Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/31/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben täglich, wie die Lebenswissenschaften mit wachsender Geschwindigkeit ihr Wissen und ihr Können sowie die Möglichkeiten erweitern, in die Natur und damit auch in die menschliche Natur einzugreifen. Das ist das Problem, vor dem wir stehen. Auf der einen Seite erfüllt das uns alle mit Hoffnung, dass die Möglichkeiten des Menschen, sein eigenes Schicksal zu bestimmen, die Ohnmacht vor dem Zufall zu bekämpfen und ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, damit erweitert werden. Auf der anderen Seite erfüllt uns alle die Angst, dass damit auch die Eingriffe des Menschen in die menschliche Natur tiefer werden und die Möglichkeiten erweitert werden, auch das, was den Menschen ausmacht, zu verändern, anscheinend zu verbessern oder nach dem Menschenbild des jeweilig Handelnden zu formen und damit den Menschen in seiner Substanz zu verwerfen, zu bewerten, über ihn zu verfügen und ihn zu manipulieren. Dies ist das, was viele Menschen mit Schmerz erfüllt, weil sie die Sorge haben, dass sie selber verworfen werden können, dass insbesondere krankes, behindertes und geschädigtes Leben auf diese Weise einem Maßstab unterworfen wird, der nicht mehr menschengerecht ist. Sind die Menschenwürde und unsere wunderbare Verfassung eine Grenze, mit der wir uns beruhigen können und die uns hilft, mit den neuen Herausforderungen fertig zu werden, sodass wir die segensreichen Wirkungen der Biotechnologien in Anspruch nehmen können und gleichzeitig das, was uns Angst macht und was uns schädigen könnte, mit Aussicht auf Erfolg zurückweisen können? Erst einmal sollten wir festhalten, in welchen Punkten Konsens besteht. Ich denke, in diesem ganzen Hause, bei der Regierung wie beim Parlament, bei allen Kräften des Staates und bei allen Wissenschaftlern herrscht darüber Einigkeit, dass die immer wieder neu gestellte Frage: „Dürfen wir alles tun, was wir tun können?“ mit Nein beantwortet werden muss. ({0}) Ich fürchte aber, dass uns die Antwort auf diese Grundfrage - leider - nicht viel weiterhelfen wird. Denn was dürfen wir tun? Was müssen wir lassen? An dieser Stelle ergibt sich Streit, der zu führen sein wird vor dem Hintergrund unserer eigenen Wertordnungen, indem wir unsere eigenen Wertordnungen erkennen und das, was uns als Person ausmacht, von dem unterscheiden lernen, was wir als allgemein verbindlich für die gesamte Gesellschaft feststellen dürfen. Wir sind das Parlament. Wir haben die Gesetze zu machen. Die Gesetze kennen keine Ausnahmen. Die Gesetze sind allgemeinverbindlich; unsere Wertordnungen sind es nicht. Es ist ein großer Unterschied zwischen dem, was ich in meinem eigenen Leben für richtig halte und woran ich mich halte, und dem, was ich in Allgemeinverbindlichkeit für alle mit der Kraft des Gesetzes gebieten und verbieten kann. Die Ethik des Gesetzgebers verlangt von ihm Zurückhaltung in Wertfragen. Denn wir sind ein Staat der weltanschaulichen Neutralität, in dem Katholiken und Protestanten, Atheisten und Moslems, Juden und alle anderen Religionen, die es auf der Welt gibt und die bei uns vorhanden sind, in Eintracht miteinander leben können müssen. Niemand darf in seinem Gewissen vergewaltigt werden. Die Rechtsethik erwartet von uns, dass wir diese Unterscheidung treffen, dass wir das, was uns als Person ausmacht, kennen lernen und unterscheiden lernen von dem, was die Allgemeinheit von uns erwartet. Die Menschenwürde ist ein Begriff, der sich nicht benutzen lässt wie eine binomische Formel in der Mathematik. Dies hat das Verfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung immer wieder festgestellt. Jede Form von Verdichtung zur Ideologie hat es zurückgewiesen, und es hat es abgelehnt, die Menschenwürde positiv zu beurteilen und zu definieren. Menschenwürde ist immer nur erklärbar und feststellbar anhand der Verletzungen, bei denen es um Schwache, um Geschädigte, um Ohnmächtige geht, die von der Verletzung der Menschenwürde besonders gefährdet werden. Ich meine, daran sollten wir uns halten und daran sollten wir uns erinnern: dass die Menschenwürde nicht ein Gerinnungsprodukt von Ideologie ist und sich schon gar nicht als Knüppel eignet, mit dem man auf den Kopf eines anderen einschlägt, sondern genau der Punkt ist, an dem wir uns im Konsens aufeinander zubewegen müssen; denn Gesetze auf diesem Gebiet entstehen nur im Konsens. ({1}) Präsident Wolfgang Thierse Lassen Sie mich einmal kurz rekapitulieren, was wir als Parlamentarier auf dem Gebiet der Gesetzgebung eigentlich zu entscheiden haben. Wir haben Konsens - darüber wird nicht gestritten -, dass die Möglichkeiten der nachgeburtlichen Genomanalyse insgesamt vom Gesetzgeber neu erörtert und neu eingegrenzt werden müssen. Persönlichkeitsschutz, Datenschutz, das Recht auf Wissen und das Recht vor allem auch auf Nichtwissen, das Recht der Versicherungen, das Recht beim Eingehen eines Arbeitsverhältnisses - dies alles ist unstreitig und hätte eigentlich schon vorgestern erledigt sein können. Ich hoffe, dass das in dieser Legislaturperiode noch klappt, und zwar mit Zustimmung des ganzen Hauses. Sehr viel schwieriger wird es bei der Frage - die wir wahrscheinlich nicht zu erörtern haben, weil wir dazu keine Anträge vorliegen haben und in dieser Legislaturperiode wohl auch nicht bekommen -, inwieweit ein Embryo, der in vitro erzeugt worden ist, als Forschungsobjekt zur Verfügung steht. Ich halte die Entscheidung des Gesetzgebers von vor elf Jahren - ich nehme an, dass ich da auch weitgehende Zustimmung bei Ihnen finde -, die Invitro-Fertilisation der natürlichen Zeugung und Empfängnis nachzubilden, nach wie vor für richtig. Ein Embryo, auch im Glas erzeugt, ist das zukünftige Kind zukünftiger Eltern und sonst nichts. ({2}) Er steht für andere Zwecke nicht zur Verfügung. Weder ist er ein Medikament zur Behandlung irgendeiner Fruchtbarkeitsstörung noch ist der Embryo ein Werkstück, das man unter Mangeleinreden betrachten kann, noch ist er ein Rohstoff für andere Zwecke. ({3}) Diese Grundentscheidung, die der Gesetzgeber getroffen hat, sichert die Menschenwürde sowohl des Paares als auch des Embryos. Wir werden sicherlich in dieser Legislaturperiode und auch in der nächsten keine Anträge zur Veränderung des Embryonenschutzgesetzes bekommen und das ist gut so. Dann gibt es das große Problem der PID, der Präimplantationsdiagnostik. Meine Damen und Herren, ich stehe nicht an zu sagen, Präimplantationsdiagnostik ist nichts Gutes, genauso wenig wie der Schwangerschaftsabbruch. Wir wünschen uns Eltern, wir wünschen uns Paare, die Kinder annehmen, so wie sie sind, und nicht erst prüfen, ob sie für ihre Zwecke taugen. ({4}) Aber ebenso wie beim Schwangerschaftsabbruch reden wir hier nicht darüber, ob Präimplantationsdiagnostik oder Schwangerschaftsabbruch etwas Gutes ist. Wir reden über die Grenzen des Strafrechts. Das Strafrecht ist dazu da, das ethische Minimum zu sichern; es ist die schärfste Waffe des Staates. Hinter jedem Gesetz, hinter jedem Urteil steht das Wort: Ich an deiner Stelle hätte anders gehandelt. - Wer mag das in jedem dieser Fälle sagen? Wir müssen im Hinblick auf die schwer belasteten Paare und die Hochrisikopaare - sie sind ihrerseits Geschlagene - darüber nachdenken, ob wir sie mit dem Knüppel des Strafrechts noch treffen können, ob wir mit dem Strafrecht noch das erreichen können und sollten, was elterliche Hingabe im Grunde genommen so wichtig macht. Die Frage, die sich hier stellt, ist Thema der Bergpredigt: Richten wir hier nicht und müssen dabei in Kauf nehmen, dass wir selbst gerichtet werden? Ich finde, dass wir über das, was Strafrecht ist, nachdenken müssen und nicht über die Frage, ob diese Technologie das Selbstwertgefühl oder die Selbstbestimmung eines Menschen erweitert; das tut sie nicht. Wir müssen hier über die mit Konflikten und Belastungen verbundenen Probleme diskutieren. Es geht dabei nicht um eine flächendeckende Technik zur Erweiterung des gelingenden Lebens. ({5}) Ich möchte Sie bitten - meine Zeit geht zu Ende -, dass wir von einem, was sich im Vorfeld dieser Debatte öfter gezeigt hat, Abstand nehmen: Wenn wir es richtig angehen, dann haben wir es nicht damit zu tun, die Guten und die Bösen voneinander zu trennen und Autodafés zu errichten, auf denen die Ketzer verbrannt werden. Ich bitte um alles in der Welt darum, dass wir davon Abstand nehmen, weil es der Debatte nichts nützt. Wir sollten auch davon Abstand nehmen, Wissenschaft zu dämonisieren. Wissenschaft dient der Gesellschaft nicht nur dadurch, dass sie neue Möglichkeiten des Handelns, des Heilens und des Helfens entwirft, sondern auch dadurch, dass sie Tabus verletzt; sonst gäbe es keine Anatomie, keinen Darwin und keinen Freud. ({6}) Wir müssen uns gefallen lassen, dass uns die Wissenschaft nicht in Ruhe lässt, wenn wir die wohltuende Binde des Nichtwissens vor unseren Augen behalten. Nicht-wissen-Wollen ist das Recht des Einzelnen, aber nicht das der Gesellschaft. ({7}) Herr Präsident, wenn Sie es mir erlauben, dann möchte ich als Letztes Folgendes erzählen, um Ihnen deutlich zu machen, dass auch unsere Söhne und Töchter, unsere Brüder und Schwestern, unsere Väter und Mütter Wissenschaftler sein können: Als ich in Münster studierte, gab es dort einen Anatomieprofessor, der dafür bekannt war, dass er immer mit auf den Friedhof ging, wenn die kümmerlichen Reste der Leichen, die für Präparierkurse der Medizinstudenten dienten - unter den Studenten waren diese Kurse so etwas wie Initiationsriten, oft mit derben Späßen begleitet -, beerdigt wurden. Das war für uns alle und auch für mich als Jurastudentin dahin gehend stilbildend, wie man auch dann, wenn man das Objekt Mensch auf dem Tisch hat, mit dem Menschen, der er ist und der er war, menschenwürdig umgeht. Das war für mich ein Vorbild. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Bio- und Gentechnologie beschreiten wir nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Ethik Neuland. Erstmals ist der Mensch in bisher ungeahnter Weise Gegenstand der Forschung. Erstmals zeichnet es sich ab, dass der Mensch in die Entwicklung des Menschen selbst eingreifen und seinen genetischen Code verändern kann. Es stellt sich die Frage: Inwieweit ist der Mensch noch Geschöpf? Inwieweit wird er zum Produkt? Diese Frage geht tief in das Innerste des Menschseins. Wir müssen uns diesen fundamentalen Fragen stellen und wir ringen um die Antworten. Ich bin froh, dass wir das in diesem Hohen Hause heute tun. Hoffnungen und Ängste, euphorische Begeisterung, aber auch Ratlosigkeit treffen in diesen Diskussionen aufeinander. Wir sind mit überwältigenden Ergebnissen in der Grundlagenforschung konfrontiert; aber wir wissen noch längst nicht, ob die Anwendung damit auch gelingen kann. Das hat sich bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms in besonderer Art und Weise gezeigt. Das Buch des Lebens liegt geöffnet vor uns. Wir können die Buchstaben entziffern; aber wir können deshalb noch längst nicht den Sinn begreifen. Das zeigt: Je weiter wir in diese Geheimnisse des Lebens vordringen, desto schwieriger wird es, sie zu entschlüsseln. Vor uns liegt eine Jahrhundertaufgabe. Wir wissen nicht, ob es Wissenschaftlern je gelingen wird, den Stein der Weisen zu finden. Deshalb sollten wir uns auch in Diskussionen wie dieser in Bescheidenheit üben und - ich benutze jetzt einen Begriff des Bundespräsidenten - das menschliche Maß sehr wohl beachten. Wir brauchen ein entsprechendes Bewusstsein. Wir alle wissen, dass es um die Fragen der Schöpfung und um die Fragen geht, wer wir sind und wie wir leben wollen. Wenn die Schallmauer einmal durchbrochen ist, dann sind Entscheidungen nicht mehr rückholbar. Mir hat John Geerhart, einer der bekanntesten Stammzellenforscher in den USA, eine Mahnung mit auf den Weg gegeben. Er sagte zu mir: „Be patient!“ Er hat uns als Politikerinnen und Politiker ins Stammbuch geschrieben, Geduld zu haben, Geduld zu haben auch deshalb, weil sich der letzte Stand der Forschung schon morgen möglicherweise in einem ganz anderen Licht darstellt. Die Forschungsentwicklungen sind im Falle der Bio- und Gentechnologie rasant. Zugleich werden wir mit neuen ethischen Dimensionen konfrontiert. Wir müssen aber auch vonseiten der Politik die Wissenschaft auffordern, Geduld mit uns hinsichtlich der zu treffenden Entscheidungen zu haben; denn wir haben ein Recht auf Nachdenklichkeit, wenn es um solche zentralen Fragen des Menschseins geht. Wir brauchen eine breite Debatte in der Öffentlichkeit: über die Leitbilder von Menschenwürde, über die universelle Gleichheit aller Menschen, über das Verhältnis von Mensch und Natur, von Gesundheit und Lebensstilen sowie von unerlaubten Eingriffstiefen und gebotenen Grenzziehungen. All das steht zur Diskussion. Die Fragen müssen erörtert werden. Aber die Entscheidungsfindung gehört in den Deutschen Bundestag. ({0}) Die Politik darf und kann Themen von einer derartigen Tragweite nicht einfach an Wissenschaftler und Gremien delegieren. Die Politik und auch wir selbst müssen in diesen schwierigen Fragen Position beziehen. Wir müssen uns auch die Zeit lassen, um diese Fragen - seien es die grundsätzlichen, seien es Einzelfragen - zu beantworten. Wir haben im Deutschen Bundestag die EnquêteKommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ eingesetzt. Wir können nicht anderen Gremien die Entscheidungen überlassen oder sie durch andere Gremien möglicherweise sogar vorwegnehmen lassen. Diese Aufgabe müssen wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier verantwortungsvoll wahrnehmen. ({1}) Wer Neuland betritt, der braucht einen Kompass. Der Kompass liegt in dem, was ethisch verantwortbar ist. Er liegt in der Unverfügbarkeit des Menschen, im Schutz des Lebens von Anbeginn und in der Wahrung der Menschenwürde. Dazu können wir uns auf entsprechende rechtliche Grundlagen stützen. Wann beginnt das zu schützende menschliche Leben? Diese Frage stand in den letzten Wochen und Monaten immer wieder in der Diskussion. Ich meine, es gibt eine klare Antwort. Ich hoffe auf eine große Übereinstimmung in dieser Frage. Es ist die Grundfrage, von der alles Weitere ausgeht. Zu schützendes Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle; denn von Anbeginn ist das volle Potenzial, also das volle genetische Programm des Menschen, vorhanden. Der Embryo ist menschliches Leben und nichts anderes. Es gilt, dieses menschliche Leben zu schützen und seine menschliche Würde zu wahren. ({2}) Wer anderes denkt, muss auch bedenken, was er aufgibt. Wer glaubt, dass das volle Lebensrecht erst danach anfange und dass es hinsichtlich der Menschenwürde Abstufungen gäbe, der muss überlegen, was es bedeutet, wenn man heute den 12., morgen den 14. und übermorgen den 16. Tag als Grenze nimmt. An diesem Beispiel wird deutlich, welche Willkür diesen Entscheidungen anhaftet. Solche Entscheidungen sind nicht tragfähig. Wir müssen klar sagen, dass es sich von Anfang an, also ab der Verschmelzung, um menschliches Leben handelt. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, diesen Schutz des Lebens von Anfang an zu gewährleisten. Ich will noch ein Wort zu den Konsequenzen sagen, die sich daraus ergeben. Zwei Fragen treiben uns nämlich in ganz besonderem Maße in der aktuellen Diskussion um: Die eine Frage berührt die Fortpflanzungsmedizin und die andere die Embryonenforschung. Bei der Fortpflanzungsmedizin sind viele von der Frage bewegt: Ermöglicht es die Präimplantationsdiagnostik eventuell Eltern, die sich brennend ein Kind wünschen, ein gesundes Kind zu bekommen, auch wenn sie genetische Dispositionen haben, die dagegen sprechen? Auf der einen Seite müssen wir diese Sorge sehr ernst nehmen. Auf der anderen Seite liegt aber in der Waagschale das Leben als solches. Überlegen wir uns einmal, was es konkret bedeutet, eine Präimplantationsdiagnostik durchzuführen: Das heißt, dass im frühesten Stadium geprüft wird, ob der Embryo genetisch beschädigt ist. In der Konsequenz führt das dazu, dass dieser aussortiert wird. Aussortieren heißt selektieren, heißt, möglicherweise behindertes Leben wegzuwerfen und zu töten. Ich glaube, an dieser Stelle ist aus Achtung vor dem Leben und dem sich daraus ergebenden Schutz für dieses eine solche Schlussfolgerung nicht zulässig. Deshalb scheidet für mich die Präimplantationsdiagnostik aus. ({3}) Ein Leserbrief, den ich gestern in der „Welt“ gesehen habe, hat mich sehr bewegt, nicht allein wegen seines Inhaltes, sondern auch deswegen, weil ich die Schreiberin dieses Leserbriefes seit ihrer Geburt kenne. Heute ist dieses Mädchen 14 Jahre alt und hat Mukoviszidose. Sie hat in der „Welt“ geschrieben - ich weiß, wie die Eltern darüber denken und wie sehr diese Frage das Mädchen in ihren jungen Lebensjahren schon persönlich bewegt hat -: Sie findet ihr Leben trotz aller Beschwernisse ganz und gar nicht lebensunwert. Sie geht ins Gymnasium, sie spielt, hat Freunde und vor allen Dingen Ziele. Sie will in diesem Leben etwas erreichen. Zugleich sagt sie aber auch: Sie habe die Sorge, dass sie, wenn die Diagnosemöglichkeit PID vor Jahren zugelassen worden wäre - über die Zulassung diskutieren wir ja jetzt -, heute nicht in dieser Welt wäre, nicht leben könnte und nicht all das, was an Fülle des Lebens vor ihr liege, erfahren könnte. Die Botschaft, die uns ein behindertes Mädchen, ein Mädchen mit einer schweren Krankheit, hier mit auf den Weg gibt, lautet: Lasst mich leben! Zerstört nicht das Leben, sondern sagt Ja dazu und ermöglicht es, dass behindertes und von Krankheit umfangenes Leben eine Chance hat in dieser Welt! Ich glaube, wir sind in besonderem Maße aufgerufen, diesen Ruf zu hören und diesem Ruf auch nachzugehen. ({4}) Ich hoffe und setze darauf, dass wir in diesem Bewusstsein eine Entscheidung für das Leben treffen. Das gilt auch dann, wenn wir darüber entscheiden, ob wir verbrauchende Embryonenforschung wollen. Wenn wir wissen, dass es auf der einen Seite eine Illusion wäre, wie uns Forscher sagen, zu glauben, dass die Hoffnungen auf Heilung von Krankheiten bald eingelöst werden können, aber auf der anderen Seite feststeht, dass ein Embryo Leben ist, dann muss an dieser Stelle klar sein, wo wir den Schutz verstärken müssen. Es gibt viele andere Möglichkeiten im Bereich der Stammzellenforschung, die ethisch unproblematisch sind. Lassen Sie uns diese Möglichkeiten ergreifen. Chancen, die sich bieten, sollen wir nutzen, aber zugleich das Leben schützen. Es darf nie und nimmer zur Disposition stehen! Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Andrea Fischer, Bündnis 90/Die Grünen.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass wir heute diese ungewöhnliche Debatte im Bundestag führen, hat damit zu tun - das wurde schon gesagt -, dass unser Wissen um den Menschen durch die rasanten Fortschritte der biotechnischen Wissenschaften in den letzten Jahren unglaublich gestiegen ist. Das Humangenomprojekt hat uns Erkenntnisse über das Innerste des menschlichen Körpers verschafft. Damit einher gingen Entwicklungen in der Medizin oder zumindest Aussichten darauf. Gentechnisch hergestellte Medikamente und Diagnostika sind längst eine Selbstverständlichkeit und haben schon sehr, sehr vielen Menschen geholfen. Es bestehen gute Chancen, dass auf diesem Weg noch weitere segensreiche Neuerungen zu erwarten sind. Das gilt unter anderem für den Bereich der Pharmakogenetik. Es ist offen, welche weiteren Wege uns durch die zu erwartenden Erkenntnisse aus dem Humangenomprojekt und der Proteomicsforschung noch eröffnet werden. Deswegen ist es gut, dass hier vielfach geforscht und dies auch durch Förderung vonseiten des Staates unterstützt wird. Als Zuschauer, als interessierte Laien und auch als eines Tages vielleicht von diesen Fortschritten Begünstigte stehen wir staunend und fasziniert vor diesen Entwicklungen und den Verheißungen, die darin liegen. Wir bewundern den großartigen wissenschaftlichen Fortschritt. Wir sind neugierig auf immer neue Erkenntnisse über unseren Körper, was ihn steuert, was ihn krank macht. Ironischerweise lernen wir dabei gerade von den Genforschern, dass all diese Prozesse viel komplizierter sind, als es der boulevardeske Ausdruck von einem Intelligenzgen oder der genetischen Bestimmung glauben machen könnte. Die Besonderheit dieser neuen Forschung, dass wir die Vorgänge in unseren Körpern besser verstehen, ist ihre große Stärke und zugleich stellt sie uns genau dadurch vor Herausforderungen. Wir müssen uns ihnen stellen, gerade wenn und weil wir die positiven Potenziale der Gentechnik weiter erschließen und nutzen wollen. Selbstverständlich werden wir alle anstehenden Entscheidungen unter der Prämisse treffen, dass wir die Chancen auf Heilung nutzen wollen. Niemand, der sich an dieser Diskussion beteiligt, ist gegenüber den Hoffnungen auf Hilfe vonseiten der Schwerkranken unempfindlich. Deswegen sollten wir es uns auch nicht gegenseitig unterstellen. ({0}) Was es aber für uns so schwierig macht, ist, dass wir mit dem Willen zu heilen allein keinen Maßstab haben, wenn wir unsere Entscheidungen treffen. Wenn Heilung nämlich der alleinige Maßstab wäre, gäbe es gar keine Grenzen, die wir aus Respekt vor dem Lebensrecht eines anderen Menschen ziehen könnten und müssten. Hier eine Abwägung zu finden und diese Aufgabe zu lösen bedeutet, die Chancen von Biomedizin und Gentechnik verantwortungsbewusst wahrzunehmen. Es gibt zurzeit - davon war bereits bei den Kolleginnen die Rede - vor allem ein Verfahren aus der Biomedizin und einen Bereich der gentechnischen Forschung, die im Zentrum dieser Abwägungen stehen und die Frage nach der Grenzziehung aufwerfen. In den letzten Wochen war die Diskussion auf die Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik sowie Forschung unter Verbrauch von Embryonen konzentriert. Oft genug konnte man den Eindruck gewinnen, an der Haltung gegenüber diesen beiden Fragen entscheide sich die grundlegende Haltung zur Gentechnik und die Erschließung ihrer Chancen. Das ist in der Sache nicht zutreffend; denn es handelt sich bei der PID um einen sehr randständigen Bereich der Anwendung neuer Diagnoseverfahren und bei der Forschung an embryonalen Stammzellen um einen unbestreitbar sehr wichtigen, aber eben nicht um den einzig entscheidenden Bereich der Forschung. Wer in diesen beiden Punkten für Grenzziehung plädiert, wird sich vielen kritischen Fragen danach stellen müssen, ob dies berechtigt ist und ob er die Grenze richtig zieht. Aber er wird sich nicht vorwerfen lassen müssen, dass damit der gesamten Forschungsrichtung und allen neuen Heilungschancen der Weg abgeschnitten würde. ({1}) Das heißt, es geht auf der materiellen Ebene nicht um ein Ja oder Nein zur Gentechnik. Trotzdem halte ich es für berechtigt, dass wir genau über diese Fragen mit so viel Energie streiten; denn hier geht es um unser Menschenbild, unsere Werte, die Regeln unseres Zusammenlebens und vor allem auch darum, wie wir sie in Zukunft im Angesicht der medizinischen Fortschritte gestalten wollen. In der Bündnisgrünen-Fraktion haben wir uns mit einer großen Mehrheit für eine Grenzziehung ausgesprochen, die sich an der Unverfügbarkeit des menschlichen Embryos für die Auswahl von Kindern ebenso wie für die fremdnützige Forschung festmacht. Selbst wenn wir in der Fraktion eine große Mehrheit für diese Position haben, so gibt es auch bei uns andere Meinungen und vor allem - das ist in einer weltanschaulich nicht gebundenen Partei wie jener der Bündnisgrünen selbstverständlich - unterschiedliche Begründungen für diese Position. Dabei verbindet uns das verfassungsrechtliche Gebot der Wahrung der Menschenwürde. Bei der Präimplantationsdiagnostik stehen wir vor der Frage, ob wir zulassen wollen, dass menschliche Embryonen sich nur dann zu Menschen entwickeln sollen, wenn sie nicht Träger einer bestimmten genetischen Krankheit sind. Wir, auch ich ganz persönlich, verstehen gut die Angst der Eltern vor der Belastung für sie und das Kind, die von dieser Erkrankung ausgeht. Trotzdem wollen wir dieses Verfahren nicht zulassen, weil wir nicht damit beginnen wollen, Kinder nach ihren gesundheitlichen Eigenschaften auszuwählen. ({2}) Diejenigen, die für dieses Verfahren sprechen, verweisen darauf, dass es heute vielfach zu Schwangerschaftsabbrüchen kommt, wenn die künftigen Eltern im Verlauf der Schwangerschaft die Information über die Behinderung ihres Kindes erhalten; dann sei es schonender, diesen Schwangerschaftskonflikt von vornherein zu vermeiden. Ich möchte gegenfragen: Kann es sein, dass aus der immer mehr um sich greifenden Praxis, ein Kind wegen seiner künftigen Behinderung nicht anzunehmen, zwangsläufig folgt, diese Praxis auch noch zu vereinfachen? Oder müssen wir nicht vielmehr andersherum fragen, warum Eltern nicht den Mut fassen können, ein Kind mit einer Behinderung anzunehmen? Wir alle stehen doch in der Pflicht. Wir können etwas dafür tun, dass das Leben mit einem kranken oder behinderten Kind nicht so schwer ist, wie es den Eltern heute häufig gemacht wird. ({3}) Obwohl es schwer ist, nehmen heute viele Eltern diese Herausforderung an. Sie zu unterstützen und den anderen die Chance zu geben, dass sie so leben können, darum sollten wir mit viel Energie streiten, statt darum, wie wir das Leben mit einer Behinderung vermeiden können. ({4}) Deswegen plädiere ich dafür, die Praxis der pränatalen Diagnostik und die daraus oft folgenden Schwangerschaftskonflikte in den Mittelpunkt unserer Überlegungen zu stellen. Diese Praxis muss uns auch beeindrucken, wenn wir darüber sprechen, ob wir dieses Verfahren nicht wenigstens in engen Grenzen zulassen könnten, eine Frage, die hier nahe liegt, wie Frau von Renesse gesagt hat. Aber mit Blick auf diese Erfahrungen steht doch zu erwarten, dass sich auch bei der Präimplantationsdiagnostik eine Begrenzung nicht einhalten lässt, dass die Nachfrage nach diesem Verfahren steigen wird, ({5}) Andrea Fischer ({6}) sodass es immer selbstverständlicher sein wird, von künftigen Eltern zu verlangen, dass sie kein krankes Kind bekommen oder dass sie sich vielleicht sogar, wenn sie es doch wollen, dafür rechtfertigen. Aber ein Kind braucht doch gerade Eltern, die es annehmen, wie es ist, die es lieben, unabhängig von seiner Gestalt und seinen Fähigkeiten. ({7}) Diese Haltung steht nicht im Widerspruch zu unserer Position zur Rechtslage hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs. Hier wird bei bestehenden Schwangerschaftskonflikten darauf verzichtet, das Grundrecht des Kindes gegen den Willen seiner Mutter strafrechtlich durchzusetzen. Die Frau hat das Recht, selbstbestimmt eine Entscheidung zu treffen. Bei der PID aber gibt es keine Schwangerschaft, die eine Notlage begründen könnte und in der die Lebensansprüche gegeneinander abgewogen werden könnten. Eine kritische Überprüfung der bestehenden Praxis bei der Diagnose von behinderten Föten sollte uns alle zum Nachdenken darüber anregen, ob das unsere Haltung zu behinderten Menschen zum Schlechten verändert und ob wir hier nicht zur Umkehr aufgefordert sind. Keinesfalls aber kann es dabei um eine Gesetzesänderung gehen. Im Gegenteil verweise ich darauf, dass das dem Geist des 1995 reformierten § 218 des Strafgesetzbuches entspricht, in dem die eugenische Indikation ausdrücklich abgeschafft worden ist. Ich bin sicher, dass niemand etwas gewinnt, wenn er die Entscheidungen, die in der Biopolitik anstehen, mit einer Neuauflage der Diskussion um den § 218 verbindet. ({8}) Eine ebenso schwierige Entscheidung wird von uns bei der Forschung mit Stammzellen erwartet, die unter dem Verbrauch von Embryonen gewonnen werden. Das wäre nach all den Schritten, die wir schon jetzt gegangen sind, ein Schritt, der eine andere Qualität hat. Embryonen zu verbrauchen hieße, menschliches Leben zu einem außerhalb seiner selbst liegenden Zweck zu benutzen. Es macht aber doch gerade die Menschenwürde aus, dass der Mensch für sich selbst steht, dass er keinem Zweck dienbar sein muss und sein darf. Wir entkommen diesem Problem nicht, indem wir den Status des Embryos erst graduell unter Schutz stellen. Dies hieße, willkürlich eine Grenze zu setzen; denn die Biologie hilft uns nicht mit einer eindeutigen Bestimmung, wann jenseits der Befruchtung noch einmal Einschnitte in den Entwicklungsprozess des Embryos zu rechtfertigen sind. Eine einmal unter Nutzenkriterien gesetzte Grenze lässt sich jederzeit wieder verschieben; denn der entscheidende Schritt wäre damit getan. Das ist eine schwere Entscheidung. Denn die Aussagen der Forscher über das, was sie sich davon erwarten, sind sehr viel versprechend. Sie wird uns jedoch dadurch erleichtert, dass die Fortschritte bei der Forschung an Stammzellen von Erwachsenen in letzter Zeit gewaltig sind. Aber ich meine, dass es auch aus der Perspektive von kranken und behinderten Menschen wichtig ist, dass menschliches Leben nicht verfügbar ist. Dass der Schutz des menschlichen Lebens an keine Bedingung geknüpft wird, weder an Fähigkeiten noch an die Entwicklungsstufe, ist für uns alle ein Schutz, besonders aber für diejenigen Menschen, die dieses Schutzes aufgrund von Schwächen insbesondere bedürfen. ({9}) Diese Diskussionen, die in einer breiten Öffentlichkeit geführt werden, stehen erst am Anfang. Die Entscheidung des Parlaments ist noch in weiter Ferne. Es wird auf uns alle ankommen, wie wir diese Debatte führen. Sie braucht gegenseitigen Respekt und Ernsthaftigkeit. Wir müssen die Wünsche und die Ängste, die in dieser Debatte auftauchen, ernst nehmen. Es gibt keine falschen Wünsche. Es kann aber gute Gründe geben, sie nicht zu erfüllen. Keiner von uns sollte sich mit seiner eigenen Moral hochmütig über die anderen stellen. Jeder von uns sollte sich in dieser Diskussion immer wieder einmal durch die Argumente des anderen verunsichern lassen. ({10}) Die Biowissenschaften haben uns neue Freiheiten geschenkt. Sie haben uns damit neue Fragen aufgegeben. Der Mensch hat immer die Freiheit, sich für Selbstbeschränkung zu entscheiden. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Edzard Schmidt-Jortzig, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wie gut es ist, dass sich der Bundestag einmal ganz grundsätzlich, und zwar vor einer konkreten Befassung mit Regelungsvorhaben oder Gesetzentwürfen, über den Bereich der modernen Biomedizin Gedanken macht, ist schon mehrfach unterstrichen worden. Mir erscheint dabei in der Tat wichtig, die Erwägungen über den engeren Bereich der reinen Gentechnik hinaus auf das ganze Feld neu in den Blick gekommener Grundbelange menschlicher Existenz zu erstrecken. Der Fächer staatlicher Regelungsbedarfe ist angesichts des medizinisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts umfassend geöffnet; machen wir uns da bitte überhaupt nichts vor. Dieser Fächer beginnt mit der Spende von Keimzellen und deren künstlicher Verschmelzung, den Möglichkeiten genetischer Diagnostik an embryonalen Stammzellen und der Erforschung sowie Klonierung dieser Bestandteile. Er umfasst pränatale Biopsien, die selektive Abtreibung von Föten, die Gentherapie sowie den Keimbahneingriff und reicht bis zum Ende des menschliAndrea Fischer ({0}) chen Lebens, bis zu den Fragen von Sterbehilfe, Patientenselbstbestimmung und den Bedingungen von Organentnahmen. Es ist wichtig, diese Einzelprobleme immer als Teil eines Gesamtbogens zu sehen, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht. ({1}) All unsere Gestaltungs-, all unsere Steuerungs- und Regelungsbemühungen haben sich auf das Wohl des Menschen hin auszurichten und nicht irgendwelche abstrakten Vorteile ins Auge zu nehmen: Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Staat um des Staates willen. Dies war bekanntlich der Eingangsartikel im Vorentwurf unserer Verfassung und gilt inhaltlich heute noch immer und genauso - und vielleicht mehr denn je. Dafür hilft aber sicherlich eine Beschwörung guter alter medizinischer Idylle wenig. Der Rubikon für die Möglichkeit des Eingriffs in die menschlichen Lebenssubstanzen ist am Beginn des Lebens mit der Zulassung von In-vitro-Fertilisationen und am Ende des Lebens mit der Gestattung von Organtransplantationen längst unwiderruflich überschritten. ({2}) Sich hier heute noch im Stand der Unschuld und in der vollen Entscheidungshoheit über Gut und Böse oder Ja oder Nein zu wähnen wäre reichlich realitätsfern. ({3}) Zu viele Einzelentscheidungen haben schon Richtpunkte gesetzt. Dazu gehört auch, verehrte Frau Kollegin Fischer, § 218 a Abs. 2 StGB. ({4}) Das kann man auch mit noch so hohem Argumentationsaufwand nicht mehr ungeschehen machen. Die Zulassung etwa der Tötung von Föten - mit welch guten Gründen auch immer - steht natürlich im Abgleich mit der Frage einer Zulässigkeit des Tötens von Embryonen. Die dankbare Hinnahme von Zellkultivierung und Implantationen bei Läsionstherapien von Blutsubstanzen, Haut oder Rückenmark hat natürlich Vorwirkungen auf das therapeutische Klonieren anderer Zellen. Es ist ein Flickenteppich einzelner Präjudizien entstanden, die zusammenzuführen nur schwer noch gelingen will. Auch um deswillen ist eine Besinnung auf das Grundsätzliche unerlässlich. In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit will ich dazu nur zwei Stichworte geben: Erstens. Es wird gewiss darum gehen, verlässlich die Bedingungen menschlichen Lebens, das heißt, seinen für das Recht maßgeblichen Beginn und sein Ende zu bestimmen, und damit die Skala seines ethischen wie rechtlichen Schutzbedarfs festzulegen. Gleiches gilt - wahrscheinlich noch viel grundsätzlicher und schwieriger - für die Menschenwürde. Lebensschutz und Würdeschutz sind jedenfalls deutlich auseinander zu halten. Beide betreffen ganz unterschiedliche Ebenen menschlicher Realität: der Lebensschutz die physische, der Würdeschutz die geistig-reflektorische. Leben ist ein biologisches Faktum, Würde eine soziale Wertung. Nichts ist in dem schwierigen Diskurs störender und vernebelnder als der immer wieder zu hörende sich auf die Verfassung stützende Vorwurf, hier werde aber nun doch die Würde des menschlichen Lebens bedroht. So steht es eben nicht in der Verfassung. Es geht in Art. 1 Grundgesetz vielmehr um die Würde des Menschen und nicht des menschlichen Lebens. Das körperliche Element von Leben und Gesundheit wird dagegen in Art. 2 Grundgesetz unter völlig anderen Bedingungen geschützt. Wer immer dies durcheinander wirft - egal, ob bewusst oder unbewusst und von welch hohem Podest auch immer - und dazu noch - wie kürzlich geschehen - die Verfassungskeule schwingt, der verhindert eine angemessene, differenzierte Linienführung und Linienfindung. ({5}) Menschenwürde ist eben gegen nichts abwägbar, auch mit noch so vielen guten Gründen nicht. Dies war - jedenfalls in meinen Augen - auch das Missverständnis in der Abtreibungsdebatte. Menschenwürde ist, wie die Verfassung sagt, unantastbar. Der Schutz des Menschenlebens aber lässt sehr wohl Einschränkungen zugunsten anderer Rechtsgüter zu. So steht es ausdrücklich im Grundgesetz. Dies ist auch für eine intakte, tragfähige Gesellschaftsordnung unerlässlich. Zweitens, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, muss von Beginn an jedem gedanklichen Absolutismus abgeschworen werden. Es gilt, die verschiedensten Facetten, Rechtsbelange, Zwecke, Interessen und Schutzbedürfnisse zu berücksichtigen und gegebenenfalls durch wechselseitige Aufeinanderabstimmung zu harmonisieren. Bei der Präimplantationsdiagnostik geht es eben nicht nur um kompromisslosen Schutz des embryonalen menschlichen Lebens, sondern auch um die sozialen Chancen des künftigen Kindes, um das psychische Zurechtkommen der Eltern mit seiner begrenzten Perspektive und den ärztlichen beruflichen Heilungs- und Leidensvermeidungsauftrag. Hüten wir uns also - das wäre mein größter Wunsch in dieser Debatte - in diesem hochdifferenzierten sensiblen Gelände vor Einseitigkeiten und Fundamentalismen, vor unkritischem Fortschrittsglauben genauso wie vor bunkerhafter Fortschrittsverweigerung. Aufgegeben sind uns ein mühsames, intensives Abwägen zwischen den verschiedensten Aspekten und die Suche nach Ausgleich zwischen all dem Gegenläufigen. Die heutige Debatte kann dafür nur ein erster, ein vager Anfang sein. Danke sehr. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Spannende und zugleich das Verführerische in dieser Bioethikdebatte ist doch wohl, dass Chancen und Gefahren so dicht beieinander liegen. Ich finde es gut, hier mitzuerleben, wie wir Abgeordneten uns als Suchende, Hoffende, zu wenig Wissende öffentlich darstellen, wo wir doch sonst als Politikerinnen und Politiker gern die Wegweisenden, die Alleswissenden geben. Zu dieser Offenbarung will ich gern beitragen und unumwunden eingestehen, dass wir demokratischen Sozialisten uns dabei schwer tun, weil tradierte Wertevorstellungen für diese Debatte nicht ausreichen. Das geht uns wohl nicht allein so. Ich finde es auch ehrlich, dass man uns das anmerkt. Die PDS-Fraktion vertritt in dieser Debatte verschiedene Positionen und wir werden das auch kenntlich machen. Der einigende Grundsatz heißt auch für uns: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ich will dem Herrn Bundespräsidenten nicht näher treten, als das für ihn unschädlich ist, aber für seine Berliner Rede zu diesem Thema gibt es in meiner Fraktion sehr viel Zustimmung. Das zu sagen muss dann ja auch erlaubt sein. ({0}) Johannes Rau hat schwierige Dinge so gesagt, dass alle, die es denn wollen, ihn verstehen können. Ich fände es gut, wenn diese Art des Umgangs mit dem Thema vom Fernsehen aufgegriffen würde, ich will sagen: in einer Art Serie und nicht Talkshow, im Sinne von Aufklärung und nicht zum Zwecke medialer Schaukämpfe. Ich will dem Versuch das Wort reden, uns alle hier im Bundestag nicht hastig in verschiedene Lager einzuteilen. Was zum Teufel treibt uns eigentlich zu einer vorschnellen Polarisierung? Sind es nicht die selbst geschaffenen Zwänge, wegen vermeintlicher Klarstellung und Erkennbarkeit Fronten aufzumachen und uns an den Polen zu versammeln? Ist es so sonderlich demokratisch, die Fraktionsgrenzen aufzuheben, um sich sofort danach in oder hinter neuen Gräben wieder einzurichten? ({1}) Warum in aller Welt müssen wir ganz am Anfang einer wirklich großen Debatte zuerst über die Versetzung von Rechtsnormen reden? Das leuchtet mir nicht ein. Warum können nicht die Argumente in gegenseitiger Achtung erst einmal ausgetauscht werden? Lassen Sie uns doch zunächst über die Chancen, vor allem über die vielen ungenutzten Chancen, reden. Die Wendung „Es ist viel Raum diesseits des Rubikon“ hat Johannes Rau ja sehr treffend formuliert. Diesseits des Rubikon ist mit moderner Biotechnologie auch jede Menge neuer Arbeit denkbar, zum Beispiel in der Anwendung der Tropenmedizin, bei der Aidsbekämpfung, bei der Abwehr wiederkehrender Seuchen wie der Tuberkulose, auch bei der Bekämpfung von Hungersnot. Es wäre daher verantwortungslos, den öffentlichen Eindruck zu verbreiten, mit Biotechnologien könnten Arbeitsplätze nur dort entstehen, wo gerade die Goldrauschmentalität der Gentechnik zu Hause ist. ({2}) Ich meine, die Debatte läuft auch deshalb so, wie sie momentan läuft, weil Politik ihrer gesellschaftlichen Verantwortung heute nicht ausreichend gerecht wird. Es ist ein Bild etwa der Art verbreitet, Hightech sei modern und Ethik sei etwas von gestern. Ich meine, das darf so nicht hingenommen werden. Was wir brauchen, ist eine politische Verantwortungsgemeinschaft, in der fachwissenschaftlicher und ethischer Vorlauf befördert werden. Das nenne ich modern. ({3}) Die Menschheitsgeschichte zeigt doch deutlich genug, dass ihr nicht alles, was im Namen von Fortschritt und Modernisierung angelegt war, auch zum Nutzen gereichte. Natürlich brauchen wir Wissenschaftsfreiheit, aber zugleich auch die gesellschaftliche Abwägung der Folgen von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es geht doch nicht an, nach der Logik zu verfahren: Forschungsfreiheit jetzt, industrielle Vermarktung sofort und die Folgenabschätzung kommt irgendwann später. ({4}) Rechtliche Schranken machen einen Sinn, solange die Folgen neuer Technologien nicht einigermaßen ergründet sind; ich weiß, ganz geht das nie. Man erwirbt sich so auch den wenig beliebten Titel eines Bedenkenträgers. Sei es drum - das ist mir lieber, denn als Träger von Bedenkenlosigkeit zu gelten. ({5}) Stefan Heym hat im Juni 1989 - also vor zwölf Jahren, und wenn wir uns erinnern, in einer noch anderen Welt in einer Debatte unter dem Titel „Über eine Ethik von morgen“ in Frankfurt am Main vor den Folgen des Ausbleibens gesellschaftlicher Vernunft bei der ungezügelten Anwendung und Vermarktung der Gentechnik gewarnt. Er sagte: Es stimmt nicht mehr, dass erst das Fressen kommt und dann die Moral - nein, wenn nicht die Moral sein wird, zuerst und allzeit von nun an, wird es nichts mehr zu fressen geben und nichts mehr zu atmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns über die Verantwortung von moderner Politik für Technologieentwicklung unvoreingenommen, aber verantwortungsbewusst streiten und dann entscheiden, damit nicht eintritt, wovor uns Stefan Heym einst warnte. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Abgeordneten Gerhard Schröder, SPD-Fraktion, das Wort.

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, das Wichtigste, was in dieser Debatte deutlich geworden ist, ist, dass wir nicht nur für die Inhalte dessen, was gesagt wird, sondern auch für die Form Verantwortung haben und nach dem Ablauf der Debatte auch wahren. Deswegen war es wohltuend, dass hier niemand dem Andersdenkenden Gewissen, Moral, auch Ernsthaftigkeit abgesprochen hat. ({0}) Niemand bestreitet, dass die wichtigste Grenze, die uns gesetzt ist, Art. 1 des Grundgesetzes ist. Das ist eine Grenze, die von der Würde des Menschen handelt. Sie ist und sie bleibt für uns unantastbar. Ich denke, dies eint uns. Worüber wir aber streiten und weiter streiten werden, ist, was das denn im Einzelnen heißt, was also bezogen auf unsere Handlungen im Einzelnen ethisch vertretbar ist und was nicht. Diese Fragen zu entscheiden, das setzt zunächst einmal möglichst viel an Information voraus, und zwar an umfassender und vorurteilsfreier Information. Das bezieht sich nicht nur auf diejenigen, die hier an der Debatte teilnehmen, sondern auf die ganze Gesellschaft. Nur eine Gesellschaft, die Bescheid weiß und offen über Optionen diskutieren kann, ist in der Lage, über eine solch schwer wiegende Zukunftsfrage wie die der umfassenden Nutzung der Gentechnik zu entscheiden. ({1}) Entgegen manchem Missverständnis möchte ich sagen, dass der von mir einberufene Nationale Ethikrat kein Ersatzparlament sein soll. Das könnte er auch gar nicht. ({2}) - Vielleicht kann man das in dieser Diskussion mal lassen. Der Ethikrat soll kein Ersatzparlament sein; er bietet die Möglichkeit, die Diskussion in der Gesellschaft zu erweitern und sachverständiger werden zu lassen und sie immer wieder zu bereichern. Natürlich ist er auch eine Möglichkeit, sachverständigen Rat zu geben. Ich denke, dagegen spricht wenig.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Schröder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich würde meine Rede gerne im Zusammenhang vortragen. Zu den umstrittensten Themen gehört sicherlich - das ist auch hier deutlich geworden - der Embryonenschutz. Soweit ich die Diskussion verfolgen konnte, bietet das bestehende Embryonenschutzgesetz einerseits ausreichenden Schutz und lässt andererseits genügend Spielraum für Wissenschaft und Forschung. Ich meine deshalb, dass wir gut beraten sind, dieses Gesetz nicht vorschnell zu ändern. Wir können uns also auf der Basis dieses Gesetzes für eine ausführliche, offene und gewissenhafte Diskussion Zeit lassen. Darum geht es uns allen. ({0}) Ich stimme Herrn Schmidt-Jortzig ausdrücklich zu, wenn er darauf hinweist, dass uns der Rückgriff auf das Verfassungsgericht zurzeit wenig hilft; denn sowohl Altbundespräsident Roman Herzog als auch die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts haben überzeugend deutlich gemacht, dass zu dieser Frage die Judikatur des Gerichts nicht vorliegt. Das Gericht ist mit dieser Frage - jedenfalls bislang - nicht direkt beschäftigt worden. Wer also den Gesichtspunkt der Verfassungswidrigkeit des einen oder anderen Handelns bemüht, sollte diese Stimmen unbedingt zur Kenntnis nehmen. ({1}) Das eigentliche Potenzial der Gentechnik liegt darin, neue Medikamente und neue Behandlungsmethoden zu entwickeln, mit denen schwerste, bisher nicht heilbare Krankheiten unter Umständen geheilt oder gelindert werden können. Sicherlich ist die religiös motivierte Position zu respektieren, die das Schicksal von Schwerstkranken und Patienten, die zum Beispiel an Krebs, Alzheimer, Parkinson, Mukoviszidose oder an einer anderen Krankheit leiden, als bedauerlich, am Ende aber unabänderlich empfindet. Aber ich frage mich: Ist nicht der Wunsch, die ärztliche Pflicht, alles nur Menschenmögliche für die Heilung schwerstkranker Menschen zu unternehmen, ebenso zu respektieren? ({2}) Ich denke, die Ethik des Heilens und des Helfens verdient ebenso Respekt wie die Achtung der Schöpfung. Ich sehe nicht, dass wir in einer Situation sind, in der sich beides gegenseitig ausschließt. ({3}) Ich bin der festen Überzeugung: Man darf den Forschern, die beispielsweise große Hoffnungen in die Stammzellenforschung setzen, nicht pauschal dunkle, unethische Motive unterstellen. Es mag auch unter Wissenschaftlern Aufschneider und Scharlatane geben, aber die allermeisten forschen Tag für Tag mit dem großartigsten Ziel überhaupt, nämlich Menschenleben zu retten. Dafür haben sie Respekt und Anerkennung verdient. ({4}) Wir stimmen sicherlich darin überein, dass das medizinische und therapeutische Potenzial der Gentechnik nicht allein - darin stimme ich Ihnen zu, Frau Fischer -, aber doch auch von der Forschung an Stammzellen abhängt. Es besteht in der Gesellschaft augenscheinlich Einigkeit darüber, dass die Forschung mit adulten Stammzellen erlaubt ist, ja sogar noch intensiviert werden soll. Wie aber verhält es sich mit den embryonalen Stammzellen? Es gibt eine Reihe von Forschern, die embryonale Stammzellen für wirksamer halten, wenn es um die Entwicklung neuer Therapiestrategien zur Ersetzung abgestorbener Zellen geht. Es gibt jene in unserem Land, die auf die Notwendigkeit vergleichender Forschung hinweisen. Das Embryonenschutzgesetz von 1991 schließt die Herstellung von Embryonen allein zu Forschungszwecken aus. Ich denke, dabei sollte es bleiben. ({5}) Aber wie wollen wir es mit den überzähligen befruchteten Eizellen halten, die bei der künstlichen Befruchtung in Deutschland anfallen? Nach Schätzungen lagern mehr als 100 Embryonen in Deutschland. Unser Gesetz erlaubt eine künstliche Befruchtung nur, um eine Schwangerschaft herbeizuführen. Genau dafür aber werden diese befruchteten Eizellen nicht mehr benötigt. Die Frage ist: Was wird mit ihnen passiert? Ist es angesichts der Alternative, sie wegzuwerfen, nicht doch vertretbar, begrenzte Forschung an ihnen zu ermöglichen? Diese Frage wird uns nicht loslassen. ({6}) Noch eine andere Frage bewegt mich: Laufen wir nicht Gefahr, den Streit um die PID überzubewerten? Die PID ist ein rein diagnostisches und kein therapeutisches Verfahren. ({7}) Bei ihr findet kein Eingriff in die Erbsubstanz statt. Mit der PID werden somit keine genetisch veränderten Menschen erzeugt. Die Befürworter der PID sagen, aufgrund einer medizinischen Indikation könne eine Schwangerschaft straffrei abgebrochen werden. Statt die entsprechenden Tests erst im Mutterleib vorzunehmen, plädieren sie dafür, diese Tests bei genetisch belasteten Eltern bereits vorher zuzulassen. Ich denke, dafür gibt es Gründe, die achtbar sind. ({8}) Ist der Rubikon wirklich überschritten, wenn ein Verfahren, das im Mutterleib angewendet werden darf, unter den gleichen Bedingungen - das ist zu betonen - wie bei der medizinischen Indikation auf Embryonen, die durch künstliche Befruchtung entstanden sind, übertragen werden soll? Ist das ein Verfahren, das man wirklich unter allen Umständen ausschließen darf? Ich meine: nein. ({9}) Ich meine, dass wir dieses Verfahren in genau den gleichen Grenzen verantworten können, in denen wir eine medizinische Indikation zulassen. Ich will auf eines hinweisen: Dies bei uns zu ermöglichen, gibt uns die Chance, die Grenzen zu setzen, ohne zusehen zu müssen, dass sie in anderen Ländern überschritten werden. Es geht um schwierige Abwägungsfragen. Die heutige Debatte wird ein wichtiger und ein für alle hilfreicher Beitrag sein; aber eben nur ein einzelner Beitrag. Die Diskussion muss und wird weitergehen. Das ist gut so und hilfreich für die politische Kultur in unserer Gesellschaft. Dabei werden wir uns immer wieder klarmachen, dass wir in schwierigen Abwägungsfragen in einer doppelten Hinsicht Verantwortung tragen, weil wir nicht nur für uns selber, sondern für die gesamte Gesellschaft und ihre Entwicklung verantwortlich sind. Eine Verantwortung haben wir für das, was wir tun, wir haben aber auch eine Verantwortung für das, was wir unterlassen. ({10}) Dies - und nicht platter Ökonomismus - ist gemeint, wenn ich darauf hingewiesen habe, dass wir auch die Folgen des Unterlassens für Forschung und Entwicklung und damit für die Richtung, die unsere Gesellschaft nimmt, zu bedenken haben. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Abgeordnete Schröder hat in seiner Funktion als Bundeskanzler - ich denke jedenfalls, so war es gemeint - auf die Funktion und Bedeutung des von ihm eingesetzten Ethikrates hingewiesen. Dieser Nationale Ethikrat, wie er genannt wird, wird in der nächsten Woche zum ersten Mal zu einer Sitzung zusammentreten. Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, dass diese Debatte, die wir heute führen, nicht in der zeitlichen Abfolge zwischen Parlamentsdebatte und Sitzung des Nationalen Ethikrates in der nächsten Woche eine reine Alibifunktion hat. ({0}) Ich sage das deshalb, weil ich mir gewünscht hätte, dass es aus den beiden, die Regierung tragenden Fraktionen, den Mehrheitsfraktionen, einen scharfen Protest gegen die Einsetzung eines solchen Nationalen Ethikrates gegeben hätte. ({1}) Dieses Gremium - so empfinde ich es jedenfalls - ist eine Zumutung für den Deutschen Bundestag, der zu Beginn dieser Legislaturperiode eine Enquête-Kommission eingesetzt hat, die sich genau zu diesem Sachverhalt so sachkundig machen soll, dass der Deutsche Bundestag eine Entscheidungsgrundlage findet. ({2}) - Die Ernsthaftigkeit des Themas spricht ja nicht dagegen, dass auch kritische Fragen angesprochen werden. ({3}) Ich beobachte insbesondere bei diesem Thema mit großer Sorge eine voranschreitende Entparlamentarisierung der Politik in Deutschland. ({4}) Deswegen hoffe ich, dass es so ist und auch so bleibt, wie Sie es gesagt haben, dass nämlich nicht etwa in Beiräten der Regierung, sondern hier im Parlament die notwendigen Debatten geführt und Entscheidungen getroffen werden. ({5}) Wir sind uns einig, dass die moderne Biotechnologie und die Gentechnik große Chancen beinhalten. Chancen zur Heilung von Krankheiten, gewiss auch große wirtschaftliche Chancen. Ich will auch heute Morgen darauf hinweisen, dass diese großen Chancen nicht erst von der neuen Regierung gesehen worden sind. ({6}) - Es mag ja sein, dass Sie darauf mit Zwischenrufen reagieren, meine Damen und Herren, ({7}) aber auch der Kammerton dieser Debatte darf nun wirklich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die alte Bundesregierung war, die gegen den erbitterten Widerstand der damaligen Opposition von SPD und Grünen das durchsetzen musste, was in der Bundesrepublik Deutschland bis heute in Fragen der Biotechnologie und der Gentechnik erreicht worden ist. ({8}) Ich füge eine weitere kritische Anmerkung hinzu: Herr Bundeskanzler, Sie haben uns aufgefordert, die Debatte über Fragen der Biomedizin und der Biotechnologie ohne ideologische Scheuklappen zu führen. Dieses Wort haben Sie heute Morgen dankenswerterweise nicht wiederholt. Sie haben es zu einem Zeitpunkt gesagt, an dem Ihre Bundesregierung auf dem Höhepunkt der Krise um BSE und Maul- und Klauenseuche aufgefordert hat, man solle jetzt im Bereich der so genannten grünen Gentechnologie eine Atempause einlegen und zunächst einmal auf diesem Weg nicht weiter vorangehen. ({9}) Hier geraten die Prioritäten und die Maßstäbe durcheinander. Die ethisch und moralisch viel weniger diskussionsbedürftige so genannte grüne Gentechnologie hätte gerade angesichts der Krise um BSE und Maul- und Klauenseuche eine verstärkte Zuwendung der Politik sowie Anstrengungen in der Forschung und Entwicklung verdient. ({10}) Lassen Sie mich etwas zu den Chancen und den Risiken sagen, die sich durch die Biomedizin ergeben: Wir stehen ganz gewiss erst am Anfang der modernen Fortpflanzungs- und Zellbiologie. Damit werden viele Hoffnungen verbunden. Es werden vermutlich auch viele Hoffnungen enttäuscht werden. Ich stimme jedenfalls all denjenigen zu - Frau von Renesse, Sie haben es heute Morgen sehr eindrücklich gesagt -, die mit diesen neuen Erkenntnissen und Möglichkeiten quasi religiöse Heilsversprechen verbinden. Es wird aber auch enttäuschte Hoffnungen mit der Biomedizin geben. Meine Damen und Herren, es werden uns eine Reihe von alten Fragen neu gestellt, vor allem die Fragen: Was ist menschliches Leben? Wann beginnt menschliches Leben? Bleibt menschliches Leben ungeteilt und ohne Abstufungen schützenswert? Weitgehende Übereinstimmung besteht in Wissenschaft und Politik bisher wohl darüber, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle beginnt. Von diesem Zeitpunkt an entwickelt es sich - hier gibt es Hinweise in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes - nicht zum Menschen, sondern von dieser Verschmelzung an entwickelt es sich als Mensch. ({11}) Deswegen müssen diejenigen, die den Zeitpunkt des Beginns menschlichen Lebens etwa auf den Zeitpunkt, von dem an die Fähigkeit der Selbstachtung besteht, verschieben wollen, wie der Staatsminister im Bundeskanzleramt gesagt hat, wissen, dass damit nicht nur am Beginn des menschlichen Lebens, sondern auch während und am Ende des menschlichen Lebens der bisher absolute Schutz unseres Grundgesetzes relativiert wird. ({12}) Ich wünsche mir jedenfalls, dass es dabei bleibt, dass die Unantastbarkeit der Würde nicht nur dem Embryo, sondern auch dem schwer Geisteskranken, dem schwerbehinderten Kind und dem im Alter schwer Demenzkranken niemals abgesprochen werden darf. ({13}) Es mag andere Setzungen geben, die den Beginn des menschlichen Lebens und damit den Beginn des Schutzes seiner Würde zutreffend bestimmen, etwa - darüber wird diskutiert - den Beginn der Schwangerschaft zwei Wochen nach der Befruchtung mit der Nidation der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter. Wer aber diesen Zeitpunkt annimmt, der muss wissen: Dann gibt es auch keinen unbedingten Rechtsschutz für im Reagenzglas befruchtete Eizellen vor ihrer Einpflanzung mehr; deren Zeitpunkt ist bekanntlich an Fristen nicht gebunden. Meine Damen und Herren, diese bisherige Überzeugung, dass menschliches Leben mit der Befruchtung beginnt, muss meiner Meinung nach beachtet werden, wenn es um die Zulässigkeit der so genannten PID, der Präimplantationsdiagnostik, geht. Natürlich geht es bei der Präimplantationsdiagnostik nicht um Diagnose, sondern um die Konsequenzen aus der Diagnose, nämlich um die Entscheidung über Einpflanzung oder Vernichtung der befruchteten Eizelle. ({14}) Hier lege ich Wert auf Klarheit in der Sprache. Wollen wir uns dann wirklich anmaßen zu entscheiden, welche genetischen Defekte der befruchteten Eizelle ihre Vernichtung erlauben? ({15}) Ich weiß, wir haben alle die Bilder von Kindern mit schwersten genetisch bedingten körperlichen und geistigen Defekten vor Augen. Ihre Spätabtreibung wäre nach geltendem Recht in vielen Fällen in Deutschland erlaubt. Aber im Reagenzglas werden genauso wie die schweren genetischen Defekte auch positive genetische Dispositionen feststellbar sein. Wo ist die Grenze? Wer trifft die Entscheidung? Wer garantiert, dass mit PID der Selektion nicht Tür und Tor geöffnet wird? ({16}) Meine Damen und Herren, bei der Entscheidung dieser schwierigen Frage werden uns - jedenfalls nach meiner festen Überzeugung - die Regeln über die Indikation beim Schwangerschaftsabbruch nicht weiterhelfen, denn anders als bei der Abwägung zwischen zwei prinzipiell als gleichwertig angesehenen Rechtsgütern, nämlich dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes und dem Leben der Mutter, fehlt es bei der PID gerade an dieser Gleichwertigkeit zweier gegeneinander abzuwägender Rechtsgüter. Dem Schutzrecht der befruchteten Eizelle kann kein gleichwertiger Anspruch der Eltern auf Geburt eines Kinder oder gar auf Geburt eines gesunden Kindes entgegengehalten werden. So hart das für die Betroffenen klingen mag: Es gibt in unserer Rechtsordnung keinen Anspruch auf die Geburt eines gesunden Kindes. ({17}) Den Maßstab dafür bestimmt unsere Verfassung. Er kommt in Art. 1 unseres Grundgesetzes zum Ausdruck. Dieser Artikel ist nach Maßgabe der Präambel formuliert, eben nicht wertneutral, sondern, so heißt es dort, in „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Lassen Sie uns bei allem, was noch im Detail geklärt werden muss, nie diesen Wertmaßstab unseres Grundgesetzes aus dem Blick verlieren. Er ist Maßstab für alle Entscheidungen, die wir im Deutschen Bundestag zu treffen haben. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.

Rezzo Schlauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002777, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich glaube, wir Abgeordnete, das gesamte Parlament, haben allen Grund, selbstbewusster als der Kollege Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion zu sein, ({0}) Selbstbewusster, weil ich mir ganz sicher bin, dass sich dieses Parlament die Aufgabe, über das auf der heutigen Tagesordnung stehende schwierige Thema ernsthaft zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen, nicht von Kommissionen, Institutionen und zahllosen Diskutanten aus Publizistik und Wissenschaft aus der Hand nehmen lassen wird. ({1}) Ich denke, Herr Kollege Merz, anders wird ein Schuh daraus: Wenn wir die Ratschläge und Beiträge aus Publizistik und Wissenschaft in unserem parlamentarischen Beratungsprozess selbstbewusst aufnehmen, dann werden wir wie schon in vergleichbaren anderen schwierigen Debatten - ich erinnere an die Diskussion über das Transplantationsgesetz - substanzvolle und auch tragfähige Entscheidungen treffen können. Das scheint mir der richtigere Weg zu sein, als über irgendwelche Kommissionen zu räsonieren. In den letzten Monaten wurde zu Recht immer wieder eine offene Debatte im Parlament eingefordert. Heute führen wir sie. Aber diese Debatte braucht auch inhaltliche Standpunkte und Positionen. Eine Diskussion zwischen Menschen und Gruppierungen ohne Standpunkte ist schlechterdings nicht möglich. Ich glaube auch, dass die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ein Anrecht darauf haben, zu erfahren, welche Position die Parteien zu der wichtigen Frage der Biotechnik einnehmen. Wenn ich es richtig sehe, dann gibt es in dieser Hinsicht noch einen gewissen Nachholbedarf. Deshalb ist es gut, dass wir uns darauf einvernehmlich verständigt haben, uns ausreichend Zeit für diese Diskussion zu lassen und Entscheidungen in dieser wichtigen Frage erst in der nächsten Legislaturperiode zu treffen. Durch die Entwicklung der Biotechnologie sind Grundwerte und Grundrechte berührt, die unser Selbstverständnis angehen, also die Art und Weise, wie wir uns selber als Individuen und als Gesellschaft ethisch verorten. Deshalb ist es unverzichtbar - das tun wir ja heute -, dass wir zuallererst eine ethische Debatte führen. Aber wir wissen auch, dass die ethischen Fragen sehr schwierig und komplex sind. Die Herausbildung eines ethischen Standpunkts ist immer ein äußerst anstrengender Prozess, der ein hohes Maß an Selbstverständigung und Differenzierung erfordert. Wir haben es mit mehreren konkurrierenden Grundwerten zu tun, die alle höchsten Verfassungsrang genießen. Es geht um den Schutz des menschlichen Lebens in einem frühen Stadium, um den Anspruch Kranker und Behinderter auf Heilung und um die Frage, in welcher Gesellschaft wir in Zukunft leben wollen. Ich glaube, gerade diese Frage haben wir noch zu wenig beleuchtet. Welche Vorstellungen von Identität legen wir zugrunde? Und wie sind die emanzipatorischen Wurzeln unserer modernen Gesellschaft einzuordnen - was wird aus den Werten Freiheit und Selbstbestimmung? In komplexen modernen Gesellschaften wächst die Verunsicherung und die Sehnsucht nach den einfachen Antworten. Die einfache Antwort ist jedoch oft unFriedrich Merz ethisch, da sie sich eben nicht auf die unterschiedlichen Facetten der moralischen Frage einlässt. ({2}) Ich will meine Warnung noch etwas genauer fassen. Die Entwicklung der Gentechnik ist eine Herausforderung, die eine deutliche ethische Antwort und klare Grenzziehungen braucht. Ich glaube, dass eine ethische Position und eine ethische Grenzziehung umso stärker ist, je mehr sie den verschiedenen Aspekten von Menschenwürde gerecht wird und insofern eine differenzierte und damit auch moralisch angemessene Antwort gibt. ({3}) Die Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft - das wissen wir, das geht ja auch bei uns so, das müssen wir eingestehen - ist doch hin- und hergerissen zwischen verschiedenen moralischen Aspekten, die mit der Gentechnik verbunden sind. An einem Tag lesen sie von den Heilungschancen, die sich eröffnen, und sehen die Chancen dieser Technologie. Am nächsten Tag lesen sie vom Klonen von Menschen und Embryonenverbrauch und sind zutiefst skeptisch und ablehnend. Seien wir ehrlich: Ein Stück weit tragen wir diese Ambivalenz doch auch alle in uns selbst; denn hier konkurrieren nicht etwas Moralisches und etwas Unmoralisches, sondern hier konkurrieren zwei moralische Impulse. Das macht die Sache etwas schwierig. ({4}) Ich bin überzeugt davon, dass nur derjenigen Position Glaubwürdigkeit zugebilligt wird, der es gelingt, beiden Impulsen gerecht zu werden und sie in einem Konzept von Menschenwürde und Schutz des menschlichen Lebens zu integrieren. Meine Kollegin Fischer hat unsere Position, die in dem Papier „Politik in der Verantwortung“ festgehalten ist und die ja breite öffentliche Resonanz bekommen hat, ausführlich dargelegt. Wir haben damit die massiven Gefahren für Menschenwürde, Menschenleben, Selbstbestimmung und Pluralität aufgezeigt. Sie sind für meine Begriffe und aus unserer Sicht Grund genug, der Gentechnik, insbesondere auch in den beiden konkreten Problemkreisen, die hier diskutiert werden, PID und Stammzellenforschung, mit einer kritischen Grundhaltung gegenüberzutreten. Der Schutz der Embryonen verbietet eine verbrauchende Forschung an embryonalen Stammzellen wie auch eine Auslese durch PID. Gleichzeitig nehmen wir die Hoffnung der Kranken und die Sorgen der Eltern sehr ernst und wollen Gentechnik deshalb dort zulassen, wo sie den Menschen tatsächlich hilft und sie nicht gefährdet. Bei der Herstellung von pharmazeutischen Produkten in Diagnostik und Therapie beispielsweise eröffnete die gentechnische Forschung viele neue Möglichkeiten, die wir weiter fördern wollen. Wir haben damit, meine ich, einen Versuch unternommen, Freiheit und ethische Verantwortung zu verbinden, da wir der festen Überzeugung sind, dass Freiheit ohne ethische Verantwortung ein Wegbereiter der Unfreiheit ist. In diesem Sinne wollen wir diese Diskussion weiter begleiten und die Entscheidung mitgestalten. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren komplizierte Fragen der Menschenwürde, des menschlichen Lebens und medizinischer Potenziale in einer offenen Gesellschaft. Die offene Gesellschaft hat mit der Aufklärung begonnen. Die drei Fragen von Immanuel Kant „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ sind die Fragen, die uns bewegen. Diese Debatte haben schon andere Gesellschaften - auch solche in unserer europäischen Nachbarschaft mit den gleichen Verfassungsbestimmungen, mit den gleichen Argumenten über Menschenwürde, mit der gleichen Zivilisations- und Kulturgeschichte wie wir geführt. Sie haben die Fragen anders, als es uns von manchen Fundamentalisten in der Diskussion empfohlen wird, beantwortet. Wir sollten auf diese Gesellschaften nicht ethisch herabblicken. Auch unsere französischen und britischen Nachbarn haben keine leichtfertigen Entscheidungen getroffen, auch wenn sie anders aussehen, als es manche Diskussionsbeiträge hier verlangen. ({0}) Die Diskussion, die uns in Zonen moralischer Ratlosigkeit führt, muss frei von Fundamentalismen bleiben. Es kann weder eine Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit noch eine Monopolisierung der Moral im Namen einer ganz bestimmten Moral geben. ({1}) Im Übrigen scheint es mir auch wichtig zu sein, darauf aufmerksam zu machen, dass die Heuristik der Furcht, wie Hans Jonas sagt, nicht ausschließlicher Ratgeber sein kann. Sie schwingt zwar immer mit; aber sie darf eine Gesellschaft nicht kopflos machen. ({2}) Es ist nicht so, dass es in Deutschland eine Scientific Community, also Wissenschaftsorganisationen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die Max-Planck-Gesellschaft, und hervorragende Forscher gibt, die nur drauf und dran sind, die Menschenwürde zu verletzen, die sich nur in nicht mehr kontrollierbare Forschungen hineinbegeben und die selbst nicht begriffen haben, wo die Grenzen von verantwortbarer Forschung liegen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Blick auf einen einzigen - katastrophalen - Abschnitt der deutschen Geschichte darf uns das Vertrauen in die deutsche Forschungslandschaft nicht verbauen. ({3}) Auch die deutsche Forschung hat einen Anspruch darauf, ihre Chancen verantwortbar zu suchen. Eine offene Diskussion, wie wir sie führen wollen, findet natürlich in einem anthropologischen, in einem menschlichen Kontext statt. Wir führen diese Diskussion nicht nur über Forschungsfreiheit, die die Verfassung sichert, sondern auch über den Sinn von Chancen, die die Forschung ausloten soll. Ich glaube - das sage ich für die Freien Demokraten -, dass diejenigen, die sich für die Präimplantationsdiagnostik und für die Forschung an Embryonen aussprechen, dafür gute ethische und moralische Gründe in Feld führen können. ({4}) Wir sind nicht der Überzeugung, dass menschliches Leid vermieden werden könnte, dass es keine Krankheiten mehr geben würde und dass der Hunger in der Welt beseitigt werden könnte. Aber wir sind der Überzeugung, dass es legitim, ethisch und moralisch begründbar ist, in einem begrenzten, gesetzlich beschränkten Rahmen per Forschung auszuloten, ob menschliches Leid gelindert werden kann. ({5}) Wenn eine offene Gesellschaft diese Debatte in den von der Verfassung und von der Zivilisations- bzw. Kulturgeschichte gebotenen Grenzen führt und sich der Zone moralischer Ratlosigkeit verantwortbar annähert, dann ist das ein ganz legitimer, moralisch-ethisch begründeter Prozess, der davon bestimmt wird, dass wir prüfen wollen, ob Menschen geholfen werden kann. Das mag in vielen Fällen nicht möglich sein. Deshalb entsteht am Ende vielleicht nur ein bescheidener Beitrag, geringer als das, was sich viele Forscher heute erhoffen. Aber für einen einzigen Menschen kann ein solch bescheidener Beitrag schon etwas ganz Großartiges sein. Ich denke an einen Mukoviszidosekranken, von dem der frühere Bundespräsident Herzog sprach. Er will ihm nicht erklären, warum ihm nicht geholfen werden kann - auch ich nicht! Deshalb möchte ich Sie bitten, mit uns zusammen in Deutschland nach langer Diskussion eine Mehrheit dafür zu finden, die es uns ermöglicht, diesen verantwortbaren Versuch zu unternehmen. Er ist vertretbar. ({6}) Argumente sollten den Zusammenhang mit der Lebenswirklichkeit nicht ganz außer Acht lassen. Wenn man sagt, menschliches Leben beginne mit der Befruchtung und das sei schon ein Mensch, dann nimmt man eine großflächige rechtsethische Bewertung vor. Diese Bewertung habe ich hier gehört und ich habe sie in deutschen Feuilletons gelesen. Diejenigen, die so vorgehen, müssen aufpassen, dass sie nicht schon dann in gewaltige geistigmoralische Konflikte kommen, wenn sie über Verhütungsmittel diskutieren. Wir nehmen in unserer Lebenswirklichkeit die Spirale hin, führen aber im weiten Rahmen ethisch aus, wo das Leben und der Mensch beginnen, und zerbrechen uns den Kopf über die Präimplantationsdiagnostik. Neulich schrieb ein kluger Mann einen langen Leserbrief an eine Zeitung und führte uns die Lebenswirklichkeit vor Augen. Er schrieb, dass Embryonen, die der Mutter nicht eingepflanzt worden sind, ihr Leben in Tiefkühlfächern in Kliniken fortsetzen - prägen Sie sich das Bild ein: ihr Leben in Tiefkühlfächern in Kliniken fortsetzen -, ohne jede Chance, dieses Gefängnis jemals verlassen zu können. Dann fragt er, warum diese Dauerexistenz im Kühlfach, woraus es kein Entrinnen gibt, mit der Menschenwürde gesunder Embryonen vereinbar ist, aber schwerlich mit der Menschenwürde schwerbeschädigter Embryonen unvereinbar sein soll? Es ist eine zugespitzte Frage. Diese Frage muss aber so zugespitzt werden, weil die Präimplantationsdiagnostik und das, was wir erforschen können, uns vor solchen Zuspitzungen nicht bewahrt. Unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde wird es immer eine Abwägung geben. Wir, die Fraktion der Freien Demokraten und ich persönlich, sprechen uns deshalb dafür aus, die Präimplantationsdiagnostik zuzulassen, weil wir nicht verstehen können, warum angesichts der Lebenswirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland die Pränataldiagnostik in einem fortgeschrittenen Stadium der individuellen menschlichen Lebensentwicklung erst die mit hoher Tötungsgefahr für die Leibesfrucht verbundene Konfliktsituation schafft, die die Präimplantationsdiagnostik verhindern könnte. ({7}) Wir führen überzeugende Argumente ins Feld. Wir haben in unserer Fraktion eine große Mehrheit gefunden. Aber niemand von uns denkt daran, einen Fraktionsbeschluss zum Maßstab für alle zu machen. Natürlich wird jede Kollegin und jeder Kollege nach eigenem Gewissen abstimmen. Das war übrigens auch bei dem Mehrheitsbeschluss der Fall. Diese Entscheidung hat sich niemand leicht gemacht. Ein Teil der Öffentlichkeit hat kritisch festgestellt, wir hätten zu schnell entschieden. Ich kann nicht jeden Feuilletonchef in die Fraktion der F.D.P. einladen. Wir diskutieren seit zwei Jahren. Wer unsere Diskussion aufmerksam verfolgt hat, kennt unsere Position. ({8}) Wir haben uns diese Entscheidung vom Frühjahr wahrhaftig nicht leicht gemacht. Die deutsche Gedankenschwermut, die große Metaphysik und dieses tränenreiche Gesicht zeigen wir nicht. Wir schauen schon mit etwas Zuversicht auf die Möglichkeiten und die Potenziale, die unsere Forschungslandschaft bietet. Ich möchte denen, die anders denken als ich, sagen: Ich finde es eine Missachtung menschlichen Leids, im Übrigen auch eine Missachtung der Wünsche von Paaren, die ja nicht leichtfertig einen Kinderwunsch hegen - es ist in Deutschland nicht gerade Mode geworden, Kinder haben zu wollen; es wäre ja schön, wenn es mehr Kinderwünsche gäbe ({9}) und die genetisch vorbelastet sind, wenn man das Totschlagargument anführt, es gebe keinen Rechtsanspruch auf diese Art medizinischer Hilfe. Beispielsweise verdient der Kinderwunsch von Paaren, sofern er in einer offenen Gesellschaft in vertretbarer Weise erfüllt werden kann, Respekt, wenn diese Paare nicht in der Lage sind, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, wie das in vielen Familien der Fall ist. ({10}) Es ist daher falsch, davon zu sprechen, der eine habe die Moral für sich und der andere gegen sich. Am Ende werden sich in den Abstimmungen Überzeugungen gegenüberstehen. Entscheidend ist aber, dass wir die Diskussion mit menschlichem Maß führen und dass jeder am Ende gemäß seinem Gewissen entscheiden kann. Ich sage abschließend: Wir wollen die Chancen suchen. Wir sind der Überzeugung, dass das Kriterium der Hilfe, die wir Menschen gegen ihr Leid geben, ein wichtiges Argument dafür ist, in Deutschland die Forschung in diesem Bereich in gewissen Grenzen zuzulassen. Wir halten das für verantwortbar. Wir vertrauen auch denen in Deutschland, die zukünftig im Rahmen einer gesetzlichen Regelung forschen. Es gehört - das sage ich zum Schluss - in diese Diskussion: Niemand darf glauben, dass wir durch ein Gesetz verhindern oder hemmen können, dass eine Forscherpersönlichkeit Missbrauch betreibt. Weder mit Gesetz noch ohne Gesetz kann das immer und überall sichergestellt werden. ({11}) Es führt deshalb nichts daran vorbei, dass wir uns immer wieder untereinander verständigen und aufmerksam bleiben müssen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Pia Maier, PDS-Fraktion.

Pia Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003449, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle kennen eineiige Zwillinge. Sie sehen sich ähnlich, aber sie sind nicht gleich. Dabei stammen sie aus nur einer befruchteten Eizelle, die sich in einer Laune der Natur so geteilt hat, dass zwei Organismen entstanden, die zunächst genetisch identisch sind. Dennoch entstehen nie identische Menschen. Der Mensch ist nicht nur ein natürliches, sondern auch ein soziales Wesen. ({0}) Ein Mensch entsteht nach meinem Verständnis nicht nur durch den biologischen Akt der Zeugung. Die befruchtete Eizelle verfügt über das Potenzial, Mensch zu werden. Aber ohne die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter gibt es keine Menschwerdung. Oder anders gesagt: Ohne die positive Entscheidung der Frau wird aus der befruchteten Eizelle kein Mensch. Daher wird nach meinem Verständnis die vollständige Gleichsetzung von Embryonen innerhalb und außerhalb des Mutterleibes dem Phänomen der Menschwerdung nicht gerecht, denn diese Sicht negiert die Rolle der Mutter und alle sozialen und psychischen Einflüsse. Embryonen, die außerhalb des Leibes erzeugt werden, bergen das Potenzial zu menschlichem Leben und unterscheiden sich damit von x-beliebigen Dingen. Sie dürfen keinesfalls aus egoistischen Motiven hergestellt, aufgrund von Designwünschen verworfen oder zu Profitzwecken erzeugt werden. Die Gleichsetzung der befruchteten Eizelle und des werdenden Menschen mit vollen Schutzrechten steht meiner Meinung nach gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Diese Gleichsetzung bedeutet, konsequent zu Ende gedacht, ein völliges Abtreibungsverbot und ein Verbot der Spirale als Verhütungsmittel. Eine solche Sichtweise lehne ich ab, denn ich finde: Frauen sollten weiterhin Herr über ihren Körper bleiben. ({1}) Die aus Embryonen gewinnbaren Zellen bergen offensichtlich Heilungschancen, die anders nicht zu erreichen sind. Diese gilt es zu erforschen. Hier gilt es abzuwägen, ob die Interessen der Kranken an Heilung höher einzuschätzen sind als die Nutzung möglichen menschlichen Lebens. Keinesfalls dürfen andere Methoden vernachlässigt werden. Aber hier ist der Gesetzgeber gefragt. Möglichkeiten, die Menschen helfen könnten, gar nicht erst zu erforschen, erscheint mir ethisch nicht vertretbar. Ob der Gefahr des Missbrauchs durch Einzelne ganze Forschungsansätze zu verbieten, entmündigt uns selbst, wenn wir uns nicht zutrauen, Kontrolle und Überwachung leisten zu können. Meine Damen und Herren, noch ein Gedanke zur Präimplantationsdiagnostik. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass hier ein fauler Kompromiss aus der Abtreibungsdebatte offensichtlich wird. Solange die Spätabtreibung über den Weg der medizinischen Indikation erlaubt ist, weil ein behindertes Kind geboren werden würde, ist das Verbot der PID für betroffene Frauen ein tiefer Widerspruch. Wenn mit einer künstlichen Befruchtung ohnehin in die Natur eingegriffen wird, ist es für die betroffene Frau besser, die befruchteten Eizellen werden untersucht, bevor sie in ihr zu einem Menschen heranwachsen, statt sie später möglicherweise abzutreiben. Die Methode der PID auf Fälle zu begrenzen, in denen diese Form der Diagnostik wirklich hilft, das ist unsere Aufgabe als Parlament. Zum Schluss möchte ich noch einmal deutlich sagen: In dieser Debatte hilft es weder, wegen der Befürchtungen, was alles passieren könnte, alles zu verbieten, noch hilft es, alles, was wissenschaftlich machbar ist, auch ethisch für vertretbar zu halten. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Struck, CDU/CSU-Fraktion. ({0}) - Ich korrigiere mich: SPD-Fraktion.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ging aber wirklich zu weit, Herr Präsident. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die öffentliche Wahrnehmung vieler Debatten verläuft bei uns in Deutschland nach einem eigenartigen Prinzip - die jetzige über die Gentechnik ist übrigens ein Musterbeispiel dafür -: Solange sich die Debatte im wissenschaftlichen, forschenden, medizinischen Bereich bewegt, werden die widerstreitenden Meinungen in den Feuilletons und in den Wissenschaftsteilen der Medien positiv, als Ringen um den richtigen Weg beurteilt. Sobald sich diese Suche aber in den politischen Bereich, in die Parteien verlagert, wird das Ringen und Suchen in den Schlagzeilen der gleichen Medien unversehens in Streit umgemünzt. Das ist eine grobe und unzulässige Verkürzung. ({0}) Denn in diesen politischen Kontroversen spiegelt sich lediglich die Breite wider, wie sie exakt auch in der Forschung und in der Philosophie zu finden ist. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft vertritt eine andere Meinung als der Deutsche Ärztetag. Die evangelische Kirche setzt andere Akzente als die katholische. ({1}) Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einer anderen Qualität von Fragen zu tun als bei all denen, die wir in dieser Legislaturperiode beantworten und entscheiden mussten. Ich will für mich freimütig gestehen: Ich bin weit davon entfernt, Rat geben zu können. Ich suche Rat, um mich entscheiden zu können. Und ich räume ein: Meine Entscheidung fällt mir nicht leichter dadurch, dass die Forschung im Bereich der Präimplantationsdiagnostik eher drängt und die deutsche Ärzteschaft in ihrer Mehrheit eher mahnt. Johannes Rau hat Recht, wenn er sagt, dass sich jeder Einzelne von uns in seiner Entscheidung hinter keiner Enquête-Kommission des Bundestages, keinem Ethikrat der Regierung, keiner Empfehlung des Ärztetages oder keiner Denkschrift der Kirchen verstecken darf. Aber ich glaube ebenso, jede einzelne dieser Empfehlungen kann jedem Einzelnen helfen, zu einer Entscheidung zu kommen. Niemand kann dem Gesetzgeber Entscheidungen abnehmen. Umso wichtiger ist es, dass er sich gründlich beraten lässt. ({2}) Es gehört zur Ungeduld dieser Zeit, dass die Suche nach Lösungen gern als Zaudern, als Drücken vor Verantwortung interpretiert wird. Lösungen müssen da sein, bevor die Probleme ausgebreitet und erörtert sind. Aber nicht das Drängen der Leitartikler darf für uns ausschlaggebend sein. Wir müssen vielmehr all die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen, für die diese Fragen mit Ängsten und Befürchtungen besetzt sind. Die Medien haben die Pflicht, zu drängen und die Politik zu Lösungen zu mahnen. Aber ich muss offen sagen: Der Rigorismus, mit dem in diesen Fragen mancherorts eine Meinung vertreten wird, ist unangemessen und trägt nicht weiter. ({3}) Er hilft nicht bei der Problemlösung, sondern führt eher zur Verhärtung der Positionen. Im Gegensatz dazu finde ich es durchaus positiv, wie viele Fragen die meisten Beiträge der Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses, die diese bislang zu den Themenkomplexen veröffentlicht haben, enthalten - die sie auch in dieser Debatte artikuliert haben -, wie sie sich bemühen, Antworten auf diese schwierigen Fragen zu finden - übrigens nicht nur hier, sondern auch in meiner Fraktion. Ein Alleinvertretungsanspruch verbietet sich bei diesen Fragen. Es muss Platz für kontroverse Meinungen bleiben. Wir haben das Recht, ja die Pflicht zum Zögern, meine Damen und Herren. Es gehört kaum etwas dazu, seine Meinung in Talkshows auszubreiten. Aber es gehört sehr viel dazu, Meinungen und Mehrheiten gerade in solch schwierigen Fragen, wie sie die Kollegin Margot von Renesse in ihrer Einleitung so hervorragend skizziert hat, zu organisieren, Regelungen zu finden, die die Gesellschaft zusammenführen, statt sie zu spalten. Ich lehne es ab, bei meiner Entscheidungsfindung lediglich die Interessen der Wissenschaftler zu berücksichtigen, die damit drohen: Wenn ihr nicht bald eine positive Entscheidung über die Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt, wenden wir uns ab vom Standort Deutschland. Mir steht es nicht an, diesen Standpunkt zu verurteilen. Aber im Gegensatz zu diesen Forschern dürfen wir nicht nur die Interessen der Handelnden, sondern müssen auch den Schutz des behandelten Lebens im Auge behalten. Und umgekehrt: Ich habe Verständnis für alle, die zur Vorsicht raten und beispielsweise die Präimplantationsdiagnostik ablehnen. Aber ich frage auch: Sind wir in der Lage, die Entwicklung bei PID aufzuhalten? Haben wir die Chance, auf einem globalisierten Forschungsmarkt eine Insel der Restriktiven zu bleiben? Oder ist es vielleicht ein Stück doppelter Moral, diese Forschung bei uns zu verbieten und darauf zu hoffen, dass die Errungenschaften der Forschung aus dem Ausland zu uns herübergetragen werden? Oder riskieren wir stillschweigend einen Gentourismus, wie wir in den 60er- und 70er-Jahren einen Abtreibungstourismus in Kauf genommen haben? Ich habe mit großem Respekt das Bekenntnis von Altbundespräsident Roman Herzog gelesen, der geschrieben hat - es ist schon vom Kollegen Gerhardt zitiert worden -: Ich bin nicht bereit, einem muskoviszidosekranken Kind, das, den Tod vor Augen, nach Luft ringt, die ethischen Gründe zu erklären, die die Wissenschaft daran hindern, seine Rettung möglich zu machen. ({4}) Er beschreibt treffend das Dilemma, vor dem wir stehen, wenn wir unsere Entscheidung treffen. Wir brauchen sie nicht heute oder morgen zu fällen. Wir führen diese Debatte hier ja gerade deshalb, weil wir darüber eine breite Diskussion in der ganzen Gesellschaft wollen. Ich bin mit Bundeskanzler Gerhard Schröder der Meinung, dass wir uns bei möglichem Handlungsbedarf nicht unter Druck setzen lassen sollten. Als Erstes wäre dann zu klären, welche Handlungsräume das Embryonenschutzgesetz erlaubt. Ich selbst bin in vielen der sich hier stellenden Fragen überhaupt noch nicht festgelegt. Fest steht dagegen für mich, dass die hier zu klärenden Fragen keine Fragen von Fraktions- oder Parteidisziplin sind. Ich werbe dafür, dass alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus mögliche zukünftige Entscheidungen allein nach ihrem Gewissen fällen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Menschliches Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Das ist für mich der Fixpunkt in der heutigen Debatte und das ist für mich in der christlichen Verantwortung vor Gott begründet. Wenn wir heute - in einer Zeit, in der wir wissen, dass wir am Anfang von vielen technischen Möglichkeiten stehen - hier eine Debatte führen, dann ist es gut und richtig, einen solchen Fixpunkt zu haben. Wir müssen aufpassen, dass wir einen solchen Fixpunkt nicht deshalb verschieben, weil wir gerne zu manchen Entscheidungen kommen würden, die mit diesem Fixpunkt nicht vereinbar sind. ({0}) Ein solcher Fixpunkt verschafft Klarheit. Er ist aber nicht starr und gibt deshalb auf viele Fragen, die uns gestellt werden, keine abschließenden Antworten. Uns sind Fragen von der Ärzteschaft in Bezug auf PID gestellt worden, uns sind Fragen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bezug auf die Frage der embryonalen Stammzellenforschung gestellt worden. Wir brauchen deshalb neben einem solchen Fixpunkt auch Maßstäbe für unsere Debatte. Der erste Maßstab ist: Dürfen wir in einem internationalen Umfeld national entscheiden? Ich sage - deshalb gefällt mir der vorschnelle Vergleich mit der Insellösung nicht -: Wir sind als Abgeordnete in diesem nationalen Parlament verpflichtet, Entscheidungen zu treffen, ({1}) und unsere Entscheidungen müssen unabhängig davon gefällt werden, was andere - mit Sicherheit mit respektablen Argumenten - entscheiden. Der zweite Maßstab ist für mich, dass die Würde des Menschen als Wert absolut ist. Der dritte Maßstab ist: Wenn es um Güterabwägung geht - ganz offensichtlich sind Antworten auf viele konkrete Fragestellungen nicht ohne Güterabwägung möglich -, dann darf nur menschliches Leben gegen menschliches Leben abgewogen werden. ({2}) Deshalb warne ich auch vor falschen Vergleichen. Ich habe die Aussage von den ideologischen Scheuklappen, Herr Bundeskanzler, im Zusammenhang mit dieser Debatte als ausgesprochen unangemessen empfunden. ({3}) Der Wirtschaftsstandort Deutschland - bei aller Wichtigkeit, bei aller Notwendigkeit und bei aller Sehnsucht der Menschen nach Arbeitsplätzen - wird nicht auf der gleichen Ebene behandelt wie die Abwägung der Güter, die wir in den Fragen der Gentechnik vorzunehmen haben. ({4}) Weil diese Güterabwägungen so schwierig sind, müssen wir uns Zeit nehmen; Maria Böhmer hat es bereits gesagt. Gründlichkeit geht hier vor Schnelligkeit. Um unsere Entscheidungen treffen zu können, müssen wir sie in einen vernünftigen Prozess einmünden lassen. Deshalb halte ich diese Debatte heute für ausgesprochen wichtig. Nun werden die Fragen konkret. Wie ist es mit der Präimplantationsdiagnostik? Es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind. Es gibt nicht einmal ein Recht auf ein Kind. Aber es gibt doch den Wunsch nach einem gesunden Kind. Genauso gibt es die Hoffnung auf ein gesundes Kind. Diese Hoffnung haben wir immer wieder durch medizinische Möglichkeiten zu erfüllen versucht. Dass wir dies getan haben, ist doch niemals ein Grund dafür gewesen zu sagen: Behinderte bzw. Kranke sind in unserer Gesellschaft nicht willkommen. Ich finde, das müssen wir ganz deutlich feststellen. ({5}) Natürlich ist die Präimplantationsdiagnostik eine neue Methode, bei der wir uns fragen müssen: Halten wir den Dammbruch hin zur Selektion auf? Für mich wiegen die Bedenken derer, die diese Frage verneinen, außerordentDr. Peter Struck lich schwer. Aber vielleicht war schon die Pränataldiagnostik ein solcher Dammbruch. Ich bin deshalb sehr froh, dass wir uns entschieden haben zu sagen: Wir wollen die Präimplantationsdiagnostik, die Pränataldiagnostik und das schwierige Problem der Spätabtreibungen in einem Zusammenhang besprechen, weil sich diese Dinge nicht voneinander trennen lassen. ({6}) Ich persönlich betone: Für den Fall, dass jemand ein behindertes Kind hat, dass jemand - wie in Amerika geschehen - ein Kind hat, das dem Tod geweiht ist, und ein zweites Kind will, weil er die Hoffnung auf ein gesundes Kind hat und dieses zweite Kind vielleicht dazu beiträgt, das erste zu retten, fällt es mir schwer, radikal zu sagen: Nein, in diesem Fall unterstütze ich die Präimplantationsdiagnostik auf keinen Fall. ({7}) Sicherlich müssen wir uns eines Tages entscheiden. Aber bevor wir in dieser Frage keine Entscheidung getroffen haben, darf es in Deutschland keine PID geben. Auch das ist klar. Lassen Sie uns dies gut überdenken. Viel wichtiger ist die Frage der Forschung an embryonalen Stammzellen, weil dort die Dynamik der Forschung am stärksten ist. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat uns Empfehlungen auf den Tisch gelegt. Dazu ist heute wenig Konkretes gesagt worden. Herr Bundeskanzler, ich bin genauso wie Sie der Meinung: Wir wollen das Embryonenschutzgesetz nicht ändern. Aber zur Ehrlichkeit gehört, zu sagen, dass im Rahmen dieses Embryonenschutzgesetzes das Verwenden von so genannten nicht mehr gebrauchten Embryonen nicht zulässig ist. ({8}) Ich halte das für richtig und deshalb dürfen wir uns an dieser Stelle nicht in die Tasche lügen. Ich gehe weiter und sage: Der Import von pluripotenten Stammzellen, die aus embryonalen Stammzellen gewonnen wurden, ist mit dem Geist des Embryonenschutzgesetzes nicht vereinbar. ({9}) Diese konkrete Möglichkeit ist 1990 nicht erkannt worden; das ist richtig. Aber die Tatsache, dass dies nicht erkannt wurde, ist für mich noch lange kein Grund dafür, über diese Hintertür bzw. diese Gesetzeslücke die Forschung an embryonalen Stammzellen zu ermöglichen, die nach der Rechtslage in Deutschland so nicht erlaubt wäre. Deshalb sage ich: Ich würde mir von dieser Debatte wünschen, dass wir die Deutsche Forschungsgemeinschaft bitten, auf den Import von Stammzellen zu verzichten und ein Moratorium einzugehen, bevor wir uns in diesem Hause darüber geeinigt haben, ob wir die Forschung an embryonalen Stammzellen wollen oder nicht und, wenn ja, unter welchen Bedingungen. ({10}) Ich sage dies als Physikerin, als Naturwissenschaftlerin, in dem vollen Wissen um den Drang, um den Wettbewerb und die Wünsche der Forscher, vieles zu schaffen. Ich sage es in der Erwartung, dass uns in Deutschland die Forschung an adulten Stammzellen ungeahnte Möglichkeiten brächte, an dieser Stelle wirklich führend in der Forschung zu sein. Darum sollten wir gemeinsam ringen. Deshalb hätte ich mir an dieser Stelle, Herr Bundeskanzler, zu den ganz konkreten Anliegen der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein klares Wort gewünscht. Die Wissenschaftler wollen wissen, was wir in diesem Hause zu dem, was sie uns aufgeschrieben haben, sagen. Ich wünsche mir ein Moratorium, keine Änderung des Embryonenschutzgesetzes und habe deshalb auch Schwierigkeiten mit der Forschung an den Embryonen, die angeblich nicht mehr gebraucht werden. Denn was tun wir dann, wenn die Zahl dieser Embryonen eines Tages nicht mehr ausreicht und wir weitergehen müssen? Ich möchte keine verbrauchende Embryonenforschung. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Vollmer?

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Deshalb werden wir weiter debattieren und diskutieren müssen. Unsere Entscheidungen sollten wir immer im Bewusstsein unserer Maßstäbe treffen. Wir sollten sie - das sage ich für mich - im Bewusstsein unserer Fixpunkte treffen. Ich sage auch: An die Christlich Demokratische Union Deutschlands werden in dieser Debatte vielleicht höhere Maßstäbe als an andere Parteien gesetzt. ({0}) Ich sage dies im vollen Bewusstsein dessen, was ich lese und höre. ({1}) An uns werden höhere Maßstäbe als an andere gesetzt. ({2}) Dies macht die Debatte für uns nicht einfacher, weil nämlich die Verpflichtung auf das christliche Menschenbild noch keine konkrete politische Entscheidung beinhaltet. Aber ich sage auch und besonders in diesem Hause - dies gestatten Sie mir bitte -, ({3}) dass uns diese Verantwortung stolz macht, dass wir uns dieser Verantwortung bewusst sind, dass wir uns ihr stellen wollen und dass wir dies in aller Ernsthaftigkeit, selbst bei unterschiedlichen Antworten, tun werden. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Bei dieser zweifellos hochanspruchsvollen Menschenrechtsfrage der Moderne bin ich außerordentlich froh, über ein besonderes Privileg zu verfügen, das wir alle gemeinsam teilen: das weltanschaulich offene, in unserer Verfassung verankerte ganzheitliche Menschenbild im Sinne der Aufklärung, das es uns erlaubt, bei den Grenzziehungen, zu denen wir aufgrund der Entwicklungen in der Bio- und Gentechnologie aufgerufen sind, die moralischen, ethischen Werte zu wahren. Die Debatte heute ist so neu nicht. Sie begann, als sich die Frage stellte: Ist der Mensch schon tot, wenn keine Hirnfunktionen mehr zu messen sind? Die neuen Therapiemöglichkeiten der Biotechnik am Menschen stellen uns vor die Frage: Müssen wir unser Verständnis vom Menschen ändern, den Beginn und das Ende des Lebens neu definieren, um aus der Leiblichkeit eines anderen ein Hilfekonzept, ein Therapiekonzept für die moderne Medizin zu entwickeln? Auch wenn die Frage nach dem Ende des Lebens heute so nicht mehr aufgeworfen wird, so hat sie doch zentrale Bedeutung bei der Frage, welchen grundrechtlichen Schutz der Embryo genießt. ({0}) Der Embryo ist ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Mit Erstaunen muss ich feststellen, dass nicht mehr von der Frau die Rede ist. ({1}) Wir sprechen von Pränataldiagnostik und tun so, als sei das eine Therapieform. Wir tun so, als würden Frauen eine Schwangerschaft auf Probe eingehen, um sich im fünften oder sechsten Schwangerschaftsmonat über eine Diagnostik Gewissheit darüber zu verschaffen, ob sie bereit sind, diese Schwangerschaft bis zum Ende aufrechtzuerhalten. Es erschreckt mich zutiefst, dass man Frauen ein solches eugenisches Denken und Handeln unterstellt. ({2}) Wir müssen den ärztlichen Behandlungsauftrag ins Zentrum rücken, denn die ärztliche Indikationsstellung ist es, die die Pränataldiagnostik in der Schwangerschaft erst ermöglicht, und sie ist zu einem Screening-Verfahren geworden. Ich kenne keinen § 218, der eine eugenische Indikation kennt. Es gibt keinen ärztlichen Behandlungsauftrag zur Selektion. ({3}) Ich verwahre mich dagegen, dass die Fehlentwicklungen in der Pränataldiagnostik heute zur falschen Argumentationsgrundlage genommen werden, um die Präimplantationsdiagnostik zu etablieren. ({4}) Eine wichtige Aussage möchte ich noch machen. ({5}) Ohne die künstliche Befruchtung gäbe es das Interesse an der Verwertung des menschlichen Embryos in seinem frühen Entwicklungsstadium nicht. Erst die Entleiblichung, die Entsexualisierung, die Entsinnlichung und das Herauslösen aus dem Verantwortungskontext der Fruchtbarkeit hat uns diese neuen ethisch-moralischen Fragen gebracht. ({6}) Der Embryo in vivo ist in seinen frühen Zuständen in nichts unterscheidbar von dem Embryo in vitro, ({7}) außer in einem: Er ist in seinem schutzlosesten Zustand in die Welt gekommen; die Frau trägt ihn nicht. Deshalb ist die Gesellschaft verpflichtet gewesen und muss es bleiben, ihn - weil er ohne die Frau auf der Welt ist - bedingungslos zu schützen, ihn nicht zum biologischen Material werden zu lassen. ({8}) Grundlegend für diese Diskussion, die zu begreifen wir erst anfangen, möchte ich sagen: Die Menschenrechtsfrage der Moderne ist eine Frauenfrage, wie es noch keine gab. Lassen Sie uns diese menschenrechtsdogmatische Herausforderung annehmen und nichts und niemanden in Dienst setzen, instrumentalisieren oder gar verdinglichen. Danke schön. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die F.D.P.-Fraktion erteile ich das Wort der Kollegin Ulrike Flach.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der knappen Zeit möchte ich mich auf eines der beiden zentralen Themen beschränken, und zwar auf die Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland. Roman Herzog ist hier bereits zitiert worden. Aber seine Aussagen sind so treffend, dass ich ihn noch einmal heranziehen möchte: Das Recht erbkranker Menschen, durch weitere Forschung gerettet zu werden, hat auch den Wert menschlichen Lebens an seiner Seite. Genau das ist der Grund der Beschlüsse der F.D.P. Es darf nicht um ökonomische Gründe gehen - das kann in diesem Zusammenhang nicht der entscheidende Faktor sein - nicht um die Befriedigung reiner Neugier der Forscher und schon gar nicht um unbedarfte oder naive Forschungsgläubigkeit. Aber es geht um die Chance, schwer kranken Menschen in diesem Lande in absehbarer Zeit zu helfen. Deswegen, Frau Merkel, bin ich in dieser Frage dezidiert gegen ein Moratorium. ({0}) Die Zahl derjenigen, die sich von der Stammzellenforschung Therapiemöglichkeiten erhoffen, ist riesig: 150 000 Menschen in Deutschland leiden an Multipler Sklerose, 700 000 an Epilepsie, 200 000 an Parkinson und 500 000 an Alzheimer. Meine Damen und Herren, ich kann es auch ethisch nicht verantworten, diesen Betroffenen zu erklären: Wir haben eine - wenn auch kleine - Chance, Hilfe für euch zu finden, aber wir nutzen sie nicht. ({1}) Vor diesem Hintergrund müssen wir lernen, wie die Programmierung von Stammzellen in bestimmte Gewebetypen funktioniert, um eines Tages gezielt Nerven-, Herz-, Leber- oder Muskelgewebe zu züchten. Ich sage bewusst „eines Tages“, denn hier handelt es sich eben nicht um Heilsversprechen, sondern um langfristig angelegte, ungeheuer komplexe Forschungsvorhaben. Die letzten Monate haben gezeigt, dass wir wertvolle Chancen ignorieren würden, wenn wir uns nur mit einem Teil der Zellen, den erwachsenen Stammzellen, beschäftigen würden. Wir können und wollen die Möglichkeiten der embryonalen Stammzellen nicht außen vor lassen. Meine Damen und Herren, die Diskussion hat sich in den letzten Wochen von einem weit ausholenden Rundumschlag auf einen Kompromissvorschlag der deutschen Forscher konzentriert: Wie kann sich Deutschland an einer internationalen Embryonenforschung beteiligen, ohne dabei gezielt Embryonen für Forschungszwecke herzustellen? Es geht eben nicht um fabrikmäßig hergestellte Forschungsembryonen, sondern es geht um überzählige embryonale Zellkörper, die bei der künstlichen Befruchtung entstehen und derzeit eingefroren werden. Wir gehen nach allen Aussagen der Fachmediziner für künstliche Befruchtung von circa 15 bis 30 derzeit in Deutschland in Kühltruhen lagernden echt verwaisten Embryonen aus.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte gern mit meiner Rede fortfahren. Deren Entwicklung ist unterbrochen, ihr Lebensrecht eingeschränkt, und zwar faktisch für immer. Das deutsche Recht erlaubt keine Adoption vor der Geburt, es lässt nur die Wahl zwischen Einpflanzung in die Mutter und ewigem Eis. Um diese Abwägung handelt es sich, und nicht um apokalyptische Schreckensbilder. Es geht um die Frage „Ethik gegen Ethik“. Natürlich darf dies nur mit ausdrücklicher Einwilligung der Spender nach vorheriger intensiver Beratung in ganz wenigen, eigens dafür lizenzierten Zentren und mit völliger Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit geschehen. Das wollen wir. Dafür steht die liberale Partei: nicht nach Wildwestmanier, sondern streng kontrollierte Forschung. ({0}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend zu einem Fazit aus unserer Sicht kommen: Viele der heute vorgetragenen Ängste vor abschüssigen Entwicklungen dürften sich als unbegründet, die meisten echten Gefahren als hinreichend kontrollierbar erweisen. Gesetzesänderungen können befristet und dann den Erfahrungen angepasst werden. Wir sollten nach langen Diskussionen die engen Klammern des Embryonenschutzgesetzes vorsichtig lockern und die in ihnen festgeschriebene Verweigerung der Chancen für Hunderttausende von Schwerstkranken beenden. Menschliche Entwicklung ist niemals risikofrei; das wissen wir alle. Daraus den Schluss einer Blockade jeder noch so positiven Entwicklung zu ziehen ist aus unserer Sicht moralisch zumindest ebenso zweifelhaft. Politisch wie ethisch dürfte es nicht zu den kleinsten Risiken einer modernen Gesellschaft gehören, keine Risiken mehr einzugehen. Ich danke Ihnen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Angela Marquardt für die PDS-Fraktion das Wort.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dies ist nicht nur eine Debatte über die Zukunft, sondern auch eine Debatte, die die Gegenwart betrifft. Die Verkündung der so genannten Entschlüsselung des menschlichen Genoms hatte geradezu etwas Religiöses. Man dachte, die Genetiker hätten auf dem Berg Sinai neue Gesetzestafeln gefunden. Jahrelang galt die Entschlüsselung des Genoms als die große Vision. Doch kaum war das Ziel erreicht, bestand schon wieder eine neue: Es wird nicht mehr von großen Erkenntnissen durch das Genom gesprochen, sondern von der nächsten Ebene der Proteine oder der Funktionsanalyse der Gene. Noch sei das Rätsel nicht gelöst, also müssten wir selbstverständlich weiterforschen. Dann erst wüssten wir, wie der Mensch wirklich funktioniert. Immer wieder wird versichert, dass die Wissenschaftler ganz uneigennützig für den Erkenntnisfortschritt der Welt forschen. Aber nicht erst seitdem Professor Rosenthal aus Jena seine aus öffentlichen Mitteln finanzierten Erkenntnissen aus der Genomforschung privat kommerziell verwertet, wissen wir, dass hier auch eine Art Goldgräberstimmung mit Blick auf einen neuen, lukrativen Wirtschaftszweig herrscht. ({0}) Seit vielen Jahren wird über pränatale Diagnostik und ihre Konsequenzen diskutiert. Heute wissen wir, dass es dabei um die Verhinderung der Geburt behinderter Menschen geht. Bei entsprechender Diagnose folgt in nahezu allen Fällen die Abtreibung. Wer dennoch ein behindertes Kind bekommt, ist selbst schuld. Ich glaube, dass damit behinderten Menschen in unserer Gesellschaft jegliche Solidarität endgültig entzogen wird. ({1}) Alte Gentests, bei denen nach einem bestimmten Gen gesucht wurde, muten fast harmlos an, wenn schon heute mithilfe von Genchips Millionen Gene, wie in einer Art Rasterfahndung, auf einmal überprüft werden können. Natürlich ist der flächendeckende Einsatz dieser ArrayTechnologie noch zu teuer. Aber das ist eine Frage der Zeit. Eine Masse an Daten wird angehäuft. Deren Aussagekraft für das Individuum tendiert gegen Null. Dennoch kann dies erhebliche Diskriminierungen nach sich ziehen, wie es das Beispiel der Hämochromatose-Screenings zeigt. Dieser Modellversuch der Kaufmännischen Krankenkasse in Hannover in Zusammenarbeit mit Humangenetikern ist ein Einstieg zur Etablierung von Reihengentests. Hier zeigt sich, wie sich die wirtschaftlichen Interessen von Krankenkassen und die wissenschaftlichen Interessen der Forscher decken können. Nur bei einem geringen Teil der Genträger kommt es zum Ausbruch dieser Eisenspeicherkrankheit, und dies noch in unterschiedlicher Schwere und zu einem völlig ungewissen Zeitpunkt. ({2}) Was kann dieser Test also aussagen? Wie reagieren diejenigen, die auf das Gen positiv getestet wurden, aber nicht erkranken? Werden sie einer Therapie unterzogen, die sie nicht brauchen? Sorgen sie sich unnötig, daran zu erkranken? Schon aus Datenschutzgründen hat die Verbraucherschutzzentrale Versicherte davor gewarnt, an diesen Tests teilzunehmen. Ich kann diese Position nur ausdrücklich unterstützen. ({3}) Was geschieht dann mit den anfallenden Ergebnissen bezüglich anderer so genannter Gendispositionen? Werden Betroffene die Ergebnisse für sich behalten dürfen? Hinzu kommt die Frage, wo diese Ergebnisse gespeichert werden. Denkt man daran, dass der Großteil der vorhandenen DNA-Banken in Instituten und Firmen ohne Zustimmung der Menschen zusammengestellt wurde, von denen die DNA stammt, dann darf man bezweifeln, dass in Zukunft anders verfahren wird. Das Verlangen, Abfragen und Anbieten von Gentests durch Arbeitgeber und Versicherungen muss strikt verboten werden. ({4}) Die Fraktion der Grünen arbeitet an einem Gentestgesetz. Wir werden uns sehr gern an dieser Debatte beteiligen. Ich kann diesen Schritt nur ausdrücklich begrüßen. Aber ich glaube, dass ein Verbot von Gentests für Arbeitgeber und Versicherungen nicht ausreichend ist. Nur wenn die Ausweitung genetischer Tests vollständig gestoppt wird, kann man das Eindringen einer genetifizierten Medizin in Arbeitswelt und Versicherungswesen auf Dauer verhindern. Auf jeden Fall sollte ein Moratorium für die Integration genetischer Tests in die gesetzliche Krankenversicherung verhängt werden. Hier hat die unheilvolle Entwicklung in meinen Augen ihren Ausgangspunkt, eine Entwicklung, die letztlich dazu führt, dass der Mensch nicht mehr die Gesellschaft verbessert und lebenswerter macht, sondern dass sich die Menschen an bestehende Umstände anzupassen haben. Wer genetisch nicht in diese Leistungsgesellschaft passt, ist unerwünscht. Der Mensch wird dann nicht mehr nur eine Ware sein, sondern auch ein Produkt. Spätestens dies wird das Ende der Politik sein. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg von der SPD-Fraktion.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben erheblichen Diskussionsbedarf; das wurde heute vermehrt festgestellt. Diese Diskussion findet auch statt. Sie fand bisher überwiegend in den Medien statt. Der Deutsche Bundestag hat sich aber vorbereitet und die EnquêteKommission zu Recht und Ethik der modernen Medizin gebildet, um sich beraten zu lassen. ({0}) Die Bundesregierung lässt sich ebenfalls beraten - das ist gut so -, denn sie trägt sehr viel Verantwortung. Sie muss Entscheidungen über die Vergabe von Forschungsgeldern fällen. Sie muss die Wirtschaftsförderung richtig gestalten und richtungsweisend sein. Sie muss zum Beispiel auch das Patentrecht gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag umsetzen. Das heißt, wir stehen in gemeinsamer Verantwortung. Wir müssen die richtigen Entscheidungen treffen und brauchen dafür Rat. Der Bundestag hat sein Instrument. Der Bundeskanzler hat bei Hofe - ich darf das so sagen, lieber Gerhard sein eigenes Instrument. ({1}) Ich sage als Abgeordneter sehr selbstbewusst: Die Bundesregierung muss sich beim Regieren beraten lassen. Der Bundestag aber macht die Gesetze. Das soll auch so bleiben. ({2}) - Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist wahr! Das können wir be- stätigen!) Wir müssen feststellen: Wo gibt es dringenden Entscheidungsbedarf? Welche Probleme stehen an? Wenn wir uns das in der Enquete-Kommission mit einem längeren Zeithorizont anschauen, dann sehen wir sehr vieles, was noch auf uns zukommt. Die zwei oder drei Themen, die heute immer wieder angesprochen werden, sind nur ein kleiner Bruchteil dessen, was sich uns in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich als Problem stellen wird. Ich will ganz kurz auf die Kernthemen eingehen. Im Zusammenhang mit der PID hat mich besonders animiert, was Herr Gerhardt gesagt hat. Die Präimplantationsdiagnostik, die im Rahmen der In-vitro-Fertilisation, der künstlichen Befruchtung, im Ausland, soweit sie erlaubt ist, angewandt wird, zu befürworten und gleichzeitig zu sagen, wir bräuchten das auch, um die Forschung nicht zu behindern, macht mich allerdings stutzig. ({3}) Bei der von den Gynäkologen und Reproduktionsmedizinern genutzten Technik braucht man sechs bis acht Embryonen. Im Gegensatz dazu braucht man bei dem bisher in Deutschland genutzten Verfahren zwei bis drei Embryonen. Man braucht also mehr Embryonen, um die richtigen aussuchen zu können. Wenn die Tatsache, dass es dadurch mehr überzählige Embryonen gibt, als Argument benutzt würde, die PID einzuführen, wären wir auf dem Holzweg. Das Problem muss klar angesprochen werden. So etwas geht in Deutschland nicht. ({4}) Wir dürfen nicht so tun, als seien wir die ersten, die darüber nachdenken. In den Vereinigten Staaten hat die Regierung gesagt: Wir beschränken uns auf die Forschungsförderung und ansonsten kann in der Reproduktionsmedizin gemacht werden, was der Markt fordert, das heißt, was die Eltern als Kunden wollen. - In den USA gibt es Leihmütter, Eispenderinnen und Samenspender - das ist alles im Internet abrufbar -; man kann alles, wie in einem Katalog, nach Rasse oder Intelligenzgrad aussuchen. Als wohlhabendes Ehepaar in den USA muss man sich mit den Mühen einer Schwangerschaft gar nicht mehr abgeben. Man kann die Eizelle kaufen, man kann die Samenzelle kaufen, man kann die Leihmutter kaufen und kann sich das Kind machen lassen, wenn man genug Geld hat. Das hat der Markt ermöglicht. Eine solche Entwicklung wollen wir in Deutschland nicht. ({5}) Wir sollen die PID als selektive Diagnostik Reproduktionszentren an die Hand geben, die schon jetzt, zum Beispiel für die Pränataldiagnostik, die vorgeburtliche Diagnostik, Verantwortung haben. Hier wird Missbrauch betrieben; wir haben das heute wiederholt gehört. Mit einer fein auflösenden Diagnostik kann man Behinderungen leicht erkennen und so werden Kinder abgetrieben, weil man meint, sie seien der Mutter nicht zumutbar. Ich habe in einer Diskussion, an der auch Kollegen dieses Hauses teilgenommen haben, erlebt, dass ein Bonner Gynäkologe von Hebammen gefragt wurde: Weshalb haben Sie in Ihrem Hause wegen einer Lippenkiefergaumenspalte der Mutter freigestellt, ihr Kind abzutreiben? Er hat gesagt, das Kind mit der Lippenkiefergaumenspalte wäre der Mutter nicht zumutbar gewesen, sie hätte das nicht ausgehalten. Neben ihm am Tisch saß ein sehr berühmter und sehr guter Pädiater, einer der besten deutschen Kinderärzte; man sah ihm an, dass er als Kind an einer solchen Lippenkiefergaumenspalte operiert worden war. Da wurde für mich sehr deutlich, in welchem Maße dieses Thema auch mit Menschenwürde zu tun hat und worüber wir hier diskutieren. ({6}) Bei dem zweiten Thema, der Nutzung embryonaler Stammzellen, geht es darum, dass am fünften Tag nach der Befruchtung aus der Blastozyste, dem Keimling, Zellen entnommen und kultiviert werden; wir alle haben darüber gelesen. Diese Zellen sind beliebig reproduzierbar und halten sich lange; sie werden standardisiert und im Labor wird eine Zelllinie mit bestimmten Eigenschaften herausgearbeitet, mit denen dann laboriert wird. Diese embryonalen Stammzellen sind als Laborreagenzien weltweit patentiert. Man muss also Lizenzgebühren bezahlen und es gibt Knebelverträge. Das weiß auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft; das heißt, wenn sie solche Zellen kauft, muss sie zum Teil die Rechte an den von ihren Instituten erarbeiteten Ergebnissen abtreten. Aufgrund dieser Tatsache hat sich dieses Verfahren bisher nicht gelohnt. Jetzt aber gibt es auf dem Markt günstigere embryonale Stammzellen aus Australien oder Israel und der Erwerb dieser Zellen ist nicht mit Knebelverträgen verbunden. Ich möchte, dass wir uns darum kümmern, dass bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht deshalb plötzlich eine Wende eingetreten ist, weil die Zellen billiger geworden sind. ({7}) Wir haben uns in der SPD-Fraktion schon lange sehr intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Wir haben bei der Anhörung in der Fraktion nicht nur gehört, dass diesseits des Rubikon noch viel Platz ist, sondern auch, dass unendlich viele Fragen noch nicht beantwortet sind. Es wird mit embryonalen Mäusezellen gearbeitet. Dort gibt es verschiedene Zelllinien, die man erst einmal miteinander vergleichen muss, um zu prüfen, ob sie überhaupt reproduzierbar sind. An Primatenstammzellen ist kaum geforscht worden. Auf dem Gebiet der adulten Stammzellen, die man reprogrammieren möchte, sodass sie vielerlei Verwendung finden können, gibt es noch sehr viel zu erforschen. Dies ist völlig unproblematisch, weil man denjenigen, der die Zelle spendet, fragen kann, ob er mit der Zelle das machen lassen will, was von der Forschung geplant ist. Bei den Regelungen zur adulten Stammzelle gibt es einen breiten Konsens. Einen Embryo kann man dagegen nicht fragen; diesen nutzt man einfach. Wir haben es hier also mit einer anderen Situation zu tun. Deshalb geht es hier um die Menschenwürde. ({8}) Von daher freue ich mich, dass die Bundesregierung ganz klar gesagt hat, dass adulte Stammzellen erforscht werden sollen. Wenn dies richtig durchgeführt werde, sehe die Bundesregierung darin eine nachhaltige Entwicklung in der Biotechnologie. Wir haben die Nachhaltigkeit in der Biotechnologie bisher zu wenig diskutiert; dies ist in der Energiewirtschaft und in vielen anderen Bereichen ganz anders. In der Biotechnologie hat die Nachhaltigkeit etwas damit zu tun, wie sich das, was geplant ist, auf die Regeln auswirkt, nach denen die Menschen zusammenleben, also auf die Solidargemeinschaften und das Wertgefüge. ({9}) Wenn wir in der Biotechnologie Nachhaltigkeit erreichen und eine Akzeptanz bei denjenigen, die später die Medikamente kaufen, erzielen wollen, dann müssen wir uns viel Mühe geben und versuchen, auch im internationalen Wettbewerb - so, wie wir es in der Energiewirtschaft machen - das zu tun, was den geringsten Schaden anrichtet. ({10}) Es würde mich freuen, wenn die adulten Stammzellen weiterhin in den Vordergrund gestellt würden. Es ist nicht nötig, den Engländern, die das therapeutische Klonen erlaubt haben, in der falschen Richtung nachzulaufen. Das brauchen wir nicht. Wir haben in diesem Bereich sehr viel zu tun und können auch in Deutschland noch sehr viele Patente erringen, die weltweit vermarktet werden können. Bei den von Ihnen genannten Heilsversprechungen handelt es sich ja nicht um konkrete Forschungsprojekte, sondern um die Grundlagenforschung. Bei Ihrer Aussage, man könne für Alzheimer-Kranke sowie für Personen mit speziellen Krankheiten etwas tun, handelt es sich um eine reine Akzeptanzbeschaffung mit dem Versuch einer Grenzbrechung. ({11}) Man tut den Menschen, denen man so etwas erzählt, Unrecht und weckt in ihnen falsche Hoffnungen. Dies dürfen wir nicht machen. Margot von Renesse hat in ihrer Eingangsrede gesagt, die Wissenschaft müsse Tabus brechen, sonst komme man nicht weiter. Sie hat Freud und Darwin genannt. Sie hat Recht, wir müssen Tabus brechen. Es sind aber in Deutschland bereits Tabus gebrochen worden, aus denen sich ganz unselige und katastrophale Entwicklungen ergaben. Einige Menschen wurden als lebenswert, andere als nicht lebenswert erachtet. Bei den damals getroffenen Entscheidungen handelte es sich auch um Tabubrüche. Man kann es sich nicht so einfach machen, indem man sagt, man müsse auch einmal Tabus brechen. Wir müssen - das tun wir auch bereits - intensiv darüber diskutieren, wie die Wissenschaft im Auge behalten werden kann, welcher Spielraum ihr gegeben und an welcher Stelle Stopp gesagt werden soll. Die Freiheit der Wissenschaft ist, wie es hier auch schon angedeutet wurde, durch die Menschenwürde begrenzt. Frau Präsidentin, zum Abschluss möchte ich ein kurzes Märchen vorlesen, denn ich finde, dieses passt so gut zum Thema: Ein Bauer haderte mit Gott, weil sein Getreide verhagelt war und die Sonne sein Gras hatte verdorren lassen. Da wandte sich Gott an ihn und bot ihm an, er - der Bauer - möge doch im nächsten Jahr das Wetter selbst gestalten. Der Bauer war dankbar und im nächsten Jahr ließ er es regnen und die Sonne scheinen, worauf seine Äcker prächtig gediehen. Als er jedoch das hoch gewachsene Korn geerntet hatte, stellte er fest, dass die Ähren leer und ohne Früchte waren. Erneut klagte er zu Gott. Der schalt ihn und eröffnete dem Bauern, dass er bei seinem Versuch, die Naturkräfte zu gestalten, leider den Wind vergessen habe; denn der Wind sorgt dafür, dass die Befruchtung stattfindet und sich Körner und Früchte im Getreide befinden. Der Bauer konnte das schnell merken. Die Latenzzeit, in der er seinen Fehler bemerkt hat, betrug eine Saison. Das, was wir hier machen, wirkt sich aber erst in 20, 30 Jahren aus. Wir merken vielleicht erst dann, ob aus den Embryonen, die nach PID aussortiert worden sind, gesunde Kinder hätten aufwachsen können. Dann ist das aber nicht wieder gutzumachen. Das heißt, wir können auf diesem Gebiet nicht korrigierbare Fehler begehen. Das dürfen wir auf keinen Fall tun. Von daher denke ich, dass wir aufpassen müssen, weil die Gefahr, etwas falsch zu machen, an etwas nicht zu denken, sehr groß ist. Wenn wir uns die Vielzahl und den Umfang der genetischen Informationen, die Vieldeutigkeit von Genen, die wir erst erahnen - wir kennen erst Silben des Genoms, die wahrscheinlich in vielen Sprachen unterschiedliche Bedeutung haben -, vor Augen führen, liegt die Vermutung nahe, dass die Sprache des Genoms sogar über Ironie, über Doppeldeutigkeit verfügt. Insofern denke ich, dass wir hier große Fehler machen können.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, das gehört aber jetzt nicht mehr zum Thema Märchen.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das war kein Märchen, Frau Präsidentin. Das war zum Schluss noch einmal ein Rückgriff auf die Wirklichkeit. Ich freue mich auf die Debatte. Wir als Abgeordnete haben uns zu organisieren, weil es die Fraktionen nicht machen. Einige Abgeordnete haben heute angefangen und das Bündnis Menschenwürde wieder ins Leben gerufen. Ich bin sicher, dass es verschiedene Initiativen aus diesem Kreise geben wird. Wir werden uns in einer völlig ungewohnten Weise neu strukturieren, um diese Themen intensiv zu debattieren. Dafür brauchen wir Zeit und gegenseitiges Verständnis. Ich bedanke mich. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/CSU-Fraktion.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der rasante biomedizinische Fortschritt stellt uns vor völlig neue Herausforderungen. Faszinierende Perspektiven mit weit reichenden Auswirkungen eröffnen sich Wissenschaft und Forschung. Aber darf der Mensch alles, was machbar ist? Weder euphorische Überschätzung noch totale Ablehnung der Gentechnik sind richtig. Vielmehr geht es darum, Chancen und Risiken des biotechnologischen Fortschritts gegeneinander abzuwägen. Dabei stellen sich schwerwiegende Fragen, die an die Grundwerte unserer Gesellschaft rühren. Meine Damen und Herren, die Menschenwürde steht nach Art. 1 des Grundgesetzes nicht zur Disposition. Daher kommt dem menschlichen Leben in allen Lebensphasen ein absoluter Schutz zu. Die Schlüsselfrage lautet: Wann beginnt menschliches Leben? Für mich ist klar: Menschliches Leben beginnt mit der Zeugung. Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein eigenständiger Mensch mit allen Anlagen und Fähigkeiten. Damit beginnt dieser eine unverwechselbare Mensch. Nach meiner vollen Überzeugung muss das Leben bereits von diesem Anfang an geschützt werden. Jede andere Bestimmung des Zeitpunktes, ab dem ein voller Lebensschutz gewährt werden muss, wäre willkürlich. Das C in unserem Namen steht für den Schutz von Anfang an, weil wir Anfang und Ende des Lebens aus dem christlichen Glauben heraus definieren. Der Staat ist zum Schutz und zur Förderung allen menschlichen Lebens verpflichtet, und zwar vom frühesten Beginn bis zu seinem Ende. Vor diesem Hintergrund muss die Politik die Rahmenbedingungen für die Entwicklung in der Forschung und deren Anwendung setzen. ({0}) Sie muss dabei die Hoffnung auf künftige Heil- und Hilfsmöglichkeiten ebenso bedenken wie die möglichen Folgen einer vorschnellen Verschiebung ethischer Grenzen. Es geht um eine ethisch verantwortbare Nutzung der Gentechnologie. Für uns, die CSU, ist das christliche Menschenbild der Maßstab dafür. Die Würde und der Schutz des Menschen stehen höher als das Forschungs- und Wirtschaftsinteresse. ({1}) Es wäre fatal, wenn durch vorschnelle Entscheidungen einer Entwicklung, die heute am Anfang steht und noch keinesfalls eingeschätzt werden kann, Tür und Tor geöffnet werden würden. Durch den Vorschlag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Embryonen, die für eine Einpflanzung nicht mehr infrage kommen, für die Forschung zur Verfügung zu stellen, würde nach meiner Überzeugung die Begehrlichkeit zur Herstellung zusätzlicher Embryos im Reagenzglas geweckt; denn nach dem Verbrauch so genannter überzähliger Embryonen wird man entgegen der Rechtslage ihre Herstellung für die Forschung nicht mehr aufhalten können. ({2}) Die Unverfügbarkeit des Lebens lässt nicht zu, dass Eizellen zum Zwecke der Forschung befruchtet werden. Zwar könnte durch die Forschung an embryonalen Stammzellen Menschenleben gerettet werden, jedoch nur um den Preis, dass anderes Leben vernichtet wird. Es steht Leben gegen Leben. Wenn Leben zu Forschungszwecken willkürlich geschaffen werden kann, wird die Grenze des Lebens beliebig. Es kann und darf nicht gegeneinander abgewogen werden. Hinzu kommt, dass selbst in der Wissenschaft die Notwendigkeit des Einsatzes embryonaler Stammzellen umstritten ist. In Deutschland ist erfreulicherweise bei der Forschung an adulten Stammzellen oder an Stammzellen aus Nabelschnurblut ein hohes Niveau zu verzeichnen. Daher ist für mich bei der Abwägung des Lebensschutzes klar: Wir müssen diese Forschung verstärken. Aus der staatlichen Pflicht, menschliches Leben zu schützen, folgt auch die Aufgabe, die Praxis der Pränataldiagnostik einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Testung immer mehr zu einem Screening-Verfahren für Föten entwickelt. Nicht zuletzt aufgrund des so genannten Oldenburger Urteils raten viele Ärzte auch Schwangeren unter 35 Jahren zur Pränataldiagnostik. Damit wird diese zu einer Maßnahme der Qualitätssicherung, die mit der Würde des Menschen nicht mehr vereinbar ist. Auch der ungeborene Mensch hat einen Anspruch auf menschliche Würde. ({3}) Als wir 1995 bei der Reform des Abtreibungsrechts die embryopathische Indikation abschafften, hat die Frage der Pränataldiagnostik eine wichtige Rolle gespielt. Die Entwicklung zeigt jedoch, dass entgegen der damaligen Annahme dieses Verfahren heute bei einer großen Zahl von Schwangeren angewendet und so in vielen Fällen leider ein Automatismus hin zur Spätabtreibung in Gang gesetzt wird. Es droht die Gefahr, dass auch die Methode der Präimplantationsdiagnostik nicht auf eine eng begrenzte Anwendung beschränkt werden kann, wie die Erfahrung in den USA zeigt. Der Fortschritt in der Wissenschaft darf nicht zu einer gesellschaftlichen Entwicklung hin zu einer Unterscheidung zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben führen. ({4}) Es stellt sich die Frage: Was ist eigentlich nicht lebenswertes Leben? Wer kann entscheiden, ob zum Beispiel ein Mensch mit Downsyndrom sein Leben als lebenswert oder als lebensunwert empfindet? Wer kann sich anmaßen, eine solche Entscheidung zu treffen? Der Hinweis, dass die Präimplantationsdiagnostik deswegen erlaubt sein müsse, weil es die Pränataldiagnostik gebe, ist für mich kein Argument. Bei der Pränataldiagnostik wird an dem im Mutterleib heranwachsenden Embryo festgestellt, ob er mit einer Krankheit oder Behinderung behaftet ist. Der Gesetzgeber hat klar festgelegt, dass eine Behinderung kein Grund für eine Abtreibung sein kann. Es geht um die individuelle Abwägung des Lebensrechtes der Mutter und des Kindes. Das steht im Vordergrund. Als Gesetzgeber muss unser Ansatzpunkt sein, Eltern schon vor der Anwendung der Pränataldiagnostik darauf hinzuweisen, in welche Konflikte diese sie bringen kann, und sie nicht als selbstverständlich anzubieten. Bei der Präimplantationsdiagnostik wird bereits der im Reagenzglas erzeugte Embryo auf seine erbliche Belastung hin überprüft. Nur wenn der Embryo als erblich unbelastet getestet wird, wird er in die Gebärmutter der Frau eingesetzt. Im anderen Fall wird er vernichtet. Die PID ist damit von vornherein auf Selektion von menschlichem Leben ausgerichtet. Dies ist aus ethischer und christlicher Sicht nach meiner Überzeugung nicht akzeptabel. ({5}) Es wird die Qualität von befruchteten Eizellen geprüft und nicht mehr Leben gegen Leben abgewogen. Genau das widerspricht unserem christlichen Menschenbild. Ich verkenne nicht, dass mit dieser Methode Menschen geholfen werden kann. Aber heute bereits müssen sich Eltern von behinderten Kindern sagen lassen: Hat denn das sein müssen? Mit der Zulassung der PID würde der Druck auf Eltern mit behinderten Kindern bzw. mit erblichen Krankheiten noch größer werden. Ein behindertes Kind als Schaden für die Gesellschaft anzusehen ist inakzeptabel. Es ist eine Diskriminierung aller Menschen mit Behinderungen. Meine Damen und Herren, Sie alle haben den Brief des Deutschen Behindertenrates vom 29. Mai 2001 erhalten. Darin steht: Menschen mit Behinderungen sind erschrocken, mit welcher Selbstverständlichkeit für die Einführung einer Präimplantationsdiagnostik als Selektionsinstrument argumentiert wird. Gerade als Christen diskutieren wir auf einem sicheren Fundament: der Verantwortung vor Gott und der Schöpfung. Dieses Fundament dürfen wir nicht verlassen. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort der Kollegin Ulrike Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir hier im Parlament diese umfassende Diskussion über die Gentechnik führen; denn die Nutzung der Gentechnik kann unsere Gesellschaft fundamental verändern. Das gilt für den Bereich der Medizin; das gilt aber genauso für die Anwendung gentechnischer Verfahren in der Lebensmittelerzeugung, aber auch beim Tier. Ich bin Agraringenieurin. Im Rahmen meiner beruflichen Praxis und Forschung habe ich Lebewesen selektiert, Lebewesen optimiert. In Kenntnis der Machbarkeit, teilweise aber auch der Nichtmachbarkeit dieser Technik, möchte ich auf die Implikationen hinweisen, die die Übertragung eines solchen Berufsbildes auf die Humanmedizin hat. ({0}) Es gibt Art. 3 des Grundgesetzes, der ein Diskriminierungsverbot enthält, das heißt ein Verbot von Selektion. Es wird unmöglich sein, ohne dieses Fundament unserer Gesellschaft zu verändern, die PID anzuwenden. ({1}) Ich weise hier auch auf das Embryonenschutzgesetz hin. Nicht zulässig ist übrigens auch die Verbindung der Diskussion über § 218, der Abtreibungsdiskussion, mit der Diskussion um die PID. Es ist einfach so, dass sich dieser Paragraph und die Rechtsprechung dazu nur auf einen Konflikt in Bezug auf das Kind im Mutterleib beziehen, auf einen Mutter-Kind-Konflikt. Das können wir nicht einfach übertragen. Das gilt übrigens auch für die Anwendung der Spirale. Ich möchte an alle appellieren, die nötige Trennschärfe nicht aufzugeben. Die DFG, so habe ich in der Diskussion in der Grünen-Fraktion gehört, möchte, unter Bezugnahme auf Professor Wolfrum, zwischen überzähligen Embryonen und der Herstellung von Embryonen unterscheiden können, sagt aber gleichzeitig: Das Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle und der Embryo im Reagenzglas darf nicht schutzlos sein. - Wie, bitte schön, will man trennen zwischen einem hergestellten Embryo und einem, der überzählig ist? Es gibt in Deutschland 15 überzählige Embryonen, die sehr wohl als „Findelembryo“ in eine Frau eingepflanzt werden könnten, die ein Kind möchte. Ich möchte also appellieren, diese in der Diskussion manchmal fehlende Trennschärfe zu beachten. Es ist unser Anliegen - ich glaube, dieses Anliegen wird geteilt -, dass Gentechnik nicht schleichend eingeführt werden darf, wie es große Chemiekonzerne im Bereich der Lebensmittelerzeugung versucht haben. Ich nenne gentechnisch verändertes Soja. Ein solcher Versuch wird Widerstand hervorrufen und scheitern. Die Regale sind, was die gentechnisch veränderten Lebensmittel angeht, leer geblieben. Wir Grünen wollen Motor einer Politik des breiten und offenen gesellschaftlichen Diskurses sein und wollen dafür sorgen, dass der Entscheidungsprozess demokratisch institutionalisiert wird. Grundlage unserer Politik ist es ebenfalls, Chancen realistisch zu beurteilen, bestehende Bedenken ernst zu nehmen und die verantwortbaren Innovationspotenziale der Gentechnik zu definieren und auch zu fördern. Mich erschreckt der Hinweis unseres früheren Bundespräsidenten auf Mukoviszidosekranke ein bisschen. Dazu muss man sagen: Es gibt keinen gentechnischen Ansatz zur Heilung dieser Krankheit. Der gentechnische Ansatz, PID, wäre, einen solchen Embryo zu verwerfen, ihn also überhaupt nicht auf die Welt kommen zu lassen. ({2}) Ein solches Verständnis von Heilung lehne ich ab. Ich bin der Überzeugung, dass auch Herr Herzog es nicht will. Gleichzeitig muss man im Hinblick auf die Mukoviszidose sagen: Es waren doch die Methoden der ganz normalen Medizin, die es ermöglicht haben, dass jedes Jahr enorme Fortschritte zu erzielen sind und dass Mukoviszidosekranke inzwischen über 60 Jahre alt werden können. ({3}) Was Arbeitsplätze, Freiheit und Markt angeht: Es wird sich doch ein Markt zur Lösung dieses Problems bilden. Das bedeutet auch, die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen. In diesem Fall sind das ganz klar die nicht gentechnischen Methoden. Es gilt, ethische und grundrechtliche Grenzen zu ziehen. Das heißt aber nicht, dass nicht mehr geforscht werden darf; vielmehr gilt - ganz im Gegenteil - das, was ich eben gesagt habe: Bestimmte Anreize schaffen einen bestimmten Markt. Das Genom des Menschen und das des Schimpansen stimmen zu etwa 99 Prozent überein. Rein technisch ist eine Kombination aus Embryozellen von Affen und von Menschen - eine Chimäre; halb Mensch, halb Tier - wohl herzustellen. Zwar bezeichnen das EPÜ, das Europäische Patentübereinkommen, und auch die neue Richtlinie des Europäischen Parlaments so etwas als sittenwidrig; aber ich muss Sie einmal fragen: Wo sind denn eigentlich die Grenzen? Wie viel Schwein darf ein Mensch sein? Wie viel Mensch darf ein Schwein sein? Längst stehen humanisierte Schweine in Englands und Deutschlands Forschungsställen. Stehen wir an der Grenze zum modernen Kannibalismus? Wir müssen uns auch den tierethischen Fragen stellen. Dürfen wir Tiere ohne weiteres klonen? Dürfen wir Tierarten vermischen? Ich erinnere zum Beispiel an die Herstellung der „Schiege“, ein Wesen aus Schaf und Ziege, und an Xenotransplantationen. Nicht vergessen sollte man die Übertragungen bisher unbekannter Krankheiten, was durchaus sehr ernst zu nehmen ist. Man muss sich fragen, ob Tiere Ersatzteillager bei der Behandlung unheilbarer Krankheiten sein dürfen. Unabhängig von den ungeklärten gesundheitlichen Fragen und Risiken müssen auch beim Klonen und bei der Xenotransplantation die Anforderungen des Tierschutzes beachtet werden. Die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung wäre eine wichtige Hilfe bei der Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte. Ich möchte zum Abschluss etwas zur Anwendung der Biotechnologie im Lebensmittelbereich - Stichwort „grüne Gentechnik“ - sagen. Was die Kosten-NutzenRelation angeht, müssen die gentechnisch veränderten Pflanzen eher negativ beurteilt werden. Sie werden nicht wettbewerbsfähig sein. Insektizidresistente Pflanzen werden im Prinzip nichts anderes als ein selektives Pestizid mit all seinen Möglichkeiten, aber auch mit all seinen Problemen sein. Im Übrigen werden sie mit hohen Kosten belastet sein. Die Arbeitsplätze, die in diesem Bereich mithilfe der Gentechnik entstehen können, sind vor diesem Hintergrund realistisch zu betrachten. Es gilt abzuwägen: Gentechnik ist einerseits eine Rationalisierungstechnik, sie ist andererseits ein Problem für den Mittelstand und für einen Teil der Industrie. Arbeitsplätze durch Gentechnik sind allerdings sicherlich kein sozialethisches Argument. Vielen Dank. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die F.D.P. hat jetzt der Kollege Detlef Parr das Wort.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion hat vor mehr als acht Monaten einen Antrag zur Präimplantationsdiagnostik in den Bundestag eingebracht. ({0}) Der Bundesparteitag der F.D.P. hat vor einigen Wochen mit großer Mehrheit einen eindeutigen Beschluss gefasst: Ja, wir wollen denjenigen Paaren mit Kinderwunsch, aus deren Familiengeschichte sich hohe genetische Risiken zweifelsfrei ergeben, endlich auch bei uns zu einem gesunden Kind verhelfen; wir wollen diese Paare und die Ärzte ihres Vertrauens von erheblichen Konflikten befreien; wir wollen Rechtssicherheit für alle Betroffenen. ({1}) Wir müssen versuchen, die Widersprüche - diese sind auch heute in der Debatte deutlich geworden - zu den bestehenden Richtlinien und Rechtslagen der künstlichen Befruchtung, der Pränataldiagnostik, der Spätabtreibung und des medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruchs so weit wie möglich aufzulösen. Auch wenn es die veröffentlichte Meinung manchmal anders deutet: Die F.D.P.-Fraktion setzt dem einengenden kategorischen Nein mancher Kolleginnen und Kollegen kein bedenkenloses Ja entgegen. Zweifel und Skepsis sind auch uns nicht fremd. Wir haben aber rechtzeitig eine offene Debatte geführt. Wir sind deshalb bei unserer Entscheidungsfindung und bei der Abwägung der Rechtsgüter vielleicht ein bisschen weiter als andere. ({2}) Ich sage das, weil uns in einem Zwischenruf Voreiligkeit vorgeworfen wurde. ({3}) Eines verwundert uns bei der öffentlichen Diskussion bis heute sehr: Betroffene Eltern sind nur wenig einbezogen. Ihr Lebens- und Leidensweg wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Ich nenne nur das Beispiel der Familie Graumann, das deutlich macht, was Betroffene empfinden. Deshalb war es gut, auf dem Symposium des BMG vor einem Jahr einem Kinderarzt mit der Fachrichtung Neugeborenen-Medizin genau zuzuhören. Er erzählte die Geschichte eines todgeweihten Mädchens und schilderte die Verzweiflung der Eltern. Er beschrieb die hingebungsvolle Pflege dieses Mädchens. Dann kam die unausweichliche Frage, die sich alle Eltern nach dem Tod ihres geliebten Kindes in dieser Situation stellen: Können wir noch einmal aushalten, was wir mit unserem Kind haben durchleiden müssen? Da mögen Fundamentalisten rigoros auf die nach ihrer Meinung ethisch einzig angemessene Antwort verweisen, nämlich: Verzichtet doch auf ein weiteres Kind! - Aber was gibt uns das Recht, Paaren ex cathedra etwas abzusprechen, was integraler Bestandteil unseres Lebens ist? Dürfen wir menschliches Mitgefühl ausblenden und in unserer Debatte das vergessen, was man Mitleid oder was man wie Jürgen Rüttgers Barmherzigkeit nennt? ({4}) Sollten wir uns nicht lieber an die christliche Botschaft erinnern, die gerade solch starre Gesetzmäßigkeiten aufgebrochen hat und die klargemacht hat, dass der Mensch nie in jeder Hinsicht moralisch unanfechtbar wird leben können? Eine Grundregel der philosophischen Ethik lautet: Der mögliche Missbrauch verbietet nicht den rechten Gebrauch. - Zum rechten Gebrauch gehören Grenzen. Ich gebe dem Bundespräsidenten Recht: Ohne Grenzen gibt es kein Maß. Wir wollen diese Grenzen. Deshalb gehört aus unserer Sicht zu den unabdingbaren Voraussetzungen der Zulassung der PID eine umfassende, qualifizierte humangenetische Beratung über Chancen, Gefahren und Belastungen. Die PID ist eben nicht, wie der hessische Ministerpräsident Roland Koch glaubt, eine mechanische Qualitätsprüfung ohne individuelle Abwägung durch die Frau. ({5}) Wir wollen strenge medizinische Zulassungskriterien, eine zivilrechtliche Würdigung sowie eine strafrechtliche Bewehrung. Wir wollen Einzelfallentscheidungen, die von einer unabhängigen Kommission bestätigt werden müssen. Dabei soll es aber keinen Indikationskatalog geben; denn wer weiß, ob das, was wir heute über Krankheiten und Therapiemöglichkeiten wissen, nicht schon morgen überholt sein wird. Wir möchten die Durchführung der PID nur in lizenzierten Zentren und wir möchten die Dokumentation, Information und Steuerung fortpflanzungsmedizinischer Fragen über eine Zentralstelle ähnlich der britischen Human Fertility Embryology Authority. Diese Grenzen sind nötig. In anderen Punkten müssen wir uns aber über Grenzen hinwegsetzen. Wir müssen heraus aus dem deutschen Elfenbeinturm. Ich freue mich sehr, dass gestern der Gesundheitsausschuss auf unseren Antrag hin eine Anhörung beschlossen hat, die wir international anlegen wollen. Beispielsweise gab es in Frankreich bereits 1983 die erste Ethikkommission der Welt. Nach zehn Jahren hatte man ein bislang in Europa einzigartiges legislatives „Bioethik-Paket“ mit detaillierten gesetzlichen Regelwerken geschnürt, die auch die Grenzen für die PID sorgfältig ziehen. Das Überraschendste an dieser Diskussion in Frankreich war, dass es in der Frage der Bewertung von Behinderungen in der Gesellschaft keine Polarisierung, ebenso wenig wie in den Niederlanden, gegeben hat. Im Gegenteil: Bis auf die Querschnittsgelähmten haben alle französischen Behindertenverbände es - Zitat - „als empörend bezeichnet, den Frauen unnötiges Leid aufzubürden, das die PID ihnen ersparen könnte“. Wir sehen: Auch in diesem sensiblen Bereich ist Integration möglich. Das haben auch Patienten und Eltern der deutschen Mukoviszidose-Vereinigung in einer Erklärung vom 24. September 2000 trotz grundsätzlicher Bedenken zum Ausdruck gebracht: Betroffene Eltern, die einen Schwangerschaftsabbruch ablehnen, haben nur mit der PID die Chance auf ein weiteres Kind ohne diese Erkrankung. Der Verein will diese Eltern mit ihren Sorgen nicht durch ein Verbot der PID alleine gelassen sehen. ({6}) Das sind Beiträge zur gegenseitigen Verständigung. Hier werden Brücken gebaut. Diese Brücken sollten wir bei der weiteren Debatte gemeinsam nutzen. Eine letzte Bemerkung: Bei allem Respekt vor den Hinweisen auf Geduld im Entscheidungsprozess sollten wir nicht das Wirklichkeit werden lassen, was Professor Solter, der Direktor des Max-Planck-Institutes in Freiburg, formulierte: Es werden nicht die Wissenschaftler sein, die die Politiker zu Gesetzesänderungen zwingen, sondern die Patienten. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! So sicher ich weiß, dass es ewige Wahrheit nicht gibt, so sicher weiß ich, dass wir dennoch einige dringend brauchen. Ich erlaube mir in dieser Debatte, in der wir uns der Wirklichkeit von verschiedenen Seiten zu nähern versuchen, dieses Paradoxon auf poetische Art widerzuspiegeln: Ein Zeitgeist Computerspiele, Traumhaft viele, Bieten neue Wir-Gefühle. Manchmal hab‘ ich drei, zehn Leben, Stirbt eins, wird‘s mir neu gegeben. Ganz wie‘s wahre Leben eben. Im Ausland darf man sich bald klonen. Bei uns lässt sich‘s ganz sicher wohnen. Mit Ethik darf man mich verschonen. Viel länger als im Kuschelbett Zappe({0})n wir im Internet. Erotik wird zum Eros-Set. Wozu noch mit den Wimpern Klimpern? Mausgeklicke macht uns zimpern. Zur Not bleibt noch das Onlinebanking. Fonds-Charts bieten uns ein Ranking. Moneymaking ohne Denking. Computerspiele, Furchtbar viele, Ersetzen uns bald die Gefühle. Meine Damen und Herren, solch eine Horrorwelt will keiner von uns, davon gehe ich aus. Dennoch sind wir auf dem Wege, sie zu ermöglichen. Das menschliche Genom wurde von Computern entschlüsselt. Wir stehen inzwischen vor der Frage: Soll die Wissenschaft lieber forschen, wie umweltresistente Menschen entstehen, oder, wie eine Umwelt aussehen muss, in der sich Menschen, Tiere und Pflanzen gut entwickeln können? ({1}) Wir stehen inzwischen vor der Frage - das ist keine Alternative, es läuft aber so -, ob die menschheitliche Vielfalt, die eben gerade durch die Zufälligkeit der Entstehung Wirklichkeit wird, in Gefahr gerät, durch Aussonderung dezimiert zu werden. Zunächst einmal werden nur die so genannten Schlechten ausgesondert. Es gibt jetzt schon Wissenschaftler - ob verantwortlich oder unverantwortlich -, die sagen, dass sie nicht nur das „Negative“ weghaben wollen, sondern auch „positiv eingreifen“ und verändern wollen. Welcher „Mode“ unterliegen denn bitte schön die Kinder, die dann entstehen? Wie verhalten die sich, wenn in 20 Jahren alle gleich aussehen, weil ihr Typ eben vor 20 Jahren in Mode war? Was sollen wir machen, wenn dann eine andere Mode herrscht? Sollen wir sie wegwerfen oder sollen die sich selber wegwerfen, weil sie „unmodern“ sind? Das wird doch wohl niemand ernsthaft wollen. Wir stehen hier nicht nur vor der Frage: PID - ja oder nein? Das ist zu einfach. Wir stehen vor der Frage: Wollen wir, dass sich das Menschenbild so verändert, dass in Zukunft nur noch jung, schön und dynamisch als Maßstab gilt? Diese Gefahr ist doch ohnehin in unserer Welt da. ({2}) Wenn wir das jetzt auch noch durch die Erlaubnis von genetischen Eingriffen unterstützen ({3}) - natürlich -, dann hat die Menschheit keine Chance. Erwin Chargaff, einer der Entdecker der gentechnischen Möglichkeiten, warnt heute, dass die Gentechnik gefährlicher ist als alle Atombomben der Welt. Er sagt das nicht, weil die Zerstörungskraft der Gentechnik größer ist als die der Atombomben - drei- oder fünfmal tot und die Welt vernichtet, das ist egal; tot ist tot -, sondern er sagt das, weil allein die Existenz dieser Möglichkeit unser Weltund unser Menschenbild so enorm verändert - viel stärker noch als die Atombombe -, dass er diese Wirkung nicht will. Er ist inzwischen ein hochbetagter Mann. Er weiß, wovon er spricht, fachlich gesehen mehr als wir alle zusammen. Ich meine, man soll die Weisheit des Alters durchaus schätzen. Das sind Fragen, vor denen wir heute stehen. Es geht nicht um Einzelentscheidungen: PID - ja oder nein, Stammzellenforschung - ja oder nein. Das sind die praktischen Auswirkungen, die praktischen Ergebnisse, um die es geht, wenn wir hierüber am Ende entscheiden. Ich freue mich, dass die meisten der Disputanten hier gesagt haben, sie wollten eine offene Diskussion, sie wollten nicht heute mit Ergebnissen beginnen, sondern Fragen stellen, und zwar so laut und so deutlich, dass die Bevölkerung mitdiskutieren kann. Zum Abschluss erlaube ich mir, ein Gedicht meines Freundes Christian Schröder vorzutragen; vielleicht macht es auch Sie etwas nachdenklich: milliarden vor uns haben sich gefragt was kommt nach uns antwort haben alle irgendwohin mitgenommen Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines der interessanten Ergebnisse dieser Debatte ist, dass wieder deutlich wird, wie wichtig Politik ist. Denn eines ist klar: Wir stehen hier, am Beginn der Umsetzung der Biowissenschaft, vor der Aufgabe, diesen Prozess zu gestalten. Das kann man niemand anders überlassen. ({0}) Hier ist die Politik wie nirgendwo sonst gefordert. Was man uns höchstens vorwerfen kann, ist, dass wir nicht früher intensiver damit begonnen haben. Denn jetzt machen wir vieles vielleicht schon unter zu großem Zeitdruck. Aber - davon bin ich überzeugt - die öffentliche Debatte, die Debatte im Parlament und in der ZivilgesellDr. Ilja Seifert schaft, ist der beste Beitrag zur Verhinderung eines EthikDumpings. Das Beste, was wir überhaupt tun können ist: die Prozesse transparent zu machen, die Wissenschaft zu zwingen, auch Alternativen aufzuzeigen, und ihr vor allem einen verantwortbaren Rahmen zu setzen. Insofern führt diese Debatte hoffentlich dazu - ich finde, die Beiträge weisen in diese Richtung -, dass die Politik stark genug wird, um zu erreichen, dass es keinen Wettlauf der Besessenen um diese Technologie gibt. Margot von Renesse hat gesagt, abstrakte Bekenntnisse seien wichtig, aber trotzdem gehe es um konkrete Konflikte. Damit hat sie völlig Recht. Es geht letztlich immer darum, wie bestimmte Prozesse behandelt werden. Aber es ist auch richtig, dass es nicht um Einzelentscheidungen, nicht um Teilbereiche und auch nicht um Teilwahrheiten geht. Die Biowissenschaft fordert uns in einer Frage zutiefst: Welche Wirkungen haben Entscheidungen? Das geht weit über die Einzelentscheidung hinaus. Hier liegt der entscheidende Unterschied. ({1}) Gert Kaiser, der Präsident des Wissenschaftszentrums von Nordrhein-Westfalen, fordert die Politik auf, die Wissenschaft wieder stärker in die Gesellschaft zurückzuholen. Ich halte das für richtig. Wir müssen sehen, dass es am Beginn der Wissenschaftsgesellschaft, der biotechnologischen Revolution mit das Wichtigste ist, die Wissenschaft zu zwingen, nicht nur an die jeweilige Fachdisziplin zu denken, sondern auch an ihre Wirkungen auf die Wirtschaft und die Gesellschaft in der Zukunft. ({2}) Vor allem müssen wir sie zwingen, auch über Alternativen nachzudenken. Das sind zwei zentrale Punkte eines veränderten Verständnisses in der Wissensgesellschaft. Denn es gibt keinen autonomen Technikprozess. ({3}) Technik ist immer gestaltbar. Insofern geht es um die Frage, ob die Politik den Raum für Pluralität und Vielfalt schafft. In dieser Hinsicht sind wir heute gefordert. Dabei stehen wir vor drei großen Herausforderungen. Erstens. Als wir vor etwa 15 Jahren den Bericht „Chancen und Risiken der Gentechnik“ veröffentlicht und im Parlament diskutiert haben, haben wir geglaubt, wir hätten im Wesentlichen alle Bereiche abgedeckt, die wir abdecken mussten. Heute stellen wir fest, dass uns die Entwicklung, vor allem in den letzten vier Jahren, überrollt hat. Angesichts dessen, was seit Ende 1997, seit Dolly, passiert ist, stellt Professor Lee Silver von Princeton völlig zu Recht die These auf, dass diese Aktivitäten nur eine Logik haben, nämlich alle Verfahren schließlich beim Menschen anzuwenden. Genau das ist die Logik dessen, was in vielen Bereichen heute passiert. ({4}) Der zweite Punkt, der dieses Thema so schwierig macht, ist, dass wir mit der Globalisierung eine Auflösung fester Normierungen erleben - der Soziologe Zygmunt Baumann nennt das existenzielle Unbestimmtheit -, eine formbare Weichheit, die immer weniger gegebene Grenzen akzeptiert, sondern alle Prozesse fließend macht. Drittens, das vielleicht größte Problem: Lothar Haak spricht davon, dass die Wissenschaft immer mehr zur Vollendung von Tatsachen werde. Das heißt, dass die bisherige Grenze zwischen Grundlagenforschung und Anwendung verschwimmt und der Druck auf die Wissenschaft zunimmt, selbst zur unmittelbaren ökonomischen Verwertung zu werden. Dies ist eine verhängnisvolle Entwicklung. ({5}) Wir müssen dafür kämpfen, dass die Wissenschaft auch die Fähigkeit zur Pluralität und zur Abwägung bewahrt. ({6}) Durch die Ökonomisierung der Wissenschaft gehen diese Grenzen verloren. Es ist einer der zentralen Punkte, das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft so zu organisieren, dass es keinen verhängnisvollen Wettlauf um die schnelle ökonomische Verfügbarkeit gibt. ({7}) Dafür sind die Fragen, die sich uns stellen, viel zu wichtig und viel zu zentral. ({8}) Ich weise darauf hin, dass selbst „Nature“ fragt, ob der wissenschaftlich-industrielle Komplex außer Kontrolle gerät. Nein, Wissenschaft muss eine Distanz zu ihrem eigenen Metier bewahren, um überhaupt wissenschaftlich bleiben zu können. Dafür müssen wir sorgen. Das bedeutet Transparenz, das bedeutet Vielfalt, das bedeutet aber vor allem, dass wir klarmachen, was wir unter Menschenwürde verstehen. Die kantsche Philosophie ist in ihrem Grundentwurf in erster Linie individuell orientiert. Dennoch gibt es dort einen zentralen Punkt, an dem wir uns orientieren müssen. Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen niemals bloß als Mittel brauchest. Ich glaube, dies ist der wesentliche Punkt. Der Naturphilosoph Meyer-Abich bezeichnet dies so: Die Würde des Menschen ist im Charakter des menschlichen Mitseins angelegt, und zwar von Anfang an. Die bisherige Gesellschaftsgeschichte war immer eine Geschichte von Kontinuität und Veränderung, war immer „gewachsen und geworden“. Der entscheidende Unterschied der Biowissenschaft scheint mir angesichts des Michael Müller ({9}) sich auftuenden Möglichkeitsraumes darin zu liegen, dass diese heute eine gemachte Gesellschaft werden kann. Die entscheidende moralische Herausforderung liegt von daher darin, dass wir die gemachte Gesellschaft verhindern, ({10}) aber die wachsende aus Kontinuität und Veränderung stärken und wir und uns für die gewachsene einsetzen. Das ist der wesentliche Punkt. Wenn wir es zulassen, dass eine Gesellschaft nicht mehr aus ihrer Geschichte wächst, dass es nicht immer wieder eine Verbindung zwischen Beständigkeit und Veränderung gibt, sondern nur durch das Neue abgelöst wird, was zu Entwurzelung und Bodenlosigkeit führen würde, haben wir versagt. Insofern ist der entscheidende Punkt: Es muss Kontinuität mit Veränderung verbunden werden. Es muss ein gewachsener Fortschritt bleiben und darf kein gemachter werden. Dies ist aus meiner Sicht entscheidend, um das, was Kant als die Verbindung von Menschsein und Menschheit definiert, zu bewahren, den Kern dessen, was die Menschenwürde und letztlich die Gesellschaft ausmacht. Vielen Dank. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Werner Lensing das Wort.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Mit atemberaubender Spannung verfolgen wir den aktuellen Diskussionsprozess. Als Sprecher der Unionsfraktion in der entsprechenden Enquête-Kommission treibt mich nicht von ungefähr die bange Sorge um die in Theorie wie Praxis verbreitete Doppelmoral, zumindest die Widersprüchlichkeit so mancher oft wiederholter Argumente. Das gilt selbst für die heutige mit großem Ernst geführte Debatte. Mitunter droht sogar der ethische Diskurs in die Defensive zu geraten. Es bleibt die berechtigte Frage, ob Ethik und Politik mehr bedeuten als eine nachträgliche Akzeptanzbeschaffung für das Machbare. Zudem wird gerne vergessen, dass niemand, also wirklich niemand, dem Menschen die alleinige Verantwortung für sein eigenes Handeln abnehmen kann. Dies gilt für Politiker, Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler ebenso wie für Anwender und Nutzer. Schließlich hat Gott den Menschen als freies, eigenverantwortliches Wesen geschaffen. Daher dürfen wir unsere höchstpersönliche Entscheidungskompetenz nicht kurzerhand auf ein Gutachtergremium - unter welcher Etikettierung dieses auch immer firmiert - delegieren. ({0}) Ich warne davor, sich schon allein aufgrund des täglich - auch heute wieder - zu vernehmenden Hinweises, die Forschung werde durch die Wahrung der Menschenwürde ihre natürliche Begrenzung erfahren, in irgendeiner Weise vordergründig beruhigen zu lassen, unabhängig davon, dass die Würde des Menschen ohne einen persönlichen Wertebezug keinen Wert hat. Leider präsentiert sich die Menschenwürde in der Gegenwart als ein inflationär gebrauchter Schlüsselbegriff der Politik und des Rechts ebenso wie der Ethik und der Moraltheologie. Der Hauptstreitpunkt liegt meines Erachtens in Folgendem: Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich mehrfach festgestellt, dass der Schutz des ungeborenen Lebens von immenser Bedeutung ist, hat aber gleichzeitig bestimmte Ausnahmen zugelassen, mit der fatalen Folge, dass der Schutz des Lebens bei uns in Deutschland stark relativiert ist. Entweder fordere ich den absoluten Schutz von Anfang an - und dies dann ohne Ausnahme oder ich schränke diesen ein, mit der traurigen Folge, dass, wie derzeit in Deutschland, tagtäglich unsäglich viele Abtreibungen erfolgen. ({1}) Von daher dürfen wir uns nicht wundern, wenn inzwischen ein in der Petrischale liegender Embryo geschützter zu sein scheint oder gar ist als ein Embryo, der im Mutterleib heranwächst. So wird die Tötung eines Embryos in vitro mit Strafe bedroht, wohingegen unter geregelten Voraussetzungen die eines Embryos in vivo straffrei bleibt. Von einer Kultur des Lebens sind wir weit entfernt, erst recht, wenn wir uns auf die Spätabtreibung besinnen. ({2}) Vor diesem Hintergrund erscheint es mir widersprüchlich, dass nach gültiger Rechtslage ein Embryo legal getötet werden darf, wenn er sich in der Gebärmutter befindet und bereits ein vergleichsweise hohes Entwicklungsstadium erreicht hat, eine Verwerfung in einem früheren Stadium aber ausscheidet. ({3}) Es ist für mich schwer nachvollziehbar, weshalb ein künstlich erzeugter Embryo der Pränataldiagnostik unterzogen werden und unter bestimmten Umständen sogar abgetrieben werden darf, ohne dass dies angeblich seiner Menschenwürde widerspricht, wohingegen die Kombination von künstlicher Befruchtung mit einem diagnostischen Verfahren, nämlich der PID, zu einem Verstoß gegen die Menschenwürde erklärt wird. Auch bei der Bewertung der Stammzellenforschung begegnen wir einer Reihe evidenter Widersprüche und ungeklärter Fragen, die ich nur auf zwei fokussieren möchte: Erstens. Soll es deutschen Forschern verboten sein, auf Ergebnisse zurückzugreifen, die im Ausland auf in Deutschland verbotene Weise erzielt wurden? Zweitens. Dürfen und können wir beispielsweise rechtfertigen, deutschen Patienten bestimmte Behandlungsmöglichkeiten zu verwehren, nur weil diese mithilfe von Verfahren zustande gekommen sind, die bei uns unzulässig sind? Ich frage Sie, meine Damen und Herren, ob Sie annehmen, gerade auch aufgrund der heutigen Debatte, dass wir eine Einigung erzielen können. Denn - davon bin ich zutiefst überzeugt - die Positionen zwischen den BefürworMichael Müller ({4}) tern eines uneingeschränkten Lebensschutzes ab der Verschmelzung von Ei und Samenzelle und denen eines abgestuften, wachsenden Schutzes der Embryonen liegen so weit auseinander, dass eine Vermittlung bedauerlicherweise nicht möglich ist. Gestatten Sie mir für unsere Arbeit in der EnquêteKommission und auch hier im Plenum zum Schluss vier kurze, aber grundsätzliche Thesen: Erstens. Bei unserem unendlich schwierigen Bemühen um eine Konsensbildung sollten wir uns stets vor Augen halten, dass wir Deutschen den anderen Europäern moralisch nichts voraus haben. ({5}) Zweitens. Mit bloßen Diffamierungen oder einer einseitigen Verweigerungshaltung geraten wir schnell ins Abseits und verlieren so auch jede Chance, mit unseren Beiträgen - gleich welcher Art - überhaupt noch wahrgenommen zu werden. ({6}) Drittens. Es ist wichtig, unsere Forschung im Bereich der Bio- und Gentechnik nicht mehr als unbedingt erforderlich und verantwortlich einzuschränken. ({7}) Viertens. Für mich steht unzweifelhaft fest: Die biotechnische Forschung hat keinerlei Auftrag zu einem achten Schöpfungstag. Ich danke Ihnen. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für das Bündnis 90/ Die Grünen hat jetzt der Kollege Hans-Josef Fell das Wort.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Gentechnik bietet ohne Zweifel Chancen für die Heilung von Krankheiten. Immer mehr wird sie daher zu einem Schwerpunkt der Forschungsförderung von Bundesregierung und Europäischer Union. Auch deshalb verläuft die Entwicklung der Gentechnik ungeheuer rasant. Neue Forschungsergebnisse werden mit hoher Geschwindigkeit veröffentlicht, sodass ethische Bewertungen oder gar das Schaffen rechtlicher Rahmenbedingungen nicht mehr Schritt halten können. Ethische, ökologische, rechtliche oder soziale Folgen der Gentechnik können kaum noch rechtzeitig erkannt und diskutiert werden. Nicht zuletzt deshalb haben wir in den letzten beiden Jahren in Deutschland einen wesentlich höheren Mittelanteil als international üblich für die Technikfolgenabschätzung und die ethische Betrachtung bereitgestellt. Die Chancen der medizinischen Gentechnik bergen aber auch die Gefahr, dass die Gesundheitsforschung zu sehr auf den gentechnischen Ansatz verengt wird. Viele Krankheiten sind nicht oder nur teilweise genetisch bedingt. Auch Umweltfaktoren spielen eine größere Rolle. So stehen etwa Pestizide im Verdacht, Parkinson zu verursachen. Auch mit Blick auf die Präimplantations- und Pränataldiagnostik nenne ich nur einige Beispiele dafür, wo die Forschung über den gentechnischen Ansatz hinaus wichtige Beiträge zur Verbesserung der Lebensqualität liefern kann: die Gesundheitsvorsorgeforschung, die Pflege, die Schmerzlinderung, die gesellschaftliche Integration von Behinderten und Hilfen für deren Angehörige. Dafür Forschungsschwerpunkte zu schaffen ist mindestens genauso wichtig wie für die gentechnische Medizin. ({0}) Potenziell kranke bzw. behinderte embryonale Menschen auszusortieren, wozu die PID letztendlich dient, darf nicht unser Ziel sein. Die PID wird nicht kranken, schwachen Menschen helfen; nein, sie wird zu deren Aussortierung führen. Das lehnen wir ab. ({1}) Die Deutsche Forschungsgemeinschaft setzt sich für die Forschung mit embryonalen Stammzellen ein, die überschüssig sind und deren Ableben damit besiegelt sei. Tatsächlich, darauf wurde schon hingewiesen, gibt es in Deutschland aber nur sehr wenige dieser verwaisten Embryonen. Für diese würden sich sicher unfruchtbare Frauen bzw. Paare finden, die für eine Embryospende sehr dankbar wären. Der Argumentation der DFG fehlt daher die Grundlage, denn todgeweihte Embryonen muss es nicht geben. Selbst wenn das Überleben der Embryos nicht möglich wäre: Aus meiner Sicht ist die Tötung von embryonalem Menschenleben zu Forschungszwecken ethisch nicht vertretbar. Aus bündnisgrüner Sicht sind adulte Stammzellen eine ethisch und wissenschaftlich vertretbare Alternative zu embryonalen Stammzellen. Hierauf sollten wir unsere Forschungsanstrengungen konzentrieren. Meine Damen und Herren, Gentechnik ist nicht nur Humangenetik. Auch Tier- und Pflanzengenetik müssen wir kritisch diskutieren. Niemand kann heute schon wissen, welche gesundheitlichen und ökologischen Risiken sich hinter der Freisetzung und dem Genuss von genetisch veränderten Pflanzen verbergen. Genfood findet daher verständlicherweise fast keine Käufer. Welthungerprobleme brauchen andere Ansätze. Gentechnisch stimulierte Höchsterträge können keine wirkliche Lösung bieten. ({2}) Lassen Sie uns gemeinsam aus der BSE-Krise lernen und pflanzliche Gentechnik erst dann anwenden, wenn alle Sicherheitsbedenken mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeräumt sind. Ansonsten werden wir wie Goethes Zauberlehrling die gentechnisch veränderten Pflanzengeister vielleicht nie mehr los. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort der Kollegin Christel RiemannHanewinckel.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir debattieren nun schon einige Stunden über die Würde des Menschen, und zwar vom Beginn bis zum Ende des Lebens, von der ersten Zellteilung bis zum letzten Atemzug. Wie soll menschliches Leben aussehen? Gibt es unterschiedlich wertvolles Leben? Welche Andersartigkeit, welche Abweichung von der Norm akzeptiert die Gesellschaft? Was an Eingriffen ist erlaubt? Ist es vertretbar, Krankes, Belastendes, Abweichendes am Leben zu lassen oder dieses Leben zu beenden? Wie viele Prozente müssen erreicht werden, wenn ich als gesund gelten will? Und wer entscheidet all diese Fragen - die Medizin, die Forschung, der internationale Wettbewerbszwang, die Kassen, die Allgemeinheit, die werdenden Eltern, die Politik? Der Fragenkatalog ist noch sehr viel umfangreicher. Das hat die heutige Debatte schon gezeigt. Er macht mir deutlich, dass die Debatte überall geführt werden muss, nicht nur hier im Deutschen Bundestag, nicht nur in der Forschung, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, das heißt überall da, wo Menschen zusammenleben. Ich bin froh, dass der Deutsche Bundestag heute ein deutliches Signal für die Notwendigkeit dieser allgemeinen Debatte sendet. Meine Damen und Herren, ich möchte mich in meiner Rede auf einen Punkt konzentrieren. Aber zuvor muss ich etwas zu der Bemerkung von Frau Merkel sagen, die sie vorhin gemacht hat: Was ich hier zu sagen habe, sage ich ganz bewusst als Christin - als Christin, die der sozialdemokratischen Partei angehört. Es gibt keine Partei - nicht in Deutschland und auch nicht anderswo auf der Welt -, die das Christsein allein in Anspruch nehmen könnte, die für sich in Anspruch nehmen könnte, nur sie habe ein christliches Gewissen. ({0}) Ich rede hier als Christin, als Pfarrerin und - ich sage es noch einmal - als Sozialdemokratin. Meine Damen und Herren, der eine Punkt, auf den ich mich konzentrieren möchte, beschreibt die Situation, in die werdende Eltern schon heute in Deutschland kommen: Eine Schwangerschaft ist heute weniger eine Normalität als Risiko bis Krankheit. Schwangere haben sich zig pränatalen diagnostischen Untersuchungen zu unterziehen, über die sie oft genug nicht aufgeklärt werden, geschweige denn, dass ihr Einverständnis vorliegen würde. Schwangere haben kaum eine Chance, sich der pränatalen Diagnostik zu entziehen, weil sie inklusive im Behandlungsvertrag mit den meisten Ärztinnen und Ärzten festgeschrieben ist. Dazu gehören Untersuchungen - das ist meiner Ansicht nach das Wichtigste -, die in der Mehrzahl nicht der Heilung oder Behandlung der werdenden Mutter oder des werdenden Kindes dienen, sondern dem Erkennen von Schäden beim Embryo mit der Konsequenz seiner möglichen Abtreibung wie etwa die Untersuchung zum Erkennen des Down-Syndroms. Werdende Mütter bzw. Eltern haben oft keine Chance, sich mit dem zu erwartenden Krankheitsbild auseinander zu setzen, weil in der Regel vor der Beratung bzw. Überweisung an eine Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe das Terminangebot für eine Abtreibung steht. Damit wird indirekt aus medizinischer Sicht deutlich gemacht: „Nicht solch ein Kind in dieser Gesellschaft!“ Die Präimplantationsdiagnostik reduziert dies noch auf die Frage, ob die Qualität des Embryos zum Einpflanzen reicht oder nicht. Die potenziellen Eltern haben diesen Konflikt ohne das Erleben von Schwangerschaft zu entscheiden. Damit wird aus meiner Sicht die Entscheidung entpersonalisiert. ({1}) Nicht das Kind steht im Vordergrund, sondern der - zum Teil auch verständliche - Wille der Eltern nach einem gesunden Kind. Der Ärztinnenbund, der Behindertenrat und auch andere Organisationen haben sich gegen die Präimplantationsdiagnostik ausgesprochen. Ich tue das auch, denn Behinderung und Krankheit mindern nicht den Wert des menschlichen Lebens. 1994 haben wir in Art. 3 des Grundgesetzes verankert: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. - Das gilt meiner Meinung nach für den Embryo im Reagenzglas genauso wie im Bauch der werdenden Mutter. Die Präimplantationsdiagnostik ist mit der Würde des Menschen meiner Ansicht nach nicht vereinbar. Das menschliche Leben ist nicht in einer bestimmten und gewünschten Art und Weise zu haben. Es ist immer unterschiedlich in seinen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Schönheiten. Es ist auch immer unterscheidbar von anderen Werten. Menschenwürde ist deshalb nicht an eine bestimmte Art von Gesundheit oder Krankheit gebunden. Sie ist meines Erachtens auch nicht mit der Freiheit der Forschung verrechenbar und auch nicht aufrechenbar gegen das Bruttosozialprodukt, Arbeitsplätze oder Gewinne in anderen Bereichen. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn ein kleines Missverständnis ausräumen, das offensichtlich bei der Kollegin Hanewinckel aufgetreten ist. Frau Merkel hat in ihrem Beitrag deutlich gemacht, wie sehr wir gerade aufgrund unserer Entscheidung, uns Christlich-Demokratische Union zu nennen, mit dieser Frage ringen. ({0}) Selbstverständlich ist sie genauso wie ich der Auffassung, dass es engagierte Christen in allen politischen Parteien und Richtungen gibt. ({1}) Ich wollte das zu Beginn meiner Rede gerne klarstellen. ({2}) Im Zentrum unseres Denkens und Handelns steht die Würde des Menschen. Wir als Gesetzgeber haben die Verantwortung, menschliches Leben zu schützen. Für mich ist es ein Gebot des Lebensschutzes, die medizinische Forschung nach Kräften zu unterstützen. Ich möchte deutlich sagen: Wer die Forschung unter Generalverdacht stellt, der beschädigt ein wichtiges Gut. ({3}) Unsere Forscher stehen an der Seite der Schwachen und die Forschung dient schwachen und kranken Menschen. ({4}) Die Erfahrung mit der Stammzellenforschung zeigt, dass sie schon heute vielen Menschen hilft. Denken Sie beispielsweise an die Therapie leukämiekranker Kinder. Wir verbinden mit ihr die Hoffnung, auch andere schwere Krankheiten heilen zu können. Lange haben wir darauf gesetzt, dass die Forschung mit adulten Stammzellen alle Fragen zu beantworten in der Lage ist. Drei Jahre nach den beiden entscheidenden Veröffentlichungen in „Nature“ und „Science“ über die embryonalen Stammzellen wissen wir durch die sorgfältige Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wie wichtig die vergleichende Forschung mit embryonalen Stammzellen gerade auch für das Verständnis der adulten Stammzellen und die Entwicklung wirksamer Therapien ist. Ich will mit allem Ernst sagen: Keiner weiß heute, ob die schlimme Rinderkrankheit BSE in Form der CreutzfeldtJakob-Krankheit einmal massiv auf den Menschen überspringt. Die Folgen wären fürchterlich. Wir alle wünschen uns, dass dies nie eintritt. Aber wir als Gesetzgeber haben die Verantwortung, schon heute alles Menschenmögliche zu unternehmen, um solche Entwicklungen abwenden zu können. Schwerwiegende Fehler geschehen nicht nur durch falsches Handeln. Schwerwiegende Fehler entstehen auch dann, wenn man das Richtige unterlässt. Ich erinnere mich noch genau an den Kampf in den 70er-Jahren gegen gentechnisch hergestelltes Insulin. Er ist mit aller Erbitterung geführt worden. 1986 haben wir es in Deutschland zugelassen. Heute ist es für die vielen zuckerkranken Menschen eine wichtige Überlebenshilfe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erinnere mich, dass schon damals der Rubikon beschworen wurde, den man nicht überschreiten dürfe. Heute hören wir von höchster Stelle genau das Gleiche. Übrigens: Cäsar hat den Rubikon überschritten. Er hat Rom gewonnen und die Geschichte hat ihm Recht gegeben. ({5}) In dieser Debatte ist die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens aufgeworfen worden. Unbestritten ist, dass es mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt. Aber ist dieses beginnende menschliche Leben schon der Mensch? Kann man eine befruchtete Eizelle mit einem Menschen gleichsetzen? Dies wäre aus meiner Sicht ein gravierender naturalistischer Fehlschluss, vor dem namhafte Wissenschaftler warnen. Ich nenne hier nur Horst Dreier, Reinhard Merkel und Volker Gerhardt. Ich verweise auch auf das interessante Interview mit Wolfgang Schäuble, das heute im „Tagesspiegel“ erschienen ist. Ich halte eine deutliche Unterscheidung zwischen einer winzigen Zelle im Reagenzglas und einem heranwachsenden Kind im Mutterleib unter jedem denkbaren Aspekt für richtig. ({6}) Ich bin der Auffassung, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von den Gegnern der diskutierten gentechnischen Methoden in unzulässiger Weise in Anspruch genommen wird. Ich teile nachdrücklich die Auffassung von Jutta Limbach, der Präsidentin unseres Bundesverfassungsgerichtes, und von Roman Herzog, unserem früheren Bundespräsidenten. Menschen mit Behinderungen gehören zu unserem Leben. Ohne sie wären wir ärmer. Diese Menschen können zu Recht von uns erwarten, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um Leiden zu lindern. Ich bin Roman Herzog daher für die Frage, die er aufgeworfen hat, dankbar: Habt ihr alles getan, um diesen Menschen zu helfen? Darum wollen wir ringen. Ich setze mich für eine Ethik des Heilens ein. Als Christen sollen wir nach Prinzipien fragen. Das finde ich richtig. Aber ich finde es noch richtiger zu fragen: Wo sind wir gefordert, Entscheidungen zu treffen, die Menschenleben retten können? Als Christen sollten wir Menschen retten, nicht Prinzipien. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als Nächster redet der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gentechnologischen und biotechnologischen Forschungen ermöglichen riesige Chancen in der Entwicklung, aber sie verlangen unsere Gestaltung. Wir haben bereits heute medizinische Entwicklungen, die ohne die Erkenntnisse dieser neuen Technologien nicht denkbar sind. Aber es sind in diesem Zusammenhang, neben der Betonung der Chancen und der Förderung der Möglichkeiten, wichtige Fragen zu stellen: Wem gehören die genetischen Programme von Mensch, Flora und Fauna? Welche Risiken dürfen wir bei der Änderung genetischer Programme in Lebewesen eingehen? Darf und will man die biologische Arten- und Sortenvielfalt durch genetisch veränderte Lebewesen gefährden? All diese Fragen müssen wir als Parlament diskutieren. Aber all diese Fragen treten in der heutigen Debatte in den Hintergrund. Die embryonale Stammzellenforschung und PID treiben fast alle Rednerinnen und Redner um. So ist es auch draußen in der Gesellschaft. Alle Menschen spüren: Hier geht es um mehr als nur eine Diagnosemethode oder eine neue Forschungslinie. Es geht um große Hoffnungen, Heilsversprechungen der Medizin und der Forschungen, die erst noch bestätigt werden müssen. Aber es geht auch darum, wo wir menschliches Leben als menschliches Leben anerkennen und mit welchen rechtfertigenden Gründen wir eine Einschränkung des unbedingten Schutzes des Lebens zulassen wollen. Wer verfügt über das Leben anderer? Auch wenn wir im Parlament und in unserem Land keinen Konsens darüber haben, ob es einen Schöpfer gibt, müssen wir doch fragen: Wollen wir uns als Menschen, als Politiker, zu Schöpfern aufschwingen und zu Richtern über Leben oder Tod machen? Das Bundesverfassungsgericht - es wurde hier mehrfach angesprochen - hat sich in der Vergangenheit nie zu den Fragen geäußert, über die wir heute diskutieren und die wir irgendwann beantworten müssen. Es hat aber in früheren Entscheidungen bedeutende Worte gesagt und Figuren entwickelt, die wir meines Erachtens dieser Debatte zugrunde legen sollten. ({0}) Dies betrifft die Frage: Wann beginnt menschliches Leben? Das Bundesverfassungsgericht hat dazu gesagt, menschliches Leben beginne, sobald es individuelles, in seiner genetischen Identität festgelegtes Leben gebe. - Es ist sinnvoll, das auf den Zeitpunkt festzulegen, an dem Eiund Samenzelle miteinander verschmolzen sind. Es gibt kein anderes objektives Kriterium, um den Beginn des menschlichen Lebens festzulegen. Wenn wir bejahen, dass es ab dann menschliches Leben gibt, dann dürfen wir dieses Lebensrecht nicht ohne erheblich rechtfertigenden Aufwand infrage stellen. Wir kennen in unserer Rechtsordnung nur zwei Fälle, bei denen wir den absoluten Lebensschutz relativieren - es handelt sich dabei immer um Situationen, wo das Leben eines anderen Menschen in Gefahr ist -: beim Notwehrrecht und in der Abtreibungsfrage. Bei der Abtreibung rechtfertigen wir übrigens nicht die pränatal indizierte Abtreibung, sondern die Beschränkung der seelischen und körperlichen Gesundheit der Frau und die Einwirkung auf sie und zwar als einzigen rechtfertigenden Grund für einen legalen Schwangerschaftsabbruch nach der Fristenlösung. Diese Tatsache verschwimmt leider etwas in der Diskussion. Ich meine, wir müssen uns bei der Diskussion um die Stammzellenforschung und die PID fragen: Wollen wir andere Grundrechte, die einen geringeren Rang haben als der Schutz des Lebens, als rechtfertigenden Grund dafür zulassen, um den Schutz menschlichen Lebens in unserer verfassungsrechtlichen Ordnung zu beschränken? Die Beantwortung dieser Frage - wir können keine Einzelfallethik durchführen oder das Verfassungsrecht speziell für diese Fälle auslegen, ohne dass das zu Weiterungen in der Zukunft führt - wird den Schutz des menschlichen Lebens eines jeden Einzelnen in der Gesellschaft betreffen. ({1}) Wenn wir uns im Zusammenhang mit der PID überlegen, was wir im Embryonenschutzgesetz geregelt haben, müssen wir sehen, dass wir bei der Fortpflanzungsmedizin sehr enge Möglichkeiten geschaffen haben, Paaren, die auf natürlichem Wege nicht zu Kindern kommen können, den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen. Es handelt sich hier aber nicht um die positive Ausgestaltung des Grundrechts auf persönliche Entfaltung, indem man Kinder bekommt, sondern wir wollten Menschen dadurch helfen und haben dies auch eingeschränkt getan. ({2}) Wenn wir die Praxis der Bundesärztekammer betrachten, können wir feststellen, dass diese die Fortpflanzungsmedizin - ohne dass das bisher rechtlich beanstandet wurde - nur für verheiratete Paare zulässt. Eine allein stehende Frau oder eine Frau, die in einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft lebt, kann auf legale Weise auf diesem Wege in Deutschland nicht zu einem Kind kommen. Wenn im Rahmen der Diskussion über PID gefordert wird, man müsste diese Grundrechtsverwirklichung für die Eltern durchsetzen, halte ich das nicht für einen rechtfertigenden Grund, um die PID zuzulassen; die Zulassung hätte zur Folge, dass ein Embryo nach dem anderen, eine ganze Generation von Embryos, verworfen werden könnte, weil sie als nicht lebenswert betrachtet würden. ({3}) Ein Satz zum Schluss als Appell an die Medien: Ich habe mehrere Fernsehsendungen gesehen, die sich mit diesem Thema beschäftigten. In diesen Sendungen werden immer wieder Kinder gezeigt, die schwere Krankheiten haben. Es wird gesagt, Kinder mit solchen Erkrankungen wären durch die PID angeblich vermeidbar gewesen. Überlegen Sie einmal, was Sie den Menschen, die Sie in den Filmen zeigen, letztlich sagen. Sie sagen ihnen: Hätte es die PID gegeben, hättest du nicht leben müssen. Haben Sie einmal diese Kinder und Erwachsenen gefragt, ob sie nicht leben wollen, ob sie trotz mancher Beeinträchtigungen und mancher persönlicher Leiden nicht gerne leben und das Gefühl haben, dass ihr Leben lebenswert ist, obwohl es auch Tage gibt, an denen sie ihre Krankheit und ihr Leiden verfluchen? Wer als Außenstehender hat das Recht zu sagen, dieses Leben hätte nicht gelebt werden dürfen? Wir müssen uns sehr genau fragen, Volker Beck ({4}) welche gesellschaftlichen Implikationen die Diskussion hat, die wir hier heute führen. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Helga Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion.

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Begegnung und Auseinandersetzung mit biomedizinischer Forschung gibt es einige Fragen, die mich in besonderer Weise beschäftigen - die PID, zwar kein zentraler, aber doch ein wichtiger Punkt in der Debatte, bündelt sie -: Muss der Gesetzgeber die Nutzung eines neuen biotechnischen Verfahrens ermöglichen? Oder besser: Darf er es verhindern? Wen müssen wir schützen? Welche gesellschaftlichen Prozesse verstärken wir? Wie werden die Interessen der Frauen vertreten? Wie ist bei Zulassung der PID die Signalwirkung auf gesellschaftliche Prozesse? Werden hier nicht doch ausgrenzende, stigmatisierende Tendenzen verstärkt? Wird das von einer definierten Abweichung unbelastete Kind nicht doch zur Norm? Verurteilen Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit nicht zu Recht die mit der PID verbundenen Angriffe gegen behindertes Leben? Auf das Nichtdiskriminierungsgebot wurde schon hingewiesen. Menschen mit Behinderungen wird schwer zu vermitteln sein, dass die Möglichkeit, die mit PID eröffnet wird, nämlich die Auswahl von Embryonen mit unerwünschten Merkmalen, nicht mit einer Klassifizierung verbunden ist. Wächst nicht der Erwartungsdruck auf die Frauen, doch ein gesundes Kind zur Welt zu bringen? Wer wie ich für die freie Wahl weiblicher Lebensentwürfe eintritt, muss den von der biomedizinischen Forschung vorgegebenen Weg noch lange nicht kritiklos gutheißen. Es stimmt: Das Verbot der PID schränkt die Wahlfreiheit und die Selbstbestimmung der Frau ein. Es sei aber auch daran erinnert, dass die Wahl weiblicher Lebensentwürfe nach wie vor und in erster Linie durch patriarchalisch dominierte gesellschaftliche Bedingungen begrenzt wird, an deren Veränderung wir arbeiten. Die Wahlfreiheit für alle Fortpflanzungsentscheidungen hat einen hohen Preis: Bewertung von Leben bis hin zur Verwerfung, Diskriminierung von Behinderungen sowie möglicher Einstieg in die verbrauchende Embryonenforschung. Eine Begrenzung der PID wird rechtlich nicht haltbar sein. Die vorgeburtliche Diagnostik bietet dazu eine Parallele. Diese wurde ursprünglich für eine kleine Gruppe von Menschen geschaffen. Heute kommt sie in der Mehrzahl der Schwangerschaften zur Anwendung. Die Tatsache, dass 70 bis 80 Prozent der Schwangerschaften nicht mehr den Zustand guter Hoffnung und freudiger Erwartung, sondern ein Risikoereignis darstellen, sollte nicht nur unter dem ökonomischen, sondern auch unter dem Aspekt des Wertewandels diskutiert werden. ({0}) Werden hier, unter Inkaufnahme erheblicher psychischer und physischer Belastungen für die betroffenen Frauen - selten genug von adäquaten Beratungen flankiert -, nicht technische Lösungsansätze für in erster Linie soziale Probleme gesucht? ({1}) In der Debatte um PID wird häufig das Argument geäußert, wer die Selektion von Embryonen ablehne, müsse auch den Schwangerschaftsabbruch infrage stellen. Ich bin mit denen einig, die Bedenken gegen die PID formulieren, und grenze mich deutlich von jenen ab, die die PID-Debatte mit einer Neubelebung der Diskussion über § 218 verbinden wollen. ({2}) Der Unterschied ist offensichtlich: In der Schwangerschaft sind Mutter und Kind in ganz besonderer Weise körperlich miteinander verbunden. Diese Verbindung kann nicht gegen den Willen der Frau aufrechterhalten werden. Aus diesem Grund öffnet der Schwangerschaftsabbruch einen Korridor für eine selbst bestimmte Entscheidung. Diese ist zwar rechtswidrig, kann aber straffrei getroffen werden. Die Konfliktsituation, die den Anlass zur PID gibt, ist nicht vorhanden; sie wird antizipiert. ({3}) Der Ort des Konfliktes ist nicht der Körper, sondern das Labor. Nicht zuletzt wird die Entscheidung gegen ein behindertes Kind in fremde Hände gelegt. Bei der PID fallen überzählige Embryonen an; es findet Selektion statt. Vor diesem Hintergrund kann sie dann eben doch eine Türöffnerfunktion haben. Ich danke Ihnen. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir führen heute eine der vielleicht wichtigsten Debatten, die je im Deutschen Bundestag geführt worden sind. Wir stehen nämlich vor der Frage, ob die Unantastbarkeit der Menschenwürde noch für alle gilt. Wir stehen vor der Frage ob wir es zulassen, dass Menschen selektiert, vernutzt oder als Forschungsobjekt genutzt werden. Ja, es wird sogar diskutiert, ob man menschliches Leben in Form von Embryonen produzieren darf, um diese hinterher zu verwerten. Bisher galt: Jeder hat Lebensrecht und Menschenwürde, einfach nur deswegen, weil er Mensch ist, ohne dass man Qualitätsmaßstäbe anlegt. Bisher galt auch Volker Beck ({0}) eindeutig: Der Mensch beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Wie anders kann man es auch erklären, dass vor zehn Jahren das Embryonenschutzgesetz fast einstimmig verabschiedet worden ist? ({1}) Angesichts der neuen Techniken und Heilungsversprechen scheint das alles nicht mehr zu gelten. Plötzlich unterscheidet man zwischen Mensch und Person; von inflationärem Gebrauch der Menschenwürde ist die Rede, ja von abgestufter Menschenwürde. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft geht ausdrücklich so weit zu sagen: Das Grundrecht auf Forschungsfreiheit kann höher stehen als das Recht auf Leben. Das ist ein Satz, den ich nach 1945 auch vor dem Hintergrund der Geschichte der DFG nie mehr für möglich gehalten hätte. ({2}) Meine Damen und Herren, ich muss auch dies sagen: Herr Nida-Rümelin glaubt Menschenwürde nur bei dem zu erkennen, bei dem die Selbstachtung verletzt werden kann. Wenn wir diese Diskussion führen, dann werden wir sie bald nicht nur über Embryonen, sondern auch über Säuglinge, vor allen Dingen behinderte Säuglinge, über Komapatienten und Menschen mit geistigen Behinderungen führen. ({3}) Die Menschenwürde ist unantastbar. Dies ist ein grundsätzliches Gebot, in der Tat ein Dogma. Da immer von Fundamentalismus gesprochen wird, bekenne ich: Ich bin in dieser Frage ein Fundamentalist. ({4}) Unsere Verfassung enthält diesen Artikel vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Wir können ihn mit keiner Mehrheit ändern. Dabei soll es auch bleiben. ({5}) Verfolgt man die Debatten der letzten Monate und auch die heutige Debatte, so scheint es überhaupt kein wichtigeres Problem als die PID zu geben. Angeblich soll sie ja nur bei 100 Paaren in Deutschland angewendet werden. Die Forschungsministerin ist dafür, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft natürlich auch, die Gesundheitsministerin ist zumindest nicht dagegen. Kerngesunde Kinder wurden und werden auch heute genetisch belasteten Eltern auf diesem Wege versprochen. Ich spreche nicht nur von anderen, sondern auch aus Erfahrungen in meinem familiären Bereich. Ich kenne Behinderungsformen von Hunderten und Tausenden Betroffenen, die dankbar wären, wenn sie so viel Aufmerksamkeit von Bioethikräten, Kommissionen, Ärztekammern, Forschungsorganisationen, Parteien und Regierungen erhalten würden. Wir sollten uns um diese Menschen kümmern, ({6}) aber nicht mit Heilungsversprechungen für irgendwann, in 50 Jahren, sondern für heute. Vielen, die hier mit Barmherzigkeit und Mitleid argumentieren, scheint es aber um etwas anderes zu gehen. Denn wie ist es sonst zu erklären, dass die tatsächlichen Fallzahlen der PID nicht zur Kenntnis genommen werden? Ich will die größte Datenerhebung zu PID nennen. Sie umfasste 886 Paare, die die PID in den letzten acht Jahren in Anspruch nahmen. Trotz teilweise mehrfacher Versuche haben von diesen 886 Paaren überhaupt nur 123 Paare ein Kind bekommen. Also konnte nur jede siebte Frau ein Kind austragen. Was machen wir aber mit der großen Zahl der Frauen, den anderen sechs von sieben Frauen, die kein Kind bekommen? Wenn man bedenkt, dass für diese 123 Geburten 6 465 Embryonen produziert worden sind, dann ist das ein Menschenverbrauch, den ich nicht akzeptieren kann. Auch das Argument, es gebe danach keine Abtreibungen mehr, ist falsch. Die Statistik belegt, dass 4 Prozent der Föten, also innerhalb des Mutterleibes, nach Pränataldiagnostik abgetrieben und 5 Prozent durch so genannte Mehrlingsreduktionen, also durch das Abspritzen im Mutterleib, getötet wurden. Wer diesen Menschenverbrauch leugnet, der macht sich nicht nur am menschlichen Leben schuldig, sondern auch an den Eltern, die den Versprechungen der PID-Befürworter glauben. ({7}) Ich habe den Verdacht, es geht nicht um die angeführten 100 Paare, sondern darum, endlich Embryonen zu bekommen, um sie der Forschung zuzuführen. ({8}) Es geht auch darum, den Embryonenschutz zu knacken, und darum, dass man statt mit Ratten- und Mäuseembryonen endlich mit menschlichen Embryonen experimentieren darf. Welche Embryonen eignen sich besser als die - schon das ist ein schlimmer Begriff - überzähligen der PID für die Keimbahntherapie? Denn wer diagnostiziert, wird irgendwann auch therapieren. Meine Redezeit ist leider zu Ende. Ich hätte noch vieles zu sagen, weil das Thema für mich sehr wichtig ist. Ich möchte Sie zum Abschluss nur bitten - das ist ein Appell an alle Kolleginnen und Kollegen -: Lassen Sie uns diese Tür nicht aufmachen! Fördern wir die Genforschung, die dem Menschen dient, und nicht diejenige, bei der der Mensch der Forschung dient! Wir schaffen - auch das ist meine feste Überzeugung - das Leid nicht aus unserer Gesellschaft, indem wir die Leidenden aus unserer Gesellschaft entfernen. Eine Ethik des Heilens durch Töten darf es nicht geben! Vielen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die meisten Kolleginnen und Kollegen überziehen ihre Redezeit sehr weit. Ich bitte, meine Milde zu beachten, die ich heute an den Tag lege. Das liegt an dem Thema. ({0}) Nun hat das Wort die Kollegin Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen.

Rita Grießhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über den Schutz des Lebens, den wir alle wollen, und darüber, wie er am besten zu erreichen ist, gibt es zwar in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Auffassungen. Aber gerade in dem sensiblen Bereich der Gentechnik sind Vorsicht und Umsicht dringend geboten. Auffallend ist, dass in den Feuilletons die Debatte über dieses Thema meistens nur in höheren Sphären schwebt: Es geht um Ethik, Medizin und deren Grenzen. Es geht sehr selten um die Hauptakteure des Kinderkriegens, die Frauen. Es geht auch selten darum, unter welchen Umständen sie Kinder bekommen, und noch seltener darum, unter welchen Bedingungen sie mit ihren Kindern leben. Die neuen Techniken schaffen einerseits neue Möglichkeiten und andererseits neue Zwänge. Wie die vorgeburtliche Untersuchung findet auch die Präimplantationsdiagnostik nicht in einem wertfreien Raum statt. Viele befürchten, dass mit ihrer Einführung ein Dammbruch eintritt, der zu unkontrollierter Selektion von krankem oder behindertem Leben führt. Diese Befürchtung ist verständlich. Aber wer weiß, dass es weniger erblich bedingte Krankheiten als Schäden aufgrund von ärztlichen Kunstfehlern bei der Geburt gibt - von Unfällen im späteren Leben ganz abgesehen -, der hat verstanden, dass der Traum vom gesunden Leben ohne Schmerzen eben nur ein Traum ist. Die PID ist ein rein diagnostisches Verfahren. Sie ist keine Erbgutmanipulation. Sie verändert den Embryo nicht. ({0}) Es erschließt sich mir nicht, warum eine Untersuchung in der Petrischale, die später ohne weiteres im Mutterleib gemacht werden kann, ohne Wenn und Aber kategorisch verboten sein soll. ({1}) Warum soll die PID erst verboten werden, um später eventuell eine Abtreibung zu ermöglichen? Um eines klarzustellen: Ich bin nicht für eine völlige Freigabe der PID. Aber in begrenzten Ausnahmefällen sollte sie möglich sein. ({2}) Wer glaubt, mit einem rigorosen Verbotsdamm ließe sich alles aufhalten, der irrt. Gesetze müssen lebbar sein. ({3}) Ein Test, der ohne Probleme im Nachbarland gemacht werden kann, wird von denen, die ihn unbedingt wollen, auch gemacht. Statt genereller Verbote scheint mir ein sorgsames Abwägen im Sinne der Betroffenen lebensnäher zu sein. ({4}) Genauso wenig, wie ein Gentest erzwungen werden kann, darf meiner Meinung nach der Gesetzgeber ihn unter allen Umständen verbieten. Wer sich in den Wartezimmern der Frauenärzte und -ärztinnen umschaut und die Statistiken kennt, der weiß, dass Frauen ihren Kinderwunsch immer weiter hinausschieben. Je älter sie und ihre Partner werden, desto beunruhigter stellen sie die Frage nach der Gesundheit des Kindes und desto häufiger benötigen sie medizinische Hilfe, um sich ihren Kinderwunsch überhaupt zu erfüllen. Sie ahnen nicht einmal, auf was sie sich da einlassen, was sie sich zumuten. Die wenigsten Frauen kalkulieren späte Schwangerschaften. Es sind die gesellschaftlichen Bedingungen, die zu diesem Ergebnis führen. ({5}) Wer diesen Umstand ausblendet, wird nie verstehen, warum die Reproduktionsmedizin so boomt. Gesetze sollten möglichst auch konsistent sein. Wer schon mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle den absoluten Schutz der Menschenwürde festlegt, muss fragen, ob dann nicht auch Verhütungsmittel, wie zum Beispiel die Spirale, verboten werden müssten. ({6}) Makaber wird es schließlich, wenn zur Rettung überzähliger künstlich hergestellter Embryonen zur Adoption aufgerufen wird und Leihmütter für so genannte verwaiste Embryonen als Gebärmaschinen gesucht werden. ({7}) Wer Gesetze in einer pluralistischen Gesellschaft macht, muss sich auch fragen, ob in einer so bedeutenden Wertfrage mittels Strafrecht alles rigoros verboten werden kann, was weltanschaulich höchst verschieden gesehen wird. Unser deutsches Trauma besteht doch darin, dass sich der NSStaat in fataler Weise anmaßte, mit seiner Eugenik über „wertes“ bzw. „unwertes“ Leben zu entscheiden. Ich ziehe daraus die Konsequenz, dass staatliche Eingriffe eingedämmt und individuelle Freiheitsrechte geschützt werden müssen. ({8}) Es gibt Wege, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Balance herzustellen. Letztlich hat doch die Regelung des § 218 einerseits das Strafrecht begrenzt. Andererseits hat die Praxis das Bewusstsein über den Schutz des Lebens in dieser Gesellschaft grundlegend zum Guten verändert. Ich finde, in dieser Richtung sollten wir weitergehen. ({9}) Vizepräsidentin Anke Fuchs

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich 1998 in den Bundestag gewählt wurde, habe ich mich fast fünf Jahre lang am Uni-Klinikum in Essen wissenschaftlich und forschend mit der Frage befasst: Wie schafft es eigentlich ein Embryo, sich in der Gebärmutter einzunisten? Je länger ich mich mit dieser Frage befasste, wie dieser menschliche Zellhaufen in dem für ihn eigentlich unfreundlichen Milieu des Uterus existieren kann, desto mehr wurde ich gefangen von dem faszinierenden Geschehen der embryonalen Entwicklung, das seit Jahrtausenden unbeobachtet und ungestört im Körper der Frau ablief. Der Nobelpreisträger und Entdecker - nicht Erfinder! der Genregulation, der Genetiker François Jacob, hat diese Faszination wie folgt ausgedrückt: Das Unglaubliche besteht darin, dass nach der Befruchtung der ersten Zelle das befruchtete Ei sich zu teilen beginnt. Was zwei Zellen ergibt. Dann vier. Dann acht. Dann eine kleine Traube von Zellen. Und dass diese Traube sich dann an die Gebärmutterwand hängt, länger wird, wächst und einige Monate später einen Säugling bildet, der in mehr als 95 Prozent der Fälle mit allem versehen ist, was er braucht, um zu leben, die Welt zu durchstreifen und sogar um zu denken. Dies ist das Wunder. Das ist das erstaunlichste Phänomen, das sich auf dieser Welt abspielt. Derart erstaunlich, dass es für alle Menschen Gegenstand einer tiefen Verwunderung sein müsste und sie nach den Mechanismen fragen müssten, die einem solchen Wunder zugrunde liegen. Je mehr ich mich mit diesem Wunder auseinander setzte, desto stärker wuchs in mir der Respekt vor dem menschlichen Leben auch in seiner frühesten Form. Ich bin heute noch sehr froh darüber, noch nie mit echten Embryonen gearbeitet zu haben. Denn wir haben unsere Arbeit mit Krebszellen durchgeführt, die wir sozusagen als Modell benutzt haben. Wir haben nicht mit echten embryonalen Zellen gearbeitet, weil es in Deutschland verboten ist, aber auch, weil wir es als ethisch nicht vertretbar hielten. In anderen Ländern ist die Forschung an Embryonen erlaubt. In den USA, in Israel, in Großbritannien sind bis zum heutigen Tage etwa 50 000 Embryonen zu Forschungszwecken verbraucht worden. Einen dieser Embryonen habe ich im Januar dieses Jahres auf einem Symposium in Essen „kennen gelernt“. Ein britischer Forscher zeigte uns wie selbstverständlich das Dia einer Blastozyste, also eines menschlichen Embryostadiums, auf dem bestimmte Oberflächenmoleküle markiert waren. Es handelte sich übrigens um reine Grundlagenforschung, ohne irgendeine Anwendung im Bereich der Gesundheit. Das war zwar wissenschaftlich ohne Zweifel interessant; aber es ging vielen deutschen Kollegen wie mir, als sie sich fragten: Darf es so weit kommen, dass menschliche Embryonen wie selbstverständlich verarbeitet werden? Dürfen wir die 150 - vielleicht sind es nur 15; die Zahl ist noch offen - „überzähligen“ Embryonen aus künstlichen Befruchtungen in Deutschland zu Forschungszwecken benutzen? Wird die Begehrlichkeit nach mehr begrenzt werden können? Wie realistisch sind die Versprechungen, Krankheiten zu heilen oder zumindest zu lindern? Trotz der Faszination, die ich für das von mir geschilderte Wunder empfinde, sind für mich persönlich die Argumente, die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen zuzulassen, noch nicht gut genug, die Versprechungen noch zu unrealistisch und der Preis noch zu hoch. ({0}) Wir haben noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die uns zur Verfügung stehen. Wir müssen uns eines klarmachen: Es wird nie eine leidfreie oder auch nur leidarme Gesellschaft geben können. ({1}) In den zwei Jahren meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag habe ich gesehen, dass Abgeordnete keine unverletzlichen Wesen oder besonders geschützte Menschen sind, für die uns einige halten. Viele Kolleginnen und Kollegen haben in dieser kurzen Zeit wie die Menschen, die wir vertreten, Leid erfahren müssen. Wenn in nächster Zeit vielleicht wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, dann dürfen sie nicht in den Labors getroffen werden, dann dürfen sie schon gar nicht an der Börse getroffen werden, dann müssen sie in diesem Hohen Hause getroffen werden. Es ist ein guter Ort dafür und es ist der richtige Ort dafür. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Helmut Heiderich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Rote Gentechnik, Entscheidungen direkt für, gegen, am Leben - da fordert der Bundeskanzler: Scheuklappen ablegen, Leinen los, Vorrang dem wirtschaftlichen Fortschritt! ({0}) Der grünen Gentechnik - für sie spreche ich; denn ich meine, dass sie zur Debatte des heutigen Tages gehört zieht er dagegen die Zwangsjacke an und hängt ihr den Maulkorb um, obwohl er noch vor einem Jahr deren Perspektive als „Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts“ herausgestellt hat. So wird vielen Entwicklungen deutscher Unternehmen, der Kompetenzzentren, der Forschungseinrichtungen die Praxisanwendung verweigert. Das Dreijahresprogramm zum großflächigen Anbau gentechnisch fortentwickelter Pflanzen wurde vom Kanzleramt - fertig ausgehandelt - zwei Tage vor Unterzeichnung gekippt, und dies mit völlig unsachlicher Begründung. ({1}) Die noch zuvor herausgestellten Entwicklungschancen, Herr Kollege, sind jetzt blockiert. Dabei gibt es in Deutschland viele gute Ansätze: Kunststofffolien aus Kartoffelstärke, Spinnenseide aus Tabakpflanzen, weniger Chemie im Gemüseanbau, Einsparungen von Insektiziden bei Maispflanzen, Einsparungen von Herbiziden beim Zuckerrübenanbau, bessere Ausnutzung von nachwachsenden Rohstoffen, Einsparungen von Energie und Kosten in der Verarbeitung. Dies alles sind Entwicklungen, die bei uns vor Ort stattfinden. Wenn ich dies vortrage, dann wird auch den Fachleuten erkennbar: Die CDU ist, was grüne Gentechnik angeht, nicht der Werbetrommler der internationalen Konzerne, auch wenn dies einer der ebenso beliebten wie falschen Vorwürfe der Gentechnikgegner ist. Andererseits hat der Anbau internationaler Produktlinien - jährlich geschieht dies weltweit auf einer Fläche von über 40 Millionen Hektar - dazu beigetragen, den Bedenkenträgern die Argumente zu nehmen; denn die Prognosen sind nicht Realität geworden. Im Gegenteil: Es gab wesentliche Vorteile, wie die Reduzierung von Erosionsproblemen oder die Verminderung des Chemieeinsatzes. Auch deshalb ist es längst überfällig, in Deutschland endlich eigene Erfahrungen im großflächigen Anbau zu machen - unter Beobachtung der Wissenschaft, mit Auswertung durch die Züchter und die Experten sowie unter den Augen von Öffentlichkeit und Journalisten. Der Abgeordnete Schröder hat heute Morgen gesagt - das ist das wichtigste Element -, dass wir eine Gesellschaft brauchen, die Bescheid weiß. Ich füge hinzu: Wir brauchen dann auch die Kommunikation mit den Verbrauchern: Denn welcher Verbraucher weiß wirklich etwas über Chancen, Potenziale, Bedingungen der Bio- und Gentechnik in Ernährung und Umwelt? Wie sehr sich die Bundesregierung hier drückt, zeigt das Argument, der Verbraucher wolle keine Produkte der Gentechnik. Das ist aber doch nichts anderes als das Eingeständnis: Wir haben die Bürger nicht informiert. Oder: Wir wollen sie nicht informieren. ({2}) Dazu passt auch die gegenwärtige Linie Ihrer zuständigen Ministerin Künast. Sie verfolgt offenbar das Ziel, grüne Gentechnik gänzlich totzuschweigen und das bisher zarte Pflänzchen verdorren zu lassen. ({3}) Dagegen hat die CDU/CSU bereits 1990 mit dem Gentechnikgesetz Maßstäbe gesetzt, die sich bis heute bewährt haben. Seitdem gilt in Deutschland für die Gentechnik: Sicherheit von Anfang an, Sicherheit Schritt für Schritt, eine an jede einzelne Entwicklung angepasste Sicherheitsforschung und Sicherheitsrabatt an keiner Stelle. Das muss man den Bürgern deutlich sagen. Ebenso eindeutig waren und sind wir für die Kennzeichnung gentechnischer Produkte. Das heißt aber auch Festlegung von standardisierten Testverfahren und Grenzwerten sowie eine europäische Vereinheitlichung. Wir sind in dieser Technologie für Offenheit und Transparenz gegenüber unseren Bürgern. Warum sollten wir verheimlichen, dass seit Jahren Tausende von Schiffsladungen von gentechnisch verbessertem Soja oder Mais in Deutschland verfüttert und verarbeitet werden, und zwar ohne jede negative Erkenntnis? Immerhin werden in unserem Land in diesem Jahr 1 000 Hektar als Versuchsfläche ausgewiesen, was mit Vorteilen und nicht mit Problemen verbunden ist. Warum - so frage ich - schaffen wir nicht auch in diesem Bereich ein Zehn-Jahres-Zukunftsprogramm für die Entwicklung der biotechnischen Potenziale in Ernährung, natürlicher Rohstoffversorgung, Energieeinsparung und Umweltentlastung analog zur roten Gentechnik? Warum fördern wir nicht die Einbindung gentechnischer Grundmethoden in den Biologieunterricht unserer Schulen? Deutschland muss heraus aus seiner Verweigerungsecke, was diese Technologie betrifft. Es muss auch bei der grünen Gentechnik heißen: Fortschritt in Verantwortung statt weiterer Erhöhung rot-grüner Ideologiebarrieren. Die Forschung, die wissenschaftlichen Einrichtungen, die Kompetenzzentren und die Unternehmen brauchen auch in Deutschland die Chance, zu beweisen, dass grüne Gentechnik genauso voller Fortschritt für den Menschen ist wie die Humangenetik. Lassen Sie mich mit einer Bemerkung schließen. Vor zehn Jahren noch wurde der Einbau eines menschlichen Gens in ein Bakterium als Horrorvision dargestellt. Heute lehnt keiner mehr Insulin aus gentechnischer Produktion ab. Deshalb ist es heute unsere Verpflichtung, solche Chancen auch in der grünen Gentechnik für die nächste Generation zu eröffnen. Gehen Sie auf diesem Weg mit, statt ihn weiter zu blockieren! Schönen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Kortmann.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sorge um die Chancen und Risiken, um den notwendigen Fortschritt und die gebotene Grenzziehung treibt mich ebenso wie viele andere in unserer Gesellschaft und auch in diesem Parlament um. Liegt doch die größte Verantwortung für uns in der Abwägung in dem nicht zu leugnenden Konflikt zwischen den lebens-, den überlebensnotwendigen Forschungen in der Medizin und der Beachtung und Einhaltung ethischer Grundlagen. Als Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken trete ich seit der Beschlusslage im Mai wie viele andere in diesem Hause für die Erarbeitung eines umfassenden Fortpflanzungsmedizingesetzes ein, welches den neuen biomedizinischen Entwicklungen Rechnung trägt, das aber auch nicht hinter den Schutzrahmen des geltenden Embryonenschutzgesetzes von 1990 zurückgehen darf. Präimplantationsdiagnostik, Forschung an embryonalen Stammzellen und therapeutisches Klonen erscheinen für viele kranke Menschen oder auch für Paare, die sich sehnlichst und auch mit Recht ein gesundes Kind wünschen, als der letzte Rettungsanker. Wer will diesen Menschen die notwendige Hilfe verwehren und vor allem mit welchem Recht? Wir haben die Chance, die Entstehung von Krankheiten und ihren Ablauf besser zu durchschauen. Chancen gibt es sowohl auf der diagnostischen als auch auf der therapeutischen Ebene. Wir müssen uns darin einig sein, dass wir auf das Genwissen nicht verzichten können. Aber verheißen uns manche Forscher nicht auch Aussicht auf Hilfe und Linderung, die sie zum jetzigen Forschungsstand leider niemandem garantieren können und dürfen? Diese menschliche Hoffnung auf den medizinisch-technischen Fortschritt darf aber doch niemals dazu führen, die Bedingungen für die Forschung und die Menschenwürde auf ein und dieselbe Stufe der Abwägung zu stellen. Vielmehr sind doch die Forscher ebenso wie wir alle an ethische Maßstäbe gebunden. An der Menschenwürde findet die Forschungsfreiheit ihre Grenzen, damit diese nicht zu unmenschlichen Konsequenzen führt. ({0}) Darauf haben in den vergangenen Wochen viele Verbände und Organisationen in Schreiben an uns hingewiesen. Ich danke den Kirchen für ihre wertvollen Beiträge. Die Deutsche Bischofskonferenz warnt beispielsweise mit Recht davor, zu glauben, die Fragen der Gentechnik mithilfe von Mehrheitsentscheidungen klären zu können, und appelliert an die Forscher, dass sie die menschendienliche Perspektive nicht aus den Augen verlieren. ({1}) Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt; dazu verpflichten uns das Grundgesetz und die grauen- und leidvollen Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit. Deshalb geht es bei der Gentechnik nicht allein um einzelne individuell zu beantwortende Problembereiche, sondern in dieser Debatte geht es vor allem um die zukünftige ethische und moralische Verfassung unserer Gesellschaft. Wie viel wollen wir bestimmen, was wollen wir festlegen, was ist für uns wertvoll, was ist für uns wertlos, was ist schützenswert und was ist aufgebbar? Die so genannte Menschheitsformel des kategorischen Imperativs von Kant bietet hier Orientierung. Der Kollege Michael Müller hat darauf hingewiesen, ich zitiere sie gerne noch einmal, weil wir sie als Handlungsrahmen nicht außer Acht lassen dürfen. Kant sagte: Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. Setzen wir uns gemeinsam, liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür ein, die Gentechnik für einen Fortschritt und für ein Leben nach menschlichem Maß zu nutzen, wie es der Bundespräsident in der vergangenen Woche angemahnt hat. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Katherina Reiche.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Klon-Schaf Dolly, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und Berichte über angebliche Designerbabys entfachen einen Streit im Spannungsfeld zwischen Menschenwürde und Forschungsfreiheit. Wir erleben eine Spannbreite der Diskussion von der Voraussage der Apokalypse einerseits und Heilsversprechen der Wissenschaft andererseits. Viele Fragen müssen geklärt werden. Die Antworten auf diese Fragen wird uns jedoch kein Rat, auch kein Nationaler Ethikrat, geben können. Am Ende der Debatte steht eine Entscheidung hier im Deutschen Bundestag. Ich persönlich führe meine Überlegungen in dem besonderen Spannungsfeld als Mutter, Christin und Naturwissenschaftlerin. Die Sorge um meine Tochter begleitet mich seit dem Moment, in dem ich erfuhr, dass ich ein Kind erwarte. Meine ersten Fragen bei den Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt lauteten jeweils, ob alles in Ordnung sei und das Baby gesund sei. Sind solche Fragen diskriminierend? Die Frage: „Was wäre, wenn ...?“ beschäftigt uns noch immer. Ich denke an meine amerikanischen Gasteltern, die drei von sieben Söhnen verloren. Alle starben zwischen dem zwölften und sechzehnten Lebensjahr an einer tödlichen Erbkrankheit, der DuchenneMuskeldystrophie. Mir fährt es kalt den Rücken herunter, wenn ich lese, dass in Paris ein PID-Kind zur Welt kam, dessen Eltern zuvor zwei Kinder begraben haben, weil sie einem tödlichen Leberleiden erlagen. Es ist mir unmöglich, Ihnen unmoralisches Handeln zu unterstellen. In Deutschland ist die PID unzulässig. In zehn Ländern Europas ist die PID erlaubt. Ich erlaube mir den Hinweis, dass nationale Sonderwege ethische Probleme ganz eigener Art nach sich ziehen. Ich sehe die PID als Erweiterung des Spektrums der vorgeburtlichen Diagnostik. Interessiert beobachte ich die Haltung einiger Teile der jetzigen Koalition und Regierung, in der ich gewisse Widersprüche ausmache. Der Philosoph Robert Spaemann sagte: Konsequenz im Denken und im Handeln ist nur dort eine Tugend, wo man den richtigen Anfang gemacht hat. Nun weiß ich im Kontext der heutigen Debatte nicht, ob Mitte der 90er-Jahre einige Teile der jetzigen Koalition bei der Reform des § 218 StGB den richtigen Anfang gemacht haben. ({0}) Zurück zur PID. Das Töten des Embryos in vitro ist strafbewehrt, die eines Embryos in utero jedoch straffrei. Gespräche mit Seelsorgern und betroffenen Paaren überKarin Kortmann zeugten mich: Wer sich der Tortur - und ich sage bewusst „Tortur“ - einer PID unterzieht, will unbedingt ein Kind, kein perfektes, sondern eines, mit dem die Eltern gemeinsam alt werden können. ({1}) Impliziert ein dezidiertes Nein zur PID nicht auch ein tiefes Misstrauen gegenüber Eltern, Ärzten und Humangenetikern, eine Diagnose nicht rechtgemäß anzuwenden? Wenn die PID auf wenige Fälle begrenzt wird, wenn die Beratungspflicht hinzutritt und wenn die endgültige Entscheidung über jeden Einzelfall einem unabhängigen Gremium übertragen wird, dann sehe ich die Voraussetzungen für die Zulassung der PID in Deutschland gegeben. ({2}) Ich habe mir diese Position nicht leicht gemacht, vor allem nicht als Christin. Als Naturwissenschaftlerin weiß ich, dass wir am Beginn und am Ende des Lebens eben nicht allein objektives Wissen zur Grundlage unserer Anschauungen machen können. Dort endet Wissen, dort beginnt der Glaube. Ich glaube, dass wir aufgrund unserer Ebenbildlichkeit zu Gott verantwortlich mit der Schöpfung umgehen müssen. Und doch sage ich gerade als Christin, dass die Pflicht zur Hilfe durch Heilung und Leidminderung nicht gering zu schätzen ist. Wer fühlt sich nicht hilflos gegenüber dem Leid von Kranken, gegenüber dem Leid der Angehörigen? Die Sprecherin der Deutschen Krebshilfe sagt heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Da ist viel Verzweiflung im Spiel ...“ Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson wird in Zukunft die Stammzellenforschung helfen. Stammzellen haben ihr Potenzial ferner bei der Behandlung von Rheuma, von Herzkreislauferkrankungen oder von Querschnittslähmung unter Beweis gestellt. Adulte Stammzellen haben sich als Alternativen etabliert. Was aber, wenn die Forschung an adulten Stammzellen nicht zum Ziel führt oder man die Mechanismen der Zellentwicklung nur an embryonalen Zellen erforschen kann, um als Ziel die adulten Stammzellen für die Heilung von Krankheiten nutzbar machen zu können? Die Forschungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz ist durch andere Verfassungsgüter eingeschränkt. Bei der Beurteilung der Forschung an Stammzellen sind die Art und Weise der Gewinnung, die angewandten Methoden und die verfolgten Ziele zu unterscheiden. Können wir es rechtfertigen, deutschen Patienten Behandlungsmöglichkeiten zu verwehren, weil diese mithilfe von in Deutschland nicht zugelassenen Verfahren zustande gekommen sind? Oder importieren wir am Ende Therapien, deren Erforschung wir mit von hoher Moral getragenem Haupt ablehnen, deren Ergebnisse wir aber annehmen, um Gutes zu tun? ({3}) Wir können uns bei der Beantwortung solch schwieriger Fragen Zeit lassen. Da es nie allein um die Frage geht, ob wir das, was wir tun können, auch tun dürfen, sondern auch um die Frage, ob wir es unterlassen dürfen, müssen wir das Ganze sehr genau prüfen. Der Mensch ist ein Vernunftwesen mit Moral, was ihn zum Handeln mit Augenmaß befähigt. Die Intention des Heilens ist eine zutiefst christliche. Die Moral des Augenmaßes muss sich auch bei der Bewältigung des Wissenszuwachses in der Biomedizin bewähren und es ermöglichen, dieser Intention gerecht zu werden. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eine Gleichsetzung des Embryos mit dem geborenen Menschen ist nicht angemessen. Und: Forschung am Embryo ist vertretbar, wenn der Embryo überzählig ist und ohnehin sterben wird. Dies sind Zitate aus der Benda-Kommission, eingesetzt vom früheren Bundeskanzler, übrigens zu einem Zeitpunkt - der Kollege Merz ist nicht mehr da -, als der Bundestag ebenfalls eine Enquête-Kommission eingerichtet hatte. Wir sollten uns also hier nicht mit Dingen beschäftigen, die schon in der Vergangenheit ganz anders waren. Dass wir heute über Bio- und Gentechnologie als Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts diskutieren, zeigt, dass wir mit Ambivalenzen zu tun haben. Auf der einen Seite haben wir mit enormen Ängsten zu tun, die auch heute zum Ausdruck gebracht worden sind. Auf der anderen Seite haben wir mit Hoffnungen zu tun, von denen ich meine, dass sie zum Teil, zumindest nach dem heutigen Stand, übersteigert sind. Wir sollten bei vielen Kranken nicht übersteigerte Hoffnungen wecken. Über vieles, was wir heute diskutiert haben, wird erst in den nächsten Jahren, möglicherweise Jahrzehnten, als Ergebnis berichtet werden können. Die Debatte ist, glaube ich, deswegen so engagiert, weil sie eng mit unserer komplexen Gesellschaft verflochten ist, die nicht nur komplex ist, weil sie in vielen Punkten kompliziert wird, sondern auch deshalb, weil sie keinen Ort mehr kennt, an dem allgemeingültige und universelle Antworten und Wahrheiten begründet werden können. Sie ist auch deshalb komplex, weil weder ökonomische Nutzenkalküle noch wissenschaftliche Rationalität, aber auch nicht allein die Religion oder einzelne Juristen für die Gesellschaft als Ganzes sprechen können. Vieles von dem, was irgendwann einmal als undenkbar, unsittlich oder unmoralisch erschien, wird heute ganz anders bewertet. Das gilt für den legalen Abbruch von Schwangerschaften, das galt im Mittelalter für das Öffnen von Leichen zum Zwecke der Wissenschaft oder das gilt für das Austragen des Kindes einer unfallverletzten Frau, bei der der Hirntod festgestellt wurde. Über diese Tabubrüche reden wir. Ich denke, wir reden nicht über Verbrechen der Vergangenheit. Ich würde mich als Forschungspolitiker dagegen wehren, dass die Arbeit der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von vielen Biotechnikern und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in diesem Lande mit jenen Verbrechen gleichgesetzt wird. Das hat nichts miteinander zu tun. Diese Grenze sollten wir auch heute deutlich ziehen. ({0}) Dass gerade die Philosophie und natürlich auch die Theologie diese Fragestellung verstärkt aufgreifen müssen, wie wir gerade hier gehört haben, ist gerechtfertigt. Ich bedaure, dass die Geisteswissenschaften, die immerhin fast 20 Prozent des Etats der DFG bekommen, sich bei dieser Debatte mit Beiträgen noch immer bemerkenswert zurückhalten. Ich würde mir wünschen, dass es auch aus diesem Bereich mehr Beiträge gäbe. ({1}) Es gibt keine kategorischen Antworten. Ich zitiere das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das gesagt hat, die Forschung könne das Gesamt der Forschung nicht überblicken. Das ist wahr. Im Umkehrschluss heißt dies aber auch, dass eine Amtskirche das Gesamt der Gesellschaft nicht überblicken kann, genauso wenig wie der Flügel einer Partei dies könnte. Deshalb will ich ein paar Punkte benennen, bei denen aus forschungspolitischer Sicht meiner Auffassung nach die Grenzen liegen. Zunächst will ich keinen Schutz weniger Zellen im Reagenzglas, der stärker wäre als beispielsweise der Schutz der Embryonen im Mutterleib. Das ist nicht mein Verständnis von Menschenwürde. Es kann und darf keine „Züchtung“ von Menschen geben. Kürzlich hat jemand gesagt: Wenn Eltern viel Geld für Privatschulen für ihre Kinder ausgeben, was man ihnen nicht übel nimmt, dann würden sie auch intelligente Kinder gezüchtet haben wollen. - Ich halte dies für eine Überschätzung der gentechnischen Möglichkeiten. Kinder, Menschen sind mehr als nur Zellen, sie sind mehr als nur möglicherweise im Reagenzglas erzeugte Gebilde, die beliebig manipulierbar sind. Wir könnten im Grunde genommen auch die Bildungspolitik einstellen, wenn wir davon ausgingen, dass man alles im Reagenzglas züchten könnte. Aber eine solche Züchtung darf es nicht geben und bei PID geht es auch nicht darum. Es darf keine Eingriffe in die Keimbahn geben. Der genetische Neuentwurf des Menschen ist nicht das Thema, über das wir hier diskutieren; er ist auch nicht angestrebt. Die Erzeugung von Embryonen für Forschungszwecke lehne ich ebenso ab. Im Gegensatz zu manch pessimistischer Aussage, die wir heute gehört haben, sage ich deutlich: Das könnten wir als Gesetzgeber verhindern; wir wären dazu in der Lage. Aus diesem Grunde will ich mit einem Zitat von Robert Leicht aus der heutigen „Zeit“ schließen. - Ich hoffe, wir sind davor bewahrt, eine ideologisierte Debatte zu führen, die möglicherweise nur zu Schärfen führt, die schwer zurückholbar sind. - Robert Leicht hat gesagt: „Ethischer Maximalismus im Gewand staatlicher Gesetze - das wäre ... der Schritt vom Fundament zum Fundamentalismus.“ Allen, die der Auffassung sind, dass wir diesen Schritt zum Fundamentalismus gehen sollten, sage ich: Ich würde nicht mitgehen, selbst dann nicht, wenn er unter dem Deckmantel der Menschenwürde daherkäme. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte hat viele Aspekte, ganz gewiss auch rechtspolitische Aspekte. Es geht angesichts der ungeheuren Möglichkeiten, die die Humangenetik uns heute bietet, natürlich auch um die Frage der Grundprinzipien unserer verfassungsmäßigen Ordnung. Die Unionsfraktion hat aufgrund ihres Selbstverständnisses schon immer Wert darauf gelegt, dass wir von dieser Grundordnung nicht durch falsche Weichenstellungen weggeführt werden. Wir haben deshalb schon im Jahre 1990 das Embryonenschutzgesetz vorgelegt, das hier von allen gelobt worden ist. Unsere Verfassung hat sich für eine wertgebundene Grundordnung entschieden, an deren Anfang der klassische Satz „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...“ steht und in deren Mittelpunkt der Mensch, sein Recht auf Freiheit, sein Recht auf Leben und sein Recht auf die Unantastbarkeit seiner Würde stehen. Diese Grundrechte überragen unsere gesamte Rechtsordnung. Sie finden sich nicht in gleichem Maße, in dieser herausragenden Stellung, in anderen Verfassungen. Das hat nichts mit einer Abwertung anderer Verfassungen, sondern mit unserer Geschichte und den leidvollen Erfahrungen zu tun, die anderen Völkern erspart worden sind. Darauf hat das Verfassungsgericht immer wieder hingewiesen, in einer sehr markanten Weise in einem Urteil vom 25. Februar 1975 zur Fristenregelung. Die entscheidende Frage, die uns hier bewegt, ist, ob dem Embryo im Reagenzglas das gleiche Recht auf Leben und die gleiche Würde zustehen wie dem geborenen Menschen oder dem noch nicht geborenen Menschen. Wir wissen, dass von Anfang an menschliches Leben besteht; das wird hier von niemandem bestritten. Aber gibt es einen graduellen Unterschied in der Schutzpflicht des Staates im Hinblick auf das Recht auf Leben und auf das Recht auf die Unantastbarkeit der Würde? Auch hierzu gibt es Entscheidungen des Verfassungsgerichtes, die im Zusammenhang mit dem Recht des Embryos in vivo, das heißt im Mutterleib, stehen. Ich erinnere an die Entscheidungen von 1975 und von 1993. Hier hat das Verfassungsgericht nach meiner Auffassung ganz klar festgestellt - das ergibt sich aus der Logik dieser Entscheidungen -, dass der Mensch von Anfang an Mensch ist, dass ihm von Anfang an das Recht auf Leben zusteht und dass er von Anfang an auch das Recht auf die Unantastbarkeit seiner Würde hat. Nun ist die Frage, ob einem Embryo im Reagenzglas - trotz der Technizität seiner Zeugung aufgrund der Tatsache, dass er am Anfang nicht in vivo, sondern in vitro lebt nicht in gleichem Maße zuzuerkennen sind, wie dies für den Embryo im Mutterleib gilt. Ich glaube, dies trifft zu. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Rechte nicht schon bei einem Embryo im Reagenzglas anzuerkennen. Alles andere stünde im Widerspruch zur Logik unserer Rechtsordnung. Das hat Folgerungen für die Präimplantation und natürlich auch für die Forschung an Embryonen. Denn wenn dem Embryo das Recht auf Leben ungeteilt zusteht und wenn er ein ungeteiltes Recht auf die Unantastbarkeit seiner Würde hat, dann ist die Forschung an Embryonen nicht möglich. Dies gilt dann ganz gewiss für die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken, die ja aufgrund unseres Embryonenschutzgesetzes nicht möglich ist. Aber das gilt auch für die „überzähligen“ Embryonen, wobei ich bitte, das Wort „überzählig“ immer in Anführungszeichen zu setzen. Denn es erinnert allzu sehr an Vorgänge, an denen wir noch heute schwer zu tragen haben. Man soll in diesen Fragen mit der Semantik vorsichtig umgehen. Ich glaube, dass für „überzählige“ Embryonen das gleiche Recht gelten muss wie für Embryonen, die zu Forschungszwecken hergestellt werden. Das heißt, eine Forschung an solchen Embryonen darf nicht möglich sein. Unsere Verfassung verweist unsere Forschung auf andere Wege und diese Wege führen vielleicht eher zum Ziel, weil sie, wie ich meine, das Humanum mehr achten und weil sie, wie ich meine, mehr im Einklang mit unserer Schöpfung stehen. Das gilt aber auch für die Präimplantationsdiagnostik; denn hier geschieht keine reine Diagnose. Sie wird vielmehr angewandt, um zu selektieren. Nur gesunde Embryonen sollen übertragen werden. Hier meine ich, dass der Vergleich zwischen Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik, das heißt der Vergleich zwischen einem Embryo im Reagenzglas, also außerhalb des Mutterleibes, und einem Embryo im Mutterleib durchaus angezeigt erscheint. Ich sehe im Grunde keinen Unterschied zwischen der Tötung des Embryos im Reagenzglas und einer Abtreibung. Es wird immer eingewandt, bei der Abtreibung komme die Konfliktsituation der Frau mit ins Spiel. Das mag richtig sein, aber genau dieselbe Konfliktsituation kann bei einer bewussten Übertragung eines im Reagenzglas befindlichen kranken Embryos in den Mutterleib gegeben sein. Hier besteht also im Grunde genommen kein Unterschied. Das kann aber wiederum nicht heißen, dass wir es dann, wenn wir es hier erlauben, auch dort erlauben. Wir müssen uns vielmehr die Frage stellen, ob diese Gesetzespraxis, die in unserem Land insbesondere für die Spätabtreibung gilt, noch verfassungskonform ist, das heißt, im Einklang mit unserem Grundgesetz steht. Diese Frage darf hier nicht tabuisiert werden; denn es geht auch um einen Vergleich mit der Spätabtreibung. Da der Embryo im Reagenzglas einer fast unkontrollierbaren Gefährdung ausgesetzt ist, stellt sich noch eine weitere Frage, der man nicht ausweichen kann, nämlich, ob die Zeugung im Labor richtig sein kann. Wenn man diese Frage bejaht, muss aber die Gesellschaft Regelungen treffen, um diese Gefährdung zu reduzieren. Ich meine, das sollten wir bei künftiger Gesetzgebung mit berücksichtigen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Würde des Menschen und sein Recht auf Leben sind keine hehren Ziele unserer Verfassung, sondern sie sind das Minimum, das der Staat seinen Menschen zu gewähren hat. Dieses Minimum steht auch dem Embryo im Reagenzglas zu. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hanna Wolf.

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich in meinem Beitrag mit den Versprechungen und Risiken der Präimplantationsdiagnostik - kurz PID - für Frauen auseinander setzen. Die Frauen kommen in der derzeitigen Diskussion kaum mehr vor. ({0}) Heute haben Gott sei Dank einige Kollegen darauf abgehoben. Ich will die Frauen wieder ins Zentrum rücken und ich werde begründen, warum ich die PID ablehne. Zur Vorgeschichte: Ohne künstliche Befruchtung im Reagenzglas fände heute keine Debatte über PID statt. Diese künstliche Befruchtung wird unfruchtbaren Frauen angeboten. Sie ist keine Heilung im ärztlich-ethischen Sinn, sondern eine Art Dienstleistung. Sie geht von der falschen Vorstellung aus, es gäbe ein Recht auf ein genetisch eigenes Kind. Die künstliche Befruchtung in vitro verlangt zunächst eine hormonelle Überstimulation und eine operative Eizellenentnahme. Sie ist nur in maximal 20 Prozent der Fälle erfolgreich. Die physischen und psychischen Folgen dieser so genannten Behandlung sind bisher nicht in Langzeitstudien erforscht. Bei dieser künstlichen Befruchtung entstehen mehrere Embryonen. Deshalb ist dies für mich bereits der Dammbruch hin zur Embryonenproduktion. ({1}) Unfruchtbare Frauen stehen unter Druck. Das vermeintliche Recht auf ein genetisch eigenes Kind kann zum psychischen Zwang werden. Nun zur PID. Sie bezieht sich im Prinzip nicht auf unfruchtbare, sondern auf fruchtbare Frauen. Sie könnten jederzeit ein Kind bekommen, allerdings mit dem Risiko einer Erbkrankheit. Auch diese fruchtbaren Frauen werden einer hormonellen Überstimulation und einer operativen Eizellenentnahme unterworfen. Hierfür werden noch mehr Embryonen als für die In-vitro-Fertilisation benötigt. Die Entscheidung, welche Embryonen eingepflanzt werden, fällen Spezialisten im Labor - nicht die Frau. Ob das Kind wirklich ein Risiko trägt, kann aber endgültig erst während der Schwangerschaft festgestellt werden, wenn überhaupt. Dann allerdings entscheidet die Frau, ob sie sich im Konflikt sieht und wie sie sich zu dieser Tatsache verhalten will. Der Konfliktfall gemäß § 218 StGB bezieht sich nur auf die Einheit in der Zweiheit zwischen Frau und Fötus. ({2}) Der Fötus kann nur mit der Frau geschützt werden. Um dieser Schutzmöglichkeit willen gibt es den Kompromiss der Straffreiheit bei Abtreibung. Was ist aber durch PID geschehen? Aus dem vermeintlichen Recht auf das genetisch eigene Kind ist ein vermeintliches Recht auf ein genetisch eigenes gesundes Kind geworden. Für die Frau entsteht weiter Druck. Ein nicht gesundes Kind kann ihr zum Vorwurf gemacht werden, vom Partner, von der Familie, von der Gesellschaft. Eine perfekte Mutter muss also ein perfektes Kind zur Welt bringen. Die PID löst auch Begehrlichkeiten auf überzählige Embryonen aus, für embryonale Stammzellenforschung, für das therapeutische Klonen, für die so genannte Spende von Eizellen für unfruchtbare Frauen. Die Gewinnung von Eizellen für diese Zwecke würde über kurz oder lang folgen, der Bedarf würde ansteigen. Eizellen werden aber nicht gespendet wie Blut. Ihre Gewinnung ist mit erheblichen gesundheitlichen Risiken für die Frauen verbunden. Ein Handel übelster Art könnte beginnen. Die Worte „Zweck“ und „Gewinnung“ von Embryonen ist nach meiner Meinung mit Art. 1 des Grundgesetzes unvereinbar: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - nicht nur die Würde werdenden Lebens, sondern auch die Menschenwürde der Frauen. Ich lehne also die PID aus moralischen, physischen, psychischen und sozialen Gründen ab. In dieser Ablehnung weiß ich mich einig unter anderem mit dem Deutschen Ärztinnenbund. Huxley hat schon 1932 in seinem utopischen Roman „Schöne neue Welt“ mögliche Entwicklungen der Biomedizin, nämlich die Ablösung der menschlichen Geburt vom mütterlichen Körper und die Selektion der Embryonen, nicht als Heilsbotschaft für Frauen, sondern als Warnung verstanden. Wir dürfen seine Warnung auch im neuen Jahrtausend nicht überhören. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Kues.

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den Fragen, die wir heute diskutieren, kann niemand die Verantwortung an jemand anders delegieren, sondern jeder muss sich informieren, wir müssen Argumente austauschen und wir müssen uns schließlich ein Urteil bilden. Das gilt für Forscher, das gilt für Anwender, das gilt für Nutzer und das gilt für Politiker gleichermaßen. Ich sage ausdrücklich: Moral ist keine Frage von Experten oder Fachgremien. Es genügt auch nicht, zu sagen, ich bin Forschungspolitiker, Rechtspolitiker. Die Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch in der zentralen Frage und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist jedem Menschen zuzumuten. Ich bin dafür, dass wir diese Debatte in Klarheit und Ernsthaftigkeit führen, ohne dass wir anderen Fortschrittsfeindlichkeit oder Ideologiebehaftetheit vorwerfen. Dazu passt auch nicht - das muss ich hier ebenfalls sagen -, dass der Bundeskanzler bereits in einer sehr frühen Phase die Kirchen und damit auch die Christen in die Nähe der Position mit „ideologischen Scheuklappen“ gerückt hat. ({0}) Es reicht auch nicht aus, die Christen und die Kirchen - es ist ja heute vielfach davon die Rede gewesen - in unserem Land zu respektieren und sie sich sozusagen wie in einem zoologischen Park für ethisches Sondergut zu halten. Nein, ich glaube, sie gehören mit ihren Überzeugungen und ihren Argumenten in die Gesellschaft und in die gesellschaftlichen Debatten hinein. ({1}) Ich glaube nur, dass wir auch bereit sein müssen, uns von ihnen, wenn sie sich sehr detailliert und konkret äußern, ins Gewissen reden zu lassen. ({2}) Das gilt ganz besonders für die heute hier angesprochene Fragestellung. Es ist völlig legitim, verschiedene Güter und verschiedene Übel miteinander in Konkurrenz treten zu lassen. Es gibt natürlich eine ethische Verantwortung für Wirtschaft und Arbeitsplätze. Es gibt auch eine ethische Verpflichtung zum Heilen, insbesondere zur Vermeidung von schier unerträglichem Leid, zur Bekämpfung von bislang als unheilbar geltenden Krankheiten. Es gibt auch das hohe Gut der Forschungsfreiheit. Aber es gibt auch nicht zuletzt den Respekt vor der Würde eines jeden Menschen. Ich sage ausdrücklich, man kann diese Güter und Interessen gegeneinander abwägen, aber die ethische Abwägung fängt eigentlich jetzt erst an, wenn man sie formuliert hat. Denn jetzt müssen wir Wertentscheidungen treffen, nach welchen Maßstäben, nach welchen Kriterien und nach welchen Rangordnungen wir die zu entscheidenden Güter abwägen. Die christlichen Kirchen in Deutschland - es haben sich ja heute viele als Christen erklärt - haben uns in den letzten Wochen unmissverständliche Fixpunkte als Haltegriffe an die Hand gegeben. Das passiert nicht immer, und es gilt für den Rat der EKD, für die Vereinigung der Evangelischen Kirchen, für die katholische Deutsche Bischofskonferenz und auch für das Zentralkomitee der Hanna Wolf ({3}) deutschen Katholiken. Nicht nur als Mitglied des Zentralkomitees, sondern auch als Christ und Staatsbürger bin ich froh, dass sich die aus dem christlichen Menschenverständnis und dem Grundgesetz ergebenden Rangordnungen sehr ähnlich sind. Dort heißt es - das sagen auch die aktuellen kirchlichen Stellungnahmen -: Die Würde des Menschen - unabhängig von seinen Entwicklungsstufen und seinen Fähigkeiten - ist unantastbar; sie nimmt in der Rangordnung der abzuwägenden Güter die erste Stelle ein. Konkret heißt das: Die Würde des Menschen wird dort verletzt, wo der Mensch als Träger der Menschenwürde vom Staat oder von anderen Menschen zum bloßen Objekt gemacht und ausschließlich für Zwecke anderer genutzt wird, sei es für den Zweck der freien Forschung oder den Zweck, später Kranke heilen zu können. ({4}) Ich meine, auch ein noch so guter Zweck heiligt nicht das Mittel, die Würde eines einzelnen Menschen anzutasten. Das - und nur das - ist für mich der Maßstab. Es geht auch nicht um eine christliche oder kirchliche Sondermoral. Aber ich glaube, dass den Kirchen ein Erfahrungsschatz zur Verfügung steht, auf den eine plurale Gesellschaft aufbauen kann. Ein guter Teil dieses Schatzes ist auch in das Grundgesetz eingegangen. Nicht von ungefähr steht in der Präambel die Verpflichtung zu handeln vor „Gott und den Menschen“. Ich setze in den kommenden Wochen auf die Kraft der Argumente und darauf, dass diese klärende Wirkung haben. So haben sich die Positionen als falsch, weil einer rationalen Begründung nicht standhaltend, erwiesen, die Menschenwürde sei an die Fähigkeit der Selbstachtung oder des Selbstbewusstseins geknüpft oder der Mensch werde erst durch die Geburt zum Menschen. Ebenso ist für mich klar geworden, dass der vielfach ins Gespräch gebrachte Vorschlag, die im Falle eines Schwangerschaftskonflikts aus guten Gründen eingeführte Rechtskonstruktion „rechtswidrig, aber straffrei“ auf die bedingte Zulassung der PID zu übertragen, unlogisch wäre. Wir brauchen die Diskussion auch, um Zusammenhänge zu erkennen. So ist mir im Zusammenhang mit der Diskussion über die bedingte Zulassung der PID viel stärker bewusst geworden, dass wir die PID nicht ungeachtet des skandalösen Zustands der so genannten Spätabtreibungen diskutieren können. Dass in Deutschland solche Spätabtreibungen, das heißt Schwangerschaftsabbrüche bei zu erwartender Krankheit oder Behinderung des Kindes bis unmittelbar vor dem Zeitpunkt der Geburt erfolgen, ist ein Skandal. ({5}) Lassen Sie mich mit einer grundsätzlichen Bemerkung schließen, die mir wichtig ist. Weder aus dem christlichen Menschenverständnis noch aus der Bibel ergeben sich konkrete unmittelbare Handlungsoptionen für ethisches und politisches Handeln. Wohl aber ergeben sich daraus Kriterien und Rangordnungen für die anstehende Urteilsbildung. Sie bilden einen Kompass, ein ethisches Koordinatensystem, das mir die Möglichkeit gibt, mich mit meinen Überlegungen an der Urteilsbildung zu beteiligen, und sie geben mir die Gewissheit, dass Ethik eben nicht - auch nicht an einen Nationalen Ethikrat - delegierbar ist. Hierbei sind wir schon selbst gefordert. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Margrit Wetzel.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Immanuel Kant gründet die Würde des Menschen nicht nur in seinem Zweck-an-sich-selbstSein, sondern entwickelt auch die regulative Idee der Menschheit in der Person als eine uns aufgegebene Pflicht. Völlig im Einklang damit sagt das Bundesverfassungsgericht: „Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“ Die Würde des Menschseins liege auch im ungeborenen Leben im Dasein um seiner selbst willen, daher verbiete sich jegliche Differenzierung der Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand dieses Lebens. ({0}) Deutlich auch die Ablehnung der Erzeugung menschlichen Lebens, „um es alsbald wieder zu vernichten“. Es gibt also gute Gründe, an der Substanz des Embryonenschutzgesetzes ohne Wenn und Aber festzuhalten. ({1}) Für etwa 50 Paare jährlich in Deutschland wird ihr Kinderwunsch zu einem Problem, weil sie aufgrund genetischer Belastungen mit hoher Wahrscheinlichkeit erbkranke Kinder bekämen. Es gibt verschiedene Konfliktlösungen. Einige dieser Paare verzichten auf die Zeugung und damit ganz auf eigene Kinder. Andere entscheiden sich für den Verzicht auf die biologische Vaterschaft und nehmen eine Samenspende an. Andere nehmen ein fremdes Kind an oder - die vielleicht schwerste aller Entscheidungen - sie nehmen ihr Schicksal in Gestalt eines erbkranken Kindes bewusst an. Wer sich in dieser Situation für die Präimplantationsdiagnostik entscheidet, steht damit nicht in einem Konflikt, sondern setzt bewusst den Wunsch nach einem eigenen, genetisch unbelasteten Kind um. Er erteilt einen ärztlichen Dienstleistungsauftrag zur Erzeugung einer ausreichend hohen Anzahl von Embryonen durch künstliche Befruchtung und zur Gendiagnose. PID ist ein von gentechnischen Kriterien geleitetes Handeln in der Petrischale: nicht Konflikt, sondern Kalkül. Zweck der Diagnose ist die Aussonderung erbkranker Embryonen, ihre Verwerfung. Es ist die Selektion mit der Hoffnung, mindestens einen ungeschädigten Embryo für eine Schwangerschaft zu erzeugen. Wer hier eine Parallele - rechtswidrig, aber straffrei - zur unabwendbaren Notlage beim Schwangerschaftsabbruch konstruiert, verwechselt den Kinderwunsch, der einen Lebensentwurf ohne ein eigenes und gesundes Kind scheinbar nicht zulässt, mit dem ungewünschten Kind, dessen Austragung gegen den Willen der Mutter nicht erzwungen werden kann. ({2}) Sehen wir uns die Erfolgsrate der PID an, die eine entsetzlich hohe Belastung für die betroffenen Frauen bedeutet. Die ESHRE-Studie weist für den Zeitraum von 1993 bis 2000 die Behandlungen von 886 Frauen weltweit aus, die zu 123 Geburten und 162 Kindern führten. Durchschnittlich wurden dabei pro Geburt 74 Eizellen befruchtet und elf Embryonen transferiert. Ich frage mich, was sich diese Frauen damit antun. Bezogen auf die circa 50 betroffenen Paare, abzüglich derer, die andere Alternativen wählen, kämen damit bestenfalls zwei bis drei PIDKinder jährlich in Deutschland zur Welt. Sollen wir dafür den Embryonenschutz aufgeben? ({3}) Einen Indikationenkatalog will aus gutem Grund niemand aufstellen. Eine Begrenzung auf bestimmte Krankheiten wird niemals haltbar sein. Zu verlockend ist die immer wieder in die Debatte gebrachte Qualitätssicherung der IVF. Schnell sind wir bei der Altersindikation, der Eizellspende und der verbrauchenden Embryonenforschung. Ist der Kinderwunsch erbkranker Eltern, der unser Verständnis und unser Mitleid weckt, nicht in Wahrheit ein trojanisches Pferd für den Wunsch einiger Forscher, den Einstieg in die verbrauchende Embryonenforschung zu legalisieren und scheinbar moralisch zu legitimieren? ({4}) Wir werden noch viele Debatten führen müssen, noch viele Argumente austauschen, unseren ganzen Verstand, unsere ganze Urteilskraft und unsere ganze Vernunft einsetzen müssen, und zwar jeder Einzelne von uns, der auf der Grundlage seines Wissens und seines Gewissens in diesen Fragen an Entscheidungen mitwirken wird. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Rachel.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Forschungspolitiker und Christ in der Politik treiben mich die neuen Möglichkeiten, Chancen und Risiken um, die sich aus der Verknüpfung von Biotechnologie und Fortpflanzungsmedizin ergeben. Es ist das erste Mal in meiner siebenjährigen Tätigkeit im Deutschen Bundestag, dass ich das Gefühl nicht loswerde, mein Streben als Forschungspolitiker könnte in Widerstreit zu manchen Wertgrundlagen geraten, die ich als Christ und Landessynodaler der evangelischen Kirche habe. Was ist es, was diese besondere Schwierigkeit ausmacht, vor der wir stehen? Die sich abzeichnenden Möglichkeiten in Biotechnologie und Medizin haben eine völlig neue Qualität; denn erstmals scheint die Menschheit fähig zu sein, den Menschen selbst zu verändern. Damit stehen wir als Gesellschaft vor der Frage: Dürfen wir alles zulassen, was wir technologisch können? Aber ich ergänze: Dürfen wir etwas unterlassen, wozu wir technologisch in der Lage wären? Manche erzeugen in der öffentlichen Diskussion den Eindruck, als ob es den Wissenschaftlern um Menschenzüchtung gehe. Diese Beschreibung hat mit den Wissenschaftlern in Deutschland nichts zu tun. ({0}) Ehrlicherweise muss man sogar einräumen, dass sich die Forschung in einem Dilemma befindet. Die differenzierte und ausführliche Stellungnahme der DFG zeigt dies. Forschung und Wissenschaft können nicht Selbstzweck sein oder ausschließlich einem nicht mehr zu hinterfragenden, abstrakten Forschungsinteresse dienen. Auch die Wissenschaft muss gegenüber der Gesellschaft Rechenschaft ablegen und am Wohl der Menschen Maß nehmen. Aber es ist doch gerade der Urauftrag der Wissenschaft, sich im Bereich der Biomedizin für ein neues Verständnis von Krankheitsprozessen und neue Arzneimittel einzusetzen, um Krankheiten wie Parkinson oder Krebs zu beseitigen. ({1}) Deshalb bin ich gegen eine Dämonisierung der Wissenschaft, wie sie von manchen versucht wird. Übrigens nimmt auch die evangelische Theologie die Hoffnung auf neue Heilungsmethoden auf gentechnologischer Grundlage sehr ernst. Denn aus dem Gebot der Nächstenliebe ergibt sich geradezu die Pflicht, Möglichkeiten wahrzunehmen, um Menschen in Not zu helfen. Aber - hier kommen wir zur notwendigen ethischen Grenzziehung - dieses Ziel rechtfertigt nicht jedes Mittel. Auch Therapieversprechungen rechtfertigen nicht jede Art von Forschung. Welches kann nun der Maßstab für die Beurteilung der neuen technologischen Möglichkeiten der Lebenswissenschaften sein? Für uns Christdemokraten ist es das christliche Menschenbild. Wir wollen größtmöglichen Freiraum für Bio- und Gentechnologie; diese Freiheit findet aber ihre Grenzen am absoluten Wert des Menschen und der Menschenwürde. Über den Menschen kann nicht verfügt werden, ganz gleich, auf welcher Entwicklungsstufe er steht, darf er nie zum bloßen Objekt von Forschungsund Wirtschaftsinteressen werden. ({2}) In voller Übereinstimmung mit den beiden großen Kirchen stellen wir Christdemokraten fest, dass mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle menschliches Leben entsteht. Ab dem ersten Tag ist die genetische Vorbestimmtheit und Individualität des Menschen gegeben. Damit genießt der Embryo bereits in den ersten Tagen seines Entstehens eine klare Schutzwürdigkeit. Aus diesem Grunde lehnt die CDU Deutschlands die Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken und die verbrauchende Embryonenforschung ab. Es muss auch andere Wege als die Vernichtung menschlichen Lebens geben. Ein solcher Weg liegt in der Erforschung adulter Stammzellen und der Stammzellen aus dem Blut der Nabelschnur. Lassen wir doch Deutschland zum Vorreiter gerade dieses Forschungszweiges, der ethisch nicht belastet ist, werden. ({3}) Ich räume ein, dass ich anfangs die so genannte Präimplantationsdiagnostik, PID, vollkommen abgelehnt habe. Je mehr ich mich aber mit dem Sachverhalt befasst habe, desto mehr bin ich ins Nachdenken gekommen. Die Frage ist letztlich: Kann man PID grundsätzlich verbieten? In zehn europäischen Nachbarländern wird die Methode der PID bereits erlaubt und praktiziert. Für mich käme eine Zulassung der PID nur für solche Paare infrage, die von einer schwersten genetischen Vorbelastung, für die es keine Behandlungsmöglichkeiten gibt, betroffen sind. Bei der PID handelt es sich in meinen Augen im Prinzip um eine vorgezogene Pränataldiagnostik. Bereits heute befindet sich unsere Gesellschaft in einem moralischen Dilemma: Wer diese Diagnostikmethode ablehnt, muss bei geltender Rechtslage in Kauf nehmen, dass ein Fötus mit genetischen Schäden erst nach dem dritten Monat oder zu einem späteren Zeitpunkt abgetrieben wird, während bei Anwendung der PID keine Einnistung der Eizelle stattgefunden hätte. Die PID könnte somit helfen, einer Frau in Konfliktsituation einen späteren Schwangerschaftsabbruch zu ersparen. ({4}) Dass man die PID nicht in hundert Prozent aller Fälle verbieten kann, hat mir ein Fall aus Amerika gezeigt: Eine Familie hatte eine schwerst kranke Tochter, die voraussichtlich mit sieben Jahren sterben würde. Die Eltern wollten ein weiteres Kind und haben sich gefragt, was sie tun können, um ihrem kranken Kind zu helfen. Sie haben sich für den Weg entschieden, Stammzellen aus der Nabelschnur eines Neugeborenen zu gewinnen, um damit der kranken Tochter eine Heilungschance zu geben. Sie wählten nach künstlicher Befruchtung und PID den Embryo aus, der nicht die gleiche Erbkrankheit, wie sie bei der Tochter aufgetreten war, hervorbringen würde. Und in der Tat: Mit den Stammzellen, die sie der Nabelschnur des neugeborenen Jungen entnommen haben, konnte die kranke Schwester geheilt werden. ({5}) War dieser Weg ethisch und moralisch verwerflich? Mithilfe von PID konnte Leben gerettet werden. Wer wollte hier den ersten Stein werfen? Der Vorgang zeigt, dass man wahrscheinlich nicht in hundert Prozent aller Fälle PID ausschließen kann. Die Indikation für die Anwendung von PID müsste in meinen Augen auf Fälle schwerster genetischer Vorbelastung begrenzt und mit umfassender Pflichtberatung verbunden sein. Lassen Sie mich abschließend fragen: Was tun wir eigentlich mit den Daten, die wir mithilfe der neuen gendiagnostischen Verfahren bekommen? Jeder soll das Recht auf Wissen seiner eigenen Daten haben. Es darf aber keiner gezwungen werden, der Erhebung dieser Informationen zuzustimmen. Wir müssen es ausschließen, dass künftig Kranken- und Lebensversicherungen vor Abschluss eines Vertrages die Vorlage eines Gentests verlangen dürfen. ({6}) Anderenfalls würde dies das Ende der Solidargemeinschaft sowie das Ende der solidarischen Sozialversicherung, wie wir sie in der Bundesrepublik Deutschland haben, bedeuten. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie daran, dass Sie jetzt schon zwei Minuten überzogen haben.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin, nachdem Sie mich darauf hingewiesen haben, möchte ich zum Schluss kommen. Meine Damen und Herren, wir Parlamentarier haben eine große Verantwortung: Wir haben die Verantwortung, politisch alles zu tun - ich habe ein Beispiel genannt -, um eine Spaltung der Gesellschaft in Bürger mit guten und solche mit schlechten Genen zu verhindern. Wir wollen die Chancen der Gentechnik nutzen, aber keine Menschen ins Abseits stellen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Carola Reimann.

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte um die PID und die embryonalen Stammzellen ist untrennbar mit den Fragen der Menschenwürde, mit dem Beginn und mit dem Schutz des Lebens verbunden. Das haben wir heute des Öfteren gehört. Ich glaube, es gibt in diesem Hause niemanden, der den Beginn des menschlichen Lebens nicht durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle definiert, und auch niemanden, der solch einer befruchteten Eizelle abspricht, dass es sich um menschliches Leben handelt und Menschenwürde besitzt. Im Zusammenhang mit der PID stellt sich für mich eine zentrale Frage: Wie ist der Status des Embryos in vitro? Kann und soll man einen Embryo in vitro anders schützen als einen Embryo in vivo? Ich halte es für fragwürdig, befruchtete Eizellen außerhalb des Körpers unter einen höheren Schutz zu stellen als Embryonen im Mutterleib. Vor der Nidation, also vor der Einnistung der Eizelle in der Gebärmutter, besteht für natürlich entstandene Embryonen kein Schutz. Gängige Verhütungsmethoden wie die Spirale verhindern die Einnistung des entstandenen Embryos im Körper der Frau und sind gesellschaftlich breit akzeptiert. Bei einer natürlichen Schwangerschaft beginnt der Schutz des Embryos erst mit dem Zeitpunkt der Nidation. Betrachtet man nun Embryonen in vivo und in vitro unabhängig vom Zeitpunkt dieser Nidation, so kann man § 218 meiner Ansicht nach nicht außer Acht lassen. Es stellt sich die zusätzliche Frage, ob wir Embryonen zu einem frühen Zeitpunkt, nämlich unmittelbar nach der Befruchtung und noch vor der Einnistung in der Gebärmutter, bei Androhung von Strafe stärker schützen sollten als solche Embryonen, die schon einige Wochen alt sind und deren Abtreibung zwar nicht erlaubt ist, aber unter den Voraussetzungen des § 218 straffrei bleibt. Im täglichen Leben nehmen wir ein differenziertes Lebensschutzkonzept hin. Ich warne davor, eine Ethik zu fordern, die von niemandem gelebt wird und auch von niemandem gelebt werden will. Das führt geradewegs zu einer Doppelmoral. ({0}) Lassen Sie mich einen Aspekt nennen, der auch mir in der Diskussion immer wieder zu kurz kommt, nämlich die Position der Frau. Die Rolle der Frau reduziert sich häufig auf ein diffuses Schwangerschaftsumfeld. Man konzentriert sich stark auf das Potenzial der befruchteten Eizelle, ohne ausreichend zu berücksichtigen, dass die Realisierung dieses Potenzials von einer Frau abhängig ist. Meiner Ansicht nach kommt der Frau deshalb eine Schlüsselposition zu. Die Rechte des Embryos müssen deshalb gegen die Rechte der Frau abgewogen werden, ähnlich wie wir das bei § 218 bereits tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was bedeutet es, wenn die PID gänzlich verboten bleibt? Eine Frau, die trotz problematischer Familienanamnese einen Kinderwunsch hat, erhält keine Möglichkeit zur PID. Bei einer natürlich entstandenen Schwangerschaft wird aber sehr wohl getestet, ob genetische Veränderungen vorliegen. Die Frau wird zu einem späten Zeitpunkt der Schwangerschaft vor die Entscheidung einer möglichen Abtreibung gestellt. Das bedeutet: Frauen, die trotz bekannter Erkrankungen in der Familie nicht auf Kinder verzichten wollen, müssen sich als Gebärmutter auf Probe benutzen lassen. Das halte ich für frauenverachtend. ({1}) Das wird den Frauen und auch den Paaren mit problematischer Familienanamnese nicht gerecht. Das Gleiche gilt für den Vorwurf der Leichtfertigkeit, der in der Diskussion immer wieder mitschwingt. Ich glaube, dass gerade Paare, die sich aufgrund ihrer familiären Vorgeschichte einer genetischen Beratung unterziehen, das aus einem Gefühl der Verantwortung heraus tun und ihre Situation sehr wohl reflektieren. Ich plädiere deshalb für eine Zulassung der PID in engen Grenzen, die berücksichtigen, dass viele in unserem Land Angst vor der Zeugung von Menschen nach Maß haben. Ich glaube aber, wir brauchen eine klare gesetzliche und keine standesrechtliche Regelung, in der die Bedingungen, unter denen wir die Präimplantationsdiagnostik zulassen wollen, sehr genau definiert werden. Zu diesen Bedingungen gehören für mich eine professionelle psychosoziale Beratung und natürlich eine Begrenzung auf Erkrankungen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Stöckel.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Keuner fragt in einer Geschichte von Bert Brecht: „Wäre es nicht besser, die richtigen Fragen zu stellen, als so zu tun, als hätten wir immer schon die richtigen Antworten?“ ({0}) Es geht mir wahrscheinlich wie den meisten, die diese so wichtige Debatte bis jetzt verfolgt haben und keine Fachleute sind: Ich habe noch viele Fragen. Ich meine wie auch Kollege Kues, dass wir alle, als Abgeordnete, aber vor allem als mündige Bürgerinnen und Bürger, die Antworten und Entscheidungen nicht allein den Spezialisten und erst recht nicht den Vertreterinnen und Vertretern allein selig machender endgültiger Wahrheiten überlassen dürfen. Ich weiß auch nicht wirklich, was zum Beispiel die Menschen in meinem Wahlkreis über Gentechnik wissen, denken und was sie sich von ihr erhoffen, wie sie zukünftig leben wollen und vor allen Dingen, wovor sie der Staat schützen soll. Was ist für sie Menschenwürde und menschliches Leben? Ich meine aber zu wissen, dass sich die Mehrheit von ihnen das im 21. Jahrhundert nicht mehr von Kirchenvorständen, Zentralkomitees oder von wem auch immer vorschreiben lassen will. Ich bin eher zuversichtlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es in Deutschland zwischen den Menschen verschiedener Religionen, Lebenssichten und auch der Wissenschaft viel mehr ethische Gemeinsamkeiten gibt, als die bisherige Debatte glauben macht, und zwar sowohl bei der Achtung der Menschenwürde, bei der Haltung gegen Ökonomismus, gegen Diskriminierung und Rassismus wie auch bei Eingriffen in die persönliche informelle Selbstbestimmung durch Zwangsgentests. Ich bin deshalb Roman Herzog - er ist schon zitiert worden - für seinen Beitrag dankbar. Er hat als Katholik, ehemaliger Bundespräsident und als renommierter Verfassungsrechtler nicht nur gesagt, dass das Recht der Erbkranken, durch weitere Forschung gerettet zu werden, auch den Wert menschlichen Lebens auf seiner Seite hat, sondern will bei der „totalen Absolutstellung des ungeborenen Lebens in einer Gesellschaft, die beim ,fertiDr. Carola Reimann gen’ Leben - und zwar aus einsichtigen Gründen - durchaus zu unterscheiden weiß, nicht mitmachen“. Diesen Dialog so öffentlich und verständlich zu führen und die Bürgerinnen und Bürger daran tatsächlich zu beteiligen sind Wissenschaftler aller Fachrichtungen, Kirchen, Verbände und wir Politiker verpflichtet. Ich teile deswegen die Frage des Kollegen Tauss: Wo sind eigentlich die Geistes- und Erziehungswissenschaftler, die laut sagen, dass die individuelle Menschwerdung mit allen menschlichen Eigenschaften ohne soziale Wechselbeziehungen, ohne Interaktionen im Mutterleib, in der Familie und in der Gesellschaft gar nicht möglich ist? Was spricht eigentlich dagegen, dass nicht auch in Zukunft wie heute fast alle Kinder durch natürliche Zeugung zur Welt kommen? Macht das in Zeiten der Gentechnik keinen Spaß mehr? Die Machbarkeitsphantasien bezüglich der Genforschung und -technik, die von erbitterten Gegnern wie euphorischen Interessenten suggeriert und von Massenmedien angeheizt werden, müssen meiner Meinung nach auf den Boden realistischer Tatsachen gestellt werden. Die Debatte sollte gerade in Deutschland nicht überwiegend angstbesetzt geführt werden. In Deutschland werden wichtige Zukunfts- und Wertedebatten oft mit dem Hinweis auf die besondere deutsche Geschichte für beendet erklärt. Ich meine, das Wissen über die Geschichte, besonders die Lehren aus den Verbrechen des Nationalsozialismus, ist eine substanzielle Basis für unseren Rechtsstaat und die Demokratie, die hoffentlich bald auch eine europäische sein wird. Ich frage mich aber gerade auch als jüngerer Kollege und für Jüngere, wie wenig Zutrauen diejenigen in die Zukunft unseres Verfassungsstaates und seiner Gewaltenteilung sowie Vertrauen den mündigen Bürgerinnen und Bürgern als Souverän gegenüber haben, die die Forschung an vorhandenen, nicht eingepflanzten Embryonen und PID, gegen Missbrauch klar definiert, begrenzt und kontrolliert, als Dammbruch an die Wand malen und damit die Tür zur sozialen und ökonomischen Selektion weit offen sehen. Sollten wir nicht deutlicher machen, dass nur rechtsstaatliche und demokratische Strukturen einen zivilisierten, verantwortlichen, die Menschenwürde achtenden Umgang mit neuem Wissen und neuen Technologien, die weltweit verfügbar sein werden, ermöglichen? ({1}) Können wir die Chancen und Risiken neuer Techniken überhaupt ohne ethisch vertretbare Forschung beurteilen? Ich meine: Nein. Wie werden das zukünftige Generationen beurteilen, wenn wir darauf verzichten? Sind andere zivilisierte Gesellschaften, die Embryonenforschung und PID ermöglichen und die eine längere demokratische Tradition als Deutschland haben und auch einen langen ethischen Diskurs führen, moralisch wirklich schlechter? Ist es nicht so wie in Brechts Kinderhymne: „Wir wollen nicht unter und nicht über andren Völkern sein“? Ich komme zum Schluss. Wir wissen, dass höchstens 10 Prozent aller Behinderungen erbkrankheitsbedingt sind. Nur ein Bruchteil der behindert Geborenen ist durch künstliche Befruchtung gezeugt worden. Wie kann es angesichts dieser Tatsache durch PID einen Dammbruch geben, der sich letztlich gegen Behinderte wendet? ({2}) Müssen wir Leiden und Behinderung kultivieren oder als sinnstiftend erklären, um Behinderte als gleichwertige Menschen in unsere Mitte zu nehmen, oder reicht es vielleicht aus, dass wir alle durch Unfall oder von nach der Geburt auftretenden Krankheiten potenziell betroffen sind? Lenkt die bisherige Debatte über die Menschenwürde der Behinderten im Zusammenhang mit PID nicht eher von den realen Defiziten bei der Integration und Gleichbehandlung Behinderter ab, etwa vergleichbar mit der Debatte über aktive Sterbehilfe auf der einen Seite und der Realität der Sterbebegleitung, der Schmerztherapie und der Palliativmedizin in Deutschland auf der anderen Seite? Das alles sind schwierige, aber wichtige Fragen. Wir kommen nicht darum herum, sie zu klären und letztlich politische Entscheidungen zu treffen, die wir in jedem Fall vor den zukünftigen Generationen zu verantworten haben werden. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Als Letzter in der Debatte erhält jetzt der Abgeordnete Dr. Hermann Scheer das Wort.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte im Zusammenhang mit der Debatte zu bioethischen Problemen über einen Punkt sprechen, der weder in den letzten Wochen noch heute im Zentrum der Debatte stand, der aber nach meiner Meinung - zwar nicht in erster Linie unter humanethischen, aber unter wirtschaftsethischen und sozialethischen Gesichtspunkten - von größter Bedeutung für die weitere Entwicklung ist, nicht zuletzt in Bezug auf die Rolle der Entwicklungsländer. Es geht um die Frage der Patentierung von Stoffen. Die Debatte darüber, ob es erlaubt werden soll, nicht nur Erfindungen, sondern auch schlichte Entdeckungen zu patentieren - Letzteres ist mehr als zweifelhaft -, ist bekannt. Sie wird häufig so geführt, als ob es sich nur um einen formalen Konflikt handelt. Darüber, dass dies die Sprengung des bisherigen Patentrechts bedeutet, dass dies unglaubliche soziale Auswirkungen haben und dass sich hier entscheiden wird, ob die Biowissenschaft eine ungerechtfertigte neue Cashquelle in der Hand weniger oder eine große Chance für die gesamte Menschheit ist, wird meistens nicht debattiert. Die Patentierung von Genen bedeutet die Enteignung des evolutionären Erbguts sowie des Wissens und der Praktiken der Menschen, insbesondere in den landwirtschaftlichen Regionen der Welt, und zwar nicht durch Staaten oder Regierungen, sondern durch wenige private, überwiegend transnational tätige Unternehmen. Dies ist ein Schlüsselproblem, das entschieden mehr beachtet werden müsste. Wenn dem Tür und Tor geöffnet würde, wäre das der größte Enteignungsvorgang in der Zivilisationsgeschichte, der nicht zuletzt in vielen Publikationen, vor allem aus der Dritten Welt, als Biopiraterie bezeichnet wird. Ein meines Erachtens treffender Begriff. ({0}) Im Jahre 1948 hat der Supreme Court, das oberste Gericht der Vereinigten Staaten, die Patentierung von Genen, damit auch von biologischen Stoffen, verboten. Er hat gesagt, verwertbare Eigenschaften der Natur seien nicht patentierungsfähig. Der Schlüsselsatz in seinem Urteil lautete, diese Eigenschaften der Natur seien „part of the storehouse of all men. They are manifestations of laws of nature, free to all men and reserved exclusively to none.“ Für niemanden exklusiv reservierbar durch Patentierung! Nun wird häufig darauf verwiesen, dass diese Frage doch eigentlich nicht viel anderes sei als eine Fortentwicklung dessen, was man etwa im Sortenschutz schon kenne, wo es um Züchtungen geht. Es gibt dabei aber drei wesentliche Unterschiede. Der eine Unterschied ist die Geschwindigkeit. Der zweite, noch größere, Unterschied ist die Menge. Und der dritte Unterschied ist, dass hier keine mühsame Züchterarbeit dahinter steht, sondern schlicht und einfach die Entdeckung der Verwertbarkeit einer Pflanze, eines Tieres oder natürlich auch von Genen von Menschen. Für diese Patentierung wird mit der Behauptung geworben, es gehe hier um eine neue Chance zur Überwindung des Welthungers. Aber die Welthungerproblematik hängt zusammen mit der Organisation der Agrarstrukturen, mit der Erodierung von Böden durch falschen Gebrauch von Düngemitteln und mit anderem mehr. Sie resultiert nicht aus mangelnder Leistungsfähigkeit von Pflanzen. ({1}) Die Dritte Welt wird als Argument mobilisiert. Dabei wird übersehen, dass fast alle internationalen Entwicklungsorganisationen, angefangen von der UNDP bis hin sogar zur Weltbank, eindringlich vor den entwicklungspolitischen Konsequenzen warnen. In einem Land wie Madagaskar, in dem schon seit Jahren Biopatente erlaubt sind - so ein Bericht der Weltbank - haben ausländische Firmen 15 000 Patente an dem natürlichen Erbgut, von Pflanzen, die es auf Madagaskar gibt, einheimische Forscher dagegen nur 21. Damit droht eine völlige Verdrehung, eine völlige Neugewichtung in der internationalen Wirtschaftsordnung, weit über die gegenwärtigen NordSüd-Verhältnisse hinaus. Länder der Dritten Welt wie Indien, wo 80 Prozent der Aussaat noch aus eigener Ernte kommt, könnten künftig in die Situation kommen, zu Lizenznehmern von wenigen multinationalen Konzernen zu werden mit der Folge, dass sie Lizenzgebühren zahlen müssen. Sie werden sich das nicht gefallen lassen. Es wird riesige Revolten geben. Es wird aus sozialer Notwehr in vielfacher Weise eine Durchbrechung internationaler Rechtsordnungen geben. Das gilt nicht nur für die Dritte Welt, das ist längst schon in der Ersten erreicht. Kürzlich stand in der „Süddeutschen Zeitung“, dass ein kanadischer Landwirt, der biogen veränderte, also genmanipulierte Ölsaaten bewusst nicht anbaut - das ist also sozusagen seine Marke-, aufgrund des Patentrechts gerichtlich zu 80 000 Dollar Lizenzgebühr verdonnert worden ist, weil solche Saatgüter auf seine Felder geweht sind und seine Saat damit nicht mehr natürlich war - und das, obwohl das für ihn sogar noch eine Geschäftsschädigung war; denn sein Produkt entsprach nicht mehr dem, was er haben und anbieten wollte. Die UNDP - das möchte ich abschließend zitieren sagt zu dieser Frage: Neue Patentgesetze kümmern sich kaum um die Kenntnisse der indigenen Bevölkerung, die damit den Ansprüchen von außen schutzlos ausgesetzt ist. Diese Gesetze ignorieren die kulturelle Vielfalt bei der Schaffung von Innovationen und die Teilhabe daran. Ebenso wenig berücksichtigen sie die vielfältigen Ansichten darüber, was Gegenstand von Eigentumsansprüchen sein kann und darf - von Pflanzensorten bis zum menschlichen Leben. Das Ergebnis ist ein stillschweigender Diebstahl von über Jahrhunderte erworbenem Wissen, der von den entwickelten Ländern an den Entwicklungsländern begangen wird. Wir dürfen diese Entwicklung nicht zulassen. ({2}) Sie stellt unsere gesamten entwicklungspolitischen Ansprüche auf den Kopf. Entwicklungshilfe wird die verursachten sozialen Zerstörungen, Verwerfungen und Veränderungen von Eigentumsverhältnissen in der Dritten Welt in keiner Weise mehr kompensieren können. Wir erleben gegenwärtig eine Debatte über Aidsmedikamente in Südafrika. Auch unsere Entwicklungshilfeministerin hat sich in dieser Frage engagiert. Diese Arzneimittel sind nicht entdeckt, sondern tatsächlich erfunden worden. Geschähe etwas Ähnliches bei Saatgütern, so hätte das sogar einschnürenden Einfluss auf Dinge, die aus den Traditionskulturen dieser Länder selbst kommen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir müssen bei der gesamten Biopatentierung höchst wachsam sein und verhindern, dass sich solche Entwicklungen ihre sozial verheerende Bahn brechen. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Ende dieser sehr langen und sehr intensiven Debatte. Sie war auch für dieses Haus ungewöhnlich. Wir können allen Beteiligten nur danken. Es war gut, dass wir diese Debatte geführt haben. ({0}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und 5 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert, Monika Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Behandlung von Petitionen und über die Aufgaben und Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages - Petitionsgesetz - ({1}) - Drucksache 14/5762 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) Petitionsausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert, Monika Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3}) - Drucksache 14/5763 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4}) Petitionsausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die PDS zehn Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort hat die Abgeordnete Heidemarie Lüth.

Heidemarie Lüth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002727, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorgestern habe ich dem Präsidenten den Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2000 übergeben. Heute begründe ich den Entwurf der Fraktion der PDS für ein Petitionsgesetz. Das hat auch insofern miteinander zu tun, als immer wieder Petitionen eingereicht werden, in denen der Bundestag aufgefordert wird, das Petitionsrecht zu verbessern, es übersichtlicher zu gestalten und wirksamer zu machen, den Bürgerinnen und Bürgern mehr Einsicht in die Abläufe zu geben und für sie stärkere Rechtspositionen zu begründen. Das ist ernst zu nehmen. Die Fraktion der PDS hat das getan. ({0}) In der Debatte über den Bericht des Petitionsausschusses im vergangenen Jahr habe ich an dieser Stelle bemerkt: Lassen Sie uns über mögliche Verbesserungen nachdenken und konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung des Petitionsrechts erarbeiten! Lassen Sie uns in einem offenen Diskussionsprozess miteinander und mit den vielen interessierten Bürgerinnen und Bürgern Ideen und Argumente austauschen! Das haben wir getan. Die PDS im Bundestag hat sofort begonnen, einen Entwurf für ein neues Petitionsgesetz zu erarbeiten. Diesen Vorschlag haben wir dann aber nicht sofort in das parlamentarische Verfahren eingebracht; vielmehr haben wir ihn auf den Prüfstand einer öffentlichen Anhörung gestellt. Wir haben ihn durch Vertreterinnen und Vertreter der politischen Praxis und der Wissenschaft, auch durch engagierte und petitionserfahrene Bürgerinnen und Bürger einem Brauchbarkeitstest unterworfen. An dieser Anhörung haben neben anderen aktiv mitgewirkt Frau Dr. Hamm-Brücher von der F.D.P., Herr Peter von der SPD, Herr Dr. Pfennig von der CDU und Herr Dr. Ullmann von den Grünen - alle langjährig im Bundestag oder im Europäischen Parlament im Petitionsausschuss aktiv. Zuvor waren fundierte Analysen von den drei Bremer - nein, nicht Stadtmusikanten; das waren ja auch vier - Petitionsexperten Bockhofer, Professor Röper und Professor Schefold. Ihnen allen danke ich ganz herzlich. ({1}) Die Anhörung hatte Konsequenzen: Wir haben viele der sachkundigen Kritiken, Anregungen und Verbesserungsvorschläge berücksichtigt. Sie sind in den Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf eingegangen. Im Bereich der Petitionsinformationsrechte haben wir übereinstimmende Bedenken von Herrn Peter und von Herrn Dr. Pfennig berücksichtigt. Wir haben unsere Absicht aufgegeben - sie war noch in unserem Gesetzentwurf aus der letzten Legislaturperiode und auch in der Vorlage der Grünen enthalten -, die Behandlung von Bitten und Beschwerden gleichzusetzen. Wir haben uns davon überzeugt, dass es gravierende Unterschiede zwischen beiden Bereichen gibt. Wir haben aber wesentliche Verbesserungen für Petitionen im Allgemeinen und damit für die Bitten und insbesondere für die Beschwerden vorgeschlagen. Für letztere haben wir generell die Möglichkeit vorgesehen, Beweiserhebungen durchzuführen mit der Verpflichtung für geladene Zeugen, zu erscheinen und wahrheitsgemäß auszusagen. Das mag manche schrecken, sehen sie im Petitionsausschuss doch schon das täglich tagende Tribunal. Es fehlen eigentlich nur noch die Roben. Aber das ist nicht gewollt. Alle Erfahrungen der Petitionsausschüsse, die das Beweiserhebungsrecht kennen, zeigen ja, dass nur äußerst selten davon Gebrauch gemacht wird, nur selten Gebrauch gemacht werden muss, weil allein die Existenz dieses Rechts einen außerordentlichen Anreiz zu prompter, umfassender und wahrheitsgemäßer Auskunftserteilung darstellt. Allerdings gehört zur Wirksamkeit dieses Beweiserhebungsrechts auch, dass auf Antrag einer Minderheit im Petitionsausschuss davon Gebrauch gemacht werden muss. Mit der Verbesserung der Petitionsinformationsrechte stärken wir die Position des Ausschusses, des Parlaments insgesamt gegenüber der Exekutive. Das ist so beabsichtigt; das reicht aber noch nicht aus. In diesem Zusammenhang möchte ich drei weitere Punkte ansprechen. Erstens. Wir wollen in das Gesetz ausdrücklich hineinschreiben, dass es dem öffentlichen Interesse nicht entspricht, wenn eine Behörde entgegen der Aufforderung des Petitionsausschusses einen Verwaltungsakt vollzieht und damit das verfassungsmäßige Petitionsrecht praktisch leer laufen lässt. Durch eine solche Gesetzesbestimmung erreichen wir unter Wahrung der Gewaltenteilung eine begrenzte, aber immerhin dringend erforderliche aufschiebende Wirkung des Petitionsverfahrens. Zweitens. Leider erleben wir es immer wieder, dass unsere stärksten Voten, die Überweisungen zur Berücksichtigung und zur Erwägung, von der Bundesregierung nicht beachtet werden. Nicht selten wird uns das mit einem ebenso kurzen wie unbefriedigenden Schreiben mitgeteilt. In einem solchen Fall sehen wir vor, dass die Regierung zukünftig verpflichtet ist, ihre Haltung dem Parlament zu erläutern und sich der parlamentarischen Debatte zu stellen. ({2}) Drittens. Weil den genannten Voten ein so hohes Gewicht zukommen soll, haben wir einen anderen Rat der Expertinnen und Experten ebenfalls berücksichtigt. Wir schlagen ja für den Regelfall vor, über Petitionen nur noch im Petitionsausschuss zu entscheiden. Überweisungen zur Berücksichtigung und zur Erwägung sollen aber stets vom Plenum des Bundestages beschlossen werden. Da das nicht für viele Fälle zutrifft, werden wir auch bei Petitionen zukünftig genau wissen, worüber wir denn eigentlich konkret abstimmen. ({3}) Der PDS geht es darum, das Grundrecht einer jeden Petentin und eines jeden Petenten aufzuwerten, ein Grundrecht, das für den demokratischen Sozialstaat des Grundgesetzes von konstitutiver Bedeutung ist. Bei uns in der Bundesrepublik beruht Sozialstaatlichkeit ja nicht auf Mildtätigkeit oder Güte einer Obrigkeit, sondern auf demokratischen Prozessen, Verfahren und Institutionen, die von der Verfassung vorgegeben sind. Zur Stärkung des Petitionsgrundrechtes einige Hinweise: Erstens. Interessierte Bürgerinnen und Bürger sollen nicht mehr die Rechtsvorschriften für verschiedene Bereiche zusammenklauben und zusammenfügen müssen. All diese Vorschriften sollen künftig in einem Gesetz enthalten sein. Auch das ist eine Frage von Demokratie und eine Frage der Erleichterung beim Mitmachen im demokratischen Prozess. ({4}) Zweitens. Petitionsverfahren sollen so gestaltet sein, dass für Petentinnen und Petenten klar erkennbar ist, was geschieht, womit gerechnet werden kann und womit gerechnet werden muss. Es darf, wie es Horst Peter in der Anhörung formuliert hat, eines nicht geben: ein Verschwinden hinter einem Vorhang, wenn niemand erfährt, was in der Zeit passiert, wo er wartet. Drittens. Unser Gesetzentwurf soll auch der Tendenz Rechnung tragen, dass die Anzahl der Bitten, insbesondere der Anregungen zu gesetzgeberischen Maßnahmen, im Verhältnis zu den Beschwerden zunimmt. Damit werden wir als Gesetzgebungsorgan stärker auf unsere Aufgabe der Selbstkontrolle der eigenen Tätigkeit verwiesen; der Petitionsausschuss wird insbesondere auf die Gesetzesfolgenkontrolle und wir alle auf die vorausschauende Gesetzesfolgenabschätzung verwiesen. In diesem Zusammenhang ist die Transparenz des parlamentarischen Handelns von besonderer Bedeutung. Das wollen wir durch den Grundsatz der Öffentlichkeit der Petitionstätigkeit bei Wahrung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung erreichen. Viertens. Besondere Bedeutung gewinnen die Massenpetitionen, bei denen sich eine Vielzahl von Menschen aktiv und gemeinschaftlich einbringt. Hier ergänzen wir die repräsentativen Willensbildungs- und Entscheidungsstrukturen durch plebiszitäre Elemente, ohne dass es sich schon um wirkliche Plebiszite, um unmittelbare Entscheidungen durch das Volk, handelt. Durch die Schaffung von öffentlichen Dialogstrukturen zwischen den Petentinnen und Petenten auf der einen und dem Parlament auf der anderen Seite eröffnen wir aber über den periodischen Wahlakt hinaus demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten. So schaffen wir eine Praxis plebiszitären Handelns, ja eine plebiszitäre Kultur, die sich positiv auswirken wird, wenn das Institut der Volksgesetzgebung durchgesetzt ist. ({5}) Fünftens. Wir wollen ein modernes Petitionsrecht, das die elektronischen Kommunikationsmedien nutzt. Deshalb sehen wir auch die Einreichung von Petitionen auf elektronischem Wege vor. Wir wollen in Anlehnung an die europäische Regelung ein Petitionsregister und eine Petitionsdatenbank schaffen. Diese sollen nicht nur elektronisch zugänglich sein, sondern auch unmittelbares demokratisches Mitwirken ermöglichen. Vor einem Jahr hatte ich gehofft, dass auch andere Fraktionen und nicht nur die relativ kleine der PDS Vorschläge zur Weiterentwicklung des Petitionsrechts macht. Kollegin Buntenbach hat ja gestern Vorschläge angekündigt. Da darf man gespannt sein. Auch der Parteivorstand der SPD hat einen Beschluss zum „Ausbau der Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene“ gefasst und darin insbesondere zwei Bereiche thematisiert: zum einen die Frage des Petitionsrechts und zum anderen die Volksgesetzgebung. Lassen Sie mich zu Letzterem sagen: Die in diesem Beschluss angegebenen Quoren lassen ihn eher als ein Konzept zur Verhinderung unmittelbarer Volksgesetzgebung erscheinen. Es sei auch kurz angemerkt, warum, wenn jetzt unmittelbar die parlamentarische Debatte - davon gehe ich aus - zum Thema Volksgesetzgebung bevorsteht, dann nicht auch der Gesetzentwurf der PDS einbezogen werden soll. Aber das wird ja jetzt vielleicht anders. Zu Fragen des Petitionsrechtes, zu denen der SPD-Vorstand auch Vorschläge erarbeitet hat, heißt es unter anderem: Bei wichtigen Massenpetitionen kann der Petitionsausschuss ebenfalls mit 2/3 der Mitglieder beschließen, die Angelegenheit dem Parlament als Ganzem zur Beratung und Entscheidung vorzulegen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir doch jetzt ohnehin. ({6}) Wir brauchen als Fraktion nur einen Änderungsantrag zu formulieren und schon kann über die Angelegenheit - egal ob Massenpetition oder eine andere - hier im Plenum diskutiert werden. 25 Jahre, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind vergangen, seitdem das Petitionsrecht das letzte Mal reformiert wurde. Wir denken daher, dass es jetzt nicht zu einem Schnellschuss kommen darf, sondern dass über die Rechte der Petentinnen und Petenten bei einer Reform des Petitionsrechts in einer breiten parlamentarischen Debatte umfänglich diskutiert werden muss. Wir sollten uns daher auf eine Anhörung zu diesem Thema im Petitionsausschuss verständigen, um diese parteiübergreifende Diskussion zu ermöglichen. ({7}) Ich weiß, dass allein durch diese Diskussion noch kein parlamentarischer Erfolg sichergestellt ist. Aber niemand kann mich bis zum Beweis des Gegenteils daran hindern, an den Erfolg eines verbesserten Petitionsrechtes für Petentinnen und Petenten und damit auch für uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu glauben. Danke. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie wir eben von der sehr verehrten Frau Vorsitzenden des Petitionsausschusses gehört haben, hat die PDS-Fraktion den Entwurf eines Petitionsgesetzes - er wurde uns ja wortreich vorgestellt - vorgelegt. Wenn man ihn näher betrachtet und genauer hineinsieht, stellt man fest, dass das Petitionswesen letzten Endes neu- bzw. umgestaltet werden soll. Ich werde darauf gleich noch zu sprechen kommen. ({0}) - Genau, Herr Claus. Zu fragen ist daher: Ist das notwendig, ist das sinnvoll und fördert dieser Gesetzentwurf das Petitionswesen so, wie es im Grundgesetz niedergelegt ist? Ich meine, im Ergebnis nicht. Es ist eine ganze Reihe von Ansätzen dabei, die sicherlich diskussionswürdig sind, aber es gibt auch einige Punkte, die zumindest aus meiner Sicht dazu führen, dass wir dem so nicht werden zustimmen können. Lassen Sie mich vorab noch einige Worte zu den rechtlichen Grundlagen des geltenden Petitionsrechts sagen, weil dies eben etwas zu kurz gekommen ist. Nach Art. 17 des Grundgesetzes hat jedermann das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen mit Bitten oder Beschwerden an den Bundestag zu wenden. Der Bundestag hat hierfür nach Art. 45 c Abs. 1 Grundgesetz den Petitionsausschuss eingesetzt. Die Befugnisse dieses Ausschusses sind heute bereits in einem Gesetz geregelt, soweit es um die Überprüfung von Beschwerden geht. Diese Regelungen beinhalten im Wesentlichen die Verpflichtung der Bundesregierung, der Bundesbehörden und anderer zur Aktenvorlage, zur Auskunftserteilung sowie eine Zutrittsgestattungspflicht. Das Gesetz räumt dem Petitionsausschuss das Recht ein, Zeugen und Sachverständige anzuhören, und verpflichtet Gerichte und Verwaltungsbehörden zur Amtshilfe. Der Geschäftsordnungsgang im Ausschuss selbst ist in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geregelt. Das Ganze ist in einem Heftchen zusammengefasst, das Bernd Reuter vor sich auf dem Tisch liegen hat. Viele Petentinnen und Petenten, viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land - jedenfalls ist es in meinen Wahlkreisbüros vor Ort so - fragen danach und können sich mithilfe dieses Leitfadens im geltenden Petitionsrecht sehr gut zurechtfinden. Darauf, dass das geltende Recht, wie wir es seit fast drei Jahrzehnten praktizieren, gut funktioniert, haben Sie, Frau Lüth, eben schon hingewiesen. Ich meine, das sollte an einem solchen Tag noch einmal betont werden. Denn der Tätigkeitsbericht des Ausschusses macht, da mit über 20 600 Eingaben das Petitionsrecht im Jahr 2000 in großem Umfang von den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes in Anspruch genommen wurde, sehr deutlich, dass offensichtlich keine Scheu vorhanden ist, sich mit einer Petition an den Deutschen Bundestag zu wenden. Wenn man diesen gut 100 Seiten starken Bericht gründlich durchliest, kann man ihm dezidiert entnehmen, dass die Petitionen mit dem vorhandenen rechtlichen Instrumentarium bemerkenswert zügig und gründlich bearbeitet worden sind. Der Bericht zeigt eindrucksvoll, wie Einzelfallprobleme von Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar erörtert wurden und in vielen Fällen auch Abhilfe geschaffen werden konnte. Von daher stellt sich die Frage, ob es notwendig ist, Frau Kollegin Lüth, ein Petitionsgesetz mit den Inhalten zu verabschieden, wie Sie es vorgelegt haben. Lassen Sie mich einige Punkte nennen, die mich dazu bringen, das zu verneinen. Erstens. Sie haben eine Vielzahl von Regelungen vorgesehen, die überflüssig sind, weil sie bereits in bestehenden Vorschriften enthalten sind. Ein Beispiel, das hervorgehoben wird, ist, dass ein Brief, den eine inhaftierte Person an den Petitionsausschuss schickt, im Vollzug nicht geöffnet werden darf. Das ist bereits seit 1976 im Strafvollzugsgesetz geregelt. Weitere Regelungen, die ebenfalls überflüssig sind, finden sich in Ihrem Entwurf. Zweitens. Rechtlich bedenklich erscheint mir die beabsichtigte Regelung, dass der Petitionsausschuss nach Ihrem Vorschlag zukünftig dem Plenum eine Petition zur Entscheidung vorlegen kann, dazu aber nicht verpflichtet sein soll. Das wäre eine grundlegende Abkehr vom geltenden Petitionsrecht, wonach der Ausschuss dem Plenum lediglich Beschlussempfehlungen zur Entscheidung vorlegt. Würden wir den vorgeschlagenen Weg gehen, wäre es eine Entwertung des Petitionsrechtes, wenn der Ausschuss und nicht grundsätzlich der Deutsche Bundestag entscheidet. Drittens. Sie haben die Einführung eines Minderheitenvotums vorgesehen, das künftig von einer Fraktion, einer Abgeordnetengruppe oder von 5 vom Hundert der Mitglieder des Bundestages, die mit einer Sachentscheidung des Ausschusses nicht einverstanden sind, abgegeben werden kann. Das würde eine unnötige Belastung der Ausschussarbeit bedeuten und im Ergebnis nicht den Interessen der Petentinnen und Petenten dienen. Die Minderheitenrechte haben nur etwas mit der Ausschussarbeit zu tun. Die Ausschussarbeit darf - so verstehe ich die Verfassung - im Ergebnis kein Ersatzinstrument für die politische Auseinandersetzung in diesem Plenum sein. Im Entwurf des Petitionsgesetzes finden sich einige versteckte Vorschriften, die in diese Richtung gehen, zum Beispiel in § 12 Abs. 6, in dem zukünftig eine Art Selbstbefassungsrecht des Ausschusses konstituiert werden soll. Ich kann mir lebhaft vorstellen, welche politischen Debatten, die hier im Plenum keine Mehrheiten gefunden haben, dann Gegenstand der Beratungen im Petitionsausschuss sein werden, und zwar nicht im Interesse der Petenten, sondern im Interesse bestimmter politischer Auseinandersetzungen. Das Gleiche gilt, wenn Sie sagen, der Ausschuss solle zukünftig grundsätzlich öffentlich tagen. Wie ich das in den letzten zweieinhalb Jahren erlebt habe, sind die meisten Petitionen eigentlich nicht für die Öffentlichkeit geeignet, weil es sehr oft um ganz persönliche, individuelle Dinge geht, die unter Datenschutzgesichtspunkten nicht öffentlich behandelt werden können. Es gibt noch weitere Regelungen, auf die ich aber nicht mehr eingehen möchte. Einen Punkt möchte ich noch erwähnen. Für besonders problematisch halte ich die intendierten Neuerungen zur Beweiserhebung, wie Sie sie vorsehen, indem die Regelungen der Strafprozessordnung zukünftig entsprechend anwendbar sein sollen. Dazu sage ich Ihnen als langjähriger Richter, der ich heute für diese Debatte aus der Sitzung des Untersuchungsausschusses komme, dem ich nun seit über einem Jahr angehöre: Wenn wir dieses Instrumentarium im parlamentarischen Raum anwenden wollen, dann - das erleben wir seit über einem Jahr im Untersuchungsausschuss - wird es im Grunde zu einem Kampfinstrument. Das ist nicht praktikabel. Von daher wehren wir uns gegen Zugriffsmöglichkeiten des Ausschusses, wie sie ein Gericht hat, zum Beispiel insofern, als Zeugen kommen müssen. Der Ausschuss ist kein Gericht. Das darf keinesfalls ins Gesetz hineingeschrieben werden. Es handelt sich nach der Verfassung um einen Petitionsausschuss, an den sich Bürgerinnen und Bürger, auch gemeinschaftlich mit Sammelpetitionen, wenden können, und nicht um einen Ausschuss mit hoheitlichen Befugnissen. Von daher können wir diesen Bestimmungen nicht zustimmen. Sie haben aber dankenswerterweise schon darauf hingewiesen, dass in anderen Fraktionen, auch in meiner, ebenfalls darüber nachgedacht wird, wie wir die Bürgerrechte und die Rechte des Petitionsausschusses stärken können. Ich kann mir sicherlich einige Regelungen vorstellen, die wir zur Verbesserung des Petitionsrechtes gerne mit Ihnen gemeinsam diskutieren wollen. So könnte man zur Stärkung der Rechte des Petitionsausschusses das Recht des Ausschusses postulieren, im begründeten Ausnahmefall den Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme - Sie haben das angesprochen - aufzuschieben. Der Ausschuss müsste dann mit qualifizierter Mehrheit Entsprechendes beschließen. Ebenfalls könnte man das Recht postulieren, die Petition zur Befassung und Entscheidung mit Voten an andere Ausschüsse des Deutschen Bundestages weiterzureichen. Darüber hinaus könnte man die Akteneinsichtsund Beiziehungsrechte erweitern. Bei dem Problembereich der Massenpetitionen - Sie hatten es, glaube ich, Volksgesetzgebung genannt könnte ich mir durchaus vorstellen, bei Petitionen in bestimmten Größenordnungen - wenn sich etwa 50 000 Bürgerinnen und Bürger oder mehr an den Deutschen Bundestag wenden - den bevollmächtigten Vertreterinnen und Vertretern dieser Petenten vor dem Ausschuss die Möglichkeit zu geben, angehört zu werden, diese Anhörungen grundsätzlich öffentlich durchzuführen und die Beratungen zu diesem Themenbereich, wenn das datenschutzrechtlich geht, grundsätzlich weiter öffentlich erfolgen zu lassen. Das sind sicherlich Regelungen, die hinsichtlich einer Weiterentwicklung des Petitionsrechtes sinnvoll sein könnten. Die in diese Richtung gehende Erweiterung und Stärkung des Petitionsrechtes steht im Zusammenhang mit unseren Vorstellungen, mehr Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene zu erreichen. Wir wollen das in dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestag mit Ihnen gemeinsam - nur so geht das - diskutieren und werden hoffentlich auch zu einem Ergebnis kommen. Wie Sie wissen, setzen wir uns dafür ein, die Beteiligungsrechte der Bevölkerung hinsichtlich wichtiger politischer Sachentscheidungen auch auf Bundesebene durch eine Verfassungsänderung zu stärken. Die Vorschläge hierzu schließen die genannten Verbesserungen und Ergänzungen des Petitionsrechtes ebenso ein wie die Einführung neuer Instrumente, zum Beispiel Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheid. Aber für eine Verfassungsänderung bedarf es in diesem Hause einer Zweidrittelmehrheit. Vielleicht können die Debatte heute, die wir mit großer Sachlichkeit führen sollten, und auch die vor uns liegenden Beratungen in den Fachausschüssen sozusagen der Anfang des Weges sein, auf dem wir uns in diesem Haus gemeinsam - es wäre schön, wenn es so wäre - darauf verständigen könnten, genau diesem Begehren nach mehr unmittelbarer Bürgerbeteiligung nachJoachim Stünker zukommen, danach also, mehr plebiszitäre Elemente in unsere Verfassung einzufügen bzw. zu implementieren. Schönen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hubert Deittert.

Hubert Deittert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages beruht im Augenblick auf unterschiedlichen Grundlagen, und zwar zum einen auf Art. 17 des Grundgesetzes und auf einem so genannten Befugnisgesetz nach Art. 45 c des Grundgesetzes und zum anderen auf den „Grundsätzen über die Behandlung von Bitten und Beschwerden“ gemäß § 110 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Damit haben wir ein durchaus flexibles Instrumentarium. Die Mitglieder des Petitionsausschusses haben in den vergangenen Jahren durch ihre Arbeit bewiesen, dass dieses Handlungsfeld ausreichend und zweckmäßig ist, wenn es entsprechend ausgefüllt wird. Der Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2000, dessen Übergabe an den Präsidenten des Deutschen Bundestages vor drei Tagen erfolgt ist, zeigt erneut, wie sich diese Arbeit vollzogen hat. Dieser Bericht zeigt im Übrigen auch, dass sich der Petitionsausschuss im Laufe der Jahre mehr und mehr von einer Beschwerdestelle hin zu einer Stelle für Anregungen an den Gesetzgeber entwickelt hat. Ich denke, das ist gut so. Das zeigt, dass die Bürger konstruktiv mitdenken. Der Petitionsausschuss ist ein unersetzliches Bindeglied zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Lande, dem Parlament und der Regierung. Wir alle müssen großen Wert darauf legen, diese Verbindung zu pflegen. In den mehr als fünf Jahrzehnten hat die Mitglieder dieses Ausschusses eine Vielzahl von Schicksalen in Form einzelner Petitionen bewegt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes haben Berge von Akten bewegen müssen. Für mich ist dies ein Anlass, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes an dieser Stelle einmal herzlich für ihre Zuarbeit zu danken. ({0}) Nach unserem Grundgesetz hat jeder Bürger das Recht, sich mit Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag zu wenden. Ich habe immer wieder betont, dass die Arbeit im Petitionsausschuss für mich ein ganz wichtiger Bestandteil meiner parlamentarischen Arbeit ist. Denn hier ist im Hinblick auf Gesetzesvorhaben und Gesetzesbeschlüsse die schnellste Rückkoppelung gegeben. Als langjähriger Kommunalpolitiker weiß ich, dass dort sehr schnell eine Reaktion erfolgt - nach drei Tagen liegt der Vorgang wieder auf dem Schreibtisch -, wenn es um unbequeme Beschlüsse geht, die den Bürger möglicherweise belasten. In der Bundespolitik werden diese persönlichen Angelegenheiten in der Regel ein bisschen weniger beachtet. Der Petitionsausschuss ist im Grunde die Stelle, an der eine schnelle Rückkoppelung erfolgt. Ich denke, das sollten wir pflegen. Wir haben hier auch die Gelegenheit, das Vertrauen der Bürger in die Politik zurückzugewinnen bzw. entsprechend zu stärken. Die beiden Gesetzentwürfe, die von der PDS-Fraktion heute vorgelegt werden, zielen darauf ab, das Petitionsrecht und damit auch den Petitionsausschuss insgesamt auf neue Füße zu stellen und die unterschiedlichen Regelungen zusammenzufassen. Aufgegriffen werden dabei unterschiedliche Aktivitäten aus der 11.,12. und 13. Legislaturperiode, zum Beispiel die der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und auch der PDS in Bezug auf einen Bürgerbeauftragten. Sicherlich gibt es heute in dem einen oder anderen Bereich einen gewissen Regelungsbedarf. Darüber können wir in den Ausschussberatungen gern sprechen. Die Perspektive mag unterschiedlich sein, je nachdem, ob man zur Regierungsmehrheit oder zur Opposition, also der parlamentarischen Minderheit, gehört, der ich im Augenblick angehöre. Aber das wird sich Gott sei Dank in absehbarer Zeit wieder ändern. Da bin ich ganz zuversichtlich. ({1}) Wir werden die beiden Gesetzentwürfe in den Ausschussberatungen kritisch unter die Lupe nehmen. Schon heute möchte ich auf einige Punkte hinweisen, auf die es uns besonders ankommt: darauf, dass sich praktische Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger erreichen lassen, ohne die klare Trennung der Verantwortlichkeiten sowohl zwischen Regierung und Parlament als auch zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung zu verwischen. Einige Vorschläge, die im Entwurf des Petitionsgesetzes aufgegriffen werden, geben zu großen Bedenken Anlass. In einigen Punkten decken sich meine Auffassungen mit denen des Kollegen Stünker. Dies betrifft die Regelungen zur Aussetzung des Vollzugs - hier habe ich große Bedenken; darüber muss man genau nachdenken -, das Verfahren bei Massenpetitionen und die Beweiserhebung nach Art eines Untersuchungsausschusses gemäß § 18 des vorliegenden Gesetzentwurfs. Ich fürchte, hier macht sich das Parlament immer mehr selbst zum Richter. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen bei allem Eifer den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht aus den Augen verlieren. ({2}) Ich bezweifle im Übrigen sehr, dass sich die von der PDS angestrebte generelle Öffentlichkeit derAusschusssitzungen positiv auf die Arbeit auswirkt. Es gibt durchaus Beispiele dafür, wo das Gegenteil der Fall ist. Ich denke hierbei an die Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen in der Kommunalpolitik, aber auch an die Erfahrungen aus dem Bayerischen Landtag. ({3}) Wir haben es bisher auch bei brisanten Petitionen immer geschafft, über Parteigrenzen hinweg nach der besten Lösung zu suchen, und haben diese in vielen Fällen auch gefunden. Ich fürchte, dies gerät ein Stück in Gefahr, wenn wir eine generelle Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen herstellen. Ich habe hier ganz große Bedenken. ({4}) Über einige Vorschläge werden wir sicherlich ergebnisoffen diskutieren können. Ich denke da zum Beispiel an die klare Abgrenzung der Entscheidungsformen des Ausschusses. Auch über die Möglichkeit, künftig elektronisch signierte Petitionen zuzulassen, ein Minderheitenvotum einzuführen oder ein Petitionsregister und eine Petitionsdatenbank einzuführen, wird man sicher reden können. Allerdings werden wir in einigen Punkten sehr genau abwägen müssen, ob es sich wirklich um eine Verbesserung handelt oder wir uns im Grunde selbst Probleme schaffen. Ein Beispiel ist die geplante Möglichkeit, Petitionen zur Niederschrift einreichen zu können. Dies ist auf den ersten Blick schön, würde aber auf den zweiten Blick zu einer Privilegierung der in der Hauptstadtregion lebenden Bürgerinnen und Bürger führen. Die Gleichbehandlung wäre infrage gestellt. Für Bürger aus dem Bayerischen Wald ist es schwieriger, eine Petition beim Deutschen Bundestag zu Protokoll zu geben, als für Bürger aus der Region um Berlin. ({5}) Ein weiterer Punkt ist die Einführung der elektronischen Dateien sowie deren Öffentlichkeit. Auf den ersten Blick scheint das populäre Argument der Transparenz ausschlaggebend zu sein. Aber bitte denken Sie daran, dass es in diesem Hause immer starke Kräfte gegeben hat, die allergisch reagieren, wenn es darum geht, Datenbestände anzulegen und die der Öffentlichkeit möglicherweise auch nur teilweise zugänglich zu machen. ({6}) All das müssen wir abwägen. Auch die vorgeschlagene Teilung der Beschlüsse in solche des Ausschusses und solche des Plenums des Deutschen Bundestages halte ich für außerordentlich bedenklich. Aber vielleicht soll damit die vorherzusehende Steigerung der Zahl der Petitionen aufgefangen werden, die der PDS-Entwurf zur Folge hätte und die zu erheblichen Mehrkosten führen wird. Denn ein strenger formalisiertes Verfahren, weitgehende Öffentlichkeit der Sitzungen und gar erst die Häufung der so genannten Massenpetitionen lassen sich ohne deutlich erhöhte Sachmittel und vor allem ohne mehr Personal gar nicht denken. Wäre das aber wirklich das richtige Zeichen in der Zeit des Sparens? Liebe Frau Kollegin Lüth, an die von Ihnen angesprochenen Roben habe ich dabei allerdings noch nicht gedacht. Meine Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in den beteiligten Ausschüssen ernsthaft darüber reden, ob und wo es Änderungsbedarf im Petitionsrecht gibt. Dabei scheint mir eines klar zu sein: Es gäbe bei deutlich weniger Regulierungswut einen viel einfacheren Weg zum möglichen Ziel: Eine Änderung der Grundsätze des Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden und vielleicht noch des Befugnisgesetzes könnte mit weit weniger Aufwand und zudem schneller denselben Nutzen bringen. Darüber müssen wir miteinander reden. Von dem vermeintlichen Charme, ein eigenes Petitionsgesetz zu schaffen, sollten sich weder die Mitglieder des Petitionsausschusses noch die Bürgerinnen und Bürger blenden lassen. Viel wichtiger ist, dass der Petitionsausschuss seine in der Sache wichtige Aufgabe weiter konsequent fortsetzen kann. Meine Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürger und Bürgerinnen machen ja in erfreulich großer Zahl von dem in Art. 17 des Grundgesetzes festgelegten Grundrecht Gebrauch, sich mit Bitten und Beschwerden an die Volksvertretung zu wenden. Die Zahl der Eingaben an den Deutschen Bundestag ist von 1970 bis heute von 10 000 auf über 20 000 Eingaben jährlich gestiegen. Die begrüßenswerte Zunahme von aktiver Bürgerbeteiligung am politischen Willensbildungsprozess über Petitionen sollte daher durch das Parlament aufgegriffen und unterstützt werden. ({0}) Der vorliegende Entwurf der PDS tut das; er ist zweifellos gut gemeint, aber - es tut mir Leid - keineswegs gut gemacht. Deshalb werden wir ihm auch nicht zustimmen können. Er weist einige grundsätzliche Mängel auf, die weder dem Petitionsrecht noch den Bürgerinnen und Bürgern gut tun. Das bedauere ich; denn die Fraktion von Bündnis 90/ Die Grünen streitet bekannterweise seit Jahren für eine Verbesserung des Petitionsrechts. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner bemühen wir uns auch jetzt um einen Ausbau dieses wichtigen Bürgerinnen- und Bürgerrechts. Unser Fraktionsvorsitzender hat ebenso wie Bundestagspräsident Thierse und Justizministerin Däubler-Gmelin mehrfach erklärt, dass im Rahmen eines grundlegenden Ausbaus der Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger - die Stichworte heißen Volksentscheid und Volksinitiative - der Ausbau des Petitionsrechtes einen selbstverständlichen und herausragenden Platz einnimmt. ({1}) Uns geht es darum, sowohl die Rechte und Befugnisse des Petitionsausschusses auszubauen als auch Möglichkeiten zu schaffen, die den Bürgerinnen und Bürgern einen direkten Zugang zur Volksvertretung für eigene innovative Vorschläge und Initiativen ermöglichen. Der erste Punkt ist, dass wir das Petitionsrecht über die Lösung individueller Anliegen hinaus zu einem echten politischen Mitwirkungsrecht der Bürgerinnen und Bürger ausgestalten wollen. Ein Mittel dafür ist die verbesserte Rechtsstellung bei Massenpetitionen. Wenn mindestens 50 000 Bürgerinnen und Bürger eine Petition einreichen, sollten deren Vertreterinnen und Vertreter auf Wunsch vom Petitionsausschuss gehört werden. Bei Bedarf können diese Anhörungen zusammen mit dem zuständigen Fachausschuss durchgeführt werden. Sie sollten grundsätzlich öffentlich erfolgen, ebenso wie die Beratung und Entscheidung des Petitionsausschusses. Die abschließende Beratung und Beschlussfassung sollte grundsätzlich in öffentlicher Beratung und durch das Parlament als Ganzes erfolgen. Ein zweiter Punkt ist im Zusammenhang mit den Vorschlägen zur Verbesserung des Petitionsrechtes für uns sehr wichtig: Weil das grundrechtsgeschützte Petitionsrecht ein herausragendes Instrument des Parlaments zur Kontrolle von Exekutive und Verwaltung ist, möchten wir auch diesen Bereich stärken, zum Beispiel durch das Recht, den Vollzug von Verwaltungsmaßnahmen bis zur Entscheidung über eine Petition aufzuschieben, durch erweiterte Akteneinsichts- und Beiziehungsrechte sowie durch ein Selbstaufgriffsrecht des Petitionsausschusses zur Behandlung eines offenkundigen Missstandes oder Problems aus eigener Initiative. Um das parlamentarische Kontrollrecht zu stärken, ist es sinnvoll, wenn der Petitionsausschuss auch dann tätig werden kann, wenn sich hinreichende Erkenntnisse ergeben, dass Stellen, die der parlamentarischen Kontrolle unterliegen, ihre Aufgaben eben nicht sachgerecht erledigen oder gegen geltende Rechtsvorschriften verstoßen. Von den Informationsrechten des Petitionsausschusses soll auch auf Antrag einer Ausschussminderheit Gebrauch gemacht werden. Ebenso sollte zur Nachvollziehbarkeit der Ausschussentscheidung dem Petenten in der Beschlussbegründung sowohl die Auffassung des Ausschusses als auch der Ausschussminderheit dargelegt werden. Dritter Punkt: Durch die zunehmende Privatisierung öffentlicher Bereiche fallen diese auch aus dem Petitionsrecht heraus. Das betrifft weitreichende Bereiche der Daseinsvorsorge, zum Beispiel Post, Telekommunikation und Bahn. Hier muss das Petitionsrecht neu definiert und auf eine tragfähige rechtliche Grundlage gestellt werden. Mit dem Wunsch nach Stärkung des Petitionsrechts rennen Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der PDS, bei uns offene Türen ein. Allerdings ist Ihr Antrag kein guter Wegweiser für die gute Sache. Ich möchte hier drei unserer wichtigsten Kritikpunkte nennen: Erstens. Sie wollen rechtliche Regelungen in einem Gesetz zusammenfassen, die nicht in ein Gesetz gehören und die dort nicht zusammengeführt werden können: Grundgesetz mit Geschäftsordnung, Verfahrensgrundsätze mit Befugnisgesetzen und Strafprozessordnung mit Petitionsrecht. Das dürfte wohl nicht nur Juristen überfordern, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger zusätzlich verwirren. Der gut gemeinte Ansatz, das Verfahren zu vereinfachen, wird so nicht erreicht, sondern das Gegenteil wäre der Fall. Zweitens. Sie wollen den Petitionsausschuss mit den Rechten eines Untersuchungsausschusses ausstatten; das ist in dieser Debatte schon mehrfach angesprochen worden. Diese Regelung im Gesetzentwurf der PDS-Fraktion betrifft die Beweiserhebungsrechte des Petitionsausschusses und ist an der Strafprozessordnung und den Befugnissen eines Untersuchungsausschusses ausgerichtet. Sie, Frau Kollegin Lüth, haben das zu Beginn bereits entsprechend ausgeführt. Kann der Petitionsausschuss bisher schon Zeugen und Sachverständige hören, so können nach Ihrem Entwurf Zeugen mittels Ordnungsstrafen zum Erscheinen und zur Aussage oder Eidesleistung gezwungen werden. Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte sollen entsprechend der Strafprozessordnung bestehen. Darüber hinaus sollen die Sitzungen, die der Beweiserhebung dienen, öffentlich stattfinden. Diese vorgeschlagenen Regelungen sind völlig überzogen. Der Petitionsausschuss ist schließlich kein Tribunal. Hier wird Bürgerinnen und Bürgern geholfen, hier soll klug und in aller Sachlichkeit verhandelt und entschieden werden. Aus dem Petitionsausschuss ein Kampfinstrument mit Polizeigewalt und Zwang zu machen ist genau das, was wir nicht wollen. Dazu gibt es auch keine Notwendigkeit. In der bisherigen Praxis wird schon von den bestehenden und durchaus weitgehenden Untersuchungsbefugnissen nur selten und behutsam Gebrauch gemacht. Die Praxis bietet keinen Beleg für die Notwendigkeit einer Verschärfung der Zwangsmittel. Die Einführung der Strafprozessordnung in das Petitionsrecht ist nicht sachgerecht. Wie die Praxis der Untersuchungsausschüsse zeigt, wird die Anwendung solcher Vorschriften häufig auch noch von langwierigen Rechtsstreitigkeiten begleitet, insbesondere dann, wenn Private von den Ermittlungen betroffen sind. Wir können doch nicht in Kauf nehmen, dass ein Petitionsverfahren durch Klageverfahren oder Ähnliches lahm gelegt werden kann. Insbesondere im Zusammenhang mit einem Selbstaufgriffsrecht und mit großzügigen Minderheitenrechten sind diese ausufernden Untersuchungsbefugnisse, die Sie vorgeschlagen haben, abzulehnen. Bei konsequenter und selbstbewusster Anwendung sind die bestehenden Befugnisse des Petitionsausschusses in diesen Fragen absolut ausreichend. Wer einen Untersuchungsausschuss zu einem Thema will, der soll einen Untersuchungsausschuss beantragen. ({2}) Der Petitionsausschuss sollte alles vermeiden, was ihn auch nur in die Nähe eines parteipolitischen Kampfinstruments rücken könnte. Drittens. Der Entwurf der PDS-Fraktion sieht vor, dass der Petitionsausschuss in der Regel selbst über die Petitionen entscheidet. Das heißt, dass die Petitionen nicht mehr dem Plenum vorgelegt werden und nicht mehr der Zustimmung des Bundestages selbst bedürfen. Diese Regelung soll - so ist die Argumentation - das Gewicht des Petitionsausschusses stärken und das Plenum entlasten. Letzteres würde sicherlich erreicht, aber das Ziel, den Ausschuss zu stärken, wird konterkariert. Die Beschlüsse des Petitionsausschusses erhalten doch gerade dadurch Gewicht, dass sie von der Mehrheit der Abgeordneten bestätigt werden und somit Beschlüsse des Deutschen Bundestages sind. ({3}) Durch Ihren Vorschlag würde der Petitionsausschuss eher abgewertet. Wir können vielleicht durch erweiterte öffentliche Ausschusssitzungen im Petitionsausschuss die abschließende Aussprache ersetzen - dies würde das Plenum entlasten -, aber bestimmt nicht den Beschluss durch das Plenum. Diesem Vorschlag können wir keinesfalls zustimmen. Dies und anderes mehr macht den Entwurf insgesamt sperrig, unhandlich und nicht solide. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Der Petitionsausschuss hat sich bewährt und hat dennoch bisher nur einen kleinen Bruchteil seines Potenzials ausgeschöpft. Im Sinne einer transparenten und bürgerfreundlichen Arbeit kann und muss er reformiert werden. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin jetzt der dritte Ostwestfale, der zum Petitionsrecht spricht. Wahrscheinlich nehmen wir Ostwestfalen das Petitionsrecht besonders ernst. ({0}) Das Petitionsrecht ist für die Liberalen von ganz besonderer Bedeutung. Die F.D.P. nimmt das Petitionsrecht ernst; denn es markiert in einem Rechtsstaat den Anspruch aller, die Rechtmäßigkeit von Hoheitsakten durch die von ihm mitgewählten Volksvertreter überprüfen zu lassen. Der hohe Stellenwert, der in unserem demokratisch verfassten Rechtsstaat dem Petitionsrecht eingeräumt wird, kommt dadurch zum Ausdruck, dass sich das Petitionsrecht direkt aus dem Grundgesetz ableitet. Art. 17 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 45 c des Grundgesetzes sind hier schon genannt worden. Mit der Aufnahme des Petitionsrechts in das Grundgesetz hat der Gesetzgeber lediglich das seit Jahrhunderten bestehende, in der Regel gewohnheitsrechtlich verankerte Bürgerrecht geschützt, Eingaben gegenüber der jeweils herrschenden Gewalt zu machen. Die PDS-Fraktion legt heute einen Entwurf für ein eigenes Petitionsgesetz vor und will zugleich Art. 45 c des Grundgesetzes entsprechend ändern. Dies wird von der F.D.P.-Bundestagsfraktion grundsätzlich begrüßt. ({1}) Nach mehreren parlamentarischen Anläufen zur Strukturierung und Ausgestaltung des Petitionsrechts ist der vorliegende Gesetzentwurf aus Sicht der F.D.P. ein erster Schritt. Herr Kollege Stünker, ich bedaure, dass Sie für die SPD schon jetzt Vorbehalte und Bedenken angemeldet haben. Es war erstaunlich, von Ihnen zu hören, wie Sie mit den Rechten von Minderheiten umgehen bzw. wie Sie über diese Rechte denken. Herr Kollege Deittert, ich bedaure, dass Sie für die CDU ähnliche Bedenken vorgetragen haben. Erstaunlich ist aber auch, was die Kollegin Buntenbach vorgetragen hat. ({2}) Die Grünen lehnen den Gesetzentwurf schon heute, in der ersten Lesung, ab, ohne dass er überhaupt parlamentarisch beraten wurde. Frau Kollegin Buntenbach, die Grünen haben hier wirklich ein merkwürdiges Parlamentsverständnis. ({3}) Ich habe den Eindruck, Sie lehnen diesen Gesetzentwurf nur ab, weil er von der PDS kommt. Das kann nicht richtig sein. Die Vielzahl der Eingaben der Bürger an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages in den letzten Jahren macht aus Sicht der F.D.P. die Verbesserung und Straffung des Petitionsverfahrens erforderlich. Keinem Petenten ist geholfen, wenn der Petitionsausschuss in der Flut der Eingaben regelrecht ertrinkt, sich die Verfahren zum Teil über Jahre hinziehen und sich der Petitionsausschuss deshalb den einzelnen Beschwerdeführern kaum mehr ausreichend widmen kann. Dem Ausgeliefertsein und dem Gefühl der Hilflosigkeit, das sogar verantwortungsbewusste, ja staatsbejahende Bürger hin und wieder befällt, muss durch ein effizientes und rechtsstaatlich einwandfreies Petitionsrecht entgegengewirkt werden. ({4}) In den Zeiten wie den unseren, in denen zu Recht von mehr demokratischen Teilhaberechten gesprochen wird - gerade die F.D.P. hat hier eine Vielzahl von Vorschlägen gemacht -, kommt der Gesetzentwurf zur richtigen Zeit, denn die Diskussion über Volksbegehren, Volksentscheid und andere Mittel, mit denen mehr Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen erreicht werden soll, kann ohne die Frage einer Neuausrichtung des Petitionsrechts nicht geführt werden. ({5}) Inwieweit der vorliegende Gesetzentwurf seinem selbst gesetzten Anspruch, für mehr Rechtsklarheit, mehr Transparenz des Petitionsverfahrens und die Stärkung der Petentenrechte zu sorgen, gerecht wird, und ob die vorgeschlagenen Änderungen im Einklang mit gültigen Rechtsvorschriften stehen, muss in den damit befassten Ausschüssen ausführlich geprüft werden. Dabei muss die praxisorientierte Umsetzungsmöglichkeit neuer oder geänderter Verfahrensvorschriften, zum Beispiel im Hinblick auf Massenpetitionen oder die Möglichkeit zur Durchführung von Anhörungen, genauestens erörtert werden. Auch der Vorschlag zur Einführung eines Petitionsregisters und einer Petitionsdatenbank muss vor dem Hintergrund datenschutzrechtlicher Bedenken geprüft werden. Frau Kollegin Lüth, wir werden auch zu prüfen haben, welche Petitionen vom gesamten Bundestag behandelt werden müssen und bei welchen es genügt, den Petitionsausschuss damit zu befassen. Ich sage für die F.D.P.-Fraktion: Wir müssen der Gefahr entgegenwirken, dass sich der gesamte Bundestag in der Frage des Petitionsrechts aus der Verantwortung stiehlt. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird sich im weiteren parlamentarischen Verfahren konstruktiv an den Beratungen dieses Gesetzentwurfs beteiligen. Dabei werden wir besonders darauf achten, dass dieser auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten genauestens unter die Lupe genommen wird. Der ehemalige Direktor beim Deutschen Bundestag, Rudolf Kabel, bemerkte vor Jahren in seinem Geleitwort zu Rupert Schicks grundlegendem Werk über Petitionen treffend: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass in unserer extrem repräsentativ verfassten Demokratie eine grundrechtlich und verfahrensmäßig gesicherte Möglichkeit der unmittelbaren Artikulation von Bürgerwillen geboten ist. Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf in der parlamentarischen Arbeit, das heißt in der weiteren Arbeit der Ausschüsse, vorurteilsfrei auf diese Möglichkeiten hin untersuchen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Bernd Reuter, SPD-Fraktion, das Wort.

Bernd Reuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der jetzigen Debatte ist von vielen Debattenrednern viel Richtiges ausgeführt worden. Herr Kollege Nolting, Ihre Kritik an der Kollegin Buntenbach ist etwas daneben. ({0}) Sie muss doch das Recht haben, zu sagen, dass sie aus den Gründen, die sie genannt hat, dem Gesetzentwurf in der vorliegenden Form nicht zustimmt. ({1}) - Nein, das hat sie nicht gesagt. ({2}) Ich habe von der Kollegin Buntenbach viel Nachvollziehbares gehört, was mir gefällt. Bei einigen Vorschlägen sind noch Beratungen in der Koalition erforderlich, um dort zusammenzukommen. Das ist vollkommen klar. Herr Kollege Nolting, es wird Sie vielleicht verwundern, aber ich muss Ihnen sagen, dass ich bezüglich einiger Ausführungen heute dem Kollegen Deittert näher bin. Wenn Sie die Minderheiten in den Blick nehmen, brauchen Sie doch nicht mehr mitzudiskutieren; Sie kommen auf 18 Prozent und damit ist Ihr Problem gelöst. ({3}) - Da bin ich einmal gespannt. Ich bin der Meinung, dass das Petitionsrecht jedem Bürger und jeder Bürgerin das Recht gibt, sich an die Volksvertretung zu wenden, und zwar mit dem Ziel, das vorgetragene Problem der Petenten zu lösen. Frau Lüth, ich muss Ihnen sagen: Bei dem Entwurf, den Sie vorgelegt haben, habe ich den Eindruck, Sie wollten eine gesetzliche Grundlage schaffen, mit der Sie deutlich machen wollen, wie die Entscheidungsfindung im Deutschen Bundestag abläuft und wie die Mehrheit und die Minderheit jeweils zu einem Problem stehen. Aber das halte ich eigentlich vom Ansatz her für falsch. Vielmehr bin ich heute noch den Müttern und Vätern des Grundgesetzes dankbar, die mit einem einfachen Satz, der heute schon hier zitiert wurde, festgelegt haben, dass sich jedermann an den Deutschen Bundestag wenden kann, wenn er Probleme hat, die in die Zuständigkeit des Bundes fallen. Dieser einfache Satz hat dazu geführt, dass wir 20 000 bis 25 000 Petitionen bekommen. Ich bin nicht der Meinung, dass wir das Rad neu erfinden müssen, wie es hier anklang. Vielmehr müssen wir auf dem aufbauen, was wir schon mit diesem Petitionsrecht segensreich für unsere Bürgerinnen und Bürger zu leisten imstande waren. Aber es ist klar, dass kein Gesetz so gut sein kann, dass es für alle Zeiten Gültigkeit hat. Auch Gesetze müssen entsprechend den gesellschaftlichen Veränderungen weiterentwickelt werden. ({4}) Das gilt auch für das Petitionsrecht und die demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an dem Willensbildungsprozess in unserer Gesellschaft. Ich möchte auf den Beschluss des SPD-Parteivorstandes vom 19. März dieses Jahres verweisen. Darin ist verankert, dass das Petitionsrecht weiterentwickelt werden soll. Aber ich gebe zu, liebe Frau Lüth, dass Sie den Nagel vollkommen auf den Kopf getroffen haben, als Sie sagten, da werde zum Beispiel gefordert, dass man eine Petition auch dem Bundestag zur Beratung überstellen können müsse. Das können wir doch schon jetzt. Ich würde mir wünschen, dass man bei der Weiterentwicklung dieses Gesetzes etwas mehr auf diejenigen hört, die Woche für Woche im Petitionsausschuss sitzen und sich über diese Probleme Gedanken machen. ({5}) Ich kann Sie nur ermuntern, in einen fruchtbaren Dialog einzutreten um die Angelegenheit dann gemeinsam voranzubringen. Ich möchte aber darum bitten, behutsam vorzugehen. Frau Lüth, Sie haben vorhin ausgeführt, die Petenten müssten erst alle Rechtsvorschriften zusammenklauben, um in der Lage zu sein, eine Petition einzureichen. Wir sollten viel mehr mit unseren Informationsmaterialien werben. Diese Broschüre ist doch eine wunderbare Sache: „Stichwort Petitionen“. Darin steht sogar, dass Sie die Vorsitzende sind. Da sind alle Mitglieder des Petitionsausschusses aufgeführt. Die Bürgerinnen und Bürger, die gerne informiert sein wollen, können das anfordern und sind dann in der Lage, eine vernünftige Petition einzureichen. Wenn die Änderung eines Gesetzes einer Zweidrittelmehrheit dieses Hauses bedarf, dann müssen wir uns natürlich um Konsens bemühen. Lieber Günther Nolting, wir werden darüber beraten, wie wir das besser machen können. Denn auch mir fällt bei Art. 45 c etwas auf. Da steht in Abs. 1: Der Bundestag bestellt einen Petitionsausschuss, dem die Behandlung der nach Artikel 17 an den Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden obliegt. In Abs. 2 heißt es: Die Befugnisse des Ausschusses zur Überprüfung von Beschwerden regelt ein Bundesgesetz. Plötzlich sind die Bitten weg. Das könnte 1975 ein gesetzestechnischer Fehler gewesen sein. Ich bin schon der Meinung, dass wir das in Ordnung bringen sollten, weil es keinen Sinn macht, wenn in Abs. 2 die Bitten nicht dabei sind. Deshalb müssten wir uns meiner Ansicht nach darauf verständigen, nach einer vernünftigen Beratung eine Änderung des Grundgesetzes vorzunehmen. Ich will noch einige Dinge ansprechen, die mir bei diesem Entwurf Sorgen bereiten. Es klang auch bei Frau Buntenbach an, dass man Massenpetitionen eine besondere Behandlung zusichern will. Ich habe in der langen Zeit, in der ich im Petitionsausschuss sitze, festgestellt, wie bedeutsam dieses Recht für ganz einfache, allein kämpfende Menschen ist, die sich Hilfe suchend an das Parlament wenden. Wenn die jetzt den Eindruck haben, dass eine Petition, wenn sie nur mit vielen Unterschriften versehen ist, besser behandelt wird, dann habe ich die Sorge, dass sie das Vertrauen in den Petitionsausschuss verlieren und sich sagen: Dahin braucht man sich als Einzelner gar nicht zu wenden; man muss eine Großorganisation anschreiben oder sich dort beteiligen. ({6}) - Auch ich bin ein Verfechter der Rechte der Minderheiten, weil die Demokratie, Herr Kollege Nolting, nur funktioniert, wenn die Mehrheit in der Lage ist, die Rechte der Minderheiten zu wahren. Damit komme ich zu einem anderen Punkt. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass es im Sinne des Erfinders einer funktionierenden Demokratie sein kann, dass zwei von 29 Abgeordneten des Ausschusses beschließen können, dass dieses und jenes gemacht wird. Das ist ein zu weit gehendes Minderheitenrecht. Nun will ich einen weiteren Punkt aufgreifen, und zwar die Beteiligung der Öffentlichkeit. Frau Lüth, es besteht doch bereits jetzt die Möglichkeit, die Sitzungen des Petitionsausschusses öffentlich durchzuführen. Wir müssen von dieser Möglichkeit nur Gebrauch machen. Ich weiß, dass wir dabei auf bürokratische Hürden stoßen, weil zum Beispiel keine Stenographen verfügbar sind oder weil keine passenden Räume vorhanden sind. Aber zumindest die Situation bei den Räumlichkeiten dürfte besser werden, wenn erst einmal die Gebäude um den Reichstag herum fertig sind. Dann sollten wir von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machen. Das Petitionsrecht berücksichtigt, dass mit vielen Problemen, die die Menschen an uns herantragen, so behutsam umgegangen werden muss, dass diese gar nicht öffentlich abgehandelt werden können. Ich denke dabei besonders an einen Fall, bei dem wir uns darauf verständigt haben, ihn nicht öffentlich zu diskutieren; alle Eingeweihten dürften aber wissen, worum es sich handelt. Diesen Fall hätten wir öffentlich nie und nimmer lösen können. Es gibt aber natürlich auch Petitionen, bei denen es vernünftig ist, wenn man öffentliche Diskussionen durchführt. Dadurch könnte eine breitere Öffentlichkeit daran teilnehmen, interessierte Bürgerinnen und Bürger könnten an der Diskussion mitwirken. Wir sollten wirklich darüber nachdenken, wie wir diesen Punkt besser verwirklichen können. Ich denke aber, dass wir ihn nicht generell verankern können. Das würde dazu führen, dass wir das ganze Verfahren so schwerfällig machen würden, dass wir gar nicht in der Lage wären, die Vielzahl der Petitionen vernünftig zu bearbeiten. Sie haben vorgeschlagen, die Bearbeitung der Petitionen nach den Regeln der Strafprozessordnung durchzuführen. Dazu will ich Folgendes sagen: Die Konsequenz wäre, dass nur derjenige Vorsitzender des Petitionsausschusses werden könnte, der die Befähigung zum Richteramt hat. Wollen wir das? Wir wollen doch eher, dass auch Menschen mit gesundem Menschenverstand und nicht nur Juristen darüber befinden, wie die Probleme geregelt werden sollen. Deshalb neige ich zu der Auffassung, dass wir diesem Vorschlag so nicht folgen können. Zur Transparenz möchte ich sagen: Im Petitionsrecht gibt es Verfahrensgrundsätze, die schon heute eine öffentliche Diskussionen im Plenum ermöglichen. Auch die Minderheitenrechte sind gewahrt. Wenn eine Minderheit im Ausschuss mit einer Entscheidung des Ausschusses nicht einverstanden ist, dann hat sie nach unseren Verfahrensgrundsätzen schon heute die Möglichkeit, einen Antrag auf gesonderte Ausweisung zu stellen. Im Plenum wird dann eine Debatte darüber geführt. Damit ist meiner Meinung nach dem Rechnung getragen, was hier gefordert wird. Ich bin deshalb der Meinung, dass wir dem Gesetzentwurf der PDS nicht in Bausch und Bogen zustimmen können. Ich bin aber schon der Meinung, dass wir ihn weiterhin vernünftig erörtern und beraten sollen. Wir müssen nämlich Wege finden, wie wir die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger stärken, wie wir mit Massenpetitionen vernünftig umgehen, ohne die Einzelpetitionen herabzusetzen, und wie wir Öffentlichkeit herstellen, ohne die Einzelbeschwerde dem Kräftespiel der öffentlichen Diskussion schutzlos auszusetzen. Ich finde, dass die PDS mit ihrem Anliegen richtig liegt, die Weiterentwicklung des Petitionsrechtes anzugehen und hier im Parlament zu beraten und zu beschließen. Änderungsbedarf besteht - das ist hier schon einige Male gesagt worden - auch dahin gehend, dass wir die digitale Signatur einführen müssen, damit auch elektronisch eingereichte Petitionen vernünftig bei uns behandelt werden können. Ich habe schon angeregt, Art. 45 c Abs. 2 des Grundgesetzes so zu ändern, dass er Bitten und Beschwerden enthält. Darüber hinaus müssen wir uns darüber Gedanken machen - Frau Buntenbach hat das schon angesprochen -, wie wir das Recht gestalten können, um den Menschen zu helfen, die Probleme mit Großorganisationen, etwa mit Post und Bahn, haben. Ich erinnere mich noch, dass wir, als die Post noch nicht privatisiert war, bei Petitionen in vielen Fällen helfen konnten. Der Postminister hat uns damals bei Petitionen, die falsche Rechnungen betrafen, geholfen. Dadurch haben wir vielen Menschen in unserem Lande helfen können. Durch die Privatisierung ist dies so nicht mehr möglich, die Probleme sind damit aber nicht verschwunden. Denn ich höre nach wie vor, dass Menschen Probleme mit diesen Einrichtungen haben. Deshalb bin ich der Meinung, dass dieser Punkt im Gesetz berücksichtigt werden muss. Wir dürfen uns aber keinen Schnellschuss leisten; wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es existiert zu dem Thema „Mehr Bürgerbeteiligung“ ein Gesprächskreis unter Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden unserer Fraktion, Ludwig Stiegler. Interessierte aus allen Fraktionen kann ich hierzu nur herzlich einladen, damit wir diese Gespräche in Gang bringen. Eine Änderung des Petitionsrechtes braucht einen breiten parlamentarischen Konsens. Im Sinne unserer Petentinnen und Petenten sowie aller Menschen unseres Landes hoffe ich, dass dieses Parlament die Kraft aufbringen wird, das Petitionsrecht weiterzuentwickeln und gemeinsam zu einem positiven Ergebnis zu kommen, nämlich zu einem Petitionsrecht, das den veränderten Bedingungen unserer Gesellschaft angepasst ist, und dass wir uns mit einem entsprechenden Gesetzesvorhaben öffentlich sehen lassen können. ({7}) - Gut. Vielen Dank für Ihre Geduld. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die Fraktion der PDS hat einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art. 45 c Abs. 2 des Grundgesetzes eingebracht, zu dem ich heute ein paar Anmerkungen machen möchte und der auf den ersten Blick den Anschein erweckt, als ob hier nur ein gewisses redaktionelles Versehen aus dem Jahr 1975 korrigiert werden soll. Art. 45 c Abs. 2 soll künftig lauten: „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Aber dieser zunächst unproblematisch erscheinende Satz, diese von der PDS-Fraktion vorgeschlagene schlichte Neuformulierung, würde eine gravierende Änderung der Rechtsstellung des Petitionsausschusses bewirken. Diese Änderung würde quasi durch die Hintertür den Einstieg in eine neue Form von Untersuchungsausschüssen und auch eine neue Form der Gesetzesinitiative begründen. Es käme zu einer erheblichen, zu der Systematik des Grundgesetzes nicht passenden Ausweitung der Kompetenzen des Petitionsausschusses. Ich gehe davon aus, dass genau dies das eigentliche Ziel des PDS-Gesetzentwurfs ist. Um meine Bedenken gegen die Neuformulierung zu erläutern, möchte ich mich ganz kurz auf Art. 17 des Grundgesetzes beziehen. Er gewährleistet das Petitionsrecht und schreibt fest, dass jeder das Recht hat, sich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen staatlichen Stellen und an die Volksvertretung, also auch an den Deutschen Bundestag, zu wenden. Dieser Gedanke ist in der Geschichte der Demokratie nicht neu. Er ist schon in der Bill of Rights von 1689 formuliert worden. Art. 17 gehört zum demokratischen Urgestein in unserem Land. Eine ähnliche Regelung kannte auch schon die Weimarer Verfassung. Art. 45 c ist hingegen erst 1975 in das Grundgesetz aufgenommen worden. Er ist eine Ausführungsnorm, die bestimmt, auf welche Weise beim Deutschen Bundestag mit Petitionen umzugehen ist. Die Fragen, die die PDS-Fraktion in ihrem Gesetzentwurf aufwirft, waren auch schon damals, als Art. 45 c aufgenommen werden sollte, Gegenstand der Diskussionen. Wie die PDS-Fraktion in ihren Erläuterungen zu ihrem Gesetzentwurf richtig ausführt, bestanden schon vor 1975, quasi als Rechtsannex zu Art. 17, Rechte des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages. Bei der Reform 1975 ging es also tatsächlich nicht um die originäre Festlegung der Befugnisse dieses Ausschusses, sondern um die Schaffung besonderer, erweiterter Befugnisse für einen Teil des Aufgabengebietes des Petitionsausschusses. Dieser erhielt 1975 eine verfassungsrechtliche Sonderstellung, weil seine Einsetzung und sein Aufgabenbereich zwingend vorgeschrieben wurden. Hinsichtlich der Erweiterung der Befugnisse muss genau beachtet werden, wie differenziert die Regelung ausgefallen ist. Im Hinblick auf die Behandlung von Bitten blieb es bei den auch schon vorher verfassungsrechtlich vorgegebenen Befugnissen, also dem Petitionsinformierungs- und dem Petitionsüberweisungsrecht sowie dem Recht, Anhörungen durchzuführen. Hinsichtlich der Beschwerden sind die Rechte des Ausschusses sowohl gegenüber der Exekutive als auch gegenüber den Bürgern erweitert worden. Hier wird die Sonderstellung deutlich. Dies geschah über die in Abs. 2 eingefügte einfachgesetzliche Regelung. Hier wurden dem Ausschuss direkte Informationsund Sachaufklärungsrechte gegenüber der Verwaltung und dem Bürger zuerkannt, die dem Gesamtparlament nicht zustehen und die auch nicht über eine Veränderung der Geschäftsordnung zu erreichen waren. Durch den Ausbau des Petitionsausschusses zu einem noch wirksameren Kontrollorgan gegenüber der Verwaltung ist dieser Ausschuss in bestimmten Aspekten bereits in die Nähe eines Untersuchungsausschusses gerückt. Seine Stellung ist darüber hinaus noch dadurch gestärkt worden, dass er nicht an einen Untersuchungsauftrag des Parlaments gebunden ist, sondern Gegenstand, Art und Umfang seiner Untersuchungen auf der Grundlage eingegangener Petitionen selbst bestimmen kann. Aber diese Erweiterung erfolgte lediglich hinsichtlich der Beschwerdebehandlung. Das ist also eine ganz klare Differenzierung. Deswegen ist es wichtig, sich die Abgrenzung zwischen Bitte und Beschwerde genau vor Augen zu führen. Dabei erkennt man, dass auch die Beschwerden eine gewisse Bitte umfassen müssen; denn Art. 17 hat nicht den Zweck, Mitteilungen oder Meinungsäußerungen an das Parlament zu schützen. Die Verfassung differenziert also zwischen Beschwerden mit einer konkreten Bitte und schlichten Bitten allgemeiner Art. Eine Beschwerde liegt vor, wenn eine konkrete staatliche Maßnahme angegriffen wird, das heißt, ein Handeln oder Unterlassen in einem konkreten Fall gerügt und dann um Abhilfe gebeten wird. Bei der schlichten Bitte geht es darum, dass ein bestimmtes staatliches Handeln gewünscht wird. Es fehlt der konkrete Fallbezug oder er dient nur als Beispiel für einen Missstand, auf den allgemein hingewiesen und den zu beseitigen angeregt wird. Hier sind wir an einem entscheidenden Punkt, auch an dem Punkt, was Sie mit Ihrem Antrag begehren. 1975 wurde nämlich sachgerecht und systemkonform festgelegt, dass die Befugnisse des Petitionsausschusses nur in einer Richtung erweitert werden sollten, nämlich hinsichtlich der Beschwerden, nicht aber hinsichtlich der Bitten. Genau dies steht in Abs. 2 des Art. 45 c. Um uns zu verdeutlichen, welches der Zweck dieser 1975 getroffenen Unterscheidung war, brauchen wir nur den Vorschlag der PDS konsequent zu Ende zu denken; denn sie will die Differenzierung zwischen Beschwerden und Bitten abschaffen. Eine Erstreckung der erweiterten Befugnisse auch auf die Bearbeitung von Bitten - genau dies sieht die Neuformulierung vor - würde die Kompetenzen des Petitionsausschusses stark erweitern und die Systematik des Grundgesetzes sprengen. Der Petitionsausschuss würde hinsichtlich vieler vorgetragener allgemeiner Missstände zu einem Untersuchungsausschuss besonderer Art, der jedem herkömmlichen Untersuchungsausschuss an Rechten weit überlegen und thematisch nicht begrenzt wäre. Da stimme ich der Kollegin Buntenbach ausdrücklich zu. Wer einen Untersuchungsausschuss will, soll ihn beantragen. Dann kann er auch Thema und Arbeitsweise entsprechend gestalten. Dass genau dies das Ziel der PDS-Initiative ist, legt auch ihr Entwurf für das Petitionsgesetz nahe, der in seinen §§ 16 bis 18 eine solche Entwicklung fördern würde. Sollten sich die Bitten auf Gesetzesinitiativen beziehen, würde dem Petitionsausschuss der Status eines allgemeinen Gesetzgebungsausschusses zuwachsen. Jedes Mal, wenn ein Bürger die Bitte zur Schaffung einer neuen gesetzlichen Regelung vortragen würde, wäre der Ansatz zu einer Gesetzesinitiative gelegt. Eine einfache Mehrheit im Bundestag könnte ein Gesetz schaffen, mit dem alle Anregungen von außen als vollwertige Gesetzesinitiativen zu behandeln wären. Dies ist der konkrete Hintergrund. Wenn Sie die Regelung „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ vorschlagen, könnten Sie ohne verfassungsändernde Mehrheit zu einer ganz neuen Gesetzesinitiative kommen. Genau dies wollen Sie ja, aber genau dies passt nicht in das System unseres Grundgesetzes. ({0}) Die grundgesetzliche Regelung des Art. 76 Abs. 1, nach der Gesetzesvorlagen auf Bundesebene nur durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht werden können, würde durch die vorgeschlagene Formulierung auf einfachgesetzlicher Ebene erweitert werden. Durch die hier geplante Änderung könnte leicht eine Situation eintreten, die ich für durchaus problematisch halte. Dies wurde auch von Ihnen schon angesprochen. Der Bundestag müsste sich mit allen gut gemeinten Vorschlägen verfahrenstechnisch aufwendig auseinander setzen. Ein großer Teil seiner Arbeitszeit wäre damit gebunden und die allgemeine legislative Arbeit würde deutlich erschwert werden. Alles das, was heute schon über den Petitionsausschuss gemacht werden kann, würde automatisch ins Plenum hineingetragen werden. Es wäre nicht ein Mehr an Transparenz und Möglichkeiten, sondern es wäre ein Mehr an Bürokratie. Genau diese Konsequenzen hat man 1975 erkannt und hat deswegen diese Regelung anders getroffen. Der Petitionsausschuss sollte gerade kein Fachausschuss sein, auch kein zweiter Weg für Gesetzesinitiativen. Er sollte kein zusätzliches Kontrollorgan sein, mit dem der Einzelne neben dem Parlament die Bundesregierung und die Bundesverwaltung kontrollieren kann. Der Petitionsausschuss hat die ureigene Aufgabe, sich den Sorgen und Nöten der Menschen in konkreten Einzelfällen zu widmen, und da leistet er eine hervorragende Arbeit. Sie merken, meine Damen und Herren: Wenn Sie den Vorstoß der PDS konsequent weiterdenken, dann kommen wir zu einem ganz anderen Punkt als einer schlichten Vereinheitlichung des Petitionsrechts. Der Vorschlag der PDS hat nicht zum Ziel, ein vermeintlich redaktionelles Versehen aus der Welt zu schaffen, wie er vorgibt, vielmehr soll der Petitionsausschuss über einen einfachgesetzlichen Regelungsvorbehalt zu einem Element der direkten Demokratie umfunktioniert werden. Es geht in dieser Debatte um die politisch erhebliche Frage, ob wir unsere politische Ordnung staatsrechtlich plebiszitären Elementen öffnen sollen oder nicht. Ideen der direkteren Demokratie, einer Demokratie, die stärker die Initiativen der Staatsbürger berücksichtigt, als das in unserer repräsentativen Demokratie bisher vorgesehen ist, werden zurzeit diskutiert. Zumindest der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages ist dazu der falsche Platz. In nicht allzu ferner Zukunft - dies wurde heute schon angekündigt - werden wir ohnehin Gelegenheit haben, über dieses Thema intensiv zu diskutieren. SPD und Grüne haben sich gemäß ihrer Koalitionsvereinbarung vorgenommen, demokratische Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene zu stärken. Dazu müsste unsere Verfassung geändert werden. ({1}) - Warten wir einmal ab, was sehr gut ist! ({2}) Das Grundgesetz kennt - von der Ausnahme der Länderneugliederung einmal abgesehen - für die Bundesebene keine plebiszitären Elemente. Es legt für Deutschland eine repräsentative Demokratie fest, bei der Instrumente wie Volksinitiativen und Volksbegehren - anders als auf Länderebene - nicht bestehen. Elemente einer direkten Demokratie zu fordern mag dem Zeitgeist entsprechen. Notwendig sind sie wegen der guten Erfahrungen mit dem Funktionieren unseres Staates sicherlich nicht. Wir sind mit der repräsentativen Demokratie seit 1949 sehr gut gefahren. ({3}) Wie schwierig, Herr Kollege, und in der konkreten Umsetzung fragwürdig Regelungen einer so genannten direkten Demokratie sind, ergibt sich schon aus dem Beschluss, den der SPD-Parteivorstand vor einigen Wochen gefasst hat. Daraus möchte ich mir eine kleine Passage vornehmen. Einerseits erwartet man eine Stärkung der repräsentativen Demokratie, andererseits werden die Sorgen ausführlich problematisiert, dass der Staat anfälliger für häufig wechselnde Stimmungen wird. In dem SPD-Beschluss wird peinlich genau darauf geachtet, dass der Wille des Volkes nur ja nicht über den parlamentarischen Entscheidungen angesiedelt wird. Einerseits sollen die Beteiligungsrechte in - ich zitiere - „wichtigen politischen Sachentscheidungen“ gestärkt werden, andererseits sollen Volksinitiativen nicht auf die Wahl oder die Abwahl von Personen, Wahlen oder Veränderungen von Finanzoder Steuerregelungen gerichtet sein. ({4}) Daran erkennt man eindeutig: Die SPD möchte auf den Zug des Zeitgeistes aufspringen; doch die Angst vor der eigenen Courage ist noch groß. ({5}) Diese Sorgen teile ich durchaus. Deswegen bin ich der Meinung: Das System der repräsentativen Demokratie hat sich in unserem Lande bewährt. Es bedarf einer Veränderung nicht. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 14/5762 und 14/5763 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/5763 soll im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung federführend beraten werden. - Dazu gibt es keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 h, 28 j und 28 k sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 e auf - es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfah- ren -: 28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) - Drucksache 14/6144 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 14/6140 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Rates vom 29. September 2000 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften - Drucksache 14/6142 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3}) Finanzausschuss Haushaltsausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung von Gesetzen und Verordnungen im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie sowie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf Euro ({4}) - Drucksache 14/5937 Volker Kauder Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen und des Finanzverwaltungsgesetzes sowie zur Umrechnung zoll- und verbrauchsteuerrechtlicher Euro-Beträge ({6}) - Drucksache 14/6143 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit - Drucksache 14/6100 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({7}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik vom 2. Fe- bruar 2000 zur weiteren Erleichterung des Rechtshilfeverkehrs - Drucksache 14/6101 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes - Drucksache 14/5927 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({8}) Rechtsausschuss j) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({9}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: TA-Projekt „Klonen von Tieren“ - Drucksache 14/3968 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Ausschuss für Gesundheit k) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({11}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Monitoring „Stand und Perspektiven der genetischen Diagnostik“ - Drucksache 14/4656 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({12}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit ZP 4a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung von Vorschriften des Dienst-, allgemeinen Verwaltungs-, Sicherheits-, Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts auf Euro ({13}) - Drucksache 14/6096 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({14}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 10. März 2000 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Republik Korea über soziale Sicherheit - Drucksache 14/6110 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Annette Faße, Reinhard Weis ({15}), Hans-Günter Bruckmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Kerstin Müller ({16}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung des Deutschen Binnenschifffahrtsfonds ({17}) - Drucksache 14/6159 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Tierschutz auf nationaler und EU-Ebene fortentwickeln - Drucksache 14/6047 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({19}) Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Vizepräsidentin Anke Fuchs e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Für ein Bundesrahmengesetz zur Weiterbildung - Drucksache 14/6170 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({20}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Kultur und Medien Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 29 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({21}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament European Community Investment Partners ({22}) Bericht über die Durchführung 1998 KOM ({23}) 135 endg.; Ratsdok. 07080/00 - Drucksachen 14/3428 Nr. 2.28, 14/4944 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. R. Werner Schuster Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Angelika Köster-Loßack Joachim Günther ({24}) Carsten Hübner Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung durch die Bundesregierung über den Bericht „European Community Investment Partners ({25}) - Bericht über die Durchführung 1998“ zu Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({26}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Gemeinschaftsrahmen für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der nachhaltigen Stadtentwicklung KOM ({27}) 557 endg.; Ratsdok. 13558/99 - Drucksachen 14/3859 Nr. 2.2, 14/4976 Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Iwersen Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({28}) zu der Verordnung der Bundesregierung Erste Verordnung zur Änderung der Batterieverordnung - Drucksachen 14/5931, 14/6019 Nr. 2.1, 14/6136 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Kelber Werner Wittlich Michaele Hustedt Birgit Homburger Eva-Bulling-Schröter Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/5931 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. ({29}) - Will irgendjemand etwas gegen Herrn Rexrodt sagen, der nicht genau weiß, was in dieser Batterieverordnung drinsteht? ({30}) - Die Batterien sind sicher, Herr Kollege. ({31}) Tagesordnungspunkt 29 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({32}) Übersicht 8 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 14/6013 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Vizepräsidentin Anke Fuchs Tagesordnungspunkt 29 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 270 zu Petitionen - Drucksache 14/6075 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 270 ist bei Enthaltung der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 29 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 271 zu Petitionen - Drucksache 14/6076 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 271 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 272 zu Petitionen - Drucksache 14/6077 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 272 ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Tagesordnungspunkt 29 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 273 zu Petitionen - Drucksache 14/6078 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 273 ist gegen die Stimmen der PDS angenommen. Zusatzpunkt 5: Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten ({37}) - Drucksachen 14/5910, 14/6114 ({38}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({39}) - Drucksache 14/6175 Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Dr. Norbert Röttgen Rainer Funke Dr. Evelyn Kenzler Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6175, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Da Sie sich alle erhoben haben, brauche ich die Gegenprobe nicht durchzuführen. Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zu möglichen Auswirkungen der Berliner Finanzkrise auf den Bundeshaushalt Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Petra Pau für die PDS-Fraktion.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ein Bundesland durch Misswirtschaft und unglaubliche politische Fehler an den Rand des Bankrotts gesteuert wird, dann ist das zwar ungeheuerlich, aber deshalb noch nicht unbedingt ein Thema für den Bundestag, auch dann nicht, wenn es sich um die Hauptstadt, also um Berlin, handelt - selbst dann nicht, wenn die Berliner Spatzen von allen Dächern „Skandal“ und „Pleite“ pfeifen, während der Regierende Bürgermeister Diepgen heute Morgen noch meinte: „Der Stadt geht es gut, nur dem Haushalt geht es schlecht.“ Ich werde heute die Bundespolitik auch nicht auf so zynische Weise aufrufen, wie es der Banker und geschasste, zugleich zum stellvertretenden CDU-Landesvorsitzenden geadelte einstige CDU-Fraktionschef Landowsky schon 1998 tat, als er dem „Berliner Kurier“ mitteilte: Wenn erst Hunderte von Arbeitslosen auf den Treppen des Reichstages sitzen, dann wird die Republik sehen, dass die Probleme in Berlin ganz besonderer Art sind. Das ist zynisch, weil derselbe Landowsky an der vermutlich größten Bankenpleite der Neuzeit seine Aktien hat. Obendrein bleibt noch der Parteispenden-Verdacht, also der Verdacht, dass lange Zeit eine CDU-Hand die andere gewaschen hat. Kurzum: Auch wenn die Berliner Probleme von besonderer Art sind, weil die Berliner Führung und der Berliner Politikstil eben von besonderer Art sind, so ist es doch das alte System „West-Berlin“, das wir hier in seinen Auswirkungen erleben können: ein Mix aus GroßVizepräsidentin Anke Fuchs mannssucht, Realitätsverlust und wechselseitigen Gefälligkeiten. ({0}) Es ist eine Politik mit ungedeckten Wechseln, durch die das von Diepgen so gern zitierte Unternehmen Berlin in die Pleite geführt wird. Aber - deshalb sitzen wir heute zu diesem Thema hier - ich muss auch daran erinnern, dass das DIW der Auffassung ist, Berlin könne sich nicht mehr aus eigener Kraft aus dem Haushaltsdesaster befreien. Dies ist eine mehr als ernüchternde Bilanz nach mehr als elf Jahren großer Koalition in Berlin. Große Koalition heißt nun einmal: CDU und SPD. ({1}) Spätestens aber dann, wenn ein Land zur Pleite neigt, wird es auch zum Bundesproblem. Deshalb haben wir die Aktuelle Stunde beantragt. Nun ist der Haushaltsnotstand noch nicht formal festgestellt und obendrein handelt es sich wohl auch kaum um einen unverschuldeten. Insofern kann ich schon nachvollziehen, wenn der Finanzminister und sicherlich auch sein Vertreter heute sagen: für diesen Pleitesenat keinen einzigen Heller zusätzlich! Ich vermute, das verstehen auch die Berlinerinnen und Berliner. Jedenfalls haben wir schon Anfang der Woche ein Volksbegehren angeregt, bei dem die Bevölkerung - die Betroffenen - im Klartext sagen kann, was sie von dieser desaströsen Berliner Haushalts- und Landespolitik hält. Ich freue mich, Kollege Rexrodt, dass Sie und die Kollegin Michalik von den Bündnisgrünen mit mir darin übereinstimmen, dass man die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt, die sich für ein solches Anliegen einsetzen wollen, unterstützen muss. ({2}) Die Schizophrenie in dieser Stadt scheint endlos. Auf der einen Seite werden zu Beginn des Sommers die Schwimmbäder nicht geöffnet, bleiben also geschlossen; gleichzeitig höre ich aber auf der anderen Seite am letzten Wochenende, dass man in Berliner und Brandenburger Regierungsstuben über eine neue Olympiabewerbung fantasiert. Allerdings - auch deshalb müssen wir uns heute hier damit befassen - trägt die Fehlplanung nicht nur Landeshandschrift. Auch der Bund muss sein Vorgehen korrigieren. Für die Berliner ist ja der Begriff „Kanzler-U-Bahn“ ein geflügeltes Wort. Für die Nichtberliner sei gesagt: Geplant und gebaut wird nach wie vor eine UBahn-Trasse, die am Kanzleramt vorbeiführt. Diese UBahn, die niemand braucht, verschlingt Milliarden an Bundes- und Landesmitteln. Ich denke, hier sollte die Bundesregierung umsteuern und nicht darauf bestehen, dass weiterhin Milliarden verbuddelt werden. ({3}) Ich komme zu einer letzten Facette der Berliner Krise, bei denen Bundes- und Landesambitionen über Kreuz liegen, anstatt sich zu ergänzen: Das prinzipiell richtige und gute föderale System der Bundesrepublik liegt schief. Nicht nur Berlin hat damit ein Problem; die Länder und Kommunen - bis hin zum letzten Dorf - wissen, dass viele Entscheidungen, die auf Bundesebene getroffen werden, von ihnen zu bezahlen sind. Auch bei Fragen, die die Hauptstadt betreffen, steht noch eine Klärung aus: Was ist Bundes-, was ist Landesaufgabe? Dabei ist es egal, ob es um die Kultur geht oder um kostspielige Polizeieinsätze, mit denen Staatsaufgaben abgesichert werden. Auch dies ist ein Problem. Ich sage ganz deutlich: Das Duo Diepgen und Landowsky war bisher ungeeignet, dieses Knäuel zu entwirren. Sie sind nicht die Lösung, sondern das Problem. Der Regierende Bürgermeister Diepgen ließ sich im letzten Wahlkampf mit „Diepgen rennt“ plakatieren. Die nächsten Plakate sollten ihm den Laufpass geben. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesfinanzminister, Karl Diller.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Recht debattieren in diesem Moment die Abgeordneten im Berliner Abgeordnetenhaus über das Thema „Auswirkungen der Bankenkrise auf den Berliner Haushalt“. Ich sage an die Adresse der PDS-Fraktion: Dort hin und nicht in den Deutschen Bundestag gehört heute die Debatte. ({0}) Halten wir uns an die Fakten: Im letzten Jahr hat der Bund das Land Berlin im Umfang von mehr als 7 400 Millionen DM unterstützt. Es handelte sich dabei um: Leistungen für den Hochschulbau, für die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, für Wissenschaft und Forschung, für den kommunalen Straßenbau und für den sozialen Wohnungsbau - insgesamt 1 700 Millionen DM; Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen, Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen, Erstattung der Kosten für die politische Führung sowie Hilfen im Rahmen des Solidarpaktes - zusammen 5 000 Millionen DM; Leistungen an Berlin als Standort überregional bedeutsamer kultureller Einrichtungen - 55 Millionen DM; Sonderleistungen im Zusammenhang mit der Sonderstellung Berlins als Hauptstadt - 664 Millionen DM. Die Haushaltslage Berlins hat sich in den letzten Jahren durch ernsthafte Konsolidierungsanstrengungen durchaus verbessert. Die Kreditfinanzierungsquote wurde von 13 Prozent im Jahre 1997 auf 9,9 Prozent im Jahre 2000 zurückgeführt. Der Personalbestand ist rückläufig. Dieser Erfolg ist vor allem der damaligen Finanzsenatorin Fugmann-Heesing zu danken. ({1}) Sie hatte es nicht einfach, sich mit ihren notwendigen Sparmaßnahmen durchzusetzen. Die aktuellen Finanzprobleme der Bankgesellschaft Berlin bedeuten in der Tat einen herben Rückschlag. Sie bedeuten jedoch keinen Absturz in eine Haushaltsnotlage. Die Berliner Finanzpolitik sieht sich allein in der Lage, die anstehenden Probleme zu bewältigen. Die Bundesregierung hat keine Veranlassung, an dem Erfolg der Berliner Bemühungen zu zweifeln. ({2}) Bei der Beurteilung, ob eine Haushaltsnotlage besteht, wird im Allgemeinen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1992 herangezogen, in dem das Gericht für die Länder Bremen und Saarland eine Haushaltsnotlage festgestellt hat. Dabei werden in der Diskussion häufig als alleinige Voraussetzungen für das Vorliegen einer Haushaltsnotlage die Kreditfinanzierungsquote und die Zins-Steuer-Quote genannt. Übersehen wird hierbei, dass das Verfassungsgericht in seinem Urteil ausdrücklich offen gelassen hat, welche Kennziffern welche Größenordnung erreichen müssen. Ich zitiere: Welche einzelne Quote oder welche Kombination von Quoten ab welcher Größe eine Haushaltsnotsituation präzise definieren, kann hier offen bleiben. Aber selbst die haushaltswirtschaftlichen Kennziffern lassen eine Haushaltsnotlage Berlins derzeit nicht erkennen. Die Situation Berlins ist auch unter Berücksichtigung zusätzlicher Belastungen deutlich günstiger als die Bremens und des Saarlandes - sowohl zum jetzigen Zeitpunkt als auch zu Beginn der Sanierungsphase in den beiden Ländern. Das Verfassungsgericht hat zwei weitere Feststellungen getroffen. Erstens - ich zitiere -: Welche der mehreren Handlungsmöglichkeiten in einer solchen Notlage zu ergreifen und in welchem Umfang die einzelnen Instrumentarien einzusetzen sind, obliegt der gesetzgeberischen Entscheidung. Das bedeutet: Das Verfassungsgericht sieht keine Verpflichtung des Bundes für Bundesergänzungszuweisungen. Zweitens - ich zitiere -: Befindet sich ein Glied der bundesstaatlichen Gemeinschaft - sei es der Bund, sei es ein Land - in einer extremen Haushaltsnotlage, so erfährt das bundesstaatliche Prinzip seine Konkretisierung in der Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft, dem betroffenen Glied mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell abgestimmter Maßnahmen Hilfe zu leisten. Das heißt: Diese verfassungsrechtliche Pflicht trifft nicht den Bund allein, sondern auch alle anderen Länder. Ich stelle also fest: Im Falle Berlins ist das Land selbst gefordert, seine finanzielle Lage zu bereinigen. Ich bin davon überzeugt, dass dies ohne Inanspruchnahme von Hilfen der Solidargemeinschaft von Bund und Ländern gelingen wird. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst Befriedigung darüber äußern, dass mein Vorredner der Regierung des Landes Berlin ausgesprochene Komplimente gemacht hat. ({0}) Dies ist - auch vom Bund aus, wo man oft Skeptisches hört - gerade gegenüber dem Regierenden Bürgermeister wohltuend und berechtigt gewesen. ({1}) Ich möchte mich in einem wesentlichen Punkt unterscheiden, nämlich inwieweit der Bund tatsächlich aufgefordert ist, dieser Stadt zu helfen. Ich möchte dazu gleich etwas sagen. Zunächst möchte ich aber zu dem eigentlichen Anlass kommen, weshalb wir uns mit dem Thema befassen: Das ist die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde. Die PDS versucht, mit der Beantragung dieser Aktuellen Stunde die Strategie fortzusetzen, die sie auch im Berliner Abgeordnetenhaus verfolgt. Ihr Fraktionsvorsitzender dort hat das „zündeln und sticheln“ genannt. Aus der Perspektive einer kleinen Oppositionspartei ist das verständlich - aber weshalb werden dann keine konkreten Anträge gestellt? -, aus der Geschichte der Partei heraus ist das jedoch überhaupt nicht nachzuvollziehen. Nach dem, was bis heute erkennbar ist, ist der Wertberichtigungsbedarf der Berliner Bankgesellschaft - und wohl auch einer Fülle anderer Banken, die sich in gleicher Weise wirtschaftlich falsch engagiert haben, wenn auch nicht in gleicher Dimension - im Wesentlichen dadurch entstanden, die geteilte Stadt nach 40 Jahren SED-Sozialismus unter dem Motto „Trümmer schaffen ohne Waffen“ ({2}) wieder zu einer Einheit, auch städtebaulich, zusammenzufügen, bauliche Ruinen zu beseitigen, Plattenbauten menschenwürdiger zu machen und die Vision eines modernen Gemeinwesens architektonisch und bei der Erschließung von Gewerbegrundstücken zu entwickeln. ({3}) Dabei hat sich die Bankgesellschaft wie viele andere Banken verspekuliert. ({4}) - Es ist klar, dass das zu Unruhe führt, aber die Situation ist so, wie sie ist. Sie können Ihre Geschichte - auch wenn Sie den Namen geändert haben - nicht abstreifen. ({5}) Eine Fehleinschätzung ({6}) gab es nicht nur bei der Bankgesellschaft; sie hat bei einer Reihe von Entwicklungen eine Rolle gespielt. Es wurde erwartet, dass die Einwohnerentwicklung infolge des Hauptstadtbeschlusses industrielle Investitionen in stärkerem Maße erforderlich macht, ({7}) dass Dienstleistung und Gewerbeansiedlungen schneller folgen würden, als das tatsächlich der Fall war. Diese Fehleinschätzungen wurden seit Mitte der 90er-Jahre deutlich; man kann sie praktisch am Immobilienteil der Zeitung ablesen. Wenn Sie eine Zeitung vom letzten Samstag nehmen und sie mit einer von 1994 vergleichen, sehen Sie, wer welche Erwartung hinsichtlich der Entwicklung der Stadt hatte und was daraus geworden ist. Man kann durchaus die Frage stellen, wer alles die Erwartung, dabei kräftig zu helfen, nicht genügend unterstützt hat. Damit bin ich bei der Bundespolitik. Wenn man die Finanzsituation Berlins beispielsweise mit der Hamburgs vergleicht, einer Stadt, die halb so groß und in einer anderen wirtschaftlichen Situation ist, dann wird man feststellen, dass Berlin bei doppelter Einwohnerzahl das halbe Steueraufkommen hat. Das alleine macht deutlich, wie die Entwicklung aussieht und wo geholfen werden muss. Auch ein Vergleich mit dem Landeshaushalt anderer Länder, zum Beispiel Hessens, einem Flächenland, zeigt, dass die Stadt aus eigener Kraft finanziell nicht so schnell auf die Beine kommen kann, wie wir das alle miteinander erwartet haben. Wir stellen fast jeden Tag fest, dass sich diese Bundesregierung gegenüber der Stadt Berlin ausgesprochen lieblos verhält. ({8}) Die Wiederherstellung des Olympiastadions zum Beispiel wurde zu einem Verhandlungsobjekt gemacht, obwohl selbstverständlich war, dass der Eigentümer für das Aufkommen dieser Reparatur verantwortlich ist. Das ist nur ein Beispiel von vielen: Von der Museumsinsel über die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ({9}) bis zu den Leistungen, die für den zusätzlichen Polizeiaufwand erbracht werden müssten - überall Zögern, Zaudern, Zurückhaltung. Hier muss stärker geholfen werden. Nun kann man natürlich die Schuldfrage hinsichtlich dessen, was sich in Berlin zugetragen hat, stellen. Es hat unbestreitbar Fehler gegeben. ({10}) Man wird sie sicher analysieren müssen und wird dabei feststellen, dass es sich nicht nur um eine einzige Person handelt, die Ämter inne hatte und zugleich politisch tätig war, sondern dass Bataillone von Sozialdemokraten in Vorständen, in Aufsichtsgremien sitzen; ({11}) selbst Kollegen dieses Bundestages sitzen im Aufsichtsrat einer dieser Banken. Das kann man doch ganz klar nachvollziehen: Man kommt auf zehn Namen, ehemalige und jetzige Senatoren, die für die Aufsicht verantwortlich sind. Die gelobte Frau Fugmann-Heesing war bis zum Jahre 1999 für Beteiligungen zuständig. Ich will gar keine konkreten Vorwürfe machen. ({12}) Ich sage bloß: Wenn man versucht, das auf eine einzige Person und eine einzige politische Partei zu konzentrieren, dann geht die Geschichte fehl; sie wird der Verantwortung nicht gerecht. ({13}) Es wird sicher die Frage gestellt werden müssen, ob es richtig war, diesen Konzern in dieser Konstruktion zusammenzuschmieden und dann den Vergleich mit den Verlusten anderer Banken dieser Stadt zu ziehen. Ich betone: Es gibt die Notwendigkeit, zu handeln, im Hinblick auf die Kompetenzen bzw. die Strukturen etwas zu ändern und die Stadt dabei zu unterstützen, schneller das Ziel, das wir alle anstreben, zu erreichen. Denn wir alle miteinander tragen für diese Stadt, für unsere Hauptstadt, Verantwortung. ({14}) Da bedarf es keiner Häme und keines Zynismus, sondern der Unterstützung des ganzen Hauses. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Austermann, die Liebe der KohlRegierung zu dieser Stadt war von etwas gespaltenen Gefühlen geprägt. Von daher würde ich an dieser Stelle nicht so laute Sprüche machen. ({0}) Ferner ist mir folgender Punkt wichtig: Wir müssen sehr ernsthaft zwischen den wiedervereinigungsbedingten Problemen unterscheiden, die es im Haushalt dieser Stadt tatsächlich gibt, und dem, worüber wir hier und heute sprechen. ({1}) Ich möchte mich auf die aktuelle Situation konzentrieren. Denn schließlich steigt täglich die Zahl der Wasserstandsmeldungen über das, was offiziell Wertberichtigungen genannt wird, was aber de facto eine skandalöse Vetternwirtschaft, ein abenteuerliches Finanzjonglieren ist. Es würde wirklich jedem sizilianischen Patenfilm zur Ehre gereichen, wenn er es schaffen würde, das, was hier in dieser Stadt in den letzten Jahren passiert ist und täglich neu aufgedeckt wird, darzustellen. Das Geschehene ist wirklich skandalös und sprengt jede Vorstellungskraft. ({2}) Herr Austermann, wenn Sie meinen, es gehe nur um ein paar zarte Fehler, dann empfehle ich Ihnen, den in einer Zeitung vom heutigen Tage erschienenen Artikel zu Aubis zu lesen, in dem es darum geht, dass es sich dabei, wie Aubis von Landowsky bzw. von der Berlin Hyp schrittweise saniert worden ist, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit um den Straftatbestand der Untreue handelt. Denn es ist bei dieser Bank wider den Rat aller Fachleute und aller Revisoren systematisch und ständig zu Konditionen nachsaniert worden, die eigentlich unanständig sind. Von daher sollten Sie das nicht als kleine Fehler verharmlosen! ({3}) Wenn es nur Aubis wäre! Es sind die Strohmännerfonds mit gefälligen Freistellungserklärungen für Gattinen und Freunde. Es ist die Gründung der Groth-Holding. Es sind die Porschgeschäfte in der Wallstraße und in Kühlungsborn. Es sind die Hornbach-Kaufmärkte, die für die Freundschaftsdienste von Herrn Rupf aufgekauft worden sind. Es sind unbekannte Vettern auf den Cayman-Inseln, die Scheinverkäufe der IBG, die eine Gesellschaft gründen wollten, die es gar nicht gab. Es sind die Villen, die den Vorständen zur Verfügung gestellt wurden. Eine Geschichte nach der anderen - ich habe inzwischen eine dicke Akte darüber - ist für sich gesehen ein solcher Skandal, dass erstens der gesamte Vorstand der Bankgesellschaft zurücktreten muss und dass zweitens endlich die Aufsichtsräte haftbar gemacht werden müssen. ({4}) Wer sich im Bankenrecht auskennt, weiß, dass Aufsichtsräte für das haften, was sie ihrer Gesellschaft genehmigen, und dass sie in einem solchen Fall nicht entlastet werden dürfen. Von daher fordere ich von hier aus das Berliner Abgeordnetenhaus auf, dafür zu sorgen, dass die Aufsichtsräte der Bankgesellschaft in diesem Sommer nicht entlastet werden, sondern dass sie allesamt zusammen mit den Vorständen aller „Sub-Subgesellschaften“ - insbesondere des Herrn Rupf - für das haftbar gemacht werden, was sie hier getan haben. ({5}) Es geht - zwar auch, aber nicht nur - um politische Moral und es geht um den materiellen Schaden, der jedem Bürger dieser Stadt angetan worden ist. ({6}) Dieser muss überhaupt erst einmal aufgedeckt und klargestellt werden. Von daher sage ich ganz deutlich: Herr Diepgen hat sich auch heute in seiner so genannten Regierungserklärung wieder hinter den Wirtschaftsprüfern und den Lasten der Wiedervereinigung versteckt. Bei aller Anerkennung der Tatsache, dass Herr Waigel damals die Berlinförderung zu schnell abgebaut hat, darf sich heute keiner hinter diesen Problemen verstecken, wenn wir davon sprechen, welchen Schaden dieser Bankenskandal der Stadt Berlin zugefügt hat. ({7}) Es geht um einen doppelten Glaubwürdigkeitsverlust. Jedem einzelnen Bürger dieser Stadt gegenüber ist die bisherige Politik absolut unglaubwürdig geworden. Es ist tatsächlich so: Schwimmbäder werden geschlossen bzw. verspätet geöffnet und die Eintrittspreise erhöht. Aber der Berliner Senat sagt: Jetzt brauchen wir mal eben 4 Milliarden DM -- heute waren es schon 6 Milliarden DM - für unsere Bankgeschäfte, für unsere Vetternwirtschaft. - Das darf doch wirklich nicht wahr werden! Dies ist eine Bananenrepublik, wie es schlimmer wirklich nicht geht. ({8}) Erst wenn Berlin in einer glaubwürdigen Form den Schritt hin zu Neuwahlen macht, ist überhaupt ein Neuanfang möglich, kann diese Stadt ihre politische Glaubwürdigkeit wiedergewinnen, und zwar nicht nur den eigenen Bürgern, sondern auch dem Bund und den anderen Ländern gegenüber. Berlin will Hilfe vom Bund - hierbei rede ich nicht von besonderen Bundesergänzungszuweisungen, sondern von dem Verfahren im Rahmen des Finanzausgleichs - und ist dabei auf die Solidarität des Bundes und aller Länder angewiesen. Dass diese Stadt gerade in einer solchen Zeit mit der eigenen Finanzsolidität und Glaubwürdigkeit so umgeht, wie sie es tut, kann man eigentlich gar nicht fassen. Lassen Sie mich noch sagen, was jetzt Not tut und was die Opposition in Berlin glücklicherweise eingeleitet hat: Wir Grünen werden zusammen mit der F.D.P. und der PDS - welch seltsames Dreierbündnis ({9}) sowie den gesellschaftlichen Kräften dieser Stadt ein Volksbegehren einleiten, um die Beteiligten unter Druck zu setzen. Dabei geht es nicht nur um die CDU - das muss ich den Kollegen von der SPD sagen -, sondern auch Herr Strieder und die gesamte Berliner SPD müssen endlich anfangen aufzuräumen und ihr Schuldbekenntnis klar auf den Tisch legen. Denn auch die SPD hängt in diesen Seilschaften. ({10}) Ich weiß das, denn ich habe lange genug mit den Berliner Baugeschäften zu tun gehabt. Ich fordere Herrn Strieder von dieser Stelle auf, dafür zu sorgen, dass von seiner Senatsverwaltung her kein Auftrag mehr an bestimmte Personen erteilt wird. Ich werde ihm die Namen persönlich nennen, denn ich möchte sie hier nicht in der Öffentlichkeit sagen. Aber nach wie vor werden an interne Seilschaften Aufträge vergeben: welch ein Filz! Das schreit wirklich zum Himmel. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Erforderlich sind ein klares Konzept zur Entflechtung und Säuberung der Bank, Neuwahlen und dann ein Kassensturz sowie ein glaubwürdiges Sanierungskonzept. Erst wenn die Voraussetzungen für eine glaubwürdige Politik in dieser Stadt geschaffen worden sind, kann man darüber diskutieren, ob man beim Bund anklopft. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Rexrodt für die F.D.P.-Fraktion.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal sagen: Die F.D.P. hat heute Morgen vorgeschlagen, ({0}) ein Gremium von parteipolitisch unabhängigen Persönlichkeiten einzusetzen. Dieses soll Träger eines Volksbegehrens sein, das zu einem Volksentscheid über Neuwahlen in Berlin führen soll. ({1}) Ich freue mich, dass die beiden anderen Parteien in der Opposition hier in Berlin, die Grünen und die PDS, diesem unserem Vorschlag, ein Gremium unabhängiger Leute einzusetzen, beigetreten sind. ({2}) Dass wir diesen Vorschlag gemacht haben, hat gute Gründe: Berlin steuert auf die Pleite zu. Dies ist die größte Finanzkrise in der Geschichte dieser Stadt. Nach den zugrunde zu legenden Kriterien wäre der Haushaltsnotstand eigentlich gegeben. Er ist nur nicht formal festgestellt. Aber man muss sehr wohl zwischen den objektiven und den hausgemachten Gründen für diese Entwicklung abwägen. Die objektiven Gründe - das sage ich in Richtung der PDS - wollen wir mal nicht vom Tisch wischen. Diese sind vom Kollegen Austermann zu Recht angesprochen worden. Das ist der eine Teil. ({3}) Unter Frau Fugmann-Heesing und auch unter Herrn Kurth, der hier heute anwesend ist, ist dann eine durchaus richtige Weichenstellung in der Finanzpolitik vorgenommen worden. Aber was soll denn passieren? Bei einer großen Koalition aus SPD und einer weitgehend sozialdemokratisierten CDU in dieser Stadt ({4}) kann dabei doch nichts herauskommen. Das ist nicht möglich. ({5}) - Das ist so! Der Senat wird von der SPD und einer weitgehend sozialdemokratisierten CDU gebildet. Das sage ich seit langem. Wenn Sie sich in dieser Stadt umhören, stellen Sie fest, dass dies selbst in bürgerlichen Kreisen, die die CDU wählen, zugegeben wird. ({6}) Das ist auch der Hintergrund dafür, dass es zu einem solchen Filz kommen konnte. An diesem Filz sind die beiden großen Parteien beteiligt. Da verfährt man nach dem Reißverschlussprinzip. Der Proporz existiert seit vielen Jahren. Da kann sich keiner rausmogeln. Hier muss es endlich mal wieder eine andere politische Konstellation geben, damit Klarheit und Transparenz in die Berliner Politik kommt. ({7}) Meine Damen und Herren, es hat Versäumnisse auf der Ausgabenseite gegeben, weil die Verwaltung noch immer überbesetzt ist. Mit einer großen Koalition kann man sie nicht so schnell abbauen, wie das eigentlich erforderlich ist. Auf der Einnahmenseite ist es nun nicht gelungen, die Wirtschaftskraft so zu stärken, wie wir uns das gewünscht haben - trotz zugegebener Bemühungen. Aber es sind auch noch andere Fehler und Versäumnisse festzustellen, und zwar unglaubliche. Dabei geht es zum einen um die Veräußerung der Landesbeteiligungen. Bei der GASAG und der BEWAG hat man zwar einen ersten Schritt getan; aber wenn es um die Wasserwerke geht, wird es schon halbherzig. ({8}) In Bezug auf die Wohnungswirtschaft - im Übrigen personell eine Pfründe der Sozialdemokraten, aber nicht nur der Sozialdemokraten - macht man zum anderen gar nichts oder kaum etwas, weil man in einer großen Koalition Angst hat, irgendwem auf die Füße zu treten. ({9}) Eine große Koalition ist das Übel des Ganzen. Das muss immer wieder gesagt werden. Das ist der mehr oder weniger objektive Teil. Was dann hausgemacht ist und hier zum Himmel stinkt, das ist der Skandal um die Bankgesellschaft Berlin. ({10}) Die Bankgesellschaft Berlin ist ein Homunkulus. Es war ja richtig - in den 80er-Jahren ging das los -, die Aktivitäten der Landesbank, also des Sparkassenbereiches und der Berliner Bank, zusammenzufügen. Aber wenn man so etwas macht, muss man eine einheitliche Kultur schaffen. Das ist versäumt worden. Da hat man den Weg des geringsten Widerstandes gewählt; die große Koalition hat einfach ein Dach darüber gesetzt und die beiden Kulturen sind erhalten geblieben. Dabei sind wirtschaftliche Fehler gemacht und Fehlentscheidungen en masse getroffen worden. Hinzu kommt das, was wir hier heute mit allem Nachdruck kritisieren müssen, nämlich die Verfilzung, die Vermischung von wirtschaftlicher Macht und politischer Verantwortung. Das muss ein Ende haben. ({11}) Dabei kann es nicht angehen, dass in dieser Situation der Bund oder die Länder hergehen und der Stadt zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen. Jetzt nicht! ({12}) Berlin muss zeigen, dass es aus eigener Kraft wenigstens Weichenstellungen vornehmen und Anstrengungen unternehmen kann, um mit diesem Desaster fertig zu werden, damit dieser Augiasstall, diese Verfilzung, diese große Koalition in dieser Stadt endlich ein Ende haben. ({13}) Dann kann man darüber nachdenken. Die Menschen auf den Straßen aus allen Bezirken dieser Stadt - ich komme von hier; ich kenne viele Menschen, viele Gremien und Bereiche ({14}) haben es satt, von einer großen Koalition regiert zu werden, in der politische und wirtschaftliche Macht miteinander verwoben sind. Deshalb haben wir dieses Volksbegehren angeleiert; deshalb werden wir es auch durchstehen. Es ist höchste Zeit, dass diese große Koalition selbst den Mut findet und die Kraft hat, zurückzutreten und das Mandat an den Berliner Wähler zurückzugeben, der es satt hat und der veränderte Verhältnisse im politischen Bereich so schnell wie möglich braucht. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Georg Wagner für die SPD-Fraktion. ({0})

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der Beiträge der Berliner, die wir hier gehört haben, muss ich sagen: Wenn das so weitergeht, kann das ja ein heiteres Spiel hier in Berlin werden. Sie, Herr Ex-Senator der Finanzen Rexrodt, haben 1985 bis 1989 die Grundlagen gelegt für vieles, ({0}) was hier in Berlin passiert ist. Sie waren vorher auch noch fünf Jahre beim Senator für Wirtschaft tätig. Ganz unschuldig, Herr Rexrodt, sind Sie also nicht. Sie dürfen sich daher auch nicht so aus dem Fenster hängen. Das passt nicht in die Landschaft hinein. ({1}) Ich hatte eigentlich geglaubt, dass zunächst einmal Herr Senator Kurth die Gelegenheit hätte, hier zu reden; denn er hätte dann sagen können, ob er anklopft oder nicht. Ich bin der Überzeugung, er wird nicht anklopfen, um zu verlangen, dass der Bund jetzt etwas bezahlen soll - nur lassen Sie ihn ja nicht reden -, ({2}) um zunächst etwas aufzubauen. Man muss natürlich auch Verständnis haben für manche Situation hier im Berliner Haushalt - Herr Schäuble, Sie haben eben einen entsprechenden Zwischenruf gemacht -: Zum Beispiel war der soziale Wohnungsbau in Berlin teilungsbedingt ein ganz großes Problem, weil es frei finanzierten Wohnungsbau in Berlin überhaupt nicht gab, solange die Mauer stand. Im Berliner Haushalt sind immer noch jedes Jahr 2,5 Milliarden DM für den sozialen Wohnungsbau eingestellt, nämlich für die Darlehen, die damals gegeben worden sind. Das geht, glaube ich, noch zehn Jahre so weiter. Sie haben den Einigungsvertrag ausgehandelt. Warum haben Sie diese Probleme als Hauptstadtprobleme im Einigungsvertrag nicht aufgegriffen? ({3}) Dann wäre manches Loch im Haushalt gar nicht entstanden. Meine Damen und Herren, eine Haushaltsnotlage ist nicht gegeben. Das hat jeder hier in Berlin festgestellt, ob das der Regierende Bürgermeister war, der Finanzsenator, der Bausenator oder der SPD-Landesvorsitzende. Alle haben gesagt, es ist kein Haushaltsnotstand. Auch ich sage das. Es besteht in der Tat kein Haushaltsnotstand; denn in Bayern hat auch niemand den Haushaltsnotstand ausgerufen, als dort die Verwicklungen des Ministerpräsidenten Stoiber im Zusammenhang mit der Landesbank und der Bayerischen Hypobank, bei denen diverse diffuse Immobiliengeschäfte gemacht worden sind, bekannt wurden. Darüber hat sich damals auch niemand aufgeregt. Das ist nun einmal so, wie es ist. Es soll also Wahlkampf stattfinden. Die PDS wittert Morgenluft und glaubt, sie könnte irgendetwas erreichen. Die F.D.P. hofft auf die Chance, wieder einmal im Abgeordnetenhaus vertreten zu sein. ({4}) Nachdem sie die Räumlichkeiten nicht mehr kennen - sie waren ja draußen -, wollen sie offenbar wieder in das Abgeordnetenhaus hinein. Das ist legitim. Aber ich nehme an, dass die Berlinerinnen und Berliner so intelligent sind wie die Wählerinnen und Wähler in den anderen Ländern des Bundesgebiets und die F.D.P. dort lassen, wo sie heute ist. Der Kollege Diller hat eigentlich bereits alle relevanten Zahlen genannt, sodass wir sie nicht unbedingt wiederholen müssen. Wir haben in der Tat - das hat der Kollege Austermann bereits ausgeführt - Berlin erhebliche Zuwendungen gewährt. Die Bundesergänzungszuweisungen betragen 3,8 Milliarden DM; außerdem erhält Berlin aus dem Länderfinanzvergleich 5,3 Milliarden DM. Auch in die Kultur fließen beträchtliche Bundesmittel. Wir haben - natürlich gegen den Willen der CDU/CSU - die Kosten für die Sanierung des Olympiastadions übernommen, für die wir im Hauptstadtvertrag für die Jahre 1995 bis 2004 1,3 Milliarden DM zur Verfügung gestellt haben, und für viele Verkehrsmaßnahmen. Ich möchte nun auf etwas zu sprechen kommen, was mir in Berlin unverständlich erscheint. Es geht zum einen um die Frage der Uneinigkeit in der Koalition hinsichtlich des Baus der U 5. Die einen sagen: Wir bauen; die anderen sagen: Wir bauen nicht. Die einen sagen: Wir müssen abwarten, bis die Fußballweltmeisterschaft vorbei ist; die anderen sagen: Das müssen wir nicht. Oder denken Sie zum anderen an das Theater, das wir gerade im Zusammenhang mit der Museumsinsel erlebt haben. Das wäre eine internationale Blamage geworden, wenn der Berliner Senat nicht zum Schluss eingelenkt hätte. Wir waren in der Diskussion sogar schon so weit zu sagen: Der Bund hält das Geld vor, das er von 2006 bis 2010 zu zahlen hat; damit finanzieren wir den Weiterbau der Museumsinsel. Das sind Entscheidungen in der Kommunalpolitik, die für uns als Nichtberliner, aber doch für längere Zeit hier Anwesende nicht nachvollziehbar sind. Herr Senator, Sie sollten einmal in der Kommunalpolitik in Berlin unter den Partnern, die die Regierung bilden, für Klarheit sorgen. Hinsichtlich des Aufsichtsrats muss ich noch auf das zu sprechen kommen, was der Kollege Austermann gesagt hat, nämlich dass die Sozialdemokraten an allem schuld seien. ({5}) Der Präsident des Bundesaufsichtsamts für Kreditwesen hat erklärt, der Aufsichtsrat sei nicht an dieser Entwicklung schuld. Nach den Protokollen ist feststellbar, dass die SPD-Mitglieder, aber auch der IHK-Präsident Gegenbauer und der Schering-Chef Erlen kritische Fragen gestellt hatten, die von denjenigen, deren Namen auch schon genannt worden sind, nicht beantwortet wurden. Ich meine, Diller hat Recht gehabt. Mit Annette Fugmann-Heesing ist in Berlin ein Konsolidierungskurs eingeleitet worden, der schmerzhaft war und ist. Ihr damaliger Staatssekretär und jetziger Senator Kurth setzt das fort - zum Leidwesen von CDU und SPD, muss man sagen. Die sind natürlich beleidigt, wenn so gespart wird, wie es hier zu Recht der Fall ist. Man sollte sie diesen Weg weiterverfolgen lassen und hier nicht eine Diskussion darüber vom Zaun brechen, ob sie jetzt Geld wollen oder nicht. Bis jetzt haben sie gesagt: Wir wollen kein Geld. Vielen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Berliner Finanzsenator Peter Kurth das Wort.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Krise der Berliner Bankgesellschaft hat in der Tat längst zu einer Diskussion über die Haushaltspolitik in Berlin und über die Koalition geführt. Es ist derzeit auch nicht möglich, das zu trennen, weil die gesetzlich vorgeschriebene Kapitalausstattung für die Bank unseren Haushalt dramatisch belastet und weil die große Koalition in Berlin mit diesen Belastungen fertig werden muss und nach meiner festen Überzeugung auch fertig werden wird. ({0}) Zunächst zur Bank: Das Gespräch mit dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen gestern Abend hat bestätigt, dass der Kapitalbedarf für die Bank in der Tat bei gut 2 Milliarden Euro liegen wird. Das ist seit einigen Tagen die Einschätzung des Berliner Senats, Frau Eichstädt-Bohlig. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Erstens. Die Situation der Bau- und Wohnungswirtschaft in allen neuen Ländern ist sehr schwierig. Hiervon ist keine Bank unbelastet geblieben. Zweitens. In erheblichem Umfang sind Fehler in der Bearbeitung problematischer Kredite und auch Gesetzesverstöße festgestellt worden. ({1}) Die Verantwortlichkeiten betreffen unterschiedliche Ebenen der Bankgesellschaft. Darauf komme ich später noch zu sprechen. ({2}) Drittens. Es stellt sich natürlich die Frage nach veränderten Bewertungsmethoden und der Qualität vergangener Jahresabschlüsse. Frau Eichstädt-Bohlig, es versteckt sich keiner hinter Wirtschaftsprüfern. Aber wenn ein Kredit aus dem Jahr 1995 bis zum Jahr 1999 völlig beanstandungsfrei testiert wird und im Jahr 2000 bei einem sich belebenden Immobilienmarkt auf einmal der Wertberichtigungsbedarf explodiert, dann darf die Qualität der Jahresabschlüsse angezweifelt werden. ({3}) Mit der Neustrukturierung der Bankgesellschaft wurde begonnen. Etliche Vorstände und Mitarbeiter haben den Konzern inzwischen verlassen. Die Aufsichtsräte werden ohne Ansehen der Person Regressansprüche prüfen und durchsetzen. Diese Prüfung betrifft auch die bisher geschlossenen Aufhebungsvereinbarungen. ({4}) Die Auswirkungen auf den Haushalt sind auch deshalb so verheerend, weil Berlin in der Tat in den letzten Jahren erfolgreich und engagiert konsolidiert hat. Ihnen allen dürften die Bemühungen in Berlin nicht verborgen geblieben sein: ({5}) der Abbau von mehr als einem Drittel der Stellen, die Rückführung der Ausgaben um fast 7 Prozent seit 1995 und sehr weitgehende Privatisierungen. Herr Dr. Rexrodt, Sie müssen den Berliner Senat nicht davon überzeugen, dass wir uns überall dort, wo dies geboten und machbar ist, als Unternehmer und Eigentümer zurückziehen. ({6}) - Damit haben wir ebenfalls begonnen. Die Konsolidierungspolitik ist nicht gescheitert. Sie wird nicht scheitern. Sie wird fortgesetzt. ({7}) Die Bankenkrise ist kein Anlass für den Berliner Senat, andere Länder oder den Bund um zusätzliche Mittel zu bitten. ({8}) Wir setzen unsere eigenen Anstrengungen fort und fliehen nicht in eine Haushaltsnotlage. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine große Koalition mit diesen Belastungen und den notwendigen Strukturentscheidungen am ehesten fertig wird. Die Bankgesellschaft ist kein strukturelles Problem unseres Haushalts. Das größte Strukturproblem unseres Haushaltes ist und bleibt die geringe Steuerkraft. Mit einer Steuerdeckungsquote von 40 Prozent ist Berlin in der Tat das Schlusslicht aller Länder. Wir haben in den letzten 70 Jahren fast die gesamte steuerzahlende Wirtschaft verloren. ({9}) Dies hat kein Senat zu verantworten. Das ist das Ergebnis der Berliner und der deutschen Geschichte. Es stellen sich aber andere Fragen, zum Beispiel inwieweit Berlin in bestimmte Finanzierungssystematiken, etwa bei nationalen Gedenkstätten und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, einbezogen werden kann. Ich betone: Berlin wird sich auch künftig an jeden geschlossenen Vertrag halten. Herr Wagner, die Irritation bei der Museumsinsel ist allein darauf zurückzuführen, dass es mit Schreiben vom November des letzten Jahres eine Zusage von Herrn Nevermann aus dem Kanzleramt gegeben hat, die Vorfinanzierung zu übernehmen. Der Fehler des Berliner Senats war, diese Zusage ernst genommen zu haben. ({10}) Es bedurfte eines kurzen Telefonates zwischen Herrn Eichel und mir, um dies zu klären. Auch hierfür wird im Nachtragshaushalt Vorsorge getroffen werden. Wir halten uns an jeden Vertrag, den wir geschlossen haben. Aber wir wollen nach einigen Jahren nüchtern darüber sprechen können, welche Verträge einer Anpassung bedürfen, weil sie auf einer unrealistischen Grundlage abgeschlossen worden sind. Dies ist dann aber nicht nur eine finanzielle Frage und sie ist unabhängig davon, wer Regierungsverantwortung trägt. Der Berliner Senat wird sich den Herausforderungen der Bankgesellschaft und des Berliner Haushaltes weiterhin entschlossen stellen. Wir bekennen uns klar zu unserer eigenen Verantwortung. Grundsätzlich allerdings bleibt Berlin auf die Unterstützung im Rahmen des Finanzausgleichs angewiesen. Wir achten diesen Beitrag der reichen Länder und des Bundes nicht gering, sondern wir sind für diese Unterstützung dankbar. Deswegen betone ich gerade vor dem Deutschen Bundestag: Berlin braucht die Solidarität der anderen. Wir werden sie aber nicht missbrauchen. Vielen Dank. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Hans-Christian Ströbele für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Senator Peter Kurth ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unsere schöne Stadt, das Land Berlin, wird seit einigen Monaten nicht mehr regiert, sondern täglich werden nur die Finanzlöcher kommentiert und allenfalls verwaltet. Immer wieder steht der Regierende Bürgermeister davor und sagt: Ich habe von nichts gewusst; ich bin nicht informiert worden. - Der Regierende Bürgermeister ist inzwischen eher ein regierender Konkursverwalter; nur, dass er dafür genauso wenig geeignet ist, weil er und seine Partei viel zu sehr in den Berliner Sumpf und den Berliner Filz verwickelt sind. Als Konkursverwalter müsste man seine Funktion eigentlich unabhängig und objektiv wahrnehmen. ({0}) Der Finanzskandal des Landes Berlin ist ja nicht neu. Bereits vor vier Jahren hat die damalige Abgeordnete des Berliner Abgeordnetenhauses Michaele Schreyer eine Anfrage an den Senat gerichtet und genau die Fragen gestellt, die man heute mühsam zu beantworten versucht. Damals ist ihr auf die Frage, welche Zahlungsprobleme bei der Berliner Bankgesellschaft vorhanden seien, gesagt worden: keine Probleme. Auch vonseiten der SPD sind 1997 ganz konkrete Fragen nach den Finanzen und Zuschüssen der Wohnungsbaugesellschaft Aubis gestellt worden. Auch in diesem Zusammenhang wurde gesagt: keine Probleme vorhanden. Der Regierende Bürgermeister will uns erzählen, er habe nichts davon gewusst, was seine Senatoren damals geantwortet haben und was seine Mitarbeiter, Fraktionskollegen und auch die Abgeordneten der SPD in den Aufsichtsräten der Banken erfahren haben. Der Berliner Sumpf ist sprichwörtlich; er kann nicht dadurch ausgetrocknet werden, dass von der Bundesebene Geld gefordert wird. Herr Senator, der Berliner Sumpf kann aber auch nicht dadurch ausgetrocknet werden, dass man neue Kredite aufnimmt und dafür jedes Jahr etwas mehr - 200 oder 300 Millionen DM - Zinsen zahlt. Denn wer zahlt denn diese Zinsen? Das sind die Steuerzahler, egal ob das Geld von Berlin oder vom Bund aufgebracht wird. Es betrifft in jedem Fall die Menschen in Berlin, denen klargemacht werden muss, dass es bei den Kindergärten erneut Einschränkungen geben wird, dass bei den Schulen keine ausreichende Ausstattung und für die Verkehrspolitik kein Geld vorhanden ist. ({1}) Irgendwo müssen Sie das Geld ja hernehmen. Es kann doch nicht wahr sein, dass Berlin Geld aufnimmt, um damit für Herrn Landowsky, der inzwischen ein Fall für den Staatsanwalt geworden ist, jedes Jahr 700 000 Mark zu zahlen, die er aus seiner Stellung bei der Bankgesellschaft Berlin bezieht. ({2}) Es kann doch nicht wahr sein, dass für diesen Zweck das Geld von denen genommen wird, die auf Unterstützung angewiesen sind, weil sie für den Kindergarten- oder Schulbesuch das Geld nicht selber aufbringen können. Sie müssen unter dieser Politik leiden. Vor ein paar Tagen konnte man in der „Berliner Zeitung“ lesen, dass 19 große Villen den Vorstandsmitgliedern der Bankgesellschaft zu Dumpingmieten zur Verfügung gestellt werden. Verkaufen Sie diese Grundstücke und sanieren Sie damit die Bank! Streichen Sie das Gehalt, das Herr Landowsky nachträglich für das Nichtstun in den nächsten Jahren bekommen soll! Damit können Sie wenigstens einen Anfang machen, um den Haushalt zu sanieren und das wieder gutzumachen, was Sie angerichtet haben. ({3}) Im Bereich der Entwicklungspolitik verlangen wir von den Regierungen anderer Staaten in Afrika, Asien, Lateinamerika oder sonst wo auf der Welt als erste Voraussetzung für die Leistung von Aufbau- und Finanzhilfe, dass sie Good Governance, das heißt eine Regierung, die einigermaßen vernünftig mit Geld umgeht, vorweisen, in der es keine Bestechung, keine Verfilzung und keine Pleiten gibt. Dieselben Anforderungen müssen wir an das Land Berlin stellen. Wenn Berlin fragt: „Hast Du mal ’ne Milliarde?“, dann können wir nur sagen: Aus der Bundeskasse keine Mark für diesen Senat! ({4}) Die Alternative zu diesem Senat versuchen wir jetzt in Berlin möglich zu machen. Wir brauchen einen Neuanfang. Wir brauchen das Votum der Wählerinnen und Wähler, der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, denen das alles gehört, die aber immer wieder nur draufzahlen sollen. Sie müssen jetzt zur Urne gerufen werden. Sie müssen jetzt sagen, dass sie Neuwahlen in Berlin wollen, Neuwahlen für einen anderen Senat, für eine andere Regierung. Auf diesem Wege wünschen wir unserer Stadt viel Glück. Wir werden mithelfen, dass dieser Weg erfolgreich gegangen wird. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat die Kollegin Dr. Christa Luft für die PDS das Wort.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Senator Kurth, Sie persönlich sind erst kurze Zeit dabei. Aber die Partei, der Sie angehören, leitet seit elf Jahren in Berlin eine große Koalition. Seit ebendieser Zeit ist Berlin in einer sehr prekären Finanzsituation. Darin spiegelt sich zum einen - das will auch ich sagen - ein objektiver Umstand, nämlich teilungsbedingte Sonderlasten, wider. Darin spiegelt sich auch wider, dass es nach Übernahme der Hauptstadtrolle Mehraufwendungen gibt. Kollege Austermann, es war der Bundeskanzler, damals der Chef Ihrer Partei, der Mitte 1990, als sich schon einmal eine Haushaltsnotlage in Berlin abzeichnete, sagte: Nein, Berlin kriegt keinen Pfennig mehr. ({0}) Der Bund hat, wie mir scheint, sich schon damals nicht angemessen engagiert, als es darum ging, diesen Bedingungen Rechnung zu tragen. Aber auch die jetzige Bundesregierung hat Berlin die Zustimmung zur rot-grünen Steuerreform für Peanuts abgehandelt und ihm Steuerausfälle von 2,5 Milliarden DM jährlich übergeholfen. Auch das darf nicht vergessen werden. ({1}) Und dennoch: In diesen Dingen, die ich genannt habe, die Hauptursache für den Schuldenberg und für die Finanzkatastrophe in Berlin zu sehen, das wäre weit gefehlt. Die Hauptursache liegt eindeutig in der jahrelangen Misswirtschaft des CDU/SPD-Senats und ist insoweit nicht unverschuldet. Damit dürfte übrigens auch für Sie, Kollege Austermann, die These nicht mehr haltbar sein, wonach es gerade die Sozialisten sind, die nicht mit Geld umgehen können. Denn die Sozialisten waren an diesem Senat nicht beteiligt. ({2}) Bevor zur Löschung des Brandes nach dem Bund als Feuerwehr gerufen wird, muss allerdings zuerst einmal die Brandursache in Berlin beseitigt sein, muss der amtierende Senat für klare Verhältnisse sorgen. Niemand kann von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern erwarten, dass weiter unkonditioniert Geld in einen Sumpf geworfen wird. ({3}) Ich halte es für ein Gebot politischer Hygiene, dass ein Regierender Bürgermeister nicht gleichzeitig Justizsenator sein darf. ({4}) Ich halte es für ein Gebot politischer Hygiene, dass Partei- und Bankposten künftig auf Dauer voneinander zu trennen sind. Strenge Regeln müssen für die Haftung von Wirtschaftsprüfern, von Aufsichtsräten und natürlich von Managern öffentlich-rechtlicher Institutionen ebenso wie solcher mit privater Beteiligung gelten. Warum soll - auch ich muss das fragen - ein Hauptkatastrophenverursacher wie Herr Landowsky fürs Nichtstun, fürs Spazierengehen noch auf zwei Jahre hin eine Abfindung von je 700 000 DM bekommen und lebenslang jährlich 350 000 DM? Ich kann das nicht fassen. Ich habe in meinem Wahlkreis gerade mit einer Beschwerde einer arbeitslosen Frau zu tun. ({5}) Sie ist 58 Jahre, beim Arbeitsamt nicht mehr vermittelbar. Sie hat innerhalb Berlins einen Umzug vollzogen, hat - das muss man sagen - ihre Adresse nicht ordnungsgemäß unverzüglich dem Arbeitsamt mitgeteilt und muss nun ihre paar Hundert Mark Arbeitslosenhilfe zurückzahlen. Ich kann die Welt nicht mehr erklären. Das ist nicht mehr vermittelbar. ({6}) Auch dass immer noch Luxusvillen an Topmanager der Bankgesellschaft zu Spottpreisen vermietet sind, was langfristig, wie man gelesen hat, zu Verlusten von 45 Millionen DM führt, ist eine kostspielige Geschmacklosigkeit. Keine Familie mit einem durchschnittlichen Einkommen erhält eine Wohnung unter der ortsüblichen Miete. Ich kann auch dies nicht erklären. ({7}) Sollen die Folgen dieser Finanzmisere etwa wieder nur die tragen, die nichts dafür können, die aber schon in den vergangenen Jahren die Hauptlasten der Haushaltskonsolidierung hier in Berlin zu tragen hatten? Dieser Senat kann nicht erwarten, dass sich die Berliner Bevölkerung eine neue Runde von „Gürtel enger schnallen“ aufbürden lässt. ({8}) Es wird einer neu legitimierten Mannschaft bedürfen, bis sich Berlin nach einem ehrlichen Kassensturz und vorgelegter eigener Konsolidierungsstrategie wegen Hilfe an den Bund und an die Ländergemeinschaft wenden kann. Kreditfinanzierungs- und Zins-Steuer-Quote lassen an der Unverzichtbarkeit eines solchen Gangs nach Canossa allerdings kaum noch Zweifel. Wenn der Kollege Diller als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, die hier in Berlin ja ein Koalitionspartner ist, das heute noch abwiegelt, dann ist das sicherlich verständlich. Ich glaube aber, dass das noch nicht das letzte Wort gewesen ist. Hilfe des Bundes könnte zum Beispiel durch die Übernahme der Wohnungsbauschulden von vor 1989 in den Erblastentilgungsfonds erfolgen. Es wäre an der Zeit, den Bau der für die Berliner Bevölkerung unsinnigen, aber teuren „Kanzler-U-Bahn“ zu stoppen und stattdessen einen attraktiven Nahverkehr auszubauen. Auch wenn der Bund das Geld, das er für den Bau vorgeschossen hat, im Rahmen des Hauptstadtfinanzierungsvertrages von Berlin zurückforderte, würde Berlin durch ein neues Verkehrskonzept dennoch Hunderte von Millionen Mark sparen. ({9}) Auf den Prüfstand muss auch das Großflughafenprojekt Berlin/Brandenburg, ({10}) das ebenfalls zu einem Milliardengrab zu werden droht. Wenn jetzt nicht ein Umsteuern eingeleitet wird, versinkt Berlin in einem Finanzchaos. Die Leidtragenden wären einzig diejenigen, die am wenigsten auf öffentliche Daseinsvorsorge verzichten können. Das darf nicht geschehen. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die CDU/CSUFraktion erteile ich dem Kollegen Dr. Wolfgang Schäuble das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind nicht das Berliner Abgeordnetenhaus. Zunächst will ich meinen Respekt für das bekunden, was der Finanzsenator zu den aktuellen Schwierigkeiten, die uns alle beunruhigen und die wir mit Sympathie und zugleich mit Sorge verfolgen, gesagt hat. ({0}) Er hat gesagt, dass Berlin die Probleme, die nun deutlicher erkannt worden sind, natürlich in eigener Verantwortung lösen muss. Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich darauf hinweisen möchte, dass wir über die deutsche Hauptstadt sprechen. Unabhängig davon, wer nun was gesagt hat, was im Einigungsvertrag steht, was falsch und was richtig gemacht worden ist usw., muss man den Menschen nicht nur in dieser Stadt, sondern auch in Deutschland erklären, dass die Folgen der Teilung der eigentliche Grund für die finanziellen Schwierigkeiten dieser Stadt sind. Westberlin war über 40 Jahre hinweg eine Insel. Wir haben die Folgen des Wegfalls dieses Status für die Struktur dieser Stadt in wirtschaftlicher Hinsicht, was die Finanzkraft und deren Entwicklung anbetrifft, und darüber hinaus unterschätzt. Lieber Herr Kollege Rexrodt, Sie waren bis 1989 Finanzsenator in dieser Stadt. Wir haben vieles zusammen gemacht; dazu stehe ich auch. Wir müssten allerdings ein wenig selbstkritischer darüber nachdenken, dass wir möglicherweise nicht ausreichend bedacht haben, mit welch großen Entwicklungshindernissen der westliche Teil dieser Stadt in die Zeit nach dem Fall der Mauer gegangen ist. Über den östlichen Teil der Stadt muss ich nichts mehr sagen; das hat der Kollege Austermann hier schon ausreichend getan. Verehrte Frau Kollegin Luft, auch Sie müssten ziemlich genau darüber Bescheid wissen. Das alles hat der Stadt natürlich Spannungen und Veränderungen zugemutet, die ungeheuer groß sind. Der Finanzsenator hat von der Steuerquote in Berlin gesprochen. Das ist das eigentliche Problem dieser Stadt. Natürlich wird das durch die aktuellen Schwierigkeiten nicht besser, die man nicht leicht nehmen darf und die man nicht entschuldigen kann. Nur, Wahlkampf, durch den Sie die Wahlergebnisse der letzten Wahl korrigieren wollen, sollten Sie nicht machen, vor allem nicht im Deutschen Bundestag. Wenn Sie, Herr Kollege Wagner, die ehemalige Finanzsenatorin des Landes Berlin, Frau Fugmann-Heesing, so loben, dann möchte ich Sie daran erinnern, dass diese von Ihnen so gelobte Dame aufgrund einer Entscheidung, glaube ich, der Berliner SPD nicht mehr Finanzsenatorin ist. Insofern besteht hier Kontinuität. Ich werbe nicht für die Feststellung der Haushaltsnotlage. Der Bundesfinanzminister und der Finanzsenator des Landes Berlin haben übereinstimmend erklärt, dass eine solche Haushaltsnotlage nicht vorliegt. Aber es gibt Neuverhandlungen zwischen den Ländern und zwischen dem Bund und den Ländern über den Finanzausgleich. Ich stimme Ihrer Auffassung, Herr Staatssekretär Diller, ausdrücklich zu, dass die deutsche Hauptstadt nicht nur den Bund, sondern den Bund und alle Länder etwas angeht. Wenn wir es mit nationaler Solidarität und Verantwortung ernst meinen und zum Beispiel als Baden-Württemberger unsere Eigeninteressen richtig verstehen, dann dürfen wir Berlin in seiner jetzigen schwierigen Lage nicht allein lassen. Wir müssen uns für die Solidarität des Bundes und aller Länder mit Berlin einsetzen. Herzlichen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Volker Kröning, SPD-Fraktion, das Wort.

Volker Kröning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002707, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Debatte, die eigentlich eine Diskussion im Berliner Abgeordnetenhaus ersetzt, die aber, wie der letzte Beitrag gezeigt hat, bundespolitisch durchaus relevant ist und die man deshalb ernst nehmen sollte, ist zum Stichwort „Haushaltsnotlage“ schon das Notwendige gesagt worden. Sie wird vom Land Berlin nicht geltend gemacht. Sie wird auch vom Bund verneint. Ich möchte dem, was Kollege Wagner bereits unterstützend in Richtung des Parlamentarischen Staatssekretärs gesagt hat, hinzufügen: Wir sollten auf keinen Fall Haushaltsnotlagen herbeireden. Wir sollten durch das Gerede über Haushaltsnotlagen auch keinen Präzedenzfall für andere Gebietskörperschaften schaffen, die es an Anstrengungen möglicherweise fehlen lassen. ({0}) Wer Haushaltsnotlagen vermeiden will, tut Recht daran, wie es Herr Finanzsenator Kurth erklärt hat, sich nicht sozusagen in das Netz einer Haushaltsnotlage fallen zu lassen. In diesem Zusammenhang müssen Sie, Herr Rexrodt, mit dem Widerspruch fertig werden, dass Sie auf der einen Seite die Haushaltsnotlage bejahen, aber auf der anderen Seite Hilfe ablehnen. ({1}) - Doch, wörtlich! Das wird im Protokoll nachzulesen sein. - Deshalb kommt es überhaupt nicht darauf an, die Frage, wer an einer Haushaltsnotlage schuld sei, zum parteipolitischen Prügel zu machen. Ich warne davor, dieses Thema mit Wahlkampfgelüsten zu verquicken. Ich möchte noch etwas zu den Redebeiträgen des Finanzsenators Kurth und des Kollegen Austermann sagen. Es ist - Herr Schäuble hat das bestätigt - deutlich geworden, dass es nicht in erster Linie um die Finanzkraft geht, um einen Begriff zu verwenden, der in den Diskussionen über den Finanzausgleich und die Haushaltsnotlagenhilfe gebräuchlich ist. Vielmehr geht es in erster Linie um die Wirtschafts- und Steuerkraft. Aber es ist unberechtigt, wie Sie, Herr Austermann, zu sagen, der Bund sei lieblos. Es ist schon aufgelistet worden, was der Bund außerhalb des Finanzausgleichssystems für Berlin getan hat und tut. Wer das diffamiert, trägt möglicherweise dazu bei, den Bund etwas mehr in die Reserve zu treiben. Das, was Berlin braucht, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe und keine Hilfe in einer extremen Haushaltsnotlage - so hat es das Bundesverfassungsgericht bei seiner Abgrenzung der Fälle Saarland und Bremen von normalen Fällen formuliert -, schließt Solidarität und gezielte Hilfe ein. Aber dabei muss auch klar sein, dass der Bund wahrscheinlich nichts Entscheidendes für die Stärkung der Wirtschafts- und Steuerkraft des Landes Berlin tun kann. Ich darf als Vertreter - ich sage wohl besser: als Angehöriger - eines Landes, das zurzeit unter Führung einer großen Koalition aus Schwarz und Rot, im Vergleich zu Berlin allerdings mit umgekehrter Rollenverteilung, einen ähnlichen Weg zurücklegt, sagen, dass es nicht nur darauf ankommt, die Attraktivität einer Stadt für Touristen aus aller Welt zu steigern. Vielmehr kommt es auch auf eine ausreichend breite und starke Wirtschaftsstruktur an. Da muss man sich zum Beispiel nach wie vor Gedanken darüber machen, warum in den letzten Jahren der industrielle Sektor noch nicht gestärkt werden konnte. Das fällt mit in Ihre Verantwortung, lieber Herr Rexrodt. Schon zu Zeiten der Teilung haben Sie in Wahrheit von Subventionen gelebt. Ich denke dabei an die Lebensmittelindustrie, die damals von Bremen nach Berlin subventioniert worden ist und nach Wegfall der Subventionen nicht ersetzt werden konnte. Berlin hat also nicht nur ein Problem auf der Ausgabenseite, rufe ich dem Finanzsenator zu, sondern Berlin hat auch ein Problem auf der Einnahmenseite, rufe ich allen übrigen Verantwortlichen im Senat zu, auch dem heutigen Wirtschaftssenator. In diesem Zusammenhang, Herr Ströbele, habe ich kein Verständnis dafür, wie Sie das Thema Flughafen angehen. ({2}) Denn zur Infrastruktur eines Landes, das wirtschaftlich erstarken will, gehört vor allen Dingen - ({3}) - Ach so, wie konstruktiv. Dann darf ich Sie vielleicht sogar unabhängig von der Frage, wie gut dieser Flughafen geplant wird, als Verbündeten in der Frage in Anspruch nehmen, dass Berlin eine hauptstadtgemäße Verkehrsinfrastruktur zu Wasser, in der Luft - Frau Luft! -, ({4}) aber eben auch zu Lande braucht. ({5}) Frau Eichstädt-Bohlig, Sie haben zuerst das Thema Finanzausgleich angesprochen, und einige Redner sind dem dann gefolgt. Als Vorsitzender des Sonderausschusses Maßstäbegesetz und Finanzausgleichsgesetz, der sich zurzeit mit dem Thema abmüht, will ich sagen: Auch die Eigenanstrengungen Berlins, die bereits unternommen werden und die wirklich weitgehend unabhängig von der politischen Farbe sind, sind Voraussetzung dafür, dass Berlin weiterhin einen fairen Platz im Finanzausgleich behält. Das ist aber keine Lösung für hier und heute, und das ist keine Lösung für die Zeit bis 2004 einschließlich, sondern der neue Finanzausgleich wird 2005 in Kraft treten. Deshalb müssen wir Berlin auch auf seinem eingeschlagenen Weg unterstützen - das schließt Kritik nicht aus, sondern ausdrücklich ein -, um die psychologischen Voraussetzungen dafür zu gewinnen, bei der Neuordnung des Finanzausgleichs gut abzuschneiden. Als Vertreter - nicht nur als Angehöriger, sondern nun auch als Vertreter - eines Stadtstaates will ich in diesem Zusammenhang, an die Opposition und die führende Regierungspartei in Berlin gewandt, hinzufügen: Beenden Sie bitte das Gerede um die Höhe der Einwohnerwertung. Die Anerkennung der geltenden Einwohnerwertung für die Stadtstaaten ist das Mindeste, mit dem Berlin auch bei dem neuen Finanzausgleich aufsetzen muss. Es wäre sehr schön, wenn bei der Konsensfindung, die zurzeit auf der Schiene der Exekutive stattfindet, aber auch bei der Konsensfindung in unserem Hause darüber bald Einigkeit erreicht werden könnte.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Volker Kröning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002707, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich schließe mit den Worten: Hilfe zur Selbsthilfe wird Berlin noch lange benötigen. Wir hoffen, dass Berlin nicht in die Situation einer Haushaltsnotlage kommt und deshalb kein Thema der Haushaltsnotlagenvorbeugung und Haushaltsnotlagenhilfe werden wird, die wir im künftigen Bundesrecht vorsehen werden. Wir wünschen Berlin bis zur Neuordnung des Finanzausgleichs und darüber hinaus und in seiner Zukunft - als Land oder als Stadt - das Glück des Tüchtigen. Danke. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Kollegen Josef Hollerith, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Josef Hollerith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bezeichnend, dass gerade die PDS diese Aktuelle Stunde beantragt hat, ({0}) just jene Partei, die die Nachfolgeorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ist, ({1}) die also die Ruinen in den fünf neuen Bundesländern zu verantworten hat, die einen Wertberichtigungsbedarf von 1 000 Milliarden DM hinterlassen hat. Das ist die Bilanz der Nachfolgepartei PDS, der Sozialisten, der Kommunisten. ({2}) Daran erkennt man auch die Absicht dieser Damen und Herren. Die Absicht ist nicht Aufklärung, ist nicht sachliche Information. Die Absicht ist, zu zündeln, zu desinformieren, die Menschen hinters Licht zu führen. Das sind die Kommunisten, wie wir sie kennen, wie wir sie in 40 Jahren Ruinierung der fünf neuen Bundesländer kennen gelernt haben. ({3}) Wir müssen über das Thema „Wertberichtigungsbedarf bei der Bankgesellschaft Berlin“ sehr sachlich diskutieren. Wie das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen festgestellt hat, geht es um 4 Milliarden DM. Das ist sicherlich eine nicht unbedeutende Summe und es ist ganz bestimmt notwendig, dass die Verantwortlichkeiten geklärt werden. Der gesamte Vorstand und auch die Wirtschaftsprüfer, die die Bilanzen testiert haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Außerdem ist es notwendig, dass der Aufsichtsrat - er ist nicht einfarbig, sondern mehrfarbig besetzt - zu seiner Verantwortung steht. Auch das gehört zur sachlichen Aufklärung dieses Themas. Darüber hinaus ist Sachlichkeit geboten. ({4}) - Das gilt auch dann, wenn die PDS es nicht akzeptiert. Wir alle und insbesondere diejenigen, die in der Immobilienwirtschaft fachlich zu Hause sind, wissen, dass in Berlin eine Überinvestition vor allem in Gewerbeimmobilien stattgefunden hat. Aufgrund von Erwartungen an die Hauptstadt und an die Sonderabschreibungen sind Gelder in Gewerbeimmobilien investiert worden, die zunächst am Markt vorbei gebaut worden sind, ({5}) was im Ergebnis natürlich zu Leerständen und zum Sinken der Mietpreise geführt hat. ({6}) Aktuell bedeutet das, dass Mietgarantien, die die Bankgesellschaft gegeben hat, abgerufen worden sind und dass im Hinblick auf die von Leerständen betroffenen Immobilien eine Wertberichtigung nach den Prinzipien der Bilanzwahrheit, des Niederstwertprinzips und des Vorsichtsprinzips stattfinden musste. Aber es geht nicht nur um die Augenblicksbetrachtung des Bilanzstichtags, sondern auch um die Mittelfristbetrachtung der Wertentwicklung dieser Immobilien. Es steht dabei außer Zweifel, dass Berlin ein interessanter Standort bleibt und dass der Wert dieser Immobilien in fünf, in sechs oder in zehn Jahren wesentlich steigen wird, sodass sich die heute getätigten Investitionen in Höhe von 4 Milliarden DM an die Bankgesellschaft refinanzieren werden. ({7}) Es ist gut, dass der Senat und die Anteilseigner der Bankgesellschaft Berlin zur Bank stehen. Es ist gut, dass es daher keine sparkassenfreie Zone Berlin geben wird. Die Sparkassen und die Berliner Bank können damit weiterhin eine wichtige Funktion für die finanzielle Unterstützung des Mittelstandes und der kleinen Leute erfüllen. ({8}) Ich möchte noch ein Wort zur Hauptstadtfunktion sagen. Ich bekenne ganz offen: Ich war einer derjenigen, die am 21. Juni 1991 gegen den Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin gestimmt haben. ({9}) Ich sage in aller Ehrlichkeit: Seit meiner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag habe ich einmal falsch abgestimmt, und zwar bei dieser Entscheidung, als es also um den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin ging. Es ist gut und richtig, dass der Deutsche Bundestag und die Regierung in Berlin tagen. ({10}) Es ist gut, dass wir in der Hauptstadt sind. Es ist gut, dass das deutsche Volk in Berlin zeigt, dass es wieder vereinigt ist und dass es sich als gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft der demokratischen Staaten der Welt zur Souveränität bekennt. Es ist richtig und notwendig, dass der Bund zu seinen finanziellen Verpflichtungen im Hinblick auf die Funktion Berlins als Hauptstadt steht. Ich wünsche mir sehr - das sage ich in Richtung der Bundesregierung -, dass der Bund diese Verpflichtung ernster als bisher nimmt. Ich wünsche mir, dass der Bund die volle Verantwortung für die Repräsentanz Deutschlands in der Welt durch Berlin wahrnimmt. Der Bund sollte nicht knauserig und kleinkrämerisch auf dem Geldsack sitzen, sondern Berlins Hauptstadtfunktion angemessen dotieren. Ich wünsche mir, dass der Bund mehr tut, unabhängig von der aktuellen Situation der Bankgesellschaft Berlin, deren Probleme vom Senat und von den Anteilseignern gelöst werden. Ich bedanke mich. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Auch Beifallsbekundungen müssen der Würde des Hauses angemessen sein. Ich gebe nun dem Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPDFraktion, das Wort.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Krise der Bankgesellschaft Berlin ist die größte Turbulenz in der deutschen Bankenlandschaft seit dem Zusammenbruch der Kölner Herstatt-Bank vor 27 Jahren. Es gibt einen positiven Unterschied: Heute braucht kein Kunde um seine Einlagen zu bangen; die Einlagen sind gesichert. Es gibt aber eine Reihe von Parallelen, die negativ sind, zum Beispiel das explosive Gemisch aus Leichtsinn, Verschleierung und Klüngel. Auch ein weiteres Merkmal der heutigen Situation ist leider nicht untypisch. Wer trägt die Folgen der Fehlentscheidungen? Es sieht bisher nicht danach aus, als müssten sich diejenigen die größten Sorgen machen, die für die Schieflage verantwortlich sind. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - bis weit hinein in die Führungsebene - in den Filialen der Berliner Sparkasse, der Berliner Bank und anderer Institute der Bankgesellschaft haben nichts anderes getan, als korrekt, kompetent und verantwortungsbewusst ihre Arbeit zu leisten. ({0}) Viele von diesen sorgen sich heute um ihren Arbeitsplatz. Auf der Vorstandsebene aber, also dort, wo die Entscheidungen zu verantworten sind, gelten offensichtlich andere Regeln. Einige sind gegangen - gegangen worden. Aber Herrn Landowsky zum Beispiel wurde ein vergoldeter Abschied bereitet: Zwei Jahre lang werden seine Bezüge in Höhe von 700 000 DM im Jahr weiter gezahlt; außerdem hat er eine fürstliche Apanage von jährlich 350 000 DM bis an das Ende seiner Tage zugesagt bekommen. Auch dies ist eine Schieflage. Diese Schieflage ist genauso ärgerlich wie die Schieflage der Bank selbst. ({1}) Es wird zu prüfen sein, ob es jenseits der normalen Verantwortung, die jeder Kaufmann zu tragen hat, Unregelmäßigkeiten gibt, mit denen sich die Staatsanwaltschaft befassen muss. Der Vorwurf der Untreue steht im Raum. Es wird aber auch zu fragen sein, ob nicht diese Bezüge, wie eben geschildert, sozusagen aus kaufmännischer Hygiene gekürzt werden müssen. Denn es kann nicht sein, dass die Stadt als Eigentümer Kredite in Höhe von 4 Milliarden DM aufnehmen muss und diejenigen, die die Verantwortung für die Fehlentscheidungen tragen, materiell völlig unbehelligt herausgehen. Natürlich wird die Kürzung der Bezüge von Herrn Landowsky die Bank materiell nicht sanieren. Ein Beitrag ist dennoch erforderlich. ({2}) Das Gleiche gilt für die Wirtschaftsprüfer, die für sehr viel Geld eine Unternehmung dieser Art prüfen. Nach dem Handelsgesetzbuch haftet der Wirtschaftsprüfer bei börsennotierten Unternehmen bis 8 Millionen DM im Falle von vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzung der Pflichten bei der Prüfung. Dieses Geld muss in Anspruch genommen werden. Auch mit diesen 8 Millionen DM kann man die Sanierung der Bank nicht leisten. Aber es gehört zum Prinzip der Verantwortung und der Haftung, dass Wirtschaftsprüfer korrekt arbeiten. ({3}) Wenn dieses Geld nicht in Anspruch genommen wird, wird der Bundestag zu prüfen haben, ob wir die Gesetzgebung ändern müssen. Der nächste Punkt betrifft die Aufsichtsräte. Natürlich kann man deren Verantwortung nicht beiseite schieben. Ich sage aber auch: Die Grundlage für das Handeln von Aufsichtsräten sind die Berichte der Prüfer. Dort müssen wir ansetzen. Ich gebe allerdings zu: Mir reicht es nicht aus, zu lesen, der eine oder andere habe im Aufsichtsrat Bedenken geäußert. Man muss auch die Kraft haben, das kurze Wort „Nein“ aussprechen zu können. ({4}) Welche Konsequenzen haben wir sonst im Bundestag zu ziehen? Wir werden prüfen müssen, ob die Bankenaufsicht ausreichend gearbeitet hat. Ich sage zwar nicht, dass die Bundesbank und das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen gut gearbeitet hätten, sie haben aber besser gearbeitet als alle anderen Kontrollinstanzen. Eine letzte Bemerkung. Herr Kollege Schäuble, ich freue mich, dass Sie neuerdings auch ein Herz für die materielle Ausstattung der Stadt haben. ({5}) Ich weiß, dass Sie ein Freund des Hauptstadt-Beschlusses waren. Dass Sie sich aber, Herr Kollege Schäuble, als Bundeskanzler Kohl die Bundesregierung geführt hat, dafür eingesetzt hätten, dass die Unterstützung Berlins großzügiger ausfällt, als sie tatsächlich ausgefallen ist, ist mir nicht bekannt geworden. ({6}) Nach meiner Erinnerung hat auch der Kollege Austermann damals im Haushaltsausschuss nicht viel dazu gesagt.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Ich habe nur eine Bitte, da sich die Kollegen Schäuble und Hollerith heute so warmherzig für die materiellen Belange der Hauptstadt eingesetzt haben: Tun Sie in Baden-Württemberg und Bayern das, was Sie tun können, damit im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs die Belange der Stadtstaaten ausreichend gewürdigt werden. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) zu dem Antrag des Abgeordneten Werner Lensing und weiterer Abgeordneter der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Uta Titze-Stecher und weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Ekin Deligöz und weiterer Abgeordneter der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abgeordneten Hildebrecht Braun ({1}) und weiterer Abgeordneter der Fraktion der F.D.P. Für einen verbesserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz - Drucksachen 14/3231, 14/5325 - Berichterstattung: Abgeordnete Ekin Deligöz b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Ruth Fuchs, Petra Bläss, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Verbot der Werbung für den Tabakkonsum - Drucksachen 14/3318, 14/6174 Berichterstattung: Abgeordneter Hubert Hüppe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wer anderes als meine Kollegin Uta Titze-Stecher von der SPD-Fraktion könnte anfangen. Ich erteile Ihnen das Wort.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier wird keine Cohiba gezeigt, sondern meine äußerst kleine und feine Brille. ({0}) - Ja, das denke ich mir, die Cohiba sei Ihnen unbenommen, aber nicht in diesen Räumen. Der Anlass für die Beratung des vorliegenden Antrags für den Nichtraucherschutz ist der heute stattfindende Weltnichtrauchertag. Das Motto lautet: Keine dicke Luft am Arbeitsplatz - auch Passivrauchen macht krank. ({1}) Ich denke, dieser Slogan passt ausgezeichnet zum heutigen Antragsvorhaben. Wenn Sie meiner Argumentation und der der Kolleginnen und Kollegen, die nach mir sprechen, folgen - dies erhoffen und erbitten wir -, entspannt sich die Situation in Zukunft. Auch die Deutsche Krebshilfe hat sich in Aufrufen mit einem Forderungskatalog an uns gewandt, der den Aspekt des tabakfreien Arbeitsplatzes betont. Gestatten Sie mir zu rekapitulieren: Wir wenden uns ja nicht im ersten Anlauf an Sie, sondern bereits im dritten. Seit drei Legislaturperioden bemüht sich eine interfraktionelle Initiative, die mit Ausnahme der PDS aus allen Fraktionen besteht, um eine Regelung. Die PDS stimmt zwar immer mit, wird aber aus ganz bestimmten Gründen von der CDU/CSU nicht als Mitunterzeichnerin akzeptiert; ich hoffe, dies war das letzte Mal. Am Anfang stand ein großer Gesetzentwurf, welcher sehr viele Regelungen treffen wollte, angefangen bei Hotels über Gaststätten bis hin zur Situation an den Arbeitsplätzen. Mit diesem Gesetzentwurf sind wir auf dem Bauch gelandet: Der erste Vorschlag, den wir Ihnen hier unterbreitet haben, kam nur bis zur ersten Lesung nachts um halb zwei. Danach endete die Legislaturperiode. Der zweite Versuch kam immerhin bis zur zweiten und dritten Lesung. Es gab eine richtige Abstimmungsschlacht. Die Tabaklobby hatte zuvor eingegriffen, sich Büro für Büro vorgenommen - man muss sagen: mit Erfolg, wie man am Ergebnis ablesen konnte. Denn sonst ständen wir nicht hier und würden uns nicht wieder bemühen, einen klitzekleinen Schritt in die Richtung eines gesetzlichen Nichtraucherschutzes in einem Bereich zu beschließen, der für Menschen extrem wichtig ist, nämlich der Arbeitsplatz. Wir haben aus der jahrelangen Debatte der Vergangenheit gelernt. Wir haben beispielsweise durch Gespräche mit dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband und der Tourismusbranche gelernt - dieses Argument ist eigentlich stichhaltig und nachvollziehbar -, dass man nicht gezwungen ist, in einem verräucherten Lokal sein Essen zu sich zu nehmen oder ein Hotelzimmer zu beziehen, das vom Vorgast noch stinkt. Das heißt, hier setzen wir Vertrauen in die Selbstverpflichtung der Wirte des Hotel- und Gaststättenverbandes, die zusagen, dies nach Angebot und Nachfrage zu regeln. Also liegt es an uns, zu sagen: „Herr Wirt, die Speisekarte würde mich ja reizen, aber hier stinkt es mir zu sehr“, oder im Hotel konsequent nach einem Nichtraucherzimmer zu fragen. Wenn die Nachfrage entsprechend ist, wird sich der Hotelbesitzer darum bemühen, dieses Angebot zu erhöhen. So weit zu unserem heutigen Vorschlag, den die KolleJörg-Otto Spiller gin Barnett aus meiner Fraktion noch aus Sicht des Arbeitsschutzes im Detail erklären wird. Ich meine, dass uns auch die Beschlusslagen der Bundesorgane Rückenwind verschaffen. Der Bundesrat, also die Länderkammer, hat in der Vergangenheit mehrfach einen gesetzlich verankerten entschiedenen Nichtraucherschutz verlangt. Die Bundesregierung hat noch unter Ihrer Ägide - ich sage dies an die jetzige Opposition gerichtet - bereits 1992 in ihrer Konzeption „Für bessere Luftqualität in Innenräumen“ festgestellt, es seien administrative und gesetzliche Maßnahmen zum Schutz von Nichtrauchern in geschlossenen Räumen notwendig. ({2}) Nun kann man natürlich fragen: „Was macht denn eigentlich an der Zigarette so krank? Ein bisschen Belästigung ist doch nicht schlimm!“ Inzwischen ist klar, dass es nicht nur um Belästigung geht, sondern um Erkrankungen, ({3}) und zwar nicht nur bei denen, die aktiv rauchen. Da könnte man sich auf den Standpunkt stellen: Jeder entscheidet selbst, womit er sich um die Ecke bringt. Abgesehen davon, dass die Solidargemeinschaft dann die Behandlung bezahlt, muss jeder, der zur Zigarette greift, wissen: Der Tabakrauch - es geht ja auch um Pfeife und Zigarre, nur wird da weniger inhaliert als bei der Zigarette - ist verantwortlich für 80 Prozent aller Lungenkrebserkrankungen, für 80 bis 90 Prozent aller Atemwegserkrankungen - Frau Bergmann-Pohl, Sie als Lungenspezialistin werden dazu sicherlich Stellung nehmen -, für 40 Prozent aller Herzerkrankungen und für 30 Prozent aller Krebserkrankungen, vom Kehlkopfkrebs über Blasen-, Nieren-, Leber- bis zum Bauchspeicheldrüsenkrebs. Letzteres erfuhr ich erst bei der erneuten Vorbereitung auf dieses Thema; inzwischen hat die Wissenschaft neue Ergebnisse aufs Tapet gebracht. Das rechtfertigt nun wirklich, dass sich der Bundesgesetzgeber der Sache annimmt ({4}) und fragt: Wo ist denn der Mensch, vor allem der, der sich entschieden hat, nicht zu rauchen, am längsten und am konzentriertesten dem Rauch ausgesetzt, wenn es ihn trifft, dass sein Arbeitskollege starker Raucher ist? Am Arbeitsplatz. Laut Umfragen sind 75 Prozent der Deutschen für ein Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden, in Verkehrsmitteln und - man höre und staune - am Arbeitsplatz. ({5}) 80 Prozent der Nichtraucher - das versteht sich aber von selbst - und sogar 35 Prozent der starken Raucher wollen ein Rauchverbot am Arbeitsplatz. Mich hat die Argumentation von Herrn Gysi einmal sehr beeindruckt, der sagte, obwohl er gern raucht: „Man muss das gesetzlich regeln. Man muss ja die armen Nichtraucher schon vor mir schützen.“ Dem kann ich mich nur anschließen. ({6}) Nun noch einige Daten und Fakten, bevor ich auf die allgemeine Rechtsprechung eingehe. Tabakrauch enthält 4 000 Bestandteile, davon 40 kanzerogene. Wer es noch nicht weiß, soll erfahren, was im Tabakrauch enthalten ist. Von Nikotin und Teer wissen inzwischen alle durch die neue EU-Tabakprodukt-Richtlinie. Sie reduziert den Gehalt an Nikotin und Teer und hält die Aufschriften auf den Schachteln etwas stringenter. Kurz und knapp und knackig heißt es ab 2004: Rauchen tötet. Wie wahr! Rauchen verursacht Krebs; das wissen wir alle. Das gilt aber nicht nur für die Aktivraucher, sondern auch für die Passivraucher. Wenn Sie sich zwei Stunden in einem stark verräucherten Raum aufhalten, ist es so, als ob Sie eine Zigarette rauchen. Jeder starke Raucher weiß, dass er sich um 14 Jahre seines Lebens bringt. Aber die Raucher sagen mir immer: Seid doch froh; das spart Kosten. ({7}) Nur, bis es so weit ist, sind die Kosten für die Behandlung der Folgen des Rauchens horrend. Wenn man also weiß, dass im Tabakrauch Formaldehyd, Dioxin, Salpetersäure, Phosphorsäure, Furane sind - alles eklige Sachen -, wenn man weiß, dass die amerikanische Umweltbehörde EPA Tabakrauch als Umweltgift Nummer eins einschätzt, wenn man weiß, dass auch die MAK-Kommission, die die Gesundheitsgefährlichkeit von Stoffen am Arbeitsplatz analysiert, sagt, dass Tabakrauch in die A-Klasse der kanzerogenen Stoffe gehört, dann ist es eigentlich überfällig, dass wir zumindest für den Arbeitsplatz eine Regelung treffen. Das soll heute passieren. ({8}) Nun kommt uns die Zigarettenindustrie, kommen uns aber gelegentlich auch Kollegen mit dem Argument: „Warum muss es überhaupt eine Regelung sein?“ Es ist nur eine klitzekleine Verordnung; es ist noch nicht einmal ein veritables Gesetz. „Wir sind doch alle zivilisiert; man kann mit mir sprechen.“ Ich erlebe diese Woche im Auswärtigen Ausschuss selbstverständlich, ({9}) dass der Kollege I. von der F.D.P., wenn ich sage: Uli, du weißt doch, ich bin allergisch, oder der Kollege G. von der PDS, wenn ich sage: Ich kann es nicht aushalten, die Zigarette sofort ausdrückt. ({10}) Die Raucher sind ja keine Unmenschen. Nur, der gute Wille hält keine zehn Minuten an, weil der Raucher nikotinabhängig ist. Er kann es nicht, obwohl er es will. ({11}) Deswegen ist es Pustekuchen mit dem Appell an die Rücksichtnahme oder dem Appell unter zivilisierten Menschen. Sagen Sie das einmal im Charterflugzeug von der ersten bis zur letzten Reihe; in der Zwischenzeit sind Sie an Ihrem Feriendomizil vorbeigeflogen. Also sind wir auf eine praktikable Regelung angewiesen, die nicht mehr auf die Position des Bittstellers, des Nichtrauchers, und auf das Gefühl des Rauchers abstellt, er müsse sich verteidigen: Eigentlich will ich es mir abgewöhnen, gut ist es auch nicht, es ist für mich und auch für den Nichtraucher schlecht. Sie wissen, dass der Konflikt schon in den Familien stattfindet; aber da wollen wir nicht hineinfunken. Wir haben als Bundesgesetzgeber ausdrücklich die Kompetenz für die Regelung der Verhältnisse am Arbeitsplatz. Deswegen brauchen wir hier eine ganz klar definierte Situation. Die Rechtsprechung ist inzwischen weiter als wir, der Bundesgesetzgeber. Das Landesarbeitsgericht Hessen hat bereits 1994 klipp und klar gesagt, dass ein Arbeitnehmer das Recht auf einen tabakfreien Arbeitsplatz hat, und zwar auf Dauer, also nicht nur, solange er eine Bronchitis hat. Das Bundesarbeitsgericht hat bereits 1998 festgestellt, dass es nicht unverhältnismäßig ist, wenn Betriebsrat und Unternehmensführung ein totales Rauchverbot erlassen, wenn damit das Ziel des Gesundheitsschutzes verfolgt wird. C’est ça; das ist der Fall. Wir brauchen das nicht mehr zu beweisen; langjährige Untersuchungen, wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen Bände. Mit unserer Gesetzeslage befinden wir uns am Schwanz der Entwicklung. 14 von 16 EU-Ländern haben bereits Regelungen, und zwar weit umfassendere. Darüber, wie das manchmal in der Praxis aussieht, besonders in Gaststätten und Cafés in Frankreich, decken wir mal den Mantel der Nächstenliebe. Unser Antrag bietet, glaube ich, die richtige Balance zwischen der Lust des Rauchers auf eine Raucherpause und dem Recht des nichtrauchenden Beschäftigten auf tabakfreie Luft. Denn niemand verbietet es einem Arbeitgeber, zur Motivation seiner Beschäftigten die Möglichkeit eines Raucherpäuschens zu schaffen; aber in Zukunft ist die tabakfreie Luft der Normalfall und das weiß jeder. ({12}) Im Gesetz heißt es: Der Arbeitgeber hat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, - eine Journalistin fragte mich heute im Rahmen eines Interviews: „Und wenn er das nicht will?“, worauf ich sagte: Er hat gar keine Wahl, er muss damit die nichtrauchenden Beschäftigten in Arbeitsstätten wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch geschützt sind. „Wirksam“ ist klar. Wie er das macht, welche Maßnahmen er ergreift - seien es solche lüftungstechnischer Art, sei es die räumliche Trennung -, das ist dann seine Sache. Denn die betriebliche Vielfalt vor Ort macht jeweils spezifische Lösungen erforderlich. Ich finde diese Regelung ausgesprochen mittelstandsfreundlich. Deswegen habe ich von der F.D.P. eigentlich nur Zustimmung und nicht drei Minuten Zustimmung und drei Minuten Gegenwind erwartet. Im nächsten Absatz nehmen wir eine kleine Einschränkung hinsichtlich der Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr vor, und zwar aus der Erfahrung der jahrelangen Debatte mit Hotel- und Gaststättenvertretern. Wir sagen, dass der Arbeitgeber Schutzmaßnahmen nach Abs. 1 nur insoweit zu treffen hat, als es die Natur des Betriebs und die Art der Beschäftigung zulassen. Nun betrifft dies natürlich die Beschäftigten in Gaststätten, also die Bedienung bzw. den Kellner. Mich tröstet auch nicht das Argument: Die wissen ja, auf was sie sich einlassen. Ich kann nur darauf bauen, dass ein am Wohl, an der Gesundheit und an der Arbeitsmotivation seiner Beschäftigten interessierter Arbeitgeber entschiedene Maßnahmen zum Beispiel lüftungstechnischer Art ergreift, damit auch diese Gruppe von Berufstätigen nicht allzu sehr vom Tabakrauch geschädigt wird. ({13}) - Gott sei es geklagt; aber es ist so: Wir können und wollen das Rauchen dort nicht abschaffen. Denn es hat sich eine Gaststätten- und Kneipenkultur entwickelt, in der es Usus ist, vor, zwischen und nach der Mahlzeit ein Pfeifchen, eine Zigarre oder eine Zigarette zu rauchen. ({14}) Mir geht es nur noch darum - das ist vielleicht eine Perspektive -, den Einstieg in die Raucher- und Suchtkarriere so weit wie möglich nach hinten zu verschieben. Ich sage Ihnen gleich von dieser Stelle aus: Die nächste Hürde, die wir hoffentlich gemeinsam überwinden werden, wird eine Verbesserung des Jugendschutzes in Form des Verbots der Abgabe von Zigaretten an unter 16-Jährige sein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe schon die Lampe blinken sehen, die auf das Ende meiner Redezeit hinweist. - Ach, Herr Präsident, Sie führen jetzt den Vorsitz. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ja, der Vorsitz hat gewechselt.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich habe nämlich gerade gedacht: Die Stimme ist doch männlich; das kann doch nicht mehr Frau Fuchs sein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Aber bei mir läuft dieselbe Uhr. Insofern kann ich Ihnen nicht helfen.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir nehmen uns als Nächstes den Jugendschutz vor - das haben wir nicht vergessen -, und zwar in der Erkenntnis, dass die Suchtkarrieren immer früher begonnen werden. Ich darf zum Abschluss all denen danken, die diesen langen Weg des Nichtraucherschutzes von 1990 bis heute mitgegangen sind. Dank an Herrn Sauer und an Burkhard Hirsch, die nicht mehr im Parlament vertreten sind, Dank insbesondere an den Kollegen Lensing von der CDU/CSU, der dieses Gebiet federführend, vorzüglich und auf kollegialste Art und Weise hier vertreten hat, und Dank an die Damen in unseren Büros. Unsere Bürodamen rauchen leidenschaftlich; wir haben es ihnen bis heute noch nicht verboten. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der Kollege Werner Lensing von der CDU/CSUFraktion. Werner Lensing ({0}) (vom Abg. Hildebrecht Braun ({1}) ({2}) mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Um es von vornherein in der gebotenen Klarheit zu sagen: Der interfraktionellen Nichtraucherschutzinitiative geht es überhaupt nicht darum, all unseren Raucherinnen und Rauchern auf dem Gesetzeswege den Kampf anzusagen. Nein, wir wünschen ihnen vielmehr Gesundheit, und zwar eine lang andauernde. ({3}) Wir wollen nämlich auf keinen Fall ein eigenes Nichtraucherschutzgesetz! Wir ändern lediglich die gültige Arbeitsstättenverordnung. ({4}) Damit haben wir richtige und ganz konkrete Konsequenzen aus den vormaligen, bekanntlich nicht von durchschlagendem Erfolg gekrönten Bemühungen gezogen. Allerdings hatten wir bei unserer Arbeit zwei Probleme: Wir müssen einen Entscheidungskonflikt akzeptieren. Der Entscheidungskonflikt besteht darin, dass wir einerseits gemäß Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes den Anspruch eines jeden Einzelnen auf die freie Entfaltung seiner Person und damit zugleich das Recht auf die freie Entscheidung, rauchen zu dürfen, zu akzeptieren haben, dass aber andererseits just im gleichen Art. 2 durch Abs. 2 das Recht des Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert ist. ({5}) Dieses grundgesetzlich geschützte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird allerdings massiv verletzt, solange Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend vor den Folgen des Passivrauchens am Arbeitsplatz geschützt werden. Daher wird der berechtigte Ruf nach einer gesetzlichen Regelung verständlicherweise immer lauter. Doch - um dies gleich deutlich und unüberhörbar erneut zu artikulieren - wir wollen in dieser Frage nicht mehr Staat als eben notwendig. Daher befürworten wir lediglich bereichsspezifische Präzisierungen innerhalb der bereits gültigen Arbeitsstättenverordnung. Nun wird behauptet - Sie kennen das alle und ich denke, ein jeder von Ihnen hat das erlebt -, die Frage des geeigneten Nichtraucherschutzes sollte konkret vor Ort auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen und im Geiste der Toleranz einvernehmlich geklärt werden. ({6}) Gewiss, Toleranz kann man von den Rauchern lernen, schließlich hat sich noch nie ein Raucher über einen Nichtraucher beschwert. ({7}) Ich wäre geradezu froh und dankbar, wenn es zu diesen willkommenen freiwilligen Absprachen tatsächlich käme und somit eine solche Initiative von vornherein unnötig und damit obsolet wäre. Doch leider ist diese idealisierte Vorstellung lediglich ein schöner Traum. Bedauerlicherweise entspricht sie in keiner Weise der realen Arbeitswelt. Ich könnte Beispiele dafür benennen, wenn mir am Schluss noch Redezeit eingeräumt werden sollte. An dieser Stelle möchte ich Folgendes sagen - Frau Ute Titze-Stecher hat bereits in erfreulicher Klarheit darauf hingewiesen -: Direkt zu Beginn der 14. Legislaturperiode hat sich unsere interfraktionelle Nichtraucherschutzinitiative gebildet. Deren Konzept - das scheint mir wichtig zu sein - unterscheidet sich grundlegend von dem aller Nichtraucherschutzinitiativen in den vergangenen Legislaturperioden. Unser Konzept wird von den folgenden Leitsätzen bestimmt: Erstens. Wir wünschen - wie schon erläutert - kein eigenständiges Nichtraucherschutzgesetz, sondern lediglich Veränderungen in bereits bestehenden Verordnungen oder Gesetzen. Zweitens. Wir streben keine rigide Bußgeldbewehrung an, aber wir unterstützen aus Überzeugung geeignete Hilfsangebote an die Raucherinnen und Raucher auf der Basis von Prävention und einem Programm zur Raucherentwöhnung. Diese von uns gewählte, im Übrigen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung abgestimmte Formulierung des schon erwähnten neuen § 3 a der Arbeitsstättenverordnung hat vier - in dieser Frage bin ich selbstverständlich ganz objektiv - wesentliche Vorteile: Erstens. Sie ist eindeutig und schafft dadurch die überfällige Rechtsklarheit bezüglich des Nichtraucherschutzes am Arbeitsplatz. Zweitens. Sie ist allgemein und lässt dadurch den Arbeitgebern und Betriebsräten hinsichtlich der Wahl der konkreten betrieblichen Maßnahmen den angesichts der Vielgestaltigkeit der betrieblichen Verhältnisse erforderlichen Regelungsspielraum. Drittens. Sie ist moderat, da sie das Rauchen am Arbeitsplatz entgegen früherer Versuche nicht generell verbietet, sondern lediglich Nichtraucher schützt. Viertens. Sie ist zumutbar, weil mit dem neu zu schaffenden § 3 a Abs. 2 der Arbeitsstättenverordnung - auch schon kurz erwähnt - für Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr eine Regelung getroffen ist, die auf keinen Fall - das wollten wir auch um jeden Preis verhindern mittelstandsfeindlich ist. Nach meiner Einschätzung gibt es zu dem heute zur Abstimmung anstehenden Antrag keine sinnvolle Alternative. ({8}) Dessen bin ich mir sicher. Bereits 1989 hatte die EU ihre Mitgliedstaaten aufgefordert, endlich die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Nichtraucherschutz zu schaffen. Dies wurde mittlerweile in immerhin 14 EU-Staaten umgesetzt. Nur Deutschland hinkt bei dem erforderlichen Schutzstandard immer noch hinterher, ({9}) obgleich hier mehr Menschen an den Folgen des Rauchens als durch Mord, Totschlag, Verkehrsunfälle und Aids zusammen sterben. Daher dürfen und können wir uns unserer Verantwortung nicht länger entziehen. Durch unseren Antrag wird in Deutschland endlich ein Schutzanspruch der Bürgerinnen und Bürger vor den Gesundheitsgefahren des Passivrauchens gesetzlich verankert, wie er bereits in über 90 Staaten der Erde besteht. ({10}) Nachdem alle mit dem Antrag befassten Ausschüsse, aber wirklich alle, diesem mit überwältigender Mehrheit zugestimmt haben, bitte ich Sie heute ebenso herzlich wie nachdrücklich, bei der nun anstehenden entscheidenden Abstimmung mitzuhelfen, dieses fürwahr historische Projekt erfolgreich abzuschließen. Denn jede einzelne Stimme zählt. Diejenigen unter Ihnen, Herr Dr. Kolb, die unserer Initiative trotz unserer Bemühungen und unserer qualifizierten Begründung ({11}) - die kann ich schon ahnen, weil ich sie früher schon einmal gehört habe, - nicht folgen möchten, verdienen meinen Respekt für ihre Entscheidung. Gleichwohl sollte aber derjenige, der nicht bereit ist, diese Initiative zu unterstützen, ({12}) freimütig einräumen, dass er dann auch keinerlei Nichtraucherschutz wünscht, weder heute noch morgen. ({13}) Natürlich bin ich - wie vermutlich Sie alle hier, wir müssen ja sehen, dass wir wirklich Niveau in die Debatte bekommen - ein großer Verehrer unseres Dichters Johann Wolfgang von Goethe. Gleichwohl kann ich ihm bei aller Verehrung nicht vollständig zustimmen, obgleich ich Ihnen, auch den Raucherinnen und Rauchern, sein Zitat nicht vorenthalten möchte, ohne allerdings hierbei - ich bin ja Vertreter der C-Partei und damit der christlichen Caritas täglich verpflichtet - die Anhänger des Nikotins in unzulässiger Weise verletzen zu wollen. Ich zitiere kurzerhand Goethe: Das Rauchen macht dumm; es macht unfähig zum Denken und Dichten. ({14}) Es ist auch nur für Müßiggänger, für Menschen, die Langeweile haben ... Aber es liegt auch im Rauchen eine arge Unhöflichkeit, eine impertinente Ungeselligkeit. Die Raucher verpesten die Luft weit und breit und ersticken - als Schmauchlümmel jeden honetten Menschen, der nicht zu seiner Verteidigung zu rauchen vermag. ({15}) Ich werde, soweit ich die Chance habe, Ihren Beifall an Goethe weiterleiten. Aber ich möchte deutlich sagen: So weit gehe ich natürlich nicht, beileibe nicht. Ich lasse mich lieber von dem erprobten Sprichwort leiten, das da lautet: Wer mit einer neuen Idee kommt, wird beim ersten Mal verlacht, beim zweiten Mal vehement bekämpft und beim dritten Mal will jeder Vater oder Mutter gerade dieses Gedankens gewesen sein. In diesem Sinne bedanke ich mich. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Sylvia Voß vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte den Goethe heute auch zitieren: Man muss das Wahre immer wieder sagen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird. Ein Raucher, egal, ob Mann oder Frau, gefährdet seine Gesundheit. Das weiß er, das wissen wir. Immerhin hat die europäische Politik schon vor Jahren dafür gesorgt, dass der Raucher daran vorsichtshalber auch noch erinnert wird. Auf jeder einzelnen Schachtel seiner Glimmstängel kann er lesen: Rauchen gefährdet die Gesundheit. ({0}) Aber wer kümmert sich eigentlich um die Nichtraucher? Die giftigen Stickoxide, Formaldehyd und die vielen anderen Substanzen - es sind Hunderte bekannte und zum Teil in ihrer Wirkung auch noch völlig unbekannte werden von Passivrauchern genauso inhaliert wie vom aktiven Raucher. Wenn der Kollege während der Arbeitsbesprechung meint, den „Duft der großen weiten Welt“ verströmen zu müssen, dann werden drei Viertel des Qualms seiner Zigarette nicht von ihm inhaliert. Diese drei Viertel enthalten eine gefährliche Mischung von Krebs erregenden Stoffen, die sich dann im Raum verflüchtigen. Sein Kollege Nichtraucher muss diesen so genannten Nebenstromrauch gezwungenermaßen inhalieren. Damit - um auf die EU zurückzukommen - gefährdet Rauchen auch seine Gesundheit. Deshalb versuchen seit mehr als sieben Jahren zahlreiche Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen, am Arbeitsplatz mehr Schutz für die Nichtraucher zu erreichen. Ein Erfolg blieb bisher aus, obwohl es keine guten Argumente dafür gibt, die rechtlose Situation der Nichtraucher fortzuschreiben. ({1}) Aus Umfragen ist bekannt, dass über 75 Prozent - dem „Tagesspiegel“ vom vergangenen Sonntag zufolge sogar 82 Prozent - der Nichtraucher sagen: Wir brauchen ein gesetzliches Rauchverbot am Arbeitsplatz. Diese hohen Zahlen zeugen meines Erachtens davon, dass ein jeweiliges Aushandeln eines Rauchverbots in Sitzungen oder bei anderen Gelegenheiten am Arbeitsplatz eben oft nicht gelingt. ({2}) Deshalb geht auch der Abgeordnete der CDU/CSUFraktion Ernst Hinsken fehl mit seinem Argument, der Staat müsse die Mündigkeit des Bürgers respektieren, das er in der heutigen Ausgabe der „Bild“-Zeitung äußert. ({3}) Der vorliegende Antrag, um dessen Annahme ich nichtrauchende und rauchende Kolleginnen und Kollegen gleichermaßen herzlich bitte, mindert nämlich in keiner Weise die Mündigkeit des rauchenden Mitbürgers - wie auch unsere Debatte eigentlich keine zwischen Nichtrauchern und Rauchern ist. Worum es in diesem Fall geht, ist die Anerkennung der Mündigkeit auch des Nichtrauchers. Sein Recht auf einen gesunden Arbeitsplatz zu stärken ist Anliegen der wenigen neuen Passagen der Arbeitsstättenverordnung. Aufgeklärte oder auch einfach nur rücksichtsvolle Menschen bzw. Raucher respektieren im Wissen um die Risiken des Rauchens und Passivrauchens dieses Recht auch. Der Raucher Hans-Jörg Vehelewald schreibt heute in der „Bild“-Zeitung: „Wer im Büro, im Auto, im Fahrstuhl qualmt ohne Rücksicht auf andere, ist ein Flegel.“ ({4}) Die Entmündigung der Nichtraucher durch diese Flegel zumindest am Arbeitsplatz zu beenden, darum geht es heute. Der Staat kann dies nicht nur regeln, wie ein Blick in viele andere Länder leicht beweist, sondern es ist auch die vornehme Pflicht des Gesetzgebers, jene zu stärken, die sich entschieden haben, gesund zu leben. ({5}) Das liegt im Übrigen auch im Interesse des Arbeitgebers, der in die profitable Pflicht genommen wird, seinen nichtrauchenden Beschäftigten, die in den Betrieben schließlich zumeist die Mehrheit bilden, eine gesündere Arbeitsumgebung zu ermöglichen. Es entstehen ihm, wenn überhaupt, nur sehr geringe Kosten. Dafür aber wird er sich bald über Personal freuen können, das durch ausbleibende Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindel, Hustenanfälle und andere Atembeschwerden, die durch das Passivrauchen hervorgerufen werden, leistungsfähiger arbeitet. Auch unserem Krankenversicherungssystem ist es bestimmt nicht abträglich, wenn das Lungenkrebsrisiko gesenkt wird. Denn bei langfristig exponierten Passivrauchern lässt sich zum Beispiel ein signifikanter Anstieg eines Tumorantigens, des Carcinoembryonalen Antigens, nachweisen. Mit geringen finanziellen Mitteln der Arbeitgeber lässt sich also ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Wirkung erzielen. Der Gesetzentwurf wendet sich nicht gegen die Raucher. Doch wir dürfen den Nichtrauchern nicht weiterhin zumuten, permanent um die Achtung ihres Rechtes auf Gesundheit feilschen zu müssen. Individuelle Freiheit findet ihre Grenze immer in den Freiheitsrechten anderer. Nichtraucher haben das Recht auf Schutz ihrer Gesundheit und ihrer körperlichen Unversehrtheit. Heute wollen wir dieses Grundrecht endlich am Arbeitsplatz verwirklicht sehen und auch gesetzlich anerkennen. Ich möchte an dieser Stelle aus dem Schreiben eines Bürgers zitieren, der dieses Recht mit folgender Argumentation einfordert: Was würde wohl ein alkoholabstinenter Bürger sagen, wenn ihm von seinen alkoholabhängigen Mitbürgern, frei nach dem Motto „Von einem Schnaps ist noch keiner gestorben“, nach jeder Arbeitsstunde ein Schnaps in den Hals geschüttet würde? ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch auf etwas anderes hinweisen. Es ist sehr schwer, heutzutage als Jugendlicher der massiven Werbung, nämlich den „test it“-Lockversuchen diverser Marken, zu widerstehen und diese eben nicht zu testen. Es stimmt doch sehr nachdenklich, wenn mir zum Beispiel eine Klasse 6 b aus Nordhausen ehrlicherweise mitteilt, dass 13 Schüler am Wettbewerb „be smart - don‘t smoke“ teilnahmen, mit dem Ziel, zu 90 Prozent für ein halbes Jahr nicht zu rauchen, und diese Jugendlichen die Aktion nach den wöchentlichen anonymen Kontrollen inzwischen abgebrochen haben. Während sich in Großbritannien die Zahl der nie rauchenden Schüler in den letzten Jahren verdoppelt hat, ist in Deutschland keine positive Entwicklung zu verzeichnen. 38 Prozent der 12- bis 25-Jährigen greifen mehr oder weniger regelmäßig zum Glimmstängel, und wir alle wissen, dass die Konsumenten, die mit dem Rauchen beginnen, immer jünger werden, noch Kinder sind. Wenn ein Mensch bis zu seinem 20. Lebensjahr die Finger vom Glimmstängel lässt, steht die Chance, dass er es auch weiterhin tut, ziemlich gut. Doch der Zigarettenindustrie zu entkommen ist auch deswegen so schwer, weil in diesem Alter das Gruppenverhalten sehr stark prägt. Rauchen in diesen Gruppen ist heute noch immer krass, cool und megafett. Dies gilt zumindest bis zum völlig uncoolen Lungenkrebstod oder der voll krassen Amputation eines Raucherbeins. Wir wissen doch, wie wichtig es ist, die jungen Nichtraucher zu motivieren, bei ihrem gesunden Lebensstil zu bleiben. ({7}) Insofern wird hoffentlich von unserem heutigen Beschluss das sehr positive Signal an alle Nichtraucher ausgehen, dass der Staat sie jetzt dabei unterstützt, zumindest während der Arbeitszeit das Risiko auszuschließen, in einen Passivraucher verwandelt zu werden. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. ({0}) Dieser Satz ist zwar nicht von Goethe, aber trotzdem richtig. Er gilt leider auch für den heute vorliegenden Gruppenantrag zum Nichtraucherschutz. ({1}) Mit der plakativen Forderung, die 17-jährige Auszubildende müsse vor dem rücksichtslosen, kettenrauchenden Kollegen geschützt und ihr ein Anspruch auf einen rauchfreien Arbeitsplatz per Rechtsverordnung garantiert werden, werben die Unterzeichner für Unterstützung. Was zunächst einleuchtend klingt, ({2}) wirft die Frage nach dem Selbstverständnis der Politik auf. Darf bzw. muss der Staat denn wirklich alles regeln, was die Menschen subsidiär, also in eigener Verantwortung, und mit den Mitteln der Vernunft ohne weiteres selbst regeln können? ({3}) Dazu sage ich mit der überwältigenden Mehrheit meiner Fraktion ein klares Nein. ({4}) Herr Kollege Lensing, man muss es sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Nach den Vorstellungen Ihres Gruppenantrages wird das Gespräch und die Einigung der Menschen im Betrieb durch den Bescheid einer Behörde an die Adresse des Unternehmers ersetzt. ({5}) Das wollen wir nicht. Deswegen lehnen wir diesen bürokratischen Ansatz ab. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lensing?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nichts lieber als das, Herr Kollege Lensing. Ich habe nämlich nur drei Minuten Redezeit. Ihre Zwischenfrage ist eine gute Hilfe.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kollege Lensing.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich verstehe die Einschätzung, die Sie mir als Person zukommen lassen. Dafür bedanke ich mich. Gleichwohl ist es nicht richtig zitiert. Vor diesem Hintergrund ist es mir wert, dass Sie jetzt tatsächlich etwas mehr Redezeit bekommen. Wir haben immer gesagt: Wir setzen auf das freiwillige Miteinander. Wir geben überhaupt keine Regelungen vor, wie man das machen kann. Wir sagen lediglich: Es darf nicht sein, dass wir in Deutschland bis zu 5 Millionen Passivraucher haben, die sich deswegen dem Tabakkonsum der anderen aussetzen müssen, weil man sich eben nicht einigen kann. Nur für diese Fälle möchten wir, dass gegebenenfalls Rechtsklarheit herrscht. Aber das ist das allerletzte Mittel, das wir einsetzen wollen. Wir setzen auf die Freiwilligkeit. Das hatte ich deutlich gesagt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Was war jetzt die Frage, Herr Kollege?

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wollte fragen, wieso Sie überhaupt auf die Idee kommen, dieser meiner sinnvollen Argumentation zu widersprechen? ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Lensing, ich komme auf diese Idee, weil ich mich der Mühe unterzogen habe, Ihren Gruppenantrag zu lesen. Wenn ich das richtig gelesen habe, dann wollen Sie einen neuen § 3 a in die Arbeitsstättenverordnung einfügen. Es mag sein, dass darin noch nichts Schlimmes auftaucht, aber dann liest man in der Begründung weiter nach. Dort steht ganz klar und deutlich drin: Mit der Durchführung der Verordnung werden die zuständigen Landesämter, die Gewerbeaufsicht, beauftragt. ({0}) Man kann sich vorstellen, wie das funktioniert. Es wird nämlich im Einzelfall, Herr Kollege Lensing, nicht ausnahmsweise so sein, dass sich die zitierte 17-jährige Auszubildende an die Gewerbeaufsicht wendet, sondern es wird zukünftig vorauseilend administriert werden und Eingang in Genehmigungsverfahren finden. Deswegen kann ich Ihnen nur empfehlen, meiner Mühe folgend, noch einmal in Ihrem Antrag nachzuschlagen und nicht nur den § 3 a der Arbeitsstättenverordnung, sondern auch die Begründung zu lesen. Dann werden Sie meine Einschätzung sehr gut nachvollziehen können.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Natürlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Griefahn.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn ich Sie höre, Herr Kolb, dann überlege ich, ob Sie vielleicht am Dienstag ein paar Caipirinhas zu viel getrunken haben. Wer sonst außer den nachgeordneten Behörden soll denn die Durchführung machen? Sollen wir eine zentrale nachgeordnete Behörde des Bundes einrichten?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Griefahn, ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Frage, weil sie mir Gelegenheit gibt, den Unterschied in unseren Ansätzen etwas ausführlicher deutlich zu machen. Wir setzen auf die Vernunft, die Einsicht und die Einigungsfähigkeit der Menschen, Sie dagegen setzen auf einen bürokratischen Ansatz und glauben, die Probleme mit behördlichen Bescheiden lösen zu können. Ich versetze mich einmal in die Rolle eines Advocatus Diaboli. Selbst wenn man sagt, man will den Verordnungsweg wählen, stellt sich doch die Frage: Warum machen Sie es so, wie Sie es vorgeschlagen haben? Man hätte doch auch einen ganz anderen Weg gehen können. Man hätte den Unternehmer als Moderator einbinden können, dem ermöglicht wird, den wiederholt uneinsichtigen Raucher mit den Mitteln des Arbeitsrechtes in die Schranken zu weisen ({0}) und deutlich zu machen, wo die Freiheit des Rauchers aufhört und die des Nichtrauchers anfängt. Darum geht es aus unserer Sicht und das ist ein ganz anderer Ansatz als das, was Sie hier vorschlagen. ({1}) Dieser Ansatz passt aber überhaupt nicht - ich sehe das sehr wohl - zu dem Paradigma der Antragsunterzeichner. Man sorgt sich - Herr Lensing, ich habe den Antrag wirklich gelesen - um die nikotinabhängigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und will ihnen mit Konzepten für eine - wohlgemerkt - innerbetriebliche Nikotinentwöhnung unter die Arme greifen, anstatt ihnen mit den Mitteln des Arbeitsrechts deutlich zu machen, wie die Dinge zu laufen haben. ({2}) So ist - Herr Kollege Lensing, den Vorwurf muss ich Ihnen machen - die Vorlage zum Nichtraucherschutz im Grunde nichts anderes als die Fortsetzung rot-grüner Politik mit den Mitteln des Gruppenantrages. ({3}) Auf der Strecke bleibt wieder einmal, wie so oft in den letzten beiden Jahren, der mittelständische Unternehmer, ({4}) dem nach dem Anspruch auf Teilzeitarbeit und Ausdehnung der Mitbestimmung - um nur zwei so genannte Reformen zu nennen - nun eine weitere Last auferlegt wird. Ich sage Ihnen voraus: Sollte dieser Antrag angenommen werden, so wird das Vorhaben einen weiteren Beitrag zur nachhaltigen Entmutigung des Mittelstandes in unserem Lande leisten. ({5}) Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich will zum Schluss - ich muss wegen der Kürze der Redezeit etwas zuspitzen - Folgendes sagen. Der Unternehmer, der montags die Brandschutzbegehung seines Unternehmens durch das Kreisbauamt begleiten durfte, dienstags den Besuch des Kontrolleurs der Berufsgenossenschaft über sich ergehen lassen musste, dem mittwochs eine fünfstellige Nachforderung des AOK-Prüfers wegen der Einführung des Anspruchsprinzips bei den 630-DM-Verträgen eröffnet wurde und der donnerstags den amtlichen Bescheid der Gewerbeaufsicht wegen zu schaffender rauchfreier Arbeitsplätze in den Händen hält, wird sich freitags, wenn ihm sein Steuerberater eröffnet, was von seinem Gewinn nach Steuern noch verbleibt, fragen, ob er seiner Tochter oder seinem Sohn wirklich noch empfehlen kann, das Unternehmen fortzuführen. ({6}) Das könnte dazu führen - ich würde das bedauern -, dass die eingangs zitierte 17-jährige Auszubildende in Zukunft möglicherweise erst gar keinen Ausbildungsplatz mehr findet. Gut gemeint ist das Gegenteil von gut und deswegen bitte ich Sie dringend, die Vorlage zum Nichtraucherschutz abzulehnen. ({7}) - Ich fand sie gut.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll von der PDS-Fraktion.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bin seit drei Monaten Nichtraucherin, und im dritten Anlauf innerhalb der letzten zehn Jahre. Nach solch einer Rede würde man am liebsten zum Stressabbau wieder zu einer Zigarette greifen. Ich gebe das ehrlich zu. Ich erkläre hier kurz und knapp: Die PDS-Fraktion wird Ihrem Antrag in Gänze - alle Nichtraucherinnen und Nichtraucher, alle Raucherinnen und Raucher; die Raucher kommen sogar extra her, um ihre Zustimmung kundzutun - zustimmen. ({0}) Zum Inhalt des Antrages ist schon viel gesagt worden; ich möchte die bisherigen Ausführungen nicht ergänzen. Ich möchte aber auf den zweiten Punkt, über den wir heute auch sprechen, noch eingehen; Frau Voß hat darauf ganz kurz, aber nur indirekt, hingewiesen. Wir beraten heute gleichzeitig einen Antrag der PDS, in dem wir die Bundesregierung in zweifacher Hinsicht zum Handeln auffordern. Der erste Punkt hat sich erledigt. Da fordern wir die Bundesregierung auf, die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen das Werbeverbot der EU zurückzuziehen. Das war eine Klage der alten Regierung, die die neue Regierung leider aufrechterhalten hat. Und sie hat leider Recht bekommen. Gestern hat aber der zuständige EU-Kommissar in Brüssel neue Vorschläge vorgestellt. Damit hat der zweite Punkt unseres Antrages sehr wohl weiterhin Gültigkeit. Wir fordern Sie auf, tätig zu werden, um hier in der Bundesrepublik die Werbung für Tabakwaren zu verbieten. Ich möchte Ihnen das eindringlich erläutern. Ob ich wieder anfange zu rauchen oder nicht, ist etwas anderes, weil ich schon einmal vom Rauchen abhängig war. Wir sind hier im Parlament 668 Abgeordnete - zurzeit nicht ganz so viele. Täglich sterben in Deutschland 300 Menschen an den direkten Folgen des Tabakgenusses. Das heißt natürlich für die Tabakwarenindustrie: Es müssen täglich mindestens 300 Kinder und Jugendliche rekrutiert werden, die neu zum Glimmstängel greifen. Wenn wir wirklich etwas für den Kinder- und Jugendschutz tun wollen, müssen wir uns als Parlament mit der Werbeindustrie, mit der Tabakindustrie und natürlich auch mit der Automatenindustrie anlegen. In keinem anderen Land auf der Welt gibt es eine solche Dichte von Zigarettenautomaten wie in Deutschland. Gehen Sie bitte durch die Stadt! Wie sind die Zigarettenautomaten angebracht? Ganz oft ist unten ein Automat mit Süßwaren und darüber ein Automat mit Zigaretten. Kein Rauchverbot - sei es für unter 16-, 18- oder 20-Jährige nützt etwas, wenn der Zugang zu Tabakwaren dermaßen leicht ist. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Höll, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, sicher.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Höll, ist Ihnen bekannt, dass die mittelständisch geprägte Industrie - wie Sie sie nennen - der Automatenaufsteller mit den Initiatoren dieser Nichtraucherschutzinitiative gemeinsam darüber nachgedacht und beraten hat, wie man den Kinder- und Jugendschutz im Zusammenhang mit dem Rauchen verbessern kann? ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Kollege Braun, das ist mir bekannt. Allerdings habe ich in den letzten Jahren erfahren müssen, dass es mit den Selbstverpflichtungen, die Teile der Industrie eingegangen sind, oftmals nicht so weit her ist. Ich erlaube mir, als Beispiel die Werbung anzuführen. Da gibt es eine Selbstverpflichtung der Tabakwarenindustrie, dass die abgebildeten Models älter als 30 Jahre sein müssen. Sie wirken aber allesamt jünger als 30 Jahre, wenn es nicht ausgesprochene Werbung mit „Alten“ ist. Es geht nicht um einen Kampf gegen Automaten insgesamt. Automaten zum Beispiel in Gaststätten, wo Kinder und Jugendliche keinen unkontrollierten Zugang haben, können sehr wohl stehen bleiben. Es geht um die Automaten, die draußen angebracht sind, und dann auch noch in Kombination mit Süßwaren, wie ich eben dargestellt habe. Ich glaube, da müssen wir aktiv werden. Nach meinen Erfahrungen habe ich nicht die Hoffnung, dass das mit einer Selbstverpflichtung zu regeln ist. ({0}) Es gibt auch eine Selbstverpflichtung, dass keine Werbung für Tabakwaren im Zusammenhang mit Sport gemacht wird. Michael Schumacher wirbt für „Moods“. Was ist das anderes? Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal im Kino waren. Eine wunderschöne Suggestivwerbung für Tabakwaren und hinterher eine schwarze Leinwand mit weißer Schrift: „Die Gesundheitsministerin warnt: Der Tabakkonsum ist schädlich für Ihre Gesundheit.“ ({1}) Welche Chance hat diese Warnung überhaupt noch? Ich finde es positiv, wenn die EU die Initiative ergreift und es möglich macht, die Warnhinweise auf den Zigarettenschachteln wesentlich drastischer zu gestalten, also etwa mit einer Abbildung einer Raucherlunge und einem Aufdruck „Rauchen tötet“; denn Rauchen tötet tatsächlich. Wir im Parlament sollten nicht erst darauf warten, dass die EU in den nächsten zwei Jahren entscheidet und dann noch Übergangsregelungen einräumt. Wir sollten nicht nur das Mindestmaß verwirklichen, das die EU vorschreibt. Vielmehr ist es uns unbenommen, selber Schritte zu ergreifen. Die Richtlinie wird so ausgestaltet sein, dass die nationalen Staaten sehr wohl eine Handlungsfreiheit haben. Wenn man die Regelungen in den anderen europäischen Staaten mit denen hier in der Bundesrepublik vergleicht, so stellt man fest, dass wir ganz hinten liegen und viel tun könnten. Was wir heute tun, kann nur ein erster kleiner Schritt sein - den wir aber natürlich unterstützen. Ich bedanke mich. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Doris Barnett von der SPD-Fraktion.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich am Montag mit dem Zug von Berlin nach Halle fuhr, bin ich aus Versehen in ein Raucherabteil gegangen. Das habe ich erst nicht gemerkt, weil die beiden Personen, die in diesem Abteil gesessen haben, nicht geraucht haben. Als später Raucher dazu kamen, habe ich gedacht, irgendjemand dreht mir den Hahn zu. Als Nichtraucher merkt man das sehr schnell. Nun, ich konnte in ein anderes Abteil gehen, aber die Leute am Arbeitsplatz, Herr Kolb, die können das nicht, die müssen an ihrem Arbeitsplatz bleiben und müssen die verpestete Luft einatmen. ({0}) Ich bin Nichtraucherin und habe in meinem Leben wirklich noch nie geraucht - außer passiv, wenn Sie das gut finden; ich tue das nicht. Deshalb bin ich, was das Rauchen angeht, wahrscheinlich toleranter als viele Exraucher. Aber ich fühle mich als Abgeordnete all denjenigen gegenüber in der Pflicht, die sich am Arbeitsplatz nicht durchsetzen können gegen rücksichtslose Kollegen - die soll es ja geben -, die auch noch damit prahlen, nur noch eine halbe Schachtel pro Tag zu rauchen. Ich könnte hier eine Analogie zum Problem prügelnder Männer ziehen; jahrelang wurde akzeptiert, dass die Frau ausziehen könne. Analog könnte man argumentieren, der Nichtraucher solle sich in rauchfreie Räume verziehen ({1}) und könne, wie die verprügelte Frau, klagen. In beiden Fällen geht es - das wurde mehrfach gesagt - um körperliche Unversehrtheit, unser wichtigstes Gut überhaupt. Das wurde heute Morgen ja schon ausführlich und in einer guten Debatte dargelegt. So wenig wir die Frauen hilflos ließen, so wenig dürfen wir jetzt die Nichtraucher rechtlos lassen. ({2}) Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, also sich von Dritten verursachten Gefahren nicht aussetzen zu müssen, umfasst auch das Recht auf gesundheitlich zuträgliche, das heißt tabakfreie Atemluft am Arbeitsplatz. Dieses Recht ist bisher nicht gesichert. Viele Nichtraucherbestimmungen in den Betrieben haben eine so genannte Vetoregelung. In der Praxis sieht das dann so aus, dass der auf sein Recht pochende Nichtraucher zum Störenfried abgestempelt wird. Und richtet sich das Veto des Nichtrauchers gar gegen das Rauchen des Chefs oder des Vorgesetzten, dann macht er sich sicherlich nicht beliebt. Die Konsequenz ist: Allzu oft bleiben die Nichtraucher ruhig und schlucken lieber die verpestete Luft. Deshalb wollen wir - ich hoffe wirklich auf die Einsicht aller - den Nichtraucherschutz nicht nur in Pausen-, Bereitschafts- und Liegeräumen des Arbeitsplatzes gesichert wissen und ansonsten auf die Rücksichtnahme hoffen, sondern wollen den Arbeitgeber verpflichten, Vorkehrungen in allen seinen Arbeitsräumen zu treffen, um die Nichtraucher zu schützen. ({3}) Denn, Herr Kolb, wenn es um den Brandschutz im Betrieb geht, dann hat der Arbeitgeber auch keine Nachsicht mit seinen Rauchern. Bloß wenn es um den Schutz seiner nicht rauchenden Mitarbeiter geht, dann ist ihm deren Gesundheit seltsamerweise offensichtlich egal. Das kann nicht richtig sein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sie erlauben eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb? - Bitte schön, Herr Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Barnett, es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, in explosionsgefährdeten Räumen ein Rauchverbot zu verfügen. Analog hätten Sie, wenn sie schon eingreifen wollen, dem Arbeitgeber die Möglichkeit schaffen müssen, in BüroräuDr. Barbara Höll men, in denen Raucher und Nichtraucher zusammen sitzen, ein Rauchverbot zu verfügen. ({0}) Das Problem ist doch folgendes - ich bitte Sie um Ihre Einschätzung, ob Sie mir folgen können -: ({1}) In mittelständischen Unternehmen kann man Raucher und Nichtraucher nicht immer trennen, weil die entsprechende Raumkapazität nicht vorhanden ist. An der Stelle muss man fragen, was dann geschehen soll. Es gibt dann nur die Möglichkeit, ein Rauchverbot zu erlassen und das konsequent durchzusetzen. Diese Möglichkeit haben Sie nicht verfolgt. Deswegen frage ich Sie, ob der von mir vorgeschlagene Weg am Ende nicht doch der richtige und der bessere ist.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kolb, auf Ihre Frage, ob es nicht konsequent wäre, einen generellen Nichtraucherschutz einzuführen, kann ich Ihnen nur antworten: Es ist nichts einfacher, als einen solchen Schutz in einem kleinen Betrieb zu verwirklichen. Der Arbeitgeber muss lediglich sagen: Bei mir im Betrieb wird nicht geraucht, Punkt. ({0}) Er hat die Möglichkeit, ein solches Verbot zu erlassen. Er kann es nach seinen Bedürfnissen regeln. ({1}) - Doch, Herr Kolb. Lassen Sie die Bestimmungen doch einmal in Ihrer Fraktion prüfen. Ihr Kollege Braun, der hinter Ihnen sitzt, wird Ihnen sicherlich gerne bei der Interpretation der einschlägigen Bestimmungen behilflich sein und Ihnen bestätigen, dass der Arbeitgeber in einem kleineren Betrieb selbstverständlich sagen kann: Bei mir wird nicht geraucht. Warum soll das so schwierig sein? Lassen Sie uns doch bei diesem Thema einmal über den Großen Teich nach Amerika schauen. Dort ist das Rauchen zum Beispiel in allen öffentlichen Gebäuden verboten. Die Raucher sind dort nicht ausgestorben. Aber das Herumgeeiere nach dem Motto „Vernünftige Menschen werden sich doch einigen können“ hat dort ein Ende gefunden. Es ist ganz klar, was und wo erlaubt und verboten ist. Unser Antrag dient der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden und nicht minder auch dem Betriebsfrieden. ({2}) Durch unsere Formulierung - ich komme noch einmal darauf zurück - wird auch der Vielfalt der betrieblichen Interessen Rechnung getragen, weil der Arbeitgeber tatsächlich etwas regeln kann. ({3}) Auf jeden Fall wollen wir nicht länger hinnehmen, dass zum Beispiel eine schwangere Frau erst in einem langen Gerichtsverfahren ihr Recht auf einen rauchfreien Arbeitsplatz erstreiten muss. Noch ein kleiner Schlenker im Hinblick auf unsere Kommunen: In Singapur ist geregelt, dass das Rauchen sogar auf der Straße zu diskriminieren ist. Das Wegwerfen einer Zigarettenkippe wird mit drakonischen Geldstrafen circa 550 DM - bestraft. Dieses Verbot wird auch durchgesetzt. Wenn es ein solches Verbot in Deutschland geben würde, dann würden manche Straße und mancher Platz ganz ordentlich aussehen. Aber so weit gehen wir doch gar nicht. ({4}) Wir fangen erst einmal ganz klein an. Wir wollen ledig- lich dafür sorgen, dass nicht rauchende Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz geschützt werden. Deshalb hoffe ich im Sinne der betroffenen Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Ihre Einsicht und bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Frau Dr. Höll, zu dem Antrag Ihrer Fraktion möchte ich sagen: Punkt a) ist ja erledigt. Über Punkt b) sollten wir dann reden, wenn die entsprechende EU-Regelung vorliegt. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag jetzt ab. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Sabine Bergmann-Pohl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte wie Frau Barnett anlässlich des heutigen Weltnichtrauchertages einmal kurz über den Großen Teich schauen. In den USA wird weder in den öffentlichen Gebäuden noch in den Gaststätten geraucht. Auch im Straßenbild sehen Sie kaum noch Raucher. Wissen Sie, Herr Kolb, warum das so ist? Das ist so, weil es einen gesamtgesellschaftlichen Grundkonsens darüber gibt, dass man aus Rücksichtnahme gegenüber den Nichtrauchern in der Öffentlichkeit nicht raucht. ({0}) Unstreitig sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass das Rauchen gesundheitsschädigend ist. Mindestens 3,5 Millionen Menschen starben 1998 weltweit - davon etwa 100 000 in Deutschland - an den Folgen des Tabakkonsums. ({1}) Hochrechnungen der WHO gehen davon aus, dass im Jahre 2030, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, weltweit circa 10 Millionen Menschen pro Jahr als Folge des Tabakkonsums sterben werden. Es besteht innerhalb unserer Gesellschaft eben leider noch immer kein Konsens darüber, dass Rauchen und Passivrauchen schädlich sind. Das Bronchialkarzinom ist der häufigste beim Mann auftretende bösartige Tumor und gehört zu den bei der Frau am häufigsten vorkommenden Krebserkrankungen. 1997 starben allein in Deutschland 28 464 Männer und 8 784 Frauen an Lungenkrebs. Bei den Frauen ist seit Jahren ein deutlicher Anstieg der Zahl der Lungenkrebserkrankungen und der Sterberate sowohl in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland zu beobachten, der sich auf eine erheblichen Anstieg des Tabakkonsums bei weiblichen Jugendlichen zurückführen lässt. Nicht ohne Grund steht der heutige Weltnichtrauchertag unter dem Motto: „Keine dicke Luft am Arbeitsplatz - Auch Passivrauchen macht krank“. Leider werden die Folgen des Passivrauchens aus Unkenntnis ebenfalls völlig unterschätzt und auch bagatellisiert. Im Tabakrauch - das haben wir schon gehört - konnten bisher 40 Kanzerogene nachgewiesen werden, die damit das Passivrauchen ebenso gefährlich machen wie das Rauchen. Eine starke Passivrauchbelastung des Nichtrauchers, Herr Kolb, verdoppelt annähernd sein Risiko, an einem Bronchialkarzinom zu erkranken. ({2}) Das ist genauso gefährlich wie eine Explosionsgefährdung am Arbeitsplatz. ({3}) Die betrieblichen Kosten durch einen erhöhten Krankenstand unter den Rauchern und unfreiwilligen Mitrauchern sowie die vorzeitige Frühinvalidität unter Rauchern summieren sich in Deutschland auf 24 Milliarden DM jährlich. Weltweit gibt es sogar wirtschaftliche Verluste - das müsste Sie doch besonders interessieren - in Höhe von rund 200 Milliarden US-Dollar. Meine Damen und Herren, mit der Änderung der Arbeitsstättenverordnung ist beabsichtigt, Nichtraucherinnen und Nichtraucher wirksam vor dem Passivrauchen am Arbeitsplatz zu schützen. Immerhin 80 Prozent der Nichtraucher wünschen sich ein Rauchverbot am Arbeitsplatz und auch 35 Prozent der Raucher könnten sich damit anfreunden. Eine räumliche Trennung hätte sogar noch eine höhere Akzeptanz. Das geltende Arbeitsschutzrecht - § 32 der Arbeitsstättenverordnung - gilt nur für Pausen-, Bereitschafts- und Liegeräume. Eine darüber hinausgehende öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers, insgesamt zum Schutz der nicht rauchenden Beschäftigten bei der Arbeit zu sorgen, wird aus dem Arbeitsschutzgesetz und aus § 5 Arbeitsstättenverordnung abgeleitet. Diese Rechtsbestimmungen sind allerdings durch Arbeits- und Verwaltungsgerichte interpretierungsbedürftig, sodass häufig langwierige und kostspielige Verfahren zu Fragen des Nichtraucherschutzes unsere Gerichte belasten. Daher soll die vorliegende Initiative zur Änderung der Arbeitsstättenverordnung für mehr Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für Arbeitnehmer und Arbeitgeber sorgen. ({4}) Es geht eben nicht um Diskriminierung von Rauchern am Arbeitsplatz, sondern um ein gesundheitsbewussteres Verhalten aller Arbeitnehmer, aber auch der Arbeitgeber, die dafür die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben. Ergänzend dazu wird die Bundesregierung aufgefordert, Konzepte für innerbetriebliche Maßnahmen der Prävention und der freiwilligen Raucherentwöhnung ausarbeiten zu lassen, die den Betrieben dann als adäquate Lösungen angeboten werden können. Übrigens bleibt den Arbeitgebern hinsichtlich der Wahl konkreter betrieblicher Maßnahmen ein Regelungsspielraum. Sie werden demnach keineswegs zu kostspieligen und zu unzumutbaren Vorkehrungen gezwungen oder verpflichtet, Herr Kolb. ({5}) - Doch, es ist so. Lesen Sie sich das bitte genau durch! Als Fachärztin für Lungenkrankheiten habe ich oft das Leid der krebskranken oder auch der an schwerster Bronchitis mit erheblicher Atemnot leidenden Patienten erleben müssen. Ich wünsche mir übrigens, dass wir mit dieser Gesetzesvorlage und unserer Debatte auch dazu beitragen, dass gegenseitige Rücksichtnahme in der Öffentlichkeit und ein wirksamer Nichtraucherschutz in allen Betrieben, öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen zum Selbstverständnis in unserer Gesellschaft wird. ({6}) - Das wäre der Weg. Doch davon, Herr Kolb, sind wir leider Gottes sehr weit entfernt. Darum ist es ein ganz kleiner und erster Schritt, die Nichtraucher am Arbeitsplatz zu schützen. ({7}) Ich glaube, das ist auch die Auffassung der großen Mehrheit dieses Hauses. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Hildebrecht Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute mag es gar als mutig erscheinen, wenn unser Kollege Heinrich Kolb in seiner Rede als Einziger deutlich gemacht hat, dass er die Nichtraucherschutzinitiative des Deutschen Bundestages ablehnt. ({0}) Aber, meine Damen und Herren, der Kollege Heinrich Kolb wird nicht gemobbt werden, ({1}) er wird nicht beschimpft, und er muss schon gar nicht auf eigene Kosten vor den Gerichten sein unbestrittenes Recht einklagen, seine Meinung zu äußern. ({2}) Ganz anders die Situation von Tausenden von Azubis und Hunderttausenden von Arbeitnehmern, die in den Betrieben mit großer Mühe und nicht ohne persönliches Risiko erst ein Recht erkämpfen, dass sie längst haben müssten, nämlich das Recht auf einen Arbeitsplatz in guter Luft. ({3}) Millionen Betriebe haben keinen Betriebsrat. Dort steht der einzelne Arbeitnehmer allein. Ob die Arbeitgeber Verständnis für den Wunsch nach nikotinfreier Arbeitsluft haben, hängt von deren persönlicher Sensibilität und Einstellung ab. Aber auch diejenigen Arbeitnehmer - das sage ich in aller Deutlichkeit -, die sich an einen Betriebsrat wenden können, wissen nicht, ob dieser sie wirklich schützen wird. ({4}) Da die Rechtslage bisher unklar ist und auch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts keine klare Linie erkennen lässt, ist politisches Handeln geboten. Wir stellen heute klar, dass es Teil der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ist, dafür zu sorgen, dass seine Mitarbeiter in guter und gesunder Luft arbeiten können. ({5}) Ich will auch deutlich sagen: Es ist kein Ruhmesblatt für unser Land, dass hier - im Gegensatz zu 90 anderen Ländern dieser Erde - das selbstverständliche Recht auf reine Luft am Arbeitsplatz erst vor Gerichten erstritten werden muss. Wie können es politisch Verantwortliche nach wie vor hinnehmen, dass Menschen quasi im Abluftkamin von anderen arbeiten müssen? Gerade als Liberaler will ich zum Thema Freiheit einige deutliche Worte sagen. Liberale respektieren das Recht eines jeden Menschen zur Selbstverwirklichung. ({6}) Wir gehen dabei sehr weit. Wenn sich jemand selbst beschädigen will, ja wenn er sich selbst umbringen will - sei es in Raten durch immer wiederkehrendes Rauchen -, dann respektieren wir das. ({7}) Während die Freiheit, mit der eigenen Gesundheit, ja mit dem eigenen Leben umzugehen, grenzenlos sein mag, findet die Freiheit, findet die Selbstverwirklichung ihre natürliche Grenze dort, wo die Rechte des anderen, des Nachbarn, aber auch der Arbeitskollegin oder des Arbeitskollegen beeinträchtigt werden. Leider sehen das viele rauchende Kollegen anders und sie appellieren stattdessen an die Toleranz derer, die den Rauch ertragen sollen. Natürlich gibt es noch immer Menschen, die das Rauchen und das Mitrauchen-Müssen für gesundheitlich ungefährlich halten. Man kann sich wirklich die Augen verbinden, die Ohren verstopfen und sogar das eigene Gehirn ausschalten. Nur, wenn man das tut, dann kann einem entgehen, dass nicht nur die Deutsche Krebsgesellschaft, sondern auch alle ernst zu nehmenden Wissenschaftler das Rauchen und das Mitrauchen-Müssen als extrem gesundheitsgefährdend ansehen. Die Schätzung der Fachleute gehen dahin, dass allein in Deutschland zwischen 200 000 und 400 000 Menschen pro Jahr an den Folgen des Nikotingenusses sterben. Diese Zahl ist - das muss man sich einmal vor Augen halten - bis zu 30-mal höher als die der Menschen, die durch einen Verkehrsunfall ums Leben kommen. Nach Schätzungen müssen pro Jahr 400 Menschen durch Mitrauchen-Müssen sterben. Diese Zahl ist sehr viel höher als die derjenigen, die durch Asbest, Formaldehyd, Ozon oder andere Umweltgifte in unserem Land umkommen. Wir sprechen hier also nicht über irgendein beliebiges Thema der Spaßgesellschaft, sondern über ein Gesundheitsproblem höchster Priorität. ({8}) Schutz vor Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz, aber auch der Schutz vor massiver bis hin zu unerträglicher Belästigung und damit vor Beeinträchtigung der Lebensqualität müssen jedem Liberalen ein selbstverständliches Anliegen sein. Deshalb freue ich mich sehr, dass am heutigen Tag endlich auch im Deutschen Bundestag im dritten Anlauf ein Schritt zur Verbesserung des Schutzes derer, die nicht rauchen und auch nicht mitrauchen wollen, gelingt. Ich danke meinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die den heutigen Erfolg für Millionen diskriminierter Menschen endlich möglich gemacht haben, sehr herzlich. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag von Abgeordneten der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. „Für einen verbesserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz“, Drucksache 14/5325. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3231 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist damit bei Gegenstimmen aus der CDU/CSU-Fraktion, aus der F.D.P.Fraktion und einer Gegenstimme aus der SPD-Fraktion sowie bei einer Enthaltung aus der SPD-Fraktion mit großer Mehrheit angenommen. ({0}) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der PDS zum Verbot der Werbung für den Tabakkonsum, Drucksache 14/6174. Der Ausschuss empfiehlt, den An- trag auf Drucksache 14/3318 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussemp- fehlung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion und zwei Enthaltungen aus der SPD-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie Zusatzpunkt 7 auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({2}), Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Familienzusammenführung sachgerecht regeln - EU-Richtlinienvorschlag ablehnen - Drucksachen 14/4529, 14/5808 Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Erwin Marschewski ({3}) Marieluise Beck ({4}) Dr. Max Stadler Ulla Jelpke b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sechster Familienbericht; Familien ausländischer Herkunft in Deutschland Leistungen - Belastungen - Herausforderungen und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksache 14/4357 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien ZP 7 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes - Drucksache 14/5266 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({6}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu dem Familienbericht der Bundesregierung vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Bundesministerin Christine Bergmann das Wort.

Christine Bergmann (Minister:in)

Politiker ID: 11005290

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Die heutige Debatte zum Sechsten Familienbericht, den die Bundesregierung im Oktober 2000 vorgelegt hat, kommt zur rechten Zeit; denn dieser Bericht beschäftigt sich mit der Situation von Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Erstmalig liegt ein solcher Bericht vor. Er beschreibt die Situation in einer sehr differenzierten Weise, die dazu beiträgt, Vorurteile abzubauen. Angesichts der aktuellen Diskussion um Integration und Zuwanderung sind die Ergebnisse des Sechsten Familienberichts eine wichtige Basis, um einerseits Leistungen von Familien ausländischer Herkunft anzuerkennen, um Belastungen und Herausforderungen zu benennen und um andererseits die notwendigen Integrationsmaßnahmen zu verstärken. Ich denke, dass wir bereits wichtige Voraussetzungen für die Integration geschaffen haben. Ich will daran erinnern, dass mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht, das wir sehr schnell auf den Weg gebracht haben und das der Lebenswirklichkeit in Deutschland entspricht, ausländische Familien und ihre Kinder neue Rechtssicherheit und Möglichkeiten der Partizipation erhalten haben. ({0}) Auch die rechtliche Situation ausländischer Ehepartner und damit insbesondere vieler ausländischer Frauen wurde durch eine Änderung im Ausländergesetz verbessert. Das sind entscheidende Fortschritte zur rechtlichen Integration von Ausländerinnen und Ausländern in unserer Gesellschaft. ({1}) Ich will einige Zahlen aus dem Bericht nennen: In Deutschland leben gegenwärtig etwa 7,35 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Das entspricht einem Anteil an der Bevölkerung von 9 ProVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms zent. Fast die Hälfte dieser Menschen lebt schon zehn Jahre oder länger bei uns, rund 30 Prozent länger als 20 Jahre. Der Sechste Familienbericht konstatiert erhebliche integrationspolitische Fortschritte und Erfolge. Er weist darauf hin, dass diese Leistungen sowohl vonseiten der Migrantinnen und Migranten als auch von der Aufnahmegesellschaft erbracht wurden. Entgegen vielfältigen Vorurteilen und Klischees macht die Expertenkommission, die an der Erarbeitung des Sechsten Familienberichtes beteiligt war, unmissverständlich klar: Familien ausländischer Herkunft leisten einen wichtigen Beitrag zum Wohlstand in Deutschland. Sie sind integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. ({2}) Familien ausländischer Herkunft bestreiten ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Erwerbsarbeit. Allerdings zeigt ein Blick auf die Einkommensstatistik, dass sich das Einkommen vieler dieser Familien eher am unteren Ende der Skala bewegt. Die Quote der Selbstständigen ist inzwischen unter den Zuwanderern fast genauso hoch wie im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Haben Sie das gewusst? - Man erfährt eine ganze Menge neuer Dinge aus diesem Bericht. Allein die etwa 55 000 türkischen Selbstständigen in Deutschland erwirtschafteten 1999 einen Jahresumsatz von rund 50 Milliarden DM und boten rund 300 000 Personen eine Beschäftigung. Das sind beachtliche Zahlen. ({3}) Der Sechste Familienbericht weist ausdrücklich auf die Leistungen hin, die gerade die Familien für eine erfolgreiche Integration ihrer Mitglieder in die Gesellschaft erbringen. Migration und Integration sind in mehrfacher Hinsicht ein Familienprojekt: Der verwandtschaftliche Zusammenhalt in den Familien ausländischer Herkunft trägt erheblich zu ihrer Integration bei. Sie unterstützen sich auch über die Generationen hinweg, zum Beispiel bei der Erziehung und Betreuung der Kinder, bei der Versorgung kranker und alter Menschen, und pflegen die Beziehungen der Generationen auch intensiv über die Ländergrenzen hinweg. Nachbarschaftshilfe und freiwilliges Engagement sind unter Familien ausländischer Herkunft stark ausgeprägt. Auch darauf verweist der Sechste Familienbericht ausdrücklich. Diese Solidarität üben diese Familien nicht nur für sich, sondern bringen sie auch als Wert in unsere Gesellschaft ein. ({4}) Ein wichtiger Aspekt ist: Familien ausländischer Herkunft nehmen das Projekt Migration in die eigene Hand. Sie sind Akteure, keinesfalls immer nur Opfer ihrer Verhältnisse oder mit Defiziten behaftet, wie ja die landläufige Meinung gelegentlich noch lautet. Interessant ist auch, dass gerade Frauen diesen Eingliederungsprozess sehr aktiv mitgestalten. Von den Frauen hängt wie immer alles ab. Auch in diesem Falle hängt es in entscheidendem Maße von ihnen ab, wie sich der Eingliederungsprozess der gesamten Familie entwickelt. ({5}) - Haben Sie damit Schwierigkeiten? Gut, das diskutieren wir dann aber an anderer Stelle. ({6}) Der Sechste Familienbericht führt uns unmissverständlich vor Augen, dass die immer noch durch stereotype Vorstellungen geprägte Wahrnehmung ausländischer Frauen in Deutschland wenig mit ihrer tatsächlichen Lebenssituation und ihrem eigenen Rollenverständnis zu tun hat. Diese Frauen sind sehr aktiv. Viele sind erwerbstätig, auch wenn die Quote unter der der Deutschen liegt. Das hat auch etwas mit den Bedingungen zu tun, die auf dem Arbeitsmarkt herrschen. Um darüber noch weitere Erkenntnisse zu erhalten, wurde von meinem Haus eine Studie zur Situation ausländischer Frauen und Mädchen sowie der Aussiedlerinnen in Auftrag gegeben. Ich denke, wir brauchen hier noch mehr Daten - genauso wie zur Situation älterer ausländischer Frauen; denn diese Frauen erleben diese Lebensphase in unserer Gesellschaft in zunehmenden Maße. Dieser veränderte Blickwinkel auf Familien ausländischer Herkunft, der vor allem den erheblichen Teil an Eigeninitiative der Familien aufzeigt, muss ein zentraler Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zur Weiterentwicklung von Eigeninitiative fördernden Integrationskonzepten sein. Nicht für alle Migrantinnen und Migranten gestaltet sich der Integrationsprozess in gleichem Maße erfolgreich. Auch darauf weist der Bericht hin. Deshalb ist es wichtig, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Familien bei der Integration nachhaltig unterstützen. Das tun wir vor allen Dingen im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung, die ja eine Schlüsselvoraussetzung für eine gleichberechtigte Teilhabe an wirtschaftlichen und sozialen Strukturen unserer Gesellschaft ist. Wir konnten in den letzten Jahren erfreulicherweise einen deutlichen Anstieg des Bildungsniveaus bei ausländischen Kindern und Jugendlichen beobachten. Das ist eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Integration. Dennoch sehen wir hier noch ganz erhebliche Defizite. Wenn wir uns die Zahlen ansehen, stellen wir fest: 17 Prozent der ausländischen Jugendlichen verlassen die Hauptschule ohne Abschluss im Vergleich zu 9 Prozent der deutschen Jugendlichen. Wenn heute zwei Drittel aller deutschen Jugendlichen eine duale Berufsausbildung absolvieren, aber der Anteil bei den jungen Ausländern nur bei rund 39 Prozent, bei den jungen Ausländerinnen sogar lediglich bei 33 Prozent liegt, ist klar, wo Handlungsbedarf besteht. Wir haben uns auch schon auf den Weg gemacht. Erinnern möchte ich an das JUMP-Programm, das sich sehr nachdrücklich an junge Ausländerinnen und Ausländer wendet und hier sozusagen auch eine Quotierung vorsieht. Ich möchte daran erinnern, dass auch im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit die Verbesserung der Ausbildungschancen von jungen Ausländerinnen und Ausländern eine große Rolle spielt. Ich möchte auch unser Programm „Entwicklung und Chancen von jungen Menschen in sozialen Brennpunkten“ erwähnen. Darin bildet die Integration von jungen Ausländerinnen und Ausländern einen Schwerpunkt. Diese Modelle werden sehr stark in Anspruch genommen, insbesondere das soziale Trainingsjahr. Hier können wir gar nicht genug tun. Wir müssen prüfen, ob wir dieses Programm noch aufstocken können. ({7}) Wenn wir über Integration reden, sind wir immer auch beim Thema Sprachkenntnisse. Denn wir wissen, dass das Erlernen unserer Sprache eine wichtige Voraussetzung für Integration ist. Mangelnde Sprachkenntnisse werden zu einer Integrationsbarriere. Deshalb hat sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, die Sprachförderung zu verbessern. Wir haben ein neues Sprachkonzept erarbeitet - es wird im nächsten Jahr in Kraft treten -, das die bislang nach Rechtsstatus der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufgeteilten Kurse und Hilfen zusammenfasst, damit Synergien nutzt und den Erfordernissen besser als bisher gerecht wird. Das heißt, dass wir ab 1. Januar 2002 - so ist es geplant - alle jungen Zuwanderinnen und Zuwanderer mit dauerhaftem Bleiberecht unabhängig von ihrem Rechtsstatus einer bedarfsgerechten Sprachförderung zuführen, die an den jeweiligen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, und dass über den bisher geförderten Personenkreis hinaus auch nachgereiste und erwachsene Angehörige von Spätaussiedlern sowie Personen mit dem so genannten kleinen Asyl Sprachförderung erhalten können. ({8}) Ich denke, dass wir damit die bisherige Sprachförderung deutlich verbessern und ein echtes Angebot zur Integration machen. Ich komme auf den Familienbericht zurück. Der Familienbericht macht noch einmal ganz deutlich, wie notwendig es ist, dass die Integration bereits im Vorschulalter beginnt, dass also Kinder ausländischer Familien schon sehr früh in die Kitas gebracht werden. Das funktioniert, wie wir wissen, nicht besonders gut. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Zum einen liegt dies an dem Angebot an Kita-Plätzen, aber es gilt auch kulturelle Hemmnisse zu überwinden. Es gibt gute Beispiele, wo wir ansetzen können. Ich möchte eines aus Berlin nennen: Alle Eltern in Berlin kennen die Elternbriefe, auch in anderen Bundesländern werden die Elternbriefe kostenlos vertrieben. Wir haben den Elternbrief in türkischer Sprache gezielt an türkische Eltern gerichtet, um für die Kita zu werben und ihnen zu vermitteln: Euren Kindern geht es dort gut. Es ist nicht nur die Großmutter, die das Kind erziehen kann, wenn die Mutter erwerbstätig ist. Bringt die Kinder in die Kitas! Das ist ein wichtiger Beitrag zur Integration. Ich wünsche mir noch sehr viel mehr solcher Aktivitäten, damit wir sehr früh mit der Integration beginnen können und es gar nicht erst zu den Barrieren kommt, die dazu führen, dass keine vergleichbaren Schulabschlüsse erreicht werden. ({9}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, die Ergebnisse des Sechsten Familienberichts zeigen deutlich, dass wir Familien ausländischer Herkunft in ihrer Eigeninitiative nachdrücklicher unterstützen und die Rahmenbedingungen für die Integration weiter entwickeln müssen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir derzeit die Chance zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens haben, bei dem die positiven Wirkungen der Zuwanderung und Integration erkannt werden. Meine Bitte ist: Lassen Sie uns diese Chance nutzen! Danke. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat nun das Wort der Kollege Thomas Dörflinger von der CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über den Sechsten Familienbericht fällt in eine Zeit der grundlegenden Auseinandersetzung um Zuwanderung und Zuwanderungsbegrenzung vor dem Hintergrund von Migration und demographischem Wandel, bezüglich derer wir ein Dauerphänomen zu konstatieren haben, das uns nicht nur die nächsten Jahre, sondern mit Sicherheit auch die nächsten Jahrzehnte noch beschäftigen wird. Der vorgelegte Bericht der Bundesregierung ist auch Anlass, einige grundlegende Gedanken zu formulieren; denn der Bericht, der den Zeitraum bis 1999 darstellt, versteht sich ja in erster Linie als eine Bestandsaufnahme und bleibt in den politischen Konsequenzen respektive den Handlungsempfehlungen relativ unkonkret. Ich kritisiere das nicht, sondern nehme das auch als einen Beweis dafür, dass die notwendigen politischen Weichenstellungen hier im Parlament, im Deutschen Bundestag gefällt werden müssen. ({0}) Der Themenkreis Zuwanderung, Zuwanderungsbegrenzung, Migration und Integration ist eben kein Thema für wie auch immer geartete Konsensrunden, sondern es ist elementare Aufgabe dieses Deutschen Bundestages und der Bundesregierung, zu diesem Themenkreis ein umfassendes Konzept vorzulegen. Ich stelle fest: Bislang fehlt das noch. ({1}) Darüber hinaus sind die bislang erfolgten Äußerungen zu diesem Bereich teilweise widersprüchlich. Da gibt es die Forderung, wir sollten eher nach dem Motto verfahren: mehr Ausbildung statt Einwanderung, vor wenigen Tagen vom Generalsekretär der SPD erhoben. Ich erinnere daran, dass diese Forderung schon einmal von dieser Stelle aus erhoben wurde; das war am 13. April 2000 von meinem früheren Fraktionskollegen Jürgen Rüttgers. Der seinerzeitige und noch immer im Amt befindliche Bundesarbeitsminister hat das mit der Bemerkung quittiert, das sei „hinterfotzig“. ({2}) Es ist doch interessant, was sich innerhalb eines Jahres hinsichtlich der Beurteilung dieser Frage getan hat. ({3}) - Wir haben unsere Position in keiner Weise geändert, Herr Kollege. ({4}) Wenn Sie das Positionspapier des Kollegen Rüttgers von damals mit dem Positionspapier der CDU/CSU von vor wenigen Tagen vergleichen, dann finden Sie nahtlose Übereinstimmungen in dieser und auch in allen anderen Fragen. Der Erkenntnisgewinn durch diese Diskussion liegt bei der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen, dass nämlich die Frage der Zuwanderung allein - Frau Kollegin Lörcher, wir haben das auch in der Enquête-Kommission diskutiert - uns nicht die Herausforderungen bewältigen hilft, die durch den Prozess des demographischen Wandels auf uns zukommen, sondern dass eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig ist, eben ein Gesamtkonzept. Allerdings frage ich: Besteht denn tatsächliche Einigkeit unter den politischen Kräften, auch dieses Hauses, in dieser Frage? Wie passen die aktuellen Äußerungen seitens der SPD - auch das, was das Bundesinnenministerium, namentlich durch Minister Otto Schily, immer wieder verlautbaren lässt - mit dem zusammen, was wir zum Beispiel an offizieller SPD-Linie in der erwähnten EnquêteKommisson „Demographischer Wandel“ zur Kenntnis nehmen? Es sind zweierlei Paar Stiefel. Wie passen die Äußerungen des Bundesinnenministers schon aus dem Jahre 1999 mit dem zusammen, was heute im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen formuliert ist? Das passt nicht zusammen. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass das erforderliche Gesamtkonzept nicht vorliegt. Ich bin, nachdem es nach wie vor angekündigt ist, gespannt, wann es uns vorgelegt werden wird und was schlussendlich darin steht, welche Linie sich in diesem Konzept bestätigt fühlen wird. ({5}) Die gemeinsame Auffassung, auch in dem Bericht, ist, dass ein politisches Gesamtkonzept notwendig ist, um die Situation ausländischer Familien in Deutschland dauerhaft zu sichern und, wenn möglich, zu verbessern. Dabei dürfen sowohl im Interesse derer, die zu uns kommen, als auch im Interesse derer, die schon hier sind, unabhängig von ihrer Nationalität, Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft nicht überfordert werden dürfen. Wie kann ein solches Konzept aussehen? CDU und CSU - ihr habt darauf hingewiesen - haben in den letzten Wochen ein solches Konzept vorgelegt. Es wurde - das hat uns natürlich gefreut - von allen Seiten sehr gelobt. ({6}) - Das kommt selten vor, Herr Kollege Hornhues, aber ab und zu doch. Und es war in diesem Fall auch berechtigt. - Ich glaube, dass diese beiden Konzepte - auch das gemeinsame Positionspapier der Union - eine gute Grundlage dafür bieten, die Situation ausländischer Familien in Deutschland zu verbessern. Diese gehen von dem Grundgedanken aus, dass sich die Migrationspolitik an drei zentralen Punkten orientieren soll, nämlich erstens daran, die Interessen des Aufnahmelandes zu berücksichtigen, zweitens daran, die Interessen derer im Blick zu haben, die in der Zukunft zuwandern werden, und drittens daran, die Voraussetzungen dergestalt zu schaffen, dass sich aus den Bestimmungen einer Migrationspolitik eine Basis für eine vernünftige und tragfähige Integrationspolitik ergibt. ({7}) Lassen Sie mich einige familienpolitische Aspekte benennen: ({8}) Oberste Priorität haben Sprachkenntnisse; darauf hat die Ministerin hingewiesen und da hat sie Recht. Diese dienen nicht nur der Verständigung untereinander, sondern natürlich auch der Vermeidung von Parallelgesellschaften, der Integration derer, die in ein bestimmtes Gesellschaftssystem, nämlich in das der Bundesrepublik Deutschland, zuwandern. Sie sind ein integraler Bestandteil der nach unserer Auffassung verpflichtenden Integrationskurse, die nicht nur Sprachkenntnisse allein, sondern auch Grundzüge unserer Rechtsordnung und unserer Kultur sowie Hilfen dahin gehend vermitteln sollen, mit der gesellschaftlichen und beruflichen Orientierung vor Ort in den Städten und Gemeinden zurechtzukommen. Kurz: Sie beinhalten all das, was auch wir für sinnvoll erachten, wenn wir uns im Ausland bewegen. ({9}) Allerdings - darin unterscheide ich mich von dem, was die Ministerin zum Thema Sprachförderung vorgetragen hat - ist es schon interessant, was die Bundesregierung beispielsweise bei der Neustrukturierung der Sprachförderung tut. Ursprünglich bin ich davon ausgegangen - dies war die letzte Wasserstandsmeldung, die bei mir ankam -, dass die Neuregelung der Sprachförderung zum 1. Januar 2003 in Kraft treten soll. Es war für mich erstaunlich, zu hören, dass Sie nun vom 1. Januar 2002 gesprochen haben. Ich nehme das so zur Kenntnis. Wenn Sie allerdings mit denjenigen sprechen, die heute beispielsweise für Aussiedlerinnen und Aussiedler Sprachförderung betreiben, dann melden die insbesondere zwei Kritikpunkte an, was die Neuorganisation der Sprachförderung angeht: Erster Punkt. Dem Sprachverband in Mainz soll die komplette Neuorganisation dieser Angelegenheit übertragen werden. Nach eigener Darstellung braucht der Sprachverband in Mainz etwa ein Jahr, um die notwendige Infrastruktur innerhalb seiner Organisation bereitzustellen, damit er mit dieser Aufgabe organisatorisch überhaupt fertig wird. Zweiter Punkt. Bei der Neuorganisation der Sprachförderung für Aussiedlerinnen und Aussiedler fällt der sozialpädagogische Teil, nämlich die sozialpädagogische Betreuung derer, die die deutsche Sprache neu erlernen sollen, fast komplett weg. Ein Fachverband hat auf Heller und Pfennig ausgerechnet, was unterm Strich noch übrig bleibt: neben dem eigentlichen Sprachunterricht eine sozialpädagogische Betreuung von neun Minuten pro Teilnehmer und pro Woche. Wenn wir aber gewährleisten wollen, dass derjenige oder diejenige, der oder die die deutsche Sprache erlernen möchte, nicht nur die Sprache per se beherrscht, sondern sich in diesem Prozess des Erlernens einer Sprache auch im gesellschaftlichen Umfeld zurechtfindet, dann sind neun Minuten pro Woche und pro Person ein bisschen sehr wenig. ({10}) Meine Damen und Herren, dabei gilt natürlich generell, dass man desto leichter lernt, je jünger man ist. Das heißt, es macht sowohl im Interesse von Migrantenkindern als auch im Interesse der Integrationsbereitschaft und der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft hierzulande Sinn, das Zuzugsalter von derzeit 16 Jahren entweder auf zehn oder auf sechs Jahre zu senken. ({11}) Auch das ist im Übrigen Bestandteil des Konzepts der CDU/CSU, das Sie alle sehr gelobt haben. Ich frage mich, ob bei diesem Lob immer sichergestellt war, dass Sie das Konzept auch tatsächlich gelesen haben. Dazu gehört auch, dass wir im Bereich der schulischen Bildung beispielsweise die Möglichkeit sicherstellen wollen, an deutschen Schulen islamischen Religionsunterricht anzubieten, freilich in der Trägerschaft der jeweiligen Schule und in deutscher Sprache. Dazu gehört auch, dass wir die unterschiedlichen Statusformen, die Ausländer in Deutschland haben, und zwar vom Stadium des Asylbewerbers über das eines Ausländers mit rechtskräftiger Aufenthaltsgenehmigung bis hin zu dem eines deutschen Staatsbürgers, durchlässig gestalten. Auch das ist eine Veränderung - nach meinem Dafürhalten eine Verbesserung - der bisherigen Rechtslage. Ich will an dieser Stelle nichts zum Richtlinienentwurf der Europäischen Union sagen; das wird mein Kollege Thomas Strobl anschließend tun. Aber auch zu diesem Thema steht etwas im erwähnten Konzept der Union, in jenem Konzept, das von Ihnen allen gelobt worden ist. Ich gehe davon aus, dass Sie damit auch die einzelnen Vorschläge gelobt haben. Meine Damen und Herren, natürlich ist es an dieser Stelle nicht nur recht und billig, sondern auch Pflicht, ein Wort über Familienpolitik ganz generell zu verlieren; denn davon ist selbstverständlich auch die Situation ausländischer Familien in Deutschland betroffen. Bevor jetzt wieder der Einwurf kommt: Ihr habt 16 Jahre nichts getan!, rufe ich Ihnen im Stile einer Vorbemerkung nur einmal zu, was wir alles „nicht getan“ haben. Als wir zu regieren begannen, lag das Kindergeld bei 50 DM, als wir aufhörten, bei 220 DM. ({12}) Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub - diese Dinge, packen Sie nun anders benannt in Ihre Reformpakete haben wir seinerzeit ins Werk gesetzt. Das gilt auch für die Anrechnung der Kindererziehungszeiten bei der Rente. Übrigens ist der Bericht, über den wir heute diskutieren - der Sechste Familienbericht -, von der seinerzeitigen Bundesministerin Claudia Nolte in Auftrag gegeben worden. Auch das gehört zu der Palette, was die CDU/CSUBundestagsfraktion an familienpolitischen Dingen „nicht getan“ hat. ({13}) Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Natürlich tragen wir die Erhöhung des Kindergeldes mit. ({14}) Aber es ist ein bisschen wenig, um dies als Gesamtkonzept zur Familienförderung in Deutschland verkaufen zu wollen. ({15}) Ich nenne zwei Beispiele. Das erste Beispiel: Die nachgewiesenen Kinderbetreuungskosten sind nur noch dann abzugsfähig, wenn beide Ehegatten oder der Alleinerziehende erwerbstätig sind. Wahlfreiheit herrscht nicht. Wir sind der Meinung, das ist eine Ungleichbehandlung, die nicht statthaft ist. Entweder kommen alle in den Genuss dieser Regelung oder niemand. Das zweite Beispiel ist die Streichung des Freibetrages für Haushaltshilfen in Höhe von 18 000 DM; dies wurde bei der seinerzeitigen Einführung von Ihnen als „Dienstmädchenprivileg“ abqualifiziert. ({16}) Das Bundesfinanzministerium hat Einsparungen in Höhe von 95 Millionen DM errechnet. Diese betriebswirtschaftliche Rechnung seitens des BMF mag sogar stimmen. Aber wenn wir berücksichtigen, wie viele Beschäftigungsverhältnisse, die aufgrund dieser Regelung entstanden wären, nicht entstehen und wie viele Steuern und Sozialversicherungsbeiträge aufgrund dessen - das ist die volkswirtschaftliche Sicht - nicht entrichtet werden, dann ist das, was Sie machen, unterm Strich bestenfalls eine Nullnummer, meine Damen und Herren. ({17}) Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung zum Familienbericht der Bundesregierung machen. Ich sagte, dies sei kein Thema für Konsensrunden. Wir sind keine Räterepublik, wir sind eine parlamentarische Demokratie. Der Deutsche Bundestag ist nun gefordert, die erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Das heißt, zunächst einmal sind Sie gefordert, ein Konzept vorzulegen. Sie haben angekündigt, dass dies noch in der 14. Wahlperiode passieren soll. Ich bin gespannt, was Sie uns mit auf den Weg geben. Nachdem Sie unser Konzept so gelobt haben, gehe ich davon aus, dass das Ihre Richtschnur für die künftige Politik ist. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mit den höheren Weisheiten beginne, würde ich mich gerne mit Herrn Dörflinger auseinander setzen. Herr Dörflinger, wir beide sind in der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“. Sie waren offensichtlich in letzter Zeit seltener da. Wir haben dort eine Studie von Professor Oberndörfer behandelt, in der er sagt: Wir brauchen eine gute Familienpolitik, wir brauchen eine gute Ausbildung, wir brauchen eine höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen und wir brauchen Einwanderung, weil es ansonsten im Jahre 2050 23 Millionen Menschen weniger in Deutschland geben wird. - Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende hat das nicht alternativ gestellt, sondern gesagt: Es müssen mehr Frauen erwerbstätig sein und wir brauchen mehr Einwanderung. Sie müssen schon die ganze Wahrheit erzählen. ({0}) Jetzt zum Familienbericht. Zum ersten Mal beschäftigt sich ein Familienbericht mit der Lage ausländischer Familien in Deutschland. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen in Deutschland zusammenleben. Diese Realität wurde von Ihnen über zig Jahre hinweg konsequent ignoriert. Durch diese Tabuisierung wurden Chancen vertan - es gab keine Integrationsangebote -, Chancen, die sich für unsere Gesellschaft als eine Zuwanderungsgesellschaft geboten hätten. Umso mehr drängt jetzt die Zeit, eine umfassende Einwanderungsund Integrationspolitik zu gestalten. Der Sechste Familienbericht belegt die tragende Rolle, die Familien ausländischer Herkunft im Integrationsprozess zukommt. Migration ist ein Familienprojekt, das sich über mehrere Generationen hinweg erstreckt. Familie ist für eine erfolgreiche Integration aber auch ein Schlüsselbegriff, denn sie bietet persönlichen Rückhalt in der neuen Umgebung. Familie kann aber auch Integration behindern, wenn innerhalb der Familien ein Inseldasein in der neuen Umgebung gelebt wird. In diesem Fall ist die Gesellschaft gefragt. Der Familienbericht zeigt die vielfältigen Unterstützungsleistungen, die Eltern für ihre Kinder aufbringen. Wer hierbei unter dem Stichwort „Integration“ eine Leitkultur vorgibt, wie es vonseiten der CDU/CSU geschehen ist, verlangt Assimilation und fordert eine Ablösung von der Herkunftskultur. Damit wird das Gegenteil erreicht, nämlich Ausgrenzung. Wer die Bindung von Familien ausländischer Herkunft nicht akzeptiert, läuft Gefahr, ausländische Kinder und Jugendliche zu entwurzeln. Dadurch wird das Potenzial ausländischer Familien für das gesellschaftliche Zusammenleben zerstört. Wir haben - die Ministerin hat es gerade gesagt - mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht einen längst überfälligen Reformschritt getan. Aber ich gebe zu bedenken - auch in Richtung F.D.P.; Herr Hirche hatte sich gerade echauffiert -, für in Deutschland geborene Jugendliche ausländischer Eltern wird es sicherlich nicht unerhebliche Probleme geben, wenn sich die jungen Menschen im Alter von 23 Jahren entscheiden müssen, welchen Pass sie denn abgeben, den deutschen Pass oder den des Herkunftslandes ihrer Eltern. ({1}) Das wird innerhalb der Familien einen mächtigen Streit geben. Den haben wir Ihnen zu verdanken! ({2}) Integrationspolitik hat die Aufgabe, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür sind Bildung und Ausbildung. Nach wie vor sind Schülerinnen und Schüler ausländischer Herkunft bei höheren Bildungsabschlüssen weit weniger vertreten. Der Grund dafür liegt häufig in den mangelnden Sprachkenntnissen. Die Kenntnis der deutschen Sprache ist Voraussetzung für einen positiven Bildungsprozess und für das gegenseitige Verstehen. Dass das im Kindesalter anfängt, ist klar. Wir brauchen längerfristig ein ausreichendes Angebot an kostenlosen Kinderbetreuungseinrichtungen, die die unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Kompetenzen der Kinder fördern. Der Bericht zeigt, dass die Armutsquote von Migrantinnen und Migranten zwei- bis dreimal höher ist als die der Gesamtbevölkerung. Hier ist Politik gefragt. Wir haben bereits damit begonnen: 80 DM Kindergelderhöhung, steuerliche Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen, Verbesserungen beim Wohngeld, bei der Ausbildungsförderung und beim Erziehungsgeld. Das sind nur einige Erfolgsprojekte der zweieinhalbjährigen Regierungszeit, die natürlich auch den Kindern ausländischer Eltern zugute kommen. An dieser Stelle möchte ich noch einmal etwas an die Adresse von Faruk Sen vom Zentrum für Türkeistudien sagen. Dieses Kindergeld steht den Kindern zu und ist nicht etwa für den wirtschaftlichen Ausbau eines Landes, wie zum Beispiel der Türkei, gedacht. Familien ausländischer Herkunft zu unterstützen heißt, Chancen und Rechte von Frauen zu stärken, denn den Frauen kommt im Migrationsprozess eine Schlüsselrolle zu. Sie halten die Familie zusammen, tragen zur Erwerbstätigkeit, zur finanziellen Absicherung der Familie bei und wir müssen unsere Aufmerksamkeit besonders auch auf sie richten. Schon im letzten Jahr haben wir die Rechte ausländischer Ehefrauen deutlich gestärkt. Sie erhalten jetzt bereits nach zwei Jahren ein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Misshandelte ausländische Frauen werden nicht mehr ausgewiesen, sondern dürfen in Deutschland bleiben. Diesen Schutz müssen wir aber auch Müttern gewähren, die ihr Heimatland aufgrund von geschlechtsspezifischer Verfolgung verlassen, um zum Beispiel ihre Töchter vor Genitalverstümmelung zu schützen. Ich würde gern noch zu einem wichtigen Instrument der Integration kommen, zur Familienzusammenführung. In Anbetracht der Zeit bitte ich meine Kollegin Marieluise Beck, das ausführlicher zu begründen. Aber die Politik der Nullzuwanderung, die wir bisher innerhalb der EUKommission hatten, passt einfach nicht mehr in den heutigen wirtschaftlichen und demographischen Kontext. Ich glaube, es gibt eine Menge zu tun, damit wir auf europäischer Ebene auch tatsächlich die Voraussetzungen schaffen, dass Kinder bis zum 18. Lebensjahr zuziehen können. Das ist für uns eine Notwendigkeit. Wenn ich sehe, was in dem Antrag der CDU/CSUFraktion steht, nämlich den Familiennachzug einzuschränken, die Kinder nur noch bis zum Alter von 10 Jahren nachkommen zu lassen - jetzt höre ich von Herrn Dörflinger, dass er sogar nur noch von 6 Jahren spricht -, dann muss ich Ihnen sagen: Damit riskieren Sie die Integrationsfähigkeit der hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer. Der Familienbericht macht deutlich, dass Familien ausländischer Herkunft an einem erfolgreichen Einwanderungsprozess maßgeblich beteiligt sind. Wir brauchen also eine Familienpolitik und eine Integrationspolitik, die hierfür die entsprechenden Rahmenbedingungen bietet, damit die Chancen und Potenziale weitreichend genutzt werden können. Hieran werden wir weiter arbeiten und uns nicht durch falsche Wege, die Sie uns hier vorschlagen, beirren lassen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ina Lenke von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Endlich führen wir heute die Debatte zum Sechsten Familienbericht, der sich mit der Situation ausländischer Familien in Deutschland befasst. Seit Oktober vergangenen Jahres wurde er von der Bundesregierung unter Verschluss gehalten. ({0}) Ist es vielleicht Ihre politische Absicht, die Verbesserung für ausländische Familien auf die nächste Legislaturperiode zu verschieben? Wenn ich mir Ihren Antrag ansehe, erkenne ich darin sehr wenig Substanzielles, Frau Schewe-Gerigk. ({1}) Im rot-grünen Antrag finde ich nämlich viele Appelle und Wünsche, aber kaum Umsetzungen bzw. konkrete Umsetzungskonzepte. Als Erstes möchte ich kritisieren, dass bei diesem Tagesordnungspunkt der Bundesratsantrag zur Änderung des Ausländergesetzes formal mitberaten wird und ad hoc mit auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Zweitens ist mir die Einbeziehung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion zum EU-Richtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung mit viel konservativem Sprengstoff unverständlich. ({2}) In dem Antrag der Fraktionen der Grünen und der SPD zu dem EU-Richtlinienvorschlag findet sich kein Konzept außer einem dürftigen Satz, der lediglich kommentierenden Charakter hat, jedoch keine Ziele formuliert. Alles in allem ist der gesamte Tagesordnungspunkt ein Gemischtwarenangebot, das der Problematik und der Vielschichtigkeit der verschiedenen Themen nicht gerecht wird. Deshalb werde ich mich auch nicht zu dem Bundesratsentwurf zur Änderung des Ausländergesetzes äußern. Nun zum Sechsten Familienbericht, der die Lebensverhältnisse ausländischer Familien in Deutschland beschreibt, und zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und der Grünen dazu. Eines will ich für die F.D.P.-Fraktion ganz deutlich sagen: Wir wollen eine kontrollierte Zuwanderung. Die Bevölkerung Deutschlands wird schrumpfen und überaltern. Schätzungen gehen von einem Bevölkerungsrückgang von etwa 22 Millionen bis zum Jahr 2050 aus. Wir werden in Deutschland auch mit einer gezielten Zuwanderung demographische Probleme mit lösen müssen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Denn mit einem schlüssigen Zuwanderungskonzept, wie es zum Beispiel die F.D.P. 1999 vorgelegt hat, gibt es für unser Land mehr Chancen als Risiken, die andere in dem Zuwanderungsgesetz sehen. ({3}) Deshalb lehnen wir das, was im Antrag der CDU/CSUFraktion zum EU-Richtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung steht, vehement ab. Ich verstehe Ihre Diskussion und Ihren Vorschlag überhaupt nicht. Sie haben vor zwei Jahren ein Familienkonzept verabschiedet. Darin propagieren Sie die Anerkennung der Vielfalt von Lebensgemeinschaften. Wenn es aber um etwas Konkretes geht, nämlich den EU-Richtlinienvorschlag, dann verfallen Sie in Ihre konservativen Überzeugungen zurück. ({4}) Sie sollten das wirklich einmal überprüfen. Mir wäre es lieber, Sie würden Ihren Antrag zurückziehen und bei Ihrem Familienkonzept bleiben. Ich glaube, dann würden wir eher zusammenkommen. Auch die CDU/CSU hat einen Sprung nach vorne gemacht, weil Frau Süssmuth in der Zuwanderungskommission mitarbeitet. Von daher wird es sicherlich am Ende mehr konkrete Gemeinsamkeiten geben als sonst. Deshalb ist die Offenlegung durch den Familienbericht - ihm liegt eine vierjährige Untersuchung zugrunde - sehr wichtig, weil er die Diskussion in der Zuwanderungskommission unterstützt. Ich betone noch einmal: Das Gesamtkonzept der Zuwanderung ist wichtig und sollte in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Das Zuwanderungsbegrenzungsgesetz der F.D.P. beinhaltete konkrete Vorschläge für eine Regulierung der Zuwanderung. Bedauerlicherweise wurde das von SPD und Grünen im Bundestag abgelehnt. Aber wie das Leben so spielt: Es wird ein neues Zuwanderungskonzept geben. Herr Dzewas, ich sage Ihnen eines: Es wird auf unser Konzept zulaufen. Es wird marginale Änderungen geben. Sie sprechen schon von Zuwanderungsaufteilung und einer jährlichen Überprüfung. All das läuft auf unser Konzept hinaus. ({5}) Von daher werden auch wir uns bemühen, dass unser alter Antrag mit in Ihr Konzept hineinkommt, damit wir wirklich gemeinsam und fraktionsübergreifend dieses Zuwanderungskonzept verabschieden. ({6}) Ich würde mich freuen, wenn die CDU die Möglichkeit sähe, noch vor der Bundestagswahl etwas zu machen. Ich möchte noch etwas zu Frau Schewe-Gerigk sagen. Sie hat die Änderung des Ausländergesetzes als Highlight dargestellt. Ich will dazu nur bemerken, dass wir den Sozialhilfeanspruch hinzugefügt haben; denn ohne diesen Sozialhilfeanspruch wäre die Änderung des Ausländergesetzes nichts. Ich freue mich, dass wir gemeinsam mit SPD und Grünen eine Mehrheit geschaffen haben. Von daher werden nicht nur Sie Ihre positiven Ergebnisse im Bundestag darstellen können, sondern auch ich werde dies für meine Fraktion machen. Dies tut weder Ihrem Antrag noch unserem Vorschlag von damals Abbruch. ({7}) Wir sind uns sicherlich einig, dass die Situation von Familien ausländischer Herkunft in Deutschland verbessert werden muss. Ich begrüße es für die F.D.P.-Fraktion, dass der Familienbericht mit einigen Vorurteilen aufräumt. Frau Bergmann hat schon einige Dinge deutlich gesagt. Ausländische Unternehmer und Unternehmerinnen schaffen nicht nur für Ausländer Arbeitsplätze, sondern auch für Deutsche. Von daher sollten wir mit diesem Thema sehr vorsichtig umgehen. Stammtischparolen sollten wir sehr genau überprüfen und uns gegen diese Stammtischparolen, die es manchmal auch in unserer Umgebung gibt, verwahren. Wichtig ist die Bildung. Die F.D.P. fordert von der Bundesregierung, dass Bildungsangebote besser auf Migrantinnen und Migranten zugeschnitten werden. Dazu finde ich in Ihrem Antrag sehr wenig. Sie hätten mit dem Antrag noch ein paar Wochen warten sollen und Substanzielles in ihn hineinschreiben sollen. Ich komme noch auf etwas sehr Merkwürdiges zu sprechen. Sie sagen, die Kenntnis der deutschen Sprache sei für die Integration maßgeblich. ({8}) Ich entgegne: Nicht nur die Kenntnis, sondern die Beherrschung der deutschen Sprache ist wichtig. Das geht, wie Sie gesagt haben, ein Stück weiter. Ganz besonders wichtig ist mir als Familienpolitikerin - auch ich bin langjährige Kommunalpolitikerin -, dass bereits im Kindergarten die Unterstützung für ausländische Kinder beginnt, dass sich ausländische Kinder bei uns zurechtfinden und Freundschaft mit deutschen Kindern schließen können. Diese Notwendigkeit sehen wir sehr deutlich. Hier muss noch einiges gemacht werden. ({9}) Auch hier ist der rot-grüne Antrag zu diesem Familienbericht in einer belanglosen Aussage stecken geblieben. Es wird nichts dazu gesagt, wie die Bundesregierung die Kommunen unterstützen will und ob es mehr Personal oder auch Schulungen für Personal, das mit Migrantenkindern arbeitet, geben wird. Wir alle wissen, dass dies sehr teuer ist. Dafür werden sehr viele Steuergelder ausgegeben. Wenn Sie solche Forderungen aufstellen, dann sollten Sie sie finanziell unterfüttern. Ich muss leider meine Ausführungen zu diesem Familienbericht kürzen. ({10}) - Was sagten Sie? Bitte wiederholen. Ich würde gerne darauf antworten. Wir als F.D.P. sagen: Kinderlärm ist Zukunftsmusik. Das gilt nicht nur für deutsche, sondern auch für ausländische Kinder. Von daher möchte ich den Blick gerade auf Kinder und Jugendliche richten, weil Kinder und Jugendliche die Zukunft sind. Das betrifft auch ausländische Jugendliche, die schon sehr lange in der Bundesrepublik Deutschland leben. Ich wollte auch etwas zu dem Entschließungsantrag zu der Richtlinie, die auch Sie problematisiert haben, und zur Green Card sagen: Wenn wir ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben wollen, nutzt uns die Green Card nichts. Wir werden den Wettbewerb mit den anderen Ländern Europas verlieren, wenn wir nicht von dem hohen Ross der Green Card heruntersteigen und endlich auf der Grundlage eines Zuwanderungsgesetzes qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Deutschland holen. Abschließend will ich sagen: Im Familienbericht haben Experten Bekanntes, aber auch Neues zusammengetragen. Neu ist für mich die gründliche Bestandsaufnahme. Wir Politikerinnen und Politiker im Bundestag und auf Ebene der Länder und Kommunen werden auf diesen Bericht antworten müssen. Wir jedenfalls werden die Bundesregierung in die Pflicht nehmen, Vorschläge zu machen. Ich glaube, nicht nur die ausländischen Familien müssen sich bewegen und auf Deutsche zugehen, sondern es muss auch andersherum gehen: Auch wir müssen uns Mühe geben, die kulturelle Andersartigkeit von Familien, die bei uns leben, zu verstehen. Es ist eine ganz interessante Sache. Wer Kontakte zu ausländischen Familien hat, weiß, wie wichtig das ist und wie sie unser Leben bereichern. ({11}) Von daher denke ich, dass dieser Familienbericht uns ein Stück weiterhelfen wird, Vorurteile abzubauen. Dazu will auch die F.D.P. beitragen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Petra Pau von der PDSFraktion das Wort.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte wird ja offensichtlich genutzt - ich finde, das ist gut so -, um auch über grundsätzliche Positionen zur Einwanderungsdiskussion, die endlich auch die Gesellschaft erreicht hat, zu sprechen. Dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist - faktisch und nicht erst in jüngster Zeit -, hat ja offensichtlich alle Parteien und zunehmend auch deren Mitglieder erreicht. Bislang sind aber aus dieser Erkenntnis keine eindeutigen Konsequenzen gezogen worden. Es gibt kein individuelles Recht auf Einwanderung, das irgendwo festgeschrieben wäre, sondern es gibt variierende Sonderregelungen. Vor diesem Hintergrund sagt die PDS: Einwanderung muss als Rechtsanspruch formuliert werden und Einwanderer müssen Rechte haben; Green oder Blue Cards oder andere bunte Karten sind dafür kein Ersatz. ({0}) In der allgemeinen Diskussion wird über verschiedene Quotenregelungen debattiert. Im günstigsten Falle bedeutet dies, ein wie auch immer legitimiertes Gremium definiert Einwanderungshöchstzahlen. Wir fordern ein Einwanderungsrecht ohne Quoten. Der einzelne Mensch mit einem Anspruch muss im Mittelpunkt stehen, und zwar nicht nur als numerische Größe. Schnell werden sonst so genannte uns nützende und so genannte uns weniger nützende Einwanderer gegeneinander aufgerechnet. Das heißt: Wer bestimmte Kriterien erfüllt, zum Beispiel die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme oder einer Ausbildung, soll auch den Anspruch haben, einzuwandern und sich niederzulassen. Dies bedeutet nicht: offene Grenzen für alle; um auch hier mit einer Illusion aufzuräumen. Völlig außerhalb jeder eingrenzenden Regelung muss der Schutz für Menschen in Not stehen. Das heißt, wer für den Fall seiner Rückkehr mit einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit rechnen muss, hat einen völkerrechtlichen Anspruch auf Schutz und Aufnahme. Ich denke, diese völkerrechtlichen Rahmenbedingungen sollten endlich auch vollständig in das deutsche Recht überführt werden. ({1}) Ich denke dabei an solche Schutzlücken wie die Verfolgung durch nicht staatliche Akteure oder die geschlechtsspezifische Verfolgung. Auch die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen außerhalb des Asylrechts darf nicht gegen sonstige Einwanderung aufgerechnet werden. ({2}) Das sind unterschiedliche Bereiche, die auch unterschiedlich zu behandeln sind. Im Mittelpunkt muss jeweils der betroffene Mensch stehen. Integration kann nur gelingen, wenn die Einwanderinnen und Einwanderer auch eindeutige Rechte haben. Deshalb treten wir für ein effektives und umfassendes Niederlassungsrecht ein, das den Menschen, die den Anspruch erwerben, sich hier niederzulassen, die Rechte einräumt, die den übrigen Bürgerinnen und Bürgern des Bundesgebietes zustehen. Lassen Sie mich noch eine zentrale These unterstreichen. Eine Einwanderungspolitik, die dem einzelnen Menschen eine klare Rechtsposition verschafft, ist auch ein Baustein gegen den Rechtsextremismus. Wenn Menschen unterschiedlicher kultureller und nationaler Herkunft gleichberechtigt in Deutschland leben, wird dem Rechtsextremismus ein großer Teil seines Nährbodens entzogen. ({3}) Es wird eben nicht mehr signalisiert: Dein Nachbar ist weniger wert, weil er weniger Rechte hat. Damit zum Familienbericht. Er ist eine wahre Fundgrube zu diesem Thema mit vielen hilfreichen Informationen, die auch in den demnächst hier zu beratenden Regelungen berücksichtigt werden sollten. Für die Diskussion über Integration ist beispielsweise die Feststellung relevant, dass ein solcher Prozess keine Einbahnstraße darstellt, sondern Anstrengungen sowohl seitens der Einwandernden als auch seitens der Aufnahmegesellschaft verlangt. Ich finde, die Feststellung im Bericht ist sehr zu begrüßen, dass das Ergebnis der Integration nicht nur von der Einstellung der Migrantenfamilien selbst abhängt, sondern „auch von ihren Handlungsmöglichkeiten. Diese werden maßgeblich von ihrer politischen Gestaltung in der Aufnahmegesellschaft beeinflusst.“ Es kommt also nicht nur darauf an, dass Migranten Integration wollen. Es kommt auch darauf an, ob die Gesellschaft es zulässt, dass sie sich integrieren. Der Bericht sieht Migrantenfamilien nicht nur als Objekte von staatlichem oder gesellschaftlichem Handeln, sondern als selbstbestimmt handelnde Subjekte, die wertvolle, für das Bestehen der Gesellschaft unverzichtbare Leistungen erbringen. Die Integration eines einzelnen Migranten wäre ohne die Leistungen einer Familie kaum denkbar: Die Integrationsleistungen in die Aufnahmegesellschaft, die in diesen Verwandtschaftsbeziehungen von Familien ausländischer Herkunft erbracht werden, wären als institutionalisierte Angebote personell und finanziell außerordentlich aufwendig und stellen damit eine wesentliche Entlastung der Aufnahmegesellschaft dar. Dieser hohe Stellenwert der Familie sollte sowohl in der Familienpolitik selbst als auch in der Ausländerpolitik, soweit Familienleben betroffen ist, eine angemessene Würdigung finden. Hervorheben möchte ich noch die „Konsequenzen und Empfehlungen für die Politik“, die in Kapitel VIII dargestellt werden. Gerade angesichts der Diskussion darüber, ob Einwanderung an den Interessen der Wirtschaft ausgerichtet werden sollte, ist die folgende Feststellung des Berichtes von hoher Bedeutung: Aus familienpolitischer Sicht ist deshalb eine einseitige Orientierung der Migrationspolitik an den Erfordernissen und Eigengesetzlichkeiten des Arbeitsmarktes kontraproduktiv. Wir sollten das zum Ausgangspunkt unserer Debatten in den nächsten Wochen zum Thema Einwanderung machen. Zum Entwurf der Richtlinie der EU-Kommission nur so viel: Natürlich geht er uns - Sie haben gehört, wie ich von Ansprüchen sprach - nicht weit genug. Aber wir begrüßen ihn sehr. Wir finden, dass die Bundesregierung hier von der Bremse gehen und dafür sorgen sollte, dass größere Rechtssicherheit und mehr Rechte für die Betroffenen zügig ins nationale Recht überführt werden, sobald sie von der EU beschlossen worden sind. Ich kann nicht verstehen, dass die CDU/CSU diese Richtlinie in Bausch und Bogen ablehnt. Dann müssten Sie auch alle Ihre familienpolitischen Positionen zur Disposition stellen. Denn Sie lehnen Kernbestandteile von tatsächlicher Familienpolitik ausgerechnet für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger ab. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel von der SPD-Fraktion.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurzeit führen wir eine Debatte, die von der Überlegung geprägt ist, wie viel Zuwanderung für uns, für die Deutschen, optimal ist. Die andere, genauso wichtige Frage lautet: Was ist optimal für die Migrantinnen und Migranten, die seit Jahren in unserem Land leben, arbeiten, lernen und hier Familien haben? Der Sechste Familienbericht unterstreicht die Notwendigkeit familienpolitischer Konsequenzen für die Familien ausländischer Herkunft. Familien ausländischer Herkunft sind und werden auch in Zukunft ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Wir erwarten von ihnen - das sagen viele -, dass sie das Grundgesetz akzeptieren. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass für diese Familien unser Grundgesetz gilt. Auch für sie hat Art. 6 unseres Grundgesetzes Gültigkeit, egal, woher sie kommen, wie lange sie hier sind und ob sie hier bleiben. ({0}) Eine faire Politik für diese Familien muss immer Querschnittspolitik sein, die weit in andere Politikfelder hineingreift. Der Bericht macht erstmalig deutlich, dass die Einwanderung nach Deutschland fast immer ein Projekt einer ganzen Familie und selten nur das einer einzelnen Person ist. Mehrere Generationen sind in unterschiedlicher Weise betroffen und sie entscheiden sich auch unterschiedlich, entweder für das Bleiben in Deutschland, für die Weiterwanderung, für die Rückkehr in das Heimatland oder für das Pendeln zwischen zwei Ländern. Familien ausländischer Herkunft sind vom deutschen Arbeits- und Dienstleistungsmarkt nicht mehr wegzudenken. Sie leisten einen ganz erheblichen Beitrag zum Wohlstand in Deutschland. Jetzt zu den einzelnen Konsequenzen, die sich aus dem Bericht ergeben: Wir müssen frühzeitig Kinderbetreuung anbieten, um die Kinder von Migrantinnen und Migranten besser zu integrieren. Dies ist vor allen Dingen eine Aufgabe der und eine Anforderung an die Kommunen. Nur so werden der spätere Schulbesuch und die Integrationsleistung insgesamt erheblich erleichtert, und zwar die der ausländischen und die der deutschen Kinder. Letztere profitieren von frühen Kontakten zu anderen Kulturen, erhalten erste Eindrücke einer fremden Sprache und erweitern ihren Horizont durch andere Möglichkeiten des Spieles, der Gesten und des Miteinander-Umgehens. Die Zweisprachigkeit wird für beide Gruppen, für die deutschen und die ausländischen Kinder, ein ganz wichtiger Punkt und eine große Kompetenz für die Zukunft darstellen. Auf das Thema Schule und Berufsausbildung will ich nicht weiter eingehen; das wird meine Kollegin Christa Lörcher machen. Frau Lenke, mit Blick auf das, was Sie gesagt haben, muss ich feststellen, dass ich etwas Bildung nachliefern muss. Der Bericht ist von der Bundesregierung nicht geheim gehalten worden. Wenn Sie unsere Vorlagenliste lesen, dann wissen Sie, dass dieser Bericht seit November auf unserer Vorlagenliste steht. ({1}) Die F.D.P.-Fraktion hätte schon im Dezember letzten Jahres mit etwas Mühe zum Beispiel einen Antrag einbringen können; dann wäre dieser Bericht hier vielleicht schon eher debattiert worden. ({2}) Wenn Sie in unseren Antrag schauen, werden Sie sehen, dass auf rund eineinhalb Seiten Bildung und Ausbildung und viele Punkte dazu angesprochen werden. Aber vielleicht haben Sie diese Seiten zufällig überblättert. Mit Blick auf ausländische Firmen und insbesondere Firmen von Migrantinnen und Migranten hier in Deutschland muss ich sagen: Wir müssen uns bemühen, dass sie sich an der dualen Berufsausbildung beteiligen, und zwar nicht nur mit Ausbildungsplätzen für ausländische, sondern auch mit Ausbildungsplätzen für deutsche Jugendliche. Ähnliches gilt für unsere Hochschulen. Wir brauchen dort mehr Internationalität, mehr Studiengänge und mehr interdisziplinäre Forschungsinstitutionen, die interkulturelle Bildung, internationale Migration, ethnische Studien, geschlechtsspezifische Fragestellungen der Migration und Integration sowie interkulturell vergleichende Familienwissenschaften zum Gegenstand haben. Daran fehlt es zurzeit in Deutschland. Deutschland hat im Vergleich zu den meisten anderen Staaten ein sehr differenziertes System aufenthaltsrechtlicher Regelungen. Jeder Status wirkt sich anders auf die Möglichkeit aus, zum Beispiel arbeiten zu dürfen oder die Familie nachziehen zu lassen. Geduldete Familien leben in Deutschland in einer unendlichen Unsicherheit, da ihr Aufenthalt alle paar Monate infrage steht und ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängert werden muss. Aber in der Praxis leben diese Familien oft jahrelang in Deutschland und wir sind diejenigen, die ihnen keine Lebensperspektive geben, weil wir keine Integrationsmöglichkeiten bieten, weil wir ihnen keine sichere Zukunft bieten. ({3}) Vor diesem Hintergrund kann ich die Erklärung des Europäischen Rates von 1999 in Tampere nur begrüßen, in der gefordert wird, eine gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sicherzustellen. In dem Richtlinienvorschlag der EU-Kommission an den Rat wird gefordert, die Familienzusammenführung in Zukunft zu erleichtern und die diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen zu vereinfachen. Der Vorschlag der Kommission beinhaltet nicht, wie es von der CDU/CSUFraktion immer gerne dargestellt wird, die Möglichkeit eines unkontrollierten Zustroms nach Deutschland. Die Voraussetzungen für den Nachzug der Familie sind im Vorschlag der Kommission definiert: eine Aufenthaltsdauer von einem Jahr, ausreichender Wohnraum für die Familie, Krankenversicherung auch für die Familienmitglieder sowie feste und ausreichende Einkünfte. ({4}) Der Vorschlag zielt auf die Zusammenführung der so genannten Kernfamilie ab. Nun möchte ich auf die im CDU/CSU-Antrag erhobene Forderung nach Erhöhung des Nachzugsalters zu sprechen kommen, über die heute auch debattiert wird. Ich habe große Probleme, mir vorzustellen, wie Sie das familienpolitisch bewerten wollen. Können Sie mir erklären, wie Kinder, die gerade einmal etwas älter als zehn Jahre sind - diese müssen nach Ihren Vorstellungen im Herkunftsland bleiben -, eigentlich ihr Leben gestalten sollen und wie Sie das mit Art. 6 des Grundgesetzes vereinbaren wollen? Sind Sie etwa der Meinung, dass dieser Grundgesetzartikel nur für so genannte deutsche Familien gilt? ({5}) Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auch noch auf die Situation binationaler Familien lenken. Sie unterscheidet sich von der deutscher Familien in vielen wichtigen Bereichen. Schon allgemein gelten für den ausländischen Partner bzw. die Partnerin nicht durchgängig die gleichen Rechte. Aber in Fällen von Trennung und Scheidung ist die rechtliche Situation besonders prekär, da der nicht deutsche Elternteil unter Umständen um seine Aufenthaltserlaubnis fürchten muss. Zwar ist im neuen Kindschaftsrecht das Recht des Kindes auf beide Elternteile besonders hervorgehoben worden. Wenn es aber auch für ausländische Eltern gelten soll, dann bedarf es der Änderung der Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz. Der Begriff des Kindeswohls findet sich im Ausländergesetz nicht. Ich denke, das müsste eigentlich ein Punkt sein, der alle Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker, egal, von welcher Fraktion, zueinander bringt. ({6}) Darüber hinaus werden binationale Familien häufig mit einem abwehrenden und diskriminierenden Verhalten der Behörden bei der Beantragung zum Beispiel von Visa zur Familienzusammenführung oder zum Besuchsaufenthalt konfrontiert. Vielleicht ist es bei Ihnen so wie bei mir: Ich erhalte relativ häufig Briefe von Menschen, die darunter leiden, dass ihnen die Eheschließung wegen des Verdachts der Scheinehe grundsätzlich verweigert wird, selbst wenn Kinder da sind, oder von denen die Vorlage von unzulässigen Erklärungen und Versicherungen verlangt wird. Lange Bearbeitungszeiten sind in gewisser Weise noch ein Glücksfall; denn dann gibt es noch Möglichkeiten, sich einzuschalten. Aber es kann doch nicht normal sein, dass sich die Betroffenen erst an Bundestagsabgeordnete wenden müssen, um das ihnen zustehende Recht auf faire Behandlung zu bekommen. ({7}) Ein besonderes Problem sind die sich in Deutschland illegal aufhaltenden Migrantinnen und Migranten. Illegal darf nicht gleichbedeutend mit rechtlos sein. Auch für illegal Eingereiste gelten Grundrechte. Sie müssen zum Beispiel Zugang zur gesundheitlichen Versorgung und zur Bildung haben. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, verweist zu Recht auf Art. 2 unseres Grundgesetzes, wonach jeder Mensch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat. Ebenso dürfen wir, wenn wir unser Grundgesetz ernst nehmen, Kindern von illegalen Flüchtlingen den Schulbesuch nicht verweigern. ({8}) Ich hoffe, dass wir den mutigen und hilfswilligen Ärzten, Lehrern, Schuldirektoren und Jugendamtsmitarbeitern nicht länger das Risiko zumuten werden, sich strafbar zu machen, wenn sie sich für die Betroffenen einsetzen. ({9}) Ich komme zum Schluss. Der Sechste Familienbericht war mehr als nötig. Der Bericht zeigt, wie komplex das Gebiet ist, wie vielfältig die Migrationshintergründe, die Kulturen und vor allem die einzelnen Menschen selbst sind. Bei der Diskussion um Zuwanderung und Integration werden immer wieder viele Vermutungen geäußert, die nicht auf Tatsachen, sondern auf Angst, Nichtwissen und Vorurteilen beruhen. Damit räumt der Familienbericht grundsätzlich und sehr konstruktiv auf. Dabei konnten die Mitglieder der Sachverständigenkommission nur auf sehr wenig vorhandenes Material zurückgreifen. Das zeigt, dass wir in Deutschland in Zukunft sehr viel genauer analysieren müssen, um den Menschen, die hierher gekommen sind und die hier leben, zu entsprechen. Den Sachverständigen kann ich daher nur meine Bewunderung und auch meinen Dank für diese sehr schwierige und wichtige Arbeit aussprechen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Strobl für die Fraktion der CDU/CSU.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Bundesrepublik Deutschland leben 7,3 Millionen Ausländer. Das entspricht einem Anteil von 9,3 Prozent an der Wohnbevölkerung und ist damit der höchste Ausländeranteil aller Länder der Europäischen Union, in der der Durchschnitt bei 4,8 Prozent liegt. Prozentual leben in der Bundesrepublik Deutschland also doppelt so viele Ausländer wie in den anderen Ländern der Europäischen Union. Allein diese Zahl stellt klar: Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. ({0}) Das ist auch wichtig so, weil die Ausländer auch Selbstständige sind. Sie schaffen damit Arbeitsplätze und leisten einen Beitrag zur kulturellen Vielfalt in unserem Land. Ich weiß aber auch, dass Ausländer zu einem überproportionalen Teil an der Arbeitslosigkeit beteiligt sind. Sie sind überproportional häufig Sozialhilfeempfänger und ihr Anteil an der Kriminalitätsstatistik beträgt ein Vielfaches ihres Anteils an der Bevölkerung. Daraus folgt: Wir alle können von einem gewissen, für Integration verträglichen Maß an Zuwanderung profitieren. Zuwanderer können die Wirtschaft beleben. Sie verrichten oft Tätigkeiten, für die wir deutsche Arbeitnehmer nicht mehr gewinnen können. Sie sind auch als Facharbeiter in vielen Branchen gefragt. Zuwanderer können unser Leben, die kulturelle Vielfalt bereichern. Sie können auch einen Beitrag dazu leisten, die Sozialsysteme in unserem Land zu stabilisieren. Andererseits müssen wir zur Kenntnis nehmen - die Zahlen belegen dies eindeutig -, dass wir es in hohem Maße mit einer Zuwanderung von solchen Ausländern zu tun haben, die in unser Land kommen, weil ihnen der Sozialstaat eine Versorgung in einem Maß garantiert, das sie in ihren Herkunftsländern nicht einmal durch Arbeit erreichen können. Dies ist ein Faktum, das wir sehr wohl zur Kenntnis nehmen müssen. Wir müssen klar und deutlich sagen, dass dies eine Zuwanderung darstellt, die wir uns in diesem Ausmaß in der Zukunft nicht mehr leisten können und nicht mehr leisten wollen. ({1}) Wenn dem so ist, dann liegt es in unserem ureigensten Interesse, mehr als bisher darauf zu achten, wer aus welchen Gründen in unser Land kommt. Dann liegt es doch auf der Hand, in Zukunft mehr auf fachliche Qualifikation, auf Integrationsbereitschaft von Zuwanderern zu setzen. Übrigens, Herr Kollege Veit, liegt dies nicht nur im Interesse der Deutschen. Dies liegt auch im Interesse der vielen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland, die sich seit Jahren integriert haben. Die CDU/CSU hat jetzt ein Konzept vorgelegt, wie wir uns eine geregelte Zuwanderung, eine verbesserte Integration vorstellen. Wir haben ein geschlossenes, ein schlüssiges Konzept und es gibt eine große Übereinstimmung zwischen CDU und CSU. Wir sagen, es muss gelingen, den steuerbaren Teil der Zuwanderung mehr, als dies bisher der Fall war, nach den Bedürfnissen von Wirtschaft und Gesellschaft, aber vor allem auch nach der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft und der Integrationswilligkeit der Zuwanderer, die zu uns kommen wollen, zu bestimmen. Wir müssen in Zukunft mehr als in der Vergangenheit eine nachhaltige Integration der hier berechtigterweise lebenden Zuwanderer bewerkstelligen. Wir müssen von denjenigen, die zu uns kommen, in Zukunft mehr die Bereitschaft abverlangen, sich zu integrieren, unsere Sprache zu erlernen und sich zu unserer Verfassung zu bekennen. Das ist selbstverständlich. Die Steuerung der Zuwanderung ist auch das entscheidende Ziel einer zukünftigen gesetzlichen Regelung in diesem Bereich. Nur wenn es gelingt, mehr als bisher darauf Einfluss zu nehmen, wer in unser Land kommt und zu welchem Zweck, können wir auf eine schnellere Integration der in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger hoffen. Dies ist im Übrigen keine ideologische Frage, sondern eine mit kühlem Kopf pragmatisch zu lösende Frage, die eine nachhaltige Wirkung auf die deutsche Bevölkerung hinsichtlich ihrer Akzeptanz der Zuwanderung hat. Wenn dem so ist, dann ist der Weg, den die vorliegende EU-Richtlinie zum Familiennachzug gehen möchte, falsch. ({2}) Damit sollen die Voraussetzungen, die den gesetzlichen Anspruch auf Familiennachzug begründen, durch Rechtsansprüche massiv erweitert werden. Das müssen wir aus nationalem, aus deutschem Interesse ablehnen. Wir hören in vielen Reden des Bundesinnenministers sowie des Bundeskanzlers - auch Sie kennen diese Reden -, dass wir ein Zuwanderungsgesetz brauchen, das die Zuwanderung nach Deutschland besser regelt. Das ist richtig. Aber „regeln“ heißt auch: begrenzen, steuern und kontrollieren. „Regeln“ heißt nicht, diejenigen Tatbestände, die eine ungeregelte Zuwanderung vorsehen, beliebig auszuweiten. Je mehr diese Tatbestände nämlich ausgeweitet werden - das geschieht durch die EU-Richtlinie zweifellos -, desto weniger kann Zuwanderung tatsächlich geregelt werden. Was bedeutet die EU-Richtlinie konkret, wenn sie umgesetzt würde? Erstens. Künftig sollen auch Personen mit einer nur befristeten Aufenthaltsgenehmigung das Recht zur Familienzusammenführung haben. Das heißt, dass etwa ein Student, der eine Aufenthaltsgenehmigung für nur ein Jahr hat, seine Familie nachreisen lassen kann. Zweitens. Die Nachzugsberechtigung soll nicht nur für die so genannte Kernfamilie, also für den Ehepartner und für die Kinder bis zum 16. Lebensjahr, sondern auch für Verwandte in aufsteigender Linie, also für Eltern, Großeltern und ebenfalls für volljährige Kinder, die für ihren Lebensunterhalt nicht selbst aufkommen können, gelten. Wir wollen - übrigens aus Gründen der Integration - das Nachzugsalter senken und es nicht anheben.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, gerne.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Strobl, aufgrund Ihrer Ausführungen gehe ich davon aus, dass Sie über eine veraltete Fassung der Richtlinie reden; jedenfalls sprechen Sie nicht über die Fassung vom 21. Mai 2001. ({0}) Vielleicht würden Sie so freundlich sein, dies zur Kenntnis zu nehmen und den Inhalt Ihrer Ausführungen danach auszurichten, was jetzt, also 2001, relevant ist, und nicht, was 1999 oder 2000 relevant war. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Strobl, Sie haben das Wort.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frage war anders gestellt. - Ich verfüge durchaus über die aktuelle Fassung. Herr Kollege Veit, wenn Sie sich noch eine Minute gedulden, dann werden Sie feststellen, dass ich zu diesem Punkt etwas sagen werde. Wir erkennen durchaus an, dass gegenüber dem, was ursprünglich geplant war, Fortschritte erzielt worden sind. ({0}) - Bitte sehr. Drittens. Es würden auch nicht eheliche Lebensgemeinschaften aller Art eine Nachzugsberechtigung begründen. Das bedeutet nicht nur, dass dem Missbrauch mehr als bisher Tür und Tor geöffnet wird, sondern auch eine massive Aushöhlung des Familienbegriffs gemäß Art. 6 unserer Verfassung. ({1}) Das ist mit uns, der CDU und der CSU, nicht zu machen. Eine Familie ist für uns nicht zwingend eine homosexuelle Lebensgemeinschaft. Eine Familie ist für uns nicht zwingend das Zusammenleben von Unverheirateten. Wie ich jüngsten Zeitungsberichten entnehmen kann - jetzt komme ich auf das, was der Kollege Veit angesprochen hat -, hat der Europäische Rat der Innen- und Justizminister diesen Punkt der Richtlinie konkret behandelt. Es sieht danach aus, dass man sich in Brüssel in der Frage des Erhalts der Kernfamilie den deutschen Interessen annähert. Wir würden eine Einigung in diesem Sinne natürlich ausdrücklich begrüßen. Sie wissen, dass Sie in den Verhandlungen auf europäischer Ebene hier auf die Unterstützung von CDU und CSU zählen können, hoffentlich auch auf die in Ihren eigenen Reihen. Thomas Strobl ({2}) Die Frage muss schon erlaubt sein: Kann es angesichts der demographischen Entwicklung in Deutschland eigentlich irgendjemanden geben, der ernsthaft befürwortet, dass auch den Eltern und Großeltern von Zuwanderern im Rahmen des Familiennachzugs ein Rechtsanspruch auf Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland gewährt wird? Viertens. Die Richtlinie beinhaltet den sofortigen und freien Zugang aller Nachgezogenen zum Arbeitsmarkt. ({3}) Das ist angesichts der angespannten Arbeitsmarktlage in unserem Lande, der flauer werdenden Konjunktur und der katastrophalen Beschäftigungspolitik dieser Regierung unverantwortlich. Fünftens. Zukünftig soll es Ansprüche auf Familienzusammenführung ohne Nachweis ausreichenden Wohnraums, eines Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Einkünfte geben. Das ist im Hinblick auf unser angespanntes Sozial- und Rentensystem indiskutabel und mit CDU und CSU nicht zu machen. Was wird uns von Rot-Grün geboten? Sie wollen einen Zuwanderungskonsens, sind aber bis heute nicht in der Lage, uns zu sagen, was Sie eigentlich wollen. Zur EU-Familiennachzugsrichtlinie sagt der sozialdemokratische Bundesinnenminister Schily laut „FAZ“ vom 6. Dezember 2000 - ich zitiere -: Die Realisierung der Familienzusammenführungsrichtlinie würde dazu führen, dass sich die Zahl der nach Deutschland ziehenden Familienmitglieder, derzeit jährlich 70 000 bis 100 000 Personen, womöglich verdreifacht. Unter sochen Bedingungen bleibt für Einwanderung aus anderen Gründen kein Raum. Ich finde: Recht hat er. Deswegen spricht sich der Bundesinnenminister für kontrollierte und begrenzte Zuwanderung aus. Man hört immer wieder, dass er die Bereiche der nicht regelbaren Zuwanderung so weit wie möglich begrenzen möchte. Recht hat er. Schön wäre allerdings, wenn der Bundesinnenminister diese Aussagen auch im Parlament zur Diskussion stellen würde, damit wir im Deutschen Bundestag seine Position festhalten können. ({4}) Aber selbst wenn Herr Schily dies täte, würde das wenig nützen; denn er stünde im rot-grünen Regierungslager recht allein auf weiter Flur. ({5}) Das ist schade. Machen wir uns doch nichts vor: Der Bundesinnenminister hat bei Rot-Grün schon lange keine Mehrheit mehr. Die Frage, die sich stellt, ist: Was haben Wählerinnen und Wähler von Rot-Grün zu erwarten? Schon in der ersten Lesung am 18. Januar hat der SPD-Kollege Veit der Richtlinie in nahezu allen Punkten zugestimmt. Er sagte - ich zitiere aus dem Protokoll -: ... Sie sollten sich ... langsam daran gewöhnen, dass ... der Innenminister Otto Schily mit seinen Positionen einigen Länderinnenministern oder auch den Kollegen hier aus der CDU/CSU-Fraktion größere Freude als seinen eigenen Parteigenossen ... macht. Dem ist nichts hinzuzufügen. Damit wird auch klar, warum sich die SPD so schwer tut, eine Position in dieser Frage zu erarbeiten. Man kann sich nämlich nicht einigen. ({6}) Was sind die Aufsätze und Worte des Bundesinnenministers wert angesichts der Tatsache, dass die grüne und die sozialistische Fraktion im Europäischen Parlament dem EU-Richtlinienentwurf, den der Bundesinnenminister in großen Teilen ablehnt, einstimmig, also auch mit den Stimmen der deutschen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, zugestimmt haben? Wie will der Bundesinnenminister eigentlich ohne ein eigenes Konzept der Regierung und ohne Unterstützung der eigenen Fraktion auf EU-Ebene wirkungsvoll verhandeln und auf eine Veränderung des Richtlinienentwurfs hinwirken? ({7}) Sie müssen endlich akzeptieren, meine Damen und Herren von Rot-Grün, dass die Bevölkerung nicht mehr bereit ist, sich einreden zu lassen, dass Zuwanderung etwas ist, was ungesteuert und ungebremst hingenommen werden muss. Wer verantwortungsvoll Zuwanderungspolitik machen will, der darf die Rechtsansprüche, die ungesteuerte Zuwanderung bedeuten - wie diese EU-Richtlinie zum Familiennachzug -, nicht weiter ausweiten, sondern muss sie möglichst begrenzt halten, um mehr Gestaltungsfreiheit zu haben. Gerade wenn wir sagen, wir wollen und brauchen ein gewisses Maß an Zuwanderung und dass wir in Zukunft ein höheres Maß an interessengeleiteter Zuwanderung haben wollen und müssen, dann macht es keinen Sinn, uns durch eine derartige Ausweitung des Familiennachzuges, wie hier vorgesehen, die Möglichkeiten einer gestalteten Zuwanderungspolitik abzuschneiden. CDU und CSU haben ein ausgewogenes Konzept vorgelegt. Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, haben kein Konzept. Sie sind sich offensichtlich nicht einig. Sie befinden sich dadurch auf EU-Ebene in einer schlechten Verhandlungsposition. Es ist sicher richtig, wie es auch im Amsterdamer Vertrag gefordert wird, ein europäisches Zuwanderungskonzept zu erarbeiten. Diese isolierte Richtlinie zum Familiennachzug soll jedoch nur einen kleinen Teil der Zuwanderung regeln. Das ist Stückwerk und widerspricht dem Bestreben, ein Gesamtkonzept zu erarbeiten, weil wichtige Entscheidungen vorweggenommen werden. Wir fordern insbesondere den Herrn Bundesinnenminister auf, seinen Worten Taten folgen zu lassen und sich für seine Forderungen auch auf politischer Ebene einzusetzen. Wir sind für eine europäische Zuwanderungspolitik, aber nicht um jeden Preis. Wir sind schon gar nicht für eine Politik, die derart eklatant gegen die eigenen, gegen Thomas Strobl ({8}) die deutschen Interessen verstößt. Deshalb lehnen wir die EU-Richtlinie ab. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, Kollegin Marieluise Beck. Marieluise Beck, Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Strobl, ich bin doch einigermaßen erschrocken, dass Sie, nachdem wir nun eine Vorlage haben und uns über die gesellschaftliche Gestaltung von Migration auseinander setzen könnten, nichts anderes als parteipolitisches Geplänkel präsentieren. ({0}) Wie schade um die Zeit, die Sie auch für Ihre Fraktion verschenken, statt sie sinnvoll auszufüllen! Sie versuchen ja seit einiger Zeit, für sich zu reklamieren, dass Sie im Bereich Integrationspolitik wirklich etwas machen wollen. Offensichtlich gibt es in Ihrem Konzept noch viele Leerstellen, sonst hätten Sie nicht zu den Hilfsmitteln des Geplänkels und Filibusterns greifen müssen. ({1}) Ich bin sehr froh, dass das Familienministerium mit diesem Sechsten Familienbericht die Möglichkeit genutzt hat, etwas genauer in unsere Gesellschaft hineinzuschauen. ({2}) Es hat in seinem Bereich untersucht, was Einwanderung - gottlob beginnt sich endlich die Erkenntnis durchzusetzen, dass diese bereits seit 40 Jahren eine Realität darstellt - für die Menschen, die hier hergekommen sind, bedeutet. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass, obwohl die alte Regierung immer gesagt hat, Deutschland sei kein Einwanderungsland, und deswegen auch keine systematische Integrationspolitik betrieben hat, trotzdem in hohem Maße Integration stattgefunden hat. Die Menschen haben nämlich die Sache in die eigenen Hände genommen; gerade die Familien, die nach Deutschland eingewandert sind, haben große Leistungen vollbracht. ({3}) Sie haben die Schwierigkeiten und Verunsicherungen, die sich durch die Zuwanderung und dadurch, dass man sich neu orientieren musste, ergaben, gemeistert. Es besteht immer die Tendenz, bei der Aufnahme von Ausländern den Blick auf die aufnehmende Gesellschaft und die sich dort ergebenden Schwierigkeiten und Herausforderungen zu richten. Es ist sehr gut, dass die Perspektive gewechselt worden ist und wir uns jetzt klarmachen, welche großen sozialen Leistungen auf der anderen Seite vollbracht worden sind - und das, wie gesagt, obwohl es keine systematischen Integrationsangebote gab und bis zum heutigen Tag nicht gibt. Wir werden lange brauchen, bis es systematische Integrationsangebote gibt, weil Gemeinden, Länder und der Bund gefragt sind, wir sehr viele Defizite haben und auch Gespräche mit den Finanzministern nötig sind. Dies muss auf allen Ebenen geschehen. Es darf nicht darum gehen, sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben, was in der Politik ja gern gemacht wird. Ich möchte einen Bereich herausstellen: Wir sind uns alle einig, dass Sprache ein zentraler Baustein für die Brücke in die Gesellschaft ist. Nach Beginn der Diskussion über dieses Thema ging es sehr schnell um die Frage: Zwang oder Freiwilligkeit? Ich möchte Ihnen noch einmal sehr deutlich sagen, dass zurzeit für nur 10 Prozent der Neuzuwanderer Sprachunterricht angeboten wird. 90 Prozent der Neuzuwanderer verweisen wir auf Wartelisten. Rechnen wir den Bestand ein, also die Menschen, die bereits in den vergangenen Jahren zugezogen sind, dann kommen wir gar zu dem Ergebnis, dass wir für nur 0,3 Prozent der Ausländer Sprachunterricht anbieten. Das ist ein ganz, ganz großes Defizit, das wir auf der Angebotsseite haben. Es ist Nebelwerferei, wenn man so tut, als ob diese Ausländer nicht bereit gewesen seien, in Kurse zu gehen und wir sie deswegen jetzt dazu zwingen müssten. Damit vertuschen wir, dass viele Jahre lang auf der Angebotsseite unglaublich große Defizite bestanden haben und immer noch bestehen. ({4}) Über diese Sache müssen wir reden. Wenn es Ihnen wirklich um das Schließen so großer Lücken geht, wenn Sie eine ernsthafte Opposition sind und nicht so tun, als käme das Geld aus der Steckdose, ({5}) werden Sie mit uns erkennen, dass wir in diesem Bereich eine große gesellschaftliche Aufgabe vor uns haben, die alle föderalen Ebenen betrifft. Denn wie gesagt, es kann nicht um ein Schwarzer-Peter-Spiel gehen. ({6}) Das Zweite, was ich anmerken möchte: Wenn wir über Integrationspolitik sprechen, müssen wir auch über rechtliche Bedingungen sprechen. Dass im Bundesrat der Vorschlag des Kabinetts, die Kindereinbürgerung nach § 40 b des Staatsangehörigkeitsgesetztes noch einmal für zwei Jahre zu ermöglichen, von den unionsregierten Ländern zurückgewiesen worden ist, ist ein Skandal. Denn das Angebot auf Einbürgerung ist ein Angebot an die jungen Menschen, sich in diese Gesellschaft zu integrieren. Dass Sie diesem Ziel Knüppel zwischen die Beine werfen, bedeutet, dass Sie es mit der Integrationspolitik nicht wirklich ernst meinen. ({7}) Thomas Strobl ({8}) Ein dritter Bereich, auf den ich unbedingt noch hinweisen möchte, betrifft ebenfalls die rechtlichen Bedingungen. Chancengleichheit schaffen heißt auch, Zugang zu Bildung und Ausbildung zu ermöglichen. Eine große Zahl von Jugendlichen lebt hier im Status der Duldung, manchmal schon über zehn oder zwölf Jahre. Ich habe vor kurzem einen libanesischen Jugendlichen getroffen, der jetzt den Realschulabschluss macht, danach aber keine Ausbildung beginnen darf, weil er keinen Arbeitsmarktzugang hat. Wir produzieren auf diese Art und Weise eine verlorene Generation. ({9}) Wir diskutieren über die Notwendigkeit der Zuwanderung von außen, weil wir qualifizierte Kräfte brauchen, aber verstellen die Möglichkeit, dass sich junge Menschen, die hier sind, qualifizieren. ({10}) Bitte helfen Sie mit, dass wir in diesem Haus möglichst schnell gemeinsam diesem Missstand entgegentreten, damit wir jungen Menschen, die in Deutschland bleiben werden, eine Zukunft geben können, statt sie ganz bewusst außerhalb der Gesellschaft zu stellen. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Christa Lörcher.

Christa Lörcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Redezeit möchte ich nutzen, um einige Gedanken zum Familienbericht zu äußern. Er dokumentiert die Situation von Menschen, die zu uns gekommen sind: Männer, Frauen, Kinder, ältere Menschen - aus verschiedenen Ländern, mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen, unterschiedlichen Motiven, mit verschiedener Nationalität, Religion und Kultur. Sie leben bei uns mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus, unterschiedlichen Kenntnissen der deutschen Sprache und mit sehr unterschiedlichen Perspektiven. Vielfalt - das ist eine der Botschaften dieses Familienberichts - ist eine Bereicherung unserer Gesellschaft, Vielfalt stärkt die Fähigkeit zu Innovation in Kultur und Gesellschaft, Vielfalt eröffnet die Möglichkeit, voneinander zu lernen und gesellschaftliche Gegebenheiten gemeinsam weiterzuentwickeln. ({0}) Vielfalt ist längst Realität in Deutschland und in anderen Ländern Europas: Zwischen 1950 und 2000 kamen rund 31 Millionen Menschen zu uns, etwa 22 Millionen verließen das Land. Die Nettozuwanderung betrug rund 9 Millionen, also im Durchschnitt dieser 50 Jahre etwa 180 000 Menschen pro Jahr. Wie gehen wir damit um? Welche Chancen haben Kinder und ihre Familien bei uns, wenn sie als Spätaussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion kommen, als Flüchtlinge oder Asylsuchende aus den Krisenregionen der Welt? Welche Chancen haben Migranten und Migrantinnen auf unserem Arbeitsmarkt? Welche Möglichkeiten haben sie, ihre Familien nachziehen zu lassen? Der Familienbericht hat diese und andere Fragen untersucht. Er betont: Familien brauchen Perspektiven. Gerade Perspektiven sind für Familien ausländischer Herkunft oft nicht oder nur ungenügend gegeben. Es fehlen sichere rechtliche Rahmenbedingungen für das Leben in diesem Land, es fehlen Kenntnisse der deutschen Sprache und im Umgang mit den Behörden, es fehlt die Möglichkeit des Zugangs zu Bildungsgängen oder sozialen Diensten, es fehlt die Chance zu gleichberechtigtem Zusammenleben. Der Bericht gibt aber auch Auskunft über die großen Potenziale, die mit Migration und Migrationserfahrungen verbunden sind. Ein Zuwachs an innerfamiliären Aufgaben bringt mehr an Entscheidungskompetenzen und Autonomie, was gerade die Rolle von Frauen - darauf ist mehrfach hingewiesen worden - entscheidend verändern kann. Diese Ressourcen zu stärken ist nötig und sinnvoll, sowohl für die Lebenssituation der eigenen Familie und sozialen Umgebung wie auch für die aufnehmende Kultur und Gesellschaft. Wie lebt die Bevölkerung bei uns in einer sich so verändernden Gesellschaft? Ein Kindergarten oder eine Schule mit 90 Prozent ausländischen Kindern - geht das? Lernen die Kinder überhaupt noch etwas? Ist das unsere Zukunft? Es ist in manchen Gemeinden unseres Landes Gegenwart. Vor Jahren besuchten Mitglieder der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ einen Kindergarten und eine Schule mit solch einem hohen Ausländeranteil in Kelsterbach bei Frankfurt am Main. Welche Probleme es gebe, wollten einige wissen. Probleme gibt es dort, wo die Familie von Armut oder Arbeitslosigkeit betroffen ist, wenn Alkohol oder andere Drogen die Situation beeinträchtigen, war die Antwort. Soziale Notlagen, Armut und Arbeitslosigkeit sind das, was Probleme macht und Ängste vergrößert. Deshalb muss ein Schwerpunkt unserer Politik darin liegen, soziale Gerechtigkeit zu fördern. Kinder lernen miteinander und voneinander. Sie sollten - auch das ist mehrfach gesagt worden - so früh wie möglich die Chance dazu haben. Das ist eine der Botschaften des Familienberichts. Noch immer - das wissen wir - liegt die Quote der Bildungsabschlüsse bei Kindern und Jugendlichen ausländischer Herkunft hinter der eines Altersjahrgangs insgesamt. Noch immer liegt der Anteil ausländischer Jugendlicher, die sich an einer dualen Ausbildung beteiligen, bei weit weniger als der Hälfte, während von den deutschen Jugendlichen - unsere Ministerin hat es gesagt - immerhin zwei Drittel eines Jahrgangs eine Ausbildung aufnehmen. Deshalb ist Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit eine der zentralen Forderungen, nicht nur in diesem Bericht. Dafür brauchen wir interkulturelle Kompetenz bei pädagogischen und sozialen Berufen, bei Polizei, öffentlichem Dienst oder den Berufen im Gesundheitswesen. Beauftragte der Bundesregierung Marieluise Beck Wir haben in unserem Antrag darauf hingewiesen und wir werden das weiter verfolgen. Die Demographen sagen uns, dass beides unbedingt nötig ist: Wir brauchen Migration, Menschen, die gern zu uns kommen und bei uns bleiben wollen, weil sie eine Perspektive für sich und für ihre Familie sehen, und wir brauchen eine so gute Familienpolitik, dass Frauen und Männer Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren können und gern mit Kindern leben. ({1}) Schritte dazu haben wir in den letzten zwei Jahren gemacht, weitere folgen. Integration wird in allen Migrationskonzepten als Schlüsselbegriff genannt und gefordert. Ziel ist es, dass sowohl die zuwandernden wie auch die ansässigen Menschen offen füreinander sind und dass sie gemeinsam und gleichberechtigt für die kommenden Generationen an einer Zukunft arbeiten. Es ist eine große Aufgabe, die uns der Familienbericht stellt. Den Autoren sage ich herzlichen Dank; uns allen wünsche ich Glück und Erfolg bei der Arbeit an den Konzepten und bei der Vermittlung. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte spricht nun der Kollege Rüdiger Veit für die SPD.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die CDU-Kollegen hier einerseits gewisse Gegensätzlichkeiten innerhalb einer anderen großen Volkspartei meinen geißeln zu müssen, sich dann aber andererseits der eine hier hinstellt, von der Fortschrittlichkeit des CDU-Zuwanderungskonzeptes spricht und uns gleichzeitig auch noch klarmacht, das sei schon immer die alte Denke gewesen - ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf Ihrem Parteitag; ob das dort genauso gesehen wird, weiß ich nicht -, und anschließend der andere, Herr Strobl, kommt und uns mit ganz alten Schemata das alte Lied erzählt: „Die Mauern müssen hochgezogen werden; wir leiden an Überfremdung“. Und dies alles geschieht ausgerechnet beim Thema Familie, das Sie gerade in dieser Woche zu einem der drei wichtigen Schwerpunktthemen Ihrer Politik in der nächsten Zeit erklärt haben. ({0}) Wenn die CDU/CSU sorgfältig gearbeitet hätte - darauf bezog sich der Gegenstand meiner Nachfrage, Herr Kollege Strobl -, dann hätten Sie festgestellt, dass die Richtlinie, über die Sie sprechen, gar nicht mehr existiert. Die zweite und korrigierte Fassung vom Oktober 2000 ist durch die von mir erwähnte Fassung vom 21. Mai 2001 ersetzt worden. Das ist nicht nur in der Zeitung nachzulesen gewesen. Wenn ich das früher gewusst hätte, hätte ich Ihnen empfohlen, diese Richtlinie noch einmal selber nachzulesen. Sie hätten festgestellt, dass große Teile Ihrer Angriffe völlig fehlgehen, ja zum Teil Inhalte - leider, wie ich sagen muss - so verändert worden sind, dass sie nicht mehr im Sinne einer sozialdemokratischen Partei sind. ({1}) - Der Bundesinnenminister hat an den entsprechenden Beratungen vom 28./29. Mai dieses Jahres mitgewirkt. Ich bin jetzt nicht in der Lage, Ihnen genau zu sagen, was dort im Einzelnen beraten worden ist. Aber ich empfehle Ihnen die entsprechende Drucksache ganz besonders deswegen zum Studium, weil darin dokumentiert ist, welche europäischen Staaten zu welchen Dingen noch Nein sagen, zu welchen sie Ja gesagt haben und bei welchen sie noch Vorbehalte haben. Ich will Ihnen sagen, warum ich es sehr bedauere, dass Sie keine Veranlassung gesehen haben, Ihren Antrag einfach zurückzuziehen: Selbst die Kommission, die Herr Schily ins Leben gerufen hat und die von Frau Süßmuth geleitet wird, sagt in ihrem Bericht ausdrücklich - auch wenn er noch vorläufig und nur im Internet nachzulesen ist -, sie begrüße grundsätzlich diese Richtlinie zur Familienzusammenführung. Dann werden einige differenzierende Bemerkungen gemacht, die wiederum schon in der Neufassung berücksichtigt sind. Ich will Ihnen sagen, warum ich es sehr bedauere, dass in dieser Richtlinie verschiedene Änderungen vorgenommen worden sind: Es gab in der alten Fassung den Rechtsanspruch der wenigen in Deutschland anerkannten minderjährigen Flüchtlinge, unter Umständen auch Geschwister und Eltern aus ihrem Heimatland hierher kommen zu lassen. Dies bedeute also eine Familienzusammenführung hier bei uns in Deutschland für ganz wenige anerkannte minderjährige Flüchtlinge - und dies mit gutem Recht, wie ich finde. Diesen Rechtsanspruch für die Fälle, in denen die familiäre Gemeinschaft für solche Kinder und Jugendliche nicht im Herkunftsland bzw. in ihrer Heimat hergestellt werden kann, sondern nur in dem Land, in dem sie Schutz und Aufnahme gefunden haben, hätte man auch weiter ausgestalten können. Ich nenne Ihnen einmal eine Größenordnung - obwohl die Zahl dabei nicht das Entscheidende ist -: Es wäre dabei vielleicht um 200 junge Leute gegangen. Als früherer Kommunalpolitiker sage ich noch ein Weiteres: Welches ist denn die Alternative? Anerkannte minderjährige Flüchtlinge, die keine Angehörigen haben, werden hier in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht. Das kostet die Kommunen im Monat bis zu 8 000 DM. Da finde ich es in jeder Hinsicht, und zwar humanitär, wirtschaftlich und bevölkerungspolitisch, wesentlich besser, wenn diese jungen Leute dann hier mit ihren Familien leben können - und das auf Dauer. Das hätte jedenfalls ich mir gewünscht. ({2}) Ich will mich einmal mit der Frage des Nachzugsalters auseinander setzen. Es ist eigentlich schon sehr bemerkenswert - Sie haben das unerwähnt gelassen; Sie wissen es vielleicht auch nicht und deshalb sage ich es hier -, welche verschiedenen Variationen wir bereits heute in unserem Rechtssystem haben: Bei Ausländern im Allgemeinen gilt das maximale Nachzugsalter von 16 Jahren, bei anerkannten Asylbewerbern und Flüchtlingen von 18 Jahren und bei im Ausland lebenden Kindern von Deutschen von ebenfalls 18 Jahren. Wenn aber ein EU-Staatsbürger seine Kinder nachholen will, dann gilt nach dem Recht seines Heimatstaates ein maximales Nachzugsalter von 21 Jahren. Jetzt kommen Sie her und sagen: Wir wollen, dass das Nachzugsalter auf zehn Jahre abgesenkt wird; denn das hat ja mit Integration zu tun. - Auch diese Argumentation übersieht völlig, dass nach dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht die ganze Thematik, die Ihnen da vorschwebt, längst vom Tisch ist. Sie denken an die Jugendlichen - vielleicht vorzugsweise türkische -, die in Deutschland geboren wurden, von ihren Eltern dann in die angestammte Heimat geschickt werden und erst spät zurückkommen. Aber ich darf Ihre geschätzte Aufmerksamkeit einmal darauf lenken, dass alle nach dem 1. Januar 2000 in Deutschland geborenen Kinder ausländischer, sich hier seit zehn Jahren rechtmäßig aufhaltender Eltern als Inländer bzw. als Deutsche ohne Anwendung des Ausländergesetzes mit der größten Selbstverständlichkeit und Berechtigung von ihren Eltern in welches Ausland auch immer geschickt und zu dem Zeitpunkt zurückgeholt werden können, zu dem sie das für richtig halten. ({3}) - Das ist kein Fehler. Diese Selbstbestimmung müssen Sie schon denjenigen überlassen, die als ausländische Kinder hier geboren werden und damit die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben. Im Übrigen ist auch das ein Gesichtspunkt, den Sie gern in dem alsbald veröffentlichten Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung nachlesen können. Lassen Sie mich noch Folgendes sagen: Bestandteil des Antrages von Sozialdemokraten und Grünen zum Familienbericht sind eben auch Hinweise darauf, dass wir die Richtlinie zur Familienzusammenführung - ich sage einmal: in ihrer Ursprungsform vom Oktober 2000 begrüßen. Wir sagen aber auch, dass die so genannten Kettenduldungen, die den Menschen hier keine Perspektiven geben, die verhindern, dass sie Arbeit aufnehmen können, die bewirken, dass sie weiter von Sozialstaatsleistungen abhängig sind, ein für alle Mal abgeschafft und durch einen vernünftigen Aufenthaltsstatus ersetzt werden müssen, der ihnen auch die Aufnahme von Arbeit ermöglicht. ({4}) Ich will am Schluss sagen: Am 30. September 1999 hat der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit den Beschluss gefasst, die Bundesregierung möge die Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention zurücknehmen. Ich würde mir - ich werde nicht müde zu glauben, zu hoffen und zu wünschen - wünschen, dass die Beauftragte der Bundesregierung für den Weltkindergipfel, Anke Fuchs, auf diesem sagen kann: Dieser Wunsch auch von Sozialdemokraten ist in Erfüllung gegangen. Der Vorbehalt ist zurückgenommen. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Familienzusammenführung sachgerecht regeln - EU-Richtlinienvorschlag ablehnen“, Drucksache 14/5808, Tagesordnungspunkt 7 a. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4529 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Bei Tagesordnungspunkt 7 b und Zusatzpunkt 7 wird interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4357 und 14/5266 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit einverstanden. Die Überweisungen sind so beschlossen. Der Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6169 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie zur Mitberatung an den Innenausschuss, an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, an den Rechtsausschuss und an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2000 ({0}) - Drucksache 14/5400 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss Interfraktionell ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vereinbart worden. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Dr. Willfried Penner, das Wort. Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch dieser Bericht des Wehrbeauftragten ist inhaltlich keine Zustandsbeschreibung der Bundeswehr. Er ist der Sache nach ein Mängelbericht, ohne dass er auf positive Akzente verzichtet. Zu vielen Einzelheiten muss ich auf meinen schriftlichen Bericht verweisen, namentlich auf meine Bemerkungen zur Ost-West-Besoldung, aber auch zum Sanitätswesens. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich das Parlament insgesamt bitten, sich der folgenden Probleme mit dem Ziel der Lösung besonders anzunehmen: Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr auf dem Balkan steht auch die dafür gebotene Motivation der Soldaten in Rede. Diese kann nach meiner Überzeugung nur gehalten werden, wenn Parlament und Regierung darauf verweisen können, dass sich der Sinn des Einsatzes nicht darauf beschränkt, durch militärische Präsenz Unruhen zu unterbinden und damit eine erneute Massenflucht zu verhindern. Es geht also auch um politische Perspektiven, und die kann das Militär nicht schaffen. ({1}) Für die Soldaten sind diese nicht erkennbar, wenn Pioniere dort den Müll der Bevölkerung beseitigen, sie deshalb von der Bevölkerung mehr und mehr als Müllkutscher wahrgenommen werden und überdies auf ausreichende Hygienevorkehrungen bei der Verrichtung ihrer Tätigkeit verzichten müssen, wie mir das ein deutscher Soldat vor kurzem an Ort und Stelle geschildert hat. Im Einsatz sind die großen und die kleinen Sorgen nicht zu unterschätzen. Dafür nur einige Beispiele: Erstens. Inakzeptabel ist die Unterbringung von mehr als zwei Soldaten in einem Container mit einer Wohnfläche von circa 12,7 Quadratmetern für sechs Monate. ({2}) Solche Bedingungen wären schon nach den Regeln des Vollzugsrechtes für Strafgefangene in grauer Vorzeit unzulässig gewesen, umso weniger können sie für Soldaten unter den besonderen Bedingungen eines schwierigen und belastenden Einsatzes hingenommen werden. ({3}) Zweitens. Die rechtlich nicht zu tadelnde Überprüfung des Auslandsverwendungszuschlages durch dafür zuständige Beamte der Ministerialbürokratie hat insbesondere auch deswegen bei Soldaten Verständnislosigkeit, ja Fassungslosigkeit ausgelöst, weil zur gleichen Zeit heftige Unruhen in Mazedonien ausbrachen. Das muss künftig vermieden werden. ({4}) Drittens. Die militärisch wohl begründete Dauer der Einsatzkontingente von sechs Monaten wird insbesondere für junge Familienväter in der letzten Phase der Verwendung zu einem herben Thema. ({5}) Es betrifft ja nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien und wirkt sich daher doppelt belastend gegen Soldaten aus. Insgesamt gesehen sollte das gesamte Parlament und nicht der Verteidigungsausschuss allein vielleicht noch deutlicher und häufiger als bisher zu erkennen geben, dass es den Dienst der Soldaten gerade im Einsatz schätzt. Die Soldaten haben sich diese Anerkennung durch vorzügliche Leistungen und durchweg tadelsfreies Auftreten auch verdient. ({6}) Stichwort Bundeswehrreform: Sie hat gewiss viele Aspekte. Die Soldaten wissen, dass es dabei auch um Geld, um viel Geld geht. Sie wissen: Ohne Geld gibt es kein Material, gibt es keine ordentliche Instandsetzung, gibt es auch kein Attraktivitätsprogramm. Ohne Geld, das wissen sie, gibt es keinen Abbau des Beförderungs- und Verwendungsstaus. Aber die Soldaten wissen auch, dass über eine zureichende Finanzausstattung der Bundeswehr politisch zu entscheiden ist, weil dies mit dem politischen Auftrag verzahnt ist. Darauf müssen sie auch vertrauen können. ({7}) Viertens. Im Übrigen wird die beste Veränderung, die bestgemeinte Strukturreform der Bundeswehr kaum nutzen, wenn die davon betroffenen Menschen nicht beteiligt werden, sondern sie diese nur über sich ergehen lassen. Gerade im Hinblick auf die persönlichen Konsequenzen für die Soldaten und ihre Familien ist Planungssicherheit geboten. Sie müssen sich alsbald auf mögliche Veränderungen einrichten können. ({8}) Das zu gewährleisten gehört auch zur fürsorgerischen Pflicht der militärischen und politischen Führung gegenüber Soldaten und deren Familien. ({9}) Die seit Jahresbeginn mögliche uneingeschränkte Verwendung von Frauen in der Bundeswehr ist eine historische Zäsur, übrigens nicht nur für die Bundeswehr allein, sondern wahrscheinlich auch für die Gesamtgesellschaft, nachdem bisher Frauen nur im Sanitäts- und Musikdienst Dienst leisten konnten. Ersten Eindrücken zufolge scheint die zweimonatige Grundausbildung keine besonderen Schwierigkeiten zu bereiten. Bei Truppenbesuchen in Einheiten, in denen Frauen ihre Grundausbildung absolvieren, wurde berichtet, dass diese in ihren Leistungen mit denen der männlichen Kameraden mithalten. Bei Ausbildungsabschnitten wie zum Beispiel Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner dem Marsch mit Gepäck sind Frauen teilweise im vorderen Leistungsbereich vertreten gewesen. ({10}) Bei der Auswahl der Ausbilder für die Grundausbildung hat sich die militärische Führung nach meiner Einschätzung von besonders hohen Qualitätsansprüchen leiten lassen. Dies hat sicherlich zum guten Gelingen in der Anfangsphase beigetragen. Die eigentliche Bewährungsprobe für die Integration der weiblichen Soldaten kommt jedoch bei späteren Verwendungen, wenn nur noch einige wenige gemeinsam in einer Einheit Dienst tun. Das Nebeneinander von Mann und Frau in den Streitkräften wird übrigens nicht von einem zum anderen Tag selbstverständliche Routine sein, ganz im Gegenteil wird es auch Schwierigkeiten geben, die aber gemeistert werden können. Dabei hilft Offenheit und schadet Beschönigung oder gar Vertuschung. So müssen gerade Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung rückhaltlos und ohne Ansehen der Person aufgeklärt werden, so bittere Erkenntnisse damit auch verbunden sein mögen. ({11}) Das immer noch anhaltende enorme öffentliche Interesse - besonders des Fernsehens - wird teilweise als lästig und belästigend empfunden. Dazu stelle ich fest: Die Soldaten sind nicht Objekt der Mediengesellschaft und dürfen es bei aller gebotenen Offenheit für Veränderungen in der Gesellschaft auch nicht werden. ({12}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Plage des Rechtsextremismus hat vor den Kasernentoren nicht Halt gemacht. Mit der Art der Vorkommnisse und den Tätergruppen, mit den Zahlen und Tendenzen setzt sich der Jahresbericht 2000 detailliert auseinander. Nach den bisherigen Zahlen des Jahres 2001 zu urteilen, wird im Jahr 2001 eine ähnliche Lage zu verzeichnen sein wie im Vorjahr. Das Militärische - das ist uns bekannt - löst beim Rechtsextremismus bekannte Begehrlichkeiten aus. Deshalb ist ständige Aufmerksamkeit geboten. Denn eine Armee ist nicht per se demokratisch. Die Strukturen für Demokratie müssen lebendig sein, namentlich die innere Führung muss lebendig sein, damit es den Staatsbürger in Uniform auch wirklich geben kann. ({13}) Das ist und bleibt ein wirksamer Schutz für die demokratische Beschaffenheit der Armee. Aber - um nicht missverstanden zu werden - auch das ist meine Überzeugung: Die Bundeswehr ist nicht anfällig für Rechtsextremismus und wird schon gar nicht davon zersetzt. Sie ist eine demokratische Armee in einem demokratisch verfassten Staat. Abstrakte Gefährdungen durch Rechtsextremismus sind aber unabweisbar. Nach Lage der Dinge ist die Bundeswehr darauf eingestellt. Die militärischen und politischen Führer sind sich ihrer besonderen Verantwortung gerade bei der Meisterung dieses Themas bewusst. Aus gegebenem Anlass muss aber festgestellt werden: Ein guter und förderungsgeeigneter Soldat kann nicht sein, wer sich rechtsextremistisch verhält, auch wenn seine soldatischen Leistungen in Ordnung sind. ({14}) Nicht nur im Zusammenhang mit der Wehrstruktur ist immer wieder von mieser Stimmung in der Truppe zu hören. Offen und von mir persönlich gesagt: Das klingt mir allzu sehr nach psychologisierender Befindlichkeit. Ich für meinen Teil möchte dies nicht zur Grundlage von Bewertungen machen. Was das aus meiner Sicht schon aufschlussreichere Thema „Motivation oder deren Fehlen“ angeht, so wäre es grundverkehrt, hierbei die alleinige Verantwortung der Vorgesetzten einzufordern. Menschenführung und innere Führung stoßen an Grenzen, wenn die Material- und Ersatzteillage so mängelbehaftet, wie sie ist, fortbesteht und wenn der Einsatz auf dem Balkan und anderswo die Truppe im Inland zunehmend strapaziert, ({15}) selbstredend auch dann, wenn die Zukunftsperspektive für Soldaten verschwimmt und der Beförderungs- und Verwendungsstau eine für viele belastende Tatsache bleibt. Allein in den letzten Monaten haben erneut zahlreiche Soldaten in Eingaben ihre tiefe persönliche Enttäuschung über die tatsächlichen Möglichkeiten ihres Fortkommens geschildert. Hierzu nenne ich drei Beispiele. Erstes Beispiel: Ein 55-jähriger Major, der seit 34 Jahren Soldat ist, steht seit 16 Jahren im heutigen Dienstgrad. Er übt seinen Dienst seit drei Jahren auf einem Oberstleutnantsdienstposten aus und schreibt: Zu jedem Quartalsbeginn hoffe ich vergeblich auf eine Beförderung, muss aber nur Bekundungen des Mitgefühls von allen Seiten erleben. Ich fühle mich im Stich gelassen und meine: Dies habe ich nicht verdient. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Zweites Beispiel: Ein Oberleutnant zur See versieht seinen Dienst seit langem auf einem höherwertigen Dienstposten, ohne befördert worden zu sein. Das Ausbleiben der Beförderung ist für einen Zeitraum von einigen Monaten und nicht von über drei Jahren, wie das in diesem Fall geschehen ist, nachvollziehbar. Drittes Beispiel: Ein Hauptfeldwebel, seit 29 Jahren Soldat, steht seit 15 Jahren im derzeitigen Dienstgrad. Trotz großen Engagements, belegt durch mehrere Anerkennungen und Bestpreise, blieb eine Beförderung aus. Ihm wurde dann in Aussicht gestellt, noch so rechtzeitig Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner vor seinem Ruhestand zum Stabsfeldwebel befördert zu werden, dass sich dies auf jeden Fall auf seine Versorgungsbezüge auswirke. Er schrieb mir dazu: Was für eine Aussage - das schafft Motivation! Auch dem habe ich nichts hinzuzufügen. Um es klar zu sagen: Alle diese Fälle habe ich überprüft. Überall wurden die in der Bundeswehr allgemein gültigen Verfahren zur Bewertung und Beurteilung korrekt durchgeführt. Es ist jeweils mit rechten Dingen zugegangen. Trotzdem: Die tief sitzende Enttäuschung dieser Soldaten kann ich gut verstehen. Sie sind die Betroffenen fehlender Planstellen, knapper Kassen und der Folgen vorangegangener, noch nicht bewältigter Strukturreformen. Die Unwägbarkeiten in der Laufbahn und das Gefühl des Ausgeliefertseins auf dem persönlichen Lebensweg verunsichern heute viele Soldaten, wenn sie an die bevorstehenden Veränderungen der Bundeswehr denken. So mancher - das habe ich selbst erfahren - stellt sich heute die Frage, ob es richtig war, Berufssoldat zu werden. Auf die Nachwuchswerbung, die junges und hoch qualifiziertes Personal in die Truppe bringen soll, wirft dies Schatten. Das kann man nicht einfach auf sich beruhen lassen. Es muss gegengesteuert werden, weil auch davon die Qualität der Bundeswehr in der Zukunft abhängt. ({16}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Parlament als Ganzes, nicht allein der Verteidigungsausschuss und die Verteidigungspolitiker, wird sich der Sorgen der Parlamentsarmee und der Sorgen der Soldaten verstärkt annehmen müssen. ({17}) Die Bundeswehr darf nicht in ein Motivationsloch fallen und sich schon gar nicht an objektiven Schwierigkeiten aufreiben. Es besteht Anlass, sich vertieft um die Bundeswehr zu kümmern. Schönen Dank für die Geduld. ({18})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich danke dem Wehrbeauftragten. Nunmehr gebe ich dem Kollegen Werner Siemann für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.

Werner Siemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003236, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mein Bedauern darüber ausdrücken, dass der Minister der Verteidigung an dieser sehr wichtigen Debatte heute nicht teilnimmt und sich die klaren Worte des Wehrbeauftragten nicht angehört hat. ({0}) Der heute zu beratende Wehrbeauftragtenbericht 2000 bereichert die anhaltende öffentliche Debatte und gewährt interessante Einblicke in den inneren Zustand der Bundeswehr, um die es nach Aussagen des Verteidigungsministers gar nicht so schlecht bestellt sein sollte. Zum Amtsantritt im Oktober 1998 äußerte er voller Stolz - ich zitiere -: Mit so weitreichenden Zusagen ist bisher noch kein Verteidigungsminister auf die Hardthöhe gegangen. Vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch die Frage, wieso in dem noch zurückhaltend geschriebenen Bericht des Wehrbeauftragten, dem heute sehr klare Worte gefolgt sind - ich möchte ihm bereits an dieser Stelle für seine Arbeit danken -, so viele eklatante Mängel aufgelistet sind, die auf die massive Unterfinanzierung der Bundeswehr zurückzuführen sind. Die Antwort auf diese Frage ist banal und hinlänglich bekannt. Die Zusagen wurden nicht eingehalten, mit der Konsequenz, dass die Bundeswehr unter rot-grüner Verantwortung ungebremst gegen die Wand gefahren wird. ({1}) Mit der Bundeswehrreform wollte Minister Scharping die Bundeswehr umstrukturieren, modernisieren und rationalisieren - dies alles bei fallender Finanzlinie und ohne Anschubfinanzierung. Nach wie vor verkennt die Bundesregierung, dass Rationalisierungs- und Modernisierungsgewinne sowie Einsparungen aufgrund von Personalreduzierungen erst mittelfristig erwirtschaftet werden können. Es ist nicht nachzuvollziehen, warum das Bundeskabinett zwar eine Streitkräftereform beschließt, sich aber dann verweigert, wenn es um die Finanzierung geht. Von Tag zu Tag wird deutlicher, dass die Bundeswehrreform ohne eine solide Finanzierung zum Rohrkrepierer wird. Eine nüchterne Analyse rot-grüner Verteidigungspolitik kommt zu folgenden drei Ergebnissen: Erstens. Noch nie wurde der Bundeswehr so viel Geld entzogen wie unter Minister Scharping. Zweitens. Noch nie wurden Zusagen gegenüber einem Verteidigungsminister so ungeniert gebrochen wie unter Finanzminister Eichel. Drittens. Noch nie war die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr so gefährdet wie unter der Regierung Schröder. ({2}) Ein Blick auf die Material- und Ersatzteillage der Bundeswehr sowie deren Probleme bei der Nachwuchsgewinnung machen dies mehr als deutlich. Allein im laufenden Haushaltsjahr fehlen der Bundeswehr für den unabdingbaren Materialerhaltungsbedarf nach internen Berechnungen der Hardthöhe insgesamt 378 Millionen DM. Seriöse Schätzungen gehen von einem Haushaltsfehlbetrag von 2 bis 3 Milliarden DM aus, und zwar mit steigender Tendenz. Noch in der von Bundesminister Scharping zu verantwortenden Stellungnahme des Ministeriums zum Wehrbeauftragtenbericht 1998 heißt es: ({3}) Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner - Herr Gilges, ich weiß ja, dass Sie schreien können; gehen Sie doch vor die Tür und machen Sie das nicht hier. ({4}) Durch die Verstärkung der Haushaltsmittel für die Materialerhaltung 1997/98 ist eine ausreichende Verfügbarkeit des Wehrmaterials zur Durchführung einer auftragsorientierten Ausbildung erreicht. Die Truppe wurde mit ausreichenden Haushaltsmitteln für die Materialerhaltung ausgestattet. Mit anderen Worten: Die jetzige katastrophale Material- und Ersatzteillage ist einzig und allein auf die mangelnde Handlungsfähigkeit der rot-grünen Bundesregierung zurückzuführen. ({5}) Ähnlich dramatisch sieht die Situation bei der Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr aus. Wie aus dem Wehrbeauftragtenbericht ersichtlich ist, ging die Zahl der Bewerber für die Offizierslaufbahn um 10 Prozent zurück. Wir müssen in den nächsten Jahren damit leben, dass uns 12 000 Berufs- und Zeitsoldaten fehlen werden. Durch widersinnige Regelungen, insbesondere durch die Möglichkeit einer abschnittsweisen Ableistung des Wehrdienstes, wird diese Tatsache noch verstärkt. Sie wissen, dass die Möglichkeit der abschnittsweisen Ableistung des Wehrdienstes dazu führen wird, dass sich diese Soldaten nicht mehr als FWLDer werden verpflichten können. Gerade die freiwillig Längerdienenden sind eine wesentliche Säule des neuen Bundeswehrkonzepts. ({6}) Die im Wehrbeauftragtenbericht aufgeführten Beispiele sprechen eine erschreckend deutliche Sprache, wie es um den Zustand der Bundeswehr bestellt ist: Wenn Soldaten der Bundeswehr aufgrund der katastrophalen Material- und Ersatzteillage an Fotos ausgebildet werden müssen, weil das vorhandene Gerät im Ausland ist, besteht dringender Handlungsbedarf. Wenn durch den radikalen Finanzentzug die Bundeswehr aufgrund mangelnder Zukunftsaussichten und unübersehbarer Mängel bei Ausrüstung und Versorgung mit massiven Nachwuchsproblemen zu kämpfen hat und sich die Zahl der Kriegsdienstverweigerer auf erschreckend hohem Niveau etabliert, besteht akuter Handlungsbedarf. Wenn loyale Offiziere bei offiziellen Tagungen mit dem Minister harsche, aber berechtigte Kritik an der Bundeswehrreform üben, wenn hoch angesehene ehemalige Generale und Admirale anmahnen, die jetzt beschlossene Reform sei ohne Anschubfinanzierung nicht umzusetzen, diese aber von der Regierung verweigert wird, besteht dringender Handlungsbedarf. Wenn unsere amerikanischen Verbündeten in nie dagewesener Dringlichkeit einen höheren deutschen Verteidigungsbeitrag einfordern, ({7}) damit Deutschland im Rahmen einer fairen Lastenteilung seinen umfangreichen Verpflichtungen gegenüber den NATO- und EU-Partnern nachkommen kann, besteht akuter Handlungsbedarf. Wenn erstmals in der Geschichte der Bundeswehr die Etatvoranmeldung für den Verteidigungshaushalt nicht von der Hardthöhe, sondern vom Finanzministerium erstellt werden muss, besteht dringender Handlungsbedarf. Wenn dann auch noch der höchste militärische Berater der Bundesregierung, Generalinspekteur Harald Kujat, der Bundeswehr die Einsatzfähigkeit abspricht und selbst der Verteidigungsminister feststellen muss, dass die Streitkräfte weder voll europa- noch bündnisfähig sind, und das Finanzloch allein für das nächste Jahr auf 2,7 Milliarden DM beziffert, kann die Krise der Streitkräfte nicht länger ignoriert oder, schlimmer noch, schöngeredet werden, wie es seit Monaten die rot-grüne Koalition versucht. ({8}) Wenn man nun aber hört, dass die Bundeswehr ab 2003 500 Millionen DM mehr als ursprünglich vorgesehen erhalten soll, so muss ich sagen, dass das nicht mehr als ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft ist und mich fatal an die nicht eingehaltene Zusage zum Amtsantritt des Ministers erinnert. Was muss noch passieren, damit diese Bundesregierung begreift, dass sie die Bundeswehr ungebremst vor die Wand fährt, wenn sie so weitermacht? Als stärkste Industrienation und als bevölkerungsreichstes Land Europas hat Deutschland die Pflicht, einen verantwortungsvollen Beitrag zum Frieden und zur Stabilität der Welt zu leisten. Die Bundesregierung muss sich endlich zu dieser Pflicht bekennen und den groß angekündigten Worten Taten folgen lassen. Dass die radikalen Haushaltskürzungen nicht zu verantworten sind, haben wir eben schon vom Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages gehört. Der Wehrbeauftragte und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmen darin überein, dass das gebetsmühlenartig angekündigte Attraktivitätsprogramm endlich umgesetzt werden muss. „Wo bleiben die seit langem angekündigten Vorlagen?“ möchte man den Minister fragen, wenn er anwesend wäre. Die Soldaten und ihre Familien, die Zivilangestellten und ihre Familien, aber auch wir warten darauf. Die fortwährende Unterfinanzierung der Streitkräfte wuchert wie ein Krebsgeschwür an lebenswichtigen Organen der Truppe. Nach und nach verspielt der Verteidigungsminister durch seine wenig Vertrauen erweckende Politik und durch die nicht eingehaltenen Ankündigungen das größte Gut der Bundeswehr: die Motivation und Leistungsbereitschaft unserer Soldaten. Die Moral der Truppe wird erheblichen Schaden nehmen, wenn sie nicht das dringend benötigte Medikament in Form einer hoch dosierten Finanzspritze verabreicht bekommt. Ein aktueller Bericht des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, der uns diese Woche zeitgerecht erreichte, spricht im Übrigen Bände: Die im Auslandseinsatz befindlichen Soldaten fühlen sich im Stich gelassen, weil ihnen nicht die größtmögliche Unterstützung gewährt wird. Verantwortlich dafür ist allein dieser Minister; verantwortlich dafür ist allein diese Regierung. ({9}) Nur durch ein solides finanzielles Fundament können viele der im Bericht des Wehrbeauftragten aufgeführten Mängel gemildert werden und kann die Bundeswehr ihre volle Einsatzfähigkeit zurückgewinnen. Nur durch ein solides finanzielles Fundament kann Deutschland seinen internationalen Verpflichtungen gerecht und können die Streitkräfte wieder als Arbeitgeber für junge Menschen attraktiv werden. Schaffen Sie endlich die dafür notwendigen Voraussetzungen! Das wollte ich Ihnen zum Abschluss sagen. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Walter Kolbow, das Wort.

Walter Kolbow (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001175

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Dr. Penner! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Siemann, Bundesminister Scharping ist wegen der zeitlichen Verschiebung der Debatte in Kollision mit unabänderlichen Terminen geraten. ({0}) Er hat sich beim Wehrbeauftragten dafür entschuldigt und hat mich gebeten, dies dem Hause mitzuteilen; dem komme ich hiermit nach. ({1}) Der Wehrbeauftragte hat eingangs gesagt, sein Bericht sei naturgemäß ein Mängelbericht und keine Zustandsbeschreibung. Er hat Recht: Dieser Bericht soll Unzulänglichkeiten, individuelles Fehlverhalten und strukturelle Defizite in der Bundeswehr aufzeigen. Sein besonderer Wert liegt in der unabhängigen Berichterstattung an das Parlament, aber auch darin, dass er der politischen und militärischen Führung immer wieder Ansatzpunkte für Verbesserungen gibt. Der Bundesminister für Verteidigung und das Ministerium insgesamt nehmen diesen Bericht ernst. Ich denke, andere - also auch jene außerhalb der Sach- und Fachverständigen in Regierung und Parlament - sollten das ebenfalls tun. ({2}) Im vorliegenden Bericht werden aber auch positive Entwicklungen in den Streitkräften angesprochen. Die Erkenntnisse des Wehrbeauftragten in Gänze decken sich im Wesentlichen mit denen des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Bundeswehr leidet unter den Folgen jahrelanger Unterfinanzierung und ausgebliebener Modernisierungsmaßnahmen in den 90er-Jahren. ({3}) Eine Bugwelle von aufgeschobenen Investitionen lässt kaum Handlungsfreiheit. Größe, Struktur und Ausrüstung der Streitkräfte sind den neuen Aufgaben nicht angemessen. ({4}) Von 1994 bis 1998 wurden - das sage ich zum wiederholten Mal - dem Verteidigungsetat durch globale Minderausgaben und durch Haushaltssperren 3 Milliarden DM entzogen. ({5}) Die Bundeswehr ist von daher noch immer durch eine Reihe personeller, materieller und struktureller Verwerfungen gekennzeichnet. Der Personalbestand ist insgesamt überaltert, die Soldaten leiden unter Beförderungs- und Verwendungsstaus. Die Situation bei den als persönlich dramatisch einzuschätzenden Fällen, die der Wehrbeauftragte hier vorgetragen hat, ist nicht innerhalb der Jahre 1999 und 2000 entstanden. Wir konnten die Mängel noch nicht beseitigen; das ist einzuräumen. Wir werden das aber tun. ({6}) Auch dass das Schlüsselpersonal hohe Belastungen auszuhalten hat und dass die nicht immer leistungsgerechte Besoldung zu Motivationsverlusten sowie zu Schwierigkeiten bei der Nachwuchsgewinnung führt, sind Tatsachen, die uns aber anspornen, die Missstände zu beseitigen. Veraltete Waffensysteme und fehlende Ersatzteile beschränken die Einsatzbereitschaft im Inland und führen zu einem unvertretbar hohen Aufwand bei der Materialerhaltung. Der hohe Betriebsaufwand verhindert Investitionen in neue Ausrüstung. Unzweckmäßige Kompetenzverteilungen, unzeitgemäße Führungs-, Verwaltungs- und Beschaffungsverfahren sowie unzureichende und nicht kompatible Informations- und Kommunikationstechniken binden knappe Ressourcen. Hier müssen neue Wege beschritten werden. Durch unsere Bemühungen, durch Verstärkung der Einnahmenseite, wollen wir neue Mittel für die Beseitigung dieser Mängel freisetzen. Wir fordern Sie auf: Gehen Sie diese Wege mit! Sorgen Sie für deren Akzeptanz! ({7}) Es ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass diejenigen, die früher neue Wege gesucht haben - nicht immer schlecht; ganz im Gegenteil, sie haben ihre Pflicht getan -, durch diese Veränderungen Stress befürchten und, gelegentlich sogar im Parlament, an alten Zöpfen festhalten wollen. Bei Soldatinnen und Soldaten und deren Angehörigen führen diese Defizite zu Unsicherheit und Motivationsverlust. Eine Vielzahl der im vorliegenden Bericht des Wehrbeauftragten genannten Mängel, die Dr. Penner hier eindrucksvoll belegt hat, findet hier ihren Ursprung. Aufbauend auf der Bestandsaufnahme dieser Defizite wurde die Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf eingeleitet. Ziel ist es, Auftrag, Umfang, Organisation, Ausrüstung und Mittel wieder in Balance zu bringen. In vielen Teilbereichen wurde die Umsetzung der Reform bereits eingeleitet. Wir verzeichnen überall dort kontinuierlich Fortschritte, wo wir investieren: in die Menschen und ihre Fähigkeiten, in die Ausrüstung und ihre Leistungsfähigkeit sowie in die Wirtschaftlichkeit und Effizienz von Beschaffung und Betrieb. Die eingeleiteten Reformmaßnahmen haben bewusst den Anspruch, den Mensch in den Mittelpunkt zu stellen. So soll die Attraktivität des Dienstes durch eine Reihe von Maßnahmen erhöht werden. Das Sechste Besoldungsänderungsgesetz und das Artikelgesetz über die Neuausrichtung der Bundeswehr sind auf den Weg gebracht, um dazu beizutragen, dass die Motivation der aktiven Soldatinnen und Soldaten erhalten und dauerhaft qualifizierter Nachwuchs gewonnen werden kann. ({8}) Keine Reform dieser Dimension - auch das weist der Bericht des Wehrbeauftragten aus - verläuft ohne Schwierigkeiten; darüber wird nicht nur in den Ausschüssen, sondern auch in der Öffentlichkeit diskutiert. Von den Soldatinnen und Soldaten wird viel verlangt. Es ist ihnen auch in der Vergangenheit viel zugemutet worden. Die Truppe wird die Reformmaßnahmen durchführen müssen und gleichzeitig ohne Unterbrechung in internationalen Einsätzen gefordert bleiben. Nur motivierte Soldatinnen und Soldaten werden unter diesen Voraussetzungen engagiert und mit neuen Ideen den Wandel mitgestalten. Die Bundeswehr erwartet, dass in Politik und Gesellschaft Verständnis für ihre besonderen Belastungen vorhanden ist und die Maßnahmen zur Abfederung der negativen Folgen des Strukturwandels auch akzeptiert werden. Dieses Verständnis, Herr Wehrbeauftragter, kommt in dem vorliegenden Jahresbericht deutlich zum Ausdruck. Lassen Sie mich noch einen Themenbereich des vorliegenden Berichtes aufgreifen, dem sich auch der Wehrbeauftragte zugewandt hat und der in der Öffentlichkeit besondere Beachtung gefunden hat, nämlich rechtsextremistische und fremdenfeindliche Vorfälle in der Bundeswehr. Der Wehrbeauftragte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bundeswehr eine demokratische Armee ist. Sie ist beileibe nicht rechtsextremistisch. Aber als Teil der Gesellschaft bleibt die Bundeswehr von problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen naturgemäß nicht ausgenommen. Als Wehrpflichtarmee ist sie durch ständige personelle Fluktuation geprägt. Die derzeitige Tendenz zu extremistischen Denkweisen, zu Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft nimmt die Bundeswehr sehr ernst. Diese Bestrebungen stehen in krassem Gegensatz zu allem, wofür die Bundeswehr eintritt. Der Anstieg der Zahl der gemeldeten besonderen Vorkommnisse mit Verdacht auf einen entsprechenden Hintergrund um 62 auf 196 im Vergleich zum Vorjahr kann nicht ohne weiteres als Indikator für eine Zunahme rechtsextremistischer oder fremdenfeindlicher Gesinnung der Soldaten gesehen werden. Vielmehr wird an diesen Zahlen auch die wachsende Sensibilisierung und das Bestreben von Vorgesetzten und Soldaten deutlich, Auswüchsen auch schon bei kleinsten Anzeichen offensiv zu begegnen. Demokratische Grundwerte und Respekt vor der Würde des Menschen sind für die überwältigende Mehrheit der Soldaten die Grundlage ihres Verhaltens, ob im Einsatz oder zu Hause. Das wird an der großen Sensibilität, die unsere Kontingente bei der Friedenssicherung zeigen, und an der Vorreiterrolle deutlich, die die Bundeswehr durch die Wehrpflicht bei der Integration von jungen Menschen ausländischer Herkunft spielt. Die Bundeswehr bietet Extremisten keinen Nährboden. Sie wird auch in Zukunft ihrer besonderen Verantwortung für unsere Demokratie gerecht werden. ({9}) Herr Dr. Penner, ich danke Ihnen sowie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den ausgewogenen, konstruktiven und, wo notwendig, kritischen Bericht. Wir haben vernommen, dass Sie ausgeführt haben, es bestehe Anlass, sich verstärkt um die Bundeswehr zu kümmern. Dazu fordert auch der Bundesminister der Verteidigung die Gesellschaft, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, auf. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Hildebrecht Braun für die Fraktion der F.D.P. das Wort.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Das deutsche Parlament diskutiert heute über den Bericht des Beauftragten des deutschen Parlaments für die Bundeswehr. Die SPD-Fraktion, die die größte Fraktion des Hauses ist, schickt als Hauptredner den Vertreter der Bundesregierung an das Rednerpult, die für die Missstände verantwortlich ist, die der Wehrbeauftragte in seinem Bericht anprangert. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang. ({0}) Wir sind stolz auf die Institution des Wehrbeauftragten und danken Ihnen, Herr Dr. Penner, dafür, dass Sie das Amt von Ihrer Vorgängerin vor einem Jahr problemlos übernommen und in kurzer Zeit das Vertrauen der Soldaten gewonnen haben. Wie dankbar wären viele Soldaten, aber auch viele Familien in anderen Ländern, wenn es dort einen Wehrbeauftragten des Parlaments gäbe, an den sich jeder Soldat direkt mit Beschwerden wenden kann. Mir liegt ein nagelneuer Bericht der Soldatenmütter von Sankt Petersburg vor, den diese für die Vereinten Nationen, aber auch für dieses Parlament erstellt haben. Dieser erschütternde Bericht über Vorkommnisse im Bereich der russischen Armee macht deutlich, was alles in einem noch immer ziemlich autoritär regierten Land speziell mit Wehrpflichtigen geschehen kann, wenn es praktisch keine öffentliche Kontrolle der Armee durch das Parlament gibt. Ich werde den Soldatenmüttern in Sankt Petersburg in Kürze versichern, dass wir deutschen Parlamentarier in allen Kontakten mit Russland darauf drängen werden, dass auch in diesem wichtigen europäischen Nachbarland ein Wehrbeauftragter bestellt wird, der schon durch seine Existenz, aber natürlich auch durch seine kritischen Berichte und Stellungnahmen für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte auch in der russischen Armee sorgen wird. ({1}) Herr Penner, Sie haben Ihre Aufgabe als Vertreter der Soldaten gegenüber dem Parlament sehr weit gefasst und öffentlich sehr kritische Fragen zur Beibehaltung der Wehrpflicht gestellt. Ich gebe zu, ich war erstaunt über Ihre Äußerungen, wie wohl viele hier im Parlament. Ich will mich auch gar nicht zu Sinn oder Unsinn, zu Überflüssigkeit oder Notwendigkeit der Wehrpflicht äußern. Ich finde es aber richtig, dass Sie auch öffentlich auf die Probleme hingewiesen haben, die sich nicht zuletzt durch die anhängigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang ergeben können. ({2}) Sie haben Ihr verantwortungsvolles Amt in einer Zeit des Umbruchs übernommen. Die Bundeswehr gewöhnt sich daran, eine Einsatzarmee zu sein. Gegenden, die früher den meisten Deutschen überhaupt nicht bekannt waren - Kosovo, Bosnien-Herzegowina -, kennen mittlerweile mehr als 70 000 deutsche Soldaten aus längeren Aufenthalten sehr gut. Ihre Schilderung der Situation der Soldaten vor Ort bestätigt das, was wir als Mitglieder des Verteidigungsausschusses dort erlebt haben. Die Bedingungen der Unterbringung werden besser, die Ausrüstung auch. Das Engagement unserer Soldaten ist beispielhaft und als Folge davon ist auch das Verhältnis der Bevölkerung zu den deutschen Truppen außerordentlich gut. In einem Punkt widerspreche ich allerdings mit Nachdruck: Wenn Sie den Eindruck haben, die Soldaten hätten sich mit dem sechsmonatigen Aufenthalt, der durch einen Kurzurlaub unterbrochen wird, abgefunden, dann entspricht dies in keiner Weise unseren eigenen Erfahrungen. ({3}) Nachdem jetzt auch noch das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr deutlich gemacht hat, dass die überwiegende Zahl derer, die dort stationiert waren, eine längere Standzeit als vier Monate für falsch hält, halten wir auch an dieser Einstellung fest und werden weiterhin für eine Verkürzung auf vier Monate werben. ({4}) Natürlich müssen wir auch heute wieder ein großes Ärgernis ansprechen. Wie sollen unsere Soldaten, die in ostdeutschen Standorten beheimatet sind, damit umgehen, dass sie nach ihrer Rückkehr, nach der gemeinsamen Erfüllung ihrer Aufgaben im Kosovo und in Bosnien wieder deutlich weniger Gehalt bekommen als ihre Kollegen im Westen? Wir wollen der Botschaft entgegentreten, dass es automatisch ein Nachteil sein muss, in den neuen Bundesländern zu dienen. Deswegen treten wir für eine Angleichung der Besoldung ein. ({5}) - Sie wissen genau, dass wir das schon seit langem tun. Ich glaube, das dürfte Ihnen nicht entgangen sein. Ich möchte einen Einzelpunkt erörtern, der mir wichtig erscheint. Die geltende Umzugsregelung für Soldaten führt zu häufigen, berechtigten Klagen. Keine Gruppe in Deutschland muss häufiger umziehen als unsere Soldaten. Ihre Familien, besonders die schulpflichtigen Kinder, werden dadurch in Mitleidenschaft gezogen. Sie tragen einen erheblichen Teil der Belastung mit, die wir unseren Soldaten abverlangen müssen. ({6}) Es gibt viele Probleme mit der einen Firma, die jetzt für alle Umzüge zuständig ist. Wir werden hier aktiv werden. Wir sind aber auch der Meinung, dass ein Tag Sonderurlaub für einen Umzug mit Kind und Kegel innerhalb Deutschlands eine groteske Geschichte ist. ({7}) Das bedeutet doch im Klartext, dass wir die Hauptlast des Umzuges den Familien, den Angehörigen, den Kindern aufbürden, wenn wir den Vätern - um die handelt es sich regelmäßig - nur einen Tag für den Umzug frei geben. Das geht nicht an. Deswegen wollen wir hier eine Änderung. ({8}) Im letzten Jahr hat sich die Annahme verdichtet, dass in früheren Jahren Soldaten, die mit der Wartung von Radaranlagen befasst waren, einem besonderen Gesundheitsrisiko ausgesetzt waren. Ich habe schon im Ausschuss deutlich gemacht und sage das hier noch einmal: Es geht nicht an, dass wir diesen Soldaten, die in einer erheblichen Zahl krebskrank geworden sind, die Beweislast dafür aufbürden, dass ihre frühere Tätigkeit an damals noch sehr merkwürdigen Radaranlagen kausal dafür war, dass sie erkrankt sind. Hier muss andersherum gehandelt Hildebrecht Braun ({9}) werden. Die Beweislast muss beim Arbeitgeber liegen, nämlich bei der Bundeswehr. ({10}) Gestatten Sie mir noch folgenden Gedanken: Im letzten Jahr ist auf unseren Antrag hin die Regelung zum Umgang mit homosexuellen Soldaten verbessert worden. Obwohl sich der gesamte Bundestag dafür ausgesprochen hat, findet sich kein Wort dazu im Bericht. Ich bin sehr erstaunt darüber, dass Rot-Grün in der gestrigen Sitzung des Verteidigungsausschusses gegen den Antrag, dass auch in Zukunft jegliche Diskriminierung von homosexuellen Soldaten zu unterlassen ist, gestimmt hat. ({11}) Das wird Rot-Grün der Öffentlichkeit noch erklären müssen. Ich bedanke mich. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine klare und glaubwürdige Perspektive der Bundeswehrreform und der Finanzausstattung der Bundeswehr ist zentraler Bestandteil der Berufszufriedenheit von Bundeswehrangehörigen. Allerdings ist es völlig verkürzt, alles am Geld festzumachen, fast nur darüber zu reden und den Bericht des Wehrbeauftragten im Grunde genommen nur unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen. ({0}) Herr Siemann, Sie haben das gemacht. Leider haben Sie - Sie können eigentlich mehr - das Thema des Jahresberichts des Wehrbeauftragten - dort geht es um den inneren Zustand der Bundeswehr und um innere Führung völlig verfehlt. ({1}) Herr Dr. Penner, auch unsere Fraktion möchte Ihnen und Ihren Mitarbeitern für Ihren Bericht, für Ihre Arbeit und für die Unabhängigkeit Ihres Urteils - im Bericht wurde sie durch Ihre trockenen und sehr treffsicheren Kritiken deutlich; in Ihrer Rede haben Sie dies in zugespitzter Form vorgetragen - sehr herzlich danken. Sie legen eine Unabhängigkeit an den Tag, die alle respektieren sollten und nicht für sich vereinnahmen sollten. ({2}) Wir haben in Ihrem Bericht allerdings mit Beunruhigung gelesen, Ihre Überprüfungsersuchen seien häufig fehlerhaft oder verzögert behandelt worden. Wir hoffen sehr, dass dies nicht Ausdruck eines mangelnden Respekts vor dem Amt des Wehrbeauftragten ist. ({3}) Das Bundeskabinett beschloss vor einem Jahr noch einmal, an der Wehrpflicht festzuhalten. Damit ist die selbstverständliche Debatte über das Für und Wider der Wehrpflicht keineswegs abgeschlossen. Sie, der Wehrbeauftragte, tragen zur Versachlichung der Debatte bei, indem Sie klare Anforderungen an diese Debatte stellen. Es geht um die Anforderungen an die Politik, an die politische und an die militärische Führung der Bundeswehr, den Wehrpflichtigen die Legitimation und den Sinn ihres Dienstes plausibel zu machen. Sie nennen gleichzeitig Zahlen: Im vorigen Jahr wurden etwa 173 000 KDV-Anträge gestellt und es gab ungefähr 128 000 Wehrdienstleistende. Vor diesem Hintergrund kann man große Zweifel daran haben, ob die Legitimation wirklich noch plausibel ist und funktioniert. ({4}) Sie haben zu den Auslandseinsätzen ausführlich Stellung genommen. Das ist insofern völlig angemessen, als das Jahr 2000 das erste Jahr war, in dem über das ganze Jahr SFOR und KFOR einen großen Einsatz hatten. Sie nennen Beispiele für Fehlverhalten und Defizite, die geradezu unbegreiflich sind. Zum Beispiel gab es im Bereich der Personalplanung einen familienfeindlichen Bürokratismus, als in Einzelfällen bei der Zuordnung zu Auslandseinsätzen keine Rücksicht auf eine bevorstehende Geburt oder auf das Vorhandensein eines schwerbehinderten Kindes in einer Familie genommen wurde. Zwar waren das Einzelfälle; dennoch sind diese Vorgänge in keiner Weise nachvollziehbar. Im Bericht des Wehrbeauftragten wird erstmalig das Thema „Einsatz und Sexualität“ angesprochen. Im vorigen Jahr gab es Meldungen, dass Bundeswehrangehörige angeblich minderjährige Prostituierte und Zwangsprostituierte aufgesucht hätten. Damit konnte ein Thema nicht länger verdrängt werden, das im Einsatz - so sagen uns Militärseelsorger; das kann man sich aber auch mit gesundem Menschenverstand denken - zu den großen Problemen gehört. Es ist in der Tat erfreulich, dass der Generalinspekteur Ende letzten Jahres eine Führungshilfe für Vorgesetzte „Umgang mit Sexualität“ herausgegeben hat. Der Wehrbeauftragte bemängelt zu Recht, dass diese Führungshilfe hinsichtlich des Komplexes „Auslandseinsatz und Sexualität“ nichts hergebe. Das zeigt, dass wir daran noch erheblich arbeiten und dieses Thema sensibel behandeln müssen, um aus dieser Situation der allgemeinen Verdrängung herauszukommen. ({5}) Gemeinhin besteht der Eindruck, als hätten die Auslandseinsätze bisher ohne Opfer stattgefunden. Das ist Hildebrecht Braun ({6}) aber ein nicht ganz richtiger Eindruck; denn es gibt eine Reihe von Soldaten, bei denen posttraumatische Belastungsstörungen aufgetreten sind. Es ist aber auch bekannt, dass die diagnostische Abgrenzung solcher Störungen zu anderen Erkrankungen sehr schwierig ist. Die mögliche Anerkennung als Wehrdienstbeschädigung ist bisher ungeklärt. Es ist ein Gebot der Fürsorgepflicht, den betroffenen Soldaten entgegenzukommen, genauso wie im Fall der mutmaßlich durch Radarstrahlen geschädigten ehemaligen Bundeswehrangehörigen. Alles andere würde das Vertrauen der heutigen und auch der künftigen Soldaten in den Dienstherrn erheblich beschädigen. Nun zu dem Kapitel „Soldaten als Staatsbürger in Uniform“. Wichtige Beiträge zur Herausbildung des Staatsbürgers in Uniform finden im Rahmen der politischen Bildung statt. Wir wissen alle, dass man daran keine überhöhten Ansprüche stellen kann. Aber die politische Bildung ist dabei ein notwendiges Mittel. In diesem Zusammenhang nennt der Wehrbeauftragte einen wichtigen Knackpunkt, nämlich die Überlastung der Kompaniechefs durch andere Aufgaben, die ihnen schlichtweg den Spielraum und die Zeit nehmen, einen politischen Unterricht in vernünftiger Weise durchzuführen. Hier ist festzustellen, dass es einen Entwurf für eine neue zentrale Dienstvorschrift „Politische Bildung in der Bundeswehr“ gibt, dass aber genau der Knackpunkt der realen Bedingungen ausgespart wird. Das heißt, dieses Defizit besteht im Grunde fort. Die Dauereinsätze im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina bedeuten für die Soldaten und insbesondere auch für ihre Angehörigen und Familien eine ganz erhebliche Belastung, wie sie von nahezu keiner anderen Berufsgruppe verlangt wird. Damit steigen selbstverständlich auch die Ansprüche der Soldaten und ihrer Familien auf eine überzeugende Begründung ihres Einsatzes. Außerdem muss der Einsatz in ein glaubwürdiges Konzept der Friedenskonsolidierung eingebettet sein. Insofern setzen wir morgen die heutige Debatte fort. Danke schön. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Kollegin Heidi Lippmann für die PDS.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab sei mir erlaubt, dem Wehrbeauftragten, Herrn Penner, im Namen der PDS-Fraktion nachträglich zum 65. Geburtstag zu gratulieren. ({0}) Ebenso wie der Bericht seiner Vorgängerin, Frau Marienfeld, greift sein Bericht wichtige Probleme der Bundeswehr und auch des einzelnen Soldaten auf. Ich möchte mich auf wenige Aspekte beschränken, so zum Beispiel darauf, dass Soldaten durch die Diskussion über den Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran im ehemaligen Jugoslawien und mögliche gesundheitliche Folgen verunsichert wurden. Das Gleiche trifft für die Auswirkungen der Radaranlagen zu, über die schon gesprochen wurde. Beide Sachverhalte zeigen einmal mehr, wie viele ungeklärte Fragen es gerade für Soldaten im Auslandseinsatz gibt, seien es Fragen der Legitimität, des Einsatzes überhaupt, der gesundheitlichen Gefährdungen, die dabei auftreten können, oder der zu späten und unzureichenden Informationen über mögliche Gefährdungen. Ebenso wie Herr Penner fordern wir die Überprüfung dieses Zusammenhangs. Wir bestehen aber auch darauf, dass sich die Bundesregierung ganz klar und deutlich für die Ächtung von Uranmunition einsetzt. Mit besonderer Sorge muss uns erfüllen, dass die „Besonderen Vorkommnisse“ mit rechtsextremistischem bzw. fremdenfeindlichem Hintergrund wieder sehr stark angestiegen sind. Ich möchte Sie bitten, Herr Kolbow, das nicht zu bagatellisieren ({1}) und zu sagen, das sei lediglich der verstärkten Aufmerksamkeit von Vorgesetzten zu verdanken. Auch wenn dies vorwiegend Propaganda- und keine Gewaltdelikte waren, gilt: Jeder Vorfall ist ein Vorfall zu viel. ({2}) Der Wehrbeauftragte weist zu Recht auf die jugendkulturelle Form des heutigen Rechtsextremismus hin, wie zum Beispiel auf die Auswirkungen von bestimmter Rockmusik, aber auch darauf, dass Waffen, Uniformen, Millitärrituale und strenge Führungsstrukturen gerade auf Jugendliche, die zum Rechtsextremismus tendieren, eine erhebliche Anziehungskraft haben. Dies bezieht sich aber ebenso auf interne Rituale, die Ausdruck eines besonders männlichkeitsbetonten Korpsgeistes sind, so die vom Wehrbeauftragten monierten Rituale zur Aufnahme in das Unteroffizierskorps. Hier möchte ich die Bundesregierung fragen, warum sie trotz immer wieder ausgesprochener Hinweise, solche „Aufnahmeprüfungen“ zu unterlassen, und trotz wiederholter Disziplinarmaßnahmen immer wieder stattfinden. Gerade dieser Punkt sollte Anlass sein, darüber nachzudenken, wie man eine solche Militärkultur, seien es öffentliche Waffenschauen oder Gelöbnisse und Zapfenstreiche, weiter zurückdrängen kann. Wir jedenfalls sind unbedingt dafür, den öffentlichen Raum konsequent zu entmilitarisieren. ({3}) Der Wehrbeauftragte hat am 9. Mai vor den Mitgliedern des Rechtsausschusses zum Thema rechtsextremistische Vorkommnisse in der Bundeswehr vorgetragen und dabei die Bedeutung der politischen Bildung, auch und gerade der Vorgesetzten, hervorgehoben. Dem ist nur beizupflichten. Doch Dienstvorschriften anzupassen und weiterzuentwickeln reicht nicht aus; entscheidend ist, ob ein lebendiger Prozess der Auseinandersetzung mit heutigen Streitthemen stattfindet. Es geht also um den Alltag der Soldaten. Hier müssen wir noch sehr viel genauer hinsehen. Auch der gesamte Bereich der Traditionspflege wird immer wieder infrage gestellt. Ich denke, dass wir im Jahre 2001 den Traditionserlass endlich beiseite legen sollten, wonach heute noch Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg vom Ritterkreuz aufwärts mit militärischen Ehren beerdigt werden. ({4}) Diese Soldaten sind für Verbrechen im Faschismus ausgezeichnet worden. ({5}) - Ich denke, Herr Kollege, es ist längst überfällig, dass wir mit solchen Traditionen innerhalb der Bundeswehr Schluss machen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir vermissen nach wie vor - auch das hat Herr Penner heute angesprochen -, dass man sich auf der politischen Ebene dezidiert mit der eingeforderten Aufarbeitung des Kosovo-Krieges und seiner Legitimation auseinander setzt. Wir treten dafür ein, dass sich die Bundeswehr unter keinen Umständen in einen weiteren Angriffskrieg hineinziehen lässt. ({7}) Auch wenn Sie es nicht gerne hören: Die Debatte über die Berechtigung und Legitimation des Luftkrieges gegen Jugoslawien muss weiter geführt werden. Das Prinzip des Staatsbürgers in Uniform verlangt von den Soldaten, nicht nur passive Befehlsempfänger zu sein, sondern sich auch Gedanken über die Rechtmäßigkeit ihres Tuns zu machen. In dem Bericht wird darauf hingewiesen. Ich denke, wir sollten mit der heutigen Debatte diesen Bericht nicht ad acta legen, sondern ihn ganz ernst nehmen und die einzelnen Fragen nicht nur im Verteidigungsausschuss, sondern auch im Parlament immer wieder aufgreifen. Die Wehrpflicht ist längst obsolet - ich kann mich dem Kollegen Braun nur anschließen. Dies gilt ebenso für die unterschiedliche Besoldung in Ost und West. Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie sich nicht länger dieser gesellschaftspolitischen Debatte, die dringend geführt werden muss, verschließen werden. Danke. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Gerhard Neumann.

Gerhard Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001596, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Auswertung und die Diskussion der Berichte der Wehrbeauftragten im Bundestag besitzen eine hervorragende Tradition. Die Transparenz, mit der die Probleme unserer Soldaten stets öffentlich behandelt wurden, hat sehr entscheidend zum Ansehen unserer Streitkräfte in der Bevölkerung beigetragen. Die wohltuende Sachlichkeit des neuen Wehrbeauftragten Willfried Penner hat den Bericht 2000 spürbar geprägt. Wir bedanken uns auch ganz herzlich bei den Abteilungsleitern und Mitarbeitern für diesen Bericht. ({0}) Es ist ja immer eine Sisyphusarbeit. Rechtsextremismus, Drogen, Menschenführung, Mängel bei der Ausrüstung oder der medizinischen Versorgung stehen stellvertretend für die Vielzahl der angesprochenen Probleme. Die Schwerpunkte des Jahresberichts müssen in das gesellschaftliche Umfeld eingeordnet werden. Die Bundeswehr ist in einer Phase einschneidender Veränderungen. Ihre Aufgabe hat sich grundlegend geändert. Gestatten Sie mir, einige wenige Punkte herauszugreifen. Die Plage des Rechtsextremismus hat auch vor den Kasernentoren nicht Halt gemacht. Das haben wir von allen gehört. Es ist aber keine Krisenerscheinung der Bundeswehr, sondern eine anhaltende, aus der Gesellschaft kommende Gefahr. Ständige Vorsorge ist geboten. Hierbei ist die wertorientierte Erziehung der Soldaten entscheidend. Achtung der Menschenwürde, Achtung des anderen und Toleranz sind Grundüberzeugungen, die immer wieder neu zu vermitteln sind. ({1}) Die Bundeswehr kann vieles, aber nicht alles. Sie kann mithelfen, Versäumtes nachzuholen. Meine Damen und Herren, der Bericht spiegelt in vielen Abschnitten die Versäumnisse der politischen Führung im vergangenen Jahrzehnt wider. Die vielfach beklagte Reformunfähigkeit der Regierung Kohl hat auch bei der Bundeswehr tiefe Spuren hinterlassen. ({2}) Europa hat sich in den letzten zehn Jahren politisch und militärisch so rasant zum Wohle der Völker verändert wie in keiner geschichtlichen Phase zuvor. Aber die Bundeswehr ist fast die alte geblieben. Aufgabe, Struktur, Ausrüstung, Bildung - alles war geblieben, nur die Panzer aus dem Osten waren weg. Das erleben wir nun schon zehn Jahre lang. Rudolf Scharping hat als Verteidigungsminister - wie schon im Kosovo-Konflikt - entschlossen und zügig gehandelt. Am 1. Juni 2000 wurde die Lagebeurteilung abgeschlossen. Bereits zum 9. Oktober wurde, hieraus abgeleitet, die neue Grobstruktur als Diskussionsgrundlage entwickelt. ({3}) Am 29. Januar dieses Jahres konnte der Öffentlichkeit die Feinplanung präsentiert werden, und das mit den Ministerpräsidenten abgestimmt. Die tarifrechtliche Vereinbarung für die Zivilbeschäftigten ist erfolgt. Das Konzept steht. Es ist gut und es ist bezahlbar, auch wenn es schwierig wird. ({4}) Gefragt ist der Wille zur Umsetzung, nicht das Zerreden. ({5}) Im Klartext: Die Reform der Bundeswehr darf nicht zur Standortdebatte verkommen. Nein, es geht darum, unsere Streitkräfte den neuen politischen und technischen Anforderungen anzupassen, und das fest eingebunden in die NATO und die Krisenreaktionsstreitkräfte der EU. Die Anforderungen an die Bundeswehr der Zukunft sind mit einfachen Worten zu beschreiben: weniger Soldaten, aber viel beweglicher und den neuen Aufgaben entsprechend sachgerecht ausgerüstet, gut ausgebildet und versorgt; mehr vorbeugende Aufklärung und weniger Hineinstolpern in Krisen sowie effizientere Zusammenarbeit der Europäer auch bei neuen Waffensystemen. Diese konsequente Ausrichtung auf die Zukunft schafft Klarheit, motiviert Soldaten und Führung, macht den oft schweren Dienst leichter, beugt jugendlichem Unsinn vor. Zum Schluss noch ein Satz zum erlebten Reformstau. Wir debattieren in klimatisierten Räumen. Unsere Soldaten im Kosovo rufen nach Hemden mit kurzen Ärmeln und Schuhwerk, welches den klimatischen Bedingungen entspricht. Sie können es auf Seite 20 des Berichts nachlesen. Dieses kleine Beispiel sollte uns zu bedenken geben, wie schwer wir uns reformieren, vom Althergebrachten trennen, selbst von winterfesten Uniformen und einer eingespielten Beschaffungsbürokratie. Der Bericht macht sehr deutlich, dass das vom Verteidigungsminister in Angriff genommene Programm zur Erhöhung der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften weiterhin höchst aktuell ist. ({6}) Die Auflösung des Beförderungsstaus, verbesserte berufliche Perspektiven und Standortklarheit sind sowohl für die Nachwuchsgewinnung als auch für die Motivation der Soldaten von zentraler Bedeutung. ({7}) Seit dem 1. Januar dieses Jahres stehen den Frauen bei persönlicher Eignung alle Wege bei den Streitkräften offen. Die Medien haben über den Start ausführlich berichtet. Die Frauen hoffen nun auf mehr Normalität. Wir sollten den gelungenen Start als Anerkennung für die Frauen werten, die sich dieser schweren Aufgabe stellen. ({8}) Nun zu einem anderen Aspekt.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Neumann, Sie müssen jetzt leider zum Schluss kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.

Gerhard Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001596, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Okay. - Ich wollte zum Schluss andeuten, dass es gerade bei der Bundeswehr - wir haben das gehört - hinsichtlich der Bezahlung nach Ost/West-Tarif, aber auch hinsichtlich der Auftragslage noch sehr viele Dinge gibt, die verbessert werden müssen. ({0}) Meine Worte am Schluss sollen nicht den Blick für das Ganze trüben. Der Bericht in seiner Gesamtheit zeigt: Wir sind auf dem richtigen Weg. Einiges kann man jedoch noch besser, zielgerichteter machen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte spricht der Kollege Hans Raidel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie gestatten mir, dass ich zuerst Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, zu Ihrem 65. Geburtstag herzlich gratuliere. ({0}) Der Bericht des Wehrbeauftragten ist wie immer objektiv, nüchtern und professionell abgefasst und damit für uns eine sehr gute Arbeitsgrundlage. Von allen Seiten, auch vonseiten des BMVg, wurde festgestellt, dass dieser Bericht ernst genommen werden sollte. Ich betrachte ihn als eine Arbeitshilfe, quasi als einen Leitfaden in bester Erfüllung der bewährten Grundsätze der inneren Führung. Aber lieber Herr Staatssekretär, gerade Ihnen, der Regierung, der Koalition von Rot-Grün müssten bei dem Vortrag des Wehrbeauftragten doch die Ohren geklungen haben. Eigentlich war es eine reine Anklage über die Versäumnisse, die von Ihnen zu verantworten sind. ({1}) Als Sie angetreten sind, haben Sie gesagt, Sie wollten zwar nicht alles anders, aber vieles besser machen. Was ist in Ihrer Regierungszeit daraus geworden - Kollege Siemann und andere haben es eindeutig und eindrücklich geschildert -: ({2}) Sie sind dabei, die Bundeswehr in einen Zustand zu versetzen, in dem sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Gerhard Neumann ({3}) Sie demotivieren die Angehörigen der Bundeswehr, insbesondere die Soldaten, die bei KFOR und bei SFOR ihren schweren Dienst leisten müssen. Lesen Sie doch einmal den Bericht des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr genau. Darin steht genau alles das, was der Herr Wehrbeauftragte gesagt hat und was wir Ihnen vorhalten. Der Herr Staatssekretär hat für die Regierung die Dinge flugs umgekehrt und versucht, ins gleiche Horn zu stoßen, quasi damit man es nicht merkt. Dabei hätten Sie bei den Haushaltsberatungen für 2002 doch wirklich die Gelegenheit, die Situation umzukehren, der Bundeswehr wieder die richtige Perspektive zu geben. ({4}) - Hoffentlich; wir warten darauf. ({5}) Wir werden Sie, Herr Kollege Zumkley, bei den Haushaltsberatungen an dieser Aussage messen. Wir werden wahrscheinlich wieder feststellen müssen: Außer heißer Luft ist nicht allzu viel gekommen. ({6}) Wir bedauern mit Ihnen persönlich, dass die Lage so ist, wie sie ist. Bitte strengen Sie sich mehr an, um hier einiges zu verbessern. ({7}) Nun noch einmal direkt zum Bericht: Wenn der Wehrbeauftragte unter Ziffer 1.3 eine häufig fehlerhafte und verzögerte Bearbeitung von Überprüfungsersuchen feststellen muss, dann ist das doch ein ernst zu nehmender Vorwurf an das BMVg. Die Bearbeitung mancher Vorgänge dauert über ein Jahr, so steht es wörtlich im Bericht. Ich möchte darauf hinweisen: Die Missachtung des Wehrbeauftragten ist auch eine Missachtung des Parlaments. Das setzt sich fort: Ich habe vor einer Stunde vom Kollegen Breuer die Stellungnahme des Bundesministers der Verteidigung zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten, datiert vom 18. Mai dieses Jahres, bekommen. Kein Mensch konnte lesen, was die Regierung wirklich zu den Vorwürfen des Wehrbeauftragten meint. Das ist doch nicht die gute Zusammenarbeit, die hier ständig beschworen wird. ({8}) Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir in unserer gemeinsamen Arbeit brauchen. Ich möchte nur noch ein einziges Thema ansprechen - denn meine Redezeit ist schon fast abgelaufen -: die Frage der Auslandsverwendung unserer Soldaten. Ich behaupte - sicher mit Ihrem Einverständnis -, das Renommee der Bundeswehr und damit auch das Deutschlands hängt von diesem Auslandsdienst entscheidend mit ab, es wird von ihm mitgeprägt. Ich meine, dass hier die Laufbahnbetrachtungen besondere Beachtung verdienen. Derzeit entsteht wirklich der Eindruck, als wären die Soldaten im Auslandseinsatz abgehängt, als wäre der Auslandsdienst ein Nachteil und als würde man ihn häufig als Abschiebeposten betrachten. Wir waren vor kurzem mit unserer Gruppe in Washington und in El Paso. Die dortigen Personalvertretungen unserer Soldaten und Zivilangestellten haben uns schriftlich mitgegeben, dass wir diese Dinge anlässlich der Diskussion über den Bericht des Wehrbeauftragten zur Sprache bringen sollen. Das tun wir hiermit. Ich bitte Sie, Herr Wehrbeauftragter, sich all dieser Fragen anzunehmen, damit es hier nicht heißt: „Aus den Augen aus dem Sinn“, sondern damit auch hier vernünftige Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ich möchte noch auf ein wichtiges Thema hinweisen: Die kommunalen Mandate dürfen durch die Neufassung des Soldatengesetzes nicht eingeschränkt werden. ({9}) Der Herr Wehrbeauftragte hat festgestellt, er wird die Entscheidungspraxis genau verfolgen. Dazu möchte ich Sie herzlich ermuntern. ({10}) Das Gleiche gilt für die Umsetzung des Soldatenbeteiligungsgesetzes. Es darf doch nicht sein, dass in dem Bericht stehen muss, dass Vorgesetzte offensichtlich immer wieder versuchen, die Stellung der Vertrauenspersonen zu schwächen, anstatt sie zu stärken. ({11}) Denn diese Vertrauenspersonen sind ein Aktivposten für die Bundeswehr. So wie das in dem Bericht zu lesen ist, gereicht das gerade zum Nachteil. ({12}) Meine Damen und Herren, die Umstrukturierung der Bundeswehr ist sicherlich eine Umbruchsituation mit vielen Unwägbarkeiten. Herr Wehrbeauftragter, der politische Schlagabtausch ist natürlich nicht Ihre Aufgabe. Aber in Reformzeiten haben Sie Ihr wichtiges Amt besonders umfassend wahrzunehmen, damit - trotz aller Notwendigkeit im Einzelfall - die Sozialverträglichkeit aller durchgeführten Maßnahmen nicht zu kurz kommt, der Soldat also mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt bleibt.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich denke, das war ein guter Schlusssatz, Herr Kollege Raidel.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Wehrbeauftragter, ich bitte Sie herzlich: Mischen Sie sich ein, nehmen Sie Stellung und erheben Sie mahnend Ihr Wort, vor allem dort, wo die Politik und die Führung der Bundeswehr unfähig erscheinen oder nicht handeln wollen! Letzteres war an die Koalition gerichtet.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Jetzt muss ich mahnend mein Wort erheben, Herr Kollege Raidel. Ich muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seien Sie hartnäckig und unbequem! Wir unterstützen Sie. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5400 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Das Haus ist damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten HansJoachim Otto ({0}), Rainer Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des Stiftungszivilrechts ({1}) - Drucksache 14/5811 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Sportausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Die vorgesehenen Rednerinnen und Redner Alfred Hartenbach und Jörg Tauss, SPD, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, CDU/CSU, Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/ Die Grünen, Rainer Funke und Hans-Joachim Otto1), F.D.P., Professor Dr. Heinrich Fink, PDS, sowie für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Professor Dr. Eckhart Pick vom Bundesjustizministerium geben ihre Reden zu Protokoll2). Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/5811 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Anderweitige Vorschläge liegen nicht vor. - Die Überweisung ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 8 auf: 10. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Lebenslagen in Deutschland Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung - Drucksache 14/5990 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Maier, Dr. Klaus Grehn, Monika Balt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht ziehen - Drucksache 14/6171 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Für die Debatte ist eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das Haus ist einverstanden. Ich gebe zunächst für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Kollegin Ulrike Mascher, das Wort.

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Bundesregierung hat die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu einem Schwerpunkt ihrer Politik gemacht. Im April dieses Jahres hat das Bundeskabinett den Bericht „Lebenslagen in Deutschland - Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ verabschiedet, der dem Deutschen Bundestag heute zur Beratung vorliegt. Die Bundesregierung hat damit erstmals der Notwendigkeit Rechnung getragen, dass auch ein entwickelter Industriestaat wie Deutschland detaillierte Kenntnisse über die soziale Wirklichkeit, über Armut in einem reichen Land, als Grundlage politischen Handelns braucht. Die Bundesregierung hat mit der Vorlage des ersten Armuts- und Reichtumsberichts den Grundstein für eine Berichtserstattung gelegt, die seit langem vor allem von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, aber auch von SPD und Bündnis 90/Die Grünen immer wieder gefordert worden ist und in einigen Bundesländern und vielen Kommunen schon realisiert wird. Und damit keine Missverständnisse entstehen: Der Bericht ist keine politische Eintagsfliege. Er ist vielmehr der Einstieg in einen kontinuierlichen Prozess der Berichterstattung. ({0}) 1) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor 2) Anlage 2 Dieser Prozess wird durch die Aktivitäten der Bundesregierung auf anderen Ebenen ergänzt, zum Beispiel den „Nationalen Aktionsplan gegen soziale Ausgrenzung“, der von der Bundesregierung noch im Juni dieses Jahres der EU vorgelegt wird und der in engem Zusammenhang mit der Armuts- und Reichtumsberichterstattung steht. Der erste Bericht beschreibt umfassend die soziale Lage in Deutschland von den 80er-Jahren bis zum Jahr 1998; denn bis zu diesem Zeitpunkt liegen uns auswertbare Daten vor. Der Bericht bietet zahlreiche wichtige Daten und Fakten, die in dieser Bündelung und Zusammenstellung eine neue Qualität darstellen. Die in dieser Form erstmalig in einem Bericht der Regierung dargestellten Zusammenhänge sollen kein Zahlengrab sein, sondern ein weiterer Ansporn, politische Maßnahmen zu ergreifen, um die Chancen und Möglichkeiten des Einzelnen zu stärken, damit er sein Leben aus eigener Kraft bewältigen kann. ({1}) Die Bundesregierung hat sich beim ersten Bericht bewusst auf das Machbare beschränkt und nicht versucht, den Eindruck zu erwecken, als könne allein ein Armutsund Reichtumsbericht schon die Lösung aller Probleme bringen. Die Reaktionen auf den Bericht haben uns in dieser pragmatischen Vorgehensweise bestätigt. Der Bericht akzeptiert, dass sich die Begriffe „Armut“ und „Reichtum“ wegen ihrer Vielschichtigkeit einer allgemein gültigen Definition entziehen. „Armut“ und „Reichtum“ bezeichnen vielmehr die Extreme der Wohlstandsverteilung in unserer Gesellschaft. Daher verwendet der Bericht einen pluralistischen Armutsbegriff, der Unterversorgungslagen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Armut wird unter einer Reihe von Gesichtspunkten beschrieben, etwa dem der relativen Einkommensarmut, der gesundheitlichen Einschränkungen, der schwierigen Familienverhältnisse, dem Leben in sozialen Brennpunkten in Großstädten, der Obdachlosigkeit oder der Überschuldung - entsprechend dem in der Armutsforschung entwickelten Lebenslagenkonzept. Im Hinblick auf den Reichtumsbegriff fehlen, auch wegen des erst in Ansätzen entwickelten Forschungsstandes, klare Definitionen und Abgrenzungen. Deshalb und wegen der sehr begrenzten Datenlage beschränkt sich der Bericht hier vernünftigerweise auf eine beschreibende Darstellung der Einkommens- und Vermögensverteilung. Aber allen Beteiligten ist klar, dass hier erhebliche Lücken in der Erfassung, in der Feststellung dessen, was Reichtum in unserer Gesellschaft bedeutet, zu schließen sind. ({2}) Aufgrund des relativ begrenzten Zeitrahmens, der zur Verfügung stand, unterlag der Bericht gewissen Grenzen und Beschränkungen. Auch wir wissen um die „blinden Flecken“, die es aufzuhellen gilt. Einen habe ich im Zusammenhang mit der Reichtumsberichterstattung schon genannt. Jenseits der monetären Dimensionen von Armut und Reichtum steht die Berichterstattung noch am Anfang. Für die Zukunft sind vor allem eine Verbesserung der Datenlage, der Methoden der Messung von Armut und Reichtum und eine Weiterentwicklung des Lebenslagenkonzeptes notwendig. Hierzu wurden von der Bundesregierung bereits Forschungsprojekte auf den Weg gebracht. Hier stehen wir, auch nach der Fertigstellung des ersten Berichtes, weiterhin im ständigen Dialog und im Austausch mit den Wissenschaftlern, die an diesem Bericht mitgearbeitet haben. Der Bericht ist das Ergebnis eines intensiven Diskussions- und Beratungsprozesses mit gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen, der bereits Anfang 1999 begonnen wurde. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass sich die nationale Armutskonferenz und Herr Professor Specht ganz intensiv an dieser Arbeit beteiligt haben. Wir haben ja hier einmal eine Diskussion darüber geführt, ob sich Herr Professor Specht und die Armutskonferenz aus dieser Debatte ausklinken. Das war nicht der Fall. Der Bericht entstand unter Mitwirkung von Armutsund Reichtumsforschern, ohne deren Unterstützung die Realisierung eines solch anspruchsvollen Projektes kaum möglich gewesen wäre. Dieser Dialog und die Beratung durch Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft waren die Grundlage für die hohe Akzeptanz des Berichtes und die überwiegend positive Resonanz auch in der Öffentlichkeit. Wir werden diesen offenen und transparenten Beratungsprozess fortführen, denn wir halten ihn für fruchtbar und notwendig, insbesondere wenn es darum geht, die Berichterstattung in der Zukunft weiterzuentwickeln, die theoretische Fundierung zu vertiefen und zu erweitern, Datenlücken zu schließen und notwendige Forschungsansätze voranzubringen. Was sind die für die Politik zentralen Ergebnisse des Berichtes? Erstens. Soziale Ausgrenzung gibt es auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland. Zweitens. In fast allen Lebensbereichen hat im Zeitraum bis 1998 soziale Ausgrenzung zugenommen und die Verteilungsgerechtigkeit hat abgenommen. Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass die Entwicklung des Öffnens einer Schere kurzfristig, auch durch noch so engagierte Politik, geschlossen werden kann. Wir stehen hier erst am Anfang einer positiven Entwicklung. ({3}) Drittens. Das wichtigste Armutsrisiko ist und bleibt Arbeitslosigkeit und, häufig damit verbunden, Niedrigeinkommen. Wesentliche Ursachen hierfür liegen in fehlenden oder unzureichenden Bildungsabschlüssen und in mangelhafter oder fehlender Ausbildung. Viertens. Besonders gefährdet - das ist besonders dramatisch, aber hier gibt es ja auch schon eine intensive Diskussion; mein Kollege von der SPD-Fraktion wird dazu auch noch etwas sagen - sind Familien mit Kindern, hier vor allem Alleinerziehende, Paare mit drei und mehr Kindern und Zuwandererfamilien. Tatsache ist: Wenn auch von den 13 Millionen Haushalten mit Kindern in Deutschland die meisten in sicheren materiellen Lebensverhältnissen leben, gibt es dennoch Faktoren, die Familien in Armut bringen können. Dazu gehören Arbeitslosigkeit oder auch tief greifende familiäre Einschnitte wie Trennung oder Scheidung, die eine gerade noch gesicherte materielle Situation aus der Balance bringen können. Das höchste Sozialhilferisiko trugen allein erziehende Frauen. Für sie ist es schwer, oft unmöglich, Erwerbstätigkeit mit existenzsicherndem Einkommen und Kindererziehung miteinander zu vereinbaren. Der Bericht dokumentiert, welch erheblicher Handlungsbedarf gerade auch im Bereich der Familienpolitik beim Amtsantritt der Bundesregierung 1998 bestanden hat. Er zeigt aber auch, dass sich die Bundesregierung dieser sozialen Probleme in Deutschland angenommen hat. Der Bericht stellt dar, welche Maßnahmen die Bundesregierung seitdem verabschiedet bzw. auf den Weg gebracht hat, um sozialer Ausgrenzung und mangelnder Chancengleichheit in unserer Gesellschaft zu begegnen. Natürlich sind wir nicht so blauäugig, zu meinen, damit seien schon alle Probleme gelöst. Armut und soziale Ausgrenzung resultieren aus einer Vielzahl von Problemlagen, die nicht von heute auf morgen aufgelöst werden können. Es muss Schritt für Schritt daran gearbeitet werden, dass Armut präventiv begegnet wird. Stichworte hierzu sind Bildung, Ausbildung, eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen und vor allem auch die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit. ({4}) Weiterhin ist es wichtig, dass die Abhängigkeit von Sozialhilfe abgebaut wird. Stichworte hierzu sind eine aktive Beschäftigungsförderung und das Ziel, dass die Menschen aus eigener Kraft in der Lage sind, ihr Leben zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben und am Fortschritt teilzuhaben. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht ist eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft im Hinblick auf soziale Ausgrenzung, die Verteilung von Einkommen und Vermögen, Chancengleichheit und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe. Mit dem Bericht hat die Bundesregierung das Thema Armut und Reichtum aus der politischen Tabuzone hinausgeführt. Ich erlaube mir einen Rückblick auf die Diskussion, die wir heute Morgen geführt haben und in der die Frage des Art. 1 des Grundgesetzes, der die Würde des Menschen schützt, eine so entscheidende Rolle gespielt hat. Ich denke, dass Armut in der Bundesrepublik auch eine Frage ist, die die Würde des Menschen entscheidend berühren kann. Wenn man sich andere Artikel des Grundgesetzes wie Art. 14 vor Augen führt, so stellt auch die Reichtumsberichterstattung eine verfassungsrechtliche Frage dar. ({5}) Armut und Reichtum taugen nicht für eine polemische Neiddebatte. ({6}) Der Bericht stellt eine Grundlage und das Angebot für eine sachliche Auseinandersetzung dar. Er ist eine gute Basis für die Debatte über den besten Weg, wie einem Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich entgegengewirkt und der Sozialstaat weiterentwickelt werden kann. Politik, Wissenschaft, Institutionen und Verbände sind eingeladen, sich an dieser Debatte intensiv zu beteiligen. Ich freue mich schon auf den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht. Danke. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Jürgen Koppelin das Wort. ({0}) - Dafür hat der Kollege Heinrich Kolb seine Rede zu Pro- tokoll gegeben.1) Ich bitte um Verständnis.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich mache es auch wesentlich kürzer, Herr Präsident. Frau Staatssekretärin, ich möchte einen Vorgang ansprechen, von dem ich meine, dass Sie ihn in Ihrem Hause einmal überprüfen sollten, besonders nachdem ich heute einen Brief dazu aus Ihrem Hause erhalten habe. Nachdem ich Berichten in der Presse entnommen hatte, dass der Armutsbericht inzwischen vorliegt, habe ich mich als Parlamentarier selbstverständlich darum bemüht, auch diesen Bericht zu bekommen. Das war sehr schwierig, denn Ihr Haus hat wohl 5 000 Exemplare gedruckt, die zwar an alle möglichen Leute verteilt wurden, aber nicht an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Ich wollte eigentlich eine Diskussion über den Armutsbericht im Haushaltsausschuss anregen, um uns bereits vorab damit zu beschäftigen; schließlich ist der Bericht sehr umfangreich. Das war aber nicht möglich, weil keinem Mitglied des Haushaltsausschusses dieser Bericht vorlag, wohl aber der Öffentlichkeit. Als in Ihrem Ministerium angerufen wurde, hieß es: Der Bericht ist vergriffen, aber es findet ein Kongress hier in Berlin statt; wenn Sie jetzt hinfahren, können Sie vielleicht noch ein Exemplar bekommen. - Das kann nicht angehen. Das ist nicht der angemessene Umgang mit dem deutschen Parlament. Ich bitte darum, künftig dafür zu sorgen, dass alle Mitglieder des Deutschen Bundestags ebenfalls den Bericht erhalten, wenn Sie diesen herausgeben. Ansonsten sage ich Ihnen: Ich freue mich nicht auf diesen Bericht. Wir wollen ihn sorgfältig diskutieren. Aber Sie freuen sich anscheinend auf diesen Bericht. ({0}) 1) Anlage 3

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Staatssekretärin zur Erwiderung, bitte schön.

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Herr Koppelin, ich bedaure es sehr, dass ausgerechnet Ihnen als Mitglied - und auch den anderen Mitgliedern - des Haushaltsausschusses der Armuts- und Reichtumsbericht nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt worden ist. Ich werde mich gern darum kümmern, dass Sie alle ihn bekommen. Ich glaube, dass er in der Tat auch dem Haushaltsausschuss wichtige Hinweise geben kann. Meine Freude auf den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht hat sich nicht auf das bezogen, was in diesem Bericht - jedenfalls was den Aspekt der Armut betrifft beschrieben wird, sondern darauf, dass wir hier eine wichtige Berichterstattung fortsetzen und dann sehen können, welche Politikansätze, die in den Jahren seit 1998 von der Bundesregierung verfolgt worden sind, eine positive Wirkung entfaltet haben. Darauf freue ich mich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Karl-Josef Laumann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liest, dann fragt man sich zunächst einmal: Warum hat die Bundesregierung diesen Bericht vorgelegt? ({0}) In dem Bericht steht nichts Eigenständiges. Es wurden keine neuen Erkenntnisse gewonnen und nicht einmal eigene Zahlen verwendet. Es wurden schlicht und einfach vorhandene Berichte und Studien abgekupfert. Auch hat man die Begriffe nicht einheitlich definiert. Wer ist in Deutschland arm? Wer ist reich? Die Regierung zieht keine konkrete Schlussfolgerung und kündigt in dem Bericht keine Maßnahmen an. Wenn man sich dann die Berichterstattung in den Medien nach der Veröffentlichung dieses Berichtes zu Gemüte geführt und sie mitverfolgt hat, kommt mir zumindest der Verdacht, dass das BMA mit diesem heiklen und schwierigen Thema, das für viele Menschen sehr belastend ist, sehr populistisch umgegangen ist und Polemik betreiben will. Wenn man nämlich die Zeitungen gelesen und die Fernsehberichte gesehen hat, hätte man den Eindruck haben können, dass Armut in Deutschland ein drängendes Problem ist und dass die Menschen in diesem Land in den letzten Jahren zu einem großen Teil in Armut abgedriftet sind. Dadurch sind wahrscheinlich wenige böse Kapitalisten immer reicher geworden. ({1}) Diese Wertung teile ich nicht. Die Menschen in Deutschland haben seit Kriegsende eine ständige Mehrung ihres Wohlstandes erlebt. Dies gilt nicht nur für einige wenige, sondern für eine breite Masse. ({2}) Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist allein von 1973 bis 1998 - also überwiegend in den Jahren einer CDU/ CSU-Regierung - von 23 700 DM auf rund 61 800 DM angewachsen. ({3}) 45 Prozent der Haushalte verfügen nach Angaben des Berichtes über Immobilienbesitz. Dabei ist die Verteilung dieses Immobilienbesitzes keineswegs ungleichgewichtig, sondern gerade in den Arbeitnehmerhaushalten stark vorhanden. Die Hälfte der privaten Haushalte, sowohl im Westen wie auch im Osten, hat inzwischen Aktien. Nicht umsonst sprechen wir von der Erbengeneration. Auch ist diesem Bericht zu entnehmen, dass das Problem der Altersarmut, die früher ein bedrückendes Problem war, aber heute nur noch 1,3 Prozent der über 65-Jährigen trifft, durch die Rentenversicherung und die Alterssicherungssysteme weitestgehend gelöst worden ist. Ich persönlich habe den Eindruck, dass wir einmal darüber reden müssen: Wie definieren wir Armut? Die offizielle Definition ist: Wer weniger als 50 bis 60 Prozent des durchschnittlichen mittleren Einkommens hat, ist arm. Dies wird auch in diesem Bericht zugrunde gelegt. ({4}) Das heißt, dass die Armutsgrenze bei 1 462 DM für einen Alleinstehenden liegt. ({5}) - Jawohl. - Dies entspricht 50 Prozent des Mittelwertes aller Äquivalenzeinkommen. Wenn Sie dann einmal einen Haushalt von zwei Erwachsenen mit vier Kindern zugrunde legen, dann sind das immerhin 5 409 DM. Die offizielle Definition des Armutsbegriffs heißt: die Hälfte des Einkommens im mittleren Bereich der Haushalte. Man muss einmal darüber reden, ob dies in Zukunft die Definition für Armut sein kann. ({6}) Das Problem ist, dass Sie dann auch in einer sehr wohlhabenden Gesellschaft immer einen großen Teil an Armut behalten. Ein zweiter Punkt, der uns sehr stark beschäftigen muss, ist, dass wir in Deutschland - das macht der Bericht deutlich - zwei große Armutsrisiken haben. Die eine Risikogruppe - die Frau Staatssekretärin hat sie schon angesprochen - sind Alleinerziehende mit Kindern, die andere Gruppe Ehepaare mit mehreren Kindern. Es ist dringend notwendig, dass wir in unserer Gesellschaft eine Lobby für mehr Akzeptanz der Familienpolitik in diesem Land schaffen. Sie sehen in diesen Tagen, wie schwer es selbst in Ihren eigenen Reihen ist, dafür eine Lobby zu finden. Ich spreche von Ihrer Bundesregierung. Ich denke, dass wir sehr stark darauf achten müssen, die Transferzahlungen für Familien so zu gestalten, dass Kinder nicht der Grund sind, um auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Hier haben wir alle eine gewaltige Aufgabe vor uns. ({7}) Ich glaube, dass wir ein Weiteres tun müssen. Wir müssen auch in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter propagieren. Für Alleinerziehende ist es die einzige Möglichkeit, aus der Sozialhilfe und damit aus der Armut herauszukommen. Wir haben viel getan. In den verschiedensten Kommunen hat sich die Kindergartensituation verbessert. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist von uns durchgesetzt worden. In diesem Zusammenhang sind wir auch von Kommunalpolitikern unserer eigenen Partei, die diesen Anspruch umsetzen mussten, beschimpft worden. Wir müssen auch darüber reden, dass über eine verlässliche Kindergarten- und Grundschulversorgung hinaus für die Väter und Mütter verlässliche Arbeitszeiten erreicht werden müssen. Sie können ein solches Angebot nicht organisieren, wenn Sie davon ausgehen, dass die Menschen rund um die Uhr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen. In unserer Gesellschaft muss klar werden, dass Eltern, wenn sie Familie und Beruf miteinander verbinden sollen, verlässliche Arbeitszeiten brauchen. Es gibt ein weiteres Problem, nämlich die Zahl der schlecht Ausgebildeten, der Menschen, die keinen Schulabschluss haben. Auf diesem Feld hat Ihr JUMP-Programm nichts genützt. ({8}) Es gibt Zahlenmaterial, das Auskunft darüber gibt, was auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt worden ist. Ich glaube, wir sollten im Rahmen der Diskussion über den Armutsbericht, der auch an den Sozialausschuss überwiesen wird, ebenso über die Effizienz der Maßnahmen, die wir für die Betroffenen anbieten, nachdenken. ({9}) Wir sollten einmal überlegen, ob die Grundstruktur der Sozialhilfe - eine Geldleistung zu geben, ohne eine Gegenleistung einzufordern - richtig ist oder ob wir hier das Regel-Ausnahme-Verhältnis in der Weise verändern sollten, dass eine volle Leistung eine Gegenleistung zwingend vorschreibt, wenn ein entsprechendes Angebot gemacht worden ist. ({10}) Wenn Sie sich einmal die Aussichten gerade jüngerer Ausländer auf dem Arbeitsmarkt ansehen, können Sie erkennen, dass deren Probleme mit Sprachkenntnissen und Schulabschlüssen zu tun haben. Wir müssen uns ganz besonders bemühen, diesen Zielgruppen Hilfen anzubieten, damit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Beschäftigung finden. Das bedeutet vor allem, Ausbildungsbemühungen zu verstärken. Durch die Studie des Berichtes ist mir eines deutlich geworden: Auch in Zukunft bedeutet es für die Menschen in Deutschland ein großes Armutsrisiko, wenn sie schlecht ausgebildet sind. Deswegen muss alles darangesetzt werden, die Teilhabe der Menschen durch gute Ausbildung für fast alle zu ermöglichen. Schönen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung und diese Koalition haben sich eines getraut. Sie haben sich getraut, Daten über Armut und Reichtum zusammenzutragen. Sie haben es gewagt, Daten ermitteln zu lassen, wovor sich die frühere Regierung gedrückt hat. ({0}) Wir haben inzwischen einen Bericht über die Verteilung des Wohlstandes und Daten über die Entwicklung in diesem Land. Wir haben Daten, die zeigen, wie es mit der Teilhabe und der Chancengerechtigkeit in diesem Land aussieht. Wir haben Daten über Reichtum und Armut. ({1}) Was - damit komme ich zu den Inhalten des Berichts sagt uns dieser Bericht? Bisher hieß es: Reich ist man, darüber redet man nicht. Auch über Armut wurde sehr wenig geredet. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Zehnten Kinder- und Jugendbericht. Wir alle wissen, wie lange es gedauert hat, bis wir im Parlament die Gelegenheit hatten, darüber zu reden. Es gibt in diesem Land eine Schere zwischen Armut und Reichtum. Das sind die wichtigsten Erkenntnisse. ({2}) Armut in Deutschland hat ein junges Gesicht. Armut trifft vor allem Kinder und Jugendliche, sie trifft Minderjährige. Sie, Herr Laumann, fragen: Woran misst man Armut? Natürlich messen wir Armut an den Einkommen in Deutschland; natürlich geht es den Menschen in diesem Land heute besser als noch in den 30er-, 40er- oder 50erJahren. ({3}) Natürlich geht es einem Handwerker in Deutschland besser als beispielsweise in einem Entwicklungsland; natürlich sind die Standards in Deutschland viel höher. Armut hat aber auch in diesem Land viele Gesichter: Das fängt an bei der Jeanshose, die ich mir nicht kaufen kann, beim Kindergeburtstag, den ich nicht ausrichten kann, und beim Urlaub mit meinen Kindern, den ich mir nicht leisten kann. Armut fängt auch dort an, wo es um schulische Bildung und Teilhabegerechtigkeit geht. Armut fängt also beim soziokulturellen Leben und nicht erst bei dem Dach über dem Kopf oder dem Sattwerden an. ({4}) Deshalb müssen wir Armut an den Standards messen, mit denen wir leben und mit denen unsere Kinder aufwachsen. ({5}) Der Bericht - das möchte ich betonen - hat das Jahr 1998 und nicht das Jahr 2000 als Bezugsjahr. Aber wir haben schon Daten für das Jahr 2000 und diese Daten bestätigen uns, dass diese Regierung und diese Koalition mit ihrer Politik auf dem richtigen Weg sind, dass sich die Lage bereits entspannt hat und dass wir für die betroffenen Familien schon einiges getan haben. ({6}) Ich möchte Ihnen eine Zahl nennen. Der Lebensstandard von Familien mit Kindern ist um 30 Prozent niedriger als der von Familien ohne Kinder. Deshalb haben wir gerade für die Familien mit Kindern etwas getan. Zum Beispiel haben wir die Debatte über die Kindergelderhöhung diese Woche in der Presse gehabt. Damit sind wir auf dem richtigen Weg: Wir werden und müssen diese Politik fortsetzen. ({7}) Zu einer überzeugenden Politik gehört aber noch mehr. Dazu gehören zum Beispiel Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Sicherung von Infrastrukturleistungen zur Steigerung der Erwerbschancen insbesondere von Frauen - ich denke zum Beispiel an die Kinderbetreuung -, die Modernisierung der Berufswelt, in der flexible Instrumente wie Teilzeitarbeit, Jobrotation oder auch Erziehungszeiten, in denen Frauen zu Hause arbeiten können, möglich sind, Qualifizierungsmaßnahmen für die Frauen und Männer, die sich für eine Erziehungspause entschieden haben und danach wieder in den Beruf einsteigen wollen, die Öffnung des Arbeitsmarktes und eine richtige Bildungspolitik. All diese Maßnahmen gehören zur Armutsbekämpfung. Wenn wir darüber diskutieren, dürfen wir aber eines nicht machen, nämlich die einzelnen Instrumente gegeneinander ausspielen. Wir dürfen also nicht zum Beispiel nur über Infrastruktur oder nur über eine finanzielle Entlastung der Familien debattieren; vielmehr brauchen wir beides, und zwar gezielt. Nicht hingegen brauchen wir einen Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion mit utopischen Ansätzen, die Visionen in 20 oder 30 Jahren darstellen mögen, jetzt aber nicht umgesetzt werden können. Das betrifft zum Beispiel Ihre 1 200 DM Familiengeld, das pro Jahr 60 Milliarden DM kosten würde. So etwas führt in der Debatte nicht zum Ziel. ({8}) Wir von der grünen Fraktion haben mit der Kindergrundsicherung eine kurzfristig umsetzbare und zielführende Maßnahme vorgeschlagen, um insbesondere die Kinderarmut zu bekämpfen. Denn eine Erkenntnis aus dem vorliegenden Bericht ist, dass es in diesem Land Menschen gibt, die voll berufstätig sind und trotzdem in der Armutsfalle stecken. Diese Menschen verdienen trotz Vollzeiterwerbstätigkeit nämlich so wenig, dass sie immer noch als arm gelten müssen. Gerade für diese Menschen, die in den Bereich „working poor“ - um dieses Wort einmal zu verwenden - fallen, wollen wir gezielte Maßnahmen ergreifen. Das ist eine wichtige Herausforderung. In dieser Debatte gehören für mich zwei Dinge zusammen. Das Erste betrifft die Darstellung der Lebenslagen in Deutschland. Der Bericht beweist uns, dass wir diese Art der Berichterstattung auch in den kommenden Legislaturperioden fortsetzen müssen, weil wir Daten brauchen, um darüber ernsthaft reden zu können. ({9}) Zum Zweiten brauchen wir Menschen, die aus diesem Bericht Erkenntnisse gewinnen, um darauf aufbauend politische Maßnahmen und Prioritäten zu entwickeln. Dafür, Herr Laumann, sind nicht die Verfasser des Berichtes zuständig, sondern wir alle. Die Erkenntnisse über die notwendige Politik müssen hier bei uns gewonnen werden und nicht in dem wissenschaftlichen Gremium, das damit befasst war, diesen Bericht zu entwickeln. ({10}) Ich komme nun zu meinem letzten Satz, da meine Redezeit abgelaufen ist. Ich möchte mich bei all den namhaften Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und bei allen Vereinen, Verbänden und Organisationen bedanken, die es ermöglicht haben, dass dieser Bericht in einer rasanten Geschwindigkeit erstellt werden konnte. Ihnen gebührt der Dank dafür, dass der Bericht überhaupt entstanden ist. Diese gute Zusammenarbeit sollten wir in Zukunft fortsetzen. ({11}) Mein allerletzter Satz richtet sich an Herrn Koppelin. Wir sind eine moderne Regierung. ({12}) Sie finden diesen Bericht im Internet auf der Homepage, und zwar nicht erst jetzt, sondern bereits seit zwei Wochen. Die Presse hat ihn nämlich aus dem Internet. Dort können Sie auch einmal hineinschauen; denn Sie haben einen Internetzugang in Ihrem Büro. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Kol- lege Dr. Heinrich Kolb von der F.D.P.-Fraktion hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Ich denke, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen dann zur Rede der Kollegin Pia Maier von der PDS-Fraktion.

Pia Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003449, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Erscheinen des Armuts- und Reichtumsberichtes hat Robin Lautenbach in der ARD gesagt - ich zitiere -: „Man muss nicht Kommunist sein, wenn man angesichts der krassen Verteilung von Armut und Reichtum an das Grundgesetz erinnert, in dem es heißt, Eigentum verpflichtet.“ ({0}) Aber nur die PDS fordert, Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht zu ziehen, die über Ihre politischen Ansätze hinausgehen. Wer hierzulande arm ist, der ist ausgeschlossen von der Leitkultur des Landes, nämlich davon, Geld ausgeben zu können. Als zentrale Ursache für Armut benennt der Armuts- und Reichtumsbericht völlig richtig die Arbeitslosigkeit. Sie versuchen im Augenblick, mit vielen kleinen Maßnahmen die Situation etwas zu verbessern. Aber an die Strukturen, die Arbeitslosigkeit entstehen lassen, und an einen grundsätzlich großen Wurf wagen Sie sich nicht heran. Als Ursachen für Arbeitslosigkeit benennt der Bericht vor allem Bildungsstatus und Familiensituation. Aber ein Zusammenhang zwischen diesen vielen einzelnen Elementen wird nicht hergestellt. Und es wird nicht nach den Ursachen gefragt. Warum ist denn der Bildungsstatus vieler Menschen so niedrig, dass sie keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben? Warum sind es ausgerechnet immer diejenigen, die aus bildungsfernen Schichten und aus armen Elternhäusern kommen und die diesen Lebensweg selber wieder gehen müssen? Genetisch bedingte Dummheit käme auch in besseren Familien vor. Strukturen wie schlechte Schulausstattung, Lehrermangel und wenig Kindergartenplätze finden sich in Gegenden mit hoher Armut. Solche Zusammenhänge werden in diesem Bericht nicht in den Blick genommen. Sie setzen die Politik, die bis 1998 gemacht wurde und die sich in diesem Bericht widerspiegelt, fort und verschärfen die Gegensätze in der Bevölkerung noch weiter. ({1}) - Herr Gilges, es wird eine Fortsetzung dieses Berichtes geben. Die Schere ist weit auseinander gegangen. Mit einer Erhöhung des Kindergeldes um 30 Mark werden Sie diese Schere so schnell nicht wieder schließen. Sie machen mit der Politik der Haushaltskonsolidierung, die Sie in den Mittelpunkt stellen, weiter, statt mit Investitionsprogrammen Arbeitsplätze zu schaffen. Sie sorgen nicht dafür, dass die Kommunen wieder Geld in ihren Kassen haben, damit sie Gebühren nicht weiter erhöhen und Sozialtarife nicht weiter streichen müssen. Sie verzichten auf Steuereinnahmen, die die Lage derer, die es am nötigsten hätten, verbessern könnten. Mit der Einführung eines privaten Anteils bei der Rente geben Sie durch das Sonderabzugssystem höheren Einkommen mehr als geringen; das hätte man anders gestalten können. Wer sich keine Privatvorsorge leisten kann, wird noch ärmer. Rentenbeiträge für Arbeitslose wurden gesenkt. Durch diese Politik entstehen die Armen von morgen, die Sie dann in Ihren Bericht aufnehmen müssen. Über die Zusammenhänge von Armut und Reichtum ist in diesem Bericht nichts zu erfahren. Die Bundesregierung geht gemäß Statistischem Bundesamt zwar von 27 230 Bruttoeinkommensmillionären aus. Aber hier handelt es sich um zu versteuernde Einkommen. Glauben Sie wirklich, dass die jede verdiente D-Mark beim Finanzamt angeben? Hohe Einkommen sind gestiegen. Das Realeinkommen pro Kopf ist in den letzten Jahren nicht gestiegen. Solche Zusammenhänge kann man zwar dem vorliegenden Armuts- und Reichtumsbericht entnehmen, wenn man sich durch 700 Seiten gelesen hat. Aber klare Zusammenhänge werden nicht hergestellt. Über den Reichtum, „das scheue Reh“, wird in dem Bericht festgestellt, dass er „wichtige Funktionen in unserer Gesellschaft, im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich, hat. Es bedarf daher eines ausgewogenen gesellschaftlichen Diskurses darüber, wozu der Reichtum dient“.Wozu Reichtum dienen soll, können Ihnen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, „working poor“ und Alleinerziehende ein paar nützliche Tipps geben: ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erhöhen, ihre Armut zu bekämpfen und das Armutsrisiko Kind auszuschließen. Deswegen muss Reichtum begrenzt werden. Eine Umverteilung von oben nach unten ist die Konsequenz, die man aus dem vorliegenden Bericht ziehen muss. In unserem Antrag weisen wir auf erste Schritte in diese Richtung hin. Ohne eine solche Umverteilung ist die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu schließen. Wenn sich die Richtung der Politik nicht ändert und die Prioritäten nicht anders gesetzt werden, dann wird im nächsten Armuts- und Reichtumsbericht nur festgestellt werden können: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist zwar nicht kleiner geworden. Aber Armsein unter Rot-Grün ist erträglicher, weil man genauer Bescheid weiß. Danke schön. ({2}) 1) Anlage 3

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat gezeigt, dass die Spannweite vom Schreckensszenario bis zur Schönfärberei reicht, wenn es um die Definition von Armut geht. Aber die Tatsache, dass Armut als Begriff auch heute noch im Alltagsbewusstsein verankert ist, deutet darauf hin, dass Armut eine individuelle Lebenslage ist, die immer im Verhältnis zu anderen Bedingungen steht, nämlich zum Zufall des Geburtsortes, des sozialen Lebensumfeldes und zu dem, was in einer Gesellschaft unter Befriedigung existenzieller materieller, aber auch ideeller Grundbedürfnisse und was unter Chancengleichheit und Teilhabe verstanden wird. Ich glaube, dass Sie dem zustimmen und dass darüber Konsens besteht. Ich erinnere an den Beitrag der ehemaligen Bundesfamilienministerin Nolte anlässlich des Zehnten Kinderund Jugendberichtes. Damals bestritt sie, dass es Kinderund Jugendarmut in Deutschland überhaupt gibt. Ähnliche Kommentare gibt es vor allen Dingen von konservativer Seite auch zu dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht, den eine Bundesregierung - dafür loben wir sie ausdrücklich - je vorgelegt hat. Otto Schlecht, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, hält den Bericht für fragwürdig und polemisiert zynisch, dass es wohl am besten sei, wenn alle Menschen niedrige Einkommen hätten, damit es keine Unterschiede gibt. Ich möchte Herrn Schlecht antworten - er ist zwar nicht hier; aber vielleicht liest er es nach -: „Wohlstand für alle“ war bekanntlich Ludwig Erhards erfolgreicher Wahlschlager. Er sollte also als Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung zurücktreten oder seinen Laden in Harald-Schmidt-Stiftung umbenennen. Dann passt es wieder. ({0}) Auf jeden Fall sollte er den Bericht einmal lesen; denn in ihm wird faktisch nachgewiesen, warum Kinder auch in Deutschland für Familien mit einem Durchschnittseinkommen tatsächlich ein Armutsrisiko darstellen. Wenn Herr Schlecht seine Kreise einmal verlassen und sich dem Lebensalltag der Menschen in diesem Lande zuwenden würde, könnte er feststellen, wie viele Familien und insbesondere allein erziehende Frauen - darauf ist auch schon von Herrn Laumann hingewiesen worden - der neuen Armutsgruppe zuzurechnen sind. Es gibt eine Infantilisierung der Armut. Ich zitiere an dieser Stelle noch einmal aus dem Armuts- und Reichtumsbericht, um es ganz deutlich zu machen: Für Kinder hat die Teilhabe an der modernen Marktund Konsumgesellschaft eine besondere Bedeutung. Sie werden als Zielgruppe des Konsumgüter- und Dienstleistungsmarketing zunehmend umworben. Kinder erleben, dass die Einschränkung im Konsum und die Ausgrenzung von Bildungsangeboten daraus resultieren, dass den Eltern die Möglichkeiten fehlen, ihre Wünsche und Interessen zu unterstützen. Armut bedeutet dann für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen Einschränkung und Ausgrenzung als fundamentale Erfahrung des Aufwachsens. Die möglichen Konsequenzen für die Kinder sind geringes Selbstwertgefühl, Depressivität, Einsamkeit, Misstrauen, Nervosität, Konzentrationsschwäche und Resignation in Bezug auf berufliche Chancen. Auch das gehört zur Debatte um die Unverletzlichkeit der Menschenwürde. Armut wird in dieser Gesellschaft ebenso wie Reichtum vererbt, der dadurch immer mehr kumuliert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir echte Chancengleichheit etwa bei der Bildung wollen - das ist ja gerade noch einmal beschworen worden -, weil es sich diese Gesellschaft gar nicht mehr leisten kann, ein Kind am Rande stehen zu lassen, werden wir neue Instrumente der Generationengerechtigkeit brauchen, neue Instrumente zur sozial gerechten Umverteilung von Lebensressourcen. Der Bericht macht deutlich, dass die Schere gerade in der Regierungszeit von CDU/CSU und F.D.P. immer weiter auseinander ging. Die Zahl der Einkommensmillionäre ist stetig gestiegen und die der Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen auch. Ist es Sozialneid, infrage zu stellen, dass es Menschen gibt, die an einem Tag so viel Einkommen haben - verdienen können sie es ja nicht -, wie viele andere ihr ganzes Erwerbsleben lang nicht erarbeiten können? Oder ist diese Infragestellung nicht ein Verfassungsauftrag auf der Grundlage der Sozialpflichtigkeit des privaten Eigentums in Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes? Der CDU-Sozialminister Hans Geisler in Sachsen streitet das Vorhandensein von Armut ebenfalls ab. Wer Sozialhilfe empfängt, sei nicht arm. Einkommensunterschiede würden Engagement und Leistungswillen fördern. Problematisch sei es nur, wenn zustehende Leistungen nicht in Anspruch genommen würden. - Da stimme ich ihm zu. - Alles andere seien zwischenmenschliche Probleme, die sich mit Geld nicht lösen ließen. Ich rate der CDU, das alles auf ein Wahlplakat zu schreiben ({1}) und dieses dann an den sozialen Brennpunkten unseres Landes aufzustellen. Ich habe lange in einem Sozialamt als Schuldnerberater gearbeitet und dort meine Erfahrungen gemacht. Strukturelle Benachteiligungen und eine Bürokratie, die es vielen schwer gemacht hat - in meinem Berufsalltag habe ich das erlebt -, Rechtsansprüche umzusetzen, waren die Realität. Der Gesetzestext im § 9 SGB I garantiert die persönliche Bedarfsdeckung, die Befähigung zur Selbsthilfe, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und die Führung eines menschenwürdigen Lebens. Das gelingt nur selten, auch wenn die Sozialverwaltung besonders engagiert ist. Das gilt in vielen Fällen, nicht in allen, insbesondere für das, was davon bei den Kindern ankommt. Die Wahrheit ist doch: Die meisten Kommunen wären hoffnungslos verschuldet, mehr, als sie es jetzt sowieso schon sind, wenn sie das tatsächlich für alle realisiert hätten, die einen Anspruch darauf haben, weil in Ihrer Regierungszeit so viele Arbeitslose und andere Gruppen in die Sozialhilfe abgeschoben worden sind. Wir begrüßen, dass die Erstellung des Armutsberichts fortgesetzt wird. Ich weise darauf hin, dass wir als SPD-Fraktion eine große Tagung in diesem Hause gemacht haben, bei der alle Gruppen - Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Gewerkschaften und Selbsthilfegruppen - nicht nur den Reichtumsbericht begrüßt haben, sondern vor allem die dadurch entstandene Initialzündung für eine Diskussion über die Armut und den Reichtum in unserer Gesellschaft. Die Kollegin Deligöz hat auf das hingewiesen, was unsere Regierung bereits vor dem Erscheinen des Berichtes als Gegenmaßnahmen zur Armutsbekämpfung, vor allen Dingen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, getan hat. - Ich nenne das Stichwort Familienförderung. Deswegen will ich nicht auf alle Maßnahmen zu sprechen kommen, zumal ich jetzt auch kaum noch Zeit habe. Ich will aber noch einmal unseren Wunsch deutlich machen, dass auch zukünftig durch eine regelmäßig alle vier Jahre vorliegende Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Öffentlichkeit, der Politik, der Verwaltung und den Fachverbänden Informationen bereitgestellt werden. Diese Kontinuität soll auch dazu beitragen, Probleme und Handlungsbedarf rechtzeitig zu erkennen. Diese Berichterstattung soll als Frühwarnsystem ein angemessenes und bedarfsgerechtes Reagieren ermöglichen. In großen Teilen der Öffentlichkeit herrscht nach wie vor das Verdrängen und das Tabuisieren des Themas Armut vor. Es gilt, diese Haltung zu durchbrechen und die Bereitschaft für solidarische Lösungen zu fördern. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die ersten Medienberichte über den Armuts- und Reichtumsbericht gelesen und die Reden der Vertreter der Koalitionsfraktionen gehört hat, dann hat man den Eindruck, dass vor allen Dingen ein negatives Urteil über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte, was die Entwicklung von Armut und Reichtum in Deutschland anbelangt, gefällt werden soll. ({0}) Es wird schlichtweg nicht wiedergegeben - der Kollege Karl-Josef Laumann hat es schon vorgetragen -, dass die durchschnittliche Höhe der Haushaltsnettoeinkommen gestiegen ist und dass in den vergangenen Jahrzehnten auch die Vermögensbildung breiter Schichten in hervorragender Weise zugenommen hat. ({1}) Ich denke gerade an die Vermögensbildung durch Wohneigentum. Die CDU/CSU wollte im Rahmen der Rentenreform die Wohneigentumsbildung als Beitrag zur Altersvorsorge nachdrücklich verbessern. Dabei haben Sie von Rot-Grün nicht mitgemacht. Frau Staatssekretärin Mascher, da Sie von blinden Flecken gesprochen haben, möchte ich Folgendes zu bedenken geben: Wäre es vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Selbstständige die Vermögensbildung zu einem großen Anteil zum Zwecke der Altersvorsorge vornehmen, in einer solchen Untersuchung, die beansprucht, vollständig zu sein, nicht gerechtfertigt gewesen, auch das, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch ihre Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zwar nicht als Vermögen, aber als Rechtsanspruch auf ihre Altersversorgung aufbauen, entsprechend zu würdigen und zu berücksichtigen? Das fehlt in diesem Bericht. ({2}) Sie sprechen davon, dass die Einkommensspreizung dramatisch zugenommen habe. Das sei vor allem in der Zeit, in der CDU/CSU und F.D.P. regiert haben, geschehen. Wenn Sie genau nachgelesen hätten, dann hätten Sie festgestellt: Die größte Einkommensspreizung gab es in den Jahren von 1973 bis 1978. ({3}) Es gibt noch Damen und Herren, die sich daran erinnern, wer in dieser Zeit regiert hat. ({4}) Frau Kollegin Deligöz war so vermessen, hier zu behaupten, seit 1998 habe sich alles zum Besseren gewendet. Ich möchte daher auf den Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes, Hellmut Puschmann, hinweisen, der in einem Interview mit dem „Rheinischen Merkur“ zur Behauptung des Arbeitsministers, seit Antritt der rot-grünen Koalition im Herbst 1998 habe sich die soziale Lage wieder gebessert, gesagt hat, er könne das so nicht unterschreiben und er wolle wissen, woran der Arbeitsminister das festmache. ({5}) Auch ich möchte es gerne wissen. ({6}) Der Armuts- und Reichtumsbericht stellt in der Tat auch einige bedenkliche Tendenzen heraus. Es ist schon dargestellt worden, dass kinderreiche Familien eher in die Abhängigkeit von Sozialhilfe geraten. Eine weitere bedenkliche Tendenz ist, dass eine mangelnde berufliche Qualifikation die Abhängigkeit von Sozialhilfe begünstigt. Nur, diese Entwicklungen kennen wir weitgehend eigentlich schon aus den bisherigen Untersuchungen. Der Armuts- und Reichtumsbericht teilt uns in dieser Hinsicht nichts Neues mit. Frau Kollegin Deligöz, Sie haben die Familienpolitik der Bundesregierung angesprochen. Dazu, dass es ab dem 1. Januar 2002 30 DM mehr Kindergeld geben soll, sage ich: Gerade Ihre Fraktion - das entnehme ich Presseberichten über einen Beschluss ihrer Fraktion - ist mit dieser Lösung - sie bleibt an der Untergrenze dessen, was das Bundesverfassungsgericht vorschreibt - nicht zufrieden. ({7}) Das heißt, aus Ihrer Sicht bleibt „nachbessern“ das Unwort der rot-grünen Koalition. ({8}) Bei der Beschlussfassung über den Auftrag zur Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts im Bundestag am 27. Januar 2000 habe ich schon ausgeführt, dass es ein Thema gibt - die CDU/CSU hat eine entsprechende Debatte beantragt -, das sich wirklich zu untersuchen lohnt. Das ist das Phänomen der so genannten verdeckten Armut. Aber gerade zu diesem Punkt stellt dieser Bericht nichts fest, sondern bleibt im Allgemeinen. Das Thema, wozu wir bis heute wenig wissen und das man daher hätte untersuchen können, kommt in diesem Bericht nur ungenügend vor. Am Schwächsten ist der Armuts- und Reichtumsbericht also an der Stelle, wo es eigentlich interessant wird. Frau Staatssekretärin und Herr Staatssekretär, Sie haben ausdrücklich darauf bestanden, dass kein unabhängiger Expertenbericht vorgelegt wird, sondern ein Bericht der Bundesregierung. Wir gingen also davon aus, dass uns die Bundesregierung in diesem Bericht sagt, welche Konsequenzen sie daraus ziehen will. Aber genau an dieser Stelle bleiben Sie unverbindlich und allgemein. Zu Recht stellt der Präsident des Diakonischen Werks, Jürgen Gohde, fest: Weil dieser Bericht ein Regierungsbericht und kein neutral erstellter Bericht ist, werden unbewältigte Aufgaben, für die die Bundesregierung Verantwortung trägt, nicht oder kaum erwähnt. Dazu zähle ich zum Beispiel die Neubestimmung der Regelsätze der Sozialhilfe und ... die Neubestimmung des steuerlichen Existenzminimums sowie die vor Jahren beschlossene Integration der nicht krankenversicherten Sozialhilfeempfänger in die gesetzliche Krankenversicherung. Zu Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie von RotGrün sich in Sachen Sozialhilfe zunächst einmal eine Verschnaufpause gegönnt, indem Sie die Übergangsregelung, nach der die Sozialhilferegelsätze prozentual um den Betrag steigen, um den auch die gesetzliche Rente steigt, um zwei Jahre verlängert haben. ({9}) Nach diesen zwei Jahren wollten Sie uns das große neue Reformwerk vorlegen, nämlich das neue Bedarfsbemessungsschema für die Sozialhilfe. ({10}) Bis zur Stunde liegt aber nichts vor. Wir hören bereits, dass Sie vorhaben - das hätten Sie heute erklären können -, diese Übergangsregelung erneut zu verlängern und die ganze Sache über den Wahltermin 2002 hinauszuschieben. Dabei haben Sie doch eigentlich genügend Datenmaterial. Sie haben jetzt den Armuts- und Reichtumsbericht, den Sie so sehr loben, und Sie haben insgesamt zehn Gutachten, die noch in unserer Regierungszeit in Auftrag gegeben worden sind und auf deren Grundlage Sie ein neues Bedarfsbemessungsschema für die Sozialhilfe vorlegen können. Ich fordere Sie auf, diese zehn Gutachten endlich der Öffentlichkeit vorzulegen und uns zu sagen, was Sie vorhaben. Bereits heute steht fest, dass Sie uns angelogen haben, als Sie die Verlängerung der Übergangsfrist beschlossen haben. ({11}) Ich kann mich noch an die Rede der Frau Kollegin Lange erinnern. Ihre Begründung lautete: Diese Übergangsregelung - die wir von der CDU/CSU kopiert haben - können wir deswegen weiterführen, weil aller Voraussicht nach in den kommenden Jahren die Renten und damit auch die Sozialhilfe stärker steigen werden als in der Vergangenheit. ({12}) - Nein, Fakt ist doch, Herr Gilges: ({13}) Aufgrund Ihrer Rentenmanipulationen sind die Renten und die Sozialhilfe im vergangenen Jahr - das wird auch in diesem Jahr so sein - um einen erheblich geringeren Prozentsatz gestiegen, als die aktuelle Inflationsrate ist. ({14}) Das sind die Fakten. Das heißt, Ihre eigene Gesetzesbegründung stimmt nicht mehr. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weiß, Sie müssen zum Schluss kommen. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, Sie haben sich das mit dem datenmäßigen Ende Peter Weiß ({0}) 1998, das dem Armuts- und Reichtumsbericht zugrunde liegt, schön ausgedacht. Sie wollen mit dem Finger auf CDU/CSU und F.D.P. zeigen. Aber auch für Sie gilt das Sprichwort: Wer mit dem Zeigefinger auf jemanden zeigt, auf den zeigen drei Finger zurück. - So ist es leider. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5990 und 14/6171 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zusatzpunkt 9 auf: 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Andreas Schockenhoff, Karl Lamers, Christian Schmidt ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Die deutsch-französischen Beziehungen neu begründen - Drucksache 14/5959 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ernst Burgbacher, Ina Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Die deutsch-französischen Beziehungen mit Leben erfüllen - Drucksache 14/6167 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Auswärtiger Ausschuss Es ist vorgeschlagen worden, die Reden dazu zu Pro- tokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kol- legen Gernot Erler und Monika Griefahn von der SPD, Dr. Andreas Schockenhoff von der CDU/CSU, Ernst Burgbacher von der F.D.P., Wolfgang Gehrcke von der PDS und um die Rede des Bundesministers Joschka Fischer.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5959 und 14/6167 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes - Drucksache 14/6141 Überweisungsvorschläge: Finanzausschuss ({3}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Auch zu diesem Punkt wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu nehmen, und zwar handelt es sich um die Reden der Kollegen Lydia Westrich und Heidi Wright von der SPD, Norbert Schindler von der CDU/CSU, Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen, Marita Sehn von der F.D.P. und Kersten Naumann von der PDS.2) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/6141 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatzpunkte 10 und 11 auf: 13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Leo Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Fairer Wettbewerb bei Basel II - Drucksache 14/6049 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Rainer Funke, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Basel II - Belange des Mittelstands wahren - Drucksache 14/6172 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und PDS Fairer Wettbewerb bei Basel II - Neufassung der Basler Eigenkapitalvereinbarung und Überarbeitung der Eigenkapitalvorschriften für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen - Drucksache 14/6196 Peter Weiß ({6}) 1) Anlage 4 2) Anlage 5 Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Klaus Lennartz von der SPD, Leo Dautzenberg von der CDU/CSU, Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grü- nen, Rainer Funke von der F.D.P., Dr. Barbara Höll von der PDS und Dr. Barbara Hendricks für die Bundes- regierung.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/6049 und 14/6172 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü- nen, F.D.P. und PDS mit dem Titel „Fairer Wettbewerb bei Basel II - Neufassung der Basler Eigenkapitalvereinba- rung und Überarbeitung der Eigenkapitalvorschriften für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Antrag auf Drucksache 14/6196 einstimmig angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen“ - Drucksache 14/5492 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({8}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({9}) zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Monitoring „Nachwachsende Rohstoffe“ - Einsatz nachwachsender Rohstoffe im Baube- reich - Drucksachen 14/2949, 14/5574 - Berichterstattung: Abgeordnete Heidi Wright Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Heino Wiese und René Röspel von der SPD, Peter Bleser von der CDU/CSU, Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen, Ulrike Flach von der F.D.P. und Kersten Naumann von der PDS.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5492 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/5574. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäftsordnung zu dem Thema „Monitoring ‚Nachwachsende Rohstoffe‘“ auf Drucksache 14/2949 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung bei Enthaltung der PDS angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme von zwei Entschließungen. Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 2 Buchstabe a der Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5574? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen. Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 2 Buchstabe b der Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von CDU/CSU und F.D.P. sowie Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts - Drucksache 14/5969 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Auch bei diesem Punkt ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es handelt sich um die Reden der Kol- legen Volker Jung von der SPD, Hartmut Schauerte von der CDU/CSU, Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen, Walter Hirche von der F.D.P., Eva Bulling- Schröter von der PDS und des Parlamentarischen Staats- sekretärs Siegmar Mosdorf.3) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/5969 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander- weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 1) Anlage 6 2) Anlage 7 3) Anlage 8 Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Riegert, Norbert Barthle, Friedrich Bohl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Errichtung eines Fonds zur Unterstützung der Doping-Opfer der DDR - Drucksache 14/5674 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({12}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf kaum einem gesellschaftlichen Gebiet ist die Zusammenführung der beiden deutschen Staaten so schnell und reibungslos gelungen wie im Sport. Dies ist parteipolitisch, glaube ich, übergreifend unbestritten. Von dieser Zusammenführung haben die alten und die neuen Länder, hat der deutsche Sport in seiner Gesamtheit Gewinn gezogen. Sportstättenbau und Sportinfrastruktur in den neuen Ländern haben in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Rund 2,5 Milliarden DM aus dem Investitionsfördergesetz sind seit 1995 in den Sportstättenbau der neuen Länder geflossen. Auch der so genannte Goldene Plan Ost wird, wenn auch in bescheidenerem Maße als angekündigt, zu einer weiteren Verbesserung führen. Die alten Länder haben in der sportpolitischen Leistungsbilanz in nicht unerheblichem Maße von den Spitzenleistungen der ehemaligen DDR-Spitzensportlerinnen und -Spitzensportler profitiert. ({0}) Noch zehn Jahre nach der Wende bessern die Sportler der ehemaligen DDR die deutsche Bilanz bei Welt- und Europameisterschaften sowie Olympischen Spielen auf. Ohne deren Spitzenleistungen würde die Bilanzierung des deutschen Spitzensports im internationalen Vergleich sehr viel schlechter ausfallen. Noch zehn Jahre nach der Wende profitieren wir von den Jugend- und Kaderschulen der ehemaligen DDR. Diese Nachfolge des DDR-Sportsystems haben wir gerne angetreten. Wir schmücken uns mit den herausragenden Leistungen. Wir stehen gerne neben den Erfolgreichen des ehemaligen DDR-Systems. Wir verleihen ihnen das Silberne Lorbeerblatt. Die Medien widmen diesen Spitzensportlern umfassende Aufmerksamkeit und die Sponsoren zeigen sich großzügig. Dies ist im Grunde nicht zu kritisieren. Doch, meine Damen und Herren, diese herausragenden Leistungen von Topsportlern der ehemaligen DDR haben einen langen Schatten. Er heißt Doping, systematisch angewendet an vielen jungen Athleten, oft gegen deren Willen, meist ohne deren Wissen. Für diese Athleten gab es keine Hinweise auf zu erwartende psychische und physische Schäden, gab es keine Warnung vor Langzeitschäden. Sie haben sich einem System von staatlichen Funktionären und Trainern anvertraut, deren Maxime die Leistung zum Wohle des Staates war. Wir wissen von diesen dunklen Kapiteln des DDR-Sports aus zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, aus Geständnissen von Trainern und Funktionären und aus Berichten von Sportlern. Es ist an Zynismus kaum zu überbieten, wenn Ärzte vor Gericht erklären, es sei für sie selbstverständlich gewesen, junge Sportler bei ihrem Streben nach Höchstleistungen mit Dopingmitteln zu unterstützen; gesundheitliche Schäden seien zu erwarten gewesen. Dies zeigt die Gewissenlosigkeit, mit der mit jungen Menschen und Doping umgegangen wurde. An jungen Sportlerinnen und Sportlern wurden Medikamente erprobt. Gesundheitliche Risiken wurden von Funktionären, Trainern und Betreuern bewusst in Kauf genommen. Die Athleten waren in der Regel ahnungslos. Wir wissen heute durch gerichtliche Verfahren mehr über diese verwerflichen Methoden und Machenschaften. Wir sollten uns deshalb zu beiden Seiten der Medaille des Leistungssports der ehemaligen DDR bekennen, zu den Siegern und zu den Opfern. ({1}) Beide sind Ergebnisse eines staatlich verordneten Leistungsgedankens mit dem Ziel, durch sportliche Höchstleistungen die Leistungsfähigkeit des sozialistischen Systems unter Beweis zu stellen. Beide sind Ergebnisse eines Systems, in dem nicht der Mensch, sondern der Erfolg entscheidend war. Der Mensch war lediglich Mittel zum Zweck. ({2}) Junge, hochtalentierte Sportler haben sich guten Glaubens einem System anvertraut, das vorgab, ihre Talente fördern zu wollen. In Wirklichkeit wurden sie benutzt. 13-, 14-, 15-Jährige wurden mit leistungsfördernden Mitteln vollgepumpt, ohne über die Folgen aufgeklärt zu sein. Die Verlierer des Systems sind die Opfer, von der Öffentlichkeit verdrängt. Sie müssen selber sehen, wie sie mit den Folgen fertig werden. Sie haben Höchstleistungen erreicht oder erreichen wollen. Sie müssen heute feststellen, dass sie an einem System gescheitert sind, in dem die Leistung und der Erfolg um jeden Preis alles, die Gesundheit wenig war. In unserem Antrag geht es um diese Opfer eines manipulierten Leistungssports. Die Schädigungen sind vielfältig: von der Akne über Regelstörungen, Schwangerschaftsstörungen, Skelettverformungen, Unfruchtbarkeit bis hin zum Brustkrebs. Von den Schädigungen ist zum Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Teil auch die Nachfolgegeneration betroffen. Es geht nicht in erster Linie um Recht oder Unrecht. Es geht nicht darum, dem Bund eine Last aufzubürden, die er nicht schultern muss oder kann. Es geht in diesem Antrag nicht darum, Schadenersatzansprüche zu befriedigen oder Voraussetzungen für eine Welle von Schadenersatzansprüchen auszulösen. Es gilt, ein Zeichen zu setzen und sich auch zu den Opfern des Systems zu bekennen. ({3}) Es gilt, Leid zu lindern, Mittel für einen Fonds bereitzustellen, um gesundheitliche Vorsorge leisten zu können, um breit angelegte diagnostische Untersuchungen zu ermöglichen, um Nebenwirkungen zu erforschen und damit die Kinder der Nachfolgegeneration vor nachhaltigen Schädigungen zu bewahren. Es geht darum, diesen geschädigten Sportlern Hilfen für einen beruflichen Einstieg und zur beruflichen Qualifizierung zu gewähren. Sie haben damals schulische und berufliche Bildung zurückgestellt, um sportliche Höchstleistungen zu erbringen. Wir leisten schnell und unbürokratisch Hilfe für in Not geratene Menschen in fernen Ländern. Das ist gut und richtig. Wir haben aber die gleiche Verpflichtung gegenüber den Menschen im eigenen Lande, die Opfer eines Systems geworden sind. Hier ist eine kleine private Initiative überfordert. Einige Dopingopfer haben in einer Petition an den Deutschen Bundestag die „halbherzige Aufarbeitung des Dopings im DDR-Leistungssport“ beklagt. Sie haben angemahnt, Doping nicht auf die Art und Weise zu verharmlosen, dass man die Folgewirkungen einfach nicht zur Kenntnis nimmt. Es war Zeit, dass diese Sportlerinnen und Sportler ihr Schweigen gebrochen haben. Wir dürfen die Dopingopfer ihrem Schicksal nicht allein überlassen. Es ist nicht richtig, die Sieger eines Systems öffentlich auszuzeichnen, die Schicksale der Opfer aber einfach wegzudrängen. Das ist moralisch nicht vertretbar. Der Bund sollte durch Errichtung eines Fonds die Initiativen des gemeinnützigen Doping-Opfer-Hilfe-Vereins unterstützen. Wir versprechen uns von der Einrichtung eines Fonds eine Signalwirkung für Spenden seitens der Pharmaindustrie, der restlichen Wirtschaft und für weitere private Spenden. Sie alle werden sich der moralischen Verpflichtung stellen müssen und einen angemessenen Beitrag für die Dopingopfer leisten. Eine Signalwirkung hat dies aber auch für den Sport: Die Präsidenten des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen Komitees haben öffentlich ihre Bereitschaft dazu erklärt. Lassen Sie uns in den Beratungen in den Ausschüssen eine einvernehmliche Lösung für einen solchen Fonds anstreben! ({4}) Ich bedauere aus meiner heutigen Kenntnis und Sicht, dass die frühere Bundesregierung und auch meine Fraktion nicht schon früher die Initiative ergriffen haben. ({5}) Es ist allerdings nicht zu spät. Wir sollten gemeinsam für die Dopingopfer des Sports der ehemaligen DDR eintreten. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Götz-Peter Lohmann von der SPDFraktion.

Götz Peter Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Ich wollte eigentlich ausdrücklich auch Vertreter des Doping-Opfer-Hilfe e. V. und möglicherweise auch Betroffene begrüßen. Sollten Vertreter anwesend sein - ich bin mir da nicht ganz sicher -, möchte ich das hiermit ausdrücklich tun. ({0}) In seinem Geleitwort zu dem Buch „Anklage: Kinderdoping - Das Erbe des DDR-Sports“ stellt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse fest - ich zitiere -: Irgendwie geahnt haben es viele: Die Erfolge der DDR im internationalen Sport waren auch bedingt durch den massiven regelwidrigen Einsatz gesundheitsgefährdender Dopingmittel. Er schrieb, die DDR habe den Sport für Zwecke der Außenpolitik und der Außendarstellung missbraucht. - Das ist unbestreitbar. - Diese Zwecke seien den Verantwortlichen wichtiger als das konkrete Leben und die konkrete Gesundheit der Sportlerinnen und Sportler gewesen. Als jemand, der - zugegeben - eine relativ kurze Zeit den DDR-Sport bzw. -Leistungssport kennen gelernt hat, kann und muss ich mich diesen Feststellungen anschließen, möchte aber heute in diesem Hohen Hause die Gelegenheit nutzen, einmal in einem Satz erwähnen zu dürfen, dass es auch unter den Trainern und den Sportmedizinern der damaligen DDR - zugegeben, es war eine klare Minderheit - solche gegeben hat, die sich aus moralischer Überzeugung geweigert haben - einmal muss ich das sagen dürfen -, bei diesem Spiel mitzumachen. Denn sie konnten es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass zum Beispiel Kindern ohne ihr Wissen Dopingsubstanzen zugeführt wurden, damit sie die geforderten Zeiten, Weiten und Höhen erzielen konnten. Wer sich dazu durchringen konnte bzw. durchgerungen hat, für den gab es Probleme; das weiß ich sehr wohl. Ich betone noch einmal: Es war eine Minderheit. Aber es gehört auch zur Ehrlichkeit und zur Fairness, das einmal festzustellen. ({1}) Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung - ich habe das erwähnt - spreche ich heute zu dem vorliegenden Antrag. Dabei muss ich auf verschiedene Aspekte eingehen, und zwar sowohl auf inhaltliche als auch auf Verfahrensfragen. Zunächst zu den rechtlichen Aspekten - Kollege Riegert ist kurz darauf eingegangen -: Sie schreiben im Feststellungsteil des Antrages: Die Bundesregierung mag die Auffassung vertreten, dass gegen die Bundesrepublik Deutschland kein Anspruch als Rechtsnachfolger bestehe. Da setzt meine Kritik an: Herr Kollege Riegert, Sie erwecken damit den Eindruck, als vertrete die heutige Bundesregierung eine Auffassung, die man nicht unbedingt teilen müsse. Vor dem Hintergrund der Ihnen bekannten Rechtsprechung des Landgerichtes und des Oberlandesgerichtes Dresden zur Klage des ehemaligen Gewichthebers Roland Schmidt darf ich daran erinnern, dass es der damalige Bundesgesundheitsminister Herr Seehofer war, der als Vertreter der Beklagten die Auffassung vertrat, dass die Bundesrepublik Deutschland für diesen staatshaftungsrechtlichen Anspruch, der zu Zeiten der DDR entstanden ist, nicht einzustehen habe. Er hat die Ansicht vertreten, dass das Rechtsinstitut der Funktionsnachfolge nicht zur Anwendung komme, und zudem den gesamten Hergang der Medikamentenabgabe bestritten bzw. sich auf Nichtwissen berufen. Schließlich hat er auch die Einrede der Verjährung erhoben. Das Oberlandesgericht hat sich der Auffassung der damaligen Bundesregierung zur Funktionsnachfolge angeschlossen. Da der Kläger den Antrag auf Revision bekanntlich zurückgenommen hat, ist das Urteil des Oberlandesgerichtes Dresden vom 29. Februar 1996 rechtskräftig geworden. Man mag das beklagen, aber es ist die Rechtslage und nicht nur die Auffassung der Bundesregierung. Ich denke, Herr Kollege Riegert, darauf hätte in Ihrem Antrag zumindest eingegangen werden können, wenn nicht gar müssen, aber - da stimmt die SPD-Bundestagsfraktion Ihrer Aussage ausdrücklich zu moralische Kategorien überwiegen in diesem Falle rechtliche Normen. ({2}) Allerdings gilt dies nicht erst seit dem 27. März 2001, als Sie Ihren Antrag stellten. Dies galt bereits unmittelbar nach Rechtskraft des Urteils, also zu einer Zeit, als Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, Regierungsverantwortung trugen und Sie, Herr Kollege Riegert, sportpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion waren; aber Sie haben ja darauf hingewiesen. Über die Notwendigkeit, den DDR-Dopingopfern finanziell zu helfen, bestand auch - ich möchte daran erinnern - in der Sportausschusssitzung am 25. Oktober letzten Jahres kein Dissens. Die sportpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Dagmar Freitag, hat - wie vereinbart - alle Mitglieder unserer Fraktion gebeten, sich bei den Gerichten in ihren Wahlkreisen dafür einzusetzen, dass Strafgelder dem Doping-Opfer-Hilfe-Verein überwiesen werden. Bedauerlicherweise ist nur ein geringer Betrag überwiesen worden. Ferner hatte die Vertreterin der Bundesregierung, Frau Staatssekretärin Zypries, zugesagt, Spenden für den Verein einzuwerben. Der Verein war gebeten worden, eine Dokumentation in eigener Sache zu erstellen. Mir ist bekannt, dass es mehrere Monate dauerte, bis diese Information vorlag. Die SPD-Fraktion bekennt sich heute erneut zu dieser moralischen Verpflichtung - ich betone das. Es muss ein deutliches Zeichen gesetzt werden, dass man angesichts der gesundheitlichen Schäden durch das staatlich verordnete Doping in der ehemaligen DDR nicht zur Tagesordnung übergeht. Jedoch - damit komme ich zu einem weiteren Aspekt sind die medizinischen Fragen nach unserer Auffassung noch nicht hinreichend geklärt. Dopinganalytiker und Endokrinologen bestätigen übereinstimmend, dass in jedem Einzelfall geprüft werden müsste, ob die gesundheitlichen Schäden tatsächlich in der Gabe von Dopingsubstanzen ihre Ursache haben. Wenn wir nicht wollen, dass die Gelder, die für Dopingopfer bereitgestellt werden, überwiegend für medizinische Gutachten ausgegeben werden, dann müssen wir im Interesse einer praktikablen Regelung zu nachvollziehbaren Kriterien kommen, wer Entschädigungsleistungen erhält und wer nicht. Ich bin auch für eine Differenzierung. Wo die Substanzen Kindern und Jugendlichen ohne deren Wissen verabreicht wurden - darüber besteht, denke ich, Konsens -, muss es eine Entschädigung geben. Mir ist aber auch bekannt, dass es eine ganze Reihe von erwachsenen Athleten gab, die wissentlich und das Risiko in Kauf nehmend entsprechende Mittel zu sich genommen haben. Ich denke, da ist eine Differenzierung angebracht. Aber wir können und werden darüber diskutieren und uns von Fachleuten beraten lassen. Deshalb plädieren wir für eine solche Untersuchung. Darüber hinaus stellt sich für die SPD-Fraktion die Frage - die ich schon angedeutet habe - dass es Sportlerinnen und Sportler gab, die Kenntnis vom Einsatz von Dopingmitteln hatten und ihn billigend in Kauf genommen haben. Die Versuchung war groß. Ich will das nicht billigen, im Gegenteil, aber es gab ja im Anschluss, wenn die Erfolge kamen, eine ganze Reihe von staatlichen Vergünstigungen. Da gab es multiple Varianten; ich möchte nicht näher darauf eingehen. An dieser Stelle, Herr Riegert, stimmen wir also mit Ihrem Antrag nicht überein. Nun zu einem weiteren, nicht unwesentlichen Aspekt, nämlich der finanziellen Seite Ihres Antrags. Wie den Pressemeldungen zu entnehmen war, haben Sie im Antrag bewusst keine konkrete finanzielle Forderung erhoben. Dies wäre angesichts Ihrer von mir auch sonst registrierten besonderen Gabe, mit finanziellen Forderungen in Sachen Sport insbesondere seit Herbst 1998 nicht gerade kleinlich zu sein, ein bemerkenswerter Fortschritt, ({3}) wenn Sie nicht nachweislich der „Netzeitung“ Ende März - meines Wissens ist das auch belegbar - ein Interview gegeben und dabei den finanziellen Umfang der Entschädigungszahlungen auf 10, 20 oder gar 30 Millionen DM über mehrere Jahre beziffert hätten. Mit diesen Zahlen tun Sie niemandem einen Gefallen, ({4}) vor allem nicht den Betroffenen, bei denen Sie Erwartungen wecken, die möglicherweise nicht befriedigt werden Götz-Peter Lohmann ({5}) können. Dann haben Sie aber auch noch kühn behauptet, diese Zahlen kämen nicht aus der CDU/CSU-Fraktion, sondern die hätte die SPD ins Spiel gebracht. Das ist gewissermaßen schon ein starkes Stück und hat nach meinem Dafürhalten mit fairer Oppositionsarbeit nichts zu tun. Ich bin immer davon ausgegangen, dass gerade wir Sportpolitiker und noch aktive Sportler relativ fair miteinander umgehen. Wir alle erinnern uns an die Sportausschusssitzung am 25. Oktober, als der Vorsitzende des Doping-Opfer-HilfeVereins, Dr. Klaus Zöllig, vortrug. Da war von deutlich geringeren Beträgen die Rede. Die SPD-Fraktion will sich nicht auf einen konkreten Betrag festlegen. Wir alle wissen: Es kommt zu einer Überweisung in die entsprechenden Ausschüsse, auch in den Sportausschuss. Ich denke, wir werden im Sportausschuss Gelegenheit haben, uns noch einmal intensiv mit dieser Problematik zu befassen. Dann wird auch darüber zu sprechen sein, ob - wie in Ihrem Antrag vorgesehen ausschließlich die Bundesregierung gefordert ist, sicherzustellen, dass DDR-Dopingopfern geholfen werden kann. Wir sehen es so, dass sich der organisierte Sport und auch die Pharmaindustrie dieser moralischen Verpflichtung stellen müssen. Es gibt Gott sei Dank Hinweise, wonach mit einer finanziellen Beteiligung zu rechnen ist, sodass das realisiert werden könnte. Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag der CDU/CSUFraktion in der vorliegenden Fassung ab. Wir lehnen ihn nicht ab, weil wir gegen die Entschädigung von DDR-Dopingopfern sind, sondern weil der Antrag mehrere Passagen enthält, die nach unserer Ansicht nicht akzeptabel sind. Erstens. Nicht nur die Bundesregierung hat sicherzustellen, dass DDR-Dopingopfern geholfen werden kann, auch der organisierte Sport und die Pharmaindustrie sind nach unserer Auffassung in der Pflicht. Zweitens. Wesentliche Fragen, vor allem die medizinischen, sind noch nicht geklärt. Ohne wissenschaftliche Untersuchungskriterien wird ein praktikables Verfahren nicht möglich sein. Die SPD-Fraktion erklärt ausdrücklich ihre Bereitschaft, in einen konstruktiven Dialog mit allen Beteiligten einzutreten bzw. den begonnenen Dialog fortzusetzen. Dies kann bereits in einer der nächsten Sportausschusssitzungen der Fall sein. Wir widersprechen allerdings allen leichtfertig geäußerten und utopischen finanziellen Forderungen. Ich möchte nicht vergessen, zum Abschluss eines zu sagen, weil wir trotz der fortgeschrittenen Zeit immer noch Gäste haben: Nach Ablauf von elf Jahren seit dem Untergang der DDR und angesichts der Möglichkeiten, in rund acht Jahren der Regierungsverantwortung das Problem zu lösen, wird ein derartiger Antrag - man könnte ihn vielleicht auch als populistischen Antrag bezeichnen, aber ich gehe davon aus, dass wir alle es in der Sache ehrlich meinen - der Bedeutung der Angelegenheit nicht gerecht. Auch deshalb lehnen wir den Antrag in dieser Fassung ab. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit, die Sie mir trotz der fortgeschrittenen Zeit gewidmet haben. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Klaus Kinkel von der F.D.P.-Fraktion.

Dr. Klaus Kinkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Heuchelei um Mitternacht“ schreibt heute der „Tagesspiegel“. Mitternacht ist es nicht ganz geworden, aber dieses Thema hätte in der Tat eine etwas günstigere Stunde zur Behandlung verdient. Dafür ist es zu wichtig. Ich habe im Übrigen auch nicht die geringsten Probleme damit, zu sagen, dass wir uns um dieses Thema hätten früher kümmern müssen, auch in der alten Regierung. Da stimme ich Ihnen, Herr Riegert, ausdrücklich zu. Das, was da in der früheren DDR geschehen ist, ist eine schlimme Hinterlassenschaft. Das systematische Doping, das Staatsdoping, ist inzwischen sportmedizinisch-wissenschaftlich einigermaßen aufgearbeitet. Aufgearbeitet ist seit den Prozessen im letzten Jahr und seit der Verjährung auch die Frage der Strafbarkeit der Verantwortlichen. Es ist fast nichts, wenn ich richtig unterrichtet bin, in Richtung Unterstützung geschehen. Deshalb erwarten die Betroffenen, dass ihre zum Teil schlimmen physischen und psychischen Schäden in irgendeiner Form anerkannt werden und dass man darüber befindet, was getan werden kann. Etliche leiden unter chronischen Krankheiten. Ich verstehe auch, dass sich einige der Betroffenen gesellschaftlich isoliert fühlen; auch ist es beruflich um viele Betroffene nicht gut bestellt. Das ist nicht gut. Die gesundheitlichen Spätfolgen scheinen sich zudem in vielen Fällen erst in der nächsten Generation zu zeigen und sind dann auch noch schwer nachweisbar. Die rechtliche Situation ist durch die Entscheidung des Dresdener Oberlandesgerichts geprägt, die besagt: Keine Haftung des Staates. - Als ehemaliger Justizminister und langjähriger Staatssekretär im Justizministerium muss ich sagen, dass ich darüber auch etwas unzufrieden bin. Ich kenne mich in der Problematik der Rechtsnachfolge einigermaßen aus, aber ich habe meine Zweifel daran, ob dies alles so sein musste. ({0}) Man kann den betroffenen Menschen schließlich nicht vorwerfen, sie hätten das alles sozusagen selbst verschuldet. Für junge, talentierte Sportler war es wohl schwer, sich in dem Unrechtsstaat dem Dopingsystem zu entziehen. Die Abhängigkeit war einfach zu groß. Deshalb glauben wir, dass in der Tat ein Fonds gegründet werden sollte. Darüber haben wir uns bereits unterhalten und sind uns wohl auch einigermaßen einig. Dieser Fonds müsste aus staatlichen Mitteln gespeist werden; es müssten Götz-Peter Lohmann ({1}) Mittel aus der Wirtschaft hinzukommen - ich kann mir auch vorstellen, dass dies möglich sein wird - und die Sportverbände sollten sich ebenfalls an diesem Fonds beteiligen. Wir können die Betroffenen nicht im Regen stehen lassen. ({2}) Die Opfer kämpfen seit relativ langer Zeit gegen die Mühlen der Bürokratie und gegen die Nichtbeachtung in Politik und Gesellschaft, zum Teil auch gegen offene Anfeindungen. Für viele war es wohl auch sehr schwer, aus der Reserve zu kommen und dies mit einem persönlichen Outing zu verbinden, das zum Teil bis in die intimsten Privatbereiche hineinging. Deswegen meine ich, dass die Betroffenen es verdienen, endlich Gehör zu finden und eine Antwort sowie finanzielle Unterstützung zu bekommen. ({3}) Ich habe versucht, mich über die Zahlen zu informieren, die infrage stehen. Wenn ich das richtig verstanden habe - aber ich bitte darum, das nicht als absolut verbindlich zu nehmen -, handelt es sich höchstens um 100, 200 oder 300 Betroffene. Angesichts einer solchen Dimension kann das Vorhaben wohl kaum scheitern. Es geht schließlich um Einzelschicksale. Das kostet zwar etwas Geld, aber entscheidend ist, dass wir den guten Willen haben, zu helfen. ({4}) Ich meine, dass es auch der großen Sportnation Deutschland, die wir sein und bleiben wollen, nicht schlecht anstünde, wenn wir dies täten, auch im Hinblick darauf - das ist ebenfalls vorhin bereits erwähnt worden -, dass wir nicht unwesentlich vom Sporterbe der DDR profitiert haben. Das Fazit ist also: Nach unserem Vorschlag sollen - wie im Sportausschuss angedeutet und besprochen Wirtschaft, Staat und die Verbände in einen Fonds einzahlen und dann sollte ein vernünftiges System der Auszahlung und Abfindung gefunden werden. Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Hermann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem sicherlich schwierigen und aus meiner Sicht auch widerlichen Kapitel der deutschen Sportgeschichte. Am liebsten würde man es - so geht es mir jedenfalls - ad acta legen, wenn es da nicht die Opfer gäbe, die noch lange an diesem Missbrauch leiden werden. Ich glaube, wir können uns das nicht mehr leisten. Meiner Meinung nach ist das Positive und Angenehme der heutigen Debatte, dass die Redner aller Fraktionen deutlich gemacht haben, dass wir das nicht mehr verdrängen wollen, sondern wir uns dieser Verantwortung stellen wollen, obwohl wir nicht diejenigen sind, die die eigentliche Verantwortung tragen. Es hat mir gefallen, dass alle gesagt haben: Wir wollen nicht nur das Gute des Erbes übernehmen. Das haben wir gerne getan. Bei einem Erbe ist es aber nicht möglich, den schlechten Teil auszuschlagen. Auch die Erblasten gehören dazu. Damit setzen wir uns auseinander. Ich habe im Sportausschuss deutlich gemacht, dass wir uns, unabhängig von der schwierigen rechtlichen Lage und den schwierigen Fragen von Schuld und Verantwortung, unserer Verantwortung stellen müssen. Aus meiner Sicht gibt es Täter, Mitwisser, Halbwissende und Menschen, die nichts wissen wollten. Es gibt tatsächlich auch Nichtwissende, Ahnungslose, Opfer. In dieser Unterschiedlichkeit müssen wir die Problematik angehen. Das komplexe System des DDR-Dopings ist nicht ganz leicht zu erfassen. Man muss aufpassen, dass man nicht das Bild vermittelt, als sei der DDR-Sport eine einzige Geschichte des Dopings oder als seien alle Sportlerinnen und Sportler der DDR nur leistungs- und wirtschaftsgeil und deswegen verführbar gewesen. Es gab viele Menschen, die aus Liebe zum und Freude am Sport und in gutem Glauben - übrigens nicht alle mit Doping - Sport getrieben haben. Ines Geipel, die meines Wissens heute hier ist, hat es unlängst ausgedrückt. Die Spitzensportlerin sagte: Wir haben es auch aus Liebe an der Bewegung getan. Manches von dem System wird nur erkennbar, wenn man in die Stasi-Akten schaut. Vielleicht haben damit einige von uns Probleme, weil es Stasi-Akten sind. Aber die konspirative Methode ist nur über diese Akten verstehbar, so widerlich sie sind. Sie sind die einzigen Dokumente, die offen darlegen, was damals geschehen ist, wie konspirativ gearbeitet wurde, dass manche eingeweiht waren und andere eben nicht. Trotz all dieser Differenzierung muss ich aus grüner Sicht sagen: Es gibt Opfer. Selbst wenn es medizinisch schwierig ist, nachzuweisen, was tatsächlich dazu geführt hat, meine ich angesichts der Rechtssituation: Wir können nicht ignorieren, dass es Geschädigte gibt. Herr Kinkel und andere haben das Landgericht Dresden angesprochen. Das Gericht hat festgestellt: Wir, die Bundesrepublik, sind nicht verantwortlich und müssen nicht zahlen. Aber ich finde, wir können diese Position nicht annehmen. Es hat mich gefreut, dass selbstkritisch gesagt wurde: Wir können dies nicht aussitzen. - Es fällt oft leicht, in der Opposition Verantwortung einzuklagen, wenn man sie nicht hat. Jetzt haben Sie sie eingeklagt und wir nehmen sie an. Damit ist der Weg frei, etwas zu tun. Der Doping-Opfer-Hilfe-Verein hat schon Großartiges geleistet. Dafür herzlichen Dank und weiterhin viel Kraft. ({0}) Er hat die Politiker angestoßen, die die Verantwortung zunächst nicht übernommen haben. Es liegt jetzt an uns, diesen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, den Betroffenen zu helfen. Allein mit diesem Verein wird es nicht möglich sein. Wir brauchen - darin stimme ich allen zu, die dies gesagt haben - einen Fonds. Er muss aus staatlichen Mitteln, aber auch aus Mitteln der Wirtschaft gespeist werden. Man hat zum Teil damals davon profitiert und ist auch heute noch Teil des Systems. Aber auch Sportorganisationen müssen sich beteiligen. Das NOK hat gerne einige Millionen aus dem Vermögen als gutes Erbe mitgenommen. In dem Fall muss man auch etwas für den schlechten Teil zahlen, also in den Fonds einzahlen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hermann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beucher?

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Beucher.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geschätzter Kollege Hermann, folgen Sie meiner Einschätzung, dass die Politik den Hilferuf zumindest dergestalt aufgegriffen hat, dass wir im Sportausschuss des Deutschen Bundestages den Doping-Opfer-Hilfe-Verein angehört haben, und dass es wichtig ist, dies in dieser Debatte, in der wir das Thema neu anstoßen, zu erwähnen?

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Kollege Beucher. Ich kann Ihnen voll und ganz zustimmen. Ich freue mich außerordentlich darüber, dass wir nicht im Duktus der Herrschenden gesagt haben: Wir geben nichts, wir haben nichts, wir sind nicht verantwortlich. - Vielmehr haben wir gesagt: Wir möchten die Probleme kennen lernen. Wir möchten sehen: Was sind die Schwierigkeiten? Wo braucht ihr Hilfe? Das war der erste Schritt. Der nächste Schritt ist, dass wir uns jetzt zusammensetzen und überlegen: Wie kann man einen solchen Fonds aufbauen und speisen? Ich sage aber auch ganz klar: Wir sollten nicht so tun, als müsse dies der Staat allein regeln, sondern wir müssen diese Dreierkonstruktion hinbekommen, bei der die Sportvereine und die Wirtschaft mit in das Boot hinein müssen. ({0}) Dann sehe ich Möglichkeiten. Ich finde, der Antrag der CDU/CSU-Fraktion gibt einen guten Anstoß. Wir müssen allerdings sehen, wie wir das im Detail umsetzen können. Ich kann Ihnen zum Schluss sagen: Für mich ist die ganze Geschichte der Dopingopfer der DDR eigentlich eine Ermahnung, jetzt in der Bundesrepublik Deutschland rasch ein eigenes Anti-Doping-Gesetz zu erarbeiten, damit wir nicht in wenigen Jahren über die Schäden der Sportler sprechen müssen, die heute Doping betreiben. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Da der Kollege Gustav-Adolf Schur von der PDS-Fraktion seine Rede zu Protokoll gegeben hat, schließe ich die Ausspra- che.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5674 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Juni 2001, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.