden Embryonenforschung. Ist der Kinderwunsch erbkranker Eltern, der unser Verständnis und unser Mitleid weckt, nicht in
Wahrheit ein trojanisches Pferd für den Wunsch einiger
Forscher, den Einstieg in die verbrauchende Embryonenforschung zu legalisieren und scheinbar moralisch zu legitimieren?
({4})
Wir werden noch viele Debatten führen müssen, noch
viele Argumente austauschen, unseren ganzen Verstand,
unsere ganze Urteilskraft und unsere ganze Vernunft einsetzen müssen, und zwar jeder Einzelne von uns, der auf
der Grundlage seines Wissens und seines Gewissens in
diesen Fragen an Entscheidungen mitwirken wird.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Thomas Rachel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Forschungspolitiker und Christ in der Politik treiben mich die
neuen Möglichkeiten, Chancen und Risiken um, die sich
aus der Verknüpfung von Biotechnologie und Fortpflanzungsmedizin ergeben. Es ist das erste Mal in meiner siebenjährigen Tätigkeit im Deutschen Bundestag, dass ich
das Gefühl nicht loswerde, mein Streben als Forschungspolitiker könnte in Widerstreit zu manchen Wertgrundlagen geraten, die ich als Christ und Landessynodaler der
evangelischen Kirche habe.
Was ist es, was diese besondere Schwierigkeit ausmacht, vor der wir stehen? Die sich abzeichnenden Möglichkeiten in Biotechnologie und Medizin haben eine völlig neue Qualität; denn erstmals scheint die Menschheit
fähig zu sein, den Menschen selbst zu verändern. Damit
stehen wir als Gesellschaft vor der Frage: Dürfen wir alles zulassen, was wir technologisch können? Aber ich ergänze: Dürfen wir etwas unterlassen, wozu wir technologisch in der Lage wären?
Manche erzeugen in der öffentlichen Diskussion den
Eindruck, als ob es den Wissenschaftlern um Menschenzüchtung gehe. Diese Beschreibung hat mit den
Wissenschaftlern in Deutschland nichts zu tun.
({0})
Ehrlicherweise muss man sogar einräumen, dass sich die
Forschung in einem Dilemma befindet. Die differenzierte
und ausführliche Stellungnahme der DFG zeigt dies.
Forschung und Wissenschaft können nicht Selbstzweck sein oder ausschließlich einem nicht mehr zu hinterfragenden, abstrakten Forschungsinteresse dienen.
Auch die Wissenschaft muss gegenüber der Gesellschaft
Rechenschaft ablegen und am Wohl der Menschen Maß
nehmen. Aber es ist doch gerade der Urauftrag der Wissenschaft, sich im Bereich der Biomedizin für ein neues
Verständnis von Krankheitsprozessen und neue Arzneimittel einzusetzen, um Krankheiten wie Parkinson oder
Krebs zu beseitigen.
({1})
Deshalb bin ich gegen eine Dämonisierung der Wissenschaft, wie sie von manchen versucht wird. Übrigens
nimmt auch die evangelische Theologie die Hoffnung auf
neue Heilungsmethoden auf gentechnologischer Grundlage sehr ernst. Denn aus dem Gebot der Nächstenliebe ergibt sich geradezu die Pflicht, Möglichkeiten wahrzunehmen, um Menschen in Not zu helfen. Aber - hier kommen
wir zur notwendigen ethischen Grenzziehung - dieses
Ziel rechtfertigt nicht jedes Mittel. Auch Therapieversprechungen rechtfertigen nicht jede Art von Forschung.
Welches kann nun der Maßstab für die Beurteilung der
neuen technologischen Möglichkeiten der Lebenswissenschaften sein? Für uns Christdemokraten ist es das christliche Menschenbild. Wir wollen größtmöglichen Freiraum für Bio- und Gentechnologie; diese Freiheit findet
aber ihre Grenzen am absoluten Wert des Menschen und
der Menschenwürde. Über den Menschen kann nicht verfügt werden, ganz gleich, auf welcher Entwicklungsstufe
er steht, darf er nie zum bloßen Objekt von Forschungsund Wirtschaftsinteressen werden.
({2})
In voller Übereinstimmung mit den beiden großen Kirchen stellen wir Christdemokraten fest, dass mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle menschliches Leben
entsteht. Ab dem ersten Tag ist die genetische Vorbestimmtheit und Individualität des Menschen gegeben. Damit genießt der Embryo bereits in den ersten Tagen seines
Entstehens eine klare Schutzwürdigkeit. Aus diesem
Grunde lehnt die CDU Deutschlands die Erzeugung
menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken und die
verbrauchende Embryonenforschung ab. Es muss auch
andere Wege als die Vernichtung menschlichen Lebens
geben. Ein solcher Weg liegt in der Erforschung adulter
Stammzellen und der Stammzellen aus dem Blut der Nabelschnur. Lassen wir doch Deutschland zum Vorreiter
gerade dieses Forschungszweiges, der ethisch nicht belastet ist, werden.
({3})
Ich räume ein, dass ich anfangs die so genannte Präimplantationsdiagnostik, PID, vollkommen abgelehnt
habe. Je mehr ich mich aber mit dem Sachverhalt befasst
habe, desto mehr bin ich ins Nachdenken gekommen. Die
Frage ist letztlich: Kann man PID grundsätzlich verbieten? In zehn europäischen Nachbarländern wird die Methode der PID bereits erlaubt und praktiziert. Für mich
käme eine Zulassung der PID nur für solche Paare infrage,
die von einer schwersten genetischen Vorbelastung, für
die es keine Behandlungsmöglichkeiten gibt, betroffen
sind.
Bei der PID handelt es sich in meinen Augen im Prinzip um eine vorgezogene Pränataldiagnostik. Bereits
heute befindet sich unsere Gesellschaft in einem moralischen Dilemma: Wer diese Diagnostikmethode ablehnt,
muss bei geltender Rechtslage in Kauf nehmen, dass ein
Fötus mit genetischen Schäden erst nach dem dritten Monat oder zu einem späteren Zeitpunkt abgetrieben wird,
während bei Anwendung der PID keine Einnistung der Eizelle stattgefunden hätte. Die PID könnte somit helfen, einer Frau in Konfliktsituation einen späteren Schwangerschaftsabbruch zu ersparen.
({4})
Dass man die PID nicht in hundert Prozent aller Fälle
verbieten kann, hat mir ein Fall aus Amerika gezeigt:
Eine Familie hatte eine schwerst kranke Tochter, die
voraussichtlich mit sieben Jahren sterben würde. Die Eltern wollten ein weiteres Kind und haben sich gefragt, was
sie tun können, um ihrem kranken Kind zu helfen. Sie haben sich für den Weg entschieden, Stammzellen aus der
Nabelschnur eines Neugeborenen zu gewinnen, um damit
der kranken Tochter eine Heilungschance zu geben. Sie
wählten nach künstlicher Befruchtung und PID den Embryo aus, der nicht die gleiche Erbkrankheit, wie sie bei
der Tochter aufgetreten war, hervorbringen würde. Und in
der Tat: Mit den Stammzellen, die sie der Nabelschnur des
neugeborenen Jungen entnommen haben, konnte die
kranke Schwester geheilt werden.
({5})
War dieser Weg ethisch und moralisch verwerflich?
Mithilfe von PID konnte Leben gerettet werden. Wer
wollte hier den ersten Stein werfen? Der Vorgang zeigt,
dass man wahrscheinlich nicht in hundert Prozent aller
Fälle PID ausschließen kann. Die Indikation für die Anwendung von PID müsste in meinen Augen auf Fälle
schwerster genetischer Vorbelastung begrenzt und mit
umfassender Pflichtberatung verbunden sein.
Lassen Sie mich abschließend fragen: Was tun wir eigentlich mit den Daten, die wir mithilfe der neuen gendiagnostischen Verfahren bekommen? Jeder soll das
Recht auf Wissen seiner eigenen Daten haben. Es darf
aber keiner gezwungen werden, der Erhebung dieser Informationen zuzustimmen. Wir müssen es ausschließen,
dass künftig Kranken- und Lebensversicherungen vor Abschluss eines Vertrages die Vorlage eines Gentests verlangen dürfen.
({6})
Anderenfalls würde dies das Ende der Solidargemeinschaft sowie das Ende der solidarischen Sozialversicherung, wie wir sie in der Bundesrepublik Deutschland haben, bedeuten.
({7})
Herr Kollege,
denken Sie daran, dass Sie jetzt schon zwei Minuten überzogen haben.
Liebe Frau Präsidentin, nachdem Sie mich darauf hingewiesen haben, möchte
ich zum Schluss kommen.
Meine Damen und Herren, wir Parlamentarier haben
eine große Verantwortung: Wir haben die Verantwortung,
politisch alles zu tun - ich habe ein Beispiel genannt -, um
eine Spaltung der Gesellschaft in Bürger mit guten und
solche mit schlechten Genen zu verhindern. Wir wollen
die Chancen der Gentechnik nutzen, aber keine Menschen
ins Abseits stellen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Carola Reimann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Debatte um die PID und die embryonalen Stammzellen ist untrennbar mit den Fragen der
Menschenwürde, mit dem Beginn und mit dem Schutz des
Lebens verbunden. Das haben wir heute des Öfteren
gehört. Ich glaube, es gibt in diesem Hause niemanden,
der den Beginn des menschlichen Lebens nicht durch die
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle definiert, und
auch niemanden, der solch einer befruchteten Eizelle abspricht, dass es sich um menschliches Leben handelt und
Menschenwürde besitzt.
Im Zusammenhang mit der PID stellt sich für mich eine
zentrale Frage: Wie ist der Status des Embryos in vitro?
Kann und soll man einen Embryo in vitro anders schützen
als einen Embryo in vivo? Ich halte es für fragwürdig,
befruchtete Eizellen außerhalb des Körpers unter einen
höheren Schutz zu stellen als Embryonen im Mutterleib.
Vor der Nidation, also vor der Einnistung der Eizelle in
der Gebärmutter, besteht für natürlich entstandene Embryonen kein Schutz. Gängige Verhütungsmethoden wie
die Spirale verhindern die Einnistung des entstandenen
Embryos im Körper der Frau und sind gesellschaftlich
breit akzeptiert. Bei einer natürlichen Schwangerschaft
beginnt der Schutz des Embryos erst mit dem Zeitpunkt
der Nidation. Betrachtet man nun Embryonen in vivo und
in vitro unabhängig vom Zeitpunkt dieser Nidation, so
kann man § 218 meiner Ansicht nach nicht außer Acht lassen. Es stellt sich die zusätzliche Frage, ob wir Embryonen zu einem frühen Zeitpunkt, nämlich unmittelbar nach
der Befruchtung und noch vor der Einnistung in der Gebärmutter, bei Androhung von Strafe stärker schützen
sollten als solche Embryonen, die schon einige Wochen
alt sind und deren Abtreibung zwar nicht erlaubt ist, aber
unter den Voraussetzungen des § 218 straffrei bleibt. Im
täglichen Leben nehmen wir ein differenziertes Lebensschutzkonzept hin. Ich warne davor, eine Ethik zu fordern, die von niemandem gelebt wird und auch von niemandem gelebt werden will. Das führt geradewegs zu
einer Doppelmoral.
({0})
Lassen Sie mich einen Aspekt nennen, der auch mir in
der Diskussion immer wieder zu kurz kommt, nämlich die
Position der Frau. Die Rolle der Frau reduziert sich häufig auf ein diffuses Schwangerschaftsumfeld. Man konzentriert sich stark auf das Potenzial der befruchteten Eizelle, ohne ausreichend zu berücksichtigen, dass die
Realisierung dieses Potenzials von einer Frau abhängig
ist. Meiner Ansicht nach kommt der Frau deshalb eine
Schlüsselposition zu. Die Rechte des Embryos müssen
deshalb gegen die Rechte der Frau abgewogen werden,
ähnlich wie wir das bei § 218 bereits tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was bedeutet es,
wenn die PID gänzlich verboten bleibt? Eine Frau, die
trotz problematischer Familienanamnese einen Kinderwunsch hat, erhält keine Möglichkeit zur PID. Bei einer
natürlich entstandenen Schwangerschaft wird aber sehr
wohl getestet, ob genetische Veränderungen vorliegen.
Die Frau wird zu einem späten Zeitpunkt der Schwangerschaft vor die Entscheidung einer möglichen Abtreibung
gestellt. Das bedeutet: Frauen, die trotz bekannter Erkrankungen in der Familie nicht auf Kinder verzichten
wollen, müssen sich als Gebärmutter auf Probe benutzen
lassen. Das halte ich für frauenverachtend.
({1})
Das wird den Frauen und auch den Paaren mit problematischer Familienanamnese nicht gerecht.
Das Gleiche gilt für den Vorwurf der Leichtfertigkeit,
der in der Diskussion immer wieder mitschwingt. Ich
glaube, dass gerade Paare, die sich aufgrund ihrer familiären Vorgeschichte einer genetischen Beratung unterziehen, das aus einem Gefühl der Verantwortung heraus tun
und ihre Situation sehr wohl reflektieren.
Ich plädiere deshalb für eine Zulassung der PID in engen Grenzen, die berücksichtigen, dass viele in unserem
Land Angst vor der Zeugung von Menschen nach Maß
haben. Ich glaube aber, wir brauchen eine klare gesetzliche und keine standesrechtliche Regelung, in der die Bedingungen, unter denen wir die Präimplantationsdiagnostik zulassen wollen, sehr genau definiert werden. Zu
diesen Bedingungen gehören für mich eine professionelle
psychosoziale Beratung und natürlich eine Begrenzung
auf Erkrankungen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rolf Stöckel.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Keuner fragt in einer Geschichte von
Bert Brecht: „Wäre es nicht besser, die richtigen Fragen
zu stellen, als so zu tun, als hätten wir immer schon die
richtigen Antworten?“
({0})
Es geht mir wahrscheinlich wie den meisten, die diese so
wichtige Debatte bis jetzt verfolgt haben und keine Fachleute sind: Ich habe noch viele Fragen. Ich meine wie auch
Kollege Kues, dass wir alle, als Abgeordnete, aber vor allem als mündige Bürgerinnen und Bürger, die Antworten
und Entscheidungen nicht allein den Spezialisten und erst
recht nicht den Vertreterinnen und Vertretern allein selig
machender endgültiger Wahrheiten überlassen dürfen.
Ich weiß auch nicht wirklich, was zum Beispiel die
Menschen in meinem Wahlkreis über Gentechnik wissen, denken und was sie sich von ihr erhoffen, wie sie
zukünftig leben wollen und vor allen Dingen, wovor sie
der Staat schützen soll. Was ist für sie Menschenwürde
und menschliches Leben? Ich meine aber zu wissen, dass
sich die Mehrheit von ihnen das im 21. Jahrhundert nicht
mehr von Kirchenvorständen, Zentralkomitees oder von
wem auch immer vorschreiben lassen will.
Ich bin eher zuversichtlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es in Deutschland zwischen den Menschen
verschiedener Religionen, Lebenssichten und auch der
Wissenschaft viel mehr ethische Gemeinsamkeiten gibt,
als die bisherige Debatte glauben macht, und zwar sowohl
bei der Achtung der Menschenwürde, bei der Haltung gegen Ökonomismus, gegen Diskriminierung und Rassismus wie auch bei Eingriffen in die persönliche informelle
Selbstbestimmung durch Zwangsgentests.
Ich bin deshalb Roman Herzog - er ist schon zitiert
worden - für seinen Beitrag dankbar. Er hat als Katholik,
ehemaliger Bundespräsident und als renommierter Verfassungsrechtler nicht nur gesagt, dass das Recht der
Erbkranken, durch weitere Forschung gerettet zu werden, auch den Wert menschlichen Lebens auf seiner Seite
hat, sondern will bei der „totalen Absolutstellung des ungeborenen Lebens in einer Gesellschaft, die beim ,fertiDr. Carola Reimann
gen’ Leben - und zwar aus einsichtigen Gründen - durchaus zu unterscheiden weiß, nicht mitmachen“.
Diesen Dialog so öffentlich und verständlich zu führen
und die Bürgerinnen und Bürger daran tatsächlich zu beteiligen sind Wissenschaftler aller Fachrichtungen, Kirchen, Verbände und wir Politiker verpflichtet. Ich teile
deswegen die Frage des Kollegen Tauss: Wo sind eigentlich die Geistes- und Erziehungswissenschaftler, die
laut sagen, dass die individuelle Menschwerdung mit allen menschlichen Eigenschaften ohne soziale Wechselbeziehungen, ohne Interaktionen im Mutterleib, in der Familie und in der Gesellschaft gar nicht möglich ist? Was
spricht eigentlich dagegen, dass nicht auch in Zukunft wie
heute fast alle Kinder durch natürliche Zeugung zur Welt
kommen? Macht das in Zeiten der Gentechnik keinen
Spaß mehr? Die Machbarkeitsphantasien bezüglich der
Genforschung und -technik, die von erbitterten Gegnern
wie euphorischen Interessenten suggeriert und von Massenmedien angeheizt werden, müssen meiner Meinung
nach auf den Boden realistischer Tatsachen gestellt werden. Die Debatte sollte gerade in Deutschland nicht überwiegend angstbesetzt geführt werden.
In Deutschland werden wichtige Zukunfts- und Wertedebatten oft mit dem Hinweis auf die besondere deutsche
Geschichte für beendet erklärt. Ich meine, das Wissen
über die Geschichte, besonders die Lehren aus den Verbrechen des Nationalsozialismus, ist eine substanzielle
Basis für unseren Rechtsstaat und die Demokratie, die
hoffentlich bald auch eine europäische sein wird. Ich
frage mich aber gerade auch als jüngerer Kollege und für
Jüngere, wie wenig Zutrauen diejenigen in die Zukunft
unseres Verfassungsstaates und seiner Gewaltenteilung
sowie Vertrauen den mündigen Bürgerinnen und Bürgern
als Souverän gegenüber haben, die die Forschung an vorhandenen, nicht eingepflanzten Embryonen und PID, gegen Missbrauch klar definiert, begrenzt und kontrolliert,
als Dammbruch an die Wand malen und damit die Tür zur
sozialen und ökonomischen Selektion weit offen sehen.
Sollten wir nicht deutlicher machen, dass nur rechtsstaatliche und demokratische Strukturen einen zivilisierten, verantwortlichen, die Menschenwürde achtenden
Umgang mit neuem Wissen und neuen Technologien, die
weltweit verfügbar sein werden, ermöglichen?
({1})
Können wir die Chancen und Risiken neuer Techniken
überhaupt ohne ethisch vertretbare Forschung beurteilen?
Ich meine: Nein. Wie werden das zukünftige Generationen beurteilen, wenn wir darauf verzichten? Sind andere
zivilisierte Gesellschaften, die Embryonenforschung und
PID ermöglichen und die eine längere demokratische Tradition als Deutschland haben und auch einen langen ethischen Diskurs führen, moralisch wirklich schlechter? Ist
es nicht so wie in Brechts Kinderhymne: „Wir wollen
nicht unter und nicht über andren Völkern sein“?
Ich komme zum Schluss. Wir wissen, dass höchstens
10 Prozent aller Behinderungen erbkrankheitsbedingt
sind. Nur ein Bruchteil der behindert Geborenen ist durch
künstliche Befruchtung gezeugt worden. Wie kann es
angesichts dieser Tatsache durch PID einen Dammbruch
geben, der sich letztlich gegen Behinderte wendet?
({2})
Müssen wir Leiden und Behinderung kultivieren oder als
sinnstiftend erklären, um Behinderte als gleichwertige
Menschen in unsere Mitte zu nehmen, oder reicht es vielleicht aus, dass wir alle durch Unfall oder von nach der
Geburt auftretenden Krankheiten potenziell betroffen
sind? Lenkt die bisherige Debatte über die Menschenwürde der Behinderten im Zusammenhang mit PID nicht
eher von den realen Defiziten bei der Integration und
Gleichbehandlung Behinderter ab, etwa vergleichbar mit
der Debatte über aktive Sterbehilfe auf der einen Seite und
der Realität der Sterbebegleitung, der Schmerztherapie
und der Palliativmedizin in Deutschland auf der anderen
Seite?
Das alles sind schwierige, aber wichtige Fragen. Wir
kommen nicht darum herum, sie zu klären und letztlich
politische Entscheidungen zu treffen, die wir in jedem
Fall vor den zukünftigen Generationen zu verantworten
haben werden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Als Letzter in
der Debatte erhält jetzt der Abgeordnete Dr. Hermann
Scheer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte im Zusammenhang mit
der Debatte zu bioethischen Problemen über einen Punkt
sprechen, der weder in den letzten Wochen noch heute im
Zentrum der Debatte stand, der aber nach meiner Meinung - zwar nicht in erster Linie unter humanethischen,
aber unter wirtschaftsethischen und sozialethischen Gesichtspunkten - von größter Bedeutung für die weitere
Entwicklung ist, nicht zuletzt in Bezug auf die Rolle der
Entwicklungsländer. Es geht um die Frage der Patentierung von Stoffen.
Die Debatte darüber, ob es erlaubt werden soll, nicht
nur Erfindungen, sondern auch schlichte Entdeckungen
zu patentieren - Letzteres ist mehr als zweifelhaft -, ist
bekannt. Sie wird häufig so geführt, als ob es sich nur um
einen formalen Konflikt handelt. Darüber, dass dies die
Sprengung des bisherigen Patentrechts bedeutet, dass dies
unglaubliche soziale Auswirkungen haben und dass sich
hier entscheiden wird, ob die Biowissenschaft eine ungerechtfertigte neue Cashquelle in der Hand weniger oder
eine große Chance für die gesamte Menschheit ist, wird
meistens nicht debattiert.
Die Patentierung von Genen bedeutet die Enteignung
des evolutionären Erbguts sowie des Wissens und der
Praktiken der Menschen, insbesondere in den landwirtschaftlichen Regionen der Welt, und zwar nicht durch
Staaten oder Regierungen, sondern durch wenige private,
überwiegend transnational tätige Unternehmen. Dies ist
ein Schlüsselproblem, das entschieden mehr beachtet
werden müsste. Wenn dem Tür und Tor geöffnet würde,
wäre das der größte Enteignungsvorgang in der Zivilisationsgeschichte, der nicht zuletzt in vielen Publikationen,
vor allem aus der Dritten Welt, als Biopiraterie bezeichnet
wird. Ein meines Erachtens treffender Begriff.
({0})
Im Jahre 1948 hat der Supreme Court, das oberste Gericht der Vereinigten Staaten, die Patentierung von Genen,
damit auch von biologischen Stoffen, verboten. Er hat gesagt, verwertbare Eigenschaften der Natur seien nicht patentierungsfähig. Der Schlüsselsatz in seinem Urteil lautete, diese Eigenschaften der Natur seien „part of the
storehouse of all men. They are manifestations of laws of
nature, free to all men and reserved exclusively to none.“
Für niemanden exklusiv reservierbar durch Patentierung!
Nun wird häufig darauf verwiesen, dass diese Frage
doch eigentlich nicht viel anderes sei als eine Fortentwicklung dessen, was man etwa im Sortenschutz schon
kenne, wo es um Züchtungen geht. Es gibt dabei aber drei
wesentliche Unterschiede. Der eine Unterschied ist die
Geschwindigkeit. Der zweite, noch größere, Unterschied
ist die Menge. Und der dritte Unterschied ist, dass hier
keine mühsame Züchterarbeit dahinter steht, sondern
schlicht und einfach die Entdeckung der Verwertbarkeit
einer Pflanze, eines Tieres oder natürlich auch von Genen
von Menschen.
Für diese Patentierung wird mit der Behauptung geworben, es gehe hier um eine neue Chance zur Überwindung des Welthungers. Aber die Welthungerproblematik
hängt zusammen mit der Organisation der Agrarstrukturen, mit der Erodierung von Böden durch falschen Gebrauch von Düngemitteln und mit anderem mehr. Sie resultiert nicht aus mangelnder Leistungsfähigkeit von
Pflanzen.
({1})
Die Dritte Welt wird als Argument mobilisiert. Dabei
wird übersehen, dass fast alle internationalen Entwicklungsorganisationen, angefangen von der UNDP bis hin
sogar zur Weltbank, eindringlich vor den entwicklungspolitischen Konsequenzen warnen. In einem Land wie
Madagaskar, in dem schon seit Jahren Biopatente erlaubt
sind - so ein Bericht der Weltbank - haben ausländische
Firmen 15 000 Patente an dem natürlichen Erbgut, von
Pflanzen, die es auf Madagaskar gibt, einheimische Forscher dagegen nur 21. Damit droht eine völlige Verdrehung, eine völlige Neugewichtung in der internationalen
Wirtschaftsordnung, weit über die gegenwärtigen NordSüd-Verhältnisse hinaus. Länder der Dritten Welt wie Indien, wo 80 Prozent der Aussaat noch aus eigener Ernte
kommt, könnten künftig in die Situation kommen, zu Lizenznehmern von wenigen multinationalen Konzernen zu
werden mit der Folge, dass sie Lizenzgebühren zahlen
müssen. Sie werden sich das nicht gefallen lassen. Es wird
riesige Revolten geben. Es wird aus sozialer Notwehr in
vielfacher Weise eine Durchbrechung internationaler
Rechtsordnungen geben.
Das gilt nicht nur für die Dritte Welt, das ist längst
schon in der Ersten erreicht. Kürzlich stand in der „Süddeutschen Zeitung“, dass ein kanadischer Landwirt, der
biogen veränderte, also genmanipulierte Ölsaaten bewusst nicht anbaut - das ist also sozusagen seine Marke-,
aufgrund des Patentrechts gerichtlich zu 80 000 Dollar Lizenzgebühr verdonnert worden ist, weil solche Saatgüter
auf seine Felder geweht sind und seine Saat damit nicht
mehr natürlich war - und das, obwohl das für ihn sogar
noch eine Geschäftsschädigung war; denn sein Produkt
entsprach nicht mehr dem, was er haben und anbieten
wollte.
Die UNDP - das möchte ich abschließend zitieren sagt zu dieser Frage:
Neue Patentgesetze kümmern sich kaum um die
Kenntnisse der indigenen Bevölkerung, die damit
den Ansprüchen von außen schutzlos ausgesetzt ist.
Diese Gesetze ignorieren die kulturelle Vielfalt bei
der Schaffung von Innovationen und die Teilhabe daran. Ebenso wenig berücksichtigen sie die vielfältigen Ansichten darüber, was Gegenstand von Eigentumsansprüchen sein kann und darf - von
Pflanzensorten bis zum menschlichen Leben. Das
Ergebnis ist ein stillschweigender Diebstahl von über
Jahrhunderte erworbenem Wissen, der von den entwickelten Ländern an den Entwicklungsländern begangen wird.
Wir dürfen diese Entwicklung nicht zulassen.
({2})
Sie stellt unsere gesamten entwicklungspolitischen Ansprüche auf den Kopf. Entwicklungshilfe wird die verursachten sozialen Zerstörungen, Verwerfungen und Veränderungen von Eigentumsverhältnissen in der Dritten Welt
in keiner Weise mehr kompensieren können.
Wir erleben gegenwärtig eine Debatte über Aidsmedikamente in Südafrika. Auch unsere Entwicklungshilfeministerin hat sich in dieser Frage engagiert. Diese Arzneimittel sind nicht entdeckt, sondern tatsächlich erfunden
worden. Geschähe etwas Ähnliches bei Saatgütern, so
hätte das sogar einschnürenden Einfluss auf Dinge, die
aus den Traditionskulturen dieser Länder selbst kommen.
Herr Kollege,
kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir müssen bei der gesamten Biopatentierung höchst wachsam sein und verhindern, dass sich solche Entwicklungen ihre sozial verheerende Bahn brechen.
Danke schön.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Ende dieser
sehr langen und sehr intensiven Debatte. Sie war auch
für dieses Haus ungewöhnlich. Wir können allen Beteiligten nur danken. Es war gut, dass wir diese Debatte geführt haben.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und 5 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert, Monika
Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Behandlung von Petitionen und über die Aufgaben und Befugnisse des Petitionsausschusses
des Deutschen Bundestages
- Petitionsgesetz - ({1})
- Drucksache 14/5762 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert, Monika
Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes ({3})
- Drucksache 14/5763 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({4})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die PDS zehn
Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Das Wort hat die Abgeordnete Heidemarie Lüth.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vorgestern habe ich dem Präsidenten den Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr
2000 übergeben. Heute begründe ich den Entwurf der
Fraktion der PDS für ein Petitionsgesetz. Das hat auch
insofern miteinander zu tun, als immer wieder Petitionen
eingereicht werden, in denen der Bundestag aufgefordert
wird, das Petitionsrecht zu verbessern, es übersichtlicher
zu gestalten und wirksamer zu machen, den Bürgerinnen
und Bürgern mehr Einsicht in die Abläufe zu geben und
für sie stärkere Rechtspositionen zu begründen. Das ist
ernst zu nehmen. Die Fraktion der PDS hat das getan.
({0})
In der Debatte über den Bericht des Petitionsausschusses im vergangenen Jahr habe ich an dieser Stelle bemerkt:
Lassen Sie uns über mögliche Verbesserungen nachdenken und konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung des Petitionsrechts erarbeiten! Lassen Sie uns in
einem offenen Diskussionsprozess miteinander und
mit den vielen interessierten Bürgerinnen und Bürgern Ideen und Argumente austauschen!
Das haben wir getan. Die PDS im Bundestag hat sofort
begonnen, einen Entwurf für ein neues Petitionsgesetz zu
erarbeiten. Diesen Vorschlag haben wir dann aber nicht
sofort in das parlamentarische Verfahren eingebracht;
vielmehr haben wir ihn auf den Prüfstand einer öffentlichen Anhörung gestellt. Wir haben ihn durch Vertreterinnen und Vertreter der politischen Praxis und der Wissenschaft, auch durch engagierte und petitionserfahrene
Bürgerinnen und Bürger einem Brauchbarkeitstest unterworfen. An dieser Anhörung haben neben anderen aktiv
mitgewirkt Frau Dr. Hamm-Brücher von der F.D.P., Herr
Peter von der SPD, Herr Dr. Pfennig von der CDU und
Herr Dr. Ullmann von den Grünen - alle langjährig im
Bundestag oder im Europäischen Parlament im Petitionsausschuss aktiv. Zuvor waren fundierte Analysen von den
drei Bremer - nein, nicht Stadtmusikanten; das waren ja
auch vier - Petitionsexperten Bockhofer, Professor Röper
und Professor Schefold. Ihnen allen danke ich ganz herzlich.
({1})
Die Anhörung hatte Konsequenzen: Wir haben viele
der sachkundigen Kritiken, Anregungen und Verbesserungsvorschläge berücksichtigt. Sie sind in den Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf eingegangen. Im Bereich der
Petitionsinformationsrechte haben wir übereinstimmende
Bedenken von Herrn Peter und von Herrn Dr. Pfennig
berücksichtigt.
Wir haben unsere Absicht aufgegeben - sie war noch
in unserem Gesetzentwurf aus der letzten Legislaturperiode und auch in der Vorlage der Grünen enthalten -, die
Behandlung von Bitten und Beschwerden gleichzusetzen.
Wir haben uns davon überzeugt, dass es gravierende Unterschiede zwischen beiden Bereichen gibt. Wir haben
aber wesentliche Verbesserungen für Petitionen im Allgemeinen und damit für die Bitten und insbesondere für die
Beschwerden vorgeschlagen. Für letztere haben wir generell die Möglichkeit vorgesehen, Beweiserhebungen
durchzuführen mit der Verpflichtung für geladene Zeugen, zu erscheinen und wahrheitsgemäß auszusagen.
Das mag manche schrecken, sehen sie im Petitionsausschuss doch schon das täglich tagende Tribunal. Es fehlen
eigentlich nur noch die Roben. Aber das ist nicht gewollt.
Alle Erfahrungen der Petitionsausschüsse, die das Beweiserhebungsrecht kennen, zeigen ja, dass nur äußerst selten davon Gebrauch gemacht wird, nur selten Gebrauch
gemacht werden muss, weil allein die Existenz dieses
Rechts einen außerordentlichen Anreiz zu prompter, umfassender und wahrheitsgemäßer Auskunftserteilung darstellt. Allerdings gehört zur Wirksamkeit dieses Beweiserhebungsrechts auch, dass auf Antrag einer Minderheit
im Petitionsausschuss davon Gebrauch gemacht werden
muss.
Mit der Verbesserung der Petitionsinformationsrechte
stärken wir die Position des Ausschusses, des Parlaments
insgesamt gegenüber der Exekutive. Das ist so beabsichtigt; das reicht aber noch nicht aus. In diesem Zusammenhang möchte ich drei weitere Punkte ansprechen.
Erstens. Wir wollen in das Gesetz ausdrücklich hineinschreiben, dass es dem öffentlichen Interesse nicht entspricht, wenn eine Behörde entgegen der Aufforderung
des Petitionsausschusses einen Verwaltungsakt vollzieht
und damit das verfassungsmäßige Petitionsrecht praktisch
leer laufen lässt. Durch eine solche Gesetzesbestimmung
erreichen wir unter Wahrung der Gewaltenteilung eine begrenzte, aber immerhin dringend erforderliche aufschiebende Wirkung des Petitionsverfahrens.
Zweitens. Leider erleben wir es immer wieder, dass
unsere stärksten Voten, die Überweisungen zur Berücksichtigung und zur Erwägung, von der Bundesregierung nicht beachtet werden. Nicht selten wird uns das mit
einem ebenso kurzen wie unbefriedigenden Schreiben
mitgeteilt. In einem solchen Fall sehen wir vor, dass die
Regierung zukünftig verpflichtet ist, ihre Haltung dem
Parlament zu erläutern und sich der parlamentarischen
Debatte zu stellen.
({2})
Drittens. Weil den genannten Voten ein so hohes Gewicht zukommen soll, haben wir einen anderen Rat der
Expertinnen und Experten ebenfalls berücksichtigt. Wir
schlagen ja für den Regelfall vor, über Petitionen nur noch
im Petitionsausschuss zu entscheiden. Überweisungen
zur Berücksichtigung und zur Erwägung sollen aber stets
vom Plenum des Bundestages beschlossen werden. Da
das nicht für viele Fälle zutrifft, werden wir auch bei Petitionen zukünftig genau wissen, worüber wir denn eigentlich konkret abstimmen.
({3})
Der PDS geht es darum, das Grundrecht einer jeden Petentin und eines jeden Petenten aufzuwerten, ein Grundrecht, das für den demokratischen Sozialstaat des Grundgesetzes von konstitutiver Bedeutung ist. Bei uns in der
Bundesrepublik beruht Sozialstaatlichkeit ja nicht auf
Mildtätigkeit oder Güte einer Obrigkeit, sondern auf demokratischen Prozessen, Verfahren und Institutionen, die
von der Verfassung vorgegeben sind. Zur Stärkung des
Petitionsgrundrechtes einige Hinweise:
Erstens. Interessierte Bürgerinnen und Bürger sollen
nicht mehr die Rechtsvorschriften für verschiedene Bereiche zusammenklauben und zusammenfügen müssen.
All diese Vorschriften sollen künftig in einem Gesetz enthalten sein. Auch das ist eine Frage von Demokratie und
eine Frage der Erleichterung beim Mitmachen im demokratischen Prozess.
({4})
Zweitens. Petitionsverfahren sollen so gestaltet sein,
dass für Petentinnen und Petenten klar erkennbar ist, was
geschieht, womit gerechnet werden kann und womit gerechnet werden muss. Es darf, wie es Horst Peter in der
Anhörung formuliert hat, eines nicht geben: ein Verschwinden hinter einem Vorhang, wenn niemand erfährt,
was in der Zeit passiert, wo er wartet.
Drittens. Unser Gesetzentwurf soll auch der Tendenz
Rechnung tragen, dass die Anzahl der Bitten, insbesondere der Anregungen zu gesetzgeberischen Maßnahmen,
im Verhältnis zu den Beschwerden zunimmt. Damit werden wir als Gesetzgebungsorgan stärker auf unsere Aufgabe der Selbstkontrolle der eigenen Tätigkeit verwiesen;
der Petitionsausschuss wird insbesondere auf die Gesetzesfolgenkontrolle und wir alle auf die vorausschauende
Gesetzesfolgenabschätzung verwiesen.
In diesem Zusammenhang ist die Transparenz des parlamentarischen Handelns von besonderer Bedeutung. Das
wollen wir durch den Grundsatz der Öffentlichkeit der Petitionstätigkeit bei Wahrung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung erreichen.
Viertens. Besondere Bedeutung gewinnen die Massenpetitionen, bei denen sich eine Vielzahl von Menschen aktiv und gemeinschaftlich einbringt. Hier ergänzen wir die repräsentativen Willensbildungs- und
Entscheidungsstrukturen durch plebiszitäre Elemente,
ohne dass es sich schon um wirkliche Plebiszite, um unmittelbare Entscheidungen durch das Volk, handelt.
Durch die Schaffung von öffentlichen Dialogstrukturen
zwischen den Petentinnen und Petenten auf der einen und
dem Parlament auf der anderen Seite eröffnen wir aber
über den periodischen Wahlakt hinaus demokratische
Mitwirkungsmöglichkeiten. So schaffen wir eine Praxis
plebiszitären Handelns, ja eine plebiszitäre Kultur, die
sich positiv auswirken wird, wenn das Institut der Volksgesetzgebung durchgesetzt ist.
({5})
Fünftens. Wir wollen ein modernes Petitionsrecht, das
die elektronischen Kommunikationsmedien nutzt. Deshalb sehen wir auch die Einreichung von Petitionen auf
elektronischem Wege vor. Wir wollen in Anlehnung an die
europäische Regelung ein Petitionsregister und eine Petitionsdatenbank schaffen. Diese sollen nicht nur elektronisch zugänglich sein, sondern auch unmittelbares demokratisches Mitwirken ermöglichen.
Vor einem Jahr hatte ich gehofft, dass auch andere
Fraktionen und nicht nur die relativ kleine der PDS Vorschläge zur Weiterentwicklung des Petitionsrechts macht.
Kollegin Buntenbach hat ja gestern Vorschläge angekündigt. Da darf man gespannt sein. Auch der Parteivorstand
der SPD hat einen Beschluss zum „Ausbau der Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene“ gefasst und darin insbesondere zwei Bereiche thematisiert: zum einen die Frage des Petitionsrechts und
zum anderen die Volksgesetzgebung. Lassen Sie mich zu
Letzterem sagen: Die in diesem Beschluss angegebenen
Quoren lassen ihn eher als ein Konzept zur Verhinderung
unmittelbarer Volksgesetzgebung erscheinen.
Es sei auch kurz angemerkt, warum, wenn jetzt unmittelbar die parlamentarische Debatte - davon gehe ich
aus - zum Thema Volksgesetzgebung bevorsteht, dann
nicht auch der Gesetzentwurf der PDS einbezogen werden soll. Aber das wird ja jetzt vielleicht anders.
Zu Fragen des Petitionsrechtes, zu denen der SPD-Vorstand auch Vorschläge erarbeitet hat, heißt es unter anderem:
Bei wichtigen Massenpetitionen kann der Petitionsausschuss ebenfalls mit 2/3 der Mitglieder beschließen, die Angelegenheit dem Parlament als
Ganzem zur Beratung und Entscheidung vorzulegen.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir doch
jetzt ohnehin.
({6})
Wir brauchen als Fraktion nur einen Änderungsantrag zu
formulieren und schon kann über die Angelegenheit
- egal ob Massenpetition oder eine andere - hier im Plenum diskutiert werden.
25 Jahre, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind vergangen, seitdem das Petitionsrecht das letzte Mal reformiert wurde. Wir denken daher, dass es jetzt nicht zu einem Schnellschuss kommen darf, sondern dass über die
Rechte der Petentinnen und Petenten bei einer Reform des
Petitionsrechts in einer breiten parlamentarischen Debatte
umfänglich diskutiert werden muss. Wir sollten uns daher
auf eine Anhörung zu diesem Thema im Petitionsausschuss verständigen, um diese parteiübergreifende Diskussion zu ermöglichen.
({7})
Ich weiß, dass allein durch diese Diskussion noch kein
parlamentarischer Erfolg sichergestellt ist. Aber niemand
kann mich bis zum Beweis des Gegenteils daran hindern,
an den Erfolg eines verbesserten Petitionsrechtes für Petentinnen und Petenten und damit auch für uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu glauben.
Danke.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Wie wir eben von der sehr verehrten Frau
Vorsitzenden des Petitionsausschusses gehört haben, hat
die PDS-Fraktion den Entwurf eines Petitionsgesetzes
- er wurde uns ja wortreich vorgestellt - vorgelegt. Wenn
man ihn näher betrachtet und genauer hineinsieht, stellt
man fest, dass das Petitionswesen letzten Endes neu- bzw.
umgestaltet werden soll. Ich werde darauf gleich noch zu
sprechen kommen.
({0})
- Genau, Herr Claus.
Zu fragen ist daher: Ist das notwendig, ist das sinnvoll
und fördert dieser Gesetzentwurf das Petitionswesen so,
wie es im Grundgesetz niedergelegt ist? Ich meine, im Ergebnis nicht. Es ist eine ganze Reihe von Ansätzen dabei,
die sicherlich diskussionswürdig sind, aber es gibt auch
einige Punkte, die zumindest aus meiner Sicht dazu
führen, dass wir dem so nicht werden zustimmen können.
Lassen Sie mich vorab noch einige Worte zu den rechtlichen Grundlagen des geltenden Petitionsrechts sagen,
weil dies eben etwas zu kurz gekommen ist. Nach Art. 17
des Grundgesetzes hat jedermann das Recht, sich einzeln
oder in Gemeinschaft mit anderen mit Bitten oder Beschwerden an den Bundestag zu wenden. Der Bundestag
hat hierfür nach Art. 45 c Abs. 1 Grundgesetz den Petitionsausschuss eingesetzt.
Die Befugnisse dieses Ausschusses sind heute bereits
in einem Gesetz geregelt, soweit es um die Überprüfung
von Beschwerden geht. Diese Regelungen beinhalten im
Wesentlichen die Verpflichtung der Bundesregierung, der
Bundesbehörden und anderer zur Aktenvorlage, zur Auskunftserteilung sowie eine Zutrittsgestattungspflicht. Das
Gesetz räumt dem Petitionsausschuss das Recht ein, Zeugen und Sachverständige anzuhören, und verpflichtet Gerichte und Verwaltungsbehörden zur Amtshilfe. Der Geschäftsordnungsgang im Ausschuss selbst ist in der
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geregelt.
Das Ganze ist in einem Heftchen zusammengefasst, das
Bernd Reuter vor sich auf dem Tisch liegen hat. Viele
Petentinnen und Petenten, viele Bürgerinnen und Bürger
in unserem Land - jedenfalls ist es in meinen Wahlkreisbüros vor Ort so - fragen danach und können sich mithilfe
dieses Leitfadens im geltenden Petitionsrecht sehr gut zurechtfinden.
Darauf, dass das geltende Recht, wie wir es seit fast
drei Jahrzehnten praktizieren, gut funktioniert, haben Sie,
Frau Lüth, eben schon hingewiesen. Ich meine, das sollte
an einem solchen Tag noch einmal betont werden. Denn
der Tätigkeitsbericht des Ausschusses macht, da mit über
20 600 Eingaben das Petitionsrecht im Jahr 2000 in
großem Umfang von den Bürgerinnen und Bürgern dieses
Landes in Anspruch genommen wurde, sehr deutlich, dass
offensichtlich keine Scheu vorhanden ist, sich mit einer
Petition an den Deutschen Bundestag zu wenden. Wenn
man diesen gut 100 Seiten starken Bericht gründlich
durchliest, kann man ihm dezidiert entnehmen, dass die
Petitionen mit dem vorhandenen rechtlichen Instrumentarium bemerkenswert zügig und gründlich bearbeitet worden sind. Der Bericht zeigt eindrucksvoll, wie Einzelfallprobleme von Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar
erörtert wurden und in vielen Fällen auch Abhilfe geschaffen werden konnte.
Von daher stellt sich die Frage, ob es notwendig ist,
Frau Kollegin Lüth, ein Petitionsgesetz mit den Inhalten
zu verabschieden, wie Sie es vorgelegt haben. Lassen Sie
mich einige Punkte nennen, die mich dazu bringen, das zu
verneinen.
Erstens. Sie haben eine Vielzahl von Regelungen vorgesehen, die überflüssig sind, weil sie bereits in bestehenden Vorschriften enthalten sind. Ein Beispiel, das hervorgehoben wird, ist, dass ein Brief, den eine inhaftierte
Person an den Petitionsausschuss schickt, im Vollzug
nicht geöffnet werden darf. Das ist bereits seit 1976 im
Strafvollzugsgesetz geregelt. Weitere Regelungen, die
ebenfalls überflüssig sind, finden sich in Ihrem Entwurf.
Zweitens. Rechtlich bedenklich erscheint mir die beabsichtigte Regelung, dass der Petitionsausschuss nach
Ihrem Vorschlag zukünftig dem Plenum eine Petition zur
Entscheidung vorlegen kann, dazu aber nicht verpflichtet
sein soll. Das wäre eine grundlegende Abkehr vom geltenden Petitionsrecht, wonach der Ausschuss dem Plenum
lediglich Beschlussempfehlungen zur Entscheidung vorlegt. Würden wir den vorgeschlagenen Weg gehen, wäre
es eine Entwertung des Petitionsrechtes, wenn der Ausschuss und nicht grundsätzlich der Deutsche Bundestag
entscheidet.
Drittens. Sie haben die Einführung eines Minderheitenvotums vorgesehen, das künftig von einer Fraktion, einer Abgeordnetengruppe oder von 5 vom Hundert
der Mitglieder des Bundestages, die mit einer Sachentscheidung des Ausschusses nicht einverstanden sind,
abgegeben werden kann. Das würde eine unnötige Belastung der Ausschussarbeit bedeuten und im Ergebnis nicht
den Interessen der Petentinnen und Petenten dienen. Die
Minderheitenrechte haben nur etwas mit der Ausschussarbeit zu tun.
Die Ausschussarbeit darf - so verstehe ich die Verfassung - im Ergebnis kein Ersatzinstrument für die politische Auseinandersetzung in diesem Plenum sein. Im Entwurf des Petitionsgesetzes finden sich einige versteckte
Vorschriften, die in diese Richtung gehen, zum Beispiel in
§ 12 Abs. 6, in dem zukünftig eine Art Selbstbefassungsrecht des Ausschusses konstituiert werden soll. Ich kann
mir lebhaft vorstellen, welche politischen Debatten, die
hier im Plenum keine Mehrheiten gefunden haben, dann
Gegenstand der Beratungen im Petitionsausschuss sein
werden, und zwar nicht im Interesse der Petenten, sondern
im Interesse bestimmter politischer Auseinandersetzungen.
Das Gleiche gilt, wenn Sie sagen, der Ausschuss solle
zukünftig grundsätzlich öffentlich tagen. Wie ich das in
den letzten zweieinhalb Jahren erlebt habe, sind die meisten Petitionen eigentlich nicht für die Öffentlichkeit geeignet, weil es sehr oft um ganz persönliche, individuelle
Dinge geht, die unter Datenschutzgesichtspunkten nicht
öffentlich behandelt werden können.
Es gibt noch weitere Regelungen, auf die ich aber nicht
mehr eingehen möchte.
Einen Punkt möchte ich noch erwähnen. Für besonders
problematisch halte ich die intendierten Neuerungen zur
Beweiserhebung, wie Sie sie vorsehen, indem die Regelungen der Strafprozessordnung zukünftig entsprechend
anwendbar sein sollen. Dazu sage ich Ihnen als langjähriger Richter, der ich heute für diese Debatte aus der Sitzung des Untersuchungsausschusses komme, dem ich nun
seit über einem Jahr angehöre: Wenn wir dieses Instrumentarium im parlamentarischen Raum anwenden wollen, dann - das erleben wir seit über einem Jahr im Untersuchungsausschuss - wird es im Grunde zu einem
Kampfinstrument. Das ist nicht praktikabel. Von daher
wehren wir uns gegen Zugriffsmöglichkeiten des Ausschusses, wie sie ein Gericht hat, zum Beispiel insofern,
als Zeugen kommen müssen. Der Ausschuss ist kein Gericht. Das darf keinesfalls ins Gesetz hineingeschrieben
werden. Es handelt sich nach der Verfassung um einen Petitionsausschuss, an den sich Bürgerinnen und Bürger,
auch gemeinschaftlich mit Sammelpetitionen, wenden
können, und nicht um einen Ausschuss mit hoheitlichen
Befugnissen. Von daher können wir diesen Bestimmungen nicht zustimmen.
Sie haben aber dankenswerterweise schon darauf hingewiesen, dass in anderen Fraktionen, auch in meiner,
ebenfalls darüber nachgedacht wird, wie wir die Bürgerrechte und die Rechte des Petitionsausschusses stärken
können. Ich kann mir sicherlich einige Regelungen vorstellen, die wir zur Verbesserung des Petitionsrechtes
gerne mit Ihnen gemeinsam diskutieren wollen. So könnte
man zur Stärkung der Rechte des Petitionsausschusses das
Recht des Ausschusses postulieren, im begründeten Ausnahmefall den Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme - Sie
haben das angesprochen - aufzuschieben. Der Ausschuss
müsste dann mit qualifizierter Mehrheit Entsprechendes
beschließen. Ebenfalls könnte man das Recht postulieren,
die Petition zur Befassung und Entscheidung mit Voten an
andere Ausschüsse des Deutschen Bundestages weiterzureichen. Darüber hinaus könnte man die Akteneinsichtsund Beiziehungsrechte erweitern.
Bei dem Problembereich der Massenpetitionen - Sie
hatten es, glaube ich, Volksgesetzgebung genannt könnte ich mir durchaus vorstellen, bei Petitionen in bestimmten Größenordnungen - wenn sich etwa 50 000
Bürgerinnen und Bürger oder mehr an den Deutschen
Bundestag wenden - den bevollmächtigten Vertreterinnen
und Vertretern dieser Petenten vor dem Ausschuss die
Möglichkeit zu geben, angehört zu werden, diese Anhörungen grundsätzlich öffentlich durchzuführen und die
Beratungen zu diesem Themenbereich, wenn das datenschutzrechtlich geht, grundsätzlich weiter öffentlich erfolgen zu lassen. Das sind sicherlich Regelungen, die hinsichtlich einer Weiterentwicklung des Petitionsrechtes
sinnvoll sein könnten.
Die in diese Richtung gehende Erweiterung und Stärkung des Petitionsrechtes steht im Zusammenhang mit
unseren Vorstellungen, mehr Beteiligungsrechte der
Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene zu erreichen.
Wir wollen das in dieser Legislaturperiode im Deutschen
Bundestag mit Ihnen gemeinsam - nur so geht das - diskutieren und werden hoffentlich auch zu einem Ergebnis
kommen. Wie Sie wissen, setzen wir uns dafür ein, die
Beteiligungsrechte der Bevölkerung hinsichtlich wichtiger politischer Sachentscheidungen auch auf Bundesebene durch eine Verfassungsänderung zu stärken. Die
Vorschläge hierzu schließen die genannten Verbesserungen und Ergänzungen des Petitionsrechtes ebenso ein wie
die Einführung neuer Instrumente, zum Beispiel Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheid. Aber für eine
Verfassungsänderung bedarf es in diesem Hause einer
Zweidrittelmehrheit. Vielleicht können die Debatte heute,
die wir mit großer Sachlichkeit führen sollten, und auch
die vor uns liegenden Beratungen in den Fachausschüssen
sozusagen der Anfang des Weges sein, auf dem wir uns in
diesem Haus gemeinsam - es wäre schön, wenn es so
wäre - darauf verständigen könnten, genau diesem Begehren nach mehr unmittelbarer Bürgerbeteiligung nachJoachim Stünker
zukommen, danach also, mehr plebiszitäre Elemente in
unsere Verfassung einzufügen bzw. zu implementieren.
Schönen Dank.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hubert Deittert.
Frau Präsidentin!
Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages beruht im
Augenblick auf unterschiedlichen Grundlagen, und zwar
zum einen auf Art. 17 des Grundgesetzes und auf einem
so genannten Befugnisgesetz nach Art. 45 c des Grundgesetzes und zum anderen auf den „Grundsätzen über die
Behandlung von Bitten und Beschwerden“ gemäß § 110
der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Damit
haben wir ein durchaus flexibles Instrumentarium. Die
Mitglieder des Petitionsausschusses haben in den vergangenen Jahren durch ihre Arbeit bewiesen, dass dieses
Handlungsfeld ausreichend und zweckmäßig ist, wenn es
entsprechend ausgefüllt wird.
Der Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses für
das Jahr 2000, dessen Übergabe an den Präsidenten des
Deutschen Bundestages vor drei Tagen erfolgt ist, zeigt
erneut, wie sich diese Arbeit vollzogen hat. Dieser Bericht
zeigt im Übrigen auch, dass sich der Petitionsausschuss
im Laufe der Jahre mehr und mehr von einer Beschwerdestelle hin zu einer Stelle für Anregungen an den Gesetzgeber entwickelt hat. Ich denke, das ist gut so. Das
zeigt, dass die Bürger konstruktiv mitdenken.
Der Petitionsausschuss ist ein unersetzliches Bindeglied zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in diesem
Lande, dem Parlament und der Regierung. Wir alle müssen großen Wert darauf legen, diese Verbindung zu pflegen. In den mehr als fünf Jahrzehnten hat die Mitglieder
dieses Ausschusses eine Vielzahl von Schicksalen in Form
einzelner Petitionen bewegt. Die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Ausschussdienstes haben Berge von Akten
bewegen müssen. Für mich ist dies ein Anlass, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes an
dieser Stelle einmal herzlich für ihre Zuarbeit zu danken.
({0})
Nach unserem Grundgesetz hat jeder Bürger das Recht,
sich mit Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag zu wenden. Ich habe immer wieder betont, dass die
Arbeit im Petitionsausschuss für mich ein ganz wichtiger
Bestandteil meiner parlamentarischen Arbeit ist. Denn
hier ist im Hinblick auf Gesetzesvorhaben und Gesetzesbeschlüsse die schnellste Rückkoppelung gegeben. Als
langjähriger Kommunalpolitiker weiß ich, dass dort sehr
schnell eine Reaktion erfolgt - nach drei Tagen liegt der
Vorgang wieder auf dem Schreibtisch -, wenn es um unbequeme Beschlüsse geht, die den Bürger möglicherweise belasten. In der Bundespolitik werden diese persönlichen Angelegenheiten in der Regel ein bisschen
weniger beachtet. Der Petitionsausschuss ist im Grunde
die Stelle, an der eine schnelle Rückkoppelung erfolgt. Ich
denke, das sollten wir pflegen.
Wir haben hier auch die Gelegenheit, das Vertrauen der
Bürger in die Politik zurückzugewinnen bzw. entsprechend zu stärken.
Die beiden Gesetzentwürfe, die von der PDS-Fraktion
heute vorgelegt werden, zielen darauf ab, das Petitionsrecht und damit auch den Petitionsausschuss insgesamt
auf neue Füße zu stellen und die unterschiedlichen Regelungen zusammenzufassen. Aufgegriffen werden dabei
unterschiedliche Aktivitäten aus der 11.,12. und 13. Legislaturperiode, zum Beispiel die der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und auch der PDS in Bezug auf einen
Bürgerbeauftragten.
Sicherlich gibt es heute in dem einen oder anderen Bereich einen gewissen Regelungsbedarf. Darüber können
wir in den Ausschussberatungen gern sprechen. Die Perspektive mag unterschiedlich sein, je nachdem, ob man
zur Regierungsmehrheit oder zur Opposition, also der
parlamentarischen Minderheit, gehört, der ich im Augenblick angehöre. Aber das wird sich Gott sei Dank in absehbarer Zeit wieder ändern. Da bin ich ganz zuversichtlich.
({1})
Wir werden die beiden Gesetzentwürfe in den Ausschussberatungen kritisch unter die Lupe nehmen. Schon
heute möchte ich auf einige Punkte hinweisen, auf die es
uns besonders ankommt: darauf, dass sich praktische Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger erreichen
lassen, ohne die klare Trennung der Verantwortlichkeiten
sowohl zwischen Regierung und Parlament als auch zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung zu verwischen.
Einige Vorschläge, die im Entwurf des Petitionsgesetzes aufgegriffen werden, geben zu großen Bedenken Anlass. In einigen Punkten decken sich meine Auffassungen
mit denen des Kollegen Stünker. Dies betrifft die Regelungen zur Aussetzung des Vollzugs - hier habe ich
große Bedenken; darüber muss man genau nachdenken -,
das Verfahren bei Massenpetitionen und die Beweiserhebung nach Art eines Untersuchungsausschusses
gemäß § 18 des vorliegenden Gesetzentwurfs. Ich fürchte,
hier macht sich das Parlament immer mehr selbst zum
Richter. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen bei
allem Eifer den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht aus
den Augen verlieren.
({2})
Ich bezweifle im Übrigen sehr, dass sich die von der
PDS angestrebte generelle Öffentlichkeit derAusschusssitzungen positiv auf die Arbeit auswirkt. Es gibt durchaus Beispiele dafür, wo das Gegenteil der Fall ist. Ich
denke hierbei an die Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen in der Kommunalpolitik, aber auch an die Erfahrungen aus dem Bayerischen Landtag.
({3})
Wir haben es bisher auch bei brisanten Petitionen immer
geschafft, über Parteigrenzen hinweg nach der besten Lösung zu suchen, und haben diese in vielen Fällen auch gefunden. Ich fürchte, dies gerät ein Stück in Gefahr, wenn
wir eine generelle Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen
herstellen. Ich habe hier ganz große Bedenken.
({4})
Über einige Vorschläge werden wir sicherlich ergebnisoffen diskutieren können. Ich denke da zum Beispiel an
die klare Abgrenzung der Entscheidungsformen des Ausschusses. Auch über die Möglichkeit, künftig elektronisch
signierte Petitionen zuzulassen, ein Minderheitenvotum
einzuführen oder ein Petitionsregister und eine Petitionsdatenbank einzuführen, wird man sicher reden können.
Allerdings werden wir in einigen Punkten sehr genau
abwägen müssen, ob es sich wirklich um eine Verbesserung handelt oder wir uns im Grunde selbst Probleme
schaffen. Ein Beispiel ist die geplante Möglichkeit, Petitionen zur Niederschrift einreichen zu können. Dies ist
auf den ersten Blick schön, würde aber auf den zweiten
Blick zu einer Privilegierung der in der Hauptstadtregion
lebenden Bürgerinnen und Bürger führen. Die Gleichbehandlung wäre infrage gestellt. Für Bürger aus dem
Bayerischen Wald ist es schwieriger, eine Petition beim
Deutschen Bundestag zu Protokoll zu geben, als für Bürger aus der Region um Berlin.
({5})
Ein weiterer Punkt ist die Einführung der elektronischen Dateien sowie deren Öffentlichkeit. Auf den ersten
Blick scheint das populäre Argument der Transparenz
ausschlaggebend zu sein. Aber bitte denken Sie daran,
dass es in diesem Hause immer starke Kräfte gegeben hat,
die allergisch reagieren, wenn es darum geht, Datenbestände anzulegen und die der Öffentlichkeit möglicherweise auch nur teilweise zugänglich zu machen.
({6})
All das müssen wir abwägen.
Auch die vorgeschlagene Teilung der Beschlüsse in
solche des Ausschusses und solche des Plenums des Deutschen Bundestages halte ich für außerordentlich bedenklich. Aber vielleicht soll damit die vorherzusehende Steigerung der Zahl der Petitionen aufgefangen werden, die
der PDS-Entwurf zur Folge hätte und die zu erheblichen
Mehrkosten führen wird. Denn ein strenger formalisiertes
Verfahren, weitgehende Öffentlichkeit der Sitzungen und
gar erst die Häufung der so genannten Massenpetitionen
lassen sich ohne deutlich erhöhte Sachmittel und vor allem ohne mehr Personal gar nicht denken. Wäre das aber
wirklich das richtige Zeichen in der Zeit des Sparens?
Liebe Frau Kollegin Lüth, an die von Ihnen angesprochenen Roben habe ich dabei allerdings noch nicht gedacht.
Meine Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in den
beteiligten Ausschüssen ernsthaft darüber reden, ob und
wo es Änderungsbedarf im Petitionsrecht gibt. Dabei
scheint mir eines klar zu sein: Es gäbe bei deutlich weniger Regulierungswut einen viel einfacheren Weg zum
möglichen Ziel: Eine Änderung der Grundsätze des Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden und vielleicht noch des Befugnisgesetzes
könnte mit weit weniger Aufwand und zudem schneller
denselben Nutzen bringen. Darüber müssen wir miteinander reden.
Von dem vermeintlichen Charme, ein eigenes Petitionsgesetz zu schaffen, sollten sich weder die Mitglieder
des Petitionsausschusses noch die Bürgerinnen und Bürger blenden lassen. Viel wichtiger ist, dass der Petitionsausschuss seine in der Sache wichtige Aufgabe weiter
konsequent fortsetzen kann.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für
die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürger und Bürgerinnen machen ja in erfreulich
großer Zahl von dem in Art. 17 des Grundgesetzes festgelegten Grundrecht Gebrauch, sich mit Bitten und Beschwerden an die Volksvertretung zu wenden. Die Zahl
der Eingaben an den Deutschen Bundestag ist von 1970
bis heute von 10 000 auf über 20 000 Eingaben jährlich
gestiegen. Die begrüßenswerte Zunahme von aktiver Bürgerbeteiligung am politischen Willensbildungsprozess
über Petitionen sollte daher durch das Parlament aufgegriffen und unterstützt werden.
({0})
Der vorliegende Entwurf der PDS tut das; er ist zweifellos gut gemeint, aber - es tut mir Leid - keineswegs gut
gemacht. Deshalb werden wir ihm auch nicht zustimmen
können. Er weist einige grundsätzliche Mängel auf, die
weder dem Petitionsrecht noch den Bürgerinnen und Bürgern gut tun.
Das bedauere ich; denn die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen streitet bekannterweise seit Jahren für eine
Verbesserung des Petitionsrechts. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner bemühen wir uns auch jetzt um
einen Ausbau dieses wichtigen Bürgerinnen- und
Bürgerrechts. Unser Fraktionsvorsitzender hat ebenso
wie Bundestagspräsident Thierse und Justizministerin
Däubler-Gmelin mehrfach erklärt, dass im Rahmen eines
grundlegenden Ausbaus der Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger - die Stichworte heißen Volksentscheid und Volksinitiative - der Ausbau des Petitionsrechtes einen selbstverständlichen und herausragenden
Platz einnimmt.
({1})
Uns geht es darum, sowohl die Rechte und Befugnisse des
Petitionsausschusses auszubauen als auch Möglichkeiten
zu schaffen, die den Bürgerinnen und Bürgern einen direkten Zugang zur Volksvertretung für eigene innovative
Vorschläge und Initiativen ermöglichen.
Der erste Punkt ist, dass wir das Petitionsrecht über die
Lösung individueller Anliegen hinaus zu einem echten
politischen Mitwirkungsrecht der Bürgerinnen und
Bürger ausgestalten wollen. Ein Mittel dafür ist die verbesserte Rechtsstellung bei Massenpetitionen. Wenn
mindestens 50 000 Bürgerinnen und Bürger eine Petition
einreichen, sollten deren Vertreterinnen und Vertreter auf
Wunsch vom Petitionsausschuss gehört werden. Bei Bedarf können diese Anhörungen zusammen mit dem zuständigen Fachausschuss durchgeführt werden. Sie sollten grundsätzlich öffentlich erfolgen, ebenso wie die
Beratung und Entscheidung des Petitionsausschusses. Die
abschließende Beratung und Beschlussfassung sollte
grundsätzlich in öffentlicher Beratung und durch das Parlament als Ganzes erfolgen.
Ein zweiter Punkt ist im Zusammenhang mit den Vorschlägen zur Verbesserung des Petitionsrechtes für uns
sehr wichtig: Weil das grundrechtsgeschützte Petitionsrecht ein herausragendes Instrument des Parlaments zur
Kontrolle von Exekutive und Verwaltung ist, möchten wir
auch diesen Bereich stärken, zum Beispiel durch das
Recht, den Vollzug von Verwaltungsmaßnahmen bis
zur Entscheidung über eine Petition aufzuschieben, durch
erweiterte Akteneinsichts- und Beiziehungsrechte sowie durch ein Selbstaufgriffsrecht des Petitionsausschusses zur Behandlung eines offenkundigen Missstandes oder Problems aus eigener Initiative. Um das parlamentarische Kontrollrecht zu stärken, ist es sinnvoll,
wenn der Petitionsausschuss auch dann tätig werden
kann, wenn sich hinreichende Erkenntnisse ergeben, dass
Stellen, die der parlamentarischen Kontrolle unterliegen,
ihre Aufgaben eben nicht sachgerecht erledigen oder gegen geltende Rechtsvorschriften verstoßen.
Von den Informationsrechten des Petitionsausschusses
soll auch auf Antrag einer Ausschussminderheit Gebrauch
gemacht werden. Ebenso sollte zur Nachvollziehbarkeit
der Ausschussentscheidung dem Petenten in der Beschlussbegründung sowohl die Auffassung des Ausschusses als auch der Ausschussminderheit dargelegt werden.
Dritter Punkt: Durch die zunehmende Privatisierung
öffentlicher Bereiche fallen diese auch aus dem Petitionsrecht heraus. Das betrifft weitreichende Bereiche der
Daseinsvorsorge, zum Beispiel Post, Telekommunikation
und Bahn. Hier muss das Petitionsrecht neu definiert und
auf eine tragfähige rechtliche Grundlage gestellt werden.
Mit dem Wunsch nach Stärkung des Petitionsrechts
rennen Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der
PDS, bei uns offene Türen ein. Allerdings ist Ihr Antrag
kein guter Wegweiser für die gute Sache.
Ich möchte hier drei unserer wichtigsten Kritikpunkte
nennen:
Erstens. Sie wollen rechtliche Regelungen in einem
Gesetz zusammenfassen, die nicht in ein Gesetz gehören
und die dort nicht zusammengeführt werden können:
Grundgesetz mit Geschäftsordnung, Verfahrensgrundsätze
mit Befugnisgesetzen und Strafprozessordnung mit Petitionsrecht. Das dürfte wohl nicht nur Juristen überfordern,
sondern auch die Bürgerinnen und Bürger zusätzlich verwirren. Der gut gemeinte Ansatz, das Verfahren zu vereinfachen, wird so nicht erreicht, sondern das Gegenteil
wäre der Fall.
Zweitens. Sie wollen den Petitionsausschuss mit den
Rechten eines Untersuchungsausschusses ausstatten; das
ist in dieser Debatte schon mehrfach angesprochen worden. Diese Regelung im Gesetzentwurf der PDS-Fraktion
betrifft die Beweiserhebungsrechte des Petitionsausschusses und ist an der Strafprozessordnung und den Befugnissen eines Untersuchungsausschusses ausgerichtet.
Sie, Frau Kollegin Lüth, haben das zu Beginn bereits entsprechend ausgeführt. Kann der Petitionsausschuss bisher
schon Zeugen und Sachverständige hören, so können
nach Ihrem Entwurf Zeugen mittels Ordnungsstrafen zum
Erscheinen und zur Aussage oder Eidesleistung gezwungen werden. Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte
sollen entsprechend der Strafprozessordnung bestehen.
Darüber hinaus sollen die Sitzungen, die der Beweiserhebung dienen, öffentlich stattfinden.
Diese vorgeschlagenen Regelungen sind völlig überzogen. Der Petitionsausschuss ist schließlich kein Tribunal. Hier wird Bürgerinnen und Bürgern geholfen, hier
soll klug und in aller Sachlichkeit verhandelt und entschieden werden. Aus dem Petitionsausschuss ein Kampfinstrument mit Polizeigewalt und Zwang zu machen ist
genau das, was wir nicht wollen. Dazu gibt es auch keine
Notwendigkeit.
In der bisherigen Praxis wird schon von den bestehenden und durchaus weitgehenden Untersuchungsbefugnissen nur selten und behutsam Gebrauch gemacht. Die
Praxis bietet keinen Beleg für die Notwendigkeit einer
Verschärfung der Zwangsmittel. Die Einführung der
Strafprozessordnung in das Petitionsrecht ist nicht sachgerecht. Wie die Praxis der Untersuchungsausschüsse
zeigt, wird die Anwendung solcher Vorschriften häufig
auch noch von langwierigen Rechtsstreitigkeiten begleitet, insbesondere dann, wenn Private von den Ermittlungen betroffen sind. Wir können doch nicht in Kauf nehmen, dass ein Petitionsverfahren durch Klageverfahren
oder Ähnliches lahm gelegt werden kann.
Insbesondere im Zusammenhang mit einem Selbstaufgriffsrecht und mit großzügigen Minderheitenrechten
sind diese ausufernden Untersuchungsbefugnisse, die Sie
vorgeschlagen haben, abzulehnen. Bei konsequenter und
selbstbewusster Anwendung sind die bestehenden Befugnisse des Petitionsausschusses in diesen Fragen absolut
ausreichend. Wer einen Untersuchungsausschuss zu einem Thema will, der soll einen Untersuchungsausschuss
beantragen.
({2})
Der Petitionsausschuss sollte alles vermeiden, was ihn
auch nur in die Nähe eines parteipolitischen Kampfinstruments rücken könnte.
Drittens. Der Entwurf der PDS-Fraktion sieht vor, dass
der Petitionsausschuss in der Regel selbst über die Petitionen entscheidet. Das heißt, dass die Petitionen nicht
mehr dem Plenum vorgelegt werden und nicht mehr der
Zustimmung des Bundestages selbst bedürfen. Diese
Regelung soll - so ist die Argumentation - das Gewicht
des Petitionsausschusses stärken und das Plenum entlasten. Letzteres würde sicherlich erreicht, aber das Ziel, den
Ausschuss zu stärken, wird konterkariert. Die Beschlüsse
des Petitionsausschusses erhalten doch gerade dadurch
Gewicht, dass sie von der Mehrheit der Abgeordneten bestätigt werden und somit Beschlüsse des Deutschen
Bundestages sind.
({3})
Durch Ihren Vorschlag würde der Petitionsausschuss eher
abgewertet. Wir können vielleicht durch erweiterte öffentliche Ausschusssitzungen im Petitionsausschuss die
abschließende Aussprache ersetzen - dies würde das Plenum entlasten -, aber bestimmt nicht den Beschluss durch
das Plenum. Diesem Vorschlag können wir keinesfalls zustimmen.
Dies und anderes mehr macht den Entwurf insgesamt
sperrig, unhandlich und nicht solide.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Der Petitionsausschuss hat sich bewährt und hat dennoch bisher
nur einen kleinen Bruchteil seines Potenzials ausgeschöpft. Im Sinne einer transparenten und bürgerfreundlichen Arbeit kann und muss er reformiert werden.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin jetzt der dritte Ostwestfale, der zum Petitionsrecht spricht. Wahrscheinlich
nehmen wir Ostwestfalen das Petitionsrecht besonders
ernst.
({0})
Das Petitionsrecht ist für die Liberalen von ganz besonderer Bedeutung. Die F.D.P. nimmt das Petitionsrecht
ernst; denn es markiert in einem Rechtsstaat den Anspruch aller, die Rechtmäßigkeit von Hoheitsakten durch
die von ihm mitgewählten Volksvertreter überprüfen zu
lassen. Der hohe Stellenwert, der in unserem demokratisch verfassten Rechtsstaat dem Petitionsrecht eingeräumt wird, kommt dadurch zum Ausdruck, dass sich das
Petitionsrecht direkt aus dem Grundgesetz ableitet.
Art. 17 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 45 c des
Grundgesetzes sind hier schon genannt worden.
Mit der Aufnahme des Petitionsrechts in das Grundgesetz hat der Gesetzgeber lediglich das seit Jahrhunderten
bestehende, in der Regel gewohnheitsrechtlich verankerte
Bürgerrecht geschützt, Eingaben gegenüber der jeweils
herrschenden Gewalt zu machen.
Die PDS-Fraktion legt heute einen Entwurf für ein eigenes Petitionsgesetz vor und will zugleich Art. 45 c des
Grundgesetzes entsprechend ändern. Dies wird von der
F.D.P.-Bundestagsfraktion grundsätzlich begrüßt.
({1})
Nach mehreren parlamentarischen Anläufen zur Strukturierung und Ausgestaltung des Petitionsrechts ist der vorliegende Gesetzentwurf aus Sicht der F.D.P. ein erster
Schritt.
Herr Kollege Stünker, ich bedaure, dass Sie für die
SPD schon jetzt Vorbehalte und Bedenken angemeldet
haben. Es war erstaunlich, von Ihnen zu hören, wie Sie
mit den Rechten von Minderheiten umgehen bzw. wie Sie
über diese Rechte denken. Herr Kollege Deittert, ich bedaure, dass Sie für die CDU ähnliche Bedenken vorgetragen haben.
Erstaunlich ist aber auch, was die Kollegin Buntenbach
vorgetragen hat.
({2})
Die Grünen lehnen den Gesetzentwurf schon heute, in der
ersten Lesung, ab, ohne dass er überhaupt parlamentarisch beraten wurde. Frau Kollegin Buntenbach, die Grünen haben hier wirklich ein merkwürdiges Parlamentsverständnis.
({3})
Ich habe den Eindruck, Sie lehnen diesen Gesetzentwurf
nur ab, weil er von der PDS kommt. Das kann nicht richtig sein.
Die Vielzahl der Eingaben der Bürger an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages in den letzten
Jahren macht aus Sicht der F.D.P. die Verbesserung und
Straffung des Petitionsverfahrens erforderlich. Keinem
Petenten ist geholfen, wenn der Petitionsausschuss in der
Flut der Eingaben regelrecht ertrinkt, sich die Verfahren
zum Teil über Jahre hinziehen und sich der Petitionsausschuss deshalb den einzelnen Beschwerdeführern kaum
mehr ausreichend widmen kann.
Dem Ausgeliefertsein und dem Gefühl der Hilflosigkeit, das sogar verantwortungsbewusste, ja staatsbejahende Bürger hin und wieder befällt, muss durch ein effizientes und rechtsstaatlich einwandfreies Petitionsrecht
entgegengewirkt werden.
({4})
In den Zeiten wie den unseren, in denen zu Recht von
mehr demokratischen Teilhaberechten gesprochen wird
- gerade die F.D.P. hat hier eine Vielzahl von Vorschlägen
gemacht -, kommt der Gesetzentwurf zur richtigen Zeit,
denn die Diskussion über Volksbegehren, Volksentscheid
und andere Mittel, mit denen mehr Bürgerbeteiligung an
politischen Entscheidungen erreicht werden soll, kann
ohne die Frage einer Neuausrichtung des Petitionsrechts
nicht geführt werden.
({5})
Inwieweit der vorliegende Gesetzentwurf seinem
selbst gesetzten Anspruch, für mehr Rechtsklarheit, mehr
Transparenz des Petitionsverfahrens und die Stärkung der
Petentenrechte zu sorgen, gerecht wird, und ob die vorgeschlagenen Änderungen im Einklang mit gültigen
Rechtsvorschriften stehen, muss in den damit befassten
Ausschüssen ausführlich geprüft werden. Dabei muss die
praxisorientierte Umsetzungsmöglichkeit neuer oder geänderter Verfahrensvorschriften, zum Beispiel im Hinblick
auf Massenpetitionen oder die Möglichkeit zur Durchführung von Anhörungen, genauestens erörtert werden.
Auch der Vorschlag zur Einführung eines Petitionsregisters
und einer Petitionsdatenbank muss vor dem Hintergrund
datenschutzrechtlicher Bedenken geprüft werden.
Frau Kollegin Lüth, wir werden auch zu prüfen haben,
welche Petitionen vom gesamten Bundestag behandelt
werden müssen und bei welchen es genügt, den Petitionsausschuss damit zu befassen. Ich sage für die F.D.P.-Fraktion: Wir müssen der Gefahr entgegenwirken, dass sich
der gesamte Bundestag in der Frage des Petitionsrechts
aus der Verantwortung stiehlt.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird sich im weiteren
parlamentarischen Verfahren konstruktiv an den Beratungen dieses Gesetzentwurfs beteiligen. Dabei werden wir
besonders darauf achten, dass dieser auch unter
rechtsstaatlichen Gesichtspunkten genauestens unter die
Lupe genommen wird. Der ehemalige Direktor beim
Deutschen Bundestag, Rudolf Kabel, bemerkte vor Jahren in seinem Geleitwort zu Rupert Schicks grundlegendem Werk über Petitionen treffend:
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass in unserer
extrem repräsentativ verfassten Demokratie eine
grundrechtlich und verfahrensmäßig gesicherte
Möglichkeit der unmittelbaren Artikulation von Bürgerwillen geboten ist.
Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf in der parlamentarischen Arbeit, das heißt in der weiteren Arbeit der Ausschüsse, vorurteilsfrei auf diese Möglichkeiten hin untersuchen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Bernd Reuter, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! In der jetzigen Debatte ist
von vielen Debattenrednern viel Richtiges ausgeführt
worden. Herr Kollege Nolting, Ihre Kritik an der Kollegin
Buntenbach ist etwas daneben.
({0})
Sie muss doch das Recht haben, zu sagen, dass sie aus den
Gründen, die sie genannt hat, dem Gesetzentwurf in der
vorliegenden Form nicht zustimmt.
({1})
- Nein, das hat sie nicht gesagt.
({2})
Ich habe von der Kollegin Buntenbach viel Nachvollziehbares gehört, was mir gefällt. Bei einigen Vorschlägen
sind noch Beratungen in der Koalition erforderlich, um
dort zusammenzukommen. Das ist vollkommen klar.
Herr Kollege Nolting, es wird Sie vielleicht verwundern, aber ich muss Ihnen sagen, dass ich bezüglich einiger Ausführungen heute dem Kollegen Deittert näher bin.
Wenn Sie die Minderheiten in den Blick nehmen, brauchen Sie doch nicht mehr mitzudiskutieren; Sie kommen
auf 18 Prozent und damit ist Ihr Problem gelöst.
({3})
- Da bin ich einmal gespannt.
Ich bin der Meinung, dass das Petitionsrecht jedem
Bürger und jeder Bürgerin das Recht gibt, sich an die
Volksvertretung zu wenden, und zwar mit dem Ziel, das
vorgetragene Problem der Petenten zu lösen.
Frau Lüth, ich muss Ihnen sagen: Bei dem Entwurf,
den Sie vorgelegt haben, habe ich den Eindruck, Sie wollten eine gesetzliche Grundlage schaffen, mit der Sie deutlich machen wollen, wie die Entscheidungsfindung im
Deutschen Bundestag abläuft und wie die Mehrheit und
die Minderheit jeweils zu einem Problem stehen. Aber das
halte ich eigentlich vom Ansatz her für falsch.
Vielmehr bin ich heute noch den Müttern und Vätern
des Grundgesetzes dankbar, die mit einem einfachen Satz,
der heute schon hier zitiert wurde, festgelegt haben, dass
sich jedermann an den Deutschen Bundestag wenden
kann, wenn er Probleme hat, die in die Zuständigkeit des
Bundes fallen. Dieser einfache Satz hat dazu geführt, dass
wir 20 000 bis 25 000 Petitionen bekommen. Ich bin nicht
der Meinung, dass wir das Rad neu erfinden müssen, wie
es hier anklang. Vielmehr müssen wir auf dem aufbauen,
was wir schon mit diesem Petitionsrecht segensreich für
unsere Bürgerinnen und Bürger zu leisten imstande waren.
Aber es ist klar, dass kein Gesetz so gut sein kann, dass
es für alle Zeiten Gültigkeit hat. Auch Gesetze müssen
entsprechend den gesellschaftlichen Veränderungen weiterentwickelt werden.
({4})
Das gilt auch für das Petitionsrecht und die demokratische
Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an dem Willensbildungsprozess in unserer Gesellschaft.
Ich möchte auf den Beschluss des SPD-Parteivorstandes vom 19. März dieses Jahres verweisen. Darin ist verankert, dass das Petitionsrecht weiterentwickelt werden
soll. Aber ich gebe zu, liebe Frau Lüth, dass Sie den Nagel vollkommen auf den Kopf getroffen haben, als Sie
sagten, da werde zum Beispiel gefordert, dass man eine
Petition auch dem Bundestag zur Beratung überstellen
können müsse. Das können wir doch schon jetzt.
Ich würde mir wünschen, dass man bei der Weiterentwicklung dieses Gesetzes etwas mehr auf diejenigen hört,
die Woche für Woche im Petitionsausschuss sitzen und
sich über diese Probleme Gedanken machen.
({5})
Ich kann Sie nur ermuntern, in einen fruchtbaren Dialog
einzutreten um die Angelegenheit dann gemeinsam voranzubringen.
Ich möchte aber darum bitten, behutsam vorzugehen.
Frau Lüth, Sie haben vorhin ausgeführt, die Petenten
müssten erst alle Rechtsvorschriften zusammenklauben,
um in der Lage zu sein, eine Petition einzureichen. Wir
sollten viel mehr mit unseren Informationsmaterialien
werben. Diese Broschüre ist doch eine wunderbare Sache:
„Stichwort Petitionen“. Darin steht sogar, dass Sie die
Vorsitzende sind. Da sind alle Mitglieder des Petitionsausschusses aufgeführt. Die Bürgerinnen und Bürger, die
gerne informiert sein wollen, können das anfordern und
sind dann in der Lage, eine vernünftige Petition einzureichen.
Wenn die Änderung eines Gesetzes einer Zweidrittelmehrheit dieses Hauses bedarf, dann müssen wir uns
natürlich um Konsens bemühen. Lieber Günther Nolting,
wir werden darüber beraten, wie wir das besser machen
können. Denn auch mir fällt bei Art. 45 c etwas auf. Da
steht in Abs. 1:
Der Bundestag bestellt einen Petitionsausschuss,
dem die Behandlung der nach Artikel 17 an den Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden obliegt.
In Abs. 2 heißt es:
Die Befugnisse des Ausschusses zur Überprüfung
von Beschwerden regelt ein Bundesgesetz.
Plötzlich sind die Bitten weg. Das könnte 1975 ein gesetzestechnischer Fehler gewesen sein. Ich bin schon der
Meinung, dass wir das in Ordnung bringen sollten, weil es
keinen Sinn macht, wenn in Abs. 2 die Bitten nicht dabei
sind. Deshalb müssten wir uns meiner Ansicht nach darauf verständigen, nach einer vernünftigen Beratung eine
Änderung des Grundgesetzes vorzunehmen.
Ich will noch einige Dinge ansprechen, die mir bei diesem Entwurf Sorgen bereiten.
Es klang auch bei Frau Buntenbach an, dass man Massenpetitionen eine besondere Behandlung zusichern will.
Ich habe in der langen Zeit, in der ich im Petitionsausschuss sitze, festgestellt, wie bedeutsam dieses Recht für
ganz einfache, allein kämpfende Menschen ist, die sich
Hilfe suchend an das Parlament wenden. Wenn die jetzt
den Eindruck haben, dass eine Petition, wenn sie nur mit
vielen Unterschriften versehen ist, besser behandelt wird,
dann habe ich die Sorge, dass sie das Vertrauen in den Petitionsausschuss verlieren und sich sagen: Dahin braucht
man sich als Einzelner gar nicht zu wenden; man muss eine
Großorganisation anschreiben oder sich dort beteiligen.
({6})
- Auch ich bin ein Verfechter der Rechte der Minderheiten, weil die Demokratie, Herr Kollege Nolting, nur funktioniert, wenn die Mehrheit in der Lage ist, die Rechte der
Minderheiten zu wahren.
Damit komme ich zu einem anderen Punkt. Ich kann
mir eigentlich nicht vorstellen, dass es im Sinne des Erfinders einer funktionierenden Demokratie sein kann,
dass zwei von 29 Abgeordneten des Ausschusses beschließen können, dass dieses und jenes gemacht wird.
Das ist ein zu weit gehendes Minderheitenrecht.
Nun will ich einen weiteren Punkt aufgreifen, und zwar
die Beteiligung der Öffentlichkeit. Frau Lüth, es besteht
doch bereits jetzt die Möglichkeit, die Sitzungen des Petitionsausschusses öffentlich durchzuführen. Wir müssen
von dieser Möglichkeit nur Gebrauch machen. Ich weiß,
dass wir dabei auf bürokratische Hürden stoßen, weil zum
Beispiel keine Stenographen verfügbar sind oder weil
keine passenden Räume vorhanden sind. Aber zumindest
die Situation bei den Räumlichkeiten dürfte besser werden, wenn erst einmal die Gebäude um den Reichstag
herum fertig sind. Dann sollten wir von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machen.
Das Petitionsrecht berücksichtigt, dass mit vielen Problemen, die die Menschen an uns herantragen, so behutsam
umgegangen werden muss, dass diese gar nicht öffentlich
abgehandelt werden können. Ich denke dabei besonders an
einen Fall, bei dem wir uns darauf verständigt haben, ihn
nicht öffentlich zu diskutieren; alle Eingeweihten dürften
aber wissen, worum es sich handelt. Diesen Fall hätten wir
öffentlich nie und nimmer lösen können.
Es gibt aber natürlich auch Petitionen, bei denen es vernünftig ist, wenn man öffentliche Diskussionen durchführt. Dadurch könnte eine breitere Öffentlichkeit daran
teilnehmen, interessierte Bürgerinnen und Bürger könnten an der Diskussion mitwirken. Wir sollten wirklich darüber nachdenken, wie wir diesen Punkt besser verwirklichen können. Ich denke aber, dass wir ihn nicht generell
verankern können. Das würde dazu führen, dass wir das
ganze Verfahren so schwerfällig machen würden, dass wir
gar nicht in der Lage wären, die Vielzahl der Petitionen
vernünftig zu bearbeiten.
Sie haben vorgeschlagen, die Bearbeitung der Petitionen nach den Regeln der Strafprozessordnung durchzuführen. Dazu will ich Folgendes sagen: Die Konsequenz
wäre, dass nur derjenige Vorsitzender des Petitionsausschusses werden könnte, der die Befähigung zum Richteramt hat. Wollen wir das? Wir wollen doch eher, dass
auch Menschen mit gesundem Menschenverstand und
nicht nur Juristen darüber befinden, wie die Probleme geregelt werden sollen. Deshalb neige ich zu der Auffassung, dass wir diesem Vorschlag so nicht folgen können.
Zur Transparenz möchte ich sagen: Im Petitionsrecht
gibt es Verfahrensgrundsätze, die schon heute eine öffentliche Diskussionen im Plenum ermöglichen. Auch die
Minderheitenrechte sind gewahrt. Wenn eine Minderheit
im Ausschuss mit einer Entscheidung des Ausschusses
nicht einverstanden ist, dann hat sie nach unseren Verfahrensgrundsätzen schon heute die Möglichkeit, einen Antrag auf gesonderte Ausweisung zu stellen. Im Plenum
wird dann eine Debatte darüber geführt. Damit ist meiner
Meinung nach dem Rechnung getragen, was hier gefordert wird.
Ich bin deshalb der Meinung, dass wir dem Gesetzentwurf der PDS nicht in Bausch und Bogen zustimmen können. Ich bin aber schon der Meinung, dass wir ihn weiterhin vernünftig erörtern und beraten sollen. Wir müssen
nämlich Wege finden, wie wir die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger stärken, wie wir mit Massenpetitionen
vernünftig umgehen, ohne die Einzelpetitionen herabzusetzen, und wie wir Öffentlichkeit herstellen, ohne die
Einzelbeschwerde dem Kräftespiel der öffentlichen Diskussion schutzlos auszusetzen. Ich finde, dass die PDS
mit ihrem Anliegen richtig liegt, die Weiterentwicklung
des Petitionsrechtes anzugehen und hier im Parlament zu
beraten und zu beschließen.
Änderungsbedarf besteht - das ist hier schon einige
Male gesagt worden - auch dahin gehend, dass wir die digitale Signatur einführen müssen, damit auch elektronisch
eingereichte Petitionen vernünftig bei uns behandelt werden können. Ich habe schon angeregt, Art. 45 c Abs. 2 des
Grundgesetzes so zu ändern, dass er Bitten und Beschwerden enthält. Darüber hinaus müssen wir uns darüber Gedanken machen - Frau Buntenbach hat das schon
angesprochen -, wie wir das Recht gestalten können, um
den Menschen zu helfen, die Probleme mit Großorganisationen, etwa mit Post und Bahn, haben. Ich erinnere
mich noch, dass wir, als die Post noch nicht privatisiert
war, bei Petitionen in vielen Fällen helfen konnten. Der
Postminister hat uns damals bei Petitionen, die falsche
Rechnungen betrafen, geholfen. Dadurch haben wir vielen Menschen in unserem Lande helfen können. Durch die
Privatisierung ist dies so nicht mehr möglich, die Probleme sind damit aber nicht verschwunden. Denn ich höre
nach wie vor, dass Menschen Probleme mit diesen Einrichtungen haben. Deshalb bin ich der Meinung, dass dieser Punkt im Gesetz berücksichtigt werden muss.
Wir dürfen uns aber keinen Schnellschuss leisten; wir
dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es existiert zu dem Thema „Mehr Bürgerbeteiligung“ ein Gesprächskreis unter Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden unserer Fraktion, Ludwig Stiegler. Interessierte
aus allen Fraktionen kann ich hierzu nur herzlich einladen, damit wir diese Gespräche in Gang bringen.
Eine Änderung des Petitionsrechtes braucht einen breiten parlamentarischen Konsens. Im Sinne unserer Petentinnen und Petenten sowie aller Menschen unseres Landes
hoffe ich, dass dieses Parlament die Kraft aufbringen
wird, das Petitionsrecht weiterzuentwickeln und gemeinsam zu einem positiven Ergebnis zu kommen, nämlich zu
einem Petitionsrecht, das den veränderten Bedingungen
unserer Gesellschaft angepasst ist, und dass wir uns mit
einem entsprechenden Gesetzesvorhaben öffentlich sehen
lassen können.
({7})
- Gut.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
({8})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die Fraktion der PDS hat einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art. 45 c Abs. 2 des Grundgesetzes eingebracht,
zu dem ich heute ein paar Anmerkungen machen möchte
und der auf den ersten Blick den Anschein erweckt, als ob
hier nur ein gewisses redaktionelles Versehen aus dem
Jahr 1975 korrigiert werden soll. Art. 45 c Abs. 2 soll
künftig lauten: „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“
Aber dieser zunächst unproblematisch erscheinende Satz,
diese von der PDS-Fraktion vorgeschlagene schlichte
Neuformulierung, würde eine gravierende Änderung der
Rechtsstellung des Petitionsausschusses bewirken.
Diese Änderung würde quasi durch die Hintertür den Einstieg in eine neue Form von Untersuchungsausschüssen
und auch eine neue Form der Gesetzesinitiative begründen. Es käme zu einer erheblichen, zu der Systematik des
Grundgesetzes nicht passenden Ausweitung der Kompetenzen des Petitionsausschusses. Ich gehe davon aus, dass
genau dies das eigentliche Ziel des PDS-Gesetzentwurfs
ist.
Um meine Bedenken gegen die Neuformulierung zu
erläutern, möchte ich mich ganz kurz auf Art. 17 des
Grundgesetzes beziehen. Er gewährleistet das Petitionsrecht und schreibt fest, dass jeder das Recht hat, sich mit
Bitten oder Beschwerden an die zuständigen staatlichen
Stellen und an die Volksvertretung, also auch an den Deutschen Bundestag, zu wenden. Dieser Gedanke ist in der
Geschichte der Demokratie nicht neu. Er ist schon in der
Bill of Rights von 1689 formuliert worden. Art. 17 gehört
zum demokratischen Urgestein in unserem Land. Eine
ähnliche Regelung kannte auch schon die Weimarer Verfassung. Art. 45 c ist hingegen erst 1975 in das Grundgesetz aufgenommen worden. Er ist eine Ausführungsnorm,
die bestimmt, auf welche Weise beim Deutschen Bundestag mit Petitionen umzugehen ist. Die Fragen, die die
PDS-Fraktion in ihrem Gesetzentwurf aufwirft, waren
auch schon damals, als Art. 45 c aufgenommen werden
sollte, Gegenstand der Diskussionen.
Wie die PDS-Fraktion in ihren Erläuterungen zu ihrem
Gesetzentwurf richtig ausführt, bestanden schon vor
1975, quasi als Rechtsannex zu Art. 17, Rechte des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages. Bei der Reform 1975 ging es also tatsächlich nicht um die originäre
Festlegung der Befugnisse dieses Ausschusses, sondern
um die Schaffung besonderer, erweiterter Befugnisse für
einen Teil des Aufgabengebietes des Petitionsausschusses. Dieser erhielt 1975 eine verfassungsrechtliche Sonderstellung, weil seine Einsetzung und sein Aufgabenbereich zwingend vorgeschrieben wurden. Hinsichtlich der
Erweiterung der Befugnisse muss genau beachtet werden,
wie differenziert die Regelung ausgefallen ist.
Im Hinblick auf die Behandlung von Bitten blieb es bei
den auch schon vorher verfassungsrechtlich vorgegebenen Befugnissen, also dem Petitionsinformierungs- und
dem Petitionsüberweisungsrecht sowie dem Recht, Anhörungen durchzuführen. Hinsichtlich der Beschwerden
sind die Rechte des Ausschusses sowohl gegenüber der
Exekutive als auch gegenüber den Bürgern erweitert worden. Hier wird die Sonderstellung deutlich. Dies geschah
über die in Abs. 2 eingefügte einfachgesetzliche Regelung. Hier wurden dem Ausschuss direkte Informationsund Sachaufklärungsrechte gegenüber der Verwaltung
und dem Bürger zuerkannt, die dem Gesamtparlament
nicht zustehen und die auch nicht über eine Veränderung
der Geschäftsordnung zu erreichen waren. Durch den
Ausbau des Petitionsausschusses zu einem noch wirksameren Kontrollorgan gegenüber der Verwaltung ist dieser
Ausschuss in bestimmten Aspekten bereits in die Nähe eines Untersuchungsausschusses gerückt.
Seine Stellung ist darüber hinaus noch dadurch gestärkt worden, dass er nicht an einen Untersuchungsauftrag des Parlaments gebunden ist, sondern Gegenstand,
Art und Umfang seiner Untersuchungen auf der Grundlage eingegangener Petitionen selbst bestimmen kann.
Aber diese Erweiterung erfolgte lediglich hinsichtlich der
Beschwerdebehandlung. Das ist also eine ganz klare Differenzierung.
Deswegen ist es wichtig, sich die Abgrenzung zwischen Bitte und Beschwerde genau vor Augen zu führen.
Dabei erkennt man, dass auch die Beschwerden eine gewisse Bitte umfassen müssen; denn Art. 17 hat nicht den
Zweck, Mitteilungen oder Meinungsäußerungen an das
Parlament zu schützen. Die Verfassung differenziert also
zwischen Beschwerden mit einer konkreten Bitte und
schlichten Bitten allgemeiner Art.
Eine Beschwerde liegt vor, wenn eine konkrete staatliche Maßnahme angegriffen wird, das heißt, ein Handeln
oder Unterlassen in einem konkreten Fall gerügt und dann
um Abhilfe gebeten wird. Bei der schlichten Bitte geht es
darum, dass ein bestimmtes staatliches Handeln gewünscht wird. Es fehlt der konkrete Fallbezug oder er
dient nur als Beispiel für einen Missstand, auf den allgemein hingewiesen und den zu beseitigen angeregt wird.
Hier sind wir an einem entscheidenden Punkt, auch an
dem Punkt, was Sie mit Ihrem Antrag begehren. 1975
wurde nämlich sachgerecht und systemkonform festgelegt, dass die Befugnisse des Petitionsausschusses nur in
einer Richtung erweitert werden sollten, nämlich hinsichtlich der Beschwerden, nicht aber hinsichtlich der Bitten. Genau dies steht in Abs. 2 des Art. 45 c.
Um uns zu verdeutlichen, welches der Zweck dieser
1975 getroffenen Unterscheidung war, brauchen wir nur
den Vorschlag der PDS konsequent zu Ende zu denken;
denn sie will die Differenzierung zwischen Beschwerden
und Bitten abschaffen. Eine Erstreckung der erweiterten
Befugnisse auch auf die Bearbeitung von Bitten - genau
dies sieht die Neuformulierung vor - würde die Kompetenzen des Petitionsausschusses stark erweitern und die
Systematik des Grundgesetzes sprengen. Der Petitionsausschuss würde hinsichtlich vieler vorgetragener allgemeiner Missstände zu einem Untersuchungsausschuss
besonderer Art, der jedem herkömmlichen Untersuchungsausschuss an Rechten weit überlegen und thematisch nicht begrenzt wäre. Da stimme ich der Kollegin
Buntenbach ausdrücklich zu. Wer einen Untersuchungsausschuss will, soll ihn beantragen. Dann kann er auch
Thema und Arbeitsweise entsprechend gestalten.
Dass genau dies das Ziel der PDS-Initiative ist, legt
auch ihr Entwurf für das Petitionsgesetz nahe, der in seinen §§ 16 bis 18 eine solche Entwicklung fördern würde.
Sollten sich die Bitten auf Gesetzesinitiativen beziehen,
würde dem Petitionsausschuss der Status eines allgemeinen Gesetzgebungsausschusses zuwachsen. Jedes Mal,
wenn ein Bürger die Bitte zur Schaffung einer neuen gesetzlichen Regelung vortragen würde, wäre der Ansatz zu
einer Gesetzesinitiative gelegt. Eine einfache Mehrheit im
Bundestag könnte ein Gesetz schaffen, mit dem alle Anregungen von außen als vollwertige Gesetzesinitiativen
zu behandeln wären.
Dies ist der konkrete Hintergrund. Wenn Sie die Regelung „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ vorschlagen,
könnten Sie ohne verfassungsändernde Mehrheit zu einer
ganz neuen Gesetzesinitiative kommen. Genau dies wollen Sie ja, aber genau dies passt nicht in das System unseres Grundgesetzes.
({0})
Die grundgesetzliche Regelung des Art. 76 Abs. 1,
nach der Gesetzesvorlagen auf Bundesebene nur durch
die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder
durch den Bundesrat eingebracht werden können, würde
durch die vorgeschlagene Formulierung auf einfachgesetzlicher Ebene erweitert werden. Durch die hier geplante Änderung könnte leicht eine Situation eintreten,
die ich für durchaus problematisch halte. Dies wurde auch
von Ihnen schon angesprochen. Der Bundestag müsste
sich mit allen gut gemeinten Vorschlägen verfahrenstechnisch aufwendig auseinander setzen. Ein großer Teil seiner Arbeitszeit wäre damit gebunden und die allgemeine
legislative Arbeit würde deutlich erschwert werden. Alles
das, was heute schon über den Petitionsausschuss gemacht werden kann, würde automatisch ins Plenum hineingetragen werden. Es wäre nicht ein Mehr an Transparenz und Möglichkeiten, sondern es wäre ein Mehr an
Bürokratie.
Genau diese Konsequenzen hat man 1975 erkannt und
hat deswegen diese Regelung anders getroffen. Der Petitionsausschuss sollte gerade kein Fachausschuss sein,
auch kein zweiter Weg für Gesetzesinitiativen. Er sollte
kein zusätzliches Kontrollorgan sein, mit dem der Einzelne neben dem Parlament die Bundesregierung und die
Bundesverwaltung kontrollieren kann.
Der Petitionsausschuss hat die ureigene Aufgabe, sich
den Sorgen und Nöten der Menschen in konkreten Einzelfällen zu widmen, und da leistet er eine hervorragende
Arbeit.
Sie merken, meine Damen und Herren: Wenn Sie den
Vorstoß der PDS konsequent weiterdenken, dann kommen wir zu einem ganz anderen Punkt als einer schlichten
Vereinheitlichung des Petitionsrechts. Der Vorschlag der
PDS hat nicht zum Ziel, ein vermeintlich redaktionelles
Versehen aus der Welt zu schaffen, wie er vorgibt, vielmehr soll der Petitionsausschuss über einen einfachgesetzlichen Regelungsvorbehalt zu einem Element der direkten Demokratie umfunktioniert werden.
Es geht in dieser Debatte um die politisch erhebliche
Frage, ob wir unsere politische Ordnung staatsrechtlich
plebiszitären Elementen öffnen sollen oder nicht. Ideen der
direkteren Demokratie, einer Demokratie, die stärker die
Initiativen der Staatsbürger berücksichtigt, als das in unserer repräsentativen Demokratie bisher vorgesehen ist, werden zurzeit diskutiert. Zumindest der Petitionsausschuss
des Deutschen Bundestages ist dazu der falsche Platz.
In nicht allzu ferner Zukunft - dies wurde heute schon
angekündigt - werden wir ohnehin Gelegenheit haben,
über dieses Thema intensiv zu diskutieren. SPD und
Grüne haben sich gemäß ihrer Koalitionsvereinbarung
vorgenommen, demokratische Beteiligungsrechte der
Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene zu stärken.
Dazu müsste unsere Verfassung geändert werden.
({1})
- Warten wir einmal ab, was sehr gut ist!
({2})
Das Grundgesetz kennt - von der Ausnahme der Länderneugliederung einmal abgesehen - für die Bundesebene keine plebiszitären Elemente. Es legt für Deutschland eine repräsentative Demokratie fest, bei der
Instrumente wie Volksinitiativen und Volksbegehren - anders als auf Länderebene - nicht bestehen. Elemente einer
direkten Demokratie zu fordern mag dem Zeitgeist entsprechen. Notwendig sind sie wegen der guten Erfahrungen mit dem Funktionieren unseres Staates sicherlich
nicht. Wir sind mit der repräsentativen Demokratie seit
1949 sehr gut gefahren.
({3})
Wie schwierig, Herr Kollege, und in der konkreten
Umsetzung fragwürdig Regelungen einer so genannten
direkten Demokratie sind, ergibt sich schon aus dem Beschluss, den der SPD-Parteivorstand vor einigen Wochen
gefasst hat. Daraus möchte ich mir eine kleine Passage
vornehmen. Einerseits erwartet man eine Stärkung der repräsentativen Demokratie, andererseits werden die Sorgen ausführlich problematisiert, dass der Staat anfälliger
für häufig wechselnde Stimmungen wird. In dem
SPD-Beschluss wird peinlich genau darauf geachtet, dass
der Wille des Volkes nur ja nicht über den parlamentarischen Entscheidungen angesiedelt wird. Einerseits sollen
die Beteiligungsrechte in - ich zitiere - „wichtigen politischen Sachentscheidungen“ gestärkt werden, andererseits
sollen Volksinitiativen nicht auf die Wahl oder die Abwahl
von Personen, Wahlen oder Veränderungen von Finanzoder Steuerregelungen gerichtet sein.
({4})
Daran erkennt man eindeutig: Die SPD möchte auf den
Zug des Zeitgeistes aufspringen; doch die Angst vor der
eigenen Courage ist noch groß.
({5})
Diese Sorgen teile ich durchaus. Deswegen bin ich der
Meinung: Das System der repräsentativen Demokratie hat
sich in unserem Lande bewährt. Es bedarf einer Veränderung nicht.
({6})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/5762 und 14/5763 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/5763
soll im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung federführend beraten werden. - Dazu gibt
es keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 h, 28 j
und 28 k sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 e auf - es
handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfah-
ren -:
28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 14/6144 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 14/6140 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Rates vom 29. September 2000 über
das System der Eigenmittel der Europäischen
Gemeinschaften
- Drucksache 14/6142 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung von Gesetzen und Verordnungen im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Technologie sowie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf Euro
({4})
- Drucksache 14/5937 Volker Kauder
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
von Verbrauchsteuergesetzen und des Finanzverwaltungsgesetzes sowie zur Umrechnung zoll- und
verbrauchsteuerrechtlicher Euro-Beträge ({6})
- Drucksache 14/6143 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit
- Drucksache 14/6100 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Tschechischen Republik vom 2. Fe-
bruar 2000 zur weiteren Erleichterung des
Rechtshilfeverkehrs
- Drucksache 14/6101 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes
- Drucksache 14/5927 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({8})
Rechtsausschuss
j) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({9}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt „Klonen von Tieren“
- Drucksache 14/3968 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
k) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({11}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring „Stand und Perspektiven der
genetischen Diagnostik“
- Drucksache 14/4656 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 4a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung von Vorschriften des Dienst-, allgemeinen
Verwaltungs-, Sicherheits-, Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts auf Euro ({13})
- Drucksache 14/6096 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({14})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 10. März 2000 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
Korea über soziale Sicherheit
- Drucksache 14/6110 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Annette
Faße, Reinhard Weis ({15}), Hans-Günter
Bruckmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Kerstin
Müller ({16}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung des Deutschen Binnenschifffahrtsfonds ({17})
- Drucksache 14/6159 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Tierschutz auf nationaler und EU-Ebene fortentwickeln
- Drucksache 14/6047 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({19})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Vizepräsidentin Anke Fuchs
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Für ein Bundesrahmengesetz zur Weiterbildung
- Drucksache 14/6170 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({20})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 29 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({21}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Kommission an den Rat und das
Europäische Parlament
European Community Investment Partners
({22})
Bericht über die Durchführung 1998
KOM ({23}) 135 endg.; Ratsdok. 07080/00
- Drucksachen 14/3428 Nr. 2.28, 14/4944 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. R. Werner Schuster
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({24})
Carsten Hübner
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung durch die Bundesregierung über den Bericht „European Community
Investment Partners ({25}) - Bericht über die Durchführung 1998“ zu Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch diese
Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({26}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen
Parlaments und des Rates über einen Gemeinschaftsrahmen für die Zusammenarbeit auf
dem Gebiet der nachhaltigen Stadtentwicklung
KOM ({27}) 557 endg.; Ratsdok. 13558/99
- Drucksachen 14/3859 Nr. 2.2, 14/4976 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Iwersen
Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({28}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Batterieverordnung
- Drucksachen 14/5931, 14/6019 Nr. 2.1, 14/6136 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Kelber
Werner Wittlich
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva-Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/5931 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
({29})
- Will irgendjemand etwas gegen Herrn Rexrodt sagen,
der nicht genau weiß, was in dieser Batterieverordnung
drinsteht?
({30})
- Die Batterien sind sicher, Herr Kollege.
({31})
Tagesordnungspunkt 29 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({32})
Übersicht 8
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/6013 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Tagesordnungspunkt 29 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 270 zu Petitionen
- Drucksache 14/6075 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 270 ist bei Enthaltung
der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 271 zu Petitionen
- Drucksache 14/6076 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 271 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 272 zu Petitionen
- Drucksache 14/6077 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 272 ist gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 273 zu Petitionen
- Drucksache 14/6078 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 273 ist gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Zusatzpunkt 5:
Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die Zustellung gerichtlicher und
außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder
Handelssachen in den Mitgliedstaaten ({37})
- Drucksachen 14/5910, 14/6114 ({38})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({39})
- Drucksache 14/6175 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Dr. Norbert Röttgen
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/6175, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Da
Sie sich alle erhoben haben, brauche ich die Gegenprobe
nicht durchzuführen. Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu möglichen
Auswirkungen der Berliner Finanzkrise auf
den Bundeshaushalt
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Petra Pau für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ein Bundesland durch Misswirtschaft und unglaubliche politische Fehler an den
Rand des Bankrotts gesteuert wird, dann ist das zwar
ungeheuerlich, aber deshalb noch nicht unbedingt ein
Thema für den Bundestag, auch dann nicht, wenn es sich
um die Hauptstadt, also um Berlin, handelt - selbst dann
nicht, wenn die Berliner Spatzen von allen Dächern
„Skandal“ und „Pleite“ pfeifen, während der Regierende
Bürgermeister Diepgen heute Morgen noch meinte:
„Der Stadt geht es gut, nur dem Haushalt geht es
schlecht.“
Ich werde heute die Bundespolitik auch nicht auf so zynische Weise aufrufen, wie es der Banker und geschasste, zugleich zum stellvertretenden CDU-Landesvorsitzenden geadelte einstige CDU-Fraktionschef Landowsky
schon 1998 tat, als er dem „Berliner Kurier“ mitteilte:
Wenn erst Hunderte von Arbeitslosen auf den Treppen des Reichstages sitzen, dann wird die Republik
sehen, dass die Probleme in Berlin ganz besonderer
Art sind.
Das ist zynisch, weil derselbe Landowsky an der vermutlich größten Bankenpleite der Neuzeit seine Aktien hat.
Obendrein bleibt noch der Parteispenden-Verdacht, also
der Verdacht, dass lange Zeit eine CDU-Hand die andere
gewaschen hat.
Kurzum: Auch wenn die Berliner Probleme von besonderer Art sind, weil die Berliner Führung und der Berliner Politikstil eben von besonderer Art sind, so ist es
doch das alte System „West-Berlin“, das wir hier in seinen Auswirkungen erleben können: ein Mix aus GroßVizepräsidentin Anke Fuchs
mannssucht, Realitätsverlust und wechselseitigen Gefälligkeiten.
({0})
Es ist eine Politik mit ungedeckten Wechseln, durch die
das von Diepgen so gern zitierte Unternehmen Berlin in
die Pleite geführt wird.
Aber - deshalb sitzen wir heute zu diesem Thema
hier - ich muss auch daran erinnern, dass das DIW der
Auffassung ist, Berlin könne sich nicht mehr aus eigener
Kraft aus dem Haushaltsdesaster befreien. Dies ist eine
mehr als ernüchternde Bilanz nach mehr als elf Jahren
großer Koalition in Berlin. Große Koalition heißt nun einmal: CDU und SPD.
({1})
Spätestens aber dann, wenn ein Land zur Pleite neigt,
wird es auch zum Bundesproblem. Deshalb haben wir die
Aktuelle Stunde beantragt. Nun ist der Haushaltsnotstand
noch nicht formal festgestellt und obendrein handelt es
sich wohl auch kaum um einen unverschuldeten. Insofern
kann ich schon nachvollziehen, wenn der Finanzminister
und sicherlich auch sein Vertreter heute sagen: für diesen
Pleitesenat keinen einzigen Heller zusätzlich! Ich vermute, das verstehen auch die Berlinerinnen und Berliner.
Jedenfalls haben wir schon Anfang der Woche ein Volksbegehren angeregt, bei dem die Bevölkerung - die Betroffenen - im Klartext sagen kann, was sie von dieser
desaströsen Berliner Haushalts- und Landespolitik hält.
Ich freue mich, Kollege Rexrodt, dass Sie und die Kollegin Michalik von den Bündnisgrünen mit mir darin übereinstimmen, dass man die Bürgerinnen und Bürger dieser
Stadt, die sich für ein solches Anliegen einsetzen wollen,
unterstützen muss.
({2})
Die Schizophrenie in dieser Stadt scheint endlos. Auf
der einen Seite werden zu Beginn des Sommers die
Schwimmbäder nicht geöffnet, bleiben also geschlossen;
gleichzeitig höre ich aber auf der anderen Seite am letzten
Wochenende, dass man in Berliner und Brandenburger
Regierungsstuben über eine neue Olympiabewerbung
fantasiert. Allerdings - auch deshalb müssen wir uns
heute hier damit befassen - trägt die Fehlplanung nicht
nur Landeshandschrift. Auch der Bund muss sein Vorgehen korrigieren. Für die Berliner ist ja der Begriff „Kanzler-U-Bahn“ ein geflügeltes Wort. Für die Nichtberliner
sei gesagt: Geplant und gebaut wird nach wie vor eine UBahn-Trasse, die am Kanzleramt vorbeiführt. Diese UBahn, die niemand braucht, verschlingt Milliarden an
Bundes- und Landesmitteln. Ich denke, hier sollte die
Bundesregierung umsteuern und nicht darauf bestehen,
dass weiterhin Milliarden verbuddelt werden.
({3})
Ich komme zu einer letzten Facette der Berliner Krise,
bei denen Bundes- und Landesambitionen über Kreuz liegen, anstatt sich zu ergänzen: Das prinzipiell richtige und
gute föderale System der Bundesrepublik liegt schief.
Nicht nur Berlin hat damit ein Problem; die Länder und
Kommunen - bis hin zum letzten Dorf - wissen, dass
viele Entscheidungen, die auf Bundesebene getroffen
werden, von ihnen zu bezahlen sind. Auch bei Fragen, die
die Hauptstadt betreffen, steht noch eine Klärung aus:
Was ist Bundes-, was ist Landesaufgabe? Dabei ist es
egal, ob es um die Kultur geht oder um kostspielige Polizeieinsätze, mit denen Staatsaufgaben abgesichert werden. Auch dies ist ein Problem.
Ich sage ganz deutlich: Das Duo Diepgen und
Landowsky war bisher ungeeignet, dieses Knäuel zu entwirren. Sie sind nicht die Lösung, sondern das Problem.
Der Regierende Bürgermeister Diepgen ließ sich im letzten Wahlkampf mit „Diepgen rennt“ plakatieren. Die
nächsten Plakate sollten ihm den Laufpass geben.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesfinanzminister, Karl Diller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Recht debattieren in diesem Moment
die Abgeordneten im Berliner Abgeordnetenhaus über das
Thema „Auswirkungen der Bankenkrise auf den Berliner
Haushalt“. Ich sage an die Adresse der PDS-Fraktion:
Dort hin und nicht in den Deutschen Bundestag gehört
heute die Debatte.
({0})
Halten wir uns an die Fakten: Im letzten Jahr hat der
Bund das Land Berlin im Umfang von mehr als 7 400 Millionen DM unterstützt. Es handelte sich dabei um: Leistungen für den Hochschulbau, für die Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur, für Wissenschaft und Forschung, für den kommunalen Straßenbau und für den sozialen Wohnungsbau - insgesamt 1 700 Millionen DM;
Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen, Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen, Erstattung der Kosten für die politische Führung sowie Hilfen im Rahmen des
Solidarpaktes - zusammen 5 000 Millionen DM; Leistungen an Berlin als Standort überregional bedeutsamer kultureller Einrichtungen - 55 Millionen DM; Sonderleistungen im Zusammenhang mit der Sonderstellung Berlins
als Hauptstadt - 664 Millionen DM.
Die Haushaltslage Berlins hat sich in den letzten Jahren durch ernsthafte Konsolidierungsanstrengungen
durchaus verbessert. Die Kreditfinanzierungsquote wurde
von 13 Prozent im Jahre 1997 auf 9,9 Prozent im Jahre
2000 zurückgeführt. Der Personalbestand ist rückläufig.
Dieser Erfolg ist vor allem der damaligen Finanzsenatorin Fugmann-Heesing zu danken.
({1})
Sie hatte es nicht einfach, sich mit ihren notwendigen
Sparmaßnahmen durchzusetzen.
Die aktuellen Finanzprobleme der Bankgesellschaft
Berlin bedeuten in der Tat einen herben Rückschlag. Sie
bedeuten jedoch keinen Absturz in eine Haushaltsnotlage.
Die Berliner Finanzpolitik sieht sich allein in der Lage,
die anstehenden Probleme zu bewältigen. Die Bundesregierung hat keine Veranlassung, an dem Erfolg der Berliner Bemühungen zu zweifeln.
({2})
Bei der Beurteilung, ob eine Haushaltsnotlage besteht,
wird im Allgemeinen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1992 herangezogen, in dem das
Gericht für die Länder Bremen und Saarland eine Haushaltsnotlage festgestellt hat. Dabei werden in der Diskussion häufig als alleinige Voraussetzungen für das Vorliegen einer Haushaltsnotlage die Kreditfinanzierungsquote
und die Zins-Steuer-Quote genannt. Übersehen wird hierbei, dass das Verfassungsgericht in seinem Urteil ausdrücklich offen gelassen hat, welche Kennziffern welche
Größenordnung erreichen müssen. Ich zitiere:
Welche einzelne Quote oder welche Kombination
von Quoten ab welcher Größe eine Haushaltsnotsituation präzise definieren, kann hier offen bleiben.
Aber selbst die haushaltswirtschaftlichen Kennziffern
lassen eine Haushaltsnotlage Berlins derzeit nicht erkennen. Die Situation Berlins ist auch unter Berücksichtigung
zusätzlicher Belastungen deutlich günstiger als die Bremens und des Saarlandes - sowohl zum jetzigen Zeitpunkt als auch zu Beginn der Sanierungsphase in den beiden Ländern.
Das Verfassungsgericht hat zwei weitere Feststellungen getroffen.
Erstens - ich zitiere -:
Welche der mehreren Handlungsmöglichkeiten in einer solchen Notlage zu ergreifen und in welchem
Umfang die einzelnen Instrumentarien einzusetzen
sind, obliegt der gesetzgeberischen Entscheidung.
Das bedeutet: Das Verfassungsgericht sieht keine Verpflichtung des Bundes für Bundesergänzungszuweisungen.
Zweitens - ich zitiere -:
Befindet sich ein Glied der bundesstaatlichen
Gemeinschaft - sei es der Bund, sei es ein Land - in
einer extremen Haushaltsnotlage, so erfährt das bundesstaatliche Prinzip seine Konkretisierung in der
Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen
Gemeinschaft, dem betroffenen Glied mit dem Ziel
der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der
Grundlage konzeptionell abgestimmter Maßnahmen
Hilfe zu leisten.
Das heißt: Diese verfassungsrechtliche Pflicht trifft nicht
den Bund allein, sondern auch alle anderen Länder.
Ich stelle also fest: Im Falle Berlins ist das Land selbst
gefordert, seine finanzielle Lage zu bereinigen. Ich bin
davon überzeugt, dass dies ohne Inanspruchnahme von
Hilfen der Solidargemeinschaft von Bund und Ländern
gelingen wird.
({3})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst Befriedigung darüber äußern, dass mein Vorredner der Regierung des Landes Berlin ausgesprochene Komplimente
gemacht hat.
({0})
Dies ist - auch vom Bund aus, wo man oft Skeptisches
hört - gerade gegenüber dem Regierenden Bürgermeister
wohltuend und berechtigt gewesen.
({1})
Ich möchte mich in einem wesentlichen Punkt unterscheiden, nämlich inwieweit der Bund tatsächlich aufgefordert ist, dieser Stadt zu helfen. Ich möchte dazu gleich
etwas sagen.
Zunächst möchte ich aber zu dem eigentlichen Anlass
kommen, weshalb wir uns mit dem Thema befassen: Das
ist die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde. Die PDS
versucht, mit der Beantragung dieser Aktuellen Stunde
die Strategie fortzusetzen, die sie auch im Berliner Abgeordnetenhaus verfolgt. Ihr Fraktionsvorsitzender dort hat
das „zündeln und sticheln“ genannt. Aus der Perspektive
einer kleinen Oppositionspartei ist das verständlich - aber
weshalb werden dann keine konkreten Anträge gestellt? -,
aus der Geschichte der Partei heraus ist das jedoch überhaupt nicht nachzuvollziehen.
Nach dem, was bis heute erkennbar ist, ist der Wertberichtigungsbedarf der Berliner Bankgesellschaft - und
wohl auch einer Fülle anderer Banken, die sich in gleicher
Weise wirtschaftlich falsch engagiert haben, wenn auch
nicht in gleicher Dimension - im Wesentlichen dadurch
entstanden, die geteilte Stadt nach 40 Jahren SED-Sozialismus unter dem Motto „Trümmer schaffen ohne Waffen“
({2})
wieder zu einer Einheit, auch städtebaulich, zusammenzufügen, bauliche Ruinen zu beseitigen, Plattenbauten
menschenwürdiger zu machen und die Vision eines modernen Gemeinwesens architektonisch und bei der Erschließung von Gewerbegrundstücken zu entwickeln.
({3})
Dabei hat sich die Bankgesellschaft wie viele andere Banken verspekuliert.
({4})
- Es ist klar, dass das zu Unruhe führt, aber die Situation
ist so, wie sie ist. Sie können Ihre Geschichte - auch wenn
Sie den Namen geändert haben - nicht abstreifen.
({5})
Eine Fehleinschätzung
({6})
gab es nicht nur bei der Bankgesellschaft; sie hat bei einer
Reihe von Entwicklungen eine Rolle gespielt. Es wurde
erwartet, dass die Einwohnerentwicklung infolge des
Hauptstadtbeschlusses industrielle Investitionen in stärkerem Maße erforderlich macht,
({7})
dass Dienstleistung und Gewerbeansiedlungen schneller
folgen würden, als das tatsächlich der Fall war. Diese
Fehleinschätzungen wurden seit Mitte der 90er-Jahre
deutlich; man kann sie praktisch am Immobilienteil der
Zeitung ablesen. Wenn Sie eine Zeitung vom letzten
Samstag nehmen und sie mit einer von 1994 vergleichen,
sehen Sie, wer welche Erwartung hinsichtlich der Entwicklung der Stadt hatte und was daraus geworden ist.
Man kann durchaus die Frage stellen, wer alles die Erwartung, dabei kräftig zu helfen, nicht genügend unterstützt hat.
Damit bin ich bei der Bundespolitik. Wenn man die Finanzsituation Berlins beispielsweise mit der Hamburgs
vergleicht, einer Stadt, die halb so groß und in einer anderen wirtschaftlichen Situation ist, dann wird man feststellen, dass Berlin bei doppelter Einwohnerzahl das
halbe Steueraufkommen hat. Das alleine macht deutlich,
wie die Entwicklung aussieht und wo geholfen werden
muss. Auch ein Vergleich mit dem Landeshaushalt anderer Länder, zum Beispiel Hessens, einem Flächenland,
zeigt, dass die Stadt aus eigener Kraft finanziell nicht so
schnell auf die Beine kommen kann, wie wir das alle
miteinander erwartet haben.
Wir stellen fast jeden Tag fest, dass sich diese Bundesregierung gegenüber der Stadt Berlin ausgesprochen lieblos verhält.
({8})
Die Wiederherstellung des Olympiastadions zum Beispiel
wurde zu einem Verhandlungsobjekt gemacht, obwohl
selbstverständlich war, dass der Eigentümer für das Aufkommen dieser Reparatur verantwortlich ist. Das ist nur
ein Beispiel von vielen: Von der Museumsinsel über die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz
({9})
bis zu den Leistungen, die für den zusätzlichen Polizeiaufwand erbracht werden müssten - überall Zögern,
Zaudern, Zurückhaltung. Hier muss stärker geholfen
werden.
Nun kann man natürlich die Schuldfrage hinsichtlich
dessen, was sich in Berlin zugetragen hat, stellen. Es hat
unbestreitbar Fehler gegeben.
({10})
Man wird sie sicher analysieren müssen und wird dabei
feststellen, dass es sich nicht nur um eine einzige Person
handelt, die Ämter inne hatte und zugleich politisch tätig
war, sondern dass Bataillone von Sozialdemokraten in
Vorständen, in Aufsichtsgremien sitzen;
({11})
selbst Kollegen dieses Bundestages sitzen im Aufsichtsrat
einer dieser Banken. Das kann man doch ganz klar nachvollziehen: Man kommt auf zehn Namen, ehemalige und
jetzige Senatoren, die für die Aufsicht verantwortlich
sind. Die gelobte Frau Fugmann-Heesing war bis zum
Jahre 1999 für Beteiligungen zuständig.
Ich will gar keine konkreten Vorwürfe machen.
({12})
Ich sage bloß: Wenn man versucht, das auf eine einzige
Person und eine einzige politische Partei zu konzentrieren, dann geht die Geschichte fehl; sie wird der Verantwortung nicht gerecht.
({13})
Es wird sicher die Frage gestellt werden müssen, ob es
richtig war, diesen Konzern in dieser Konstruktion zusammenzuschmieden und dann den Vergleich mit den
Verlusten anderer Banken dieser Stadt zu ziehen.
Ich betone: Es gibt die Notwendigkeit, zu handeln, im
Hinblick auf die Kompetenzen bzw. die Strukturen etwas
zu ändern und die Stadt dabei zu unterstützen, schneller
das Ziel, das wir alle anstreben, zu erreichen. Denn wir
alle miteinander tragen für diese Stadt, für unsere Hauptstadt, Verantwortung.
({14})
Da bedarf es keiner Häme und keines Zynismus, sondern
der Unterstützung des ganzen Hauses.
({15})
Nun hat das Wort die
Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Austermann, die Liebe der KohlRegierung zu dieser Stadt war von etwas gespaltenen Gefühlen geprägt. Von daher würde ich an dieser Stelle nicht
so laute Sprüche machen.
({0})
Ferner ist mir folgender Punkt wichtig: Wir müssen
sehr ernsthaft zwischen den wiedervereinigungsbedingten Problemen unterscheiden, die es im Haushalt dieser
Stadt tatsächlich gibt, und dem, worüber wir hier und
heute sprechen.
({1})
Ich möchte mich auf die aktuelle Situation konzentrieren.
Denn schließlich steigt täglich die Zahl der Wasserstandsmeldungen über das, was offiziell Wertberichtigungen genannt wird, was aber de facto eine skandalöse Vetternwirtschaft, ein abenteuerliches Finanzjonglieren ist. Es
würde wirklich jedem sizilianischen Patenfilm zur Ehre
gereichen, wenn er es schaffen würde, das, was hier in dieser Stadt in den letzten Jahren passiert ist und täglich neu
aufgedeckt wird, darzustellen. Das Geschehene ist wirklich skandalös und sprengt jede Vorstellungskraft.
({2})
Herr Austermann, wenn Sie meinen, es gehe nur um ein
paar zarte Fehler, dann empfehle ich Ihnen, den in einer
Zeitung vom heutigen Tage erschienenen Artikel zu Aubis
zu lesen, in dem es darum geht, dass es sich dabei, wie Aubis von Landowsky bzw. von der Berlin Hyp schrittweise
saniert worden ist, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit um
den Straftatbestand der Untreue handelt. Denn es ist bei
dieser Bank wider den Rat aller Fachleute und aller Revisoren systematisch und ständig zu Konditionen nachsaniert worden, die eigentlich unanständig sind. Von daher
sollten Sie das nicht als kleine Fehler verharmlosen!
({3})
Wenn es nur Aubis wäre! Es sind die Strohmännerfonds mit gefälligen Freistellungserklärungen für Gattinen und Freunde. Es ist die Gründung der Groth-Holding.
Es sind die Porschgeschäfte in der Wallstraße und in
Kühlungsborn. Es sind die Hornbach-Kaufmärkte, die für
die Freundschaftsdienste von Herrn Rupf aufgekauft worden sind. Es sind unbekannte Vettern auf den Cayman-Inseln, die Scheinverkäufe der IBG, die eine Gesellschaft
gründen wollten, die es gar nicht gab. Es sind die Villen,
die den Vorständen zur Verfügung gestellt wurden.
Eine Geschichte nach der anderen - ich habe inzwischen eine dicke Akte darüber - ist für sich gesehen ein
solcher Skandal, dass erstens der gesamte Vorstand der
Bankgesellschaft zurücktreten muss und dass zweitens
endlich die Aufsichtsräte haftbar gemacht werden müssen.
({4})
Wer sich im Bankenrecht auskennt, weiß, dass Aufsichtsräte für das haften, was sie ihrer Gesellschaft genehmigen,
und dass sie in einem solchen Fall nicht entlastet werden
dürfen.
Von daher fordere ich von hier aus das Berliner Abgeordnetenhaus auf, dafür zu sorgen, dass die Aufsichtsräte
der Bankgesellschaft in diesem Sommer nicht entlastet
werden, sondern dass sie allesamt zusammen mit den Vorständen aller „Sub-Subgesellschaften“ - insbesondere des
Herrn Rupf - für das haftbar gemacht werden, was sie hier
getan haben.
({5})
Es geht - zwar auch, aber nicht nur - um politische Moral und es geht um den materiellen Schaden, der jedem
Bürger dieser Stadt angetan worden ist.
({6})
Dieser muss überhaupt erst einmal aufgedeckt und klargestellt werden.
Von daher sage ich ganz deutlich: Herr Diepgen hat
sich auch heute in seiner so genannten Regierungserklärung wieder hinter den Wirtschaftsprüfern und den Lasten der Wiedervereinigung versteckt. Bei aller Anerkennung der Tatsache, dass Herr Waigel damals die
Berlinförderung zu schnell abgebaut hat, darf sich heute
keiner hinter diesen Problemen verstecken, wenn wir davon sprechen, welchen Schaden dieser Bankenskandal
der Stadt Berlin zugefügt hat.
({7})
Es geht um einen doppelten Glaubwürdigkeitsverlust.
Jedem einzelnen Bürger dieser Stadt gegenüber ist die bisherige Politik absolut unglaubwürdig geworden. Es ist
tatsächlich so: Schwimmbäder werden geschlossen bzw.
verspätet geöffnet und die Eintrittspreise erhöht. Aber der
Berliner Senat sagt: Jetzt brauchen wir mal eben 4 Milliarden DM -- heute waren es schon 6 Milliarden DM - für
unsere Bankgeschäfte, für unsere Vetternwirtschaft. - Das
darf doch wirklich nicht wahr werden! Dies ist eine Bananenrepublik, wie es schlimmer wirklich nicht geht.
({8})
Erst wenn Berlin in einer glaubwürdigen Form den
Schritt hin zu Neuwahlen macht, ist überhaupt ein Neuanfang möglich, kann diese Stadt ihre politische Glaubwürdigkeit wiedergewinnen, und zwar nicht nur den eigenen Bürgern, sondern auch dem Bund und den anderen
Ländern gegenüber.
Berlin will Hilfe vom Bund - hierbei rede ich nicht von
besonderen Bundesergänzungszuweisungen, sondern von
dem Verfahren im Rahmen des Finanzausgleichs - und ist
dabei auf die Solidarität des Bundes und aller Länder angewiesen. Dass diese Stadt gerade in einer solchen Zeit
mit der eigenen Finanzsolidität und Glaubwürdigkeit so
umgeht, wie sie es tut, kann man eigentlich gar nicht fassen.
Lassen Sie mich noch sagen, was jetzt Not tut und was
die Opposition in Berlin glücklicherweise eingeleitet hat:
Wir Grünen werden zusammen mit der F.D.P. und der
PDS - welch seltsames Dreierbündnis ({9})
sowie den gesellschaftlichen Kräften dieser Stadt ein
Volksbegehren einleiten, um die Beteiligten unter Druck
zu setzen. Dabei geht es nicht nur um die CDU - das muss
ich den Kollegen von der SPD sagen -, sondern auch Herr
Strieder und die gesamte Berliner SPD müssen endlich
anfangen aufzuräumen und ihr Schuldbekenntnis klar auf
den Tisch legen. Denn auch die SPD hängt in diesen Seilschaften.
({10})
Ich weiß das, denn ich habe lange genug mit den Berliner
Baugeschäften zu tun gehabt. Ich fordere Herrn Strieder
von dieser Stelle auf, dafür zu sorgen, dass von seiner Senatsverwaltung her kein Auftrag mehr an bestimmte Personen erteilt wird. Ich werde ihm die Namen persönlich
nennen, denn ich möchte sie hier nicht in der Öffentlichkeit sagen. Aber nach wie vor werden an interne Seilschaften Aufträge vergeben: welch ein Filz! Das schreit
wirklich zum Himmel.
({11})
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Erforderlich sind
ein klares Konzept zur Entflechtung und Säuberung der
Bank, Neuwahlen und dann ein Kassensturz sowie ein
glaubwürdiges Sanierungskonzept. Erst wenn die Voraussetzungen für eine glaubwürdige Politik in dieser Stadt
geschaffen worden sind, kann man darüber diskutieren,
ob man beim Bund anklopft.
({0})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Dr. Günter Rexrodt für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal sagen:
Die F.D.P. hat heute Morgen vorgeschlagen,
({0})
ein Gremium von parteipolitisch unabhängigen Persönlichkeiten einzusetzen. Dieses soll Träger eines Volksbegehrens sein, das zu einem Volksentscheid über Neuwahlen in Berlin führen soll.
({1})
Ich freue mich, dass die beiden anderen Parteien in der
Opposition hier in Berlin, die Grünen und die PDS, diesem unserem Vorschlag, ein Gremium unabhängiger
Leute einzusetzen, beigetreten sind.
({2})
Dass wir diesen Vorschlag gemacht haben, hat gute
Gründe: Berlin steuert auf die Pleite zu. Dies ist die größte
Finanzkrise in der Geschichte dieser Stadt. Nach den zugrunde zu legenden Kriterien wäre der Haushaltsnotstand
eigentlich gegeben. Er ist nur nicht formal festgestellt.
Aber man muss sehr wohl zwischen den objektiven und
den hausgemachten Gründen für diese Entwicklung abwägen. Die objektiven Gründe - das sage ich in Richtung
der PDS - wollen wir mal nicht vom Tisch wischen. Diese
sind vom Kollegen Austermann zu Recht angesprochen
worden. Das ist der eine Teil.
({3})
Unter Frau Fugmann-Heesing und auch unter Herrn
Kurth, der hier heute anwesend ist, ist dann eine durchaus
richtige Weichenstellung in der Finanzpolitik vorgenommen worden. Aber was soll denn passieren? Bei einer
großen Koalition aus SPD und einer weitgehend sozialdemokratisierten CDU in dieser Stadt
({4})
kann dabei doch nichts herauskommen. Das ist nicht möglich.
({5})
- Das ist so! Der Senat wird von der SPD und einer weitgehend sozialdemokratisierten CDU gebildet. Das sage
ich seit langem. Wenn Sie sich in dieser Stadt umhören,
stellen Sie fest, dass dies selbst in bürgerlichen Kreisen,
die die CDU wählen, zugegeben wird.
({6})
Das ist auch der Hintergrund dafür, dass es zu einem
solchen Filz kommen konnte. An diesem Filz sind die beiden großen Parteien beteiligt. Da verfährt man nach dem
Reißverschlussprinzip. Der Proporz existiert seit vielen
Jahren. Da kann sich keiner rausmogeln. Hier muss es
endlich mal wieder eine andere politische Konstellation
geben, damit Klarheit und Transparenz in die Berliner Politik kommt.
({7})
Meine Damen und Herren, es hat Versäumnisse auf der
Ausgabenseite gegeben, weil die Verwaltung noch immer
überbesetzt ist. Mit einer großen Koalition kann man sie
nicht so schnell abbauen, wie das eigentlich erforderlich
ist. Auf der Einnahmenseite ist es nun nicht gelungen, die
Wirtschaftskraft so zu stärken, wie wir uns das gewünscht
haben - trotz zugegebener Bemühungen.
Aber es sind auch noch andere Fehler und Versäumnisse festzustellen, und zwar unglaubliche. Dabei geht
es zum einen um die Veräußerung der Landesbeteiligungen. Bei der GASAG und der BEWAG hat man zwar
einen ersten Schritt getan; aber wenn es um die Wasserwerke geht, wird es schon halbherzig.
({8})
In Bezug auf die Wohnungswirtschaft - im Übrigen
personell eine Pfründe der Sozialdemokraten, aber nicht
nur der Sozialdemokraten - macht man zum anderen gar
nichts oder kaum etwas, weil man in einer großen Koalition Angst hat, irgendwem auf die Füße zu treten.
({9})
Eine große Koalition ist das Übel des Ganzen. Das muss
immer wieder gesagt werden. Das ist der mehr oder weniger objektive Teil.
Was dann hausgemacht ist und hier zum Himmel
stinkt, das ist der Skandal um die Bankgesellschaft
Berlin.
({10})
Die Bankgesellschaft Berlin ist ein Homunkulus. Es war
ja richtig - in den 80er-Jahren ging das los -, die Aktivitäten der Landesbank, also des Sparkassenbereiches
und der Berliner Bank, zusammenzufügen. Aber wenn
man so etwas macht, muss man eine einheitliche Kultur
schaffen. Das ist versäumt worden. Da hat man den Weg
des geringsten Widerstandes gewählt; die große Koalition
hat einfach ein Dach darüber gesetzt und die beiden
Kulturen sind erhalten geblieben. Dabei sind wirtschaftliche Fehler gemacht und Fehlentscheidungen en masse getroffen worden. Hinzu kommt das, was wir hier heute mit
allem Nachdruck kritisieren müssen, nämlich die Verfilzung, die Vermischung von wirtschaftlicher Macht und
politischer Verantwortung. Das muss ein Ende haben.
({11})
Dabei kann es nicht angehen, dass in dieser Situation
der Bund oder die Länder hergehen und der Stadt zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen. Jetzt nicht!
({12})
Berlin muss zeigen, dass es aus eigener Kraft wenigstens
Weichenstellungen vornehmen und Anstrengungen unternehmen kann, um mit diesem Desaster fertig zu werden,
damit dieser Augiasstall, diese Verfilzung, diese große
Koalition in dieser Stadt endlich ein Ende haben.
({13})
Dann kann man darüber nachdenken.
Die Menschen auf den Straßen aus allen Bezirken dieser Stadt - ich komme von hier; ich kenne viele Menschen, viele Gremien und Bereiche ({14})
haben es satt, von einer großen Koalition regiert zu werden, in der politische und wirtschaftliche Macht miteinander verwoben sind.
Deshalb haben wir dieses Volksbegehren angeleiert;
deshalb werden wir es auch durchstehen. Es ist höchste
Zeit, dass diese große Koalition selbst den Mut findet und
die Kraft hat, zurückzutreten und das Mandat an den Berliner Wähler zurückzugeben, der es satt hat und der veränderte Verhältnisse im politischen Bereich so schnell wie
möglich braucht.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans Georg Wagner für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Angesichts der Beiträge der Berliner,
die wir hier gehört haben, muss ich sagen: Wenn das so
weitergeht, kann das ja ein heiteres Spiel hier in Berlin
werden. Sie, Herr Ex-Senator der Finanzen Rexrodt, haben 1985 bis 1989 die Grundlagen gelegt für vieles,
({0})
was hier in Berlin passiert ist. Sie waren vorher auch noch
fünf Jahre beim Senator für Wirtschaft tätig. Ganz unschuldig, Herr Rexrodt, sind Sie also nicht. Sie dürfen
sich daher auch nicht so aus dem Fenster hängen. Das
passt nicht in die Landschaft hinein.
({1})
Ich hatte eigentlich geglaubt, dass zunächst einmal
Herr Senator Kurth die Gelegenheit hätte, hier zu reden;
denn er hätte dann sagen können, ob er anklopft oder
nicht. Ich bin der Überzeugung, er wird nicht anklopfen,
um zu verlangen, dass der Bund jetzt etwas bezahlen soll
- nur lassen Sie ihn ja nicht reden -,
({2})
um zunächst etwas aufzubauen.
Man muss natürlich auch Verständnis haben für manche Situation hier im Berliner Haushalt - Herr Schäuble,
Sie haben eben einen entsprechenden Zwischenruf gemacht -: Zum Beispiel war der soziale Wohnungsbau in
Berlin teilungsbedingt ein ganz großes Problem, weil es
frei finanzierten Wohnungsbau in Berlin überhaupt nicht
gab, solange die Mauer stand. Im Berliner Haushalt sind
immer noch jedes Jahr 2,5 Milliarden DM für den sozialen
Wohnungsbau eingestellt, nämlich für die Darlehen, die
damals gegeben worden sind. Das geht, glaube ich, noch
zehn Jahre so weiter. Sie haben den Einigungsvertrag ausgehandelt. Warum haben Sie diese Probleme als Hauptstadtprobleme im Einigungsvertrag nicht aufgegriffen?
({3})
Dann wäre manches Loch im Haushalt gar nicht entstanden.
Meine Damen und Herren, eine Haushaltsnotlage ist
nicht gegeben. Das hat jeder hier in Berlin festgestellt, ob
das der Regierende Bürgermeister war, der Finanzsenator,
der Bausenator oder der SPD-Landesvorsitzende. Alle haben gesagt, es ist kein Haushaltsnotstand. Auch ich sage
das.
Es besteht in der Tat kein Haushaltsnotstand; denn in
Bayern hat auch niemand den Haushaltsnotstand ausgerufen, als dort die Verwicklungen des Ministerpräsidenten
Stoiber im Zusammenhang mit der Landesbank und der
Bayerischen Hypobank, bei denen diverse diffuse Immobiliengeschäfte gemacht worden sind, bekannt wurden.
Darüber hat sich damals auch niemand aufgeregt. Das ist
nun einmal so, wie es ist.
Es soll also Wahlkampf stattfinden. Die PDS wittert
Morgenluft und glaubt, sie könnte irgendetwas erreichen.
Die F.D.P. hofft auf die Chance, wieder einmal im Abgeordnetenhaus vertreten zu sein.
({4})
Nachdem sie die Räumlichkeiten nicht mehr kennen - sie
waren ja draußen -, wollen sie offenbar wieder in das Abgeordnetenhaus hinein. Das ist legitim. Aber ich nehme
an, dass die Berlinerinnen und Berliner so intelligent sind
wie die Wählerinnen und Wähler in den anderen Ländern
des Bundesgebiets und die F.D.P. dort lassen, wo sie heute
ist.
Der Kollege Diller hat eigentlich bereits alle relevanten Zahlen genannt, sodass wir sie nicht unbedingt wiederholen müssen. Wir haben in der Tat - das hat der Kollege Austermann bereits ausgeführt - Berlin erhebliche
Zuwendungen gewährt. Die Bundesergänzungszuweisungen betragen 3,8 Milliarden DM; außerdem erhält Berlin
aus dem Länderfinanzvergleich 5,3 Milliarden DM. Auch
in die Kultur fließen beträchtliche Bundesmittel. Wir haben - natürlich gegen den Willen der CDU/CSU - die
Kosten für die Sanierung des Olympiastadions übernommen, für die wir im Hauptstadtvertrag für die Jahre 1995
bis 2004 1,3 Milliarden DM zur Verfügung gestellt haben,
und für viele Verkehrsmaßnahmen.
Ich möchte nun auf etwas zu sprechen kommen, was
mir in Berlin unverständlich erscheint. Es geht zum einen
um die Frage der Uneinigkeit in der Koalition hinsichtlich
des Baus der U 5. Die einen sagen: Wir bauen; die anderen sagen: Wir bauen nicht. Die einen sagen: Wir müssen
abwarten, bis die Fußballweltmeisterschaft vorbei ist; die
anderen sagen: Das müssen wir nicht. Oder denken Sie
zum anderen an das Theater, das wir gerade im Zusammenhang mit der Museumsinsel erlebt haben. Das wäre
eine internationale Blamage geworden, wenn der Berliner
Senat nicht zum Schluss eingelenkt hätte. Wir waren in
der Diskussion sogar schon so weit zu sagen: Der Bund
hält das Geld vor, das er von 2006 bis 2010 zu zahlen hat;
damit finanzieren wir den Weiterbau der Museumsinsel.
Das sind Entscheidungen in der Kommunalpolitik, die
für uns als Nichtberliner, aber doch für längere Zeit hier
Anwesende nicht nachvollziehbar sind. Herr Senator, Sie
sollten einmal in der Kommunalpolitik in Berlin unter den
Partnern, die die Regierung bilden, für Klarheit sorgen.
Hinsichtlich des Aufsichtsrats muss ich noch auf das zu
sprechen kommen, was der Kollege Austermann gesagt
hat, nämlich dass die Sozialdemokraten an allem schuld
seien.
({5})
Der Präsident des Bundesaufsichtsamts für Kreditwesen
hat erklärt, der Aufsichtsrat sei nicht an dieser Entwicklung schuld. Nach den Protokollen ist feststellbar, dass die
SPD-Mitglieder, aber auch der IHK-Präsident Gegenbauer und der Schering-Chef Erlen kritische Fragen gestellt hatten, die von denjenigen, deren Namen auch schon
genannt worden sind, nicht beantwortet wurden.
Ich meine, Diller hat Recht gehabt. Mit Annette
Fugmann-Heesing ist in Berlin ein Konsolidierungskurs
eingeleitet worden, der schmerzhaft war und ist. Ihr damaliger Staatssekretär und jetziger Senator Kurth setzt
das fort - zum Leidwesen von CDU und SPD, muss man
sagen. Die sind natürlich beleidigt, wenn so gespart wird,
wie es hier zu Recht der Fall ist. Man sollte sie diesen Weg
weiterverfolgen lassen und hier nicht eine Diskussion darüber vom Zaun brechen, ob sie jetzt Geld wollen oder
nicht. Bis jetzt haben sie gesagt: Wir wollen kein Geld.
Vielen Dank.
({6})
Nun erteile ich dem
Berliner Finanzsenator Peter Kurth das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Krise der
Berliner Bankgesellschaft hat in der Tat längst zu einer
Diskussion über die Haushaltspolitik in Berlin und über
die Koalition geführt. Es ist derzeit auch nicht möglich,
das zu trennen, weil die gesetzlich vorgeschriebene Kapitalausstattung für die Bank unseren Haushalt dramatisch
belastet und weil die große Koalition in Berlin mit diesen
Belastungen fertig werden muss und nach meiner festen
Überzeugung auch fertig werden wird.
({0})
Zunächst zur Bank: Das Gespräch mit dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen gestern Abend hat bestätigt, dass der Kapitalbedarf für die Bank in der Tat bei
gut 2 Milliarden Euro liegen wird. Das ist seit einigen
Tagen die Einschätzung des Berliner Senats, Frau
Eichstädt-Bohlig. Die Ursachen hierfür sind vielfältig:
Erstens. Die Situation der Bau- und Wohnungswirtschaft in allen neuen Ländern ist sehr schwierig. Hiervon
ist keine Bank unbelastet geblieben.
Zweitens. In erheblichem Umfang sind Fehler in der
Bearbeitung problematischer Kredite und auch Gesetzesverstöße festgestellt worden.
({1})
Die Verantwortlichkeiten betreffen unterschiedliche Ebenen der Bankgesellschaft. Darauf komme ich später noch
zu sprechen.
({2})
Drittens. Es stellt sich natürlich die Frage nach veränderten Bewertungsmethoden und der Qualität vergangener Jahresabschlüsse. Frau Eichstädt-Bohlig, es versteckt
sich keiner hinter Wirtschaftsprüfern. Aber wenn ein Kredit aus dem Jahr 1995 bis zum Jahr 1999 völlig beanstandungsfrei testiert wird und im Jahr 2000 bei einem sich
belebenden Immobilienmarkt auf einmal der Wertberichtigungsbedarf explodiert, dann darf die Qualität der Jahresabschlüsse angezweifelt werden.
({3})
Mit der Neustrukturierung der Bankgesellschaft wurde
begonnen. Etliche Vorstände und Mitarbeiter haben den
Konzern inzwischen verlassen. Die Aufsichtsräte werden
ohne Ansehen der Person Regressansprüche prüfen und
durchsetzen. Diese Prüfung betrifft auch die bisher geschlossenen Aufhebungsvereinbarungen.
({4})
Die Auswirkungen auf den Haushalt sind auch deshalb
so verheerend, weil Berlin in der Tat in den letzten Jahren
erfolgreich und engagiert konsolidiert hat. Ihnen allen
dürften die Bemühungen in Berlin nicht verborgen geblieben sein:
({5})
der Abbau von mehr als einem Drittel der Stellen, die
Rückführung der Ausgaben um fast 7 Prozent seit 1995
und sehr weitgehende Privatisierungen. Herr Dr. Rexrodt,
Sie müssen den Berliner Senat nicht davon überzeugen,
dass wir uns überall dort, wo dies geboten und machbar
ist, als Unternehmer und Eigentümer zurückziehen.
({6})
- Damit haben wir ebenfalls begonnen.
Die Konsolidierungspolitik ist nicht gescheitert. Sie
wird nicht scheitern. Sie wird fortgesetzt.
({7})
Die Bankenkrise ist kein Anlass für den Berliner Senat,
andere Länder oder den Bund um zusätzliche Mittel zu
bitten.
({8})
Wir setzen unsere eigenen Anstrengungen fort und fliehen
nicht in eine Haushaltsnotlage. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine große Koalition mit diesen Belastungen
und den notwendigen Strukturentscheidungen am ehesten
fertig wird.
Die Bankgesellschaft ist kein strukturelles Problem
unseres Haushalts. Das größte Strukturproblem unseres
Haushaltes ist und bleibt die geringe Steuerkraft. Mit einer Steuerdeckungsquote von 40 Prozent ist Berlin in der
Tat das Schlusslicht aller Länder. Wir haben in den letzten
70 Jahren fast die gesamte steuerzahlende Wirtschaft verloren.
({9})
Dies hat kein Senat zu verantworten. Das ist das Ergebnis
der Berliner und der deutschen Geschichte.
Es stellen sich aber andere Fragen, zum Beispiel inwieweit Berlin in bestimmte Finanzierungssystematiken,
etwa bei nationalen Gedenkstätten und der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz, einbezogen werden kann. Ich
betone: Berlin wird sich auch künftig an jeden geschlossenen Vertrag halten.
Herr Wagner, die Irritation bei der Museumsinsel ist allein darauf zurückzuführen, dass es mit Schreiben vom
November des letzten Jahres eine Zusage von Herrn
Nevermann aus dem Kanzleramt gegeben hat, die Vorfinanzierung zu übernehmen. Der Fehler des Berliner Senats war, diese Zusage ernst genommen zu haben.
({10})
Es bedurfte eines kurzen Telefonates zwischen Herrn
Eichel und mir, um dies zu klären. Auch hierfür wird im
Nachtragshaushalt Vorsorge getroffen werden.
Wir halten uns an jeden Vertrag, den wir geschlossen
haben. Aber wir wollen nach einigen Jahren nüchtern darüber sprechen können, welche Verträge einer Anpassung
bedürfen, weil sie auf einer unrealistischen Grundlage abgeschlossen worden sind. Dies ist dann aber nicht nur eine
finanzielle Frage und sie ist unabhängig davon, wer Regierungsverantwortung trägt.
Der Berliner Senat wird sich den Herausforderungen
der Bankgesellschaft und des Berliner Haushaltes weiterhin entschlossen stellen. Wir bekennen uns klar zu unserer eigenen Verantwortung. Grundsätzlich allerdings
bleibt Berlin auf die Unterstützung im Rahmen des Finanzausgleichs angewiesen. Wir achten diesen Beitrag
der reichen Länder und des Bundes nicht gering, sondern
wir sind für diese Unterstützung dankbar. Deswegen betone ich gerade vor dem Deutschen Bundestag: Berlin
braucht die Solidarität der anderen. Wir werden sie aber
nicht missbrauchen.
Vielen Dank.
({11})
Jetzt hat der Kollege
Hans-Christian Ströbele für das Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Senator Peter Kurth ({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unsere schöne Stadt, das Land Berlin, wird seit einigen Monaten nicht mehr regiert, sondern täglich werden
nur die Finanzlöcher kommentiert und allenfalls verwaltet. Immer wieder steht der Regierende Bürgermeister davor und sagt: Ich habe von nichts gewusst; ich bin nicht
informiert worden. - Der Regierende Bürgermeister ist
inzwischen eher ein regierender Konkursverwalter; nur,
dass er dafür genauso wenig geeignet ist, weil er und seine
Partei viel zu sehr in den Berliner Sumpf und den Berliner Filz verwickelt sind. Als Konkursverwalter müsste
man seine Funktion eigentlich unabhängig und objektiv
wahrnehmen.
({0})
Der Finanzskandal des Landes Berlin ist ja nicht neu.
Bereits vor vier Jahren hat die damalige Abgeordnete des
Berliner Abgeordnetenhauses Michaele Schreyer eine
Anfrage an den Senat gerichtet und genau die Fragen gestellt, die man heute mühsam zu beantworten versucht.
Damals ist ihr auf die Frage, welche Zahlungsprobleme
bei der Berliner Bankgesellschaft vorhanden seien, gesagt
worden: keine Probleme. Auch vonseiten der SPD sind
1997 ganz konkrete Fragen nach den Finanzen und Zuschüssen der Wohnungsbaugesellschaft Aubis gestellt
worden. Auch in diesem Zusammenhang wurde gesagt:
keine Probleme vorhanden. Der Regierende Bürgermeister will uns erzählen, er habe nichts davon gewusst, was
seine Senatoren damals geantwortet haben und was seine
Mitarbeiter, Fraktionskollegen und auch die Abgeordneten der SPD in den Aufsichtsräten der Banken erfahren
haben.
Der Berliner Sumpf ist sprichwörtlich; er kann nicht
dadurch ausgetrocknet werden, dass von der Bundesebene Geld gefordert wird. Herr Senator, der Berliner
Sumpf kann aber auch nicht dadurch ausgetrocknet werden, dass man neue Kredite aufnimmt und dafür jedes Jahr
etwas mehr - 200 oder 300 Millionen DM - Zinsen zahlt.
Denn wer zahlt denn diese Zinsen? Das sind die Steuerzahler, egal ob das Geld von Berlin oder vom Bund aufgebracht wird. Es betrifft in jedem Fall die Menschen in
Berlin, denen klargemacht werden muss, dass es bei den
Kindergärten erneut Einschränkungen geben wird, dass
bei den Schulen keine ausreichende Ausstattung und für
die Verkehrspolitik kein Geld vorhanden ist.
({1})
Irgendwo müssen Sie das Geld ja hernehmen.
Es kann doch nicht wahr sein, dass Berlin Geld aufnimmt, um damit für Herrn Landowsky, der inzwischen
ein Fall für den Staatsanwalt geworden ist, jedes Jahr
700 000 Mark zu zahlen, die er aus seiner Stellung bei der
Bankgesellschaft Berlin bezieht.
({2})
Es kann doch nicht wahr sein, dass für diesen Zweck das
Geld von denen genommen wird, die auf Unterstützung
angewiesen sind, weil sie für den Kindergarten- oder
Schulbesuch das Geld nicht selber aufbringen können. Sie
müssen unter dieser Politik leiden.
Vor ein paar Tagen konnte man in der „Berliner Zeitung“ lesen, dass 19 große Villen den Vorstandsmitgliedern der Bankgesellschaft zu Dumpingmieten zur Verfügung gestellt werden. Verkaufen Sie diese Grundstücke
und sanieren Sie damit die Bank! Streichen Sie das Gehalt, das Herr Landowsky nachträglich für das Nichtstun
in den nächsten Jahren bekommen soll! Damit können Sie
wenigstens einen Anfang machen, um den Haushalt zu
sanieren und das wieder gutzumachen, was Sie angerichtet haben.
({3})
Im Bereich der Entwicklungspolitik verlangen wir von
den Regierungen anderer Staaten in Afrika, Asien, Lateinamerika oder sonst wo auf der Welt als erste Voraussetzung für die Leistung von Aufbau- und Finanzhilfe, dass
sie Good Governance, das heißt eine Regierung, die einigermaßen vernünftig mit Geld umgeht, vorweisen, in der
es keine Bestechung, keine Verfilzung und keine Pleiten
gibt. Dieselben Anforderungen müssen wir an das Land
Berlin stellen. Wenn Berlin fragt: „Hast Du mal ’ne Milliarde?“, dann können wir nur sagen: Aus der Bundeskasse keine Mark für diesen Senat!
({4})
Die Alternative zu diesem Senat versuchen wir jetzt in
Berlin möglich zu machen. Wir brauchen einen Neuanfang. Wir brauchen das Votum der Wählerinnen und
Wähler, der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, denen
das alles gehört, die aber immer wieder nur draufzahlen
sollen. Sie müssen jetzt zur Urne gerufen werden. Sie
müssen jetzt sagen, dass sie Neuwahlen in Berlin wollen,
Neuwahlen für einen anderen Senat, für eine andere Regierung.
Auf diesem Wege wünschen wir unserer Stadt viel
Glück. Wir werden mithelfen, dass dieser Weg erfolgreich
gegangen wird.
({5})
Nun hat die Kollegin
Dr. Christa Luft für die PDS das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Herr Senator Kurth, Sie persönlich sind erst kurze Zeit dabei. Aber die Partei, der Sie
angehören, leitet seit elf Jahren in Berlin eine große Koalition. Seit ebendieser Zeit ist Berlin in einer sehr
prekären Finanzsituation. Darin spiegelt sich zum einen
- das will auch ich sagen - ein objektiver Umstand, nämlich teilungsbedingte Sonderlasten, wider. Darin spiegelt
sich auch wider, dass es nach Übernahme der Hauptstadtrolle Mehraufwendungen gibt.
Kollege Austermann, es war der Bundeskanzler, damals der Chef Ihrer Partei, der Mitte 1990, als sich schon
einmal eine Haushaltsnotlage in Berlin abzeichnete,
sagte: Nein, Berlin kriegt keinen Pfennig mehr.
({0})
Der Bund hat, wie mir scheint, sich schon damals nicht
angemessen engagiert, als es darum ging, diesen Bedingungen Rechnung zu tragen.
Aber auch die jetzige Bundesregierung hat Berlin die
Zustimmung zur rot-grünen Steuerreform für Peanuts abgehandelt und ihm Steuerausfälle von 2,5 Milliarden DM
jährlich übergeholfen. Auch das darf nicht vergessen werden.
({1})
Und dennoch: In diesen Dingen, die ich genannt habe,
die Hauptursache für den Schuldenberg und für die Finanzkatastrophe in Berlin zu sehen, das wäre weit gefehlt.
Die Hauptursache liegt eindeutig in der jahrelangen
Misswirtschaft des CDU/SPD-Senats und ist insoweit
nicht unverschuldet.
Damit dürfte übrigens auch für Sie, Kollege
Austermann, die These nicht mehr haltbar sein, wonach es
gerade die Sozialisten sind, die nicht mit Geld umgehen
können. Denn die Sozialisten waren an diesem Senat nicht
beteiligt.
({2})
Bevor zur Löschung des Brandes nach dem Bund als
Feuerwehr gerufen wird, muss allerdings zuerst einmal
die Brandursache in Berlin beseitigt sein, muss der amtierende Senat für klare Verhältnisse sorgen. Niemand kann
von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern erwarten,
dass weiter unkonditioniert Geld in einen Sumpf geworfen wird.
({3})
Ich halte es für ein Gebot politischer Hygiene, dass ein
Regierender Bürgermeister nicht gleichzeitig Justizsenator sein darf.
({4})
Ich halte es für ein Gebot politischer Hygiene, dass Partei- und Bankposten künftig auf Dauer voneinander zu
trennen sind. Strenge Regeln müssen für die Haftung von
Wirtschaftsprüfern, von Aufsichtsräten und natürlich von
Managern öffentlich-rechtlicher Institutionen ebenso wie
solcher mit privater Beteiligung gelten.
Warum soll - auch ich muss das fragen - ein
Hauptkatastrophenverursacher wie Herr Landowsky fürs
Nichtstun, fürs Spazierengehen noch auf zwei Jahre hin
eine Abfindung von je 700 000 DM bekommen und lebenslang jährlich 350 000 DM? Ich kann das nicht fassen.
Ich habe in meinem Wahlkreis gerade mit einer Beschwerde einer arbeitslosen Frau zu tun.
({5})
Sie ist 58 Jahre, beim Arbeitsamt nicht mehr vermittelbar.
Sie hat innerhalb Berlins einen Umzug vollzogen, hat
- das muss man sagen - ihre Adresse nicht ordnungsgemäß unverzüglich dem Arbeitsamt mitgeteilt und muss
nun ihre paar Hundert Mark Arbeitslosenhilfe zurückzahlen. Ich kann die Welt nicht mehr erklären. Das ist nicht
mehr vermittelbar.
({6})
Auch dass immer noch Luxusvillen an Topmanager der
Bankgesellschaft zu Spottpreisen vermietet sind, was
langfristig, wie man gelesen hat, zu Verlusten von 45 Millionen DM führt, ist eine kostspielige Geschmacklosigkeit. Keine Familie mit einem durchschnittlichen Einkommen erhält eine Wohnung unter der ortsüblichen
Miete. Ich kann auch dies nicht erklären.
({7})
Sollen die Folgen dieser Finanzmisere etwa wieder nur
die tragen, die nichts dafür können, die aber schon in den
vergangenen Jahren die Hauptlasten der Haushaltskonsolidierung hier in Berlin zu tragen hatten? Dieser Senat
kann nicht erwarten, dass sich die Berliner Bevölkerung
eine neue Runde von „Gürtel enger schnallen“ aufbürden
lässt.
({8})
Es wird einer neu legitimierten Mannschaft bedürfen, bis
sich Berlin nach einem ehrlichen Kassensturz und vorgelegter eigener Konsolidierungsstrategie wegen Hilfe an
den Bund und an die Ländergemeinschaft wenden kann.
Kreditfinanzierungs- und Zins-Steuer-Quote lassen an
der Unverzichtbarkeit eines solchen Gangs nach Canossa
allerdings kaum noch Zweifel. Wenn der Kollege Diller
als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, die hier in
Berlin ja ein Koalitionspartner ist, das heute noch abwiegelt, dann ist das sicherlich verständlich. Ich glaube aber,
dass das noch nicht das letzte Wort gewesen ist.
Hilfe des Bundes könnte zum Beispiel durch die Übernahme der Wohnungsbauschulden von vor 1989 in den
Erblastentilgungsfonds erfolgen. Es wäre an der Zeit, den
Bau der für die Berliner Bevölkerung unsinnigen, aber
teuren „Kanzler-U-Bahn“ zu stoppen und stattdessen einen attraktiven Nahverkehr auszubauen. Auch wenn der
Bund das Geld, das er für den Bau vorgeschossen hat, im
Rahmen des Hauptstadtfinanzierungsvertrages von Berlin
zurückforderte, würde Berlin durch ein neues Verkehrskonzept dennoch Hunderte von Millionen Mark sparen.
({9})
Auf den Prüfstand muss auch das Großflughafenprojekt Berlin/Brandenburg,
({10})
das ebenfalls zu einem Milliardengrab zu werden droht.
Wenn jetzt nicht ein Umsteuern eingeleitet wird, versinkt Berlin in einem Finanzchaos. Die Leidtragenden
wären einzig diejenigen, die am wenigsten auf öffentliche
Daseinsvorsorge verzichten können. Das darf nicht geschehen.
({11})
Für die CDU/CSUFraktion erteile ich dem Kollegen Dr. Wolfgang Schäuble
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind
nicht das Berliner Abgeordnetenhaus. Zunächst will ich
meinen Respekt für das bekunden, was der Finanzsenator
zu den aktuellen Schwierigkeiten, die uns alle beunruhigen und die wir mit Sympathie und zugleich mit Sorge
verfolgen, gesagt hat.
({0})
Er hat gesagt, dass Berlin die Probleme, die nun deutlicher
erkannt worden sind, natürlich in eigener Verantwortung
lösen muss.
Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich darauf hinweisen möchte, dass wir über die deutsche Hauptstadt
sprechen. Unabhängig davon, wer nun was gesagt hat,
was im Einigungsvertrag steht, was falsch und was richtig gemacht worden ist usw., muss man den Menschen
nicht nur in dieser Stadt, sondern auch in Deutschland erklären, dass die Folgen der Teilung der eigentliche Grund
für die finanziellen Schwierigkeiten dieser Stadt sind.
Westberlin war über 40 Jahre hinweg eine Insel. Wir haben die Folgen des Wegfalls dieses Status für die Struktur
dieser Stadt in wirtschaftlicher Hinsicht, was die Finanzkraft und deren Entwicklung anbetrifft, und darüber hinaus unterschätzt.
Lieber Herr Kollege Rexrodt, Sie waren bis 1989 Finanzsenator in dieser Stadt. Wir haben vieles zusammen
gemacht; dazu stehe ich auch. Wir müssten allerdings ein
wenig selbstkritischer darüber nachdenken, dass wir
möglicherweise nicht ausreichend bedacht haben, mit
welch großen Entwicklungshindernissen der westliche
Teil dieser Stadt in die Zeit nach dem Fall der Mauer gegangen ist.
Über den östlichen Teil der Stadt muss ich nichts mehr
sagen; das hat der Kollege Austermann hier schon ausreichend getan.
Verehrte Frau Kollegin Luft, auch Sie müssten ziemlich genau darüber Bescheid wissen. Das alles hat der
Stadt natürlich Spannungen und Veränderungen zugemutet, die ungeheuer groß sind.
Der Finanzsenator hat von der Steuerquote in Berlin
gesprochen. Das ist das eigentliche Problem dieser Stadt.
Natürlich wird das durch die aktuellen Schwierigkeiten
nicht besser, die man nicht leicht nehmen darf und die
man nicht entschuldigen kann. Nur, Wahlkampf, durch
den Sie die Wahlergebnisse der letzten Wahl korrigieren
wollen, sollten Sie nicht machen, vor allem nicht im Deutschen Bundestag.
Wenn Sie, Herr Kollege Wagner, die ehemalige Finanzsenatorin des Landes Berlin, Frau Fugmann-Heesing, so
loben, dann möchte ich Sie daran erinnern, dass diese von
Ihnen so gelobte Dame aufgrund einer Entscheidung,
glaube ich, der Berliner SPD nicht mehr Finanzsenatorin
ist. Insofern besteht hier Kontinuität.
Ich werbe nicht für die Feststellung der Haushaltsnotlage. Der Bundesfinanzminister und der Finanzsenator
des Landes Berlin haben übereinstimmend erklärt, dass
eine solche Haushaltsnotlage nicht vorliegt. Aber es gibt
Neuverhandlungen zwischen den Ländern und zwischen
dem Bund und den Ländern über den Finanzausgleich. Ich
stimme Ihrer Auffassung, Herr Staatssekretär Diller, ausdrücklich zu, dass die deutsche Hauptstadt nicht nur den
Bund, sondern den Bund und alle Länder etwas angeht.
Wenn wir es mit nationaler Solidarität und Verantwortung
ernst meinen und zum Beispiel als Baden-Württemberger
unsere Eigeninteressen richtig verstehen, dann dürfen wir
Berlin in seiner jetzigen schwierigen Lage nicht allein lassen. Wir müssen uns für die Solidarität des Bundes und
aller Länder mit Berlin einsetzen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Volker Kröning, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! In dieser Debatte, die eigentlich eine Diskussion im Berliner Abgeordnetenhaus
ersetzt, die aber, wie der letzte Beitrag gezeigt hat,
bundespolitisch durchaus relevant ist und die man deshalb
ernst nehmen sollte, ist zum Stichwort „Haushaltsnotlage“ schon das Notwendige gesagt worden. Sie wird vom
Land Berlin nicht geltend gemacht. Sie wird auch vom
Bund verneint. Ich möchte dem, was Kollege Wagner bereits unterstützend in Richtung des Parlamentarischen
Staatssekretärs gesagt hat, hinzufügen: Wir sollten auf
keinen Fall Haushaltsnotlagen herbeireden. Wir sollten
durch das Gerede über Haushaltsnotlagen auch keinen
Präzedenzfall für andere Gebietskörperschaften schaffen,
die es an Anstrengungen möglicherweise fehlen lassen.
({0})
Wer Haushaltsnotlagen vermeiden will, tut Recht daran, wie es Herr Finanzsenator Kurth erklärt hat, sich
nicht sozusagen in das Netz einer Haushaltsnotlage fallen
zu lassen. In diesem Zusammenhang müssen Sie, Herr
Rexrodt, mit dem Widerspruch fertig werden, dass Sie auf
der einen Seite die Haushaltsnotlage bejahen, aber auf der
anderen Seite Hilfe ablehnen.
({1})
- Doch, wörtlich! Das wird im Protokoll nachzulesen
sein. - Deshalb kommt es überhaupt nicht darauf an, die
Frage, wer an einer Haushaltsnotlage schuld sei, zum parteipolitischen Prügel zu machen. Ich warne davor, dieses
Thema mit Wahlkampfgelüsten zu verquicken.
Ich möchte noch etwas zu den Redebeiträgen des Finanzsenators Kurth und des Kollegen Austermann sagen.
Es ist - Herr Schäuble hat das bestätigt - deutlich geworden, dass es nicht in erster Linie um die Finanzkraft geht,
um einen Begriff zu verwenden, der in den Diskussionen
über den Finanzausgleich und die Haushaltsnotlagenhilfe
gebräuchlich ist. Vielmehr geht es in erster Linie um die
Wirtschafts- und Steuerkraft. Aber es ist unberechtigt, wie
Sie, Herr Austermann, zu sagen, der Bund sei lieblos. Es
ist schon aufgelistet worden, was der Bund außerhalb des
Finanzausgleichssystems für Berlin getan hat und tut. Wer
das diffamiert, trägt möglicherweise dazu bei, den Bund
etwas mehr in die Reserve zu treiben.
Das, was Berlin braucht, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe
und keine Hilfe in einer extremen Haushaltsnotlage - so
hat es das Bundesverfassungsgericht bei seiner Abgrenzung der Fälle Saarland und Bremen von normalen Fällen
formuliert -, schließt Solidarität und gezielte Hilfe ein.
Aber dabei muss auch klar sein, dass der Bund wahrscheinlich nichts Entscheidendes für die Stärkung der
Wirtschafts- und Steuerkraft des Landes Berlin tun kann.
Ich darf als Vertreter - ich sage wohl besser: als Angehöriger - eines Landes, das zurzeit unter Führung einer
großen Koalition aus Schwarz und Rot, im Vergleich zu
Berlin allerdings mit umgekehrter Rollenverteilung, einen ähnlichen Weg zurücklegt, sagen, dass es nicht nur
darauf ankommt, die Attraktivität einer Stadt für Touristen
aus aller Welt zu steigern. Vielmehr kommt es auch auf
eine ausreichend breite und starke Wirtschaftsstruktur an.
Da muss man sich zum Beispiel nach wie vor Gedanken darüber machen, warum in den letzten Jahren der industrielle Sektor noch nicht gestärkt werden konnte. Das
fällt mit in Ihre Verantwortung, lieber Herr Rexrodt.
Schon zu Zeiten der Teilung haben Sie in Wahrheit von
Subventionen gelebt. Ich denke dabei an die Lebensmittelindustrie, die damals von Bremen nach Berlin subventioniert worden ist und nach Wegfall der Subventionen
nicht ersetzt werden konnte.
Berlin hat also nicht nur ein Problem auf der Ausgabenseite, rufe ich dem Finanzsenator zu, sondern Berlin
hat auch ein Problem auf der Einnahmenseite, rufe ich allen übrigen Verantwortlichen im Senat zu, auch dem heutigen Wirtschaftssenator.
In diesem Zusammenhang, Herr Ströbele, habe ich
kein Verständnis dafür, wie Sie das Thema Flughafen angehen.
({2})
Denn zur Infrastruktur eines Landes, das wirtschaftlich
erstarken will, gehört vor allen Dingen - ({3})
- Ach so, wie konstruktiv. Dann darf ich Sie vielleicht sogar unabhängig von der Frage, wie gut dieser Flughafen
geplant wird, als Verbündeten in der Frage in Anspruch
nehmen, dass Berlin eine hauptstadtgemäße Verkehrsinfrastruktur zu Wasser, in der Luft - Frau Luft! -,
({4})
aber eben auch zu Lande braucht.
({5})
Frau Eichstädt-Bohlig, Sie haben zuerst das Thema Finanzausgleich angesprochen, und einige Redner sind dem
dann gefolgt. Als Vorsitzender des Sonderausschusses
Maßstäbegesetz und Finanzausgleichsgesetz, der sich
zurzeit mit dem Thema abmüht, will ich sagen: Auch die
Eigenanstrengungen Berlins, die bereits unternommen
werden und die wirklich weitgehend unabhängig von der
politischen Farbe sind, sind Voraussetzung dafür, dass
Berlin weiterhin einen fairen Platz im Finanzausgleich
behält. Das ist aber keine Lösung für hier und heute, und
das ist keine Lösung für die Zeit bis 2004 einschließlich,
sondern der neue Finanzausgleich wird 2005 in Kraft treten. Deshalb müssen wir Berlin auch auf seinem eingeschlagenen Weg unterstützen - das schließt Kritik nicht
aus, sondern ausdrücklich ein -, um die psychologischen
Voraussetzungen dafür zu gewinnen, bei der Neuordnung
des Finanzausgleichs gut abzuschneiden.
Als Vertreter - nicht nur als Angehöriger, sondern nun
auch als Vertreter - eines Stadtstaates will ich in diesem
Zusammenhang, an die Opposition und die führende Regierungspartei in Berlin gewandt, hinzufügen: Beenden
Sie bitte das Gerede um die Höhe der Einwohnerwertung.
Die Anerkennung der geltenden Einwohnerwertung für
die Stadtstaaten ist das Mindeste, mit dem Berlin auch bei
dem neuen Finanzausgleich aufsetzen muss. Es wäre sehr
schön, wenn bei der Konsensfindung, die zurzeit auf der
Schiene der Exekutive stattfindet, aber auch bei der Konsensfindung in unserem Hause darüber bald Einigkeit erreicht werden könnte.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Ich schließe mit den Worten:
Hilfe zur Selbsthilfe wird Berlin noch lange benötigen.
Wir hoffen, dass Berlin nicht in die Situation einer Haushaltsnotlage kommt und deshalb kein Thema der Haushaltsnotlagenvorbeugung und Haushaltsnotlagenhilfe
werden wird, die wir im künftigen Bundesrecht vorsehen
werden. Wir wünschen Berlin bis zur Neuordnung des Finanzausgleichs und darüber hinaus und in seiner Zukunft
- als Land oder als Stadt - das Glück des Tüchtigen.
Danke.
({0})
Nun erteile ich dem
Kollegen Josef Hollerith, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bezeichnend, dass gerade die PDS diese Aktuelle Stunde beantragt hat,
({0})
just jene Partei, die die Nachfolgeorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ist,
({1})
die also die Ruinen in den fünf neuen Bundesländern zu verantworten hat, die einen Wertberichtigungsbedarf von 1 000
Milliarden DM hinterlassen hat. Das ist die Bilanz der
Nachfolgepartei PDS, der Sozialisten, der Kommunisten.
({2})
Daran erkennt man auch die Absicht dieser Damen und
Herren. Die Absicht ist nicht Aufklärung, ist nicht sachliche Information. Die Absicht ist, zu zündeln, zu desinformieren, die Menschen hinters Licht zu führen. Das sind
die Kommunisten, wie wir sie kennen, wie wir sie in
40 Jahren Ruinierung der fünf neuen Bundesländer kennen gelernt haben.
({3})
Wir müssen über das Thema „Wertberichtigungsbedarf
bei der Bankgesellschaft Berlin“ sehr sachlich diskutieren.
Wie das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen festgestellt hat, geht es um 4 Milliarden DM. Das ist sicherlich
eine nicht unbedeutende Summe und es ist ganz bestimmt
notwendig, dass die Verantwortlichkeiten geklärt werden.
Der gesamte Vorstand und auch die Wirtschaftsprüfer, die
die Bilanzen testiert haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Außerdem ist es notwendig, dass der
Aufsichtsrat - er ist nicht einfarbig, sondern mehrfarbig
besetzt - zu seiner Verantwortung steht. Auch das gehört
zur sachlichen Aufklärung dieses Themas.
Darüber hinaus ist Sachlichkeit geboten.
({4})
- Das gilt auch dann, wenn die PDS es nicht akzeptiert. Wir alle und insbesondere diejenigen, die in der Immobilienwirtschaft fachlich zu Hause sind, wissen, dass in Berlin eine Überinvestition vor allem in Gewerbeimmobilien
stattgefunden hat. Aufgrund von Erwartungen an die
Hauptstadt und an die Sonderabschreibungen sind Gelder
in Gewerbeimmobilien investiert worden, die zunächst
am Markt vorbei gebaut worden sind,
({5})
was im Ergebnis natürlich zu Leerständen und zum Sinken der Mietpreise geführt hat.
({6})
Aktuell bedeutet das, dass Mietgarantien, die die Bankgesellschaft gegeben hat, abgerufen worden sind und dass
im Hinblick auf die von Leerständen betroffenen Immobilien eine Wertberichtigung nach den Prinzipien der
Bilanzwahrheit, des Niederstwertprinzips und des Vorsichtsprinzips stattfinden musste.
Aber es geht nicht nur um die Augenblicksbetrachtung
des Bilanzstichtags, sondern auch um die Mittelfristbetrachtung der Wertentwicklung dieser Immobilien. Es
steht dabei außer Zweifel, dass Berlin ein interessanter
Standort bleibt und dass der Wert dieser Immobilien in
fünf, in sechs oder in zehn Jahren wesentlich steigen wird,
sodass sich die heute getätigten Investitionen in Höhe von
4 Milliarden DM an die Bankgesellschaft refinanzieren
werden.
({7})
Es ist gut, dass der Senat und die Anteilseigner der Bankgesellschaft Berlin zur Bank stehen. Es ist gut, dass es daher keine sparkassenfreie Zone Berlin geben wird. Die
Sparkassen und die Berliner Bank können damit weiterhin eine wichtige Funktion für die finanzielle Unterstützung des Mittelstandes und der kleinen Leute erfüllen.
({8})
Ich möchte noch ein Wort zur Hauptstadtfunktion sagen. Ich bekenne ganz offen: Ich war einer derjenigen, die
am 21. Juni 1991 gegen den Umzug von Regierung und
Parlament nach Berlin gestimmt haben.
({9})
Ich sage in aller Ehrlichkeit: Seit meiner Zugehörigkeit
zum Deutschen Bundestag habe ich einmal falsch abgestimmt, und zwar bei dieser Entscheidung, als es also um
den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin
ging. Es ist gut und richtig, dass der Deutsche Bundestag
und die Regierung in Berlin tagen.
({10})
Es ist gut, dass wir in der Hauptstadt sind. Es ist gut, dass
das deutsche Volk in Berlin zeigt, dass es wieder vereinigt
ist und dass es sich als gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft der demokratischen Staaten der Welt zur
Souveränität bekennt.
Es ist richtig und notwendig, dass der Bund zu seinen
finanziellen Verpflichtungen im Hinblick auf die Funktion Berlins als Hauptstadt steht. Ich wünsche mir sehr
- das sage ich in Richtung der Bundesregierung -, dass
der Bund diese Verpflichtung ernster als bisher nimmt. Ich
wünsche mir, dass der Bund die volle Verantwortung für
die Repräsentanz Deutschlands in der Welt durch Berlin
wahrnimmt. Der Bund sollte nicht knauserig und kleinkrämerisch auf dem Geldsack sitzen, sondern Berlins
Hauptstadtfunktion angemessen dotieren. Ich wünsche
mir, dass der Bund mehr tut, unabhängig von der aktuellen Situation der Bankgesellschaft Berlin, deren Probleme
vom Senat und von den Anteilseignern gelöst werden.
Ich bedanke mich.
({11})
Auch Beifallsbekundungen müssen der Würde des Hauses angemessen sein.
Ich gebe nun dem Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPDFraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Krise der Bankgesellschaft Berlin ist die größte Turbulenz in der deutschen Bankenlandschaft seit dem Zusammenbruch der
Kölner Herstatt-Bank vor 27 Jahren. Es gibt einen positiven Unterschied: Heute braucht kein Kunde um seine Einlagen zu bangen; die Einlagen sind gesichert. Es gibt aber
eine Reihe von Parallelen, die negativ sind, zum Beispiel
das explosive Gemisch aus Leichtsinn, Verschleierung
und Klüngel.
Auch ein weiteres Merkmal der heutigen Situation ist
leider nicht untypisch. Wer trägt die Folgen der Fehlentscheidungen? Es sieht bisher nicht danach aus, als müssten sich diejenigen die größten Sorgen machen, die für die
Schieflage verantwortlich sind. Die ganz überwiegende
Mehrzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - bis weit
hinein in die Führungsebene - in den Filialen der Berliner
Sparkasse, der Berliner Bank und anderer Institute der
Bankgesellschaft haben nichts anderes getan, als korrekt,
kompetent und verantwortungsbewusst ihre Arbeit zu
leisten.
({0})
Viele von diesen sorgen sich heute um ihren Arbeitsplatz.
Auf der Vorstandsebene aber, also dort, wo die Entscheidungen zu verantworten sind, gelten offensichtlich
andere Regeln. Einige sind gegangen - gegangen worden.
Aber Herrn Landowsky zum Beispiel wurde ein vergoldeter Abschied bereitet: Zwei Jahre lang werden seine Bezüge in Höhe von 700 000 DM im Jahr weiter gezahlt;
außerdem hat er eine fürstliche Apanage von jährlich
350 000 DM bis an das Ende seiner Tage zugesagt bekommen. Auch dies ist eine Schieflage. Diese Schieflage
ist genauso ärgerlich wie die Schieflage der Bank selbst.
({1})
Es wird zu prüfen sein, ob es jenseits der normalen Verantwortung, die jeder Kaufmann zu tragen hat, Unregelmäßigkeiten gibt, mit denen sich die Staatsanwaltschaft
befassen muss. Der Vorwurf der Untreue steht im Raum.
Es wird aber auch zu fragen sein, ob nicht diese Bezüge,
wie eben geschildert, sozusagen aus kaufmännischer Hygiene gekürzt werden müssen. Denn es kann nicht sein,
dass die Stadt als Eigentümer Kredite in Höhe von 4 Milliarden DM aufnehmen muss und diejenigen, die die Verantwortung für die Fehlentscheidungen tragen, materiell
völlig unbehelligt herausgehen. Natürlich wird die Kürzung der Bezüge von Herrn Landowsky die Bank materiell nicht sanieren. Ein Beitrag ist dennoch erforderlich.
({2})
Das Gleiche gilt für die Wirtschaftsprüfer, die für sehr
viel Geld eine Unternehmung dieser Art prüfen. Nach
dem Handelsgesetzbuch haftet der Wirtschaftsprüfer bei
börsennotierten Unternehmen bis 8 Millionen DM im
Falle von vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzung der
Pflichten bei der Prüfung. Dieses Geld muss in Anspruch
genommen werden. Auch mit diesen 8 Millionen DM
kann man die Sanierung der Bank nicht leisten. Aber es
gehört zum Prinzip der Verantwortung und der Haftung,
dass Wirtschaftsprüfer korrekt arbeiten.
({3})
Wenn dieses Geld nicht in Anspruch genommen wird,
wird der Bundestag zu prüfen haben, ob wir die Gesetzgebung ändern müssen.
Der nächste Punkt betrifft die Aufsichtsräte. Natürlich
kann man deren Verantwortung nicht beiseite schieben.
Ich sage aber auch: Die Grundlage für das Handeln von
Aufsichtsräten sind die Berichte der Prüfer. Dort müssen
wir ansetzen. Ich gebe allerdings zu: Mir reicht es nicht
aus, zu lesen, der eine oder andere habe im Aufsichtsrat
Bedenken geäußert. Man muss auch die Kraft haben, das
kurze Wort „Nein“ aussprechen zu können.
({4})
Welche Konsequenzen haben wir sonst im Bundestag
zu ziehen? Wir werden prüfen müssen, ob die Bankenaufsicht ausreichend gearbeitet hat. Ich sage zwar nicht,
dass die Bundesbank und das Bundesaufsichtsamt für das
Kreditwesen gut gearbeitet hätten, sie haben aber besser
gearbeitet als alle anderen Kontrollinstanzen.
Eine letzte Bemerkung. Herr Kollege Schäuble, ich
freue mich, dass Sie neuerdings auch ein Herz für die materielle Ausstattung der Stadt haben.
({5})
Ich weiß, dass Sie ein Freund des Hauptstadt-Beschlusses
waren. Dass Sie sich aber, Herr Kollege Schäuble, als
Bundeskanzler Kohl die Bundesregierung geführt hat,
dafür eingesetzt hätten, dass die Unterstützung Berlins
großzügiger ausfällt, als sie tatsächlich ausgefallen ist, ist
mir nicht bekannt geworden.
({6})
Nach meiner Erinnerung hat auch der Kollege
Austermann damals im Haushaltsausschuss nicht viel
dazu gesagt.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen.
Ja. - Ich habe nur eine Bitte,
da sich die Kollegen Schäuble und Hollerith heute so
warmherzig für die materiellen Belange der Hauptstadt
eingesetzt haben: Tun Sie in Baden-Württemberg und
Bayern das, was Sie tun können, damit im Rahmen des
bundesstaatlichen Finanzausgleichs die Belange der
Stadtstaaten ausreichend gewürdigt werden.
({0})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) zu dem Antrag des Abgeordneten Werner Lensing und weiterer Abgeordneter
der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Uta
Titze-Stecher und weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Ekin Deligöz und
weiterer Abgeordneter der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abgeordneten Hildebrecht Braun ({1}) und weiterer
Abgeordneter der Fraktion der F.D.P.
Für einen verbesserten Nichtraucherschutz am
Arbeitsplatz
- Drucksachen 14/3231, 14/5325 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ekin Deligöz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Ruth Fuchs, Petra Bläss,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Verbot der Werbung für den Tabakkonsum
- Drucksachen 14/3318, 14/6174 Berichterstattung:
Abgeordneter Hubert Hüppe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wer anderes als meine Kollegin Uta Titze-Stecher von
der SPD-Fraktion könnte anfangen. Ich erteile Ihnen das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier wird keine
Cohiba gezeigt, sondern meine äußerst kleine und feine
Brille.
({0})
- Ja, das denke ich mir, die Cohiba sei Ihnen unbenommen, aber nicht in diesen Räumen.
Der Anlass für die Beratung des vorliegenden Antrags
für den Nichtraucherschutz ist der heute stattfindende
Weltnichtrauchertag. Das Motto lautet: Keine dicke
Luft am Arbeitsplatz - auch Passivrauchen macht krank.
({1})
Ich denke, dieser Slogan passt ausgezeichnet zum heutigen
Antragsvorhaben. Wenn Sie meiner Argumentation und der
der Kolleginnen und Kollegen, die nach mir sprechen, folgen - dies erhoffen und erbitten wir -, entspannt sich die Situation in Zukunft. Auch die Deutsche Krebshilfe hat sich
in Aufrufen mit einem Forderungskatalog an uns gewandt,
der den Aspekt des tabakfreien Arbeitsplatzes betont.
Gestatten Sie mir zu rekapitulieren: Wir wenden uns ja
nicht im ersten Anlauf an Sie, sondern bereits im dritten.
Seit drei Legislaturperioden bemüht sich eine interfraktionelle Initiative, die mit Ausnahme der PDS aus allen
Fraktionen besteht, um eine Regelung. Die PDS stimmt
zwar immer mit, wird aber aus ganz bestimmten Gründen
von der CDU/CSU nicht als Mitunterzeichnerin akzeptiert; ich hoffe, dies war das letzte Mal. Am Anfang stand
ein großer Gesetzentwurf, welcher sehr viele Regelungen
treffen wollte, angefangen bei Hotels über Gaststätten bis
hin zur Situation an den Arbeitsplätzen. Mit diesem Gesetzentwurf sind wir auf dem Bauch gelandet: Der erste
Vorschlag, den wir Ihnen hier unterbreitet haben, kam nur
bis zur ersten Lesung nachts um halb zwei. Danach endete
die Legislaturperiode. Der zweite Versuch kam immerhin
bis zur zweiten und dritten Lesung. Es gab eine richtige
Abstimmungsschlacht. Die Tabaklobby hatte zuvor eingegriffen, sich Büro für Büro vorgenommen - man muss
sagen: mit Erfolg, wie man am Ergebnis ablesen konnte.
Denn sonst ständen wir nicht hier und würden uns nicht
wieder bemühen, einen klitzekleinen Schritt in die Richtung eines gesetzlichen Nichtraucherschutzes in einem
Bereich zu beschließen, der für Menschen extrem wichtig
ist, nämlich der Arbeitsplatz.
Wir haben aus der jahrelangen Debatte der Vergangenheit gelernt. Wir haben beispielsweise durch Gespräche
mit dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband und
der Tourismusbranche gelernt - dieses Argument ist eigentlich stichhaltig und nachvollziehbar -, dass man nicht
gezwungen ist, in einem verräucherten Lokal sein Essen
zu sich zu nehmen oder ein Hotelzimmer zu beziehen, das
vom Vorgast noch stinkt. Das heißt, hier setzen wir Vertrauen in die Selbstverpflichtung der Wirte des Hotel- und
Gaststättenverbandes, die zusagen, dies nach Angebot
und Nachfrage zu regeln. Also liegt es an uns, zu sagen:
„Herr Wirt, die Speisekarte würde mich ja reizen, aber
hier stinkt es mir zu sehr“, oder im Hotel konsequent nach
einem Nichtraucherzimmer zu fragen. Wenn die Nachfrage entsprechend ist, wird sich der Hotelbesitzer darum
bemühen, dieses Angebot zu erhöhen.
So weit zu unserem heutigen Vorschlag, den die KolleJörg-Otto Spiller
gin Barnett aus meiner Fraktion noch aus Sicht des Arbeitsschutzes im Detail erklären wird.
Ich meine, dass uns auch die Beschlusslagen der Bundesorgane Rückenwind verschaffen. Der Bundesrat, also
die Länderkammer, hat in der Vergangenheit mehrfach einen gesetzlich verankerten entschiedenen Nichtraucherschutz verlangt. Die Bundesregierung hat noch unter Ihrer Ägide - ich sage dies an die jetzige Opposition
gerichtet - bereits 1992 in ihrer Konzeption „Für bessere
Luftqualität in Innenräumen“ festgestellt, es seien administrative und gesetzliche Maßnahmen zum Schutz von
Nichtrauchern in geschlossenen Räumen notwendig.
({2})
Nun kann man natürlich fragen: „Was macht denn eigentlich an der Zigarette so krank? Ein bisschen Belästigung ist doch nicht schlimm!“ Inzwischen ist klar, dass es
nicht nur um Belästigung geht, sondern um Erkrankungen,
({3})
und zwar nicht nur bei denen, die aktiv rauchen. Da
könnte man sich auf den Standpunkt stellen: Jeder entscheidet selbst, womit er sich um die Ecke bringt. Abgesehen davon, dass die Solidargemeinschaft dann die Behandlung bezahlt, muss jeder, der zur Zigarette greift,
wissen: Der Tabakrauch - es geht ja auch um Pfeife und
Zigarre, nur wird da weniger inhaliert als bei der Zigarette - ist verantwortlich für 80 Prozent aller Lungenkrebserkrankungen, für 80 bis 90 Prozent aller Atemwegserkrankungen - Frau Bergmann-Pohl, Sie als
Lungenspezialistin werden dazu sicherlich Stellung nehmen -, für 40 Prozent aller Herzerkrankungen und für
30 Prozent aller Krebserkrankungen, vom Kehlkopfkrebs
über Blasen-, Nieren-, Leber- bis zum Bauchspeicheldrüsenkrebs. Letzteres erfuhr ich erst bei der erneuten
Vorbereitung auf dieses Thema; inzwischen hat die Wissenschaft neue Ergebnisse aufs Tapet gebracht.
Das rechtfertigt nun wirklich, dass sich der Bundesgesetzgeber der Sache annimmt
({4})
und fragt: Wo ist denn der Mensch, vor allem der, der sich
entschieden hat, nicht zu rauchen, am längsten und am
konzentriertesten dem Rauch ausgesetzt, wenn es ihn
trifft, dass sein Arbeitskollege starker Raucher ist? Am
Arbeitsplatz. Laut Umfragen sind 75 Prozent der Deutschen für ein Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden, in
Verkehrsmitteln und - man höre und staune - am Arbeitsplatz.
({5})
80 Prozent der Nichtraucher - das versteht sich aber von
selbst - und sogar 35 Prozent der starken Raucher wollen
ein Rauchverbot am Arbeitsplatz. Mich hat die Argumentation von Herrn Gysi einmal sehr beeindruckt, der sagte,
obwohl er gern raucht: „Man muss das gesetzlich regeln.
Man muss ja die armen Nichtraucher schon vor mir schützen.“ Dem kann ich mich nur anschließen.
({6})
Nun noch einige Daten und Fakten, bevor ich auf die
allgemeine Rechtsprechung eingehe. Tabakrauch enthält
4 000 Bestandteile, davon 40 kanzerogene. Wer es noch
nicht weiß, soll erfahren, was im Tabakrauch enthalten ist.
Von Nikotin und Teer wissen inzwischen alle durch die
neue EU-Tabakprodukt-Richtlinie. Sie reduziert den Gehalt an Nikotin und Teer und hält die Aufschriften auf den
Schachteln etwas stringenter. Kurz und knapp und
knackig heißt es ab 2004: Rauchen tötet. Wie wahr! Rauchen verursacht Krebs; das wissen wir alle. Das gilt aber
nicht nur für die Aktivraucher, sondern auch für die Passivraucher. Wenn Sie sich zwei Stunden in einem stark
verräucherten Raum aufhalten, ist es so, als ob Sie eine
Zigarette rauchen. Jeder starke Raucher weiß, dass er sich
um 14 Jahre seines Lebens bringt. Aber die Raucher sagen mir immer: Seid doch froh; das spart Kosten.
({7})
Nur, bis es so weit ist, sind die Kosten für die Behandlung
der Folgen des Rauchens horrend.
Wenn man also weiß, dass im Tabakrauch Formaldehyd,
Dioxin, Salpetersäure, Phosphorsäure, Furane sind
- alles eklige Sachen -, wenn man weiß, dass die amerikanische Umweltbehörde EPA Tabakrauch als Umweltgift Nummer eins einschätzt, wenn man weiß, dass auch die
MAK-Kommission, die die Gesundheitsgefährlichkeit
von Stoffen am Arbeitsplatz analysiert, sagt, dass Tabakrauch in die A-Klasse der kanzerogenen Stoffe gehört, dann
ist es eigentlich überfällig, dass wir zumindest für den Arbeitsplatz eine Regelung treffen. Das soll heute passieren.
({8})
Nun kommt uns die Zigarettenindustrie, kommen uns
aber gelegentlich auch Kollegen mit dem Argument:
„Warum muss es überhaupt eine Regelung sein?“ Es ist
nur eine klitzekleine Verordnung; es ist noch nicht einmal
ein veritables Gesetz. „Wir sind doch alle zivilisiert; man
kann mit mir sprechen.“ Ich erlebe diese Woche im Auswärtigen Ausschuss selbstverständlich,
({9})
dass der Kollege I. von der F.D.P., wenn ich sage: Uli, du
weißt doch, ich bin allergisch, oder der Kollege G. von der
PDS, wenn ich sage: Ich kann es nicht aushalten, die Zigarette sofort ausdrückt.
({10})
Die Raucher sind ja keine Unmenschen. Nur, der gute
Wille hält keine zehn Minuten an, weil der Raucher nikotinabhängig ist. Er kann es nicht, obwohl er es will.
({11})
Deswegen ist es Pustekuchen mit dem Appell an die
Rücksichtnahme oder dem Appell unter zivilisierten
Menschen. Sagen Sie das einmal im Charterflugzeug von
der ersten bis zur letzten Reihe; in der Zwischenzeit sind
Sie an Ihrem Feriendomizil vorbeigeflogen.
Also sind wir auf eine praktikable Regelung angewiesen, die nicht mehr auf die Position des Bittstellers, des
Nichtrauchers, und auf das Gefühl des Rauchers abstellt,
er müsse sich verteidigen: Eigentlich will ich es mir abgewöhnen, gut ist es auch nicht, es ist für mich und auch für
den Nichtraucher schlecht. Sie wissen, dass der Konflikt
schon in den Familien stattfindet; aber da wollen wir nicht
hineinfunken.
Wir haben als Bundesgesetzgeber ausdrücklich die
Kompetenz für die Regelung der Verhältnisse am Arbeitsplatz. Deswegen brauchen wir hier eine ganz klar definierte Situation. Die Rechtsprechung ist inzwischen
weiter als wir, der Bundesgesetzgeber. Das Landesarbeitsgericht Hessen hat bereits 1994 klipp und klar gesagt,
dass ein Arbeitnehmer das Recht auf einen tabakfreien Arbeitsplatz hat, und zwar auf Dauer, also nicht nur, solange
er eine Bronchitis hat.
Das Bundesarbeitsgericht hat bereits 1998 festgestellt,
dass es nicht unverhältnismäßig ist, wenn Betriebsrat und
Unternehmensführung ein totales Rauchverbot erlassen,
wenn damit das Ziel des Gesundheitsschutzes verfolgt
wird. C’est ça; das ist der Fall. Wir brauchen das nicht
mehr zu beweisen; langjährige Untersuchungen, wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen Bände.
Mit unserer Gesetzeslage befinden wir uns am
Schwanz der Entwicklung. 14 von 16 EU-Ländern haben
bereits Regelungen, und zwar weit umfassendere. Darüber, wie das manchmal in der Praxis aussieht, besonders
in Gaststätten und Cafés in Frankreich, decken wir mal
den Mantel der Nächstenliebe.
Unser Antrag bietet, glaube ich, die richtige Balance
zwischen der Lust des Rauchers auf eine Raucherpause
und dem Recht des nichtrauchenden Beschäftigten auf tabakfreie Luft. Denn niemand verbietet es einem Arbeitgeber, zur Motivation seiner Beschäftigten die Möglichkeit eines Raucherpäuschens zu schaffen; aber in Zukunft
ist die tabakfreie Luft der Normalfall und das weiß jeder.
({12})
Im Gesetz heißt es:
Der Arbeitgeber hat die erforderlichen Maßnahmen
zu treffen,
- eine Journalistin fragte mich heute im Rahmen eines Interviews: „Und wenn er das nicht will?“, worauf ich sagte:
Er hat gar keine Wahl, er muss damit die nichtrauchenden Beschäftigten in Arbeitsstätten wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch
Tabakrauch geschützt sind.
„Wirksam“ ist klar. Wie er das macht, welche Maßnahmen er ergreift - seien es solche lüftungstechnischer Art,
sei es die räumliche Trennung -, das ist dann seine Sache.
Denn die betriebliche Vielfalt vor Ort macht jeweils spezifische Lösungen erforderlich.
Ich finde diese Regelung ausgesprochen mittelstandsfreundlich. Deswegen habe ich von der F.D.P. eigentlich
nur Zustimmung und nicht drei Minuten Zustimmung und
drei Minuten Gegenwind erwartet.
Im nächsten Absatz nehmen wir eine kleine Einschränkung hinsichtlich der Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr vor, und zwar aus der Erfahrung der jahrelangen Debatte mit Hotel- und Gaststättenvertretern. Wir
sagen, dass der Arbeitgeber Schutzmaßnahmen nach
Abs. 1 nur insoweit zu treffen hat, als es die Natur des Betriebs und die Art der Beschäftigung zulassen. Nun betrifft
dies natürlich die Beschäftigten in Gaststätten, also die
Bedienung bzw. den Kellner. Mich tröstet auch nicht das
Argument: Die wissen ja, auf was sie sich einlassen. Ich
kann nur darauf bauen, dass ein am Wohl, an der Gesundheit und an der Arbeitsmotivation seiner Beschäftigten interessierter Arbeitgeber entschiedene Maßnahmen zum
Beispiel lüftungstechnischer Art ergreift, damit auch
diese Gruppe von Berufstätigen nicht allzu sehr vom Tabakrauch geschädigt wird.
({13})
- Gott sei es geklagt; aber es ist so: Wir können und wollen das Rauchen dort nicht abschaffen. Denn es hat sich
eine Gaststätten- und Kneipenkultur entwickelt, in der es
Usus ist, vor, zwischen und nach der Mahlzeit ein Pfeifchen, eine Zigarre oder eine Zigarette zu rauchen.
({14})
Mir geht es nur noch darum - das ist vielleicht eine Perspektive -, den Einstieg in die Raucher- und Suchtkarriere
so weit wie möglich nach hinten zu verschieben. Ich sage
Ihnen gleich von dieser Stelle aus: Die nächste Hürde, die
wir hoffentlich gemeinsam überwinden werden, wird eine
Verbesserung des Jugendschutzes in Form des Verbots
der Abgabe von Zigaretten an unter 16-Jährige sein.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich habe schon die Lampe
blinken sehen, die auf das Ende meiner Redezeit hinweist. - Ach, Herr Präsident, Sie führen jetzt den Vorsitz.
({0})
Ja, der
Vorsitz hat gewechselt.
Herr Präsident, ich habe
nämlich gerade gedacht: Die Stimme ist doch männlich;
das kann doch nicht mehr Frau Fuchs sein.
Aber
bei mir läuft dieselbe Uhr. Insofern kann ich Ihnen nicht
helfen.
Wir nehmen uns als Nächstes den Jugendschutz vor - das haben wir nicht vergessen -, und zwar in der Erkenntnis, dass die Suchtkarrieren
immer früher begonnen werden.
Ich darf zum Abschluss all denen danken, die diesen
langen Weg des Nichtraucherschutzes von 1990 bis heute
mitgegangen sind. Dank an Herrn Sauer und an Burkhard
Hirsch, die nicht mehr im Parlament vertreten sind, Dank
insbesondere an den Kollegen Lensing von der
CDU/CSU, der dieses Gebiet federführend, vorzüglich
und auf kollegialste Art und Weise hier vertreten hat, und
Dank an die Damen in unseren Büros. Unsere Bürodamen
rauchen leidenschaftlich; wir haben es ihnen bis heute
noch nicht verboten.
({0})
Das Wort
hat nun der Kollege Werner Lensing von der CDU/CSUFraktion.
Werner Lensing ({0}) (vom Abg. Hildebrecht
Braun ({1}) ({2}) mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Um
es von vornherein in der gebotenen Klarheit zu sagen: Der
interfraktionellen Nichtraucherschutzinitiative geht es
überhaupt nicht darum, all unseren Raucherinnen und
Rauchern auf dem Gesetzeswege den Kampf anzusagen.
Nein, wir wünschen ihnen vielmehr Gesundheit, und zwar
eine lang andauernde.
({3})
Wir wollen nämlich auf keinen Fall ein eigenes
Nichtraucherschutzgesetz! Wir ändern lediglich die gültige Arbeitsstättenverordnung.
({4})
Damit haben wir richtige und ganz konkrete Konsequenzen aus den vormaligen, bekanntlich nicht von durchschlagendem Erfolg gekrönten Bemühungen gezogen.
Allerdings hatten wir bei unserer Arbeit zwei Probleme: Wir müssen einen Entscheidungskonflikt akzeptieren. Der Entscheidungskonflikt besteht darin, dass
wir einerseits gemäß Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes den
Anspruch eines jeden Einzelnen auf die freie Entfaltung
seiner Person und damit zugleich das Recht auf die freie
Entscheidung, rauchen zu dürfen, zu akzeptieren haben,
dass aber andererseits just im gleichen Art. 2 durch Abs. 2
das Recht des Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert ist.
({5})
Dieses grundgesetzlich geschützte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird allerdings massiv verletzt, solange Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend vor den
Folgen des Passivrauchens am Arbeitsplatz geschützt
werden. Daher wird der berechtigte Ruf nach einer gesetzlichen Regelung verständlicherweise immer lauter.
Doch - um dies gleich deutlich und unüberhörbar erneut
zu artikulieren - wir wollen in dieser Frage nicht mehr
Staat als eben notwendig. Daher befürworten wir lediglich bereichsspezifische Präzisierungen innerhalb der bereits gültigen Arbeitsstättenverordnung.
Nun wird behauptet - Sie kennen das alle und ich
denke, ein jeder von Ihnen hat das erlebt -, die Frage des
geeigneten Nichtraucherschutzes sollte konkret vor Ort
auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen und im Geiste
der Toleranz einvernehmlich geklärt werden.
({6})
Gewiss, Toleranz kann man von den Rauchern lernen,
schließlich hat sich noch nie ein Raucher über einen Nichtraucher beschwert.
({7})
Ich wäre geradezu froh und dankbar, wenn es zu diesen
willkommenen freiwilligen Absprachen tatsächlich käme
und somit eine solche Initiative von vornherein unnötig
und damit obsolet wäre. Doch leider ist diese idealisierte
Vorstellung lediglich ein schöner Traum. Bedauerlicherweise entspricht sie in keiner Weise der realen Arbeitswelt. Ich könnte Beispiele dafür benennen, wenn mir am
Schluss noch Redezeit eingeräumt werden sollte.
An dieser Stelle möchte ich Folgendes sagen - Frau
Ute Titze-Stecher hat bereits in erfreulicher Klarheit darauf hingewiesen -: Direkt zu Beginn der 14. Legislaturperiode hat sich unsere interfraktionelle Nichtraucherschutzinitiative gebildet. Deren Konzept - das scheint mir
wichtig zu sein - unterscheidet sich grundlegend von dem
aller Nichtraucherschutzinitiativen in den vergangenen
Legislaturperioden. Unser Konzept wird von den folgenden Leitsätzen bestimmt:
Erstens. Wir wünschen - wie schon erläutert - kein eigenständiges Nichtraucherschutzgesetz, sondern lediglich Veränderungen in bereits bestehenden Verordnungen oder Gesetzen.
Zweitens. Wir streben keine rigide Bußgeldbewehrung
an, aber wir unterstützen aus Überzeugung geeignete
Hilfsangebote an die Raucherinnen und Raucher auf der
Basis von Prävention und einem Programm zur Raucherentwöhnung.
Diese von uns gewählte, im Übrigen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung abgestimmte
Formulierung des schon erwähnten neuen § 3 a der Arbeitsstättenverordnung hat vier - in dieser Frage bin ich
selbstverständlich ganz objektiv - wesentliche Vorteile:
Erstens. Sie ist eindeutig und schafft dadurch die überfällige Rechtsklarheit bezüglich des Nichtraucherschutzes am Arbeitsplatz.
Zweitens. Sie ist allgemein und lässt dadurch den Arbeitgebern und Betriebsräten hinsichtlich der Wahl der
konkreten betrieblichen Maßnahmen den angesichts der
Vielgestaltigkeit der betrieblichen Verhältnisse erforderlichen Regelungsspielraum.
Drittens. Sie ist moderat, da sie das Rauchen am Arbeitsplatz entgegen früherer Versuche nicht generell verbietet, sondern lediglich Nichtraucher schützt.
Viertens. Sie ist zumutbar, weil mit dem neu zu schaffenden § 3 a Abs. 2 der Arbeitsstättenverordnung - auch
schon kurz erwähnt - für Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr eine Regelung getroffen ist, die auf keinen
Fall - das wollten wir auch um jeden Preis verhindern mittelstandsfeindlich ist.
Nach meiner Einschätzung gibt es zu dem heute zur
Abstimmung anstehenden Antrag keine sinnvolle Alternative.
({8})
Dessen bin ich mir sicher. Bereits 1989 hatte die EU ihre
Mitgliedstaaten aufgefordert, endlich die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Nichtraucherschutz zu schaffen. Dies wurde mittlerweile in immerhin 14 EU-Staaten
umgesetzt. Nur Deutschland hinkt bei dem erforderlichen
Schutzstandard immer noch hinterher,
({9})
obgleich hier mehr Menschen an den Folgen des Rauchens als durch Mord, Totschlag, Verkehrsunfälle und
Aids zusammen sterben. Daher dürfen und können wir
uns unserer Verantwortung nicht länger entziehen.
Durch unseren Antrag wird in Deutschland endlich ein
Schutzanspruch der Bürgerinnen und Bürger vor den Gesundheitsgefahren des Passivrauchens gesetzlich verankert, wie er bereits in über 90 Staaten der Erde besteht.
({10})
Nachdem alle mit dem Antrag befassten Ausschüsse,
aber wirklich alle, diesem mit überwältigender Mehrheit
zugestimmt haben, bitte ich Sie heute ebenso herzlich wie
nachdrücklich, bei der nun anstehenden entscheidenden
Abstimmung mitzuhelfen, dieses fürwahr historische Projekt erfolgreich abzuschließen. Denn jede einzelne
Stimme zählt.
Diejenigen unter Ihnen, Herr Dr. Kolb, die unserer Initiative trotz unserer Bemühungen und unserer qualifizierten Begründung
({11})
- die kann ich schon ahnen, weil ich sie früher schon einmal gehört habe, - nicht folgen möchten, verdienen meinen Respekt für ihre Entscheidung. Gleichwohl sollte
aber derjenige, der nicht bereit ist, diese Initiative zu unterstützen,
({12})
freimütig einräumen, dass er dann auch keinerlei Nichtraucherschutz wünscht, weder heute noch morgen.
({13})
Natürlich bin ich - wie vermutlich Sie alle hier, wir
müssen ja sehen, dass wir wirklich Niveau in die Debatte
bekommen - ein großer Verehrer unseres Dichters
Johann Wolfgang von Goethe. Gleichwohl kann ich ihm
bei aller Verehrung nicht vollständig zustimmen, obgleich
ich Ihnen, auch den Raucherinnen und Rauchern, sein
Zitat nicht vorenthalten möchte, ohne allerdings hierbei
- ich bin ja Vertreter der C-Partei und damit der christlichen Caritas täglich verpflichtet - die Anhänger des Nikotins in unzulässiger Weise verletzen zu wollen. Ich zitiere kurzerhand Goethe:
Das Rauchen macht dumm; es macht unfähig zum
Denken und Dichten.
({14})
Es ist auch nur für Müßiggänger, für Menschen, die
Langeweile haben ... Aber es liegt auch im Rauchen
eine arge Unhöflichkeit, eine impertinente Ungeselligkeit. Die Raucher verpesten die Luft weit und breit
und ersticken
- als Schmauchlümmel jeden honetten Menschen, der nicht zu seiner
Verteidigung zu rauchen vermag.
({15})
Ich werde, soweit ich die Chance habe, Ihren Beifall an
Goethe weiterleiten. Aber ich möchte deutlich sagen: So
weit gehe ich natürlich nicht, beileibe nicht. Ich lasse
mich lieber von dem erprobten Sprichwort leiten, das da
lautet: Wer mit einer neuen Idee kommt, wird beim ersten
Mal verlacht, beim zweiten Mal vehement bekämpft und
beim dritten Mal will jeder Vater oder Mutter gerade dieses Gedankens gewesen sein.
In diesem Sinne bedanke ich mich.
({16})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Sylvia Voß vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte den Goethe heute auch zitieren:
Man muss das Wahre immer wieder sagen, weil auch
der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird.
Ein Raucher, egal, ob Mann oder Frau, gefährdet seine
Gesundheit. Das weiß er, das wissen wir. Immerhin hat
die europäische Politik schon vor Jahren dafür gesorgt,
dass der Raucher daran vorsichtshalber auch noch erinnert wird. Auf jeder einzelnen Schachtel seiner Glimmstängel kann er lesen: Rauchen gefährdet die Gesundheit.
({0})
Aber wer kümmert sich eigentlich um die Nichtraucher? Die giftigen Stickoxide, Formaldehyd und die vielen anderen Substanzen - es sind Hunderte bekannte und
zum Teil in ihrer Wirkung auch noch völlig unbekannte werden von Passivrauchern genauso inhaliert wie vom
aktiven Raucher.
Wenn der Kollege während der Arbeitsbesprechung
meint, den „Duft der großen weiten Welt“ verströmen zu
müssen, dann werden drei Viertel des Qualms seiner Zigarette nicht von ihm inhaliert. Diese drei Viertel enthalten eine gefährliche Mischung von Krebs erregenden
Stoffen, die sich dann im Raum verflüchtigen. Sein Kollege Nichtraucher muss diesen so genannten Nebenstromrauch gezwungenermaßen inhalieren. Damit - um
auf die EU zurückzukommen - gefährdet Rauchen auch
seine Gesundheit. Deshalb versuchen seit mehr als sieben
Jahren zahlreiche Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen, am Arbeitsplatz mehr Schutz für die Nichtraucher zu
erreichen. Ein Erfolg blieb bisher aus, obwohl es keine
guten Argumente dafür gibt, die rechtlose Situation der
Nichtraucher fortzuschreiben.
({1})
Aus Umfragen ist bekannt, dass über 75 Prozent - dem
„Tagesspiegel“ vom vergangenen Sonntag zufolge sogar
82 Prozent - der Nichtraucher sagen: Wir brauchen ein
gesetzliches Rauchverbot am Arbeitsplatz. Diese hohen
Zahlen zeugen meines Erachtens davon, dass ein jeweiliges Aushandeln eines Rauchverbots in Sitzungen oder
bei anderen Gelegenheiten am Arbeitsplatz eben oft nicht
gelingt.
({2})
Deshalb geht auch der Abgeordnete der CDU/CSUFraktion Ernst Hinsken fehl mit seinem Argument, der
Staat müsse die Mündigkeit des Bürgers respektieren, das
er in der heutigen Ausgabe der „Bild“-Zeitung äußert.
({3})
Der vorliegende Antrag, um dessen Annahme ich nichtrauchende und rauchende Kolleginnen und Kollegen gleichermaßen herzlich bitte, mindert nämlich in keiner
Weise die Mündigkeit des rauchenden Mitbürgers - wie
auch unsere Debatte eigentlich keine zwischen Nichtrauchern und Rauchern ist.
Worum es in diesem Fall geht, ist die Anerkennung der
Mündigkeit auch des Nichtrauchers. Sein Recht auf einen gesunden Arbeitsplatz zu stärken ist Anliegen der
wenigen neuen Passagen der Arbeitsstättenverordnung.
Aufgeklärte oder auch einfach nur rücksichtsvolle Menschen bzw. Raucher respektieren im Wissen um die Risiken des Rauchens und Passivrauchens dieses Recht auch.
Der Raucher Hans-Jörg Vehelewald schreibt heute in der
„Bild“-Zeitung: „Wer im Büro, im Auto, im Fahrstuhl
qualmt ohne Rücksicht auf andere, ist ein Flegel.“
({4})
Die Entmündigung der Nichtraucher durch diese Flegel
zumindest am Arbeitsplatz zu beenden, darum geht es
heute.
Der Staat kann dies nicht nur regeln, wie ein Blick in
viele andere Länder leicht beweist, sondern es ist auch die
vornehme Pflicht des Gesetzgebers, jene zu stärken, die
sich entschieden haben, gesund zu leben.
({5})
Das liegt im Übrigen auch im Interesse des Arbeitgebers, der in die profitable Pflicht genommen wird, seinen
nichtrauchenden Beschäftigten, die in den Betrieben
schließlich zumeist die Mehrheit bilden, eine gesündere
Arbeitsumgebung zu ermöglichen. Es entstehen ihm,
wenn überhaupt, nur sehr geringe Kosten. Dafür aber wird
er sich bald über Personal freuen können, das durch ausbleibende Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindel, Hustenanfälle und andere Atembeschwerden, die
durch das Passivrauchen hervorgerufen werden, leistungsfähiger arbeitet. Auch unserem Krankenversicherungssystem ist es bestimmt nicht abträglich, wenn das
Lungenkrebsrisiko gesenkt wird. Denn bei langfristig
exponierten Passivrauchern lässt sich zum Beispiel ein
signifikanter Anstieg eines Tumorantigens, des Carcinoembryonalen Antigens, nachweisen. Mit geringen finanziellen Mitteln der Arbeitgeber lässt sich also ein
Höchstmaß an gesellschaftlicher Wirkung erzielen.
Der Gesetzentwurf wendet sich nicht gegen die Raucher. Doch wir dürfen den Nichtrauchern nicht weiterhin
zumuten, permanent um die Achtung ihres Rechtes auf
Gesundheit feilschen zu müssen. Individuelle Freiheit findet ihre Grenze immer in den Freiheitsrechten anderer.
Nichtraucher haben das Recht auf Schutz ihrer Gesundheit und ihrer körperlichen Unversehrtheit. Heute wollen
wir dieses Grundrecht endlich am Arbeitsplatz verwirklicht sehen und auch gesetzlich anerkennen.
Ich möchte an dieser Stelle aus dem Schreiben eines
Bürgers zitieren, der dieses Recht mit folgender Argumentation einfordert:
Was würde wohl ein alkoholabstinenter Bürger sagen, wenn ihm von seinen alkoholabhängigen Mitbürgern, frei nach dem Motto „Von einem Schnaps
ist noch keiner gestorben“, nach jeder Arbeitsstunde
ein Schnaps in den Hals geschüttet würde?
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch
auf etwas anderes hinweisen. Es ist sehr schwer, heutzutage als Jugendlicher der massiven Werbung, nämlich
den „test it“-Lockversuchen diverser Marken, zu widerstehen und diese eben nicht zu testen. Es stimmt doch sehr
nachdenklich, wenn mir zum Beispiel eine Klasse 6 b aus
Nordhausen ehrlicherweise mitteilt, dass 13 Schüler am
Wettbewerb „be smart - don‘t smoke“ teilnahmen, mit
dem Ziel, zu 90 Prozent für ein halbes Jahr nicht zu rauchen, und diese Jugendlichen die Aktion nach den
wöchentlichen anonymen Kontrollen inzwischen abgebrochen haben.
Während sich in Großbritannien die Zahl der nie rauchenden Schüler in den letzten Jahren verdoppelt hat, ist in
Deutschland keine positive Entwicklung zu verzeichnen.
38 Prozent der 12- bis 25-Jährigen greifen mehr oder weniger regelmäßig zum Glimmstängel, und wir alle wissen,
dass die Konsumenten, die mit dem Rauchen beginnen,
immer jünger werden, noch Kinder sind. Wenn ein Mensch
bis zu seinem 20. Lebensjahr die Finger vom Glimmstängel lässt, steht die Chance, dass er es auch weiterhin tut,
ziemlich gut. Doch der Zigarettenindustrie zu entkommen
ist auch deswegen so schwer, weil in diesem Alter das
Gruppenverhalten sehr stark prägt. Rauchen in diesen
Gruppen ist heute noch immer krass, cool und megafett.
Dies gilt zumindest bis zum völlig uncoolen Lungenkrebstod oder der voll krassen Amputation eines Raucherbeins.
Wir wissen doch, wie wichtig es ist, die jungen Nichtraucher zu motivieren, bei ihrem gesunden Lebensstil zu
bleiben.
({7})
Insofern wird hoffentlich von unserem heutigen Beschluss das sehr positive Signal an alle Nichtraucher ausgehen, dass der Staat sie jetzt dabei unterstützt, zumindest
während der Arbeitszeit das Risiko auszuschließen, in einen Passivraucher verwandelt zu werden.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gut gemeint ist das Gegenteil
von gut.
({0})
Dieser Satz ist zwar nicht von Goethe, aber trotzdem richtig. Er gilt leider auch für den heute vorliegenden Gruppenantrag zum Nichtraucherschutz.
({1})
Mit der plakativen Forderung, die 17-jährige Auszubildende müsse vor dem rücksichtslosen, kettenrauchenden Kollegen geschützt und ihr ein Anspruch auf einen
rauchfreien Arbeitsplatz per Rechtsverordnung garantiert
werden, werben die Unterzeichner für Unterstützung.
Was zunächst einleuchtend klingt,
({2})
wirft die Frage nach dem Selbstverständnis der Politik
auf. Darf bzw. muss der Staat denn wirklich alles regeln,
was die Menschen subsidiär, also in eigener Verantwortung, und mit den Mitteln der Vernunft ohne weiteres
selbst regeln können?
({3})
Dazu sage ich mit der überwältigenden Mehrheit meiner
Fraktion ein klares Nein.
({4})
Herr Kollege Lensing, man muss es sich einmal auf der
Zunge zergehen lassen: Nach den Vorstellungen Ihres
Gruppenantrages wird das Gespräch und die Einigung der
Menschen im Betrieb durch den Bescheid einer Behörde
an die Adresse des Unternehmers ersetzt.
({5})
Das wollen wir nicht. Deswegen lehnen wir diesen bürokratischen Ansatz ab.
({6})
Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lensing?
Nichts lieber als das,
Herr Kollege Lensing. Ich habe nämlich nur drei Minuten
Redezeit. Ihre Zwischenfrage ist eine gute Hilfe.
Bitte
schön, Herr Kollege Lensing.
Ich verstehe die Einschätzung, die Sie mir als Person zukommen lassen.
Dafür bedanke ich mich. Gleichwohl ist es nicht richtig zitiert. Vor diesem Hintergrund ist es mir wert, dass Sie jetzt
tatsächlich etwas mehr Redezeit bekommen.
Wir haben immer gesagt: Wir setzen auf das freiwillige
Miteinander. Wir geben überhaupt keine Regelungen
vor, wie man das machen kann. Wir sagen lediglich: Es
darf nicht sein, dass wir in Deutschland bis zu 5 Millionen
Passivraucher haben, die sich deswegen dem Tabakkonsum der anderen aussetzen müssen, weil man sich eben
nicht einigen kann. Nur für diese Fälle möchten wir, dass
gegebenenfalls Rechtsklarheit herrscht. Aber das ist das
allerletzte Mittel, das wir einsetzen wollen. Wir setzen auf
die Freiwilligkeit. Das hatte ich deutlich gesagt.
Was war
jetzt die Frage, Herr Kollege?
Ich wollte fragen,
wieso Sie überhaupt auf die Idee kommen, dieser meiner
sinnvollen Argumentation zu widersprechen?
({0})
Herr Kollege Lensing,
ich komme auf diese Idee, weil ich mich der Mühe unterzogen habe, Ihren Gruppenantrag zu lesen. Wenn ich das
richtig gelesen habe, dann wollen Sie einen neuen § 3 a in
die Arbeitsstättenverordnung einfügen. Es mag sein, dass
darin noch nichts Schlimmes auftaucht, aber dann liest
man in der Begründung weiter nach. Dort steht ganz klar
und deutlich drin: Mit der Durchführung der Verordnung
werden die zuständigen Landesämter, die Gewerbeaufsicht, beauftragt.
({0})
Man kann sich vorstellen, wie das funktioniert. Es wird
nämlich im Einzelfall, Herr Kollege Lensing, nicht ausnahmsweise so sein, dass sich die zitierte 17-jährige Auszubildende an die Gewerbeaufsicht wendet, sondern es
wird zukünftig vorauseilend administriert werden und
Eingang in Genehmigungsverfahren finden. Deswegen
kann ich Ihnen nur empfehlen, meiner Mühe folgend,
noch einmal in Ihrem Antrag nachzuschlagen und nicht
nur den § 3 a der Arbeitsstättenverordnung, sondern auch
die Begründung zu lesen. Dann werden Sie meine Einschätzung sehr gut nachvollziehen können.
Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der
Kollegin Griefahn?
Natürlich.
Bitte
schön, Frau Griefahn.
Wenn ich Sie höre, Herr
Kolb, dann überlege ich, ob Sie vielleicht am Dienstag ein
paar Caipirinhas zu viel getrunken haben. Wer sonst außer
den nachgeordneten Behörden soll denn die Durchführung machen? Sollen wir eine zentrale nachgeordnete
Behörde des Bundes einrichten?
Frau Kollegin
Griefahn, ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Frage,
weil sie mir Gelegenheit gibt, den Unterschied in unseren
Ansätzen etwas ausführlicher deutlich zu machen. Wir
setzen auf die Vernunft, die Einsicht und die Einigungsfähigkeit der Menschen, Sie dagegen setzen auf einen
bürokratischen Ansatz und glauben, die Probleme mit
behördlichen Bescheiden lösen zu können.
Ich versetze mich einmal in die Rolle eines Advocatus
Diaboli. Selbst wenn man sagt, man will den Verordnungsweg wählen, stellt sich doch die Frage: Warum machen Sie es so, wie Sie es vorgeschlagen haben? Man hätte
doch auch einen ganz anderen Weg gehen können. Man
hätte den Unternehmer als Moderator einbinden können,
dem ermöglicht wird, den wiederholt uneinsichtigen Raucher mit den Mitteln des Arbeitsrechtes in die Schranken
zu weisen
({0})
und deutlich zu machen, wo die Freiheit des Rauchers aufhört und die des Nichtrauchers anfängt. Darum geht es aus
unserer Sicht und das ist ein ganz anderer Ansatz als das,
was Sie hier vorschlagen.
({1})
Dieser Ansatz passt aber überhaupt nicht - ich sehe das
sehr wohl - zu dem Paradigma der Antragsunterzeichner.
Man sorgt sich - Herr Lensing, ich habe den Antrag wirklich gelesen - um die nikotinabhängigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und will ihnen mit Konzepten
für eine - wohlgemerkt - innerbetriebliche Nikotinentwöhnung unter die Arme greifen, anstatt ihnen mit den
Mitteln des Arbeitsrechts deutlich zu machen, wie die
Dinge zu laufen haben.
({2})
So ist - Herr Kollege Lensing, den Vorwurf muss ich
Ihnen machen - die Vorlage zum Nichtraucherschutz im
Grunde nichts anderes als die Fortsetzung rot-grüner Politik mit den Mitteln des Gruppenantrages.
({3})
Auf der Strecke bleibt wieder einmal, wie so oft in den
letzten beiden Jahren, der mittelständische Unternehmer,
({4})
dem nach dem Anspruch auf Teilzeitarbeit und Ausdehnung der Mitbestimmung - um nur zwei so genannte Reformen zu nennen - nun eine weitere Last auferlegt wird.
Ich sage Ihnen voraus: Sollte dieser Antrag angenommen
werden, so wird das Vorhaben einen weiteren Beitrag zur
nachhaltigen Entmutigung des Mittelstandes in unserem
Lande leisten.
({5})
Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Ich will zum Schluss - ich muss wegen der Kürze der
Redezeit etwas zuspitzen - Folgendes sagen. Der Unternehmer, der montags die Brandschutzbegehung seines
Unternehmens durch das Kreisbauamt begleiten durfte,
dienstags den Besuch des Kontrolleurs der Berufsgenossenschaft über sich ergehen lassen musste, dem
mittwochs eine fünfstellige Nachforderung des AOK-Prüfers wegen der Einführung des Anspruchsprinzips bei den
630-DM-Verträgen eröffnet wurde und der donnerstags
den amtlichen Bescheid der Gewerbeaufsicht wegen zu
schaffender rauchfreier Arbeitsplätze in den Händen hält,
wird sich freitags, wenn ihm sein Steuerberater eröffnet,
was von seinem Gewinn nach Steuern noch verbleibt, fragen, ob er seiner Tochter oder seinem Sohn wirklich noch
empfehlen kann, das Unternehmen fortzuführen.
({6})
Das könnte dazu führen - ich würde das bedauern -, dass
die eingangs zitierte 17-jährige Auszubildende in Zukunft
möglicherweise erst gar keinen Ausbildungsplatz mehr
findet. Gut gemeint ist das Gegenteil von gut und deswegen bitte ich Sie dringend, die Vorlage zum Nichtraucherschutz abzulehnen.
({7})
- Ich fand sie gut.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara
Höll von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin seit drei Monaten
Nichtraucherin, und im dritten Anlauf innerhalb der letzten zehn Jahre. Nach solch einer Rede würde man am liebsten zum Stressabbau wieder zu einer Zigarette greifen. Ich
gebe das ehrlich zu.
Ich erkläre hier kurz und knapp: Die PDS-Fraktion
wird Ihrem Antrag in Gänze - alle Nichtraucherinnen und
Nichtraucher, alle Raucherinnen und Raucher; die Raucher kommen sogar extra her, um ihre Zustimmung kundzutun - zustimmen.
({0})
Zum Inhalt des Antrages ist schon viel gesagt worden;
ich möchte die bisherigen Ausführungen nicht ergänzen.
Ich möchte aber auf den zweiten Punkt, über den wir
heute auch sprechen, noch eingehen; Frau Voß hat darauf
ganz kurz, aber nur indirekt, hingewiesen. Wir beraten
heute gleichzeitig einen Antrag der PDS, in dem wir die
Bundesregierung in zweifacher Hinsicht zum Handeln
auffordern. Der erste Punkt hat sich erledigt. Da fordern
wir die Bundesregierung auf, die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen das Werbeverbot der EU
zurückzuziehen. Das war eine Klage der alten Regierung,
die die neue Regierung leider aufrechterhalten hat. Und
sie hat leider Recht bekommen.
Gestern hat aber der zuständige EU-Kommissar in
Brüssel neue Vorschläge vorgestellt. Damit hat der zweite
Punkt unseres Antrages sehr wohl weiterhin Gültigkeit.
Wir fordern Sie auf, tätig zu werden, um hier in der
Bundesrepublik die Werbung für Tabakwaren zu verbieten. Ich möchte Ihnen das eindringlich erläutern.
Ob ich wieder anfange zu rauchen oder nicht, ist etwas
anderes, weil ich schon einmal vom Rauchen abhängig
war. Wir sind hier im Parlament 668 Abgeordnete - zurzeit nicht ganz so viele. Täglich sterben in Deutschland
300 Menschen an den direkten Folgen des Tabakgenusses. Das heißt natürlich für die Tabakwarenindustrie: Es
müssen täglich mindestens 300 Kinder und Jugendliche
rekrutiert werden, die neu zum Glimmstängel greifen.
Wenn wir wirklich etwas für den Kinder- und Jugendschutz tun wollen, müssen wir uns als Parlament mit der
Werbeindustrie, mit der Tabakindustrie und natürlich
auch mit der Automatenindustrie anlegen.
In keinem anderen Land auf der Welt gibt es eine solche Dichte von Zigarettenautomaten wie in Deutschland.
Gehen Sie bitte durch die Stadt! Wie sind die Zigarettenautomaten angebracht? Ganz oft ist unten ein Automat mit
Süßwaren und darüber ein Automat mit Zigaretten. Kein
Rauchverbot - sei es für unter 16-, 18- oder 20-Jährige nützt etwas, wenn der Zugang zu Tabakwaren dermaßen
leicht ist.
({1})
Frau Kollegin Höll, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Braun?
Ja, sicher.
Bitte
schön, Herr Braun.
Frau Kollegin Höll, ist Ihnen bekannt, dass die mittelständisch
geprägte Industrie - wie Sie sie nennen - der Automatenaufsteller mit den Initiatoren dieser Nichtraucherschutzinitiative gemeinsam darüber nachgedacht und beraten
hat, wie man den Kinder- und Jugendschutz im Zusammenhang mit dem Rauchen verbessern kann?
({0})
Sehr geehrter Kollege Braun,
das ist mir bekannt. Allerdings habe ich in den letzten Jahren erfahren müssen, dass es mit den Selbstverpflichtungen,
die Teile der Industrie eingegangen sind, oftmals nicht so
weit her ist. Ich erlaube mir, als Beispiel die Werbung anzuführen. Da gibt es eine Selbstverpflichtung der Tabakwarenindustrie, dass die abgebildeten Models älter als 30 Jahre
sein müssen. Sie wirken aber allesamt jünger als 30 Jahre,
wenn es nicht ausgesprochene Werbung mit „Alten“ ist.
Es geht nicht um einen Kampf gegen Automaten insgesamt. Automaten zum Beispiel in Gaststätten, wo Kinder und Jugendliche keinen unkontrollierten Zugang haben, können sehr wohl stehen bleiben. Es geht um die
Automaten, die draußen angebracht sind, und dann auch
noch in Kombination mit Süßwaren, wie ich eben dargestellt habe. Ich glaube, da müssen wir aktiv werden. Nach
meinen Erfahrungen habe ich nicht die Hoffnung, dass
das mit einer Selbstverpflichtung zu regeln ist.
({0})
Es gibt auch eine Selbstverpflichtung, dass keine Werbung für Tabakwaren im Zusammenhang mit Sport gemacht wird. Michael Schumacher wirbt für „Moods“.
Was ist das anderes?
Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal im Kino waren.
Eine wunderschöne Suggestivwerbung für Tabakwaren
und hinterher eine schwarze Leinwand mit weißer Schrift:
„Die Gesundheitsministerin warnt: Der Tabakkonsum ist
schädlich für Ihre Gesundheit.“
({1})
Welche Chance hat diese Warnung überhaupt noch?
Ich finde es positiv, wenn die EU die Initiative ergreift
und es möglich macht, die Warnhinweise auf den Zigarettenschachteln wesentlich drastischer zu gestalten, also
etwa mit einer Abbildung einer Raucherlunge und einem
Aufdruck „Rauchen tötet“; denn Rauchen tötet tatsächlich.
Wir im Parlament sollten nicht erst darauf warten, dass
die EU in den nächsten zwei Jahren entscheidet und dann
noch Übergangsregelungen einräumt. Wir sollten nicht
nur das Mindestmaß verwirklichen, das die EU vorschreibt. Vielmehr ist es uns unbenommen, selber Schritte
zu ergreifen. Die Richtlinie wird so ausgestaltet sein, dass
die nationalen Staaten sehr wohl eine Handlungsfreiheit
haben. Wenn man die Regelungen in den anderen europäischen Staaten mit denen hier in der Bundesrepublik vergleicht, so stellt man fest, dass wir ganz hinten liegen und
viel tun könnten.
Was wir heute tun, kann nur ein erster kleiner Schritt
sein - den wir aber natürlich unterstützen.
Ich bedanke mich.
({2})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Doris Barnett
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich am Montag mit dem Zug
von Berlin nach Halle fuhr, bin ich aus Versehen in ein
Raucherabteil gegangen. Das habe ich erst nicht gemerkt,
weil die beiden Personen, die in diesem Abteil gesessen
haben, nicht geraucht haben. Als später Raucher dazu kamen, habe ich gedacht, irgendjemand dreht mir den Hahn
zu. Als Nichtraucher merkt man das sehr schnell. Nun, ich
konnte in ein anderes Abteil gehen, aber die Leute am Arbeitsplatz, Herr Kolb, die können das nicht, die müssen an
ihrem Arbeitsplatz bleiben und müssen die verpestete
Luft einatmen.
({0})
Ich bin Nichtraucherin und habe in meinem Leben
wirklich noch nie geraucht - außer passiv, wenn Sie das
gut finden; ich tue das nicht. Deshalb bin ich, was das
Rauchen angeht, wahrscheinlich toleranter als viele
Exraucher. Aber ich fühle mich als Abgeordnete all denjenigen gegenüber in der Pflicht, die sich am Arbeitsplatz nicht durchsetzen können gegen rücksichtslose
Kollegen - die soll es ja geben -, die auch noch damit
prahlen, nur noch eine halbe Schachtel pro Tag zu rauchen.
Ich könnte hier eine Analogie zum Problem prügelnder Männer ziehen; jahrelang wurde akzeptiert, dass die
Frau ausziehen könne. Analog könnte man argumentieren, der Nichtraucher solle sich in rauchfreie Räume verziehen
({1})
und könne, wie die verprügelte Frau, klagen. In beiden
Fällen geht es - das wurde mehrfach gesagt - um körperliche Unversehrtheit, unser wichtigstes Gut überhaupt. Das wurde heute Morgen ja schon ausführlich und
in einer guten Debatte dargelegt.
So wenig wir die Frauen hilflos ließen, so wenig dürfen wir jetzt die Nichtraucher rechtlos lassen.
({2})
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, also sich
von Dritten verursachten Gefahren nicht aussetzen zu
müssen, umfasst auch das Recht auf gesundheitlich zuträgliche, das heißt tabakfreie Atemluft am Arbeitsplatz. Dieses Recht ist bisher nicht gesichert. Viele
Nichtraucherbestimmungen in den Betrieben haben
eine so genannte Vetoregelung. In der Praxis sieht das
dann so aus, dass der auf sein Recht pochende Nichtraucher zum Störenfried abgestempelt wird. Und richtet
sich das Veto des Nichtrauchers gar gegen das Rauchen
des Chefs oder des Vorgesetzten, dann macht er sich sicherlich nicht beliebt. Die Konsequenz ist: Allzu oft
bleiben die Nichtraucher ruhig und schlucken lieber die
verpestete Luft.
Deshalb wollen wir - ich hoffe wirklich auf die Einsicht aller - den Nichtraucherschutz nicht nur in Pausen-,
Bereitschafts- und Liegeräumen des Arbeitsplatzes gesichert wissen und ansonsten auf die Rücksichtnahme hoffen, sondern wollen den Arbeitgeber verpflichten, Vorkehrungen in allen seinen Arbeitsräumen zu treffen, um
die Nichtraucher zu schützen.
({3})
Denn, Herr Kolb, wenn es um den Brandschutz im Betrieb
geht, dann hat der Arbeitgeber auch keine Nachsicht mit
seinen Rauchern. Bloß wenn es um den Schutz seiner
nicht rauchenden Mitarbeiter geht, dann ist ihm deren Gesundheit seltsamerweise offensichtlich egal. Das kann
nicht richtig sein.
Sie erlauben eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb? - Bitte
schön, Herr Kolb.
Frau Kollegin Barnett,
es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, in explosionsgefährdeten Räumen ein Rauchverbot zu verfügen. Analog
hätten Sie, wenn sie schon eingreifen wollen, dem Arbeitgeber die Möglichkeit schaffen müssen, in BüroräuDr. Barbara Höll
men, in denen Raucher und Nichtraucher zusammen sitzen, ein Rauchverbot zu verfügen.
({0})
Das Problem ist doch folgendes - ich bitte Sie um Ihre
Einschätzung, ob Sie mir folgen können -:
({1})
In mittelständischen Unternehmen kann man Raucher und
Nichtraucher nicht immer trennen, weil die entsprechende
Raumkapazität nicht vorhanden ist. An der Stelle muss man
fragen, was dann geschehen soll. Es gibt dann nur die Möglichkeit, ein Rauchverbot zu erlassen und das konsequent
durchzusetzen. Diese Möglichkeit haben Sie nicht verfolgt.
Deswegen frage ich Sie, ob der von mir vorgeschlagene
Weg am Ende nicht doch der richtige und der bessere ist.
Herr Kolb, auf Ihre Frage, ob es
nicht konsequent wäre, einen generellen Nichtraucherschutz einzuführen, kann ich Ihnen nur antworten: Es ist
nichts einfacher, als einen solchen Schutz in einem kleinen
Betrieb zu verwirklichen. Der Arbeitgeber muss lediglich
sagen: Bei mir im Betrieb wird nicht geraucht, Punkt.
({0})
Er hat die Möglichkeit, ein solches Verbot zu erlassen. Er
kann es nach seinen Bedürfnissen regeln.
({1})
- Doch, Herr Kolb. Lassen Sie die Bestimmungen doch
einmal in Ihrer Fraktion prüfen. Ihr Kollege Braun, der
hinter Ihnen sitzt, wird Ihnen sicherlich gerne bei der Interpretation der einschlägigen Bestimmungen behilflich
sein und Ihnen bestätigen, dass der Arbeitgeber in einem
kleineren Betrieb selbstverständlich sagen kann: Bei mir
wird nicht geraucht. Warum soll das so schwierig sein?
Lassen Sie uns doch bei diesem Thema einmal über den
Großen Teich nach Amerika schauen. Dort ist das Rauchen
zum Beispiel in allen öffentlichen Gebäuden verboten. Die
Raucher sind dort nicht ausgestorben. Aber das Herumgeeiere nach dem Motto „Vernünftige Menschen werden sich
doch einigen können“ hat dort ein Ende gefunden. Es ist
ganz klar, was und wo erlaubt und verboten ist.
Unser Antrag dient der Rechtssicherheit und dem
Rechtsfrieden und nicht minder auch dem Betriebsfrieden.
({2})
Durch unsere Formulierung - ich komme noch einmal darauf zurück - wird auch der Vielfalt der betrieblichen Interessen Rechnung getragen, weil der Arbeitgeber
tatsächlich etwas regeln kann.
({3})
Auf jeden Fall wollen wir nicht länger hinnehmen, dass
zum Beispiel eine schwangere Frau erst in einem langen
Gerichtsverfahren ihr Recht auf einen rauchfreien Arbeitsplatz erstreiten muss.
Noch ein kleiner Schlenker im Hinblick auf unsere
Kommunen: In Singapur ist geregelt, dass das Rauchen sogar auf der Straße zu diskriminieren ist. Das Wegwerfen einer Zigarettenkippe wird mit drakonischen Geldstrafen circa 550 DM - bestraft. Dieses Verbot wird auch durchgesetzt. Wenn es ein solches Verbot in Deutschland geben
würde, dann würden manche Straße und mancher Platz ganz
ordentlich aussehen. Aber so weit gehen wir doch gar nicht.
({4})
Wir fangen erst einmal ganz klein an. Wir wollen ledig-
lich dafür sorgen, dass nicht rauchende Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz geschützt
werden. Deshalb hoffe ich im Sinne der betroffenen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Ihre Einsicht und
bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Frau Dr. Höll, zu dem Antrag Ihrer Fraktion möchte ich
sagen: Punkt a) ist ja erledigt. Über Punkt b) sollten wir
dann reden, wenn die entsprechende EU-Regelung vorliegt. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag jetzt ab.
({5})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Sabine
Bergmann-Pohl von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
möchte wie Frau Barnett anlässlich des heutigen Weltnichtrauchertages einmal kurz über den Großen Teich
schauen. In den USA wird weder in den öffentlichen Gebäuden noch in den Gaststätten geraucht. Auch im
Straßenbild sehen Sie kaum noch Raucher. Wissen Sie,
Herr Kolb, warum das so ist? Das ist so, weil es einen gesamtgesellschaftlichen Grundkonsens darüber gibt, dass
man aus Rücksichtnahme gegenüber den Nichtrauchern
in der Öffentlichkeit nicht raucht.
({0})
Unstreitig sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse,
dass das Rauchen gesundheitsschädigend ist. Mindestens
3,5 Millionen Menschen starben 1998 weltweit - davon
etwa 100 000 in Deutschland - an den Folgen des
Tabakkonsums.
({1})
Hochrechnungen der WHO gehen davon aus, dass im
Jahre 2030, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, weltweit circa 10 Millionen Menschen pro Jahr als
Folge des Tabakkonsums sterben werden. Es besteht innerhalb unserer Gesellschaft eben leider noch immer kein
Konsens darüber, dass Rauchen und Passivrauchen schädlich sind.
Das Bronchialkarzinom ist der häufigste beim Mann
auftretende bösartige Tumor und gehört zu den bei der
Frau am häufigsten vorkommenden Krebserkrankungen.
1997 starben allein in Deutschland 28 464 Männer und
8 784 Frauen an Lungenkrebs. Bei den Frauen ist seit
Jahren ein deutlicher Anstieg der Zahl der Lungenkrebserkrankungen und der Sterberate sowohl in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland zu beobachten,
der sich auf eine erheblichen Anstieg des Tabakkonsums
bei weiblichen Jugendlichen zurückführen lässt. Nicht
ohne Grund steht der heutige Weltnichtrauchertag unter
dem Motto: „Keine dicke Luft am Arbeitsplatz - Auch
Passivrauchen macht krank“.
Leider werden die Folgen des Passivrauchens aus Unkenntnis ebenfalls völlig unterschätzt und auch bagatellisiert. Im Tabakrauch - das haben wir schon gehört - konnten bisher 40 Kanzerogene nachgewiesen werden, die
damit das Passivrauchen ebenso gefährlich machen wie
das Rauchen. Eine starke Passivrauchbelastung des
Nichtrauchers, Herr Kolb, verdoppelt annähernd sein
Risiko, an einem Bronchialkarzinom zu erkranken.
({2})
Das ist genauso gefährlich wie eine Explosionsgefährdung am Arbeitsplatz.
({3})
Die betrieblichen Kosten durch einen erhöhten Krankenstand unter den Rauchern und unfreiwilligen Mitrauchern sowie die vorzeitige Frühinvalidität unter Rauchern
summieren sich in Deutschland auf 24 Milliarden DM
jährlich. Weltweit gibt es sogar wirtschaftliche Verluste
- das müsste Sie doch besonders interessieren - in Höhe
von rund 200 Milliarden US-Dollar.
Meine Damen und Herren, mit der Änderung der Arbeitsstättenverordnung ist beabsichtigt, Nichtraucherinnen und Nichtraucher wirksam vor dem Passivrauchen
am Arbeitsplatz zu schützen. Immerhin 80 Prozent der
Nichtraucher wünschen sich ein Rauchverbot am Arbeitsplatz und auch 35 Prozent der Raucher könnten sich damit anfreunden. Eine räumliche Trennung hätte sogar
noch eine höhere Akzeptanz. Das geltende Arbeitsschutzrecht - § 32 der Arbeitsstättenverordnung - gilt nur für
Pausen-, Bereitschafts- und Liegeräume. Eine darüber
hinausgehende öffentlich-rechtliche Verpflichtung des
Arbeitgebers, insgesamt zum Schutz der nicht rauchenden
Beschäftigten bei der Arbeit zu sorgen, wird aus dem Arbeitsschutzgesetz und aus § 5 Arbeitsstättenverordnung
abgeleitet.
Diese Rechtsbestimmungen sind allerdings durch Arbeits- und Verwaltungsgerichte interpretierungsbedürftig,
sodass häufig langwierige und kostspielige Verfahren zu
Fragen des Nichtraucherschutzes unsere Gerichte belasten. Daher soll die vorliegende Initiative zur Änderung
der Arbeitsstättenverordnung für mehr Rechtsfrieden,
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für Arbeitnehmer
und Arbeitgeber sorgen.
({4})
Es geht eben nicht um Diskriminierung von Rauchern am
Arbeitsplatz, sondern um ein gesundheitsbewussteres
Verhalten aller Arbeitnehmer, aber auch der Arbeitgeber,
die dafür die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben.
Ergänzend dazu wird die Bundesregierung aufgefordert, Konzepte für innerbetriebliche Maßnahmen der
Prävention und der freiwilligen Raucherentwöhnung ausarbeiten zu lassen, die den Betrieben dann als adäquate
Lösungen angeboten werden können.
Übrigens bleibt den Arbeitgebern hinsichtlich der Wahl
konkreter betrieblicher Maßnahmen ein Regelungsspielraum. Sie werden demnach keineswegs zu kostspieligen
und zu unzumutbaren Vorkehrungen gezwungen oder verpflichtet, Herr Kolb.
({5})
- Doch, es ist so. Lesen Sie sich das bitte genau durch!
Als Fachärztin für Lungenkrankheiten habe ich oft das
Leid der krebskranken oder auch der an schwerster Bronchitis mit erheblicher Atemnot leidenden Patienten erleben müssen. Ich wünsche mir übrigens, dass wir mit dieser Gesetzesvorlage und unserer Debatte auch dazu
beitragen, dass gegenseitige Rücksichtnahme in der Öffentlichkeit und ein wirksamer Nichtraucherschutz in allen Betrieben, öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen
zum Selbstverständnis in unserer Gesellschaft wird.
({6})
- Das wäre der Weg. Doch davon, Herr Kolb, sind wir leider Gottes sehr weit entfernt. Darum ist es ein ganz kleiner und erster Schritt, die Nichtraucher am Arbeitsplatz zu
schützen.
({7})
Ich glaube, das ist auch die Auffassung der großen Mehrheit dieses Hauses.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das
Wort der Kollege Hildebrecht Braun.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute mag
es gar als mutig erscheinen, wenn unser Kollege Heinrich
Kolb in seiner Rede als Einziger deutlich gemacht hat,
dass er die Nichtraucherschutzinitiative des Deutschen
Bundestages ablehnt.
({0})
Aber, meine Damen und Herren, der Kollege Heinrich
Kolb wird nicht gemobbt werden,
({1})
er wird nicht beschimpft, und er muss schon gar nicht auf
eigene Kosten vor den Gerichten sein unbestrittenes
Recht einklagen, seine Meinung zu äußern.
({2})
Ganz anders die Situation von Tausenden von Azubis
und Hunderttausenden von Arbeitnehmern, die in den Betrieben mit großer Mühe und nicht ohne persönliches Risiko erst ein Recht erkämpfen, dass sie längst haben müssten, nämlich das Recht auf einen Arbeitsplatz in guter
Luft.
({3})
Millionen Betriebe haben keinen Betriebsrat. Dort
steht der einzelne Arbeitnehmer allein. Ob die Arbeitgeber Verständnis für den Wunsch nach nikotinfreier Arbeitsluft haben, hängt von deren persönlicher Sensibilität
und Einstellung ab. Aber auch diejenigen Arbeitnehmer
- das sage ich in aller Deutlichkeit -, die sich an einen Betriebsrat wenden können, wissen nicht, ob dieser sie wirklich schützen wird.
({4})
Da die Rechtslage bisher unklar ist und auch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts keine klare Linie erkennen lässt, ist politisches Handeln geboten. Wir stellen
heute klar, dass es Teil der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ist, dafür zu sorgen, dass seine Mitarbeiter in guter
und gesunder Luft arbeiten können.
({5})
Ich will auch deutlich sagen: Es ist kein Ruhmesblatt
für unser Land, dass hier - im Gegensatz zu 90 anderen
Ländern dieser Erde - das selbstverständliche Recht auf
reine Luft am Arbeitsplatz erst vor Gerichten erstritten
werden muss. Wie können es politisch Verantwortliche
nach wie vor hinnehmen, dass Menschen quasi im Abluftkamin von anderen arbeiten müssen?
Gerade als Liberaler will ich zum Thema Freiheit einige deutliche Worte sagen. Liberale respektieren das
Recht eines jeden Menschen zur Selbstverwirklichung.
({6})
Wir gehen dabei sehr weit. Wenn sich jemand selbst beschädigen will, ja wenn er sich selbst umbringen will - sei
es in Raten durch immer wiederkehrendes Rauchen -,
dann respektieren wir das.
({7})
Während die Freiheit, mit der eigenen Gesundheit, ja mit
dem eigenen Leben umzugehen, grenzenlos sein mag, findet die Freiheit, findet die Selbstverwirklichung ihre
natürliche Grenze dort, wo die Rechte des anderen, des
Nachbarn, aber auch der Arbeitskollegin oder des Arbeitskollegen beeinträchtigt werden. Leider sehen das
viele rauchende Kollegen anders und sie appellieren stattdessen an die Toleranz derer, die den Rauch ertragen sollen.
Natürlich gibt es noch immer Menschen, die das Rauchen und das Mitrauchen-Müssen für gesundheitlich ungefährlich halten. Man kann sich wirklich die Augen verbinden, die Ohren verstopfen und sogar das eigene Gehirn
ausschalten. Nur, wenn man das tut, dann kann einem entgehen, dass nicht nur die Deutsche Krebsgesellschaft,
sondern auch alle ernst zu nehmenden Wissenschaftler
das Rauchen und das Mitrauchen-Müssen als extrem gesundheitsgefährdend ansehen. Die Schätzung der Fachleute gehen dahin, dass allein in Deutschland zwischen
200 000 und 400 000 Menschen pro Jahr an den Folgen
des Nikotingenusses sterben. Diese Zahl ist - das muss
man sich einmal vor Augen halten - bis zu 30-mal höher
als die der Menschen, die durch einen Verkehrsunfall ums
Leben kommen. Nach Schätzungen müssen pro Jahr
400 Menschen durch Mitrauchen-Müssen sterben. Diese
Zahl ist sehr viel höher als die derjenigen, die durch Asbest, Formaldehyd, Ozon oder andere Umweltgifte in unserem Land umkommen. Wir sprechen hier also nicht
über irgendein beliebiges Thema der Spaßgesellschaft,
sondern über ein Gesundheitsproblem höchster Priorität.
({8})
Schutz vor Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz,
aber auch der Schutz vor massiver bis hin zu unerträglicher Belästigung und damit vor Beeinträchtigung der Lebensqualität müssen jedem Liberalen ein selbstverständliches Anliegen sein. Deshalb freue ich mich sehr, dass am
heutigen Tag endlich auch im Deutschen Bundestag im
dritten Anlauf ein Schritt zur Verbesserung des Schutzes
derer, die nicht rauchen und auch nicht mitrauchen wollen, gelingt. Ich danke meinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die den heutigen Erfolg für Millionen diskriminierter Menschen endlich möglich gemacht haben, sehr
herzlich.
Vielen Dank.
({9})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag von
Abgeordneten der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. „Für einen
verbesserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz“, Drucksache 14/5325. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/3231 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist damit bei
Gegenstimmen aus der CDU/CSU-Fraktion, aus der F.D.P.Fraktion und einer Gegenstimme aus der SPD-Fraktion sowie bei einer Enthaltung aus der SPD-Fraktion mit großer
Mehrheit angenommen.
({0})
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der
PDS zum Verbot der Werbung für den Tabakkonsum,
Drucksache 14/6174. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/3318 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussemp-
fehlung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion und zwei
Enthaltungen aus der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Erwin Marschewski ({2}), Meinrad
Belle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Familienzusammenführung sachgerecht regeln - EU-Richtlinienvorschlag ablehnen
- Drucksachen 14/4529, 14/5808 Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Erwin Marschewski ({3})
Marieluise Beck ({4})
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sechster Familienbericht; Familien ausländischer Herkunft in Deutschland
Leistungen - Belastungen - Herausforderungen
und Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 14/4357 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 7 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines
... Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes
- Drucksache 14/5266 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu dem Familienbericht der Bundesregierung vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Bundesministerin Christine Bergmann das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten!
Die heutige Debatte zum Sechsten Familienbericht, den
die Bundesregierung im Oktober 2000 vorgelegt hat,
kommt zur rechten Zeit; denn dieser Bericht beschäftigt
sich mit der Situation von Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Erstmalig liegt ein solcher Bericht
vor. Er beschreibt die Situation in einer sehr differenzierten Weise, die dazu beiträgt, Vorurteile abzubauen.
Angesichts der aktuellen Diskussion um Integration
und Zuwanderung sind die Ergebnisse des Sechsten Familienberichts eine wichtige Basis, um einerseits Leistungen von Familien ausländischer Herkunft anzuerkennen,
um Belastungen und Herausforderungen zu benennen und
um andererseits die notwendigen Integrationsmaßnahmen
zu verstärken.
Ich denke, dass wir bereits wichtige Voraussetzungen
für die Integration geschaffen haben. Ich will daran erinnern, dass mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht,
das wir sehr schnell auf den Weg gebracht haben und das
der Lebenswirklichkeit in Deutschland entspricht, ausländische Familien und ihre Kinder neue Rechtssicherheit
und Möglichkeiten der Partizipation erhalten haben.
({0})
Auch die rechtliche Situation ausländischer Ehepartner
und damit insbesondere vieler ausländischer Frauen
wurde durch eine Änderung im Ausländergesetz verbessert. Das sind entscheidende Fortschritte zur rechtlichen
Integration von Ausländerinnen und Ausländern in unserer Gesellschaft.
({1})
Ich will einige Zahlen aus dem Bericht nennen: In
Deutschland leben gegenwärtig etwa 7,35 Millionen
Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Das
entspricht einem Anteil an der Bevölkerung von 9 ProVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
zent. Fast die Hälfte dieser Menschen lebt schon zehn
Jahre oder länger bei uns, rund 30 Prozent länger als
20 Jahre.
Der Sechste Familienbericht konstatiert erhebliche
integrationspolitische Fortschritte und Erfolge. Er weist
darauf hin, dass diese Leistungen sowohl vonseiten der
Migrantinnen und Migranten als auch von der
Aufnahmegesellschaft erbracht wurden.
Entgegen vielfältigen Vorurteilen und Klischees macht
die Expertenkommission, die an der Erarbeitung des
Sechsten Familienberichtes beteiligt war, unmissverständlich klar: Familien ausländischer Herkunft leisten einen wichtigen Beitrag zum Wohlstand in Deutschland. Sie
sind integraler Bestandteil unserer Gesellschaft.
({2})
Familien ausländischer Herkunft bestreiten ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Erwerbsarbeit. Allerdings
zeigt ein Blick auf die Einkommensstatistik, dass sich das
Einkommen vieler dieser Familien eher am unteren Ende
der Skala bewegt. Die Quote der Selbstständigen ist inzwischen unter den Zuwanderern fast genauso hoch wie
im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Haben Sie
das gewusst? - Man erfährt eine ganze Menge neuer
Dinge aus diesem Bericht. Allein die etwa 55 000 türkischen Selbstständigen in Deutschland erwirtschafteten
1999 einen Jahresumsatz von rund 50 Milliarden DM und
boten rund 300 000 Personen eine Beschäftigung. Das
sind beachtliche Zahlen.
({3})
Der Sechste Familienbericht weist ausdrücklich auf die
Leistungen hin, die gerade die Familien für eine erfolgreiche Integration ihrer Mitglieder in die Gesellschaft erbringen. Migration und Integration sind in mehrfacher
Hinsicht ein Familienprojekt: Der verwandtschaftliche
Zusammenhalt in den Familien ausländischer Herkunft
trägt erheblich zu ihrer Integration bei. Sie unterstützen
sich auch über die Generationen hinweg, zum Beispiel bei
der Erziehung und Betreuung der Kinder, bei der Versorgung kranker und alter Menschen, und pflegen die Beziehungen der Generationen auch intensiv über die Ländergrenzen hinweg. Nachbarschaftshilfe und freiwilliges
Engagement sind unter Familien ausländischer Herkunft
stark ausgeprägt. Auch darauf verweist der Sechste Familienbericht ausdrücklich. Diese Solidarität üben diese Familien nicht nur für sich, sondern bringen sie auch als
Wert in unsere Gesellschaft ein.
({4})
Ein wichtiger Aspekt ist: Familien ausländischer Herkunft nehmen das Projekt Migration in die eigene Hand.
Sie sind Akteure, keinesfalls immer nur Opfer ihrer Verhältnisse oder mit Defiziten behaftet, wie ja die landläufige Meinung gelegentlich noch lautet. Interessant ist
auch, dass gerade Frauen diesen Eingliederungsprozess
sehr aktiv mitgestalten. Von den Frauen hängt wie immer
alles ab. Auch in diesem Falle hängt es in entscheidendem
Maße von ihnen ab, wie sich der Eingliederungsprozess
der gesamten Familie entwickelt.
({5})
- Haben Sie damit Schwierigkeiten? Gut, das diskutieren
wir dann aber an anderer Stelle.
({6})
Der Sechste Familienbericht führt uns unmissverständlich vor Augen, dass die immer noch durch stereotype Vorstellungen geprägte Wahrnehmung ausländischer Frauen in Deutschland wenig mit ihrer
tatsächlichen Lebenssituation und ihrem eigenen Rollenverständnis zu tun hat. Diese Frauen sind sehr aktiv.
Viele sind erwerbstätig, auch wenn die Quote unter der
der Deutschen liegt. Das hat auch etwas mit den Bedingungen zu tun, die auf dem Arbeitsmarkt herrschen. Um
darüber noch weitere Erkenntnisse zu erhalten, wurde
von meinem Haus eine Studie zur Situation ausländischer
Frauen und Mädchen sowie der Aussiedlerinnen in Auftrag gegeben. Ich denke, wir brauchen hier noch mehr Daten - genauso wie zur Situation älterer ausländischer
Frauen; denn diese Frauen erleben diese Lebensphase in
unserer Gesellschaft in zunehmenden Maße.
Dieser veränderte Blickwinkel auf Familien ausländischer Herkunft, der vor allem den erheblichen Teil an Eigeninitiative der Familien aufzeigt, muss ein zentraler
Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zur Weiterentwicklung von Eigeninitiative fördernden Integrationskonzepten sein.
Nicht für alle Migrantinnen und Migranten gestaltet
sich der Integrationsprozess in gleichem Maße erfolgreich. Auch darauf weist der Bericht hin. Deshalb ist es
wichtig, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Familien
bei der Integration nachhaltig unterstützen. Das tun wir
vor allen Dingen im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung, die ja eine Schlüsselvoraussetzung für eine
gleichberechtigte Teilhabe an wirtschaftlichen und sozialen Strukturen unserer Gesellschaft ist. Wir konnten in
den letzten Jahren erfreulicherweise einen deutlichen Anstieg des Bildungsniveaus bei ausländischen Kindern und
Jugendlichen beobachten. Das ist eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Integration. Dennoch sehen wir
hier noch ganz erhebliche Defizite.
Wenn wir uns die Zahlen ansehen, stellen wir fest:
17 Prozent der ausländischen Jugendlichen verlassen die
Hauptschule ohne Abschluss im Vergleich zu 9 Prozent
der deutschen Jugendlichen. Wenn heute zwei Drittel aller
deutschen Jugendlichen eine duale Berufsausbildung
absolvieren, aber der Anteil bei den jungen Ausländern
nur bei rund 39 Prozent, bei den jungen Ausländerinnen
sogar lediglich bei 33 Prozent liegt, ist klar, wo Handlungsbedarf besteht. Wir haben uns auch schon auf den
Weg gemacht. Erinnern möchte ich an das JUMP-Programm, das sich sehr nachdrücklich an junge Ausländerinnen und Ausländer wendet und hier sozusagen auch
eine Quotierung vorsieht. Ich möchte daran erinnern, dass
auch im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit die Verbesserung der Ausbildungschancen
von jungen Ausländerinnen und Ausländern eine große
Rolle spielt. Ich möchte auch unser Programm „Entwicklung und Chancen von jungen Menschen in sozialen
Brennpunkten“ erwähnen. Darin bildet die Integration
von jungen Ausländerinnen und Ausländern einen
Schwerpunkt. Diese Modelle werden sehr stark in Anspruch genommen, insbesondere das soziale Trainingsjahr. Hier können wir gar nicht genug tun. Wir müssen
prüfen, ob wir dieses Programm noch aufstocken können.
({7})
Wenn wir über Integration reden, sind wir immer auch
beim Thema Sprachkenntnisse. Denn wir wissen, dass das
Erlernen unserer Sprache eine wichtige Voraussetzung für
Integration ist. Mangelnde Sprachkenntnisse werden zu
einer Integrationsbarriere. Deshalb hat sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, die Sprachförderung zu verbessern. Wir haben ein neues Sprachkonzept erarbeitet
- es wird im nächsten Jahr in Kraft treten -, das die bislang nach Rechtsstatus der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufgeteilten Kurse und Hilfen zusammenfasst, damit
Synergien nutzt und den Erfordernissen besser als bisher
gerecht wird. Das heißt, dass wir ab 1. Januar 2002 - so
ist es geplant - alle jungen Zuwanderinnen und Zuwanderer mit dauerhaftem Bleiberecht unabhängig von ihrem
Rechtsstatus einer bedarfsgerechten Sprachförderung zuführen, die an den jeweiligen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, und dass über den bisher geförderten Personenkreis hinaus auch nachgereiste und erwachsene
Angehörige von Spätaussiedlern sowie Personen mit dem
so genannten kleinen Asyl Sprachförderung erhalten können.
({8})
Ich denke, dass wir damit die bisherige Sprachförderung
deutlich verbessern und ein echtes Angebot zur Integration machen.
Ich komme auf den Familienbericht zurück. Der Familienbericht macht noch einmal ganz deutlich, wie notwendig es ist, dass die Integration bereits im Vorschulalter beginnt, dass also Kinder ausländischer Familien
schon sehr früh in die Kitas gebracht werden. Das funktioniert, wie wir wissen, nicht besonders gut. Dafür gibt es
unterschiedliche Ursachen. Zum einen liegt dies an dem
Angebot an Kita-Plätzen, aber es gilt auch kulturelle
Hemmnisse zu überwinden. Es gibt gute Beispiele, wo
wir ansetzen können. Ich möchte eines aus Berlin nennen:
Alle Eltern in Berlin kennen die Elternbriefe, auch in anderen Bundesländern werden die Elternbriefe kostenlos
vertrieben. Wir haben den Elternbrief in türkischer Sprache gezielt an türkische Eltern gerichtet, um für die Kita
zu werben und ihnen zu vermitteln: Euren Kindern geht
es dort gut. Es ist nicht nur die Großmutter, die das Kind
erziehen kann, wenn die Mutter erwerbstätig ist. Bringt
die Kinder in die Kitas! Das ist ein wichtiger Beitrag zur
Integration.
Ich wünsche mir noch sehr viel mehr solcher Aktivitäten, damit wir sehr früh mit der Integration beginnen können und es gar nicht erst zu den Barrieren kommt, die dazu
führen, dass keine vergleichbaren Schulabschlüsse erreicht werden.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, die
Ergebnisse des Sechsten Familienberichts zeigen deutlich, dass wir Familien ausländischer Herkunft in ihrer Eigeninitiative nachdrücklicher unterstützen und die Rahmenbedingungen für die Integration weiter entwickeln
müssen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir derzeit die
Chance zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens haben, bei dem die positiven Wirkungen der Zuwanderung
und Integration erkannt werden. Meine Bitte ist: Lassen
Sie uns diese Chance nutzen!
Danke.
({10})
Als
nächster Redner hat nun das Wort der Kollege Thomas
Dörflinger von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über den
Sechsten Familienbericht fällt in eine Zeit der grundlegenden Auseinandersetzung um Zuwanderung und Zuwanderungsbegrenzung vor dem Hintergrund von Migration und demographischem Wandel, bezüglich derer wir
ein Dauerphänomen zu konstatieren haben, das uns nicht
nur die nächsten Jahre, sondern mit Sicherheit auch die
nächsten Jahrzehnte noch beschäftigen wird.
Der vorgelegte Bericht der Bundesregierung ist auch
Anlass, einige grundlegende Gedanken zu formulieren;
denn der Bericht, der den Zeitraum bis 1999 darstellt, versteht sich ja in erster Linie als eine Bestandsaufnahme und
bleibt in den politischen Konsequenzen respektive den
Handlungsempfehlungen relativ unkonkret. Ich kritisiere
das nicht, sondern nehme das auch als einen Beweis dafür,
dass die notwendigen politischen Weichenstellungen hier
im Parlament, im Deutschen Bundestag gefällt werden
müssen.
({0})
Der Themenkreis Zuwanderung, Zuwanderungsbegrenzung, Migration und Integration ist eben kein Thema
für wie auch immer geartete Konsensrunden, sondern es
ist elementare Aufgabe dieses Deutschen Bundestages
und der Bundesregierung, zu diesem Themenkreis ein
umfassendes Konzept vorzulegen. Ich stelle fest: Bislang
fehlt das noch.
({1})
Darüber hinaus sind die bislang erfolgten Äußerungen
zu diesem Bereich teilweise widersprüchlich. Da gibt es
die Forderung, wir sollten eher nach dem Motto verfahren: mehr Ausbildung statt Einwanderung, vor wenigen
Tagen vom Generalsekretär der SPD erhoben. Ich erinnere daran, dass diese Forderung schon einmal von dieser
Stelle aus erhoben wurde; das war am 13. April 2000 von
meinem früheren Fraktionskollegen Jürgen Rüttgers. Der
seinerzeitige und noch immer im Amt befindliche Bundesarbeitsminister hat das mit der Bemerkung quittiert,
das sei „hinterfotzig“.
({2})
Es ist doch interessant, was sich innerhalb eines Jahres
hinsichtlich der Beurteilung dieser Frage getan hat.
({3})
- Wir haben unsere Position in keiner Weise geändert,
Herr Kollege.
({4})
Wenn Sie das Positionspapier des Kollegen Rüttgers von
damals mit dem Positionspapier der CDU/CSU von vor
wenigen Tagen vergleichen, dann finden Sie nahtlose
Übereinstimmungen in dieser und auch in allen anderen
Fragen. Der Erkenntnisgewinn durch diese Diskussion
liegt bei der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen, dass nämlich die Frage der Zuwanderung allein
- Frau Kollegin Lörcher, wir haben das auch in der Enquête-Kommission diskutiert - uns nicht die Herausforderungen bewältigen hilft, die durch den Prozess des demographischen Wandels auf uns zukommen, sondern dass
eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig ist, eben ein
Gesamtkonzept.
Allerdings frage ich: Besteht denn tatsächliche Einigkeit
unter den politischen Kräften, auch dieses Hauses, in
dieser Frage? Wie passen die aktuellen Äußerungen seitens
der SPD - auch das, was das Bundesinnenministerium,
namentlich durch Minister Otto Schily, immer wieder
verlautbaren lässt - mit dem zusammen, was wir zum Beispiel an offizieller SPD-Linie in der erwähnten EnquêteKommisson „Demographischer Wandel“ zur Kenntnis
nehmen? Es sind zweierlei Paar Stiefel. Wie passen die
Äußerungen des Bundesinnenministers schon aus dem
Jahre 1999 mit dem zusammen, was heute im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen formuliert
ist? Das passt nicht zusammen.
Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass das erforderliche Gesamtkonzept nicht vorliegt. Ich bin, nachdem es
nach wie vor angekündigt ist, gespannt, wann es uns vorgelegt werden wird und was schlussendlich darin steht,
welche Linie sich in diesem Konzept bestätigt fühlen wird.
({5})
Die gemeinsame Auffassung, auch in dem Bericht, ist,
dass ein politisches Gesamtkonzept notwendig ist, um die
Situation ausländischer Familien in Deutschland dauerhaft zu sichern und, wenn möglich, zu verbessern. Dabei
dürfen sowohl im Interesse derer, die zu uns kommen, als
auch im Interesse derer, die schon hier sind, unabhängig
von ihrer Nationalität, Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft nicht überfordert werden dürfen.
Wie kann ein solches Konzept aussehen? CDU und
CSU - ihr habt darauf hingewiesen - haben in den letzten
Wochen ein solches Konzept vorgelegt. Es wurde - das
hat uns natürlich gefreut - von allen Seiten sehr gelobt.
({6})
- Das kommt selten vor, Herr Kollege Hornhues, aber ab
und zu doch. Und es war in diesem Fall auch berechtigt. - Ich glaube, dass diese beiden Konzepte - auch das
gemeinsame Positionspapier der Union - eine gute
Grundlage dafür bieten, die Situation ausländischer Familien in Deutschland zu verbessern.
Diese gehen von dem Grundgedanken aus, dass sich
die Migrationspolitik an drei zentralen Punkten orientieren soll, nämlich erstens daran, die Interessen des Aufnahmelandes zu berücksichtigen, zweitens daran, die
Interessen derer im Blick zu haben, die in der Zukunft zuwandern werden, und drittens daran, die Voraussetzungen
dergestalt zu schaffen, dass sich aus den Bestimmungen
einer Migrationspolitik eine Basis für eine vernünftige
und tragfähige Integrationspolitik ergibt.
({7})
Lassen Sie mich einige familienpolitische Aspekte benennen:
({8})
Oberste Priorität haben Sprachkenntnisse; darauf hat die
Ministerin hingewiesen und da hat sie Recht. Diese dienen nicht nur der Verständigung untereinander, sondern
natürlich auch der Vermeidung von Parallelgesellschaften, der Integration derer, die in ein bestimmtes Gesellschaftssystem, nämlich in das der Bundesrepublik
Deutschland, zuwandern. Sie sind ein integraler Bestandteil der nach unserer Auffassung verpflichtenden Integrationskurse, die nicht nur Sprachkenntnisse allein, sondern
auch Grundzüge unserer Rechtsordnung und unserer Kultur sowie Hilfen dahin gehend vermitteln sollen, mit der
gesellschaftlichen und beruflichen Orientierung vor Ort
in den Städten und Gemeinden zurechtzukommen. Kurz:
Sie beinhalten all das, was auch wir für sinnvoll erachten,
wenn wir uns im Ausland bewegen.
({9})
Allerdings - darin unterscheide ich mich von dem, was
die Ministerin zum Thema Sprachförderung vorgetragen
hat - ist es schon interessant, was die Bundesregierung
beispielsweise bei der Neustrukturierung der Sprachförderung tut. Ursprünglich bin ich davon ausgegangen
- dies war die letzte Wasserstandsmeldung, die bei mir
ankam -, dass die Neuregelung der Sprachförderung zum
1. Januar 2003 in Kraft treten soll. Es war für mich
erstaunlich, zu hören, dass Sie nun vom 1. Januar 2002 gesprochen haben. Ich nehme das so zur Kenntnis.
Wenn Sie allerdings mit denjenigen sprechen, die heute
beispielsweise für Aussiedlerinnen und Aussiedler
Sprachförderung betreiben, dann melden die insbesondere zwei Kritikpunkte an, was die Neuorganisation der
Sprachförderung angeht:
Erster Punkt. Dem Sprachverband in Mainz soll die
komplette Neuorganisation dieser Angelegenheit übertragen werden. Nach eigener Darstellung braucht der
Sprachverband in Mainz etwa ein Jahr, um die notwendige Infrastruktur innerhalb seiner Organisation bereitzustellen, damit er mit dieser Aufgabe organisatorisch überhaupt fertig wird.
Zweiter Punkt. Bei der Neuorganisation der Sprachförderung für Aussiedlerinnen und Aussiedler fällt der sozialpädagogische Teil, nämlich die sozialpädagogische Betreuung derer, die die deutsche Sprache neu erlernen
sollen, fast komplett weg. Ein Fachverband hat auf Heller
und Pfennig ausgerechnet, was unterm Strich noch übrig
bleibt: neben dem eigentlichen Sprachunterricht eine sozialpädagogische Betreuung von neun Minuten pro
Teilnehmer und pro Woche. Wenn wir aber gewährleisten
wollen, dass derjenige oder diejenige, der oder die die
deutsche Sprache erlernen möchte, nicht nur die Sprache
per se beherrscht, sondern sich in diesem Prozess des Erlernens einer Sprache auch im gesellschaftlichen Umfeld
zurechtfindet, dann sind neun Minuten pro Woche und pro
Person ein bisschen sehr wenig.
({10})
Meine Damen und Herren, dabei gilt natürlich generell, dass man desto leichter lernt, je jünger man ist. Das
heißt, es macht sowohl im Interesse von Migrantenkindern als auch im Interesse der Integrationsbereitschaft
und der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft hierzulande Sinn, das Zuzugsalter von derzeit 16 Jahren entweder auf zehn oder auf sechs Jahre zu senken.
({11})
Auch das ist im Übrigen Bestandteil des Konzepts der
CDU/CSU, das Sie alle sehr gelobt haben. Ich frage mich,
ob bei diesem Lob immer sichergestellt war, dass Sie das
Konzept auch tatsächlich gelesen haben.
Dazu gehört auch, dass wir im Bereich der schulischen
Bildung beispielsweise die Möglichkeit sicherstellen
wollen, an deutschen Schulen islamischen Religionsunterricht anzubieten, freilich in der Trägerschaft der
jeweiligen Schule und in deutscher Sprache. Dazu gehört
auch, dass wir die unterschiedlichen Statusformen, die
Ausländer in Deutschland haben, und zwar vom Stadium
des Asylbewerbers über das eines Ausländers mit rechtskräftiger Aufenthaltsgenehmigung bis hin zu dem eines
deutschen Staatsbürgers, durchlässig gestalten. Auch das
ist eine Veränderung - nach meinem Dafürhalten eine
Verbesserung - der bisherigen Rechtslage.
Ich will an dieser Stelle nichts zum Richtlinienentwurf der Europäischen Union sagen; das wird mein
Kollege Thomas Strobl anschließend tun. Aber auch zu
diesem Thema steht etwas im erwähnten Konzept der
Union, in jenem Konzept, das von Ihnen allen gelobt worden ist. Ich gehe davon aus, dass Sie damit auch die einzelnen Vorschläge gelobt haben.
Meine Damen und Herren, natürlich ist es an dieser
Stelle nicht nur recht und billig, sondern auch Pflicht, ein
Wort über Familienpolitik ganz generell zu verlieren;
denn davon ist selbstverständlich auch die Situation ausländischer Familien in Deutschland betroffen. Bevor jetzt
wieder der Einwurf kommt: Ihr habt 16 Jahre nichts getan!, rufe ich Ihnen im Stile einer Vorbemerkung nur einmal zu, was wir alles „nicht getan“ haben. Als wir zu regieren begannen, lag das Kindergeld bei 50 DM, als wir
aufhörten, bei 220 DM.
({12})
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub - diese Dinge,
packen Sie nun anders benannt in Ihre Reformpakete haben wir seinerzeit ins Werk gesetzt. Das gilt auch für die
Anrechnung der Kindererziehungszeiten bei der Rente.
Übrigens ist der Bericht, über den wir heute diskutieren
- der Sechste Familienbericht -, von der seinerzeitigen
Bundesministerin Claudia Nolte in Auftrag gegeben worden. Auch das gehört zu der Palette, was die CDU/CSUBundestagsfraktion an familienpolitischen Dingen „nicht
getan“ hat.
({13})
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen:
Natürlich tragen wir die Erhöhung des Kindergeldes mit.
({14})
Aber es ist ein bisschen wenig, um dies als Gesamtkonzept
zur Familienförderung in Deutschland verkaufen zu wollen.
({15})
Ich nenne zwei Beispiele. Das erste Beispiel: Die nachgewiesenen Kinderbetreuungskosten sind nur noch
dann abzugsfähig, wenn beide Ehegatten oder der Alleinerziehende erwerbstätig sind. Wahlfreiheit herrscht nicht.
Wir sind der Meinung, das ist eine Ungleichbehandlung,
die nicht statthaft ist. Entweder kommen alle in den Genuss dieser Regelung oder niemand.
Das zweite Beispiel ist die Streichung des Freibetrages
für Haushaltshilfen in Höhe von 18 000 DM; dies wurde
bei der seinerzeitigen Einführung von Ihnen als „Dienstmädchenprivileg“ abqualifiziert.
({16})
Das Bundesfinanzministerium hat Einsparungen in Höhe
von 95 Millionen DM errechnet. Diese betriebswirtschaftliche Rechnung seitens des BMF mag sogar stimmen. Aber wenn wir berücksichtigen, wie viele Beschäftigungsverhältnisse, die aufgrund dieser Regelung
entstanden wären, nicht entstehen und wie viele Steuern
und Sozialversicherungsbeiträge aufgrund dessen - das
ist die volkswirtschaftliche Sicht - nicht entrichtet werden, dann ist das, was Sie machen, unterm Strich bestenfalls eine Nullnummer, meine Damen und Herren.
({17})
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
zum Familienbericht der Bundesregierung machen. Ich
sagte, dies sei kein Thema für Konsensrunden. Wir sind
keine Räterepublik, wir sind eine parlamentarische Demokratie. Der Deutsche Bundestag ist nun gefordert, die
erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen auf den
Weg zu bringen. Das heißt, zunächst einmal sind Sie gefordert, ein Konzept vorzulegen. Sie haben angekündigt,
dass dies noch in der 14. Wahlperiode passieren soll. Ich
bin gespannt, was Sie uns mit auf den Weg geben. Nachdem Sie unser Konzept so gelobt haben, gehe ich davon
aus, dass das Ihre Richtschnur für die künftige Politik ist.
Herzlichen Dank.
({18})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich mit den höheren Weisheiten beginne, würde ich
mich gerne mit Herrn Dörflinger auseinander setzen.
Herr Dörflinger, wir beide sind in der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“. Sie waren offensichtlich in letzter Zeit seltener da. Wir haben dort eine
Studie von Professor Oberndörfer behandelt, in der er
sagt: Wir brauchen eine gute Familienpolitik, wir brauchen eine gute Ausbildung, wir brauchen eine höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen und wir brauchen Einwanderung, weil es ansonsten im Jahre 2050 23 Millionen
Menschen weniger in Deutschland geben wird. - Auch
der SPD-Fraktionsvorsitzende hat das nicht alternativ gestellt, sondern gesagt: Es müssen mehr Frauen erwerbstätig sein und wir brauchen mehr Einwanderung. Sie müssen schon die ganze Wahrheit erzählen.
({0})
Jetzt zum Familienbericht. Zum ersten Mal beschäftigt
sich ein Familienbericht mit der Lage ausländischer Familien in Deutschland. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen in Deutschland zusammenleben. Diese
Realität wurde von Ihnen über zig Jahre hinweg konsequent ignoriert. Durch diese Tabuisierung wurden
Chancen vertan - es gab keine Integrationsangebote -,
Chancen, die sich für unsere Gesellschaft als eine Zuwanderungsgesellschaft geboten hätten. Umso mehr
drängt jetzt die Zeit, eine umfassende Einwanderungsund Integrationspolitik zu gestalten.
Der Sechste Familienbericht belegt die tragende Rolle,
die Familien ausländischer Herkunft im Integrationsprozess zukommt. Migration ist ein Familienprojekt, das
sich über mehrere Generationen hinweg erstreckt.
Familie ist für eine erfolgreiche Integration aber auch
ein Schlüsselbegriff, denn sie bietet persönlichen Rückhalt in der neuen Umgebung. Familie kann aber auch Integration behindern, wenn innerhalb der Familien ein
Inseldasein in der neuen Umgebung gelebt wird. In diesem Fall ist die Gesellschaft gefragt.
Der Familienbericht zeigt die vielfältigen Unterstützungsleistungen, die Eltern für ihre Kinder aufbringen.
Wer hierbei unter dem Stichwort „Integration“ eine Leitkultur vorgibt, wie es vonseiten der CDU/CSU geschehen
ist, verlangt Assimilation und fordert eine Ablösung von
der Herkunftskultur. Damit wird das Gegenteil erreicht,
nämlich Ausgrenzung. Wer die Bindung von Familien
ausländischer Herkunft nicht akzeptiert, läuft Gefahr, ausländische Kinder und Jugendliche zu entwurzeln. Dadurch wird das Potenzial ausländischer Familien für das
gesellschaftliche Zusammenleben zerstört.
Wir haben - die Ministerin hat es gerade gesagt - mit
dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht einen längst überfälligen Reformschritt getan. Aber ich gebe zu bedenken
- auch in Richtung F.D.P.; Herr Hirche hatte sich gerade
echauffiert -, für in Deutschland geborene Jugendliche
ausländischer Eltern wird es sicherlich nicht unerhebliche
Probleme geben, wenn sich die jungen Menschen im Alter von 23 Jahren entscheiden müssen, welchen Pass sie
denn abgeben, den deutschen Pass oder den des Herkunftslandes ihrer Eltern.
({1})
Das wird innerhalb der Familien einen mächtigen Streit
geben. Den haben wir Ihnen zu verdanken!
({2})
Integrationspolitik hat die Aufgabe, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Eine wesentliche
Voraussetzung hierfür sind Bildung und Ausbildung.
Nach wie vor sind Schülerinnen und Schüler ausländischer Herkunft bei höheren Bildungsabschlüssen weit
weniger vertreten. Der Grund dafür liegt häufig in den
mangelnden Sprachkenntnissen. Die Kenntnis der deutschen Sprache ist Voraussetzung für einen positiven Bildungsprozess und für das gegenseitige Verstehen. Dass
das im Kindesalter anfängt, ist klar. Wir brauchen längerfristig ein ausreichendes Angebot an kostenlosen
Kinderbetreuungseinrichtungen, die die unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Kompetenzen der Kinder fördern.
Der Bericht zeigt, dass die Armutsquote von Migrantinnen und Migranten zwei- bis dreimal höher ist als die
der Gesamtbevölkerung. Hier ist Politik gefragt. Wir haben bereits damit begonnen: 80 DM Kindergelderhöhung,
steuerliche Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen, Verbesserungen beim Wohngeld, bei der Ausbildungsförderung und beim Erziehungsgeld. Das sind nur
einige Erfolgsprojekte der zweieinhalbjährigen Regierungszeit, die natürlich auch den Kindern ausländischer
Eltern zugute kommen.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal etwas an die
Adresse von Faruk Sen vom Zentrum für Türkeistudien
sagen. Dieses Kindergeld steht den Kindern zu und ist
nicht etwa für den wirtschaftlichen Ausbau eines Landes,
wie zum Beispiel der Türkei, gedacht.
Familien ausländischer Herkunft zu unterstützen heißt,
Chancen und Rechte von Frauen zu stärken, denn
den Frauen kommt im Migrationsprozess eine Schlüsselrolle zu. Sie halten die Familie zusammen, tragen zur
Erwerbstätigkeit, zur finanziellen Absicherung der Familie bei und wir müssen unsere Aufmerksamkeit besonders
auch auf sie richten.
Schon im letzten Jahr haben wir die Rechte ausländischer Ehefrauen deutlich gestärkt. Sie erhalten jetzt bereits nach zwei Jahren ein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Misshandelte ausländische Frauen werden nicht
mehr ausgewiesen, sondern dürfen in Deutschland bleiben.
Diesen Schutz müssen wir aber auch Müttern gewähren, die ihr Heimatland aufgrund von geschlechtsspezifischer Verfolgung verlassen, um zum Beispiel ihre
Töchter vor Genitalverstümmelung zu schützen.
Ich würde gern noch zu einem wichtigen Instrument
der Integration kommen, zur Familienzusammenführung.
In Anbetracht der Zeit bitte ich meine Kollegin Marieluise
Beck, das ausführlicher zu begründen. Aber die Politik
der Nullzuwanderung, die wir bisher innerhalb der EUKommission hatten, passt einfach nicht mehr in den heutigen wirtschaftlichen und demographischen Kontext. Ich
glaube, es gibt eine Menge zu tun, damit wir auf europäischer Ebene auch tatsächlich die Voraussetzungen schaffen, dass Kinder bis zum 18. Lebensjahr zuziehen können.
Das ist für uns eine Notwendigkeit.
Wenn ich sehe, was in dem Antrag der CDU/CSUFraktion steht, nämlich den Familiennachzug einzuschränken, die Kinder nur noch bis zum Alter von 10 Jahren nachkommen zu lassen - jetzt höre ich von Herrn
Dörflinger, dass er sogar nur noch von 6 Jahren spricht -,
dann muss ich Ihnen sagen: Damit riskieren Sie die Integrationsfähigkeit der hier lebenden Ausländerinnen und
Ausländer.
Der Familienbericht macht deutlich, dass Familien
ausländischer Herkunft an einem erfolgreichen Einwanderungsprozess maßgeblich beteiligt sind. Wir brauchen
also eine Familienpolitik und eine Integrationspolitik, die
hierfür die entsprechenden Rahmenbedingungen bietet,
damit die Chancen und Potenziale weitreichend genutzt
werden können. Hieran werden wir weiter arbeiten und
uns nicht durch falsche Wege, die Sie uns hier vorschlagen, beirren lassen.
({3})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ina Lenke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Endlich führen wir heute die Debatte zum Sechsten Familienbericht, der sich mit der Situation ausländischer Familien in Deutschland befasst. Seit Oktober vergangenen Jahres wurde er von der Bundesregierung unter
Verschluss gehalten.
({0})
Ist es vielleicht Ihre politische Absicht, die Verbesserung
für ausländische Familien auf die nächste Legislaturperiode zu verschieben? Wenn ich mir Ihren Antrag ansehe,
erkenne ich darin sehr wenig Substanzielles, Frau
Schewe-Gerigk.
({1})
Im rot-grünen Antrag finde ich nämlich viele Appelle und
Wünsche, aber kaum Umsetzungen bzw. konkrete Umsetzungskonzepte.
Als Erstes möchte ich kritisieren, dass bei diesem Tagesordnungspunkt der Bundesratsantrag zur Änderung
des Ausländergesetzes formal mitberaten wird und ad hoc
mit auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
Zweitens ist mir die Einbeziehung des Antrags
der CDU/CSU-Fraktion zum EU-Richtlinienvorschlag
zur Familienzusammenführung mit viel konservativem
Sprengstoff unverständlich.
({2})
In dem Antrag der Fraktionen der Grünen und der SPD
zu dem EU-Richtlinienvorschlag findet sich kein Konzept
außer einem dürftigen Satz, der lediglich kommentierenden Charakter hat, jedoch keine Ziele formuliert.
Alles in allem ist der gesamte Tagesordnungspunkt ein
Gemischtwarenangebot, das der Problematik und der
Vielschichtigkeit der verschiedenen Themen nicht gerecht wird. Deshalb werde ich mich auch nicht zu dem
Bundesratsentwurf zur Änderung des Ausländergesetzes
äußern.
Nun zum Sechsten Familienbericht, der die Lebensverhältnisse ausländischer Familien in Deutschland beschreibt, und zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
der Grünen dazu. Eines will ich für die F.D.P.-Fraktion
ganz deutlich sagen: Wir wollen eine kontrollierte
Zuwanderung. Die Bevölkerung Deutschlands wird
schrumpfen und überaltern. Schätzungen gehen von einem Bevölkerungsrückgang von etwa 22 Millionen bis
zum Jahr 2050 aus.
Wir werden in Deutschland auch mit einer gezielten
Zuwanderung demographische Probleme mit lösen
müssen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Denn mit einem schlüssigen Zuwanderungskonzept, wie es zum Beispiel die F.D.P. 1999 vorgelegt hat, gibt es für unser Land
mehr Chancen als Risiken, die andere in dem Zuwanderungsgesetz sehen.
({3})
Deshalb lehnen wir das, was im Antrag der CDU/CSUFraktion zum EU-Richtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung steht, vehement ab.
Ich verstehe Ihre Diskussion und Ihren Vorschlag überhaupt nicht. Sie haben vor zwei Jahren ein Familienkonzept verabschiedet. Darin propagieren Sie die Anerkennung der Vielfalt von Lebensgemeinschaften. Wenn es
aber um etwas Konkretes geht, nämlich den EU-Richtlinienvorschlag, dann verfallen Sie in Ihre konservativen
Überzeugungen zurück.
({4})
Sie sollten das wirklich einmal überprüfen. Mir wäre es
lieber, Sie würden Ihren Antrag zurückziehen und bei
Ihrem Familienkonzept bleiben. Ich glaube, dann würden
wir eher zusammenkommen.
Auch die CDU/CSU hat einen Sprung nach vorne gemacht, weil Frau Süssmuth in der Zuwanderungskommission mitarbeitet. Von daher wird es sicherlich am Ende
mehr konkrete Gemeinsamkeiten geben als sonst. Deshalb ist die Offenlegung durch den Familienbericht - ihm
liegt eine vierjährige Untersuchung zugrunde - sehr wichtig, weil er die Diskussion in der Zuwanderungskommission unterstützt.
Ich betone noch einmal: Das Gesamtkonzept der Zuwanderung ist wichtig und sollte in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Das Zuwanderungsbegrenzungsgesetz der F.D.P. beinhaltete konkrete Vorschläge
für eine Regulierung der Zuwanderung. Bedauerlicherweise wurde das von SPD und Grünen im Bundestag abgelehnt. Aber wie das Leben so spielt: Es wird ein
neues Zuwanderungskonzept geben. Herr Dzewas, ich
sage Ihnen eines: Es wird auf unser Konzept zulaufen. Es
wird marginale Änderungen geben. Sie sprechen schon
von Zuwanderungsaufteilung und einer jährlichen Überprüfung. All das läuft auf unser Konzept hinaus.
({5})
Von daher werden auch wir uns bemühen, dass unser
alter Antrag mit in Ihr Konzept hineinkommt, damit wir
wirklich gemeinsam und fraktionsübergreifend dieses Zuwanderungskonzept verabschieden.
({6})
Ich würde mich freuen, wenn die CDU die Möglichkeit
sähe, noch vor der Bundestagswahl etwas zu machen.
Ich möchte noch etwas zu Frau Schewe-Gerigk sagen.
Sie hat die Änderung des Ausländergesetzes als Highlight
dargestellt. Ich will dazu nur bemerken, dass wir den Sozialhilfeanspruch hinzugefügt haben; denn ohne diesen
Sozialhilfeanspruch wäre die Änderung des Ausländergesetzes nichts. Ich freue mich, dass wir gemeinsam mit
SPD und Grünen eine Mehrheit geschaffen haben. Von
daher werden nicht nur Sie Ihre positiven Ergebnisse im
Bundestag darstellen können, sondern auch ich werde
dies für meine Fraktion machen. Dies tut weder Ihrem Antrag noch unserem Vorschlag von damals Abbruch.
({7})
Wir sind uns sicherlich einig, dass die Situation von
Familien ausländischer Herkunft in Deutschland verbessert werden muss. Ich begrüße es für die F.D.P.-Fraktion,
dass der Familienbericht mit einigen Vorurteilen aufräumt. Frau Bergmann hat schon einige Dinge deutlich
gesagt. Ausländische Unternehmer und Unternehmerinnen schaffen nicht nur für Ausländer Arbeitsplätze, sondern auch für Deutsche. Von daher sollten wir mit diesem
Thema sehr vorsichtig umgehen. Stammtischparolen sollten wir sehr genau überprüfen und uns gegen diese
Stammtischparolen, die es manchmal auch in unserer
Umgebung gibt, verwahren.
Wichtig ist die Bildung. Die F.D.P. fordert von der
Bundesregierung, dass Bildungsangebote besser auf Migrantinnen und Migranten zugeschnitten werden. Dazu
finde ich in Ihrem Antrag sehr wenig. Sie hätten mit dem
Antrag noch ein paar Wochen warten sollen und Substanzielles in ihn hineinschreiben sollen.
Ich komme noch auf etwas sehr Merkwürdiges zu sprechen. Sie sagen, die Kenntnis der deutschen Sprache sei
für die Integration maßgeblich.
({8})
Ich entgegne: Nicht nur die Kenntnis, sondern die Beherrschung der deutschen Sprache ist wichtig. Das geht,
wie Sie gesagt haben, ein Stück weiter.
Ganz besonders wichtig ist mir als Familienpolitikerin
- auch ich bin langjährige Kommunalpolitikerin -, dass
bereits im Kindergarten die Unterstützung für ausländische Kinder beginnt, dass sich ausländische Kinder bei
uns zurechtfinden und Freundschaft mit deutschen Kindern schließen können. Diese Notwendigkeit sehen wir
sehr deutlich. Hier muss noch einiges gemacht werden.
({9})
Auch hier ist der rot-grüne Antrag zu diesem Familienbericht in einer belanglosen Aussage stecken geblieben.
Es wird nichts dazu gesagt, wie die Bundesregierung die
Kommunen unterstützen will und ob es mehr Personal
oder auch Schulungen für Personal, das mit Migrantenkindern arbeitet, geben wird. Wir alle wissen, dass dies
sehr teuer ist. Dafür werden sehr viele Steuergelder ausgegeben. Wenn Sie solche Forderungen aufstellen, dann
sollten Sie sie finanziell unterfüttern.
Ich muss leider meine Ausführungen zu diesem Familienbericht kürzen.
({10})
- Was sagten Sie? Bitte wiederholen. Ich würde gerne darauf antworten.
Wir als F.D.P. sagen: Kinderlärm ist Zukunftsmusik.
Das gilt nicht nur für deutsche, sondern auch für ausländische Kinder. Von daher möchte ich den Blick gerade auf
Kinder und Jugendliche richten, weil Kinder und Jugendliche die Zukunft sind. Das betrifft auch ausländische Jugendliche, die schon sehr lange in der Bundesrepublik
Deutschland leben.
Ich wollte auch etwas zu dem Entschließungsantrag zu
der Richtlinie, die auch Sie problematisiert haben, und zur
Green Card sagen: Wenn wir ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben wollen, nutzt uns die Green Card nichts. Wir werden den
Wettbewerb mit den anderen Ländern Europas verlieren,
wenn wir nicht von dem hohen Ross der Green Card heruntersteigen und endlich auf der Grundlage eines Zuwanderungsgesetzes qualifizierte Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer nach Deutschland holen.
Abschließend will ich sagen: Im Familienbericht haben Experten Bekanntes, aber auch Neues zusammengetragen. Neu ist für mich die gründliche Bestandsaufnahme. Wir Politikerinnen und Politiker im Bundestag
und auf Ebene der Länder und Kommunen werden auf
diesen Bericht antworten müssen. Wir jedenfalls werden
die Bundesregierung in die Pflicht nehmen, Vorschläge zu
machen.
Ich glaube, nicht nur die ausländischen Familien müssen sich bewegen und auf Deutsche zugehen, sondern es
muss auch andersherum gehen: Auch wir müssen uns
Mühe geben, die kulturelle Andersartigkeit von Familien,
die bei uns leben, zu verstehen. Es ist eine ganz interessante Sache. Wer Kontakte zu ausländischen Familien hat,
weiß, wie wichtig das ist und wie sie unser Leben bereichern.
({11})
Von daher denke ich, dass dieser Familienbericht uns
ein Stück weiterhelfen wird, Vorurteile abzubauen. Dazu
will auch die F.D.P. beitragen.
({12})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Petra Pau von der PDSFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Debatte wird ja offensichtlich genutzt
- ich finde, das ist gut so -, um auch über grundsätzliche
Positionen zur Einwanderungsdiskussion, die endlich
auch die Gesellschaft erreicht hat, zu sprechen.
Dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist
- faktisch und nicht erst in jüngster Zeit -, hat ja offensichtlich alle Parteien und zunehmend auch deren Mitglieder erreicht. Bislang sind aber aus dieser Erkenntnis
keine eindeutigen Konsequenzen gezogen worden. Es
gibt kein individuelles Recht auf Einwanderung, das irgendwo festgeschrieben wäre, sondern es gibt variierende
Sonderregelungen.
Vor diesem Hintergrund sagt die PDS: Einwanderung
muss als Rechtsanspruch formuliert werden und Einwanderer müssen Rechte haben; Green oder Blue Cards oder
andere bunte Karten sind dafür kein Ersatz.
({0})
In der allgemeinen Diskussion wird über verschiedene
Quotenregelungen debattiert. Im günstigsten Falle bedeutet dies, ein wie auch immer legitimiertes Gremium
definiert Einwanderungshöchstzahlen. Wir fordern ein
Einwanderungsrecht ohne Quoten. Der einzelne Mensch
mit einem Anspruch muss im Mittelpunkt stehen, und
zwar nicht nur als numerische Größe. Schnell werden
sonst so genannte uns nützende und so genannte uns weniger nützende Einwanderer gegeneinander aufgerechnet.
Das heißt: Wer bestimmte Kriterien erfüllt, zum Beispiel
die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme oder einer Ausbildung, soll auch den Anspruch haben, einzuwandern
und sich niederzulassen.
Dies bedeutet nicht: offene Grenzen für alle; um auch
hier mit einer Illusion aufzuräumen.
Völlig außerhalb jeder eingrenzenden Regelung muss
der Schutz für Menschen in Not stehen. Das heißt, wer für
den Fall seiner Rückkehr mit einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit rechnen muss, hat einen völkerrechtlichen Anspruch auf Schutz und Aufnahme. Ich
denke, diese völkerrechtlichen Rahmenbedingungen sollten endlich auch vollständig in das deutsche Recht überführt werden.
({1})
Ich denke dabei an solche Schutzlücken wie die Verfolgung durch nicht staatliche Akteure oder die geschlechtsspezifische Verfolgung. Auch die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen außerhalb des Asylrechts darf nicht
gegen sonstige Einwanderung aufgerechnet werden.
({2})
Das sind unterschiedliche Bereiche, die auch unterschiedlich zu behandeln sind. Im Mittelpunkt muss jeweils der
betroffene Mensch stehen.
Integration kann nur gelingen, wenn die Einwanderinnen und Einwanderer auch eindeutige Rechte haben.
Deshalb treten wir für ein effektives und umfassendes
Niederlassungsrecht ein, das den Menschen, die den Anspruch erwerben, sich hier niederzulassen, die Rechte einräumt, die den übrigen Bürgerinnen und Bürgern des Bundesgebietes zustehen.
Lassen Sie mich noch eine zentrale These unterstreichen. Eine Einwanderungspolitik, die dem einzelnen
Menschen eine klare Rechtsposition verschafft, ist auch
ein Baustein gegen den Rechtsextremismus. Wenn Menschen unterschiedlicher kultureller und nationaler Herkunft gleichberechtigt in Deutschland leben, wird dem
Rechtsextremismus ein großer Teil seines Nährbodens
entzogen.
({3})
Es wird eben nicht mehr signalisiert: Dein Nachbar ist weniger wert, weil er weniger Rechte hat.
Damit zum Familienbericht. Er ist eine wahre Fundgrube zu diesem Thema mit vielen hilfreichen Informationen, die auch in den demnächst hier zu beratenden Regelungen berücksichtigt werden sollten.
Für die Diskussion über Integration ist beispielsweise
die Feststellung relevant, dass ein solcher Prozess keine
Einbahnstraße darstellt, sondern Anstrengungen sowohl
seitens der Einwandernden als auch seitens der Aufnahmegesellschaft verlangt. Ich finde, die Feststellung im
Bericht ist sehr zu begrüßen, dass das Ergebnis der Integration nicht nur von der Einstellung der Migrantenfamilien selbst abhängt, sondern „auch von ihren
Handlungsmöglichkeiten. Diese werden maßgeblich von
ihrer politischen Gestaltung in der Aufnahmegesellschaft
beeinflusst.“ Es kommt also nicht nur darauf an, dass Migranten Integration wollen. Es kommt auch darauf an, ob
die Gesellschaft es zulässt, dass sie sich integrieren.
Der Bericht sieht Migrantenfamilien nicht nur als Objekte von staatlichem oder gesellschaftlichem Handeln,
sondern als selbstbestimmt handelnde Subjekte, die wertvolle, für das Bestehen der Gesellschaft unverzichtbare
Leistungen erbringen. Die Integration eines einzelnen Migranten wäre ohne die Leistungen einer Familie kaum
denkbar:
Die Integrationsleistungen in die Aufnahmegesellschaft, die in diesen Verwandtschaftsbeziehungen
von Familien ausländischer Herkunft erbracht werden, wären als institutionalisierte Angebote personell
und finanziell außerordentlich aufwendig und stellen
damit eine wesentliche Entlastung der Aufnahmegesellschaft dar.
Dieser hohe Stellenwert der Familie sollte sowohl in der
Familienpolitik selbst als auch in der Ausländerpolitik,
soweit Familienleben betroffen ist, eine angemessene
Würdigung finden.
Hervorheben möchte ich noch die „Konsequenzen und
Empfehlungen für die Politik“, die in Kapitel VIII dargestellt werden. Gerade angesichts der Diskussion darüber,
ob Einwanderung an den Interessen der Wirtschaft
ausgerichtet werden sollte, ist die folgende Feststellung
des Berichtes von hoher Bedeutung:
Aus familienpolitischer Sicht ist deshalb eine einseitige Orientierung der Migrationspolitik an den Erfordernissen und Eigengesetzlichkeiten des Arbeitsmarktes kontraproduktiv.
Wir sollten das zum Ausgangspunkt unserer Debatten in
den nächsten Wochen zum Thema Einwanderung machen.
Zum Entwurf der Richtlinie der EU-Kommission nur
so viel: Natürlich geht er uns - Sie haben gehört, wie ich
von Ansprüchen sprach - nicht weit genug. Aber wir begrüßen ihn sehr. Wir finden, dass die Bundesregierung
hier von der Bremse gehen und dafür sorgen sollte, dass
größere Rechtssicherheit und mehr Rechte für die Betroffenen zügig ins nationale Recht überführt werden, sobald
sie von der EU beschlossen worden sind.
Ich kann nicht verstehen, dass die CDU/CSU diese
Richtlinie in Bausch und Bogen ablehnt. Dann müssten
Sie auch alle Ihre familienpolitischen Positionen zur Disposition stellen. Denn Sie lehnen Kernbestandteile von
tatsächlicher Familienpolitik ausgerechnet für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger ab.
Danke schön.
({4})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurzeit führen
wir eine Debatte, die von der Überlegung geprägt ist, wie
viel Zuwanderung für uns, für die Deutschen, optimal ist.
Die andere, genauso wichtige Frage lautet: Was ist optimal für die Migrantinnen und Migranten, die seit Jahren
in unserem Land leben, arbeiten, lernen und hier Familien
haben?
Der Sechste Familienbericht unterstreicht die Notwendigkeit familienpolitischer Konsequenzen für die Familien ausländischer Herkunft. Familien ausländischer Herkunft sind und werden auch in Zukunft ein fester
Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Wir erwarten von
ihnen - das sagen viele -, dass sie das Grundgesetz akzeptieren. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass für
diese Familien unser Grundgesetz gilt. Auch für sie hat
Art. 6 unseres Grundgesetzes Gültigkeit, egal, woher sie
kommen, wie lange sie hier sind und ob sie hier bleiben.
({0})
Eine faire Politik für diese Familien muss immer Querschnittspolitik sein, die weit in andere Politikfelder hineingreift.
Der Bericht macht erstmalig deutlich, dass die Einwanderung nach Deutschland fast immer ein Projekt einer
ganzen Familie und selten nur das einer einzelnen Person
ist. Mehrere Generationen sind in unterschiedlicher Weise
betroffen und sie entscheiden sich auch unterschiedlich,
entweder für das Bleiben in Deutschland, für die Weiterwanderung, für die Rückkehr in das Heimatland oder für
das Pendeln zwischen zwei Ländern.
Familien ausländischer Herkunft sind vom deutschen
Arbeits- und Dienstleistungsmarkt nicht mehr wegzudenken. Sie leisten einen ganz erheblichen Beitrag zum
Wohlstand in Deutschland.
Jetzt zu den einzelnen Konsequenzen, die sich aus dem
Bericht ergeben: Wir müssen frühzeitig Kinderbetreuung anbieten, um die Kinder von Migrantinnen und Migranten besser zu integrieren. Dies ist vor allen Dingen
eine Aufgabe der und eine Anforderung an die Kommunen. Nur so werden der spätere Schulbesuch und die Integrationsleistung insgesamt erheblich erleichtert, und
zwar die der ausländischen und die der deutschen Kinder.
Letztere profitieren von frühen Kontakten zu anderen
Kulturen, erhalten erste Eindrücke einer fremden Sprache
und erweitern ihren Horizont durch andere Möglichkeiten
des Spieles, der Gesten und des Miteinander-Umgehens.
Die Zweisprachigkeit wird für beide Gruppen, für die
deutschen und die ausländischen Kinder, ein ganz wichtiger Punkt und eine große Kompetenz für die Zukunft darstellen.
Auf das Thema Schule und Berufsausbildung will ich
nicht weiter eingehen; das wird meine Kollegin Christa
Lörcher machen. Frau Lenke, mit Blick auf das, was Sie
gesagt haben, muss ich feststellen, dass ich etwas Bildung
nachliefern muss. Der Bericht ist von der Bundesregierung nicht geheim gehalten worden. Wenn Sie unsere Vorlagenliste lesen, dann wissen Sie, dass dieser Bericht seit
November auf unserer Vorlagenliste steht.
({1})
Die F.D.P.-Fraktion hätte schon im Dezember letzten
Jahres mit etwas Mühe zum Beispiel einen Antrag einbringen können; dann wäre dieser Bericht hier vielleicht
schon eher debattiert worden.
({2})
Wenn Sie in unseren Antrag schauen, werden Sie sehen,
dass auf rund eineinhalb Seiten Bildung und Ausbildung
und viele Punkte dazu angesprochen werden. Aber vielleicht haben Sie diese Seiten zufällig überblättert.
Mit Blick auf ausländische Firmen und insbesondere
Firmen von Migrantinnen und Migranten hier in
Deutschland muss ich sagen: Wir müssen uns bemühen,
dass sie sich an der dualen Berufsausbildung beteiligen,
und zwar nicht nur mit Ausbildungsplätzen für ausländische, sondern auch mit Ausbildungsplätzen für deutsche
Jugendliche.
Ähnliches gilt für unsere Hochschulen. Wir brauchen
dort mehr Internationalität, mehr Studiengänge und mehr
interdisziplinäre Forschungsinstitutionen, die interkulturelle Bildung, internationale Migration, ethnische Studien, geschlechtsspezifische Fragestellungen der Migration und Integration sowie interkulturell vergleichende
Familienwissenschaften zum Gegenstand haben. Daran
fehlt es zurzeit in Deutschland.
Deutschland hat im Vergleich zu den meisten anderen
Staaten ein sehr differenziertes System aufenthaltsrechtlicher Regelungen. Jeder Status wirkt sich anders auf die
Möglichkeit aus, zum Beispiel arbeiten zu dürfen oder die
Familie nachziehen zu lassen. Geduldete Familien leben
in Deutschland in einer unendlichen Unsicherheit, da ihr
Aufenthalt alle paar Monate infrage steht und ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängert werden muss. Aber in
der Praxis leben diese Familien oft jahrelang in Deutschland und wir sind diejenigen, die ihnen keine Lebensperspektive geben, weil wir keine Integrationsmöglichkeiten
bieten, weil wir ihnen keine sichere Zukunft bieten.
({3})
Vor diesem Hintergrund kann ich die Erklärung des Europäischen Rates von 1999 in Tampere nur begrüßen, in der
gefordert wird, eine gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten aufhalten, sicherzustellen.
In dem Richtlinienvorschlag der EU-Kommission an
den Rat wird gefordert, die Familienzusammenführung
in Zukunft zu erleichtern und die diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen zu vereinfachen. Der Vorschlag der
Kommission beinhaltet nicht, wie es von der CDU/CSUFraktion immer gerne dargestellt wird, die Möglichkeit
eines unkontrollierten Zustroms nach Deutschland. Die
Voraussetzungen für den Nachzug der Familie sind im
Vorschlag der Kommission definiert: eine Aufenthaltsdauer von einem Jahr, ausreichender Wohnraum für die
Familie, Krankenversicherung auch für die Familienmitglieder sowie feste und ausreichende Einkünfte.
({4})
Der Vorschlag zielt auf die Zusammenführung der so genannten Kernfamilie ab.
Nun möchte ich auf die im CDU/CSU-Antrag erhobene Forderung nach Erhöhung des Nachzugsalters zu
sprechen kommen, über die heute auch debattiert wird.
Ich habe große Probleme, mir vorzustellen, wie Sie das familienpolitisch bewerten wollen. Können Sie mir erklären, wie Kinder, die gerade einmal etwas älter als zehn
Jahre sind - diese müssen nach Ihren Vorstellungen im
Herkunftsland bleiben -, eigentlich ihr Leben gestalten
sollen und wie Sie das mit Art. 6 des Grundgesetzes
vereinbaren wollen? Sind Sie etwa der Meinung, dass dieser Grundgesetzartikel nur für so genannte deutsche Familien gilt?
({5})
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auch noch auf die Situation binationaler Familien lenken. Sie unterscheidet
sich von der deutscher Familien in vielen wichtigen Bereichen. Schon allgemein gelten für den ausländischen
Partner bzw. die Partnerin nicht durchgängig die gleichen
Rechte. Aber in Fällen von Trennung und Scheidung ist
die rechtliche Situation besonders prekär, da der nicht
deutsche Elternteil unter Umständen um seine Aufenthaltserlaubnis fürchten muss. Zwar ist im neuen Kindschaftsrecht das Recht des Kindes auf beide Elternteile
besonders hervorgehoben worden. Wenn es aber auch für
ausländische Eltern gelten soll, dann bedarf es der Änderung der Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz.
Der Begriff des Kindeswohls findet sich im Ausländergesetz nicht. Ich denke, das müsste eigentlich ein Punkt sein,
der alle Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker,
egal, von welcher Fraktion, zueinander bringt.
({6})
Darüber hinaus werden binationale Familien häufig
mit einem abwehrenden und diskriminierenden Verhalten
der Behörden bei der Beantragung zum Beispiel von Visa
zur Familienzusammenführung oder zum Besuchsaufenthalt konfrontiert. Vielleicht ist es bei Ihnen so wie bei
mir: Ich erhalte relativ häufig Briefe von Menschen, die
darunter leiden, dass ihnen die Eheschließung wegen des
Verdachts der Scheinehe grundsätzlich verweigert wird,
selbst wenn Kinder da sind, oder von denen die Vorlage
von unzulässigen Erklärungen und Versicherungen verlangt wird. Lange Bearbeitungszeiten sind in gewisser
Weise noch ein Glücksfall; denn dann gibt es noch Möglichkeiten, sich einzuschalten. Aber es kann doch nicht
normal sein, dass sich die Betroffenen erst an Bundestagsabgeordnete wenden müssen, um das ihnen zustehende Recht auf faire Behandlung zu bekommen.
({7})
Ein besonderes Problem sind die sich in Deutschland
illegal aufhaltenden Migrantinnen und Migranten. Illegal
darf nicht gleichbedeutend mit rechtlos sein. Auch für illegal Eingereiste gelten Grundrechte. Sie müssen zum
Beispiel Zugang zur gesundheitlichen Versorgung und zur
Bildung haben. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, verweist zu Recht auf Art. 2
unseres Grundgesetzes, wonach jeder Mensch das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat. Ebenso
dürfen wir, wenn wir unser Grundgesetz ernst nehmen,
Kindern von illegalen Flüchtlingen den Schulbesuch
nicht verweigern.
({8})
Ich hoffe, dass wir den mutigen und hilfswilligen Ärzten,
Lehrern, Schuldirektoren und Jugendamtsmitarbeitern
nicht länger das Risiko zumuten werden, sich strafbar zu
machen, wenn sie sich für die Betroffenen einsetzen.
({9})
Ich komme zum Schluss. Der Sechste Familienbericht
war mehr als nötig. Der Bericht zeigt, wie komplex das Gebiet ist, wie vielfältig die Migrationshintergründe, die Kulturen und vor allem die einzelnen Menschen selbst sind.
Bei der Diskussion um Zuwanderung und Integration
werden immer wieder viele Vermutungen geäußert, die
nicht auf Tatsachen, sondern auf Angst, Nichtwissen und
Vorurteilen beruhen. Damit räumt der Familienbericht
grundsätzlich und sehr konstruktiv auf. Dabei konnten die
Mitglieder der Sachverständigenkommission nur auf sehr
wenig vorhandenes Material zurückgreifen. Das zeigt,
dass wir in Deutschland in Zukunft sehr viel genauer analysieren müssen, um den Menschen, die hierher gekommen sind und die hier leben, zu entsprechen. Den Sachverständigen kann ich daher nur meine Bewunderung und
auch meinen Dank für diese sehr schwierige und wichtige
Arbeit aussprechen.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Thomas Strobl für die Fraktion
der CDU/CSU.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Bundesrepublik Deutschland leben 7,3 Millionen Ausländer. Das
entspricht einem Anteil von 9,3 Prozent an der Wohnbevölkerung und ist damit der höchste Ausländeranteil aller
Länder der Europäischen Union, in der der Durchschnitt
bei 4,8 Prozent liegt. Prozentual leben in der Bundesrepublik Deutschland also doppelt so viele Ausländer wie in
den anderen Ländern der Europäischen Union. Allein
diese Zahl stellt klar: Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land.
({0})
Das ist auch wichtig so, weil die Ausländer auch
Selbstständige sind. Sie schaffen damit Arbeitsplätze und
leisten einen Beitrag zur kulturellen Vielfalt in unserem
Land. Ich weiß aber auch, dass Ausländer zu einem überproportionalen Teil an der Arbeitslosigkeit beteiligt sind.
Sie sind überproportional häufig Sozialhilfeempfänger
und ihr Anteil an der Kriminalitätsstatistik beträgt ein
Vielfaches ihres Anteils an der Bevölkerung.
Daraus folgt: Wir alle können von einem gewissen, für
Integration verträglichen Maß an Zuwanderung profitieren. Zuwanderer können die Wirtschaft beleben. Sie verrichten oft Tätigkeiten, für die wir deutsche Arbeitnehmer
nicht mehr gewinnen können. Sie sind auch als Facharbeiter in vielen Branchen gefragt. Zuwanderer können unser Leben, die kulturelle Vielfalt bereichern. Sie können
auch einen Beitrag dazu leisten, die Sozialsysteme in unserem Land zu stabilisieren.
Andererseits müssen wir zur Kenntnis nehmen - die
Zahlen belegen dies eindeutig -, dass wir es in hohem
Maße mit einer Zuwanderung von solchen Ausländern zu
tun haben, die in unser Land kommen, weil ihnen der Sozialstaat eine Versorgung in einem Maß garantiert, das sie
in ihren Herkunftsländern nicht einmal durch Arbeit erreichen können. Dies ist ein Faktum, das wir sehr wohl zur
Kenntnis nehmen müssen. Wir müssen klar und deutlich
sagen, dass dies eine Zuwanderung darstellt, die wir uns
in diesem Ausmaß in der Zukunft nicht mehr leisten können und nicht mehr leisten wollen.
({1})
Wenn dem so ist, dann liegt es in unserem ureigensten
Interesse, mehr als bisher darauf zu achten, wer aus welchen Gründen in unser Land kommt. Dann liegt es doch
auf der Hand, in Zukunft mehr auf fachliche Qualifikation, auf Integrationsbereitschaft von Zuwanderern zu
setzen. Übrigens, Herr Kollege Veit, liegt dies nicht nur
im Interesse der Deutschen. Dies liegt auch im Interesse
der vielen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
in Deutschland, die sich seit Jahren integriert haben.
Die CDU/CSU hat jetzt ein Konzept vorgelegt, wie wir
uns eine geregelte Zuwanderung, eine verbesserte Integration vorstellen. Wir haben ein geschlossenes, ein
schlüssiges Konzept und es gibt eine große Übereinstimmung zwischen CDU und CSU. Wir sagen, es muss gelingen, den steuerbaren Teil der Zuwanderung mehr, als
dies bisher der Fall war, nach den Bedürfnissen von Wirtschaft und Gesellschaft, aber vor allem auch nach der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft und der Integrationswilligkeit der Zuwanderer, die zu uns kommen wollen, zu
bestimmen.
Wir müssen in Zukunft mehr als in der Vergangenheit
eine nachhaltige Integration der hier berechtigterweise lebenden Zuwanderer bewerkstelligen. Wir müssen von
denjenigen, die zu uns kommen, in Zukunft mehr die
Bereitschaft abverlangen, sich zu integrieren, unsere
Sprache zu erlernen und sich zu unserer Verfassung zu bekennen. Das ist selbstverständlich.
Die Steuerung der Zuwanderung ist auch das entscheidende Ziel einer zukünftigen gesetzlichen Regelung in
diesem Bereich. Nur wenn es gelingt, mehr als bisher darauf Einfluss zu nehmen, wer in unser Land kommt und
zu welchem Zweck, können wir auf eine schnellere Integration der in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger hoffen.
Dies ist im Übrigen keine ideologische Frage, sondern
eine mit kühlem Kopf pragmatisch zu lösende Frage, die
eine nachhaltige Wirkung auf die deutsche Bevölkerung
hinsichtlich ihrer Akzeptanz der Zuwanderung hat. Wenn
dem so ist, dann ist der Weg, den die vorliegende
EU-Richtlinie zum Familiennachzug gehen möchte,
falsch.
({2})
Damit sollen die Voraussetzungen, die den gesetzlichen
Anspruch auf Familiennachzug begründen, durch Rechtsansprüche massiv erweitert werden. Das müssen wir aus
nationalem, aus deutschem Interesse ablehnen.
Wir hören in vielen Reden des Bundesinnenministers
sowie des Bundeskanzlers - auch Sie kennen diese Reden -, dass wir ein Zuwanderungsgesetz brauchen, das die
Zuwanderung nach Deutschland besser regelt. Das ist
richtig. Aber „regeln“ heißt auch: begrenzen, steuern und
kontrollieren. „Regeln“ heißt nicht, diejenigen Tatbestände, die eine ungeregelte Zuwanderung vorsehen, beliebig auszuweiten. Je mehr diese Tatbestände nämlich
ausgeweitet werden - das geschieht durch die EU-Richtlinie zweifellos -, desto weniger kann Zuwanderung
tatsächlich geregelt werden.
Was bedeutet die EU-Richtlinie konkret, wenn sie umgesetzt würde?
Erstens. Künftig sollen auch Personen mit einer nur befristeten Aufenthaltsgenehmigung das Recht zur Familienzusammenführung haben. Das heißt, dass etwa ein Student, der eine Aufenthaltsgenehmigung für nur ein Jahr
hat, seine Familie nachreisen lassen kann.
Zweitens. Die Nachzugsberechtigung soll nicht nur für
die so genannte Kernfamilie, also für den Ehepartner und
für die Kinder bis zum 16. Lebensjahr, sondern auch für
Verwandte in aufsteigender Linie, also für Eltern, Großeltern und ebenfalls für volljährige Kinder, die für ihren Lebensunterhalt nicht selbst aufkommen können, gelten.
Wir wollen - übrigens aus Gründen der Integration - das
Nachzugsalter senken und es nicht anheben.
Herr Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte,
gerne.
Herr Kollege Strobl, aufgrund
Ihrer Ausführungen gehe ich davon aus, dass Sie über eine
veraltete Fassung der Richtlinie reden; jedenfalls sprechen Sie nicht über die Fassung vom 21. Mai 2001.
({0})
Vielleicht würden Sie so freundlich sein, dies zur Kenntnis zu nehmen und den Inhalt Ihrer Ausführungen danach
auszurichten, was jetzt, also 2001, relevant ist, und nicht,
was 1999 oder 2000 relevant war.
({1})
Herr Kollege Strobl, Sie haben das Wort.
Die Frage
war anders gestellt. - Ich verfüge durchaus über die aktuelle Fassung. Herr Kollege Veit, wenn Sie sich noch eine
Minute gedulden, dann werden Sie feststellen, dass ich zu
diesem Punkt etwas sagen werde. Wir erkennen durchaus
an, dass gegenüber dem, was ursprünglich geplant war,
Fortschritte erzielt worden sind.
({0})
- Bitte sehr.
Drittens. Es würden auch nicht eheliche Lebensgemeinschaften aller Art eine Nachzugsberechtigung begründen. Das bedeutet nicht nur, dass dem Missbrauch
mehr als bisher Tür und Tor geöffnet wird, sondern auch
eine massive Aushöhlung des Familienbegriffs gemäß
Art. 6 unserer Verfassung.
({1})
Das ist mit uns, der CDU und der CSU, nicht zu machen.
Eine Familie ist für uns nicht zwingend eine homosexuelle Lebensgemeinschaft. Eine Familie ist für uns nicht
zwingend das Zusammenleben von Unverheirateten. Wie
ich jüngsten Zeitungsberichten entnehmen kann - jetzt
komme ich auf das, was der Kollege Veit angesprochen
hat -, hat der Europäische Rat der Innen- und Justizminister diesen Punkt der Richtlinie konkret behandelt. Es sieht
danach aus, dass man sich in Brüssel in der Frage des Erhalts der Kernfamilie den deutschen Interessen annähert.
Wir würden eine Einigung in diesem Sinne natürlich ausdrücklich begrüßen. Sie wissen, dass Sie in den Verhandlungen auf europäischer Ebene hier auf die Unterstützung
von CDU und CSU zählen können, hoffentlich auch auf
die in Ihren eigenen Reihen.
Thomas Strobl ({2})
Die Frage muss schon erlaubt sein: Kann es angesichts
der demographischen Entwicklung in Deutschland eigentlich irgendjemanden geben, der ernsthaft befürwortet, dass auch den Eltern und Großeltern von Zuwanderern
im Rahmen des Familiennachzugs ein Rechtsanspruch
auf Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland gewährt wird?
Viertens. Die Richtlinie beinhaltet den sofortigen und
freien Zugang aller Nachgezogenen zum Arbeitsmarkt.
({3})
Das ist angesichts der angespannten Arbeitsmarktlage in
unserem Lande, der flauer werdenden Konjunktur und der
katastrophalen Beschäftigungspolitik dieser Regierung
unverantwortlich.
Fünftens. Zukünftig soll es Ansprüche auf Familienzusammenführung ohne Nachweis ausreichenden Wohnraums, eines Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Einkünfte geben. Das ist im Hinblick auf unser
angespanntes Sozial- und Rentensystem indiskutabel und
mit CDU und CSU nicht zu machen.
Was wird uns von Rot-Grün geboten? Sie wollen einen Zuwanderungskonsens, sind aber bis heute nicht in
der Lage, uns zu sagen, was Sie eigentlich wollen. Zur
EU-Familiennachzugsrichtlinie sagt der sozialdemokratische Bundesinnenminister Schily laut „FAZ“ vom
6. Dezember 2000 - ich zitiere -:
Die Realisierung der Familienzusammenführungsrichtlinie würde dazu führen, dass sich die Zahl der
nach Deutschland ziehenden Familienmitglieder,
derzeit jährlich 70 000 bis 100 000 Personen, womöglich verdreifacht. Unter sochen Bedingungen bleibt
für Einwanderung aus anderen Gründen kein Raum.
Ich finde: Recht hat er. Deswegen spricht sich der Bundesinnenminister für kontrollierte und begrenzte Zuwanderung aus. Man hört immer wieder, dass er die Bereiche
der nicht regelbaren Zuwanderung so weit wie möglich
begrenzen möchte. Recht hat er.
Schön wäre allerdings, wenn der Bundesinnenminister
diese Aussagen auch im Parlament zur Diskussion stellen
würde, damit wir im Deutschen Bundestag seine Position
festhalten können.
({4})
Aber selbst wenn Herr Schily dies täte, würde das wenig
nützen; denn er stünde im rot-grünen Regierungslager
recht allein auf weiter Flur.
({5})
Das ist schade. Machen wir uns doch nichts vor: Der Bundesinnenminister hat bei Rot-Grün schon lange keine
Mehrheit mehr.
Die Frage, die sich stellt, ist: Was haben Wählerinnen
und Wähler von Rot-Grün zu erwarten? Schon in der ersten Lesung am 18. Januar hat der SPD-Kollege Veit der
Richtlinie in nahezu allen Punkten zugestimmt. Er sagte
- ich zitiere aus dem Protokoll -:
... Sie sollten sich ... langsam daran gewöhnen, dass
... der Innenminister Otto Schily mit seinen Positionen einigen Länderinnenministern oder auch den
Kollegen hier aus der CDU/CSU-Fraktion größere
Freude als seinen eigenen Parteigenossen ... macht.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Damit wird auch klar,
warum sich die SPD so schwer tut, eine Position in dieser Frage zu erarbeiten. Man kann sich nämlich nicht einigen.
({6})
Was sind die Aufsätze und Worte des Bundesinnenministers wert angesichts der Tatsache, dass die grüne und die
sozialistische Fraktion im Europäischen Parlament dem
EU-Richtlinienentwurf, den der Bundesinnenminister in
großen Teilen ablehnt, einstimmig, also auch mit den
Stimmen der deutschen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, zugestimmt haben? Wie will der Bundesinnenminister eigentlich ohne ein eigenes Konzept der
Regierung und ohne Unterstützung der eigenen Fraktion
auf EU-Ebene wirkungsvoll verhandeln und auf eine
Veränderung des Richtlinienentwurfs hinwirken?
({7})
Sie müssen endlich akzeptieren, meine Damen und
Herren von Rot-Grün, dass die Bevölkerung nicht mehr
bereit ist, sich einreden zu lassen, dass Zuwanderung etwas ist, was ungesteuert und ungebremst hingenommen
werden muss. Wer verantwortungsvoll Zuwanderungspolitik machen will, der darf die Rechtsansprüche, die ungesteuerte Zuwanderung bedeuten - wie diese EU-Richtlinie zum Familiennachzug -, nicht weiter ausweiten,
sondern muss sie möglichst begrenzt halten, um mehr Gestaltungsfreiheit zu haben.
Gerade wenn wir sagen, wir wollen und brauchen ein
gewisses Maß an Zuwanderung und dass wir in Zukunft
ein höheres Maß an interessengeleiteter Zuwanderung haben wollen und müssen, dann macht es keinen Sinn, uns
durch eine derartige Ausweitung des Familiennachzuges,
wie hier vorgesehen, die Möglichkeiten einer gestalteten
Zuwanderungspolitik abzuschneiden.
CDU und CSU haben ein ausgewogenes Konzept vorgelegt. Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, haben kein Konzept. Sie sind sich offensichtlich nicht einig. Sie befinden sich dadurch auf
EU-Ebene in einer schlechten Verhandlungsposition. Es
ist sicher richtig, wie es auch im Amsterdamer Vertrag gefordert wird, ein europäisches Zuwanderungskonzept
zu erarbeiten. Diese isolierte Richtlinie zum Familiennachzug soll jedoch nur einen kleinen Teil der Zuwanderung regeln. Das ist Stückwerk und widerspricht
dem Bestreben, ein Gesamtkonzept zu erarbeiten, weil
wichtige Entscheidungen vorweggenommen werden.
Wir fordern insbesondere den Herrn Bundesinnenminister auf, seinen Worten Taten folgen zu lassen und sich
für seine Forderungen auch auf politischer Ebene einzusetzen. Wir sind für eine europäische Zuwanderungspolitik, aber nicht um jeden Preis. Wir sind schon gar nicht für
eine Politik, die derart eklatant gegen die eigenen, gegen
Thomas Strobl ({8})
die deutschen Interessen verstößt. Deshalb lehnen wir die
EU-Richtlinie ab.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile
das Wort der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung,
Kollegin Marieluise Beck.
Marieluise Beck, Beauftragte der Bundesregierung
für Ausländerfragen: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Strobl, ich bin doch einigermaßen erschrocken, dass Sie, nachdem wir nun eine Vorlage haben und uns über die gesellschaftliche Gestaltung
von Migration auseinander setzen könnten, nichts anderes
als parteipolitisches Geplänkel präsentieren.
({0})
Wie schade um die Zeit, die Sie auch für Ihre Fraktion verschenken, statt sie sinnvoll auszufüllen! Sie versuchen ja
seit einiger Zeit, für sich zu reklamieren, dass Sie im Bereich Integrationspolitik wirklich etwas machen wollen.
Offensichtlich gibt es in Ihrem Konzept noch viele Leerstellen, sonst hätten Sie nicht zu den Hilfsmitteln des Geplänkels und Filibusterns greifen müssen.
({1})
Ich bin sehr froh, dass das Familienministerium mit
diesem Sechsten Familienbericht die Möglichkeit genutzt
hat, etwas genauer in unsere Gesellschaft hineinzuschauen.
({2})
Es hat in seinem Bereich untersucht, was Einwanderung
- gottlob beginnt sich endlich die Erkenntnis durchzusetzen, dass diese bereits seit 40 Jahren eine Realität darstellt - für die Menschen, die hier hergekommen sind, bedeutet. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass, obwohl die
alte Regierung immer gesagt hat, Deutschland sei kein
Einwanderungsland, und deswegen auch keine systematische Integrationspolitik betrieben hat, trotzdem in hohem Maße Integration stattgefunden hat. Die Menschen
haben nämlich die Sache in die eigenen Hände genommen; gerade die Familien, die nach Deutschland eingewandert sind, haben große Leistungen vollbracht.
({3})
Sie haben die Schwierigkeiten und Verunsicherungen, die
sich durch die Zuwanderung und dadurch, dass man sich
neu orientieren musste, ergaben, gemeistert.
Es besteht immer die Tendenz, bei der Aufnahme von
Ausländern den Blick auf die aufnehmende Gesellschaft
und die sich dort ergebenden Schwierigkeiten und Herausforderungen zu richten. Es ist sehr gut, dass die Perspektive gewechselt worden ist und wir uns jetzt klarmachen, welche großen sozialen Leistungen auf der anderen
Seite vollbracht worden sind - und das, wie gesagt, obwohl es keine systematischen Integrationsangebote gab
und bis zum heutigen Tag nicht gibt. Wir werden lange
brauchen, bis es systematische Integrationsangebote gibt,
weil Gemeinden, Länder und der Bund gefragt sind, wir
sehr viele Defizite haben und auch Gespräche mit den
Finanzministern nötig sind. Dies muss auf allen Ebenen
geschehen. Es darf nicht darum gehen, sich gegenseitig
den schwarzen Peter zuzuschieben, was in der Politik ja
gern gemacht wird.
Ich möchte einen Bereich herausstellen: Wir sind uns
alle einig, dass Sprache ein zentraler Baustein für die
Brücke in die Gesellschaft ist. Nach Beginn der Diskussion über dieses Thema ging es sehr schnell um die Frage:
Zwang oder Freiwilligkeit? Ich möchte Ihnen noch einmal sehr deutlich sagen, dass zurzeit für nur 10 Prozent
der Neuzuwanderer Sprachunterricht angeboten wird.
90 Prozent der Neuzuwanderer verweisen wir auf Wartelisten. Rechnen wir den Bestand ein, also die Menschen,
die bereits in den vergangenen Jahren zugezogen sind,
dann kommen wir gar zu dem Ergebnis, dass wir für nur
0,3 Prozent der Ausländer Sprachunterricht anbieten. Das
ist ein ganz, ganz großes Defizit, das wir auf der Angebotsseite haben. Es ist Nebelwerferei, wenn man so tut, als
ob diese Ausländer nicht bereit gewesen seien, in Kurse
zu gehen und wir sie deswegen jetzt dazu zwingen müssten. Damit vertuschen wir, dass viele Jahre lang auf der
Angebotsseite unglaublich große Defizite bestanden haben und immer noch bestehen.
({4})
Über diese Sache müssen wir reden. Wenn es Ihnen wirklich um das Schließen so großer Lücken geht, wenn Sie
eine ernsthafte Opposition sind und nicht so tun, als käme
das Geld aus der Steckdose,
({5})
werden Sie mit uns erkennen, dass wir in diesem Bereich
eine große gesellschaftliche Aufgabe vor uns haben, die
alle föderalen Ebenen betrifft. Denn wie gesagt, es kann
nicht um ein Schwarzer-Peter-Spiel gehen.
({6})
Das Zweite, was ich anmerken möchte: Wenn wir über
Integrationspolitik sprechen, müssen wir auch über rechtliche Bedingungen sprechen. Dass im Bundesrat der Vorschlag des Kabinetts, die Kindereinbürgerung nach
§ 40 b des Staatsangehörigkeitsgesetztes noch einmal für
zwei Jahre zu ermöglichen, von den unionsregierten Ländern zurückgewiesen worden ist, ist ein Skandal. Denn
das Angebot auf Einbürgerung ist ein Angebot an die jungen Menschen, sich in diese Gesellschaft zu integrieren.
Dass Sie diesem Ziel Knüppel zwischen die Beine werfen,
bedeutet, dass Sie es mit der Integrationspolitik nicht
wirklich ernst meinen.
({7})
Thomas Strobl ({8})
Ein dritter Bereich, auf den ich unbedingt noch hinweisen möchte, betrifft ebenfalls die rechtlichen Bedingungen. Chancengleichheit schaffen heißt auch, Zugang
zu Bildung und Ausbildung zu ermöglichen. Eine große
Zahl von Jugendlichen lebt hier im Status der Duldung,
manchmal schon über zehn oder zwölf Jahre. Ich habe vor
kurzem einen libanesischen Jugendlichen getroffen, der
jetzt den Realschulabschluss macht, danach aber keine
Ausbildung beginnen darf, weil er keinen Arbeitsmarktzugang hat. Wir produzieren auf diese Art und Weise eine
verlorene Generation.
({9})
Wir diskutieren über die Notwendigkeit der Zuwanderung
von außen, weil wir qualifizierte Kräfte brauchen, aber
verstellen die Möglichkeit, dass sich junge Menschen, die
hier sind, qualifizieren.
({10})
Bitte helfen Sie mit, dass wir in diesem Haus möglichst
schnell gemeinsam diesem Missstand entgegentreten, damit wir jungen Menschen, die in Deutschland bleiben
werden, eine Zukunft geben können, statt sie ganz bewusst außerhalb der Gesellschaft zu stellen.
({11})
Nun spricht
für die SPD-Fraktion die Kollegin Christa Lörcher.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Redezeit möchte ich nutzen,
um einige Gedanken zum Familienbericht zu äußern. Er
dokumentiert die Situation von Menschen, die zu uns
gekommen sind: Männer, Frauen, Kinder, ältere Menschen - aus verschiedenen Ländern, mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen, unterschiedlichen Motiven, mit
verschiedener Nationalität, Religion und Kultur. Sie leben
bei uns mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus, unterschiedlichen Kenntnissen der deutschen Sprache und mit
sehr unterschiedlichen Perspektiven.
Vielfalt - das ist eine der Botschaften dieses Familienberichts - ist eine Bereicherung unserer Gesellschaft,
Vielfalt stärkt die Fähigkeit zu Innovation in Kultur und
Gesellschaft, Vielfalt eröffnet die Möglichkeit, voneinander zu lernen und gesellschaftliche Gegebenheiten gemeinsam weiterzuentwickeln.
({0})
Vielfalt ist längst Realität in Deutschland und in anderen Ländern Europas: Zwischen 1950 und 2000 kamen
rund 31 Millionen Menschen zu uns, etwa 22 Millionen
verließen das Land. Die Nettozuwanderung betrug rund
9 Millionen, also im Durchschnitt dieser 50 Jahre etwa
180 000 Menschen pro Jahr.
Wie gehen wir damit um? Welche Chancen haben Kinder und ihre Familien bei uns, wenn sie als Spätaussiedler
aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion kommen, als
Flüchtlinge oder Asylsuchende aus den Krisenregionen
der Welt? Welche Chancen haben Migranten und Migrantinnen auf unserem Arbeitsmarkt? Welche Möglichkeiten
haben sie, ihre Familien nachziehen zu lassen? Der Familienbericht hat diese und andere Fragen untersucht. Er betont: Familien brauchen Perspektiven.
Gerade Perspektiven sind für Familien ausländischer
Herkunft oft nicht oder nur ungenügend gegeben. Es fehlen sichere rechtliche Rahmenbedingungen für das Leben
in diesem Land, es fehlen Kenntnisse der deutschen Sprache und im Umgang mit den Behörden, es fehlt die Möglichkeit des Zugangs zu Bildungsgängen oder sozialen
Diensten, es fehlt die Chance zu gleichberechtigtem Zusammenleben.
Der Bericht gibt aber auch Auskunft über die großen
Potenziale, die mit Migration und Migrationserfahrungen
verbunden sind. Ein Zuwachs an innerfamiliären Aufgaben bringt mehr an Entscheidungskompetenzen und Autonomie, was gerade die Rolle von Frauen - darauf ist
mehrfach hingewiesen worden - entscheidend verändern
kann. Diese Ressourcen zu stärken ist nötig und sinnvoll,
sowohl für die Lebenssituation der eigenen Familie und
sozialen Umgebung wie auch für die aufnehmende Kultur
und Gesellschaft.
Wie lebt die Bevölkerung bei uns in einer sich so verändernden Gesellschaft? Ein Kindergarten oder eine
Schule mit 90 Prozent ausländischen Kindern - geht das?
Lernen die Kinder überhaupt noch etwas? Ist das unsere
Zukunft?
Es ist in manchen Gemeinden unseres Landes Gegenwart. Vor Jahren besuchten Mitglieder der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ einen Kindergarten
und eine Schule mit solch einem hohen Ausländeranteil in
Kelsterbach bei Frankfurt am Main. Welche Probleme es
gebe, wollten einige wissen. Probleme gibt es dort, wo die
Familie von Armut oder Arbeitslosigkeit betroffen ist,
wenn Alkohol oder andere Drogen die Situation beeinträchtigen, war die Antwort. Soziale Notlagen, Armut und
Arbeitslosigkeit sind das, was Probleme macht und Ängste vergrößert. Deshalb muss ein Schwerpunkt unserer Politik darin liegen, soziale Gerechtigkeit zu fördern.
Kinder lernen miteinander und voneinander. Sie sollten - auch das ist mehrfach gesagt worden - so früh wie
möglich die Chance dazu haben. Das ist eine der Botschaften des Familienberichts. Noch immer - das wissen
wir - liegt die Quote der Bildungsabschlüsse bei Kindern
und Jugendlichen ausländischer Herkunft hinter der eines
Altersjahrgangs insgesamt. Noch immer liegt der Anteil
ausländischer Jugendlicher, die sich an einer dualen Ausbildung beteiligen, bei weit weniger als der Hälfte,
während von den deutschen Jugendlichen - unsere Ministerin hat es gesagt - immerhin zwei Drittel eines Jahrgangs eine Ausbildung aufnehmen.
Deshalb ist Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit
eine der zentralen Forderungen, nicht nur in diesem Bericht. Dafür brauchen wir interkulturelle Kompetenz bei
pädagogischen und sozialen Berufen, bei Polizei, öffentlichem Dienst oder den Berufen im Gesundheitswesen.
Beauftragte der Bundesregierung Marieluise Beck
Wir haben in unserem Antrag darauf hingewiesen und wir
werden das weiter verfolgen.
Die Demographen sagen uns, dass beides unbedingt
nötig ist: Wir brauchen Migration, Menschen, die gern zu
uns kommen und bei uns bleiben wollen, weil sie eine
Perspektive für sich und für ihre Familie sehen, und wir
brauchen eine so gute Familienpolitik, dass Frauen und
Männer Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren können und gern mit Kindern leben.
({1})
Schritte dazu haben wir in den letzten zwei Jahren gemacht, weitere folgen.
Integration wird in allen Migrationskonzepten als
Schlüsselbegriff genannt und gefordert. Ziel ist es, dass
sowohl die zuwandernden wie auch die ansässigen Menschen offen füreinander sind und dass sie gemeinsam und
gleichberechtigt für die kommenden Generationen an einer Zukunft arbeiten.
Es ist eine große Aufgabe, die uns der Familienbericht
stellt. Den Autoren sage ich herzlichen Dank; uns allen
wünsche ich Glück und Erfolg bei der Arbeit an den Konzepten und bei der Vermittlung.
Ich danke Ihnen.
({2})
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht nun der Kollege Rüdiger
Veit für die SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die CDU-Kollegen hier einerseits gewisse
Gegensätzlichkeiten innerhalb einer anderen großen
Volkspartei meinen geißeln zu müssen, sich dann aber andererseits der eine hier hinstellt, von der Fortschrittlichkeit des CDU-Zuwanderungskonzeptes spricht und uns
gleichzeitig auch noch klarmacht, das sei schon immer die
alte Denke gewesen - ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf
Ihrem Parteitag; ob das dort genauso gesehen wird, weiß
ich nicht -, und anschließend der andere, Herr Strobl,
kommt und uns mit ganz alten Schemata das alte Lied erzählt: „Die Mauern müssen hochgezogen werden; wir leiden an Überfremdung“. Und dies alles geschieht ausgerechnet beim Thema Familie, das Sie gerade in dieser
Woche zu einem der drei wichtigen Schwerpunktthemen
Ihrer Politik in der nächsten Zeit erklärt haben.
({0})
Wenn die CDU/CSU sorgfältig gearbeitet hätte - darauf bezog sich der Gegenstand meiner Nachfrage, Herr
Kollege Strobl -, dann hätten Sie festgestellt, dass die
Richtlinie, über die Sie sprechen, gar nicht mehr existiert.
Die zweite und korrigierte Fassung vom Oktober 2000 ist
durch die von mir erwähnte Fassung vom 21. Mai 2001
ersetzt worden. Das ist nicht nur in der Zeitung nachzulesen gewesen. Wenn ich das früher gewusst hätte, hätte
ich Ihnen empfohlen, diese Richtlinie noch einmal selber
nachzulesen. Sie hätten festgestellt, dass große Teile Ihrer
Angriffe völlig fehlgehen, ja zum Teil Inhalte - leider, wie
ich sagen muss - so verändert worden sind, dass sie nicht
mehr im Sinne einer sozialdemokratischen Partei sind.
({1})
- Der Bundesinnenminister hat an den entsprechenden
Beratungen vom 28./29. Mai dieses Jahres mitgewirkt.
Ich bin jetzt nicht in der Lage, Ihnen genau zu sagen, was
dort im Einzelnen beraten worden ist. Aber ich empfehle
Ihnen die entsprechende Drucksache ganz besonders deswegen zum Studium, weil darin dokumentiert ist, welche
europäischen Staaten zu welchen Dingen noch Nein sagen, zu welchen sie Ja gesagt haben und bei welchen sie
noch Vorbehalte haben.
Ich will Ihnen sagen, warum ich es sehr bedauere, dass
Sie keine Veranlassung gesehen haben, Ihren Antrag einfach zurückzuziehen: Selbst die Kommission, die Herr
Schily ins Leben gerufen hat und die von Frau Süßmuth
geleitet wird, sagt in ihrem Bericht ausdrücklich - auch
wenn er noch vorläufig und nur im Internet nachzulesen
ist -, sie begrüße grundsätzlich diese Richtlinie zur Familienzusammenführung. Dann werden einige differenzierende Bemerkungen gemacht, die wiederum schon in der
Neufassung berücksichtigt sind.
Ich will Ihnen sagen, warum ich es sehr bedauere, dass
in dieser Richtlinie verschiedene Änderungen vorgenommen worden sind: Es gab in der alten Fassung den
Rechtsanspruch der wenigen in Deutschland anerkannten minderjährigen Flüchtlinge, unter Umständen auch
Geschwister und Eltern aus ihrem Heimatland hierher
kommen zu lassen. Dies bedeute also eine Familienzusammenführung hier bei uns in Deutschland für ganz wenige anerkannte minderjährige Flüchtlinge - und dies mit
gutem Recht, wie ich finde. Diesen Rechtsanspruch für die
Fälle, in denen die familiäre Gemeinschaft für solche Kinder und Jugendliche nicht im Herkunftsland bzw. in ihrer
Heimat hergestellt werden kann, sondern nur in dem Land,
in dem sie Schutz und Aufnahme gefunden haben, hätte
man auch weiter ausgestalten können. Ich nenne Ihnen einmal eine Größenordnung - obwohl die Zahl dabei nicht
das Entscheidende ist -: Es wäre dabei vielleicht um
200 junge Leute gegangen.
Als früherer Kommunalpolitiker sage ich noch ein Weiteres: Welches ist denn die Alternative? Anerkannte minderjährige Flüchtlinge, die keine Angehörigen haben, werden hier in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht.
Das kostet die Kommunen im Monat bis zu 8 000 DM. Da
finde ich es in jeder Hinsicht, und zwar humanitär, wirtschaftlich und bevölkerungspolitisch, wesentlich besser,
wenn diese jungen Leute dann hier mit ihren Familien leben können - und das auf Dauer. Das hätte jedenfalls ich
mir gewünscht.
({2})
Ich will mich einmal mit der Frage des Nachzugsalters
auseinander setzen. Es ist eigentlich schon sehr bemerkenswert - Sie haben das unerwähnt gelassen; Sie wissen
es vielleicht auch nicht und deshalb sage ich es hier -,
welche verschiedenen Variationen wir bereits heute in unserem Rechtssystem haben: Bei Ausländern im Allgemeinen gilt das maximale Nachzugsalter von 16 Jahren, bei
anerkannten Asylbewerbern und Flüchtlingen von 18 Jahren und bei im Ausland lebenden Kindern von Deutschen
von ebenfalls 18 Jahren. Wenn aber ein EU-Staatsbürger
seine Kinder nachholen will, dann gilt nach dem Recht
seines Heimatstaates ein maximales Nachzugsalter von
21 Jahren.
Jetzt kommen Sie her und sagen: Wir wollen, dass das
Nachzugsalter auf zehn Jahre abgesenkt wird; denn das hat
ja mit Integration zu tun. - Auch diese Argumentation
übersieht völlig, dass nach dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht die ganze Thematik, die Ihnen da vorschwebt,
längst vom Tisch ist. Sie denken an die Jugendlichen
- vielleicht vorzugsweise türkische -, die in Deutschland
geboren wurden, von ihren Eltern dann in die angestammte
Heimat geschickt werden und erst spät zurückkommen.
Aber ich darf Ihre geschätzte Aufmerksamkeit einmal
darauf lenken, dass alle nach dem 1. Januar 2000 in
Deutschland geborenen Kinder ausländischer, sich hier
seit zehn Jahren rechtmäßig aufhaltender Eltern als Inländer bzw. als Deutsche ohne Anwendung des Ausländergesetzes mit der größten Selbstverständlichkeit und Berechtigung von ihren Eltern in welches Ausland auch immer
geschickt und zu dem Zeitpunkt zurückgeholt werden
können, zu dem sie das für richtig halten.
({3})
- Das ist kein Fehler. Diese Selbstbestimmung müssen Sie
schon denjenigen überlassen, die als ausländische Kinder
hier geboren werden und damit die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben. Im Übrigen ist auch das ein
Gesichtspunkt, den Sie gern in dem alsbald veröffentlichten Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung
nachlesen können.
Lassen Sie mich noch Folgendes sagen: Bestandteil
des Antrages von Sozialdemokraten und Grünen zum Familienbericht sind eben auch Hinweise darauf, dass wir
die Richtlinie zur Familienzusammenführung - ich sage
einmal: in ihrer Ursprungsform vom Oktober 2000 begrüßen. Wir sagen aber auch, dass die so genannten
Kettenduldungen, die den Menschen hier keine Perspektiven geben, die verhindern, dass sie Arbeit aufnehmen können, die bewirken, dass sie weiter von Sozialstaatsleistungen abhängig sind, ein für alle Mal
abgeschafft und durch einen vernünftigen Aufenthaltsstatus ersetzt werden müssen, der ihnen auch die Aufnahme
von Arbeit ermöglicht.
({4})
Ich will am Schluss sagen: Am 30. September 1999 hat
der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit den Beschluss gefasst, die Bundesregierung möge die Vorbehalte
gegen die Kinderrechtskonvention zurücknehmen. Ich
würde mir - ich werde nicht müde zu glauben, zu hoffen
und zu wünschen - wünschen, dass die Beauftragte der
Bundesregierung für den Weltkindergipfel, Anke Fuchs,
auf diesem sagen kann: Dieser Wunsch auch von Sozialdemokraten ist in Erfüllung gegangen. Der Vorbehalt ist
zurückgenommen.
Ich bedanke mich.
({5})
Ich schließe
die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung
des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Familienzusammenführung
sachgerecht regeln - EU-Richtlinienvorschlag ablehnen“,
Drucksache 14/5808, Tagesordnungspunkt 7 a. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4529 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen von CDU/CSU angenommen.
Bei Tagesordnungspunkt 7 b und Zusatzpunkt 7 wird
interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/4357 und 14/5266 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das
Haus ist damit einverstanden. Die Überweisungen sind so
beschlossen.
Der Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6169 soll zur
federführenden Beratung an den Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend sowie zur Mitberatung an
den Innenausschuss, an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, an den Ausschuss
für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, an den Rechtsausschuss und an den Haushaltsausschuss überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2000 ({0})
- Drucksache 14/5400 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vereinbart worden. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Dr. Willfried Penner,
das Wort.
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Auch dieser Bericht des Wehrbeauftragten ist inhaltlich keine Zustandsbeschreibung der Bundeswehr. Er
ist der Sache nach ein Mängelbericht, ohne dass er auf positive Akzente verzichtet.
Zu vielen Einzelheiten muss ich auf meinen schriftlichen Bericht verweisen, namentlich auf meine Bemerkungen zur Ost-West-Besoldung, aber auch zum Sanitätswesens. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte
ich das Parlament insgesamt bitten, sich der folgenden
Probleme mit dem Ziel der Lösung besonders anzunehmen: Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr auf dem
Balkan steht auch die dafür gebotene Motivation der Soldaten in Rede. Diese kann nach meiner Überzeugung nur
gehalten werden, wenn Parlament und Regierung darauf
verweisen können, dass sich der Sinn des Einsatzes nicht
darauf beschränkt, durch militärische Präsenz Unruhen zu
unterbinden und damit eine erneute Massenflucht zu verhindern.
Es geht also auch um politische Perspektiven, und die
kann das Militär nicht schaffen.
({1})
Für die Soldaten sind diese nicht erkennbar, wenn Pioniere
dort den Müll der Bevölkerung beseitigen, sie deshalb von
der Bevölkerung mehr und mehr als Müllkutscher wahrgenommen werden und überdies auf ausreichende Hygienevorkehrungen bei der Verrichtung ihrer Tätigkeit verzichten müssen, wie mir das ein deutscher Soldat vor
kurzem an Ort und Stelle geschildert hat.
Im Einsatz sind die großen und die kleinen Sorgen
nicht zu unterschätzen. Dafür nur einige Beispiele:
Erstens. Inakzeptabel ist die Unterbringung von
mehr als zwei Soldaten in einem Container mit einer
Wohnfläche von circa 12,7 Quadratmetern für sechs Monate.
({2})
Solche Bedingungen wären schon nach den Regeln des
Vollzugsrechtes für Strafgefangene in grauer Vorzeit unzulässig gewesen, umso weniger können sie für Soldaten
unter den besonderen Bedingungen eines schwierigen
und belastenden Einsatzes hingenommen werden.
({3})
Zweitens. Die rechtlich nicht zu tadelnde Überprüfung
des Auslandsverwendungszuschlages durch dafür zuständige Beamte der Ministerialbürokratie hat insbesondere auch deswegen bei Soldaten Verständnislosigkeit, ja
Fassungslosigkeit ausgelöst, weil zur gleichen Zeit heftige Unruhen in Mazedonien ausbrachen. Das muss künftig vermieden werden.
({4})
Drittens. Die militärisch wohl begründete Dauer der
Einsatzkontingente von sechs Monaten wird insbesondere für junge Familienväter in der letzten Phase der Verwendung zu einem herben Thema.
({5})
Es betrifft ja nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien und wirkt sich daher doppelt belastend gegen Soldaten aus.
Insgesamt gesehen sollte das gesamte Parlament und
nicht der Verteidigungsausschuss allein vielleicht noch
deutlicher und häufiger als bisher zu erkennen geben, dass
es den Dienst der Soldaten gerade im Einsatz schätzt. Die
Soldaten haben sich diese Anerkennung durch vorzügliche Leistungen und durchweg tadelsfreies Auftreten auch
verdient.
({6})
Stichwort Bundeswehrreform: Sie hat gewiss viele
Aspekte. Die Soldaten wissen, dass es dabei auch um
Geld, um viel Geld geht. Sie wissen: Ohne Geld gibt es
kein Material, gibt es keine ordentliche Instandsetzung,
gibt es auch kein Attraktivitätsprogramm. Ohne Geld, das
wissen sie, gibt es keinen Abbau des Beförderungs- und
Verwendungsstaus. Aber die Soldaten wissen auch, dass
über eine zureichende Finanzausstattung der Bundeswehr
politisch zu entscheiden ist, weil dies mit dem politischen
Auftrag verzahnt ist. Darauf müssen sie auch vertrauen
können.
({7})
Viertens. Im Übrigen wird die beste Veränderung, die
bestgemeinte Strukturreform der Bundeswehr kaum nutzen, wenn die davon betroffenen Menschen nicht beteiligt
werden, sondern sie diese nur über sich ergehen lassen.
Gerade im Hinblick auf die persönlichen Konsequenzen
für die Soldaten und ihre Familien ist Planungssicherheit
geboten. Sie müssen sich alsbald auf mögliche Veränderungen einrichten können.
({8})
Das zu gewährleisten gehört auch zur fürsorgerischen
Pflicht der militärischen und politischen Führung gegenüber Soldaten und deren Familien.
({9})
Die seit Jahresbeginn mögliche uneingeschränkte Verwendung von Frauen in der Bundeswehr ist eine historische Zäsur, übrigens nicht nur für die Bundeswehr
allein, sondern wahrscheinlich auch für die Gesamtgesellschaft, nachdem bisher Frauen nur im Sanitäts- und
Musikdienst Dienst leisten konnten. Ersten Eindrücken
zufolge scheint die zweimonatige Grundausbildung keine
besonderen Schwierigkeiten zu bereiten. Bei Truppenbesuchen in Einheiten, in denen Frauen ihre Grundausbildung absolvieren, wurde berichtet, dass diese in
ihren Leistungen mit denen der männlichen Kameraden
mithalten. Bei Ausbildungsabschnitten wie zum Beispiel
Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner
dem Marsch mit Gepäck sind Frauen teilweise im vorderen Leistungsbereich vertreten gewesen.
({10})
Bei der Auswahl der Ausbilder für die Grundausbildung hat sich die militärische Führung nach meiner Einschätzung von besonders hohen Qualitätsansprüchen leiten lassen. Dies hat sicherlich zum guten Gelingen in der
Anfangsphase beigetragen. Die eigentliche Bewährungsprobe für die Integration der weiblichen Soldaten kommt
jedoch bei späteren Verwendungen, wenn nur noch einige
wenige gemeinsam in einer Einheit Dienst tun.
Das Nebeneinander von Mann und Frau in den Streitkräften wird übrigens nicht von einem zum anderen Tag
selbstverständliche Routine sein, ganz im Gegenteil wird
es auch Schwierigkeiten geben, die aber gemeistert werden können. Dabei hilft Offenheit und schadet Beschönigung oder gar Vertuschung. So müssen gerade Verstöße
gegen die sexuelle Selbstbestimmung rückhaltlos und
ohne Ansehen der Person aufgeklärt werden, so bittere Erkenntnisse damit auch verbunden sein mögen.
({11})
Das immer noch anhaltende enorme öffentliche Interesse - besonders des Fernsehens - wird teilweise als lästig und belästigend empfunden. Dazu stelle ich fest: Die
Soldaten sind nicht Objekt der Mediengesellschaft und
dürfen es bei aller gebotenen Offenheit für Veränderungen
in der Gesellschaft auch nicht werden.
({12})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Plage
des Rechtsextremismus hat vor den Kasernentoren nicht
Halt gemacht. Mit der Art der Vorkommnisse und den Tätergruppen, mit den Zahlen und Tendenzen setzt sich der
Jahresbericht 2000 detailliert auseinander. Nach den bisherigen Zahlen des Jahres 2001 zu urteilen, wird im Jahr
2001 eine ähnliche Lage zu verzeichnen sein wie im Vorjahr.
Das Militärische - das ist uns bekannt - löst beim
Rechtsextremismus bekannte Begehrlichkeiten aus. Deshalb ist ständige Aufmerksamkeit geboten. Denn eine Armee ist nicht per se demokratisch. Die Strukturen für Demokratie müssen lebendig sein, namentlich die innere
Führung muss lebendig sein, damit es den Staatsbürger in
Uniform auch wirklich geben kann.
({13})
Das ist und bleibt ein wirksamer Schutz für die demokratische Beschaffenheit der Armee.
Aber - um nicht missverstanden zu werden - auch das
ist meine Überzeugung: Die Bundeswehr ist nicht anfällig für Rechtsextremismus und wird schon gar nicht davon zersetzt. Sie ist eine demokratische Armee in einem
demokratisch verfassten Staat. Abstrakte Gefährdungen
durch Rechtsextremismus sind aber unabweisbar. Nach
Lage der Dinge ist die Bundeswehr darauf eingestellt. Die
militärischen und politischen Führer sind sich ihrer besonderen Verantwortung gerade bei der Meisterung dieses
Themas bewusst. Aus gegebenem Anlass muss aber festgestellt werden: Ein guter und förderungsgeeigneter Soldat kann nicht sein, wer sich rechtsextremistisch verhält,
auch wenn seine soldatischen Leistungen in Ordnung
sind.
({14})
Nicht nur im Zusammenhang mit der Wehrstruktur ist
immer wieder von mieser Stimmung in der Truppe zu
hören. Offen und von mir persönlich gesagt: Das klingt
mir allzu sehr nach psychologisierender Befindlichkeit.
Ich für meinen Teil möchte dies nicht zur Grundlage von
Bewertungen machen.
Was das aus meiner Sicht schon aufschlussreichere
Thema „Motivation oder deren Fehlen“ angeht, so wäre
es grundverkehrt, hierbei die alleinige Verantwortung der
Vorgesetzten einzufordern. Menschenführung und innere
Führung stoßen an Grenzen, wenn die Material- und Ersatzteillage so mängelbehaftet, wie sie ist, fortbesteht und
wenn der Einsatz auf dem Balkan und anderswo die
Truppe im Inland zunehmend strapaziert,
({15})
selbstredend auch dann, wenn die Zukunftsperspektive
für Soldaten verschwimmt und der Beförderungs- und
Verwendungsstau eine für viele belastende Tatsache
bleibt.
Allein in den letzten Monaten haben erneut zahlreiche
Soldaten in Eingaben ihre tiefe persönliche Enttäuschung
über die tatsächlichen Möglichkeiten ihres Fortkommens
geschildert. Hierzu nenne ich drei Beispiele.
Erstes Beispiel: Ein 55-jähriger Major, der seit 34 Jahren Soldat ist, steht seit 16 Jahren im heutigen Dienstgrad.
Er übt seinen Dienst seit drei Jahren auf einem Oberstleutnantsdienstposten aus und schreibt:
Zu jedem Quartalsbeginn hoffe ich vergeblich auf
eine Beförderung, muss aber nur Bekundungen des
Mitgefühls von allen Seiten erleben. Ich fühle mich
im Stich gelassen und meine: Dies habe ich nicht verdient.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Zweites Beispiel: Ein Oberleutnant zur See versieht
seinen Dienst seit langem auf einem höherwertigen
Dienstposten, ohne befördert worden zu sein. Das Ausbleiben der Beförderung ist für einen Zeitraum von einigen Monaten und nicht von über drei Jahren, wie das in
diesem Fall geschehen ist, nachvollziehbar.
Drittes Beispiel: Ein Hauptfeldwebel, seit 29 Jahren
Soldat, steht seit 15 Jahren im derzeitigen Dienstgrad.
Trotz großen Engagements, belegt durch mehrere Anerkennungen und Bestpreise, blieb eine Beförderung aus.
Ihm wurde dann in Aussicht gestellt, noch so rechtzeitig
Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner
vor seinem Ruhestand zum Stabsfeldwebel befördert zu
werden, dass sich dies auf jeden Fall auf seine Versorgungsbezüge auswirke. Er schrieb mir dazu:
Was für eine Aussage - das schafft Motivation!
Auch dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Um es klar zu sagen: Alle diese Fälle habe ich überprüft. Überall wurden die in der Bundeswehr allgemein
gültigen Verfahren zur Bewertung und Beurteilung korrekt durchgeführt. Es ist jeweils mit rechten Dingen zugegangen. Trotzdem: Die tief sitzende Enttäuschung dieser Soldaten kann ich gut verstehen. Sie sind die
Betroffenen fehlender Planstellen, knapper Kassen und
der Folgen vorangegangener, noch nicht bewältigter
Strukturreformen. Die Unwägbarkeiten in der Laufbahn
und das Gefühl des Ausgeliefertseins auf dem persönlichen Lebensweg verunsichern heute viele Soldaten, wenn
sie an die bevorstehenden Veränderungen der Bundeswehr denken.
So mancher - das habe ich selbst erfahren - stellt sich
heute die Frage, ob es richtig war, Berufssoldat zu werden. Auf die Nachwuchswerbung, die junges und hoch
qualifiziertes Personal in die Truppe bringen soll, wirft
dies Schatten. Das kann man nicht einfach auf sich beruhen lassen. Es muss gegengesteuert werden, weil auch
davon die Qualität der Bundeswehr in der Zukunft abhängt.
({16})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Parlament als Ganzes, nicht allein der Verteidigungsausschuss
und die Verteidigungspolitiker, wird sich der Sorgen der
Parlamentsarmee und der Sorgen der Soldaten verstärkt
annehmen müssen.
({17})
Die Bundeswehr darf nicht in ein Motivationsloch fallen
und sich schon gar nicht an objektiven Schwierigkeiten
aufreiben. Es besteht Anlass, sich vertieft um die Bundeswehr zu kümmern.
Schönen Dank für die Geduld.
({18})
Ich danke
dem Wehrbeauftragten. Nunmehr gebe ich dem Kollegen
Werner Siemann für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Herr
Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich mein Bedauern darüber ausdrücken, dass der Minister der Verteidigung an dieser sehr
wichtigen Debatte heute nicht teilnimmt und sich die klaren Worte des Wehrbeauftragten nicht angehört hat.
({0})
Der heute zu beratende Wehrbeauftragtenbericht 2000
bereichert die anhaltende öffentliche Debatte und gewährt
interessante Einblicke in den inneren Zustand der Bundeswehr, um die es nach Aussagen des Verteidigungsministers
gar nicht so schlecht bestellt sein sollte. Zum Amtsantritt
im Oktober 1998 äußerte er voller Stolz - ich zitiere -:
Mit so weitreichenden Zusagen ist bisher noch kein
Verteidigungsminister auf die Hardthöhe gegangen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch die Frage,
wieso in dem noch zurückhaltend geschriebenen Bericht
des Wehrbeauftragten, dem heute sehr klare Worte gefolgt
sind - ich möchte ihm bereits an dieser Stelle für seine Arbeit danken -, so viele eklatante Mängel aufgelistet sind,
die auf die massive Unterfinanzierung der Bundeswehr
zurückzuführen sind. Die Antwort auf diese Frage ist banal und hinlänglich bekannt. Die Zusagen wurden nicht
eingehalten, mit der Konsequenz, dass die Bundeswehr
unter rot-grüner Verantwortung ungebremst gegen die
Wand gefahren wird.
({1})
Mit der Bundeswehrreform wollte Minister
Scharping die Bundeswehr umstrukturieren, modernisieren und rationalisieren - dies alles bei fallender Finanzlinie und ohne Anschubfinanzierung. Nach wie vor verkennt die Bundesregierung, dass Rationalisierungs- und
Modernisierungsgewinne sowie Einsparungen aufgrund
von Personalreduzierungen erst mittelfristig erwirtschaftet werden können. Es ist nicht nachzuvollziehen, warum
das Bundeskabinett zwar eine Streitkräftereform beschließt, sich aber dann verweigert, wenn es um die Finanzierung geht.
Von Tag zu Tag wird deutlicher, dass die Bundeswehrreform ohne eine solide Finanzierung zum Rohrkrepierer wird. Eine nüchterne Analyse rot-grüner Verteidigungspolitik kommt zu folgenden drei Ergebnissen:
Erstens. Noch nie wurde der Bundeswehr so viel Geld
entzogen wie unter Minister Scharping.
Zweitens. Noch nie wurden Zusagen gegenüber einem
Verteidigungsminister so ungeniert gebrochen wie unter
Finanzminister Eichel.
Drittens. Noch nie war die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr so gefährdet wie unter der Regierung Schröder.
({2})
Ein Blick auf die Material- und Ersatzteillage der
Bundeswehr sowie deren Probleme bei der Nachwuchsgewinnung machen dies mehr als deutlich. Allein im laufenden Haushaltsjahr fehlen der Bundeswehr für den unabdingbaren Materialerhaltungsbedarf nach internen
Berechnungen der Hardthöhe insgesamt 378 Millionen DM. Seriöse Schätzungen gehen von einem Haushaltsfehlbetrag von 2 bis 3 Milliarden DM aus, und zwar
mit steigender Tendenz.
Noch in der von Bundesminister Scharping zu verantwortenden Stellungnahme des Ministeriums zum Wehrbeauftragtenbericht 1998 heißt es:
({3})
Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner
- Herr Gilges, ich weiß ja, dass Sie schreien können; gehen Sie doch vor die Tür und machen Sie das nicht hier.
({4})
Durch die Verstärkung der Haushaltsmittel für die
Materialerhaltung 1997/98 ist eine ausreichende Verfügbarkeit des Wehrmaterials zur Durchführung einer auftragsorientierten Ausbildung erreicht. Die
Truppe wurde mit ausreichenden Haushaltsmitteln
für die Materialerhaltung ausgestattet.
Mit anderen Worten: Die jetzige katastrophale Material- und Ersatzteillage ist einzig und allein auf die mangelnde Handlungsfähigkeit der rot-grünen Bundesregierung zurückzuführen.
({5})
Ähnlich dramatisch sieht die Situation bei der Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr aus. Wie aus dem
Wehrbeauftragtenbericht ersichtlich ist, ging die Zahl der
Bewerber für die Offizierslaufbahn um 10 Prozent
zurück. Wir müssen in den nächsten Jahren damit leben,
dass uns 12 000 Berufs- und Zeitsoldaten fehlen werden.
Durch widersinnige Regelungen, insbesondere durch die
Möglichkeit einer abschnittsweisen Ableistung des Wehrdienstes, wird diese Tatsache noch verstärkt. Sie wissen,
dass die Möglichkeit der abschnittsweisen Ableistung des
Wehrdienstes dazu führen wird, dass sich diese Soldaten
nicht mehr als FWLDer werden verpflichten können. Gerade die freiwillig Längerdienenden sind eine wesentliche
Säule des neuen Bundeswehrkonzepts.
({6})
Die im Wehrbeauftragtenbericht aufgeführten Beispiele
sprechen eine erschreckend deutliche Sprache, wie es um
den Zustand der Bundeswehr bestellt ist: Wenn Soldaten
der Bundeswehr aufgrund der katastrophalen Material- und
Ersatzteillage an Fotos ausgebildet werden müssen, weil
das vorhandene Gerät im Ausland ist, besteht dringender
Handlungsbedarf. Wenn durch den radikalen Finanzentzug
die Bundeswehr aufgrund mangelnder Zukunftsaussichten
und unübersehbarer Mängel bei Ausrüstung und Versorgung mit massiven Nachwuchsproblemen zu kämpfen hat
und sich die Zahl der Kriegsdienstverweigerer auf erschreckend hohem Niveau etabliert, besteht akuter Handlungsbedarf. Wenn loyale Offiziere bei offiziellen Tagungen mit dem Minister harsche, aber berechtigte Kritik an
der Bundeswehrreform üben, wenn hoch angesehene ehemalige Generale und Admirale anmahnen, die jetzt beschlossene Reform sei ohne Anschubfinanzierung nicht
umzusetzen, diese aber von der Regierung verweigert wird,
besteht dringender Handlungsbedarf.
Wenn unsere amerikanischen Verbündeten in nie dagewesener Dringlichkeit einen höheren deutschen Verteidigungsbeitrag einfordern,
({7})
damit Deutschland im Rahmen einer fairen Lastenteilung
seinen umfangreichen Verpflichtungen gegenüber den
NATO- und EU-Partnern nachkommen kann, besteht akuter Handlungsbedarf. Wenn erstmals in der Geschichte der
Bundeswehr die Etatvoranmeldung für den Verteidigungshaushalt nicht von der Hardthöhe, sondern vom Finanzministerium erstellt werden muss, besteht dringender
Handlungsbedarf.
Wenn dann auch noch der höchste militärische Berater
der Bundesregierung, Generalinspekteur Harald Kujat,
der Bundeswehr die Einsatzfähigkeit abspricht und selbst
der Verteidigungsminister feststellen muss, dass die
Streitkräfte weder voll europa- noch bündnisfähig sind,
und das Finanzloch allein für das nächste Jahr auf
2,7 Milliarden DM beziffert, kann die Krise der Streitkräfte nicht länger ignoriert oder, schlimmer noch,
schöngeredet werden, wie es seit Monaten die rot-grüne
Koalition versucht.
({8})
Wenn man nun aber hört, dass die Bundeswehr ab 2003
500 Millionen DM mehr als ursprünglich vorgesehen erhalten soll, so muss ich sagen, dass das nicht mehr als ein
ungedeckter Scheck auf die Zukunft ist und mich fatal an
die nicht eingehaltene Zusage zum Amtsantritt des Ministers erinnert.
Was muss noch passieren, damit diese Bundesregierung begreift, dass sie die Bundeswehr ungebremst vor
die Wand fährt, wenn sie so weitermacht? Als stärkste Industrienation und als bevölkerungsreichstes Land Europas hat Deutschland die Pflicht, einen verantwortungsvollen Beitrag zum Frieden und zur Stabilität der Welt zu
leisten. Die Bundesregierung muss sich endlich zu dieser
Pflicht bekennen und den groß angekündigten Worten Taten folgen lassen.
Dass die radikalen Haushaltskürzungen nicht zu verantworten sind, haben wir eben schon vom Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages gehört. Der Wehrbeauftragte und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
stimmen darin überein, dass das gebetsmühlenartig angekündigte Attraktivitätsprogramm endlich umgesetzt
werden muss. „Wo bleiben die seit langem angekündigten
Vorlagen?“ möchte man den Minister fragen, wenn er anwesend wäre. Die Soldaten und ihre Familien, die Zivilangestellten und ihre Familien, aber auch wir warten
darauf.
Die fortwährende Unterfinanzierung der Streitkräfte
wuchert wie ein Krebsgeschwür an lebenswichtigen Organen der Truppe. Nach und nach verspielt der Verteidigungsminister durch seine wenig Vertrauen erweckende
Politik und durch die nicht eingehaltenen Ankündigungen
das größte Gut der Bundeswehr: die Motivation und Leistungsbereitschaft unserer Soldaten. Die Moral der
Truppe wird erheblichen Schaden nehmen, wenn sie nicht
das dringend benötigte Medikament in Form einer hoch
dosierten Finanzspritze verabreicht bekommt.
Ein aktueller Bericht des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, der uns diese Woche zeitgerecht
erreichte, spricht im Übrigen Bände: Die im Auslandseinsatz befindlichen Soldaten fühlen sich im Stich gelassen,
weil ihnen nicht die größtmögliche Unterstützung gewährt wird. Verantwortlich dafür ist allein dieser Minister; verantwortlich dafür ist allein diese Regierung.
({9})
Nur durch ein solides finanzielles Fundament können
viele der im Bericht des Wehrbeauftragten aufgeführten
Mängel gemildert werden und kann die Bundeswehr ihre
volle Einsatzfähigkeit zurückgewinnen. Nur durch ein solides finanzielles Fundament kann Deutschland seinen internationalen Verpflichtungen gerecht und können die
Streitkräfte wieder als Arbeitgeber für junge Menschen attraktiv werden.
Schaffen Sie endlich die dafür notwendigen Voraussetzungen! Das wollte ich Ihnen zum Abschluss sagen.
({10})
Ich erteile
dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Walter Kolbow, das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrter
Herr Dr. Penner! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Siemann, Bundesminister Scharping ist wegen
der zeitlichen Verschiebung der Debatte in Kollision mit
unabänderlichen Terminen geraten.
({0})
Er hat sich beim Wehrbeauftragten dafür entschuldigt und
hat mich gebeten, dies dem Hause mitzuteilen; dem
komme ich hiermit nach.
({1})
Der Wehrbeauftragte hat eingangs gesagt, sein Bericht
sei naturgemäß ein Mängelbericht und keine Zustandsbeschreibung. Er hat Recht: Dieser Bericht soll Unzulänglichkeiten, individuelles Fehlverhalten und strukturelle
Defizite in der Bundeswehr aufzeigen. Sein besonderer
Wert liegt in der unabhängigen Berichterstattung an das
Parlament, aber auch darin, dass er der politischen und
militärischen Führung immer wieder Ansatzpunkte für
Verbesserungen gibt. Der Bundesminister für Verteidigung und das Ministerium insgesamt nehmen diesen Bericht ernst. Ich denke, andere - also auch jene außerhalb
der Sach- und Fachverständigen in Regierung und Parlament - sollten das ebenfalls tun.
({2})
Im vorliegenden Bericht werden aber auch positive
Entwicklungen in den Streitkräften angesprochen. Die Erkenntnisse des Wehrbeauftragten in Gänze decken sich im
Wesentlichen mit denen des Bundesministeriums der
Verteidigung.
Die Bundeswehr leidet unter den Folgen jahrelanger
Unterfinanzierung und ausgebliebener Modernisierungsmaßnahmen in den 90er-Jahren.
({3})
Eine Bugwelle von aufgeschobenen Investitionen lässt
kaum Handlungsfreiheit. Größe, Struktur und Ausrüstung
der Streitkräfte sind den neuen Aufgaben nicht angemessen.
({4})
Von 1994 bis 1998 wurden - das sage ich zum wiederholten Mal - dem Verteidigungsetat durch globale
Minderausgaben und durch Haushaltssperren 3 Milliarden DM entzogen.
({5})
Die Bundeswehr ist von daher noch immer durch eine
Reihe personeller, materieller und struktureller Verwerfungen gekennzeichnet.
Der Personalbestand ist insgesamt überaltert, die Soldaten leiden unter Beförderungs- und Verwendungsstaus.
Die Situation bei den als persönlich dramatisch einzuschätzenden Fällen, die der Wehrbeauftragte hier vorgetragen hat, ist nicht innerhalb der Jahre 1999 und 2000
entstanden. Wir konnten die Mängel noch nicht beseitigen; das ist einzuräumen. Wir werden das aber tun.
({6})
Auch dass das Schlüsselpersonal hohe Belastungen
auszuhalten hat und dass die nicht immer leistungsgerechte Besoldung zu Motivationsverlusten sowie zu
Schwierigkeiten bei der Nachwuchsgewinnung führt,
sind Tatsachen, die uns aber anspornen, die Missstände zu
beseitigen.
Veraltete Waffensysteme und fehlende Ersatzteile beschränken die Einsatzbereitschaft im Inland und führen zu
einem unvertretbar hohen Aufwand bei der Materialerhaltung. Der hohe Betriebsaufwand verhindert Investitionen in neue Ausrüstung.
Unzweckmäßige Kompetenzverteilungen, unzeitgemäße Führungs-, Verwaltungs- und Beschaffungsverfahren sowie unzureichende und nicht kompatible Informations- und Kommunikationstechniken binden knappe
Ressourcen.
Hier müssen neue Wege beschritten werden. Durch unsere Bemühungen, durch Verstärkung der Einnahmenseite, wollen wir neue Mittel für die Beseitigung dieser
Mängel freisetzen. Wir fordern Sie auf: Gehen Sie diese
Wege mit! Sorgen Sie für deren Akzeptanz!
({7})
Es ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass diejenigen,
die früher neue Wege gesucht haben - nicht immer
schlecht; ganz im Gegenteil, sie haben ihre Pflicht
getan -, durch diese Veränderungen Stress befürchten
und, gelegentlich sogar im Parlament, an alten Zöpfen
festhalten wollen.
Bei Soldatinnen und Soldaten und deren Angehörigen
führen diese Defizite zu Unsicherheit und Motivationsverlust. Eine Vielzahl der im vorliegenden Bericht des
Wehrbeauftragten genannten Mängel, die Dr. Penner hier
eindrucksvoll belegt hat, findet hier ihren Ursprung.
Aufbauend auf der Bestandsaufnahme dieser Defizite
wurde die Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf
eingeleitet. Ziel ist es, Auftrag, Umfang, Organisation,
Ausrüstung und Mittel wieder in Balance zu bringen.
In vielen Teilbereichen wurde die Umsetzung der Reform bereits eingeleitet. Wir verzeichnen überall dort
kontinuierlich Fortschritte, wo wir investieren: in die
Menschen und ihre Fähigkeiten, in die Ausrüstung und
ihre Leistungsfähigkeit sowie in die Wirtschaftlichkeit
und Effizienz von Beschaffung und Betrieb. Die eingeleiteten Reformmaßnahmen haben bewusst den Anspruch,
den Mensch in den Mittelpunkt zu stellen. So soll die Attraktivität des Dienstes durch eine Reihe von Maßnahmen
erhöht werden. Das Sechste Besoldungsänderungsgesetz
und das Artikelgesetz über die Neuausrichtung der Bundeswehr sind auf den Weg gebracht, um dazu beizutragen,
dass die Motivation der aktiven Soldatinnen und Soldaten
erhalten und dauerhaft qualifizierter Nachwuchs gewonnen werden kann.
({8})
Keine Reform dieser Dimension - auch das weist der
Bericht des Wehrbeauftragten aus - verläuft ohne Schwierigkeiten; darüber wird nicht nur in den Ausschüssen, sondern auch in der Öffentlichkeit diskutiert. Von den
Soldatinnen und Soldaten wird viel verlangt. Es ist ihnen
auch in der Vergangenheit viel zugemutet worden. Die
Truppe wird die Reformmaßnahmen durchführen müssen
und gleichzeitig ohne Unterbrechung in internationalen
Einsätzen gefordert bleiben.
Nur motivierte Soldatinnen und Soldaten werden unter
diesen Voraussetzungen engagiert und mit neuen Ideen
den Wandel mitgestalten. Die Bundeswehr erwartet, dass
in Politik und Gesellschaft Verständnis für ihre besonderen Belastungen vorhanden ist und die Maßnahmen zur
Abfederung der negativen Folgen des Strukturwandels
auch akzeptiert werden. Dieses Verständnis, Herr Wehrbeauftragter, kommt in dem vorliegenden Jahresbericht
deutlich zum Ausdruck.
Lassen Sie mich noch einen Themenbereich des vorliegenden Berichtes aufgreifen, dem sich auch der Wehrbeauftragte zugewandt hat und der in der Öffentlichkeit
besondere Beachtung gefunden hat, nämlich rechtsextremistische und fremdenfeindliche Vorfälle in der Bundeswehr. Der Wehrbeauftragte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bundeswehr eine demokratische Armee
ist. Sie ist beileibe nicht rechtsextremistisch. Aber als Teil
der Gesellschaft bleibt die Bundeswehr von problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen naturgemäß
nicht ausgenommen. Als Wehrpflichtarmee ist sie durch
ständige personelle Fluktuation geprägt. Die derzeitige
Tendenz zu extremistischen Denkweisen, zu Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft nimmt die Bundeswehr sehr ernst. Diese Bestrebungen stehen in krassem
Gegensatz zu allem, wofür die Bundeswehr eintritt.
Der Anstieg der Zahl der gemeldeten besonderen Vorkommnisse mit Verdacht auf einen entsprechenden Hintergrund um 62 auf 196 im Vergleich zum Vorjahr kann
nicht ohne weiteres als Indikator für eine Zunahme rechtsextremistischer oder fremdenfeindlicher Gesinnung der
Soldaten gesehen werden. Vielmehr wird an diesen Zahlen auch die wachsende Sensibilisierung und das Bestreben von Vorgesetzten und Soldaten deutlich, Auswüchsen
auch schon bei kleinsten Anzeichen offensiv zu begegnen.
Demokratische Grundwerte und Respekt vor der
Würde des Menschen sind für die überwältigende Mehrheit der Soldaten die Grundlage ihres Verhaltens, ob im
Einsatz oder zu Hause. Das wird an der großen Sensibilität, die unsere Kontingente bei der Friedenssicherung
zeigen, und an der Vorreiterrolle deutlich, die die Bundeswehr durch die Wehrpflicht bei der Integration von
jungen Menschen ausländischer Herkunft spielt. Die Bundeswehr bietet Extremisten keinen Nährboden. Sie wird
auch in Zukunft ihrer besonderen Verantwortung für unsere Demokratie gerecht werden.
({9})
Herr Dr. Penner, ich danke Ihnen sowie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den ausgewogenen, konstruktiven und, wo notwendig, kritischen Bericht. Wir haben vernommen, dass Sie ausgeführt haben, es bestehe Anlass, sich verstärkt um die Bundeswehr zu kümmern. Dazu
fordert auch der Bundesminister der Verteidigung die Gesellschaft, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, auf.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich gebe
dem Kollegen Hildebrecht Braun für die Fraktion der
F.D.P. das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr ist eine
Parlamentsarmee. Das deutsche Parlament diskutiert
heute über den Bericht des Beauftragten des deutschen
Parlaments für die Bundeswehr. Die SPD-Fraktion, die
die größte Fraktion des Hauses ist, schickt als Hauptredner den Vertreter der Bundesregierung an das Rednerpult,
die für die Missstände verantwortlich ist, die der Wehrbeauftragte in seinem Bericht anprangert. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang.
({0})
Wir sind stolz auf die Institution des Wehrbeauftragten
und danken Ihnen, Herr Dr. Penner, dafür, dass Sie das
Amt von Ihrer Vorgängerin vor einem Jahr problemlos
übernommen und in kurzer Zeit das Vertrauen der Soldaten gewonnen haben.
Wie dankbar wären viele Soldaten, aber auch viele Familien in anderen Ländern, wenn es dort einen Wehrbeauftragten des Parlaments gäbe, an den sich jeder Soldat
direkt mit Beschwerden wenden kann. Mir liegt ein nagelneuer Bericht der Soldatenmütter von Sankt Petersburg vor, den diese für die Vereinten Nationen, aber auch
für dieses Parlament erstellt haben. Dieser erschütternde
Bericht über Vorkommnisse im Bereich der russischen
Armee macht deutlich, was alles in einem noch immer
ziemlich autoritär regierten Land speziell mit Wehrpflichtigen geschehen kann, wenn es praktisch keine öffentliche
Kontrolle der Armee durch das Parlament gibt.
Ich werde den Soldatenmüttern in Sankt Petersburg in
Kürze versichern, dass wir deutschen Parlamentarier in allen Kontakten mit Russland darauf drängen werden, dass
auch in diesem wichtigen europäischen Nachbarland ein
Wehrbeauftragter bestellt wird, der schon durch seine Existenz, aber natürlich auch durch seine kritischen Berichte
und Stellungnahmen für die Einhaltung der grundlegenden
Menschenrechte auch in der russischen Armee sorgen wird.
({1})
Herr Penner, Sie haben Ihre Aufgabe als Vertreter der
Soldaten gegenüber dem Parlament sehr weit gefasst und
öffentlich sehr kritische Fragen zur Beibehaltung der
Wehrpflicht gestellt. Ich gebe zu, ich war erstaunt über
Ihre Äußerungen, wie wohl viele hier im Parlament. Ich
will mich auch gar nicht zu Sinn oder Unsinn, zu Überflüssigkeit oder Notwendigkeit der Wehrpflicht äußern.
Ich finde es aber richtig, dass Sie auch öffentlich auf die
Probleme hingewiesen haben, die sich nicht zuletzt durch
die anhängigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang ergeben können.
({2})
Sie haben Ihr verantwortungsvolles Amt in einer Zeit
des Umbruchs übernommen. Die Bundeswehr gewöhnt
sich daran, eine Einsatzarmee zu sein. Gegenden, die
früher den meisten Deutschen überhaupt nicht bekannt
waren - Kosovo, Bosnien-Herzegowina -, kennen mittlerweile mehr als 70 000 deutsche Soldaten aus längeren
Aufenthalten sehr gut. Ihre Schilderung der Situation der
Soldaten vor Ort bestätigt das, was wir als Mitglieder des
Verteidigungsausschusses dort erlebt haben. Die Bedingungen der Unterbringung werden besser, die Ausrüstung
auch. Das Engagement unserer Soldaten ist beispielhaft
und als Folge davon ist auch das Verhältnis der Bevölkerung zu den deutschen Truppen außerordentlich gut.
In einem Punkt widerspreche ich allerdings mit Nachdruck: Wenn Sie den Eindruck haben, die Soldaten hätten
sich mit dem sechsmonatigen Aufenthalt, der durch einen
Kurzurlaub unterbrochen wird, abgefunden, dann entspricht dies in keiner Weise unseren eigenen Erfahrungen.
({3})
Nachdem jetzt auch noch das Sozialwissenschaftliche
Institut der Bundeswehr deutlich gemacht hat, dass die
überwiegende Zahl derer, die dort stationiert waren, eine
längere Standzeit als vier Monate für falsch hält, halten
wir auch an dieser Einstellung fest und werden weiterhin
für eine Verkürzung auf vier Monate werben.
({4})
Natürlich müssen wir auch heute wieder ein großes Ärgernis ansprechen. Wie sollen unsere Soldaten, die in ostdeutschen Standorten beheimatet sind, damit umgehen,
dass sie nach ihrer Rückkehr, nach der gemeinsamen Erfüllung ihrer Aufgaben im Kosovo und in Bosnien wieder
deutlich weniger Gehalt bekommen als ihre Kollegen im
Westen? Wir wollen der Botschaft entgegentreten, dass es
automatisch ein Nachteil sein muss, in den neuen Bundesländern zu dienen. Deswegen treten wir für eine Angleichung der Besoldung ein.
({5})
- Sie wissen genau, dass wir das schon seit langem tun.
Ich glaube, das dürfte Ihnen nicht entgangen sein.
Ich möchte einen Einzelpunkt erörtern, der mir wichtig erscheint. Die geltende Umzugsregelung für Soldaten
führt zu häufigen, berechtigten Klagen. Keine Gruppe in
Deutschland muss häufiger umziehen als unsere Soldaten.
Ihre Familien, besonders die schulpflichtigen Kinder,
werden dadurch in Mitleidenschaft gezogen. Sie tragen
einen erheblichen Teil der Belastung mit, die wir unseren
Soldaten abverlangen müssen.
({6})
Es gibt viele Probleme mit der einen Firma, die jetzt für
alle Umzüge zuständig ist. Wir werden hier aktiv werden.
Wir sind aber auch der Meinung, dass ein Tag Sonderurlaub für einen Umzug mit Kind und Kegel innerhalb
Deutschlands eine groteske Geschichte ist.
({7})
Das bedeutet doch im Klartext, dass wir die Hauptlast des
Umzuges den Familien, den Angehörigen, den Kindern
aufbürden, wenn wir den Vätern - um die handelt es sich
regelmäßig - nur einen Tag für den Umzug frei geben.
Das geht nicht an. Deswegen wollen wir hier eine Änderung.
({8})
Im letzten Jahr hat sich die Annahme verdichtet, dass
in früheren Jahren Soldaten, die mit der Wartung von Radaranlagen befasst waren, einem besonderen Gesundheitsrisiko ausgesetzt waren. Ich habe schon im Ausschuss deutlich gemacht und sage das hier noch einmal:
Es geht nicht an, dass wir diesen Soldaten, die in einer erheblichen Zahl krebskrank geworden sind, die Beweislast
dafür aufbürden, dass ihre frühere Tätigkeit an damals
noch sehr merkwürdigen Radaranlagen kausal dafür war,
dass sie erkrankt sind. Hier muss andersherum gehandelt
Hildebrecht Braun ({9})
werden. Die Beweislast muss beim Arbeitgeber liegen,
nämlich bei der Bundeswehr.
({10})
Gestatten Sie mir noch folgenden Gedanken: Im letzten Jahr ist auf unseren Antrag hin die Regelung zum Umgang mit homosexuellen Soldaten verbessert worden.
Obwohl sich der gesamte Bundestag dafür ausgesprochen
hat, findet sich kein Wort dazu im Bericht. Ich bin sehr erstaunt darüber, dass Rot-Grün in der gestrigen Sitzung des
Verteidigungsausschusses gegen den Antrag, dass auch in
Zukunft jegliche Diskriminierung von homosexuellen
Soldaten zu unterlassen ist, gestimmt hat.
({11})
Das wird Rot-Grün der Öffentlichkeit noch erklären müssen.
Ich bedanke mich.
({12})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Winfried Nachtwei.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine klare und
glaubwürdige Perspektive der Bundeswehrreform und der
Finanzausstattung der Bundeswehr ist zentraler Bestandteil der Berufszufriedenheit von Bundeswehrangehörigen. Allerdings ist es völlig verkürzt, alles am Geld festzumachen, fast nur darüber zu reden und den Bericht des
Wehrbeauftragten im Grunde genommen nur unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen.
({0})
Herr Siemann, Sie haben das gemacht. Leider haben Sie
- Sie können eigentlich mehr - das Thema des Jahresberichts des Wehrbeauftragten - dort geht es um den inneren Zustand der Bundeswehr und um innere Führung völlig verfehlt.
({1})
Herr Dr. Penner, auch unsere Fraktion möchte Ihnen
und Ihren Mitarbeitern für Ihren Bericht, für Ihre Arbeit
und für die Unabhängigkeit Ihres Urteils - im Bericht
wurde sie durch Ihre trockenen und sehr treffsicheren Kritiken deutlich; in Ihrer Rede haben Sie dies in zugespitzter Form vorgetragen - sehr herzlich danken. Sie legen
eine Unabhängigkeit an den Tag, die alle respektieren
sollten und nicht für sich vereinnahmen sollten.
({2})
Wir haben in Ihrem Bericht allerdings mit Beunruhigung gelesen, Ihre Überprüfungsersuchen seien häufig
fehlerhaft oder verzögert behandelt worden. Wir hoffen
sehr, dass dies nicht Ausdruck eines mangelnden Respekts vor dem Amt des Wehrbeauftragten ist.
({3})
Das Bundeskabinett beschloss vor einem Jahr noch
einmal, an der Wehrpflicht festzuhalten. Damit ist die
selbstverständliche Debatte über das Für und Wider der
Wehrpflicht keineswegs abgeschlossen. Sie, der Wehrbeauftragte, tragen zur Versachlichung der Debatte bei,
indem Sie klare Anforderungen an diese Debatte stellen.
Es geht um die Anforderungen an die Politik, an die politische und an die militärische Führung der Bundeswehr,
den Wehrpflichtigen die Legitimation und den Sinn ihres
Dienstes plausibel zu machen. Sie nennen gleichzeitig
Zahlen: Im vorigen Jahr wurden etwa 173 000 KDV-Anträge gestellt und es gab ungefähr 128 000 Wehrdienstleistende. Vor diesem Hintergrund kann man große Zweifel daran haben, ob die Legitimation wirklich noch plausibel ist und funktioniert.
({4})
Sie haben zu den Auslandseinsätzen ausführlich Stellung genommen. Das ist insofern völlig angemessen, als
das Jahr 2000 das erste Jahr war, in dem über das ganze
Jahr SFOR und KFOR einen großen Einsatz hatten.
Sie nennen Beispiele für Fehlverhalten und Defizite,
die geradezu unbegreiflich sind. Zum Beispiel gab es im
Bereich der Personalplanung einen familienfeindlichen
Bürokratismus, als in Einzelfällen bei der Zuordnung zu
Auslandseinsätzen keine Rücksicht auf eine bevorstehende Geburt oder auf das Vorhandensein eines schwerbehinderten Kindes in einer Familie genommen wurde.
Zwar waren das Einzelfälle; dennoch sind diese Vorgänge
in keiner Weise nachvollziehbar.
Im Bericht des Wehrbeauftragten wird erstmalig das
Thema „Einsatz und Sexualität“ angesprochen. Im vorigen Jahr gab es Meldungen, dass Bundeswehrangehörige angeblich minderjährige Prostituierte und
Zwangsprostituierte aufgesucht hätten. Damit konnte ein
Thema nicht länger verdrängt werden, das im Einsatz - so
sagen uns Militärseelsorger; das kann man sich aber auch
mit gesundem Menschenverstand denken - zu den großen
Problemen gehört.
Es ist in der Tat erfreulich, dass der Generalinspekteur
Ende letzten Jahres eine Führungshilfe für Vorgesetzte
„Umgang mit Sexualität“ herausgegeben hat. Der Wehrbeauftragte bemängelt zu Recht, dass diese Führungshilfe
hinsichtlich des Komplexes „Auslandseinsatz und Sexualität“ nichts hergebe. Das zeigt, dass wir daran noch erheblich arbeiten und dieses Thema sensibel behandeln
müssen, um aus dieser Situation der allgemeinen Verdrängung herauszukommen.
({5})
Gemeinhin besteht der Eindruck, als hätten die Auslandseinsätze bisher ohne Opfer stattgefunden. Das ist
Hildebrecht Braun ({6})
aber ein nicht ganz richtiger Eindruck; denn es gibt eine
Reihe von Soldaten, bei denen posttraumatische
Belastungsstörungen aufgetreten sind. Es ist aber auch
bekannt, dass die diagnostische Abgrenzung solcher
Störungen zu anderen Erkrankungen sehr schwierig ist.
Die mögliche Anerkennung als Wehrdienstbeschädigung
ist bisher ungeklärt. Es ist ein Gebot der Fürsorgepflicht,
den betroffenen Soldaten entgegenzukommen, genauso
wie im Fall der mutmaßlich durch Radarstrahlen geschädigten ehemaligen Bundeswehrangehörigen. Alles andere
würde das Vertrauen der heutigen und auch der künftigen
Soldaten in den Dienstherrn erheblich beschädigen.
Nun zu dem Kapitel „Soldaten als Staatsbürger in Uniform“. Wichtige Beiträge zur Herausbildung des Staatsbürgers in Uniform finden im Rahmen der politischen
Bildung statt. Wir wissen alle, dass man daran keine überhöhten Ansprüche stellen kann. Aber die politische Bildung ist dabei ein notwendiges Mittel. In diesem Zusammenhang nennt der Wehrbeauftragte einen wichtigen
Knackpunkt, nämlich die Überlastung der Kompaniechefs durch andere Aufgaben, die ihnen schlichtweg den
Spielraum und die Zeit nehmen, einen politischen Unterricht in vernünftiger Weise durchzuführen. Hier ist festzustellen, dass es einen Entwurf für eine neue zentrale
Dienstvorschrift „Politische Bildung in der Bundeswehr“
gibt, dass aber genau der Knackpunkt der realen Bedingungen ausgespart wird. Das heißt, dieses Defizit besteht
im Grunde fort.
Die Dauereinsätze im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina bedeuten für die Soldaten und insbesondere auch
für ihre Angehörigen und Familien eine ganz erhebliche
Belastung, wie sie von nahezu keiner anderen Berufsgruppe verlangt wird. Damit steigen selbstverständlich
auch die Ansprüche der Soldaten und ihrer Familien auf
eine überzeugende Begründung ihres Einsatzes. Außerdem muss der Einsatz in ein glaubwürdiges Konzept
der Friedenskonsolidierung eingebettet sein. Insofern
setzen wir morgen die heutige Debatte fort.
Danke schön.
({7})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Heidi Lippmann für die PDS.
Vielen Dank, Herr Präsident!
- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab sei mir erlaubt,
dem Wehrbeauftragten, Herrn Penner, im Namen der
PDS-Fraktion nachträglich zum 65. Geburtstag zu gratulieren.
({0})
Ebenso wie der Bericht seiner Vorgängerin, Frau
Marienfeld, greift sein Bericht wichtige Probleme der
Bundeswehr und auch des einzelnen Soldaten auf. Ich
möchte mich auf wenige Aspekte beschränken, so zum
Beispiel darauf, dass Soldaten durch die Diskussion über
den Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran im
ehemaligen Jugoslawien und mögliche gesundheitliche
Folgen verunsichert wurden. Das Gleiche trifft für die
Auswirkungen der Radaranlagen zu, über die schon gesprochen wurde.
Beide Sachverhalte zeigen einmal mehr, wie viele ungeklärte Fragen es gerade für Soldaten im Auslandseinsatz gibt, seien es Fragen der Legitimität, des Einsatzes
überhaupt, der gesundheitlichen Gefährdungen, die dabei
auftreten können, oder der zu späten und unzureichenden
Informationen über mögliche Gefährdungen. Ebenso wie
Herr Penner fordern wir die Überprüfung dieses Zusammenhangs. Wir bestehen aber auch darauf, dass sich die
Bundesregierung ganz klar und deutlich für die Ächtung
von Uranmunition einsetzt. Mit besonderer Sorge muss
uns erfüllen, dass die „Besonderen Vorkommnisse“ mit
rechtsextremistischem bzw. fremdenfeindlichem Hintergrund wieder sehr stark angestiegen sind. Ich möchte
Sie bitten, Herr Kolbow, das nicht zu bagatellisieren
({1})
und zu sagen, das sei lediglich der verstärkten Aufmerksamkeit von Vorgesetzten zu verdanken. Auch wenn dies
vorwiegend Propaganda- und keine Gewaltdelikte waren,
gilt: Jeder Vorfall ist ein Vorfall zu viel.
({2})
Der Wehrbeauftragte weist zu Recht auf die jugendkulturelle Form des heutigen Rechtsextremismus hin, wie
zum Beispiel auf die Auswirkungen von bestimmter
Rockmusik, aber auch darauf, dass Waffen, Uniformen,
Millitärrituale und strenge Führungsstrukturen gerade auf
Jugendliche, die zum Rechtsextremismus tendieren, eine
erhebliche Anziehungskraft haben. Dies bezieht sich aber
ebenso auf interne Rituale, die Ausdruck eines besonders
männlichkeitsbetonten Korpsgeistes sind, so die vom
Wehrbeauftragten monierten Rituale zur Aufnahme in das
Unteroffizierskorps. Hier möchte ich die Bundesregierung fragen, warum sie trotz immer wieder ausgesprochener Hinweise, solche „Aufnahmeprüfungen“ zu unterlassen, und trotz wiederholter Disziplinarmaßnahmen
immer wieder stattfinden. Gerade dieser Punkt sollte Anlass sein, darüber nachzudenken, wie man eine solche Militärkultur, seien es öffentliche Waffenschauen oder
Gelöbnisse und Zapfenstreiche, weiter zurückdrängen
kann. Wir jedenfalls sind unbedingt dafür, den öffentlichen Raum konsequent zu entmilitarisieren.
({3})
Der Wehrbeauftragte hat am 9. Mai vor den Mitgliedern des Rechtsausschusses zum Thema rechtsextremistische Vorkommnisse in der Bundeswehr vorgetragen und
dabei die Bedeutung der politischen Bildung, auch und
gerade der Vorgesetzten, hervorgehoben. Dem ist nur beizupflichten. Doch Dienstvorschriften anzupassen und
weiterzuentwickeln reicht nicht aus; entscheidend ist, ob
ein lebendiger Prozess der Auseinandersetzung mit heutigen Streitthemen stattfindet. Es geht also um den Alltag
der Soldaten. Hier müssen wir noch sehr viel genauer hinsehen.
Auch der gesamte Bereich der Traditionspflege wird
immer wieder infrage gestellt. Ich denke, dass wir im
Jahre 2001 den Traditionserlass endlich beiseite legen
sollten, wonach heute noch Soldaten aus dem Zweiten
Weltkrieg vom Ritterkreuz aufwärts mit militärischen Ehren beerdigt werden.
({4})
Diese Soldaten sind für Verbrechen im Faschismus ausgezeichnet worden.
({5})
- Ich denke, Herr Kollege, es ist längst überfällig, dass wir
mit solchen Traditionen innerhalb der Bundeswehr
Schluss machen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir vermissen nach
wie vor - auch das hat Herr Penner heute angesprochen -,
dass man sich auf der politischen Ebene dezidiert mit der
eingeforderten Aufarbeitung des Kosovo-Krieges und
seiner Legitimation auseinander setzt. Wir treten dafür
ein, dass sich die Bundeswehr unter keinen Umständen in
einen weiteren Angriffskrieg hineinziehen lässt.
({7})
Auch wenn Sie es nicht gerne hören: Die Debatte über die
Berechtigung und Legitimation des Luftkrieges gegen
Jugoslawien muss weiter geführt werden. Das Prinzip
des Staatsbürgers in Uniform verlangt von den Soldaten,
nicht nur passive Befehlsempfänger zu sein, sondern sich
auch Gedanken über die Rechtmäßigkeit ihres Tuns zu
machen. In dem Bericht wird darauf hingewiesen. Ich
denke, wir sollten mit der heutigen Debatte diesen Bericht
nicht ad acta legen, sondern ihn ganz ernst nehmen und
die einzelnen Fragen nicht nur im Verteidigungsausschuss, sondern auch im Parlament immer wieder aufgreifen.
Die Wehrpflicht ist längst obsolet - ich kann mich
dem Kollegen Braun nur anschließen. Dies gilt ebenso für
die unterschiedliche Besoldung in Ost und West. Ich
hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie sich nicht
länger dieser gesellschaftspolitischen Debatte, die dringend geführt werden muss, verschließen werden.
Danke.
({8})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Gerhard Neumann.
Herr Präsident!
Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Auswertung und die Diskussion der Berichte der
Wehrbeauftragten im Bundestag besitzen eine hervorragende Tradition. Die Transparenz, mit der die Probleme
unserer Soldaten stets öffentlich behandelt wurden, hat
sehr entscheidend zum Ansehen unserer Streitkräfte in der
Bevölkerung beigetragen. Die wohltuende Sachlichkeit
des neuen Wehrbeauftragten Willfried Penner hat den Bericht 2000 spürbar geprägt. Wir bedanken uns auch ganz
herzlich bei den Abteilungsleitern und Mitarbeitern für
diesen Bericht.
({0})
Es ist ja immer eine Sisyphusarbeit.
Rechtsextremismus, Drogen, Menschenführung, Mängel bei der Ausrüstung oder der medizinischen Versorgung stehen stellvertretend für die Vielzahl der angesprochenen Probleme.
Die Schwerpunkte des Jahresberichts müssen in das
gesellschaftliche Umfeld eingeordnet werden. Die Bundeswehr ist in einer Phase einschneidender Veränderungen. Ihre Aufgabe hat sich grundlegend geändert. Gestatten Sie mir, einige wenige Punkte herauszugreifen.
Die Plage des Rechtsextremismus hat auch vor den
Kasernentoren nicht Halt gemacht. Das haben wir von allen gehört. Es ist aber keine Krisenerscheinung der Bundeswehr, sondern eine anhaltende, aus der Gesellschaft
kommende Gefahr. Ständige Vorsorge ist geboten. Hierbei ist die wertorientierte Erziehung der Soldaten entscheidend. Achtung der Menschenwürde, Achtung des
anderen und Toleranz sind Grundüberzeugungen, die immer wieder neu zu vermitteln sind.
({1})
Die Bundeswehr kann vieles, aber nicht alles. Sie kann
mithelfen, Versäumtes nachzuholen.
Meine Damen und Herren, der Bericht spiegelt in vielen Abschnitten die Versäumnisse der politischen
Führung im vergangenen Jahrzehnt wider. Die vielfach
beklagte Reformunfähigkeit der Regierung Kohl hat auch
bei der Bundeswehr tiefe Spuren hinterlassen.
({2})
Europa hat sich in den letzten zehn Jahren politisch und
militärisch so rasant zum Wohle der Völker verändert wie
in keiner geschichtlichen Phase zuvor. Aber die Bundeswehr ist fast die alte geblieben. Aufgabe, Struktur, Ausrüstung, Bildung - alles war geblieben, nur die Panzer aus
dem Osten waren weg. Das erleben wir nun schon zehn
Jahre lang.
Rudolf Scharping hat als Verteidigungsminister - wie
schon im Kosovo-Konflikt - entschlossen und zügig gehandelt. Am 1. Juni 2000 wurde die Lagebeurteilung abgeschlossen. Bereits zum 9. Oktober wurde, hieraus abgeleitet, die neue Grobstruktur als Diskussionsgrundlage
entwickelt.
({3})
Am 29. Januar dieses Jahres konnte der Öffentlichkeit die
Feinplanung präsentiert werden, und das mit den Ministerpräsidenten abgestimmt. Die tarifrechtliche Vereinbarung für die Zivilbeschäftigten ist erfolgt. Das Konzept
steht. Es ist gut und es ist bezahlbar, auch wenn es schwierig wird.
({4})
Gefragt ist der Wille zur Umsetzung, nicht das Zerreden.
({5})
Im Klartext: Die Reform der Bundeswehr darf nicht zur
Standortdebatte verkommen. Nein, es geht darum, unsere
Streitkräfte den neuen politischen und technischen Anforderungen anzupassen, und das fest eingebunden in die
NATO und die Krisenreaktionsstreitkräfte der EU.
Die Anforderungen an die Bundeswehr der Zukunft
sind mit einfachen Worten zu beschreiben: weniger Soldaten, aber viel beweglicher und den neuen Aufgaben entsprechend sachgerecht ausgerüstet, gut ausgebildet und
versorgt; mehr vorbeugende Aufklärung und weniger
Hineinstolpern in Krisen sowie effizientere Zusammenarbeit der Europäer auch bei neuen Waffensystemen. Diese
konsequente Ausrichtung auf die Zukunft schafft Klarheit, motiviert Soldaten und Führung, macht den oft
schweren Dienst leichter, beugt jugendlichem Unsinn vor.
Zum Schluss noch ein Satz zum erlebten Reformstau.
Wir debattieren in klimatisierten Räumen. Unsere Soldaten im Kosovo rufen nach Hemden mit kurzen Ärmeln
und Schuhwerk, welches den klimatischen Bedingungen
entspricht. Sie können es auf Seite 20 des Berichts
nachlesen. Dieses kleine Beispiel sollte uns zu bedenken
geben, wie schwer wir uns reformieren, vom Althergebrachten trennen, selbst von winterfesten Uniformen und
einer eingespielten Beschaffungsbürokratie.
Der Bericht macht sehr deutlich, dass das vom Verteidigungsminister in Angriff genommene Programm zur
Erhöhung der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften weiterhin höchst aktuell ist.
({6})
Die Auflösung des Beförderungsstaus, verbesserte berufliche Perspektiven und Standortklarheit sind sowohl für
die Nachwuchsgewinnung als auch für die Motivation der
Soldaten von zentraler Bedeutung.
({7})
Seit dem 1. Januar dieses Jahres stehen den Frauen bei
persönlicher Eignung alle Wege bei den Streitkräften offen. Die Medien haben über den Start ausführlich berichtet. Die Frauen hoffen nun auf mehr Normalität. Wir sollten den gelungenen Start als Anerkennung für die Frauen
werten, die sich dieser schweren Aufgabe stellen.
({8})
Nun zu einem anderen Aspekt.
Herr Kollege Neumann, Sie müssen jetzt leider zum Schluss kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Okay. - Ich
wollte zum Schluss andeuten, dass es gerade bei der Bundeswehr - wir haben das gehört - hinsichtlich der Bezahlung nach Ost/West-Tarif, aber auch hinsichtlich der
Auftragslage noch sehr viele Dinge gibt, die verbessert
werden müssen.
({0})
Meine Worte am Schluss sollen nicht den Blick für das
Ganze trüben. Der Bericht in seiner Gesamtheit zeigt: Wir
sind auf dem richtigen Weg. Einiges kann man jedoch
noch besser, zielgerichteter machen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht der Kollege Hans Raidel
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Herr
Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie gestatten mir, dass ich zuerst Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, zu Ihrem 65. Geburtstag herzlich gratuliere.
({0})
Der Bericht des Wehrbeauftragten ist wie immer objektiv, nüchtern und professionell abgefasst und damit für
uns eine sehr gute Arbeitsgrundlage. Von allen Seiten,
auch vonseiten des BMVg, wurde festgestellt, dass dieser
Bericht ernst genommen werden sollte. Ich betrachte ihn
als eine Arbeitshilfe, quasi als einen Leitfaden in bester
Erfüllung der bewährten Grundsätze der inneren Führung.
Aber lieber Herr Staatssekretär, gerade Ihnen, der Regierung, der Koalition von Rot-Grün müssten bei dem
Vortrag des Wehrbeauftragten doch die Ohren geklungen
haben. Eigentlich war es eine reine Anklage über die Versäumnisse, die von Ihnen zu verantworten sind.
({1})
Als Sie angetreten sind, haben Sie gesagt, Sie wollten
zwar nicht alles anders, aber vieles besser machen. Was ist
in Ihrer Regierungszeit daraus geworden - Kollege
Siemann und andere haben es eindeutig und eindrücklich
geschildert -:
({2})
Sie sind dabei, die Bundeswehr in einen Zustand zu versetzen, in dem sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen kann.
Gerhard Neumann ({3})
Sie demotivieren die Angehörigen der Bundeswehr, insbesondere die Soldaten, die bei KFOR und bei SFOR
ihren schweren Dienst leisten müssen. Lesen Sie doch
einmal den Bericht des Sozialwissenschaftlichen Instituts
der Bundeswehr genau. Darin steht genau alles das, was
der Herr Wehrbeauftragte gesagt hat und was wir Ihnen
vorhalten.
Der Herr Staatssekretär hat für die Regierung die
Dinge flugs umgekehrt und versucht, ins gleiche Horn zu
stoßen, quasi damit man es nicht merkt. Dabei hätten Sie
bei den Haushaltsberatungen für 2002 doch wirklich
die Gelegenheit, die Situation umzukehren, der Bundeswehr wieder die richtige Perspektive zu geben.
({4})
- Hoffentlich; wir warten darauf.
({5})
Wir werden Sie, Herr Kollege Zumkley, bei den Haushaltsberatungen an dieser Aussage messen. Wir werden
wahrscheinlich wieder feststellen müssen: Außer heißer
Luft ist nicht allzu viel gekommen.
({6})
Wir bedauern mit Ihnen persönlich, dass die Lage so ist,
wie sie ist. Bitte strengen Sie sich mehr an, um hier einiges zu verbessern.
({7})
Nun noch einmal direkt zum Bericht: Wenn der Wehrbeauftragte unter Ziffer 1.3 eine häufig fehlerhafte und
verzögerte Bearbeitung von Überprüfungsersuchen
feststellen muss, dann ist das doch ein ernst zu nehmender Vorwurf an das BMVg. Die Bearbeitung mancher Vorgänge dauert über ein Jahr, so steht es wörtlich im Bericht.
Ich möchte darauf hinweisen: Die Missachtung des Wehrbeauftragten ist auch eine Missachtung des Parlaments.
Das setzt sich fort: Ich habe vor einer Stunde vom Kollegen Breuer die Stellungnahme des Bundesministers
der Verteidigung zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten, datiert vom 18. Mai dieses Jahres, bekommen. Kein
Mensch konnte lesen, was die Regierung wirklich zu den
Vorwürfen des Wehrbeauftragten meint. Das ist doch
nicht die gute Zusammenarbeit, die hier ständig beschworen wird.
({8})
Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir in unserer
gemeinsamen Arbeit brauchen.
Ich möchte nur noch ein einziges Thema ansprechen
- denn meine Redezeit ist schon fast abgelaufen -: die
Frage der Auslandsverwendung unserer Soldaten. Ich
behaupte - sicher mit Ihrem Einverständnis -, das Renommee der Bundeswehr und damit auch das Deutschlands hängt von diesem Auslandsdienst entscheidend mit
ab, es wird von ihm mitgeprägt. Ich meine, dass hier die
Laufbahnbetrachtungen besondere Beachtung verdienen.
Derzeit entsteht wirklich der Eindruck, als wären die Soldaten im Auslandseinsatz abgehängt, als wäre der Auslandsdienst ein Nachteil und als würde man ihn häufig als
Abschiebeposten betrachten.
Wir waren vor kurzem mit unserer Gruppe in Washington und in El Paso. Die dortigen Personalvertretungen
unserer Soldaten und Zivilangestellten haben uns schriftlich mitgegeben, dass wir diese Dinge anlässlich der Diskussion über den Bericht des Wehrbeauftragten zur Sprache bringen sollen. Das tun wir hiermit. Ich bitte Sie, Herr
Wehrbeauftragter, sich all dieser Fragen anzunehmen, damit es hier nicht heißt: „Aus den Augen aus dem Sinn“,
sondern damit auch hier vernünftige Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Ich möchte noch auf ein wichtiges Thema hinweisen:
Die kommunalen Mandate dürfen durch die Neufassung
des Soldatengesetzes nicht eingeschränkt werden.
({9})
Der Herr Wehrbeauftragte hat festgestellt, er wird die
Entscheidungspraxis genau verfolgen. Dazu möchte ich
Sie herzlich ermuntern.
({10})
Das Gleiche gilt für die Umsetzung des Soldatenbeteiligungsgesetzes. Es darf doch nicht sein, dass in dem
Bericht stehen muss, dass Vorgesetzte offensichtlich immer wieder versuchen, die Stellung der Vertrauenspersonen zu schwächen, anstatt sie zu stärken.
({11})
Denn diese Vertrauenspersonen sind ein Aktivposten für
die Bundeswehr. So wie das in dem Bericht zu lesen ist,
gereicht das gerade zum Nachteil.
({12})
Meine Damen und Herren, die Umstrukturierung der
Bundeswehr ist sicherlich eine Umbruchsituation mit vielen Unwägbarkeiten. Herr Wehrbeauftragter, der politische Schlagabtausch ist natürlich nicht Ihre Aufgabe. Aber
in Reformzeiten haben Sie Ihr wichtiges Amt besonders
umfassend wahrzunehmen, damit - trotz aller Notwendigkeit im Einzelfall - die Sozialverträglichkeit aller durchgeführten Maßnahmen nicht zu kurz kommt, der Soldat
also mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt bleibt.
Ich denke,
das war ein guter Schlusssatz, Herr Kollege Raidel.
Herr Wehrbeauftragter, ich
bitte Sie herzlich: Mischen Sie sich ein, nehmen Sie Stellung und erheben Sie mahnend Ihr Wort, vor allem dort,
wo die Politik und die Führung der Bundeswehr unfähig
erscheinen oder nicht handeln wollen! Letzteres war an
die Koalition gerichtet.
Jetzt muss
ich mahnend mein Wort erheben, Herr Kollege Raidel. Ich
muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen.
Seien Sie hartnäckig und
unbequem! Wir unterstützen Sie.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5400 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Das Haus ist damit einverstanden? - Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten HansJoachim Otto ({0}), Rainer Funke,
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des Stiftungszivilrechts ({1})
- Drucksache 14/5811 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Sportausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Die vorgesehenen Rednerinnen und Redner Alfred
Hartenbach und Jörg Tauss, SPD, Dr. Wolfgang Freiherr
von Stetten, CDU/CSU, Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/
Die Grünen, Rainer Funke und Hans-Joachim Otto1),
F.D.P., Professor Dr. Heinrich Fink, PDS, sowie für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Professor Dr. Eckhart Pick vom Bundesjustizministerium
geben ihre Reden zu Protokoll2).
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/5811 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Anderweitige
Vorschläge liegen nicht vor. - Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 8 auf:
10. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Lebenslagen in Deutschland
Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung
- Drucksache 14/5990 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Maier,
Dr. Klaus Grehn, Monika Balt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht ziehen
- Drucksache 14/6171 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({4})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Für die Debatte ist eine Dreiviertelstunde vorgesehen.
- Das Haus ist einverstanden.
Ich gebe zunächst für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für
Arbeit und Sozialordnung, Kollegin Ulrike Mascher, das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Bundesregierung
hat die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung
zu einem Schwerpunkt ihrer Politik gemacht. Im April dieses Jahres hat das Bundeskabinett den Bericht „Lebenslagen in Deutschland - Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ verabschiedet, der dem
Deutschen Bundestag heute zur Beratung vorliegt. Die
Bundesregierung hat damit erstmals der Notwendigkeit
Rechnung getragen, dass auch ein entwickelter Industriestaat wie Deutschland detaillierte Kenntnisse über die soziale Wirklichkeit, über Armut in einem reichen Land, als
Grundlage politischen Handelns braucht.
Die Bundesregierung hat mit der Vorlage des ersten Armuts- und Reichtumsberichts den Grundstein für eine Berichtserstattung gelegt, die seit langem vor allem von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, aber auch
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen immer wieder gefordert worden ist und in einigen Bundesländern und vielen Kommunen schon realisiert wird.
Und damit keine Missverständnisse entstehen: Der Bericht ist keine politische Eintagsfliege. Er ist vielmehr der
Einstieg in einen kontinuierlichen Prozess der Berichterstattung.
({0})
1) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor
2) Anlage 2
Dieser Prozess wird durch die Aktivitäten der Bundesregierung auf anderen Ebenen ergänzt, zum Beispiel den
„Nationalen Aktionsplan gegen soziale Ausgrenzung“,
der von der Bundesregierung noch im Juni dieses Jahres
der EU vorgelegt wird und der in engem Zusammenhang
mit der Armuts- und Reichtumsberichterstattung steht.
Der erste Bericht beschreibt umfassend die soziale
Lage in Deutschland von den 80er-Jahren bis zum Jahr
1998; denn bis zu diesem Zeitpunkt liegen uns auswertbare Daten vor. Der Bericht bietet zahlreiche wichtige Daten und Fakten, die in dieser Bündelung und Zusammenstellung eine neue Qualität darstellen. Die in dieser Form
erstmalig in einem Bericht der Regierung dargestellten
Zusammenhänge sollen kein Zahlengrab sein, sondern ein
weiterer Ansporn, politische Maßnahmen zu ergreifen,
um die Chancen und Möglichkeiten des Einzelnen zu stärken, damit er sein Leben aus eigener Kraft bewältigen
kann.
({1})
Die Bundesregierung hat sich beim ersten Bericht bewusst auf das Machbare beschränkt und nicht versucht,
den Eindruck zu erwecken, als könne allein ein Armutsund Reichtumsbericht schon die Lösung aller Probleme
bringen. Die Reaktionen auf den Bericht haben uns in dieser pragmatischen Vorgehensweise bestätigt.
Der Bericht akzeptiert, dass sich die Begriffe „Armut“
und „Reichtum“ wegen ihrer Vielschichtigkeit einer allgemein gültigen Definition entziehen. „Armut“ und
„Reichtum“ bezeichnen vielmehr die Extreme der Wohlstandsverteilung in unserer Gesellschaft.
Daher verwendet der Bericht einen pluralistischen Armutsbegriff, der Unterversorgungslagen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Armut wird unter einer Reihe
von Gesichtspunkten beschrieben, etwa dem der relativen
Einkommensarmut, der gesundheitlichen Einschränkungen, der schwierigen Familienverhältnisse, dem Leben in
sozialen Brennpunkten in Großstädten, der Obdachlosigkeit oder der Überschuldung - entsprechend dem in der
Armutsforschung entwickelten Lebenslagenkonzept.
Im Hinblick auf den Reichtumsbegriff fehlen, auch wegen des erst in Ansätzen entwickelten Forschungsstandes,
klare Definitionen und Abgrenzungen. Deshalb und wegen der sehr begrenzten Datenlage beschränkt sich der
Bericht hier vernünftigerweise auf eine beschreibende
Darstellung der Einkommens- und Vermögensverteilung.
Aber allen Beteiligten ist klar, dass hier erhebliche
Lücken in der Erfassung, in der Feststellung dessen, was
Reichtum in unserer Gesellschaft bedeutet, zu schließen
sind.
({2})
Aufgrund des relativ begrenzten Zeitrahmens, der zur
Verfügung stand, unterlag der Bericht gewissen Grenzen
und Beschränkungen. Auch wir wissen um die „blinden
Flecken“, die es aufzuhellen gilt. Einen habe ich im Zusammenhang mit der Reichtumsberichterstattung schon
genannt.
Jenseits der monetären Dimensionen von Armut und
Reichtum steht die Berichterstattung noch am Anfang. Für
die Zukunft sind vor allem eine Verbesserung der Datenlage, der Methoden der Messung von Armut und Reichtum
und eine Weiterentwicklung des Lebenslagenkonzeptes
notwendig. Hierzu wurden von der Bundesregierung bereits Forschungsprojekte auf den Weg gebracht. Hier stehen wir, auch nach der Fertigstellung des ersten Berichtes,
weiterhin im ständigen Dialog und im Austausch mit den
Wissenschaftlern, die an diesem Bericht mitgearbeitet haben.
Der Bericht ist das Ergebnis eines intensiven Diskussions- und Beratungsprozesses mit gesellschaftlichen
Gruppen und Organisationen, der bereits Anfang 1999 begonnen wurde. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können,
dass sich die nationale Armutskonferenz und Herr Professor Specht ganz intensiv an dieser Arbeit beteiligt haben.
Wir haben ja hier einmal eine Diskussion darüber geführt,
ob sich Herr Professor Specht und die Armutskonferenz
aus dieser Debatte ausklinken. Das war nicht der Fall.
Der Bericht entstand unter Mitwirkung von Armutsund Reichtumsforschern, ohne deren Unterstützung die
Realisierung eines solch anspruchsvollen Projektes kaum
möglich gewesen wäre. Dieser Dialog und die Beratung
durch Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft waren
die Grundlage für die hohe Akzeptanz des Berichtes und
die überwiegend positive Resonanz auch in der Öffentlichkeit.
Wir werden diesen offenen und transparenten Beratungsprozess fortführen, denn wir halten ihn für fruchtbar
und notwendig, insbesondere wenn es darum geht, die Berichterstattung in der Zukunft weiterzuentwickeln, die
theoretische Fundierung zu vertiefen und zu erweitern,
Datenlücken zu schließen und notwendige Forschungsansätze voranzubringen.
Was sind die für die Politik zentralen Ergebnisse des
Berichtes?
Erstens. Soziale Ausgrenzung gibt es auch in einem
wohlhabenden Land wie Deutschland.
Zweitens. In fast allen Lebensbereichen hat im Zeitraum bis 1998 soziale Ausgrenzung zugenommen und die
Verteilungsgerechtigkeit hat abgenommen. Man sollte
sich nicht der Illusion hingeben, dass die Entwicklung des
Öffnens einer Schere kurzfristig, auch durch noch so engagierte Politik, geschlossen werden kann. Wir stehen
hier erst am Anfang einer positiven Entwicklung.
({3})
Drittens. Das wichtigste Armutsrisiko ist und bleibt
Arbeitslosigkeit und, häufig damit verbunden, Niedrigeinkommen. Wesentliche Ursachen hierfür liegen in fehlenden oder unzureichenden Bildungsabschlüssen und in
mangelhafter oder fehlender Ausbildung.
Viertens. Besonders gefährdet - das ist besonders dramatisch, aber hier gibt es ja auch schon eine intensive Diskussion; mein Kollege von der SPD-Fraktion wird dazu
auch noch etwas sagen - sind Familien mit Kindern, hier
vor allem Alleinerziehende, Paare mit drei und mehr Kindern und Zuwandererfamilien. Tatsache ist: Wenn auch
von den 13 Millionen Haushalten mit Kindern in Deutschland die meisten in sicheren materiellen Lebensverhältnissen leben, gibt es dennoch Faktoren, die Familien in
Armut bringen können. Dazu gehören Arbeitslosigkeit
oder auch tief greifende familiäre Einschnitte wie Trennung oder Scheidung, die eine gerade noch gesicherte materielle Situation aus der Balance bringen können. Das
höchste Sozialhilferisiko trugen allein erziehende Frauen.
Für sie ist es schwer, oft unmöglich, Erwerbstätigkeit mit
existenzsicherndem Einkommen und Kindererziehung
miteinander zu vereinbaren.
Der Bericht dokumentiert, welch erheblicher Handlungsbedarf gerade auch im Bereich der Familienpolitik
beim Amtsantritt der Bundesregierung 1998 bestanden
hat. Er zeigt aber auch, dass sich die Bundesregierung dieser sozialen Probleme in Deutschland angenommen hat.
Der Bericht stellt dar, welche Maßnahmen die Bundesregierung seitdem verabschiedet bzw. auf den Weg gebracht
hat, um sozialer Ausgrenzung und mangelnder Chancengleichheit in unserer Gesellschaft zu begegnen.
Natürlich sind wir nicht so blauäugig, zu meinen, damit
seien schon alle Probleme gelöst. Armut und soziale Ausgrenzung resultieren aus einer Vielzahl von Problemlagen,
die nicht von heute auf morgen aufgelöst werden können.
Es muss Schritt für Schritt daran gearbeitet werden,
dass Armut präventiv begegnet wird. Stichworte hierzu
sind Bildung, Ausbildung, eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen und vor allem auch die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit.
({4})
Weiterhin ist es wichtig, dass die Abhängigkeit von Sozialhilfe abgebaut wird. Stichworte hierzu sind eine aktive
Beschäftigungsförderung und das Ziel, dass die Menschen aus eigener Kraft in der Lage sind, ihr Leben zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben und am Fortschritt teilzuhaben.
Der erste Armuts- und Reichtumsbericht ist eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft im Hinblick auf soziale
Ausgrenzung, die Verteilung von Einkommen und Vermögen, Chancengleichheit und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe. Mit dem Bericht hat die Bundesregierung das Thema Armut und Reichtum aus der
politischen Tabuzone hinausgeführt.
Ich erlaube mir einen Rückblick auf die Diskussion,
die wir heute Morgen geführt haben und in der die Frage
des Art. 1 des Grundgesetzes, der die Würde des Menschen schützt, eine so entscheidende Rolle gespielt hat.
Ich denke, dass Armut in der Bundesrepublik auch eine
Frage ist, die die Würde des Menschen entscheidend
berühren kann. Wenn man sich andere Artikel des Grundgesetzes wie Art. 14 vor Augen führt, so stellt auch die
Reichtumsberichterstattung eine verfassungsrechtliche
Frage dar.
({5})
Armut und Reichtum taugen nicht für eine polemische
Neiddebatte.
({6})
Der Bericht stellt eine Grundlage und das Angebot für
eine sachliche Auseinandersetzung dar. Er ist eine gute
Basis für die Debatte über den besten Weg, wie einem
Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich
entgegengewirkt und der Sozialstaat weiterentwickelt
werden kann. Politik, Wissenschaft, Institutionen und
Verbände sind eingeladen, sich an dieser Debatte intensiv
zu beteiligen. Ich freue mich schon auf den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht.
Danke.
({7})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Jürgen
Koppelin das Wort.
({0})
- Dafür hat der Kollege Heinrich Kolb seine Rede zu Pro-
tokoll gegeben.1) Ich bitte um Verständnis.
Ich mache es auch wesentlich kürzer, Herr Präsident.
Frau Staatssekretärin, ich möchte einen Vorgang ansprechen, von dem ich meine, dass Sie ihn in Ihrem Hause
einmal überprüfen sollten, besonders nachdem ich heute
einen Brief dazu aus Ihrem Hause erhalten habe.
Nachdem ich Berichten in der Presse entnommen
hatte, dass der Armutsbericht inzwischen vorliegt, habe
ich mich als Parlamentarier selbstverständlich darum
bemüht, auch diesen Bericht zu bekommen. Das war sehr
schwierig, denn Ihr Haus hat wohl 5 000 Exemplare gedruckt, die zwar an alle möglichen Leute verteilt wurden,
aber nicht an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages.
Ich wollte eigentlich eine Diskussion über den Armutsbericht im Haushaltsausschuss anregen, um uns bereits vorab damit zu beschäftigen; schließlich ist der Bericht sehr umfangreich. Das war aber nicht möglich, weil
keinem Mitglied des Haushaltsausschusses dieser Bericht
vorlag, wohl aber der Öffentlichkeit. Als in Ihrem Ministerium angerufen wurde, hieß es: Der Bericht ist vergriffen, aber es findet ein Kongress hier in Berlin statt; wenn
Sie jetzt hinfahren, können Sie vielleicht noch ein Exemplar bekommen. - Das kann nicht angehen. Das ist nicht
der angemessene Umgang mit dem deutschen Parlament.
Ich bitte darum, künftig dafür zu sorgen, dass alle Mitglieder des Deutschen Bundestags ebenfalls den Bericht
erhalten, wenn Sie diesen herausgeben.
Ansonsten sage ich Ihnen: Ich freue mich nicht auf diesen Bericht. Wir wollen ihn sorgfältig diskutieren. Aber
Sie freuen sich anscheinend auf diesen Bericht.
({0})
1) Anlage 3
Frau
Staatssekretärin zur Erwiderung, bitte schön.
Herr Koppelin, ich
bedaure es sehr, dass ausgerechnet Ihnen als Mitglied
- und auch den anderen Mitgliedern - des Haushaltsausschusses der Armuts- und Reichtumsbericht nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt worden ist. Ich werde mich
gern darum kümmern, dass Sie alle ihn bekommen. Ich
glaube, dass er in der Tat auch dem Haushaltsausschuss
wichtige Hinweise geben kann.
Meine Freude auf den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht hat sich nicht auf das bezogen, was in diesem
Bericht - jedenfalls was den Aspekt der Armut betrifft beschrieben wird, sondern darauf, dass wir hier eine wichtige Berichterstattung fortsetzen und dann sehen können,
welche Politikansätze, die in den Jahren seit 1998 von der
Bundesregierung verfolgt worden sind, eine positive Wirkung entfaltet haben. Darauf freue ich mich.
Als
nächster Redner hat der Kollege Karl-Josef Laumann von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liest, dann fragt man
sich zunächst einmal: Warum hat die Bundesregierung
diesen Bericht vorgelegt?
({0})
In dem Bericht steht nichts Eigenständiges. Es wurden
keine neuen Erkenntnisse gewonnen und nicht einmal eigene Zahlen verwendet. Es wurden schlicht und einfach
vorhandene Berichte und Studien abgekupfert. Auch hat
man die Begriffe nicht einheitlich definiert. Wer ist in
Deutschland arm? Wer ist reich? Die Regierung zieht
keine konkrete Schlussfolgerung und kündigt in dem Bericht keine Maßnahmen an.
Wenn man sich dann die Berichterstattung in den Medien nach der Veröffentlichung dieses Berichtes zu
Gemüte geführt und sie mitverfolgt hat, kommt mir zumindest der Verdacht, dass das BMA mit diesem heiklen
und schwierigen Thema, das für viele Menschen sehr belastend ist, sehr populistisch umgegangen ist und Polemik
betreiben will. Wenn man nämlich die Zeitungen gelesen
und die Fernsehberichte gesehen hat, hätte man den Eindruck haben können, dass Armut in Deutschland ein drängendes Problem ist und dass die Menschen in diesem
Land in den letzten Jahren zu einem großen Teil in Armut
abgedriftet sind. Dadurch sind wahrscheinlich wenige
böse Kapitalisten immer reicher geworden.
({1})
Diese Wertung teile ich nicht. Die Menschen in
Deutschland haben seit Kriegsende eine ständige Mehrung ihres Wohlstandes erlebt. Dies gilt nicht nur für einige wenige, sondern für eine breite Masse.
({2})
Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist allein von
1973 bis 1998 - also überwiegend in den Jahren einer CDU/
CSU-Regierung - von 23 700 DM auf rund 61 800 DM angewachsen.
({3})
45 Prozent der Haushalte verfügen nach Angaben des Berichtes über Immobilienbesitz. Dabei ist die Verteilung
dieses Immobilienbesitzes keineswegs ungleichgewichtig, sondern gerade in den Arbeitnehmerhaushalten stark
vorhanden. Die Hälfte der privaten Haushalte, sowohl im
Westen wie auch im Osten, hat inzwischen Aktien. Nicht
umsonst sprechen wir von der Erbengeneration.
Auch ist diesem Bericht zu entnehmen, dass das Problem der Altersarmut, die früher ein bedrückendes Problem
war, aber heute nur noch 1,3 Prozent der über 65-Jährigen
trifft, durch die Rentenversicherung und die Alterssicherungssysteme weitestgehend gelöst worden ist.
Ich persönlich habe den Eindruck, dass wir einmal darüber reden müssen: Wie definieren wir Armut? Die offizielle Definition ist: Wer weniger als 50 bis 60 Prozent
des durchschnittlichen mittleren Einkommens hat, ist
arm. Dies wird auch in diesem Bericht zugrunde gelegt.
({4})
Das heißt, dass die Armutsgrenze bei 1 462 DM für einen
Alleinstehenden liegt.
({5})
- Jawohl. - Dies entspricht 50 Prozent des Mittelwertes
aller Äquivalenzeinkommen. Wenn Sie dann einmal einen
Haushalt von zwei Erwachsenen mit vier Kindern zugrunde legen, dann sind das immerhin 5 409 DM. Die offizielle Definition des Armutsbegriffs heißt: die Hälfte des
Einkommens im mittleren Bereich der Haushalte. Man
muss einmal darüber reden, ob dies in Zukunft die Definition für Armut sein kann.
({6})
Das Problem ist, dass Sie dann auch in einer sehr wohlhabenden Gesellschaft immer einen großen Teil an Armut
behalten.
Ein zweiter Punkt, der uns sehr stark beschäftigen
muss, ist, dass wir in Deutschland - das macht der Bericht
deutlich - zwei große Armutsrisiken haben. Die eine Risikogruppe - die Frau Staatssekretärin hat sie schon angesprochen - sind Alleinerziehende mit Kindern, die andere Gruppe Ehepaare mit mehreren Kindern. Es ist
dringend notwendig, dass wir in unserer Gesellschaft eine
Lobby für mehr Akzeptanz der Familienpolitik in diesem
Land schaffen. Sie sehen in diesen Tagen, wie schwer es
selbst in Ihren eigenen Reihen ist, dafür eine Lobby zu
finden. Ich spreche von Ihrer Bundesregierung. Ich denke,
dass wir sehr stark darauf achten müssen, die Transferzahlungen für Familien so zu gestalten, dass Kinder nicht
der Grund sind, um auf Sozialhilfe angewiesen zu sein.
Hier haben wir alle eine gewaltige Aufgabe vor uns.
({7})
Ich glaube, dass wir ein Weiteres tun müssen. Wir müssen auch in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter
propagieren. Für Alleinerziehende ist es die einzige Möglichkeit, aus der Sozialhilfe und damit aus der Armut herauszukommen.
Wir haben viel getan. In den verschiedensten Kommunen hat sich die Kindergartensituation verbessert. Der
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist von uns
durchgesetzt worden. In diesem Zusammenhang sind wir
auch von Kommunalpolitikern unserer eigenen Partei, die
diesen Anspruch umsetzen mussten, beschimpft worden.
Wir müssen auch darüber reden, dass über eine verlässliche Kindergarten- und Grundschulversorgung hinaus
für die Väter und Mütter verlässliche Arbeitszeiten erreicht werden müssen. Sie können ein solches Angebot
nicht organisieren, wenn Sie davon ausgehen, dass die
Menschen rund um die Uhr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen. In unserer Gesellschaft muss klar
werden, dass Eltern, wenn sie Familie und Beruf miteinander verbinden sollen, verlässliche Arbeitszeiten brauchen.
Es gibt ein weiteres Problem, nämlich die Zahl der
schlecht Ausgebildeten, der Menschen, die keinen Schulabschluss haben. Auf diesem Feld hat Ihr JUMP-Programm nichts genützt.
({8})
Es gibt Zahlenmaterial, das Auskunft darüber gibt, was
auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt worden ist. Ich
glaube, wir sollten im Rahmen der Diskussion über den
Armutsbericht, der auch an den Sozialausschuss überwiesen wird, ebenso über die Effizienz der Maßnahmen, die
wir für die Betroffenen anbieten, nachdenken.
({9})
Wir sollten einmal überlegen, ob die Grundstruktur der
Sozialhilfe - eine Geldleistung zu geben, ohne eine Gegenleistung einzufordern - richtig ist oder ob wir hier das
Regel-Ausnahme-Verhältnis in der Weise verändern sollten, dass eine volle Leistung eine Gegenleistung zwingend vorschreibt, wenn ein entsprechendes Angebot gemacht worden ist.
({10})
Wenn Sie sich einmal die Aussichten gerade jüngerer
Ausländer auf dem Arbeitsmarkt ansehen, können Sie erkennen, dass deren Probleme mit Sprachkenntnissen und
Schulabschlüssen zu tun haben. Wir müssen uns ganz besonders bemühen, diesen Zielgruppen Hilfen anzubieten,
damit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Beschäftigung
finden. Das bedeutet vor allem, Ausbildungsbemühungen
zu verstärken.
Durch die Studie des Berichtes ist mir eines deutlich
geworden: Auch in Zukunft bedeutet es für die Menschen
in Deutschland ein großes Armutsrisiko, wenn sie
schlecht ausgebildet sind. Deswegen muss alles darangesetzt werden, die Teilhabe der Menschen durch gute
Ausbildung für fast alle zu ermöglichen.
Schönen Dank.
({11})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung und diese Koalition haben sich eines getraut. Sie haben sich getraut, Daten über Armut und
Reichtum zusammenzutragen. Sie haben es gewagt, Daten ermitteln zu lassen, wovor sich die frühere Regierung
gedrückt hat.
({0})
Wir haben inzwischen einen Bericht über die Verteilung des Wohlstandes und Daten über die Entwicklung in
diesem Land. Wir haben Daten, die zeigen, wie es mit der
Teilhabe und der Chancengerechtigkeit in diesem Land
aussieht. Wir haben Daten über Reichtum und Armut.
({1})
Was - damit komme ich zu den Inhalten des Berichts sagt uns dieser Bericht? Bisher hieß es: Reich ist man, darüber redet man nicht. Auch über Armut wurde sehr wenig geredet. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den
Zehnten Kinder- und Jugendbericht. Wir alle wissen, wie
lange es gedauert hat, bis wir im Parlament die Gelegenheit hatten, darüber zu reden. Es gibt in diesem Land eine
Schere zwischen Armut und Reichtum. Das sind die wichtigsten Erkenntnisse.
({2})
Armut in Deutschland hat ein junges Gesicht. Armut trifft
vor allem Kinder und Jugendliche, sie trifft Minderjährige.
Sie, Herr Laumann, fragen: Woran misst man Armut?
Natürlich messen wir Armut an den Einkommen in
Deutschland; natürlich geht es den Menschen in diesem
Land heute besser als noch in den 30er-, 40er- oder 50erJahren.
({3})
Natürlich geht es einem Handwerker in Deutschland besser als beispielsweise in einem Entwicklungsland; natürlich sind die Standards in Deutschland viel höher.
Armut hat aber auch in diesem Land viele Gesichter:
Das fängt an bei der Jeanshose, die ich mir nicht kaufen
kann, beim Kindergeburtstag, den ich nicht ausrichten
kann, und beim Urlaub mit meinen Kindern, den ich mir
nicht leisten kann. Armut fängt auch dort an, wo es um
schulische Bildung und Teilhabegerechtigkeit geht. Armut fängt also beim soziokulturellen Leben und nicht erst
bei dem Dach über dem Kopf oder dem Sattwerden an.
({4})
Deshalb müssen wir Armut an den Standards messen, mit
denen wir leben und mit denen unsere Kinder aufwachsen.
({5})
Der Bericht - das möchte ich betonen - hat das Jahr
1998 und nicht das Jahr 2000 als Bezugsjahr. Aber wir haben schon Daten für das Jahr 2000 und diese Daten bestätigen uns, dass diese Regierung und diese Koalition mit
ihrer Politik auf dem richtigen Weg sind, dass sich die
Lage bereits entspannt hat und dass wir für die betroffenen Familien schon einiges getan haben.
({6})
Ich möchte Ihnen eine Zahl nennen. Der Lebensstandard
von Familien mit Kindern ist um 30 Prozent niedriger als
der von Familien ohne Kinder. Deshalb haben wir gerade
für die Familien mit Kindern etwas getan. Zum Beispiel
haben wir die Debatte über die Kindergelderhöhung diese
Woche in der Presse gehabt. Damit sind wir auf dem richtigen Weg: Wir werden und müssen diese Politik fortsetzen.
({7})
Zu einer überzeugenden Politik gehört aber noch mehr.
Dazu gehören zum Beispiel Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Sicherung von Infrastrukturleistungen zur Steigerung der Erwerbschancen insbesondere von Frauen - ich denke zum Beispiel an die
Kinderbetreuung -, die Modernisierung der Berufswelt,
in der flexible Instrumente wie Teilzeitarbeit, Jobrotation
oder auch Erziehungszeiten, in denen Frauen zu Hause arbeiten können, möglich sind, Qualifizierungsmaßnahmen
für die Frauen und Männer, die sich für eine Erziehungspause entschieden haben und danach wieder in den Beruf
einsteigen wollen, die Öffnung des Arbeitsmarktes und
eine richtige Bildungspolitik. All diese Maßnahmen
gehören zur Armutsbekämpfung.
Wenn wir darüber diskutieren, dürfen wir aber eines
nicht machen, nämlich die einzelnen Instrumente gegeneinander ausspielen. Wir dürfen also nicht zum Beispiel
nur über Infrastruktur oder nur über eine finanzielle Entlastung der Familien debattieren; vielmehr brauchen wir
beides, und zwar gezielt. Nicht hingegen brauchen wir einen Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion mit utopischen
Ansätzen, die Visionen in 20 oder 30 Jahren darstellen
mögen, jetzt aber nicht umgesetzt werden können. Das
betrifft zum Beispiel Ihre 1 200 DM Familiengeld, das pro
Jahr 60 Milliarden DM kosten würde. So etwas führt in
der Debatte nicht zum Ziel.
({8})
Wir von der grünen Fraktion haben mit der Kindergrundsicherung eine kurzfristig umsetzbare und zielführende Maßnahme vorgeschlagen, um insbesondere die
Kinderarmut zu bekämpfen. Denn eine Erkenntnis aus
dem vorliegenden Bericht ist, dass es in diesem Land Menschen gibt, die voll berufstätig sind und trotzdem in der Armutsfalle stecken. Diese Menschen verdienen trotz Vollzeiterwerbstätigkeit nämlich so wenig, dass sie immer
noch als arm gelten müssen. Gerade für diese Menschen,
die in den Bereich „working poor“ - um dieses Wort einmal zu verwenden - fallen, wollen wir gezielte Maßnahmen ergreifen. Das ist eine wichtige Herausforderung.
In dieser Debatte gehören für mich zwei Dinge zusammen. Das Erste betrifft die Darstellung der Lebenslagen in
Deutschland. Der Bericht beweist uns, dass wir diese
Art der Berichterstattung auch in den kommenden
Legislaturperioden fortsetzen müssen, weil wir Daten
brauchen, um darüber ernsthaft reden zu können.
({9})
Zum Zweiten brauchen wir Menschen, die aus diesem
Bericht Erkenntnisse gewinnen, um darauf aufbauend politische Maßnahmen und Prioritäten zu entwickeln. Dafür,
Herr Laumann, sind nicht die Verfasser des Berichtes zuständig, sondern wir alle. Die Erkenntnisse über die notwendige Politik müssen hier bei uns gewonnen werden
und nicht in dem wissenschaftlichen Gremium, das damit
befasst war, diesen Bericht zu entwickeln.
({10})
Ich komme nun zu meinem letzten Satz, da meine Redezeit abgelaufen ist. Ich möchte mich bei all den namhaften Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und
bei allen Vereinen, Verbänden und Organisationen bedanken, die es ermöglicht haben, dass dieser Bericht in einer
rasanten Geschwindigkeit erstellt werden konnte. Ihnen
gebührt der Dank dafür, dass der Bericht überhaupt entstanden ist. Diese gute Zusammenarbeit sollten wir in Zukunft fortsetzen.
({11})
Mein allerletzter Satz richtet sich an Herrn Koppelin.
Wir sind eine moderne Regierung.
({12})
Sie finden diesen Bericht im Internet auf der Homepage,
und zwar nicht erst jetzt, sondern bereits seit zwei Wochen. Die Presse hat ihn nämlich aus dem Internet. Dort
können Sie auch einmal hineinschauen; denn Sie haben
einen Internetzugang in Ihrem Büro.
({13})
Der Kol-
lege Dr. Heinrich Kolb von der F.D.P.-Fraktion hat seine
Rede zu Protokoll gegeben.1) Ich denke, Sie sind damit
einverstanden.
Wir kommen dann zur Rede der Kollegin Pia Maier
von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Bei Erscheinen des Armuts- und Reichtumsberichtes hat Robin Lautenbach in der ARD gesagt - ich zitiere -: „Man muss nicht Kommunist sein, wenn man
angesichts der krassen Verteilung von Armut und Reichtum an das Grundgesetz erinnert, in dem es heißt, Eigentum verpflichtet.“
({0})
Aber nur die PDS fordert, Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht zu ziehen, die über Ihre politischen Ansätze hinausgehen.
Wer hierzulande arm ist, der ist ausgeschlossen von der
Leitkultur des Landes, nämlich davon, Geld ausgeben zu
können. Als zentrale Ursache für Armut benennt der Armuts- und Reichtumsbericht völlig richtig die Arbeitslosigkeit. Sie versuchen im Augenblick, mit vielen kleinen
Maßnahmen die Situation etwas zu verbessern. Aber an
die Strukturen, die Arbeitslosigkeit entstehen lassen, und
an einen grundsätzlich großen Wurf wagen Sie sich nicht
heran.
Als Ursachen für Arbeitslosigkeit benennt der Bericht
vor allem Bildungsstatus und Familiensituation. Aber ein
Zusammenhang zwischen diesen vielen einzelnen Elementen wird nicht hergestellt. Und es wird nicht nach den
Ursachen gefragt. Warum ist denn der Bildungsstatus
vieler Menschen so niedrig, dass sie keine Chancen auf
dem Arbeitsmarkt haben? Warum sind es ausgerechnet
immer diejenigen, die aus bildungsfernen Schichten und
aus armen Elternhäusern kommen und die diesen Lebensweg selber wieder gehen müssen? Genetisch bedingte
Dummheit käme auch in besseren Familien vor. Strukturen wie schlechte Schulausstattung, Lehrermangel und
wenig Kindergartenplätze finden sich in Gegenden mit
hoher Armut. Solche Zusammenhänge werden in diesem
Bericht nicht in den Blick genommen.
Sie setzen die Politik, die bis 1998 gemacht wurde und
die sich in diesem Bericht widerspiegelt, fort und verschärfen die Gegensätze in der Bevölkerung noch weiter.
({1})
- Herr Gilges, es wird eine Fortsetzung dieses Berichtes
geben. Die Schere ist weit auseinander gegangen. Mit einer Erhöhung des Kindergeldes um 30 Mark werden Sie
diese Schere so schnell nicht wieder schließen.
Sie machen mit der Politik der Haushaltskonsolidierung, die Sie in den Mittelpunkt stellen, weiter, statt mit
Investitionsprogrammen Arbeitsplätze zu schaffen. Sie
sorgen nicht dafür, dass die Kommunen wieder Geld in
ihren Kassen haben, damit sie Gebühren nicht weiter erhöhen und Sozialtarife nicht weiter streichen müssen.
Sie verzichten auf Steuereinnahmen, die die Lage derer,
die es am nötigsten hätten, verbessern könnten. Mit der
Einführung eines privaten Anteils bei der Rente geben
Sie durch das Sonderabzugssystem höheren Einkommen mehr als geringen; das hätte man anders gestalten
können. Wer sich keine Privatvorsorge leisten kann,
wird noch ärmer. Rentenbeiträge für Arbeitslose wurden gesenkt. Durch diese Politik entstehen die Armen
von morgen, die Sie dann in Ihren Bericht aufnehmen
müssen.
Über die Zusammenhänge von Armut und Reichtum ist
in diesem Bericht nichts zu erfahren. Die Bundesregierung geht gemäß Statistischem Bundesamt zwar von
27 230 Bruttoeinkommensmillionären aus. Aber hier handelt es sich um zu versteuernde Einkommen. Glauben Sie
wirklich, dass die jede verdiente D-Mark beim Finanzamt
angeben? Hohe Einkommen sind gestiegen. Das Realeinkommen pro Kopf ist in den letzten Jahren nicht gestiegen. Solche Zusammenhänge kann man zwar dem vorliegenden Armuts- und Reichtumsbericht entnehmen, wenn
man sich durch 700 Seiten gelesen hat. Aber klare Zusammenhänge werden nicht hergestellt.
Über den Reichtum, „das scheue Reh“, wird in dem
Bericht festgestellt, dass er „wichtige Funktionen in unserer Gesellschaft, im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich, hat. Es bedarf daher eines ausgewogenen
gesellschaftlichen Diskurses darüber, wozu der Reichtum
dient“.Wozu Reichtum dienen soll, können Ihnen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, „working poor“ und Alleinerziehende ein paar nützliche Tipps geben: ihre Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben zu erhöhen, ihre Armut zu bekämpfen und das Armutsrisiko Kind auszuschließen. Deswegen muss Reichtum begrenzt werden.
Eine Umverteilung von oben nach unten ist die Konsequenz, die man aus dem vorliegenden Bericht ziehen
muss. In unserem Antrag weisen wir auf erste Schritte in
diese Richtung hin. Ohne eine solche Umverteilung ist die
Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu schließen. Wenn
sich die Richtung der Politik nicht ändert und die Prioritäten nicht anders gesetzt werden, dann wird im nächsten Armuts- und Reichtumsbericht nur festgestellt werden
können: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist zwar nicht
kleiner geworden. Aber Armsein unter Rot-Grün ist erträglicher, weil man genauer Bescheid weiß.
Danke schön.
({2})
1) Anlage 3
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf Stöckel
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat gezeigt, dass die
Spannweite vom Schreckensszenario bis zur Schönfärberei reicht, wenn es um die Definition von Armut geht.
Aber die Tatsache, dass Armut als Begriff auch heute noch
im Alltagsbewusstsein verankert ist, deutet darauf hin,
dass Armut eine individuelle Lebenslage ist, die immer im
Verhältnis zu anderen Bedingungen steht, nämlich zum
Zufall des Geburtsortes, des sozialen Lebensumfeldes
und zu dem, was in einer Gesellschaft unter Befriedigung
existenzieller materieller, aber auch ideeller Grundbedürfnisse und was unter Chancengleichheit und Teilhabe
verstanden wird. Ich glaube, dass Sie dem zustimmen und
dass darüber Konsens besteht.
Ich erinnere an den Beitrag der ehemaligen Bundesfamilienministerin Nolte anlässlich des Zehnten Kinderund Jugendberichtes. Damals bestritt sie, dass es Kinderund Jugendarmut in Deutschland überhaupt gibt. Ähnliche Kommentare gibt es vor allen Dingen von konservativer Seite auch zu dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht, den eine Bundesregierung - dafür loben wir sie
ausdrücklich - je vorgelegt hat. Otto Schlecht, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, hält den Bericht für fragwürdig und polemisiert zynisch, dass es wohl am besten
sei, wenn alle Menschen niedrige Einkommen hätten, damit es keine Unterschiede gibt. Ich möchte Herrn Schlecht
antworten - er ist zwar nicht hier; aber vielleicht liest er
es nach -: „Wohlstand für alle“ war bekanntlich Ludwig
Erhards erfolgreicher Wahlschlager. Er sollte also als Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung zurücktreten oder
seinen Laden in Harald-Schmidt-Stiftung umbenennen.
Dann passt es wieder.
({0})
Auf jeden Fall sollte er den Bericht einmal lesen; denn
in ihm wird faktisch nachgewiesen, warum Kinder auch
in Deutschland für Familien mit einem Durchschnittseinkommen tatsächlich ein Armutsrisiko darstellen. Wenn
Herr Schlecht seine Kreise einmal verlassen und sich dem
Lebensalltag der Menschen in diesem Lande zuwenden
würde, könnte er feststellen, wie viele Familien und insbesondere allein erziehende Frauen - darauf ist auch
schon von Herrn Laumann hingewiesen worden - der
neuen Armutsgruppe zuzurechnen sind.
Es gibt eine Infantilisierung der Armut. Ich zitiere an
dieser Stelle noch einmal aus dem Armuts- und Reichtumsbericht, um es ganz deutlich zu machen:
Für Kinder hat die Teilhabe an der modernen Marktund Konsumgesellschaft eine besondere Bedeutung.
Sie werden als Zielgruppe des Konsumgüter- und
Dienstleistungsmarketing zunehmend umworben.
Kinder erleben, dass die Einschränkung im Konsum
und die Ausgrenzung von Bildungsangeboten daraus
resultieren, dass den Eltern die Möglichkeiten fehlen, ihre Wünsche und Interessen zu unterstützen.
Armut bedeutet dann für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen Einschränkung
und Ausgrenzung als fundamentale Erfahrung des
Aufwachsens. Die möglichen Konsequenzen für die
Kinder sind geringes Selbstwertgefühl, Depressivität, Einsamkeit, Misstrauen, Nervosität, Konzentrationsschwäche und Resignation in Bezug auf berufliche Chancen.
Auch das gehört zur Debatte um die Unverletzlichkeit der
Menschenwürde. Armut wird in dieser Gesellschaft
ebenso wie Reichtum vererbt, der dadurch immer mehr
kumuliert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir echte
Chancengleichheit etwa bei der Bildung wollen - das ist
ja gerade noch einmal beschworen worden -, weil es sich
diese Gesellschaft gar nicht mehr leisten kann, ein Kind
am Rande stehen zu lassen, werden wir neue Instrumente
der Generationengerechtigkeit brauchen, neue Instrumente zur sozial gerechten Umverteilung von Lebensressourcen.
Der Bericht macht deutlich, dass die Schere gerade in
der Regierungszeit von CDU/CSU und F.D.P. immer weiter auseinander ging. Die Zahl der Einkommensmillionäre ist stetig gestiegen und die der Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen auch. Ist es Sozialneid, infrage zu
stellen, dass es Menschen gibt, die an einem Tag so viel
Einkommen haben - verdienen können sie es ja nicht -,
wie viele andere ihr ganzes Erwerbsleben lang nicht erarbeiten können? Oder ist diese Infragestellung nicht ein
Verfassungsauftrag auf der Grundlage der Sozialpflichtigkeit des privaten Eigentums in Art. 14 Abs. 2 des
Grundgesetzes?
Der CDU-Sozialminister Hans Geisler in Sachsen
streitet das Vorhandensein von Armut ebenfalls ab. Wer
Sozialhilfe empfängt, sei nicht arm. Einkommensunterschiede würden Engagement und Leistungswillen fördern. Problematisch sei es nur, wenn zustehende Leistungen nicht in Anspruch genommen würden. - Da stimme
ich ihm zu. - Alles andere seien zwischenmenschliche
Probleme, die sich mit Geld nicht lösen ließen. Ich rate der
CDU, das alles auf ein Wahlplakat zu schreiben
({1})
und dieses dann an den sozialen Brennpunkten unseres
Landes aufzustellen.
Ich habe lange in einem Sozialamt als Schuldnerberater gearbeitet und dort meine Erfahrungen gemacht.
Strukturelle Benachteiligungen und eine Bürokratie, die
es vielen schwer gemacht hat - in meinem Berufsalltag
habe ich das erlebt -, Rechtsansprüche umzusetzen, waren die Realität. Der Gesetzestext im § 9 SGB I garantiert
die persönliche Bedarfsdeckung, die Befähigung zur
Selbsthilfe, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft
und die Führung eines menschenwürdigen Lebens. Das
gelingt nur selten, auch wenn die Sozialverwaltung besonders engagiert ist. Das gilt in vielen Fällen, nicht in allen, insbesondere für das, was davon bei den Kindern ankommt.
Die Wahrheit ist doch: Die meisten Kommunen wären
hoffnungslos verschuldet, mehr, als sie es jetzt sowieso
schon sind, wenn sie das tatsächlich für alle realisiert hätten, die einen Anspruch darauf haben, weil in Ihrer Regierungszeit so viele Arbeitslose und andere Gruppen in
die Sozialhilfe abgeschoben worden sind.
Wir begrüßen, dass die Erstellung des Armutsberichts fortgesetzt wird. Ich weise darauf hin, dass wir als
SPD-Fraktion eine große Tagung in diesem Hause gemacht haben, bei der alle Gruppen - Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Gewerkschaften und Selbsthilfegruppen - nicht nur den Reichtumsbericht begrüßt haben,
sondern vor allem die dadurch entstandene Initialzündung für eine Diskussion über die Armut und den Reichtum in unserer Gesellschaft.
Die Kollegin Deligöz hat auf das hingewiesen, was
unsere Regierung bereits vor dem Erscheinen des Berichtes als Gegenmaßnahmen zur Armutsbekämpfung,
vor allen Dingen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit,
getan hat. - Ich nenne das Stichwort Familienförderung. Deswegen will ich nicht auf alle Maßnahmen zu sprechen kommen, zumal ich jetzt auch kaum noch Zeit
habe.
Ich will aber noch einmal unseren Wunsch deutlich
machen, dass auch zukünftig durch eine regelmäßig alle
vier Jahre vorliegende Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Öffentlichkeit, der Politik, der Verwaltung
und den Fachverbänden Informationen bereitgestellt werden. Diese Kontinuität soll auch dazu beitragen, Probleme
und Handlungsbedarf rechtzeitig zu erkennen. Diese Berichterstattung soll als Frühwarnsystem ein angemessenes
und bedarfsgerechtes Reagieren ermöglichen.
In großen Teilen der Öffentlichkeit herrscht nach wie
vor das Verdrängen und das Tabuisieren des Themas Armut vor. Es gilt, diese Haltung zu durchbrechen und die
Bereitschaft für solidarische Lösungen zu fördern.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man die ersten Medienberichte über den
Armuts- und Reichtumsbericht gelesen und die Reden der
Vertreter der Koalitionsfraktionen gehört hat, dann hat
man den Eindruck, dass vor allen Dingen ein negatives
Urteil über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte, was die
Entwicklung von Armut und Reichtum in Deutschland
anbelangt, gefällt werden soll.
({0})
Es wird schlichtweg nicht wiedergegeben - der Kollege Karl-Josef Laumann hat es schon vorgetragen -, dass
die durchschnittliche Höhe der Haushaltsnettoeinkommen gestiegen ist und dass in den vergangenen Jahrzehnten auch die Vermögensbildung breiter Schichten in hervorragender Weise zugenommen hat.
({1})
Ich denke gerade an die Vermögensbildung durch
Wohneigentum. Die CDU/CSU wollte im Rahmen der
Rentenreform die Wohneigentumsbildung als Beitrag zur
Altersvorsorge nachdrücklich verbessern. Dabei haben
Sie von Rot-Grün nicht mitgemacht.
Frau Staatssekretärin Mascher, da Sie von blinden
Flecken gesprochen haben, möchte ich Folgendes zu bedenken geben: Wäre es vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Selbstständige die Vermögensbildung zu einem
großen Anteil zum Zwecke der Altersvorsorge vornehmen, in einer solchen Untersuchung, die beansprucht,
vollständig zu sein, nicht gerechtfertigt gewesen, auch
das, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch
ihre Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zwar
nicht als Vermögen, aber als Rechtsanspruch auf ihre Altersversorgung aufbauen, entsprechend zu würdigen und
zu berücksichtigen? Das fehlt in diesem Bericht.
({2})
Sie sprechen davon, dass die Einkommensspreizung
dramatisch zugenommen habe. Das sei vor allem in der
Zeit, in der CDU/CSU und F.D.P. regiert haben, geschehen. Wenn Sie genau nachgelesen hätten, dann hätten Sie
festgestellt: Die größte Einkommensspreizung gab es in
den Jahren von 1973 bis 1978.
({3})
Es gibt noch Damen und Herren, die sich daran erinnern,
wer in dieser Zeit regiert hat.
({4})
Frau Kollegin Deligöz war so vermessen, hier zu behaupten, seit 1998 habe sich alles zum Besseren gewendet. Ich möchte daher auf den Präsidenten des Deutschen
Caritasverbandes, Hellmut Puschmann, hinweisen, der
in einem Interview mit dem „Rheinischen Merkur“ zur
Behauptung des Arbeitsministers, seit Antritt der rot-grünen Koalition im Herbst 1998 habe sich die soziale Lage
wieder gebessert, gesagt hat, er könne das so nicht unterschreiben und er wolle wissen, woran der Arbeitsminister
das festmache.
({5})
Auch ich möchte es gerne wissen.
({6})
Der Armuts- und Reichtumsbericht stellt in der Tat
auch einige bedenkliche Tendenzen heraus. Es ist schon
dargestellt worden, dass kinderreiche Familien eher in die
Abhängigkeit von Sozialhilfe geraten. Eine weitere
bedenkliche Tendenz ist, dass eine mangelnde berufliche
Qualifikation die Abhängigkeit von Sozialhilfe begünstigt. Nur, diese Entwicklungen kennen wir weitgehend eigentlich schon aus den bisherigen Untersuchungen. Der
Armuts- und Reichtumsbericht teilt uns in dieser Hinsicht
nichts Neues mit.
Frau Kollegin Deligöz, Sie haben die Familienpolitik
der Bundesregierung angesprochen. Dazu, dass es ab dem
1. Januar 2002 30 DM mehr Kindergeld geben soll, sage
ich: Gerade Ihre Fraktion - das entnehme ich Presseberichten über einen Beschluss ihrer Fraktion - ist mit dieser Lösung - sie bleibt an der Untergrenze dessen, was das
Bundesverfassungsgericht vorschreibt - nicht zufrieden.
({7})
Das heißt, aus Ihrer Sicht bleibt „nachbessern“ das Unwort der rot-grünen Koalition.
({8})
Bei der Beschlussfassung über den Auftrag zur Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts im Bundestag
am 27. Januar 2000 habe ich schon ausgeführt, dass es ein
Thema gibt - die CDU/CSU hat eine entsprechende Debatte beantragt -, das sich wirklich zu untersuchen lohnt.
Das ist das Phänomen der so genannten verdeckten Armut. Aber gerade zu diesem Punkt stellt dieser Bericht
nichts fest, sondern bleibt im Allgemeinen. Das Thema,
wozu wir bis heute wenig wissen und das man daher hätte
untersuchen können, kommt in diesem Bericht nur ungenügend vor. Am Schwächsten ist der Armuts- und
Reichtumsbericht also an der Stelle, wo es eigentlich interessant wird.
Frau Staatssekretärin und Herr Staatssekretär, Sie haben ausdrücklich darauf bestanden, dass kein unabhängiger Expertenbericht vorgelegt wird, sondern ein Bericht
der Bundesregierung. Wir gingen also davon aus, dass uns
die Bundesregierung in diesem Bericht sagt, welche Konsequenzen sie daraus ziehen will. Aber genau an dieser
Stelle bleiben Sie unverbindlich und allgemein. Zu Recht
stellt der Präsident des Diakonischen Werks, Jürgen
Gohde, fest:
Weil dieser Bericht ein Regierungsbericht und kein
neutral erstellter Bericht ist, werden unbewältigte
Aufgaben, für die die Bundesregierung Verantwortung trägt, nicht oder kaum erwähnt. Dazu zähle ich
zum Beispiel die Neubestimmung der Regelsätze der
Sozialhilfe und ... die Neubestimmung des steuerlichen Existenzminimums sowie die vor Jahren beschlossene Integration der nicht krankenversicherten
Sozialhilfeempfänger in die gesetzliche Krankenversicherung.
Zu Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie von RotGrün sich in Sachen Sozialhilfe zunächst einmal eine Verschnaufpause gegönnt, indem Sie die Übergangsregelung,
nach der die Sozialhilferegelsätze prozentual um den Betrag steigen, um den auch die gesetzliche Rente steigt, um
zwei Jahre verlängert haben.
({9})
Nach diesen zwei Jahren wollten Sie uns das große neue
Reformwerk vorlegen, nämlich das neue Bedarfsbemessungsschema für die Sozialhilfe.
({10})
Bis zur Stunde liegt aber nichts vor. Wir hören bereits,
dass Sie vorhaben - das hätten Sie heute erklären können -, diese Übergangsregelung erneut zu verlängern und
die ganze Sache über den Wahltermin 2002 hinauszuschieben.
Dabei haben Sie doch eigentlich genügend Datenmaterial. Sie haben jetzt den Armuts- und Reichtumsbericht,
den Sie so sehr loben, und Sie haben insgesamt zehn Gutachten, die noch in unserer Regierungszeit in Auftrag gegeben worden sind und auf deren Grundlage Sie ein neues
Bedarfsbemessungsschema für die Sozialhilfe vorlegen
können. Ich fordere Sie auf, diese zehn Gutachten endlich
der Öffentlichkeit vorzulegen und uns zu sagen, was Sie
vorhaben.
Bereits heute steht fest, dass Sie uns angelogen haben,
als Sie die Verlängerung der Übergangsfrist beschlossen
haben.
({11})
Ich kann mich noch an die Rede der Frau Kollegin Lange
erinnern. Ihre Begründung lautete: Diese Übergangsregelung - die wir von der CDU/CSU kopiert haben - können
wir deswegen weiterführen, weil aller Voraussicht nach in
den kommenden Jahren die Renten und damit auch die
Sozialhilfe stärker steigen werden als in der Vergangenheit.
({12})
- Nein, Fakt ist doch, Herr Gilges:
({13})
Aufgrund Ihrer Rentenmanipulationen sind die Renten
und die Sozialhilfe im vergangenen Jahr - das wird auch
in diesem Jahr so sein - um einen erheblich geringeren
Prozentsatz gestiegen, als die aktuelle Inflationsrate ist.
({14})
Das sind die Fakten. Das heißt, Ihre eigene Gesetzesbegründung stimmt nicht mehr.
({15})
Herr Kollege Weiß, Sie müssen zum Schluss kommen.
({0})
Ja, Herr
Präsident. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, Sie haben sich das mit dem datenmäßigen Ende
Peter Weiß ({0})
1998, das dem Armuts- und Reichtumsbericht zugrunde
liegt, schön ausgedacht. Sie wollen mit dem Finger auf
CDU/CSU und F.D.P. zeigen. Aber auch für Sie gilt das
Sprichwort: Wer mit dem Zeigefinger auf jemanden zeigt,
auf den zeigen drei Finger zurück. - So ist es leider.
({1})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5990 und 14/6171 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zusatzpunkt 9 auf:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Andreas Schockenhoff, Karl Lamers, Christian
Schmidt ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Die deutsch-französischen Beziehungen neu begründen
- Drucksache 14/5959 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ernst Burgbacher, Ina
Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Die deutsch-französischen Beziehungen mit Leben erfüllen
- Drucksache 14/6167 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Es ist vorgeschlagen worden, die Reden dazu zu Pro-
tokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kol-
legen Gernot Erler und Monika Griefahn von der SPD,
Dr. Andreas Schockenhoff von der CDU/CSU, Ernst
Burgbacher von der F.D.P., Wolfgang Gehrcke von der
PDS und um die Rede des Bundesministers Joschka
Fischer.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann verfahren wir so.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5959 und 14/6167 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes
- Drucksache 14/6141 Überweisungsvorschläge:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Auch zu diesem Punkt wird vorgeschlagen, die Reden
zu Protokoll zu nehmen, und zwar handelt es sich um die
Reden der Kollegen Lydia Westrich und Heidi Wright von
der SPD, Norbert Schindler von der CDU/CSU, Ulrike
Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen, Marita Sehn von
der F.D.P. und Kersten Naumann von der PDS.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes
auf Drucksache 14/6141 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie mitberatend und gemäß § 96 der
Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatzpunkte 10 und 11 auf:
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Leo Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Fairer Wettbewerb bei Basel II
- Drucksache 14/6049 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Rainer Funke, Dr. Hermann Otto Solms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Basel II - Belange des Mittelstands wahren
- Drucksache 14/6172 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen von SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P.
und PDS
Fairer Wettbewerb bei Basel II - Neufassung
der Basler Eigenkapitalvereinbarung und
Überarbeitung der Eigenkapitalvorschriften
für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen
- Drucksache 14/6196 Peter Weiß ({6})
1) Anlage 4 2) Anlage 5
Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu
nehmen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Es handelt sich um die Reden der Kollegen Klaus
Lennartz von der SPD, Leo Dautzenberg von der
CDU/CSU, Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grü-
nen, Rainer Funke von der F.D.P., Dr. Barbara Höll von
der PDS und Dr. Barbara Hendricks für die Bundes-
regierung.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/6049 und 14/6172 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü-
nen, F.D.P. und PDS mit dem Titel „Fairer Wettbewerb bei
Basel II - Neufassung der Basler Eigenkapitalvereinba-
rung und Überarbeitung der Eigenkapitalvorschriften für
Kreditinstitute und Wertpapierfirmen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Dann ist der Antrag auf Drucksache 14/6196 einstimmig
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({7}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring „Risikoabschätzung und
Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen“
- Drucksache 14/5492 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({8})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({9}) zu
dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring „Nachwachsende Rohstoffe“ -
Einsatz nachwachsender Rohstoffe im Baube-
reich
- Drucksachen 14/2949, 14/5574 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll
zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Heino
Wiese und René Röspel von der SPD, Peter Bleser von der
CDU/CSU, Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen,
Ulrike Flach von der F.D.P. und Kersten Naumann von der
PDS.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5492 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/5574. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Bericht des Ausschusses
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung zu dem Thema „Monitoring ‚Nachwachsende Rohstoffe‘“ auf Drucksache
14/2949 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung bei Enthaltung der PDS angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme von zwei Entschließungen. Wer
stimmt für die Entschließung unter Nr. 2 Buchstabe a der
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5574? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der
PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 2 Buchstabe b der Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen von CDU/CSU und F.D.P. sowie Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 16:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des
Energiewirtschaftsrechts
- Drucksache 14/5969 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auch bei diesem Punkt ist vorgesehen, die Reden zu
Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden?
- Das ist der Fall. Es handelt sich um die Reden der Kol-
legen Volker Jung von der SPD, Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU, Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die
Grünen, Walter Hirche von der F.D.P., Eva Bulling-
Schröter von der PDS und des Parlamentarischen Staats-
sekretärs Siegmar Mosdorf.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/5969 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 6
2) Anlage 7
3) Anlage 8
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Norbert Barthle, Friedrich Bohl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Errichtung eines Fonds zur Unterstützung der
Doping-Opfer der DDR
- Drucksache 14/5674 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Auf kaum einem gesellschaftlichen Gebiet ist die Zusammenführung der beiden
deutschen Staaten so schnell und reibungslos gelungen
wie im Sport. Dies ist parteipolitisch, glaube ich, übergreifend unbestritten.
Von dieser Zusammenführung haben die alten und die
neuen Länder, hat der deutsche Sport in seiner Gesamtheit
Gewinn gezogen. Sportstättenbau und Sportinfrastruktur
in den neuen Ländern haben in den vergangenen Jahren
erhebliche Fortschritte gemacht. Rund 2,5 Milliarden DM
aus dem Investitionsfördergesetz sind seit 1995 in den
Sportstättenbau der neuen Länder geflossen. Auch der so
genannte Goldene Plan Ost wird, wenn auch in bescheidenerem Maße als angekündigt, zu einer weiteren Verbesserung führen.
Die alten Länder haben in der sportpolitischen Leistungsbilanz in nicht unerheblichem Maße von den Spitzenleistungen der ehemaligen DDR-Spitzensportlerinnen
und -Spitzensportler profitiert.
({0})
Noch zehn Jahre nach der Wende bessern die Sportler
der ehemaligen DDR die deutsche Bilanz bei Welt- und
Europameisterschaften sowie Olympischen Spielen auf.
Ohne deren Spitzenleistungen würde die Bilanzierung des
deutschen Spitzensports im internationalen Vergleich sehr
viel schlechter ausfallen. Noch zehn Jahre nach der
Wende profitieren wir von den Jugend- und Kaderschulen
der ehemaligen DDR.
Diese Nachfolge des DDR-Sportsystems haben wir
gerne angetreten. Wir schmücken uns mit den herausragenden Leistungen. Wir stehen gerne neben den Erfolgreichen des ehemaligen DDR-Systems. Wir verleihen ihnen das Silberne Lorbeerblatt. Die Medien widmen diesen
Spitzensportlern umfassende Aufmerksamkeit und die
Sponsoren zeigen sich großzügig. Dies ist im Grunde
nicht zu kritisieren.
Doch, meine Damen und Herren, diese herausragenden
Leistungen von Topsportlern der ehemaligen DDR haben
einen langen Schatten. Er heißt Doping, systematisch angewendet an vielen jungen Athleten, oft gegen deren Willen, meist ohne deren Wissen. Für diese Athleten gab es
keine Hinweise auf zu erwartende psychische und physische Schäden, gab es keine Warnung vor Langzeitschäden. Sie haben sich einem System von staatlichen Funktionären und Trainern anvertraut, deren Maxime die
Leistung zum Wohle des Staates war. Wir wissen von diesen dunklen Kapiteln des DDR-Sports aus zahlreichen
wissenschaftlichen Veröffentlichungen, aus Geständnissen von Trainern und Funktionären und aus Berichten von
Sportlern.
Es ist an Zynismus kaum zu überbieten, wenn Ärzte
vor Gericht erklären, es sei für sie selbstverständlich gewesen, junge Sportler bei ihrem Streben nach Höchstleistungen mit Dopingmitteln zu unterstützen; gesundheitliche Schäden seien zu erwarten gewesen. Dies zeigt die
Gewissenlosigkeit, mit der mit jungen Menschen und Doping umgegangen wurde.
An jungen Sportlerinnen und Sportlern wurden Medikamente erprobt. Gesundheitliche Risiken wurden von
Funktionären, Trainern und Betreuern bewusst in Kauf
genommen. Die Athleten waren in der Regel ahnungslos.
Wir wissen heute durch gerichtliche Verfahren mehr
über diese verwerflichen Methoden und Machenschaften.
Wir sollten uns deshalb zu beiden Seiten der Medaille des
Leistungssports der ehemaligen DDR bekennen, zu den
Siegern und zu den Opfern.
({1})
Beide sind Ergebnisse eines staatlich verordneten Leistungsgedankens mit dem Ziel, durch sportliche Höchstleistungen die Leistungsfähigkeit des sozialistischen Systems unter Beweis zu stellen. Beide sind Ergebnisse eines
Systems, in dem nicht der Mensch, sondern der Erfolg
entscheidend war. Der Mensch war lediglich Mittel zum
Zweck.
({2})
Junge, hochtalentierte Sportler haben sich guten Glaubens einem System anvertraut, das vorgab, ihre Talente
fördern zu wollen. In Wirklichkeit wurden sie benutzt.
13-, 14-, 15-Jährige wurden mit leistungsfördernden Mitteln vollgepumpt, ohne über die Folgen aufgeklärt zu sein.
Die Verlierer des Systems sind die Opfer, von der Öffentlichkeit verdrängt. Sie müssen selber sehen, wie sie
mit den Folgen fertig werden. Sie haben Höchstleistungen
erreicht oder erreichen wollen. Sie müssen heute feststellen, dass sie an einem System gescheitert sind, in dem
die Leistung und der Erfolg um jeden Preis alles, die Gesundheit wenig war.
In unserem Antrag geht es um diese Opfer eines manipulierten Leistungssports. Die Schädigungen sind vielfältig: von der Akne über Regelstörungen, Schwangerschaftsstörungen, Skelettverformungen, Unfruchtbarkeit
bis hin zum Brustkrebs. Von den Schädigungen ist zum
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Teil auch die Nachfolgegeneration betroffen. Es geht
nicht in erster Linie um Recht oder Unrecht. Es geht nicht
darum, dem Bund eine Last aufzubürden, die er nicht
schultern muss oder kann. Es geht in diesem Antrag nicht
darum, Schadenersatzansprüche zu befriedigen oder Voraussetzungen für eine Welle von Schadenersatzansprüchen auszulösen.
Es gilt, ein Zeichen zu setzen und sich auch zu den Opfern des Systems zu bekennen.
({3})
Es gilt, Leid zu lindern, Mittel für einen Fonds bereitzustellen, um gesundheitliche Vorsorge leisten zu können,
um breit angelegte diagnostische Untersuchungen zu ermöglichen, um Nebenwirkungen zu erforschen und damit
die Kinder der Nachfolgegeneration vor nachhaltigen
Schädigungen zu bewahren. Es geht darum, diesen geschädigten Sportlern Hilfen für einen beruflichen Einstieg
und zur beruflichen Qualifizierung zu gewähren. Sie haben damals schulische und berufliche Bildung zurückgestellt, um sportliche Höchstleistungen zu erbringen.
Wir leisten schnell und unbürokratisch Hilfe für in Not
geratene Menschen in fernen Ländern. Das ist gut und
richtig. Wir haben aber die gleiche Verpflichtung gegenüber den Menschen im eigenen Lande, die Opfer eines
Systems geworden sind. Hier ist eine kleine private Initiative überfordert.
Einige Dopingopfer haben in einer Petition an den
Deutschen Bundestag die „halbherzige Aufarbeitung des
Dopings im DDR-Leistungssport“ beklagt. Sie haben angemahnt, Doping nicht auf die Art und Weise zu verharmlosen, dass man die Folgewirkungen einfach nicht
zur Kenntnis nimmt. Es war Zeit, dass diese Sportlerinnen
und Sportler ihr Schweigen gebrochen haben.
Wir dürfen die Dopingopfer ihrem Schicksal nicht allein überlassen. Es ist nicht richtig, die Sieger eines Systems öffentlich auszuzeichnen, die Schicksale der Opfer
aber einfach wegzudrängen. Das ist moralisch nicht vertretbar.
Der Bund sollte durch Errichtung eines Fonds die Initiativen des gemeinnützigen Doping-Opfer-Hilfe-Vereins
unterstützen. Wir versprechen uns von der Einrichtung eines Fonds eine Signalwirkung für Spenden seitens der
Pharmaindustrie, der restlichen Wirtschaft und für weitere
private Spenden. Sie alle werden sich der moralischen
Verpflichtung stellen müssen und einen angemessenen
Beitrag für die Dopingopfer leisten. Eine Signalwirkung
hat dies aber auch für den Sport: Die Präsidenten des
Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen
Komitees haben öffentlich ihre Bereitschaft dazu erklärt.
Lassen Sie uns in den Beratungen in den Ausschüssen
eine einvernehmliche Lösung für einen solchen Fonds anstreben!
({4})
Ich bedauere aus meiner heutigen Kenntnis und Sicht,
dass die frühere Bundesregierung und auch meine Fraktion nicht schon früher die Initiative ergriffen haben.
({5})
Es ist allerdings nicht zu spät. Wir sollten gemeinsam für
die Dopingopfer des Sports der ehemaligen DDR eintreten.
({6})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Götz-Peter Lohmann von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Werte Gäste! Ich wollte eigentlich ausdrücklich auch Vertreter des Doping-Opfer-Hilfe e. V. und möglicherweise auch Betroffene begrüßen. Sollten Vertreter
anwesend sein - ich bin mir da nicht ganz sicher -, möchte
ich das hiermit ausdrücklich tun.
({0})
In seinem Geleitwort zu dem Buch „Anklage: Kinderdoping - Das Erbe des DDR-Sports“ stellt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse fest - ich zitiere -:
Irgendwie geahnt haben es viele: Die Erfolge der
DDR im internationalen Sport waren auch bedingt
durch den massiven regelwidrigen Einsatz gesundheitsgefährdender Dopingmittel.
Er schrieb, die DDR habe den Sport für Zwecke der
Außenpolitik und der Außendarstellung missbraucht.
- Das ist unbestreitbar. - Diese Zwecke seien den Verantwortlichen wichtiger als das konkrete Leben und die konkrete Gesundheit der Sportlerinnen und Sportler gewesen.
Als jemand, der - zugegeben - eine relativ kurze Zeit
den DDR-Sport bzw. -Leistungssport kennen gelernt hat,
kann und muss ich mich diesen Feststellungen anschließen, möchte aber heute in diesem Hohen Hause die Gelegenheit nutzen, einmal in einem Satz erwähnen zu dürfen,
dass es auch unter den Trainern und den Sportmedizinern
der damaligen DDR - zugegeben, es war eine klare Minderheit - solche gegeben hat, die sich aus moralischer
Überzeugung geweigert haben - einmal muss ich das sagen dürfen -, bei diesem Spiel mitzumachen. Denn sie
konnten es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass
zum Beispiel Kindern ohne ihr Wissen Dopingsubstanzen
zugeführt wurden, damit sie die geforderten Zeiten, Weiten und Höhen erzielen konnten. Wer sich dazu durchringen konnte bzw. durchgerungen hat, für den gab es Probleme; das weiß ich sehr wohl. Ich betone noch einmal:
Es war eine Minderheit. Aber es gehört auch zur Ehrlichkeit und zur Fairness, das einmal festzustellen.
({1})
Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung - ich habe
das erwähnt - spreche ich heute zu dem vorliegenden Antrag. Dabei muss ich auf verschiedene Aspekte eingehen,
und zwar sowohl auf inhaltliche als auch auf Verfahrensfragen.
Zunächst zu den rechtlichen Aspekten - Kollege
Riegert ist kurz darauf eingegangen -: Sie schreiben im
Feststellungsteil des Antrages:
Die Bundesregierung mag die Auffassung vertreten,
dass gegen die Bundesrepublik Deutschland kein
Anspruch als Rechtsnachfolger bestehe.
Da setzt meine Kritik an: Herr Kollege Riegert, Sie erwecken damit den Eindruck, als vertrete die heutige Bundesregierung eine Auffassung, die man nicht unbedingt
teilen müsse. Vor dem Hintergrund der Ihnen bekannten
Rechtsprechung des Landgerichtes und des Oberlandesgerichtes Dresden zur Klage des ehemaligen Gewichthebers Roland Schmidt darf ich daran erinnern, dass es der
damalige Bundesgesundheitsminister Herr Seehofer war,
der als Vertreter der Beklagten die Auffassung vertrat,
dass die Bundesrepublik Deutschland für diesen staatshaftungsrechtlichen Anspruch, der zu Zeiten der DDR
entstanden ist, nicht einzustehen habe. Er hat die Ansicht
vertreten, dass das Rechtsinstitut der Funktionsnachfolge
nicht zur Anwendung komme, und zudem den gesamten
Hergang der Medikamentenabgabe bestritten bzw. sich
auf Nichtwissen berufen. Schließlich hat er auch die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Oberlandesgericht hat sich der Auffassung der damaligen Bundesregierung zur Funktionsnachfolge angeschlossen. Da der Kläger den Antrag auf Revision bekanntlich zurückgenommen hat, ist das Urteil des
Oberlandesgerichtes Dresden vom 29. Februar 1996
rechtskräftig geworden. Man mag das beklagen, aber es
ist die Rechtslage und nicht nur die Auffassung der Bundesregierung. Ich denke, Herr Kollege Riegert, darauf
hätte in Ihrem Antrag zumindest eingegangen werden
können, wenn nicht gar müssen, aber - da stimmt die
SPD-Bundestagsfraktion Ihrer Aussage ausdrücklich zu moralische Kategorien überwiegen in diesem Falle rechtliche Normen.
({2})
Allerdings gilt dies nicht erst seit dem 27. März 2001,
als Sie Ihren Antrag stellten. Dies galt bereits unmittelbar
nach Rechtskraft des Urteils, also zu einer Zeit, als Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, Regierungsverantwortung trugen und Sie, Herr Kollege
Riegert, sportpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion waren;
aber Sie haben ja darauf hingewiesen.
Über die Notwendigkeit, den DDR-Dopingopfern finanziell zu helfen, bestand auch - ich möchte daran erinnern - in der Sportausschusssitzung am 25. Oktober letzten Jahres kein Dissens. Die sportpolitische Sprecherin
der SPD-Bundestagsfraktion, Dagmar Freitag, hat - wie
vereinbart - alle Mitglieder unserer Fraktion gebeten, sich
bei den Gerichten in ihren Wahlkreisen dafür einzusetzen,
dass Strafgelder dem Doping-Opfer-Hilfe-Verein überwiesen werden. Bedauerlicherweise ist nur ein geringer
Betrag überwiesen worden. Ferner hatte die Vertreterin
der Bundesregierung, Frau Staatssekretärin Zypries, zugesagt, Spenden für den Verein einzuwerben.
Der Verein war gebeten worden, eine Dokumentation
in eigener Sache zu erstellen. Mir ist bekannt, dass es
mehrere Monate dauerte, bis diese Information vorlag.
Die SPD-Fraktion bekennt sich heute erneut zu dieser
moralischen Verpflichtung - ich betone das. Es muss ein
deutliches Zeichen gesetzt werden, dass man angesichts
der gesundheitlichen Schäden durch das staatlich verordnete Doping in der ehemaligen DDR nicht zur Tagesordnung übergeht.
Jedoch - damit komme ich zu einem weiteren Aspekt sind die medizinischen Fragen nach unserer Auffassung
noch nicht hinreichend geklärt. Dopinganalytiker und Endokrinologen bestätigen übereinstimmend, dass in jedem
Einzelfall geprüft werden müsste, ob die gesundheitlichen
Schäden tatsächlich in der Gabe von Dopingsubstanzen
ihre Ursache haben. Wenn wir nicht wollen, dass die Gelder, die für Dopingopfer bereitgestellt werden, überwiegend für medizinische Gutachten ausgegeben werden,
dann müssen wir im Interesse einer praktikablen Regelung zu nachvollziehbaren Kriterien kommen, wer Entschädigungsleistungen erhält und wer nicht. Ich bin auch
für eine Differenzierung. Wo die Substanzen Kindern und
Jugendlichen ohne deren Wissen verabreicht wurden
- darüber besteht, denke ich, Konsens -, muss es eine Entschädigung geben.
Mir ist aber auch bekannt, dass es eine ganze Reihe von
erwachsenen Athleten gab, die wissentlich und das Risiko
in Kauf nehmend entsprechende Mittel zu sich genommen haben. Ich denke, da ist eine Differenzierung angebracht.
Aber wir können und werden darüber diskutieren und
uns von Fachleuten beraten lassen. Deshalb plädieren wir
für eine solche Untersuchung.
Darüber hinaus stellt sich für die SPD-Fraktion die
Frage - die ich schon angedeutet habe - dass es Sportlerinnen und Sportler gab, die Kenntnis vom Einsatz von
Dopingmitteln hatten und ihn billigend in Kauf genommen haben. Die Versuchung war groß. Ich will das nicht
billigen, im Gegenteil, aber es gab ja im Anschluss, wenn
die Erfolge kamen, eine ganze Reihe von staatlichen Vergünstigungen. Da gab es multiple Varianten; ich möchte
nicht näher darauf eingehen. An dieser Stelle, Herr
Riegert, stimmen wir also mit Ihrem Antrag nicht überein.
Nun zu einem weiteren, nicht unwesentlichen Aspekt,
nämlich der finanziellen Seite Ihres Antrags. Wie den
Pressemeldungen zu entnehmen war, haben Sie im Antrag
bewusst keine konkrete finanzielle Forderung erhoben.
Dies wäre angesichts Ihrer von mir auch sonst registrierten besonderen Gabe, mit finanziellen Forderungen in Sachen Sport insbesondere seit Herbst 1998 nicht gerade
kleinlich zu sein, ein bemerkenswerter Fortschritt,
({3})
wenn Sie nicht nachweislich der „Netzeitung“ Ende
März - meines Wissens ist das auch belegbar - ein Interview gegeben und dabei den finanziellen Umfang der Entschädigungszahlungen auf 10, 20 oder gar 30 Millionen DM über mehrere Jahre beziffert hätten. Mit diesen
Zahlen tun Sie niemandem einen Gefallen,
({4})
vor allem nicht den Betroffenen, bei denen Sie Erwartungen wecken, die möglicherweise nicht befriedigt werden
Götz-Peter Lohmann ({5})
können. Dann haben Sie aber auch noch kühn behauptet,
diese Zahlen kämen nicht aus der CDU/CSU-Fraktion,
sondern die hätte die SPD ins Spiel gebracht. Das ist gewissermaßen schon ein starkes Stück und hat nach meinem Dafürhalten mit fairer Oppositionsarbeit nichts zu
tun. Ich bin immer davon ausgegangen, dass gerade wir
Sportpolitiker und noch aktive Sportler relativ fair miteinander umgehen.
Wir alle erinnern uns an die Sportausschusssitzung am
25. Oktober, als der Vorsitzende des Doping-Opfer-HilfeVereins, Dr. Klaus Zöllig, vortrug. Da war von deutlich
geringeren Beträgen die Rede.
Die SPD-Fraktion will sich nicht auf einen konkreten
Betrag festlegen. Wir alle wissen: Es kommt zu einer
Überweisung in die entsprechenden Ausschüsse, auch in
den Sportausschuss. Ich denke, wir werden im Sportausschuss Gelegenheit haben, uns noch einmal intensiv mit
dieser Problematik zu befassen. Dann wird auch darüber
zu sprechen sein, ob - wie in Ihrem Antrag vorgesehen ausschließlich die Bundesregierung gefordert ist, sicherzustellen, dass DDR-Dopingopfern geholfen werden
kann.
Wir sehen es so, dass sich der organisierte Sport und
auch die Pharmaindustrie dieser moralischen Verpflichtung stellen müssen. Es gibt Gott sei Dank Hinweise, wonach mit einer finanziellen Beteiligung zu rechnen ist, sodass das realisiert werden könnte.
Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag der CDU/CSUFraktion in der vorliegenden Fassung ab. Wir lehnen ihn
nicht ab, weil wir gegen die Entschädigung von DDR-Dopingopfern sind, sondern weil der Antrag mehrere Passagen enthält, die nach unserer Ansicht nicht akzeptabel
sind.
Erstens. Nicht nur die Bundesregierung hat sicherzustellen, dass DDR-Dopingopfern geholfen werden kann,
auch der organisierte Sport und die Pharmaindustrie sind
nach unserer Auffassung in der Pflicht.
Zweitens. Wesentliche Fragen, vor allem die medizinischen, sind noch nicht geklärt. Ohne wissenschaftliche
Untersuchungskriterien wird ein praktikables Verfahren
nicht möglich sein.
Die SPD-Fraktion erklärt ausdrücklich ihre Bereitschaft, in einen konstruktiven Dialog mit allen Beteiligten
einzutreten bzw. den begonnenen Dialog fortzusetzen.
Dies kann bereits in einer der nächsten Sportausschusssitzungen der Fall sein. Wir widersprechen allerdings allen
leichtfertig geäußerten und utopischen finanziellen Forderungen.
Ich möchte nicht vergessen, zum Abschluss eines zu
sagen, weil wir trotz der fortgeschrittenen Zeit immer
noch Gäste haben: Nach Ablauf von elf Jahren seit dem
Untergang der DDR und angesichts der Möglichkeiten, in
rund acht Jahren der Regierungsverantwortung das Problem zu lösen, wird ein derartiger Antrag - man könnte
ihn vielleicht auch als populistischen Antrag bezeichnen,
aber ich gehe davon aus, dass wir alle es in der Sache ehrlich meinen - der Bedeutung der Angelegenheit nicht gerecht. Auch deshalb lehnen wir den Antrag in dieser Fassung ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit, die Sie mir
trotz der fortgeschrittenen Zeit gewidmet haben.
({6})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Klaus
Kinkel von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Heuchelei um Mitternacht“
schreibt heute der „Tagesspiegel“. Mitternacht ist es nicht
ganz geworden, aber dieses Thema hätte in der Tat eine etwas günstigere Stunde zur Behandlung verdient. Dafür ist
es zu wichtig.
Ich habe im Übrigen auch nicht die geringsten Probleme damit, zu sagen, dass wir uns um dieses Thema hätten früher kümmern müssen, auch in der alten Regierung.
Da stimme ich Ihnen, Herr Riegert, ausdrücklich zu.
Das, was da in der früheren DDR geschehen ist, ist eine
schlimme Hinterlassenschaft. Das systematische Doping,
das Staatsdoping, ist inzwischen sportmedizinisch-wissenschaftlich einigermaßen aufgearbeitet. Aufgearbeitet
ist seit den Prozessen im letzten Jahr und seit der Verjährung auch die Frage der Strafbarkeit der Verantwortlichen. Es ist fast nichts, wenn ich richtig unterrichtet bin,
in Richtung Unterstützung geschehen.
Deshalb erwarten die Betroffenen, dass ihre zum Teil
schlimmen physischen und psychischen Schäden in irgendeiner Form anerkannt werden und dass man darüber
befindet, was getan werden kann. Etliche leiden unter
chronischen Krankheiten. Ich verstehe auch, dass sich einige der Betroffenen gesellschaftlich isoliert fühlen; auch
ist es beruflich um viele Betroffene nicht gut bestellt. Das
ist nicht gut. Die gesundheitlichen Spätfolgen scheinen
sich zudem in vielen Fällen erst in der nächsten Generation zu zeigen und sind dann auch noch schwer nachweisbar.
Die rechtliche Situation ist durch die Entscheidung
des Dresdener Oberlandesgerichts geprägt, die besagt:
Keine Haftung des Staates. - Als ehemaliger Justizminister und langjähriger Staatssekretär im Justizministerium
muss ich sagen, dass ich darüber auch etwas unzufrieden
bin. Ich kenne mich in der Problematik der Rechtsnachfolge einigermaßen aus, aber ich habe meine Zweifel daran, ob dies alles so sein musste.
({0})
Man kann den betroffenen Menschen schließlich nicht
vorwerfen, sie hätten das alles sozusagen selbst verschuldet. Für junge, talentierte Sportler war es wohl schwer,
sich in dem Unrechtsstaat dem Dopingsystem zu entziehen. Die Abhängigkeit war einfach zu groß. Deshalb glauben wir, dass in der Tat ein Fonds gegründet werden
sollte. Darüber haben wir uns bereits unterhalten und
sind uns wohl auch einigermaßen einig. Dieser Fonds
müsste aus staatlichen Mitteln gespeist werden; es müssten
Götz-Peter Lohmann ({1})
Mittel aus der Wirtschaft hinzukommen - ich kann mir
auch vorstellen, dass dies möglich sein wird - und die
Sportverbände sollten sich ebenfalls an diesem Fonds beteiligen. Wir können die Betroffenen nicht im Regen stehen lassen.
({2})
Die Opfer kämpfen seit relativ langer Zeit gegen die
Mühlen der Bürokratie und gegen die Nichtbeachtung in
Politik und Gesellschaft, zum Teil auch gegen offene Anfeindungen. Für viele war es wohl auch sehr schwer, aus
der Reserve zu kommen und dies mit einem persönlichen
Outing zu verbinden, das zum Teil bis in die intimsten Privatbereiche hineinging. Deswegen meine ich, dass die
Betroffenen es verdienen, endlich Gehör zu finden und
eine Antwort sowie finanzielle Unterstützung zu bekommen.
({3})
Ich habe versucht, mich über die Zahlen zu informieren, die infrage stehen. Wenn ich das richtig verstanden
habe - aber ich bitte darum, das nicht als absolut verbindlich zu nehmen -, handelt es sich höchstens um 100, 200
oder 300 Betroffene. Angesichts einer solchen Dimension
kann das Vorhaben wohl kaum scheitern. Es geht schließlich um Einzelschicksale. Das kostet zwar etwas Geld,
aber entscheidend ist, dass wir den guten Willen haben, zu
helfen.
({4})
Ich meine, dass es auch der großen Sportnation
Deutschland, die wir sein und bleiben wollen, nicht
schlecht anstünde, wenn wir dies täten, auch im Hinblick
darauf - das ist ebenfalls vorhin bereits erwähnt worden -,
dass wir nicht unwesentlich vom Sporterbe der DDR profitiert haben.
Das Fazit ist also: Nach unserem Vorschlag sollen
- wie im Sportausschuss angedeutet und besprochen Wirtschaft, Staat und die Verbände in einen Fonds einzahlen und dann sollte ein vernünftiges System der Auszahlung und Abfindung gefunden werden.
Danke schön.
({5})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Winfried Hermann von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem sicherlich schwierigen und aus
meiner Sicht auch widerlichen Kapitel der deutschen
Sportgeschichte. Am liebsten würde man es - so geht es
mir jedenfalls - ad acta legen, wenn es da nicht die Opfer
gäbe, die noch lange an diesem Missbrauch leiden werden.
Ich glaube, wir können uns das nicht mehr leisten.
Meiner Meinung nach ist das Positive und Angenehme
der heutigen Debatte, dass die Redner aller Fraktionen
deutlich gemacht haben, dass wir das nicht mehr verdrängen wollen, sondern wir uns dieser Verantwortung stellen
wollen, obwohl wir nicht diejenigen sind, die die eigentliche Verantwortung tragen. Es hat mir gefallen, dass alle
gesagt haben: Wir wollen nicht nur das Gute des Erbes
übernehmen. Das haben wir gerne getan. Bei einem Erbe
ist es aber nicht möglich, den schlechten Teil auszuschlagen. Auch die Erblasten gehören dazu. Damit setzen wir
uns auseinander.
Ich habe im Sportausschuss deutlich gemacht, dass wir
uns, unabhängig von der schwierigen rechtlichen Lage
und den schwierigen Fragen von Schuld und Verantwortung, unserer Verantwortung stellen müssen. Aus meiner
Sicht gibt es Täter, Mitwisser, Halbwissende und Menschen, die nichts wissen wollten. Es gibt tatsächlich auch
Nichtwissende, Ahnungslose, Opfer. In dieser Unterschiedlichkeit müssen wir die Problematik angehen.
Das komplexe System des DDR-Dopings ist nicht ganz
leicht zu erfassen. Man muss aufpassen, dass man nicht
das Bild vermittelt, als sei der DDR-Sport eine einzige Geschichte des Dopings oder als seien alle Sportlerinnen und
Sportler der DDR nur leistungs- und wirtschaftsgeil und
deswegen verführbar gewesen. Es gab viele Menschen, die
aus Liebe zum und Freude am Sport und in gutem Glauben - übrigens nicht alle mit Doping - Sport getrieben haben. Ines Geipel, die meines Wissens heute hier ist, hat es
unlängst ausgedrückt. Die Spitzensportlerin sagte: Wir haben es auch aus Liebe an der Bewegung getan.
Manches von dem System wird nur erkennbar, wenn
man in die Stasi-Akten schaut. Vielleicht haben damit einige von uns Probleme, weil es Stasi-Akten sind. Aber die
konspirative Methode ist nur über diese Akten verstehbar,
so widerlich sie sind. Sie sind die einzigen Dokumente,
die offen darlegen, was damals geschehen ist, wie konspirativ gearbeitet wurde, dass manche eingeweiht waren
und andere eben nicht.
Trotz all dieser Differenzierung muss ich aus grüner
Sicht sagen: Es gibt Opfer. Selbst wenn es medizinisch
schwierig ist, nachzuweisen, was tatsächlich dazu geführt
hat, meine ich angesichts der Rechtssituation: Wir können
nicht ignorieren, dass es Geschädigte gibt. Herr Kinkel
und andere haben das Landgericht Dresden angesprochen. Das Gericht hat festgestellt: Wir, die Bundesrepublik, sind nicht verantwortlich und müssen nicht
zahlen. Aber ich finde, wir können diese Position nicht annehmen. Es hat mich gefreut, dass selbstkritisch gesagt
wurde: Wir können dies nicht aussitzen. - Es fällt oft
leicht, in der Opposition Verantwortung einzuklagen,
wenn man sie nicht hat. Jetzt haben Sie sie eingeklagt und
wir nehmen sie an. Damit ist der Weg frei, etwas zu tun.
Der Doping-Opfer-Hilfe-Verein hat schon Großartiges geleistet. Dafür herzlichen Dank und weiterhin viel
Kraft.
({0})
Er hat die Politiker angestoßen, die die Verantwortung
zunächst nicht übernommen haben. Es liegt jetzt an uns,
diesen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, den Betroffenen zu helfen. Allein mit diesem Verein wird es nicht
möglich sein. Wir brauchen - darin stimme ich allen zu,
die dies gesagt haben - einen Fonds. Er muss aus staatlichen Mitteln, aber auch aus Mitteln der Wirtschaft gespeist werden. Man hat zum Teil damals davon profitiert
und ist auch heute noch Teil des Systems. Aber auch
Sportorganisationen müssen sich beteiligen. Das NOK
hat gerne einige Millionen aus dem Vermögen als gutes
Erbe mitgenommen. In dem Fall muss man auch etwas für
den schlechten Teil zahlen, also in den Fonds einzahlen.
Herr Kollege Hermann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beucher?
Ja, bitte schön.
Bitte
schön, Herr Beucher.
Geschätzter Kollege Hermann, folgen Sie meiner Einschätzung, dass die
Politik den Hilferuf zumindest dergestalt aufgegriffen hat,
dass wir im Sportausschuss des Deutschen Bundestages
den Doping-Opfer-Hilfe-Verein angehört haben, und dass
es wichtig ist, dies in dieser Debatte, in der wir das Thema
neu anstoßen, zu erwähnen?
Vielen Dank, Kollege Beucher. Ich kann Ihnen voll und
ganz zustimmen. Ich freue mich außerordentlich darüber,
dass wir nicht im Duktus der Herrschenden gesagt haben:
Wir geben nichts, wir haben nichts, wir sind nicht verantwortlich. - Vielmehr haben wir gesagt: Wir möchten die
Probleme kennen lernen. Wir möchten sehen: Was sind
die Schwierigkeiten? Wo braucht ihr Hilfe? Das war der
erste Schritt.
Der nächste Schritt ist, dass wir uns jetzt zusammensetzen und überlegen: Wie kann man einen solchen Fonds
aufbauen und speisen? Ich sage aber auch ganz klar: Wir
sollten nicht so tun, als müsse dies der Staat allein regeln,
sondern wir müssen diese Dreierkonstruktion hinbekommen, bei der die Sportvereine und die Wirtschaft mit in
das Boot hinein müssen.
({0})
Dann sehe ich Möglichkeiten. Ich finde, der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion gibt einen guten Anstoß. Wir müssen
allerdings sehen, wie wir das im Detail umsetzen können.
Ich kann Ihnen zum Schluss sagen: Für mich ist die
ganze Geschichte der Dopingopfer der DDR eigentlich
eine Ermahnung, jetzt in der Bundesrepublik Deutschland
rasch ein eigenes Anti-Doping-Gesetz zu erarbeiten, damit wir nicht in wenigen Jahren über die Schäden der
Sportler sprechen müssen, die heute Doping betreiben.
Vielen Dank.
({1})
Da der
Kollege Gustav-Adolf Schur von der PDS-Fraktion seine
Rede zu Protokoll gegeben hat, schließe ich die Ausspra-
che.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5674 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Juni 2001, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.