Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Zweimal gleich! - Herr
Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal zwingen uns die Oppositionsparteien eine Geschäftsordnungsdebatte auf.
({0})
Aus nicht nachvollziehbaren Gründen weigern sie sich,
die beiden justizpolitischen Themen - Reform des Zivilprozesses und Modernisierung des Schuldrechts - auf die
Tagesordnung zu setzen. Deswegen bleibt uns, weil ja die
Tagesordnung einvernehmlich vereinbart werden muss,
nur noch der Weg dieser Debatte, obwohl wir eine solche
eigentlich gar nicht wollen, sie aber sein muss.
Nun haben wir uns schon daran gewöhnt, dass die Oppositionsparteien immer dann, wenn wir über die verPräsident Wolfgang Thierse
nünftige und zukunftsweisende Rechtspolitik dieser Bundesregierung debattieren wollen,
({1})
dies mit allerlei Mätzchen zu verhindern suchen.
({2})
Bei allen wichtigen Justizthemen dieser Wahlperiode haben Sie Geschäftsordnungsdebatten angezettelt, sei es
beim Gesetz über die Lebenspartnerschaften, bei der
ersten Lesung der ZPO-Reform oder der zweiten und dritten Lesung der Mietrechtsreform.
Der Grund liegt darin, dass Sie zu inhaltlichen Sachdebatten nicht in der Lage sind.
({3})
Heute sind Sie sogar zu feige, sich selbst hier hinzustellen
und zu begründen, warum Sie eine solche Debatte nicht
wollen. Sie lassen vielmehr uns den Vortritt, um zu sagen,
warum eine solche Debatte sein muss.
Wie sollen Sie von der Opposition auch eine politische
bzw. rechtspolitische Sachdebatte führen können? In der
Rechtspolitik sind Kreativität und Spontaneität der Unionspolitiker sowieso verkümmert.
({4})
Man kann sogar sagen: Sie sind rechtspolitisch entwöhnt.
({5})
Während Ihrer Regierungszeit wurde Rechtspolitik in der
Union doch vornehmlich von dem Millionenschieber
Kanther gemacht oder aber vom bayerischen Justizministerium ferngesteuert.
({6})
Herr Geis, Ihr Versuch, als Rechtspolitiker auf eigenen
Füßen zu stehen, ging voll daneben.
({7})
Sie haben den von Ihnen eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Reform der ZPO von einem Bundesratsentwurf
aus der vergangenen Legislaturperiode schlecht abgekupfert. Heute wollen Sie davon nichts mehr wissen.
({8})
Man könnte sagen: Ehe der Hahn dreimal gekräht hat, hat
Norbert Geis sein eigenes Gesetz verraten.
({9})
Bei der F.D.P. war es nicht anders.
({10})
Ihr Ministerium hat immer zugearbeitet. Ihre Minister haben im Stile einer 4-mal-100-Meter-Staffel den Stab weitergegeben und waren immer nur darauf bedacht, den Ministersessel für den Nächsten vorzuwärmen.
({11})
Die einzige Konstante war der Parlamentarische Staatssekretär Funke, der acht Jahre überstanden hat und dem wir
die heutige Debatte verdanken. Ich komme noch darauf
zurück. Ich frage nur: Wo ist Herr Funke heute?
({12})
Kollege Hartenbach,
die Frage nach dem Verbleib des Kollegen Funke mag
zwar interessant sein; aber jetzt sollten Sie sich zur Geschäftsordnung äußern.
({0})
Herr Präsident, das tue ich
doch schon die ganze Zeit; denn das, was ich darlege,
gehört dazu.
({0})
- Okay, Herr Merz, ich würde sofort aufhören,
({1})
wenn Sie jetzt sagen würden: Wir stimmen den beiden
Aufsetzungsanträgen zu.
({2})
Natürlich sind wir wieder schuld daran;
({3})
denn Sie haben triftige Gründe, uns vorzuwerfen, dass
wir - Herr Präsident, ich spreche jetzt wirklich zur Geschäftsordnung - dem Wunsch der Oppositionsparteien
nach einer Debatte nicht nachgekommen seien.
({4})
Was wollen wir denn und was müssen wir machen?
({5})
Wir wollen und müssen noch in dieser Woche das
Schuldrechtsmodernisierungsgesetz in erster Lesung in
das parlamentarische Verfahren einbringen. Wir tun dies
doch nicht, weil wir Sie ärgern wollen, ganz im Gegenteil:
Wir tun dies doch, um eine breite parlamentarische Beratung zu ermöglichen. Würden wir warten, bis das Parlament den Regierungsentwurf bekäme, dann würden wir in
erheblichen Zugzwang geraten. Dann würde ich Ihnen
auch Recht geben, wenn Sie sagten: Wir müssen das alles
in einem Hauruckverfahren durchbringen. - Genau das
wollen wir nicht. Wir bringen einen Koalitionsentwurf
ein, sodass die Opposition frühzeitig in die Beratungen
eingebunden werden kann und wir die Sommerpause nützen können. Wir wollen Sie schon jetzt in alle Beratungen
integrieren. Wir bieten Ihnen das an, so wie wir es Ihnen
schon einige Male angeboten und es auch umgesetzt haben.
Ich komme nun auf die ZPO-Reform zu sprechen.
({6})
Wir haben in den Berichterstattergesprächen in einer
beispiellosen Art und Weise versucht, die ZPO-Reform
mit den Oppositionsparteien klar zu machen. Wir haben
Ihnen immer wieder gezeigt, dass wir bereit sind, Sie an
den Beratungen zu beteiligen. Nur, Sie müssen das akzeptieren. Nun wollen wir zu einem guten Ende kommen,
({7})
nachdem wir uns mit dem Deutschen Anwaltverein, dem
Deutschen Richterbund und unseren Ländervertretern einig sind. Wir werden heute Nachmittag über die ZPO-Reform nicht nur debattieren, sondern sie mit der Mehrheit
des Hauses auch verabschieden.
Kollege Hartenbach Alfred Hartenbach ({0}): Ich bin sofort fertig.
- damit liefern Sie mir
das Stichwort -, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich lade Sie herzlich ein:
Hören Sie auf, Oppositionspolitik nur als Obstruktionspolitik zu verstehen! Beteiligen Sie sich vielmehr an den
Beratungen zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz
und zeigen Sie, dass Sie mehr können, als nur Nein sagen!
Ich stelle den Antrag, unseren beiden heutigen Aufsetzungsanträgen zuzustimmen.
({0})
Ich erteile Herrn Kollegen van Essen, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Rede des Kollegen Hartenbach gehört hat
({0})
und vor allen Dingen gemerkt hat, dass er praktisch keine
Argumente vorgetragen hat,
({1})
der versteht, warum er in der Vergangenheit so intensiv
Pirouetten drehen musste. Wir als Opposition haben es
sehr viel besser, weil wir nämlich Argumente für unseren
Antrag haben,
({2})
sowohl die Debatte über die Reform des Zivilprozesses
als auch die Debatte über die Reform des Schuldrechts in
einer anderen Form durchzuführen.
Der Kollege Hartenbach hat gesagt, das, was vorgeschlagen werde, sei vernünftig und zukunftsweisend.
({3})
Wenn das so ist, Herr Kollege Hartenbach, dann verstehe
ich überhaupt nicht, warum Sie unserem Wunsch, diese
Debatte morgen als ersten Punkt und damit zu einer günstigen Zeit durchzuführen, damit sich jedermann ein Bild
davon machen kann, nicht entsprechen.
({4})
Die Debatte ist doch vor allem deshalb auf den frühen
Nachmittag und damit auf eine Zeit außerhalb der Kernzeit verschoben worden, weil sogar der „Spiegel“, der
nicht im Verdacht steht, der Regierung zu kritisch gegenüberzustehen, in dieser Woche die Schlagzeile veröffentlicht hat:
Mit ihrem ehrgeizigen Vorhaben einer umfassenden
Zivilprozessreform ist Justizministerin Herta
Däubler-Gmelin weitgehend gescheitert.
Das ist der wesentliche Grund, warum wir das heute
Nachmittag debattieren sollen und nicht zu einer besseren
Zeit beraten können.
Es gibt übrigens noch einen zweiten und für uns ebenfalls wichtigen Grund: Es gibt eine gute Übung im Deutschen Bundestag, dass dann, wenn die wesentlichen
Berufe im Bereich der Justiz ihre jährlichen Zusammenkünfte haben - Juristentag, Anwaltstag, RechtspfleAlfred Hartenbach
gertag -, die rechtspolitischen Sprecher vereinbaren, zu
der Zeit, wenn die Eröffnungsveranstaltung ist, keine
rechtspolitische Debatte durchzuführen, weil es der Respekt vor diesen Berufen gebietet.
({5})
Heute Nachmittag findet genau zu dem gleichen Zeitpunkt, zu dem die Koalition diese Debatte angesetzt hat,
der Rechtspflegertag in Hamburg statt. Wir wollen,
dass wir weiterhin diesen Justizberufen Respekt zollen
({6})
und unseren rechtspolitischen Sprechern die Möglichkeit
geben, dort die Anregungen der Praxis aufzunehmen und
sich an der Diskussion zu beteiligen.
({7})
Was das Schuldrecht anbelangt, so haben wir zu Beginn dieser Woche eine Vorlage von über 680 Seiten bekommen.
({8})
Wir sind nicht bereit, eine solche Behandlung im Bundestag hinzunehmen; denn die Fraktionen müssen selbstverständlich die Möglichkeit haben, sich ein solches Paket
vernünftig anzuschauen, in ihren Gremien zu beraten und
dann in die Debatte einzutreten.
({9})
Wir haben - Sie haben uns Obstruktion vorgeworfen,
({10})
Herr Hartenbach, überhaupt keine Obstruktion gezeigt,
sondern - ganz im Gegenteil - einen vernünftigen Vorschlag gemacht: Wir haben Ihnen angeboten, morgen Vormittag die Debatte zur Zivilprozessreform durchzuführen
sowie gleichzeitig im Vorgriff im Rechtsausschuss schon
die notwendige Anhörung für den Bereich des Schuldrechts zu beschließen und damit sicherzustellen, dass es
keine Verzögerung gibt.
Von daher gibt es also überzeugende Argumente bei
der Opposition. Wir wollen, dass die Zivilprozessreform
zu einer vernünftigen Zeit debattiert wird und dass respektiert wird, dass die Rechtspfleger ihren Rechtspflegertag haben. Wir wollen außerdem eine vernünftige Beratung auch bei den Oppositionsfraktionen sicherstellen.
Deshalb bitten wir um Zustimmung zu unserem Antrag, dass nämlich die Debatten so nicht stattfinden, wie
die Koalition sie will.
Vielen Dank.
({11})
Wir kommen zur Ab-
stimmung.
Wer stimmt für die Aufsetzungsanträge der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Aufsetzungsan-
träge sind mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und
PDS angenommen. Damit werden der Entwurf des Zivil-
prozessreformgesetzes heute nach der Aktuellen Stunde
und der Entwurf des Schuldrechtsmodernisierungsgeset-
zes morgen als erster Tagesordnungspunkt beraten.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkt 3 a und b so-
wie Zusatzpunkt 2 auf:
3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Vertrauen und Solidarität - die Chancen der
Zukunft nutzen
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Regelungen über die Festsetzung von
Festbeträgen für Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung ({0})
- Drucksache 14/6041 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Versorgungsangleichung in der gesetzlichen Krankenversicherung ({2})
- Drucksache 14/6054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erteile ich der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla
Schmidt.
({4})
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen -
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte Sie, wenn Sie nicht hier bleiben
wollen, schnell und vor allem sehr ruhig den Saal zu verlassen, damit die Rednerin nicht gestört wird.
Vielen Dank, Herr Präsident.
({0})
- Es wird ja sehr viel wichtiger sein, dass Sie mir zuhören,
damit Sie endlich auf den richtigen Weg kommen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das deutsche Gesundheitswesen sei zu teuer und es bedürfe dringend einschneidender Veränderungen - das sind seit gut zehn Jahren landauf, landab verkündete Behauptungen. Alle
waren sich darin immer einig, ob Regierung, Opposition,
Pharmaindustrie, Krankenhäuser, Patienten, Ärzte, Kassen, Arbeitgeber oder Gewerkschaften. Damit hörte allerdings die Einigkeit schon auf. Gemeinsame Lösungen waren schwierig. Im Ergebnis stehen wir weiterhin vor einer
Vielzahl von Problemen und sind mit der Einschätzung
konfrontiert, dass unser Gesundheitssystem reformbedürftig ist.
Unabhängig davon, dass wir unser Gesundheitssystem
zukunftsfähig machen müssen, stelle ich bei dieser Gelegenheit einmal fest: Wir haben in Deutschland hervorragende Ärzte und Ärztinnen. Unsere Unfall- und Nothilfe
ist vorbildlich. Krankenkassen bemühen sich um optimale Leistungen, Service und Effizienz. Die Qualität unserer Krankenhäuser ist herausragend. Überall, von den
Pflegerinnen und Pflegern und den Sachbearbeitern der
Krankenkassen bis hin zu den Ärztinnen und Ärzten treffen wir auf sorgfältig arbeitende, verantwortungsbewusste und qualifizierte Menschen.
({2})
Der Dienstleistungsbereich Gesundheitsmarkt bietet
große Chancen für Beschäftigung und entfaltet auf dem
Arbeitsmarkt positive Wirkungen. Unser Gesundheitswesen wird von vielen anderen in der Welt mit Anerkennung
betrachtet. Die deutsche Pharma- und Medizinprodukteindustrie produziert weltweit gefragte Exportartikel.
Im Übrigen sind ihre Erwerbs- und Exportchancen nicht
nur in Bezug auf den deutschen Markt, sondern ebenso
auf den europäischen Binnenmarkt und den internationalen Wettbewerb sehr gut.
Wenn wir in Deutschland auf etwas stolz sein können,
dann auf unser Solidarsystem und die Leistungen, die von
ihm tagtäglich erbracht werden. Deshalb ist es höchste
Zeit, den Beschäftigten im Gesundheitswesen unseren
Dank und unsere Anerkennung auszusprechen.
({3})
- Da darf auch die Opposition klatschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Krankheit gehört leider zum Leben. Wir können sie nicht wirklich verhindern
und wir können nicht vorhersagen, wer wann krank wird,
durch Unfälle Behinderungen davontragen oder dem
Stress am Arbeitsplatz nicht gewachsen sein wird. Es ist
ein Teil des Schicksals, dem wir nur ohnmächtig Tribut
zollen können. Ich bin sicher, dass auch die Entschlüsselung der menschlichen Gene daran im Kern nichts ändern
wird, wenn wir auch hoffen, damit viele Krankheiten
bekämpfen zu können. Einen absoluten Schutz vor
Krankheit gibt es nicht. Deswegen ist die Gestaltung des
zukünftigen Gesundheitswesens eine Aufgabe, die alle
Menschen betrifft und interessiert. Wir, die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen, stellen uns der
Verantwortung, ein leistungsfähiges, effizientes Gesundheitswesen auch für die Zukunft zu sichern. Das schafft
und sichert Vertrauen bei Patientinnen und Patienten, die
sich in ihrer Not auf unsere solidarische Versicherung und
die Leistungsfähigkeit unserer Gesundheitsversorgungssysteme verlassen müssen.
({4})
Ausgangspunkt unserer Gesundheitspolitik ist die Vorsorge, und zwar die Vorsorge gegen den am Ende unkalkulierbaren Schicksalsschlag der Krankheit. Jeder weiß
aus eigener Erfahrung, dass sich die Menschen fragen:
Was passiert, wenn meine Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird? Werde ich die notwendigen Aufwendungen für
Diagnose und Therapie erbringen können? Werde ich am
Ende hoffentlich auch geheilt sein? Wird das Gesundheitswesen durch gemeinschaftliche Anstrengungen mich
und meine Familie vor einem finanziellen Desaster bewahren?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben darauf im
Wesentlichen zwei Antworten gefunden:
Erstens. Da jeder Einzelne dieselbe Chance auf Gesundheit hat und dasselbe Risiko der Krankheit trägt, teilen wir die Kosten der Krankheit und ihrer Behandlung
nach einer sozialen Staffelung, die die finanzielle Leistungsfähigkeit berücksichtigt, solidarisch unter allen potenziell Betroffenen auf. Ich sage hier ganz deutlich: An
dieser Grundidee bzw. diesem Leitgedanken unseres Solidarsystems werden diese Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen festhalten.
({5})
Zweitens. Da wir das Risiko einer Erkrankung nicht
verhindern können, müssen wir es beeinflussen; wir müssen vorbeugen. Daran gemessen müssen wir feststellen,
dass die Prophylaxe in der Systematik der Leistungen und
in der Finanzierung im Gesundheitswesen immer noch
nicht hinreichend verankert ist.
({6})
Zu einem erheblichen Teil liegt die Vorbeugung natürlich in der Verantwortung des Einzelnen. Nicht der Arzt
kann der Erkrankung vorbeugen, sondern nur eine vernünftige Lebensweise. Ich appelliere an die Verantwortung der Einzelnen. Vorbeugung und gesundheitliche Aufklärung müssen gestärkt werden. Wir werden dies tun,
indem wir die entsprechenden Mittel für Werbung der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die in
diesem Bereich eine wesentliche Arbeit leistet, bereitstellen.
Ich sage aber auch ganz deutlich: Wir müssen das solidarische Verhalten des Einzelnen einfordern. Die Solidargemeinschaft hat immer zwei Seiten. Die eine ist, dass jeder Einzelne sich darauf verlassen können muss, dass die
Solidargemeinschaft für ihn einsteht, wenn er Hilfe
benötigt. Die andere ist, dass jede Einzelne und jeder Einzelne verpflichtet ist, alles zu tun und selbst mit dafür zu
sorgen, dass die Solidargemeinschaft nicht in Anspruch
genommen werden muss. Das ist unser Verständnis von
Eigenverantwortung.
({7})
Diese Form der Eigenverantwortung ist etwas völlig
anderes als die, die im unverantwortlichen Gerede eines
niedersächsischen Landtagsabgeordneten und stellvertretenden CDU-Vorsitzenden zum Ausdruck kommt. Dieser
sagt - ich zitiere -: „Wir brauchen nicht alle Risiken in
Solidarkassen zu fassen.“ Welche Risiken meint er denn?
Welches Gesundheitsrisiko ist denn so harmlos, dass wir
es ausschließen könnten und es nicht solidarisch aufgefangen werden müsste? Es ist doch bekannt: Der Vorschlag, dass jemand, wenn er jung und gesund ist, entscheiden soll, gegen welche Risiken er sich und seine
Familie absichert bzw. welche Risiken er ausschließt,
führt letztendlich dazu, dass Risiken ausgeschlossen werden, die später doch eintreten können. Man ist dann gegen
diese Risiken nicht versichert und läuft in eine selbst gestellte Risikofalle. Ich frage Sie: Wer soll die Kosten tragen, wenn dann das Einkommen nicht mehr reicht?
Diese Vorschläge lehnen wir ab. Sie bewirken nicht nur
eine Ausgrenzung, sondern sie werden letztendlich dazu
führen, dass die Kosten, die im Gesundheitswesen aufgebracht werden müssen, weiter steigen. Wir sollten in einem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen vielmehr
versuchen, die Kosten durch sinnvolle Maßnahmen zu
steuern und zu begrenzen.
({8})
Diese Regierung wird auch weiterhin dafür sorgen,
dass jeder Kranke und jede Kranke ein Recht auf Leistung
hat und dass kein Arzt fragen muss, ob eine bestimmte
Leistung für einen Patienten oder eine Patientin
ausgenommen ist, bevor er mit der Behandlung beginnt.
Wir wollen keine Zweiklassenmedizin; wir wollen eine
solidarisch finanzierte, medizinisch sinnvolle Betreuung
aller Menschen in diesem Lande.
({9})
Eines ist doch klar: Das Soziale an der Marktwirtschaft
- Sie rühmen sich ja immer, die Erfinder der sozialen
Marktwirtschaft zu sein - ist doch die Solidarität: dass die
Reichen für die Armen, die Arbeitenden für die Arbeitslosen und - das gilt für diesen Bereich - die Gesunden für
die Kranken einstehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Maßnahmen nennen.
Erstens. Gemäß dem Solidarprinzip wird der Osten
vom Westen im Rahmen des Finanzausgleichs und des
neu gestalteten Risikostrukturausgleichs unterstützt.
Nach 2,8 Milliarden DM im vergangenen Jahr werden in
diesem Jahr voraussichtlich 4,8 Milliarden DM an Beiträgen von westdeutschen an ostdeutsche Krankenkassen
fließen. Dies wird sich gemäß der vereinbarten und von
dieser Koalition beschlossenen Maßnahmen in weiteren
Stufen steigern.
Zweitens. Mit der Einführung des Wohnortprinzips
werden wir mehr Gerechtigkeit schaffen und die Finanzsituation von Ärztinnen und Ärzten in Ostdeutschland
verbessern. Das trägt dazu bei, deren Existenzängste zu
mildern.
({10})
Weil wir gerade bei den neuen Bundesländern sind:
Wir waren es, die mit dem Risikostrukturausgleich die
letzte Sozialmauer eingerissen haben, und - ich mag die
Koalition für diese Selbstverständlichkeit kaum loben wir waren es, die endlich den mit Hepatitis infizierten
Frauen in der DDR wenigstens materiell geholfen haben,
was Ihnen von CDU, CSU und F.D.P. acht Jahre lang nicht
möglich war. Auch diesen Missstand haben wir beseitigt.
({11})
Der Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen, der einen fairen Wettbewerb sicherstellen sollte,
war in den letzten Jahren in eine Schieflage geraten, sodass den großen Kassen, den Versorgerkassen, aber auch
einigen Betriebskrankenkassen der finanzielle Kollaps
drohte. Ihre Antwort auf die Gefährdung der Versorgung
Millionen Versicherter war, der Wettbewerb selbst müsse
es richten. Aber wenn wir so verfahren würden, ginge es
zu Lasten aller Versicherten. Das wäre der direkte Weg in
die Zweiklassengesellschaft; denn die gesetzliche Krankenversicherung ist kein Wirtschaftsunternehmen.
Es geht nicht um einen ideologischen Streit, sondern darum, dass wir den Wettbewerb fair organisieren. Ich erinnere mich an Zeiten - sie sind allerdings schon lange her -,
als die Begriffe „fair“ und „Wettbewerb“ auch für Sie
noch zusammen zu buchstabieren waren. Ist es fair, wenn
Krankenkassen, deren Versicherte höhere Krankheitsrisiken tragen, höhere Beiträge erheben müssen, weil einige
Kassen Gesunde und Gutverdienende mit niedrigen
Beiträgen umwerben und einfangen? Ich finde, nicht.
({12})
Ist es verantwortbar, wenn Menschen mit niedrigen
Beiträgen in eine andere Kasse gelockt werden, während
die größeren Kassen gerade die Mitglieder mit einem statistisch geringeren Gesundheitsrisiko verlieren und dadurch in eine Schieflage geraten, wodurch das ganze Solidarsystem ins Wanken gerät? Ich finde, dass das nicht
verantwortbar ist.
({13})
Solange wir ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen brauchen, so lange muss uns klar sein, dass das
nicht allein durch den Wettbewerb um niedrige Beiträge
funktioniert; deshalb ist ein Solidarausgleich, wie wir ihn
bei der Fortsetzung des Risikostrukturausgleichs planen,
ein pragmatisches und übrigens mit der sozialen Marktwirtschaft konform gehendes Mittel, Schaden von allen
Versicherten abzuwenden. Wir eröffnen dem Wettbewerb
mit der angestrebten Reform ein neues Feld: das des
Wettbewerbs um bessere Leistungen, insbesondere was
die Steigerung der Leistungen für chronisch Kranke angeht. Wir wollen im Rahmen des Gesetzentwurfs über den
Risikostrukturausgleich, den wir in den nächsten Wochen in den Deutschen Bundestag einbringen werden, allen Kassen die Möglichkeit geben, so genannte DiseaseManagement-Programme, also Programme zur besseren
Versorgung chronisch kranker Menschen, als gezielte
Leistungsverbesserungen für Kranke zu entwickeln.
Dafür schaffen wir finanzielle Anreize.
Seit vergangener Woche liegt im Deutschen Bundestag
dazu das Vorschaltgesetz vor, das übrigens nicht, wie einige behaupten - das will ich an dieser Stelle einmal erwähnen -, in diesem Jahr den Wechsel von einer Krankenkasse zur anderen völlig unmöglich macht. Wir
wollen, dass für jeden ab dem 1. Januar 2002 jederzeit der
Wechsel möglich ist und dass freiwillig Versicherte und
gesetzlich Versicherte endlich gleichgestellt werden, was
bisher nicht der Fall ist.
({14})
Wir schlagen dem Parlament damit eine wahre Deregulierung vor. Da dieser Ausdruck eines Ihrer Lieblingswörter ist, meine Damen und Herren von der Opposition,
hoffe ich auf Ihre Unterstützung.
Gesetzliche Krankenkassen können heute kaum steuern, ob und wie viele ihrer Mitglieder besonderer Leistungen bedürfen. Dem wollen wir Rechnung tragen, indem ab dem 1. Januar 2003 ein so genannter Risikopool
eingerichtet wird, damit Kassen für die Behandlung chronisch Kranker einen finanziellen Ausgleich erhalten. Damit eröffnen wir den Wettbewerb um beste Leistungen.
Wir setzen dies an die Stelle einer Konkurrenz um unrealistische und unsolidarisch niedrige Beiträge; denn - auch
das ist eine zentrale Zielsetzung dieser Regierung - wir
wollen stabile und die Lohnnebenkosten senkende
Beiträge für alle und wir wollen Leistungssicherheit für
alle Versicherten. Damit meinen wir auch die mehr als
50 Millionen Versicherten, die Mitglieder von großen
Kassen sind und ihren Kassen treu bleiben wollen.
({15})
Ich bin froh, dass wir eine Lösung gefunden haben, die im
Konsens mit allen großen und allen gesetzlichen Krankenkassen umgesetzt werden soll; das ist der einzige Weg,
um voranzukommen.
Nichtsdestotrotz benötigt das Gesundheitswesen darüber hinaus eine langfristige Stabilität. Obwohl jeder Bürger und jede Bürgerin Gesundheit als das höchste Gut einschätzt, ist die Höhe für die Aufwendungen ins Gerede
gekommen. Wir haben Verständnis dafür, dass die Menschen das, was sie brauchen, gern preiswert erhalten
möchten. Deshalb kommen wir nicht darum herum, uns
zu bemühen, die Effizienz unseres Gesundheitswesens zu
steigern, damit wir die Kosten des Gesundheitswesens
und auch die Kosten der Arbeit begrenzen.
Unter Effizienzsteigerung verstehe ich zwei Dinge:
Das eine ist Qualitätssteigerung und das andere ist die
Steigerung der Wirtschaftlichkeit in unserem Gesundheitswesen. Das, was Ihnen vorgelegt wird - die Aufhebung des Kollektivregresses bei der Unterschreitung
oder Überschreitung der Arzneimittelbudgetgrenzen -, ist
eben nicht etwas - manche sind dieser Auffassung -, was
gegen dieses Ziel spricht. Wir wollen das Ziel nicht aufgeben; wir setzen vielmehr auf Instrumente, die geeignet
sind, das angestrebte Kostenbewusstsein tatsächlich zu
erreichen.
Die Ärzte und Ärztinnen machen doch zu Recht geltend, dass es einer einzelnen Praxis nicht möglich ist, das
Auftreten von Leistungen für die Patienten so zu steuern,
dass die verordneten Arzneimittel einem errechneten
Durchschnitt entsprechen. Ich muss leider so handeln,
weil ich es in diesem Fall unter anderem mit einem Erbe
aus Ihrer Ära zu tun habe. Die Budgetierung gibt es nämlich etwas länger, als die rot-grüne Regierungskoalition
regiert.
({16})
Uns leuchtet unmittelbar ein, dass ein Arzt mit sehr vielen
HIV-Infizierten oder mit sehr vielen Krebspatienten oder
mit sehr vielen älteren, chronisch kranken Menschen entsprechende Arzneimittel verordnen muss.
({17})
Deshalb brauchen wir eine Regressregelung, die die
Besonderheiten der einzelnen Praxis berücksichtigt. Wir
werden im Laufe der nächsten Woche dem Deutschen
Bundestag eine Neuregelung vorlegen, die den Einzelfall,
die Besonderheiten der Patientenstruktur jeder Praxis und
die medizinischen Notwendigkeiten, fairer einbezieht und
die zum Beispiel eine Beratung mit dem Ziel kostenbewusster Behandlung und Verschreibung vorsieht und erst
nach diesen Zwischenschritten zur finanziellen Sanktion
für die Überschreitung des Ausgabenvolumens der einzelnen Praxis greift. Auch hier fordern wir Eigenverantwortung und nicht mehr kollektive Haftung.
({18})
Ich würde mich jedenfalls darüber freuen, wenn Sie
alle, die Sie hier so begeistert rufen, aber auch die Partner
der Selbstverwaltung, Ärzte und Krankenkassen, diesen
Weg mitgehen würden, weil wir eine Versorgung der Patienten anstreben, bei der tatsächlich das, was der Einzelne braucht - zum wirtschaftlich günstigsten Preis - im
Mittelpunkt einer Behandlung stehen wird und nicht mehr
irgendwelche abstrakten Budgets.
Konsens herrscht unter den Beteiligten im Gesundheitswesen bei der Festbetragsregelung für Arzneimittel. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich Kassen
und pharmazeutische Industrie auf einen Weg einigen.
Die gefundene Regelung erlaubt es, die vorhandenen
Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen. Ich sage hier
ganz deutlich: Auch dies ist ein Beweis dafür, dass wir
Ausgaben begrenzen können, ohne dass wir bei den Leistungen kürzen. Auch in Zukunft wird jedem das Arzneimittel zur Verfügung stehen, das er braucht, um wirklich
gesund zu werden oder seine Schmerzen zu lindern.
({19})
Einspareffekte versprechen wir uns auch von der Aufhebung der immer noch herrschenden Trennung zwischen ambulantem und stationärem Sektor. Die Bereitschaft in der Ärzteschaft wächst, insbesondere den
diagnostischen Aufwand durch bessere Zusammenarbeit
der Praxen in einer Region zu begrenzen. Das wird nicht
zuletzt den Investitionsbedarf der einzelnen Praxen senken und damit die Einkommenssituation von niedergelassenen Ärzten verbessern. Es wachsen auch die Chancen
der Patientinnen und Patienten, in vernetzten Systemen
versorgt zu werden, und gleichzeitig werden die Kosten
für die Krankenkassen verringert. Die gesetzlichen Voraussetzungen dafür sind zum Teil geschaffen und die
Programme zur Bekämpfung chronischer Erkrankungen,
die wir mit dem Risikostrukturausgleich auf den Weg
bringen werden, werden diese Zielsetzung noch weiter
verstärken.
So hat die beschlossene Gesundheitsreform 2000 über
diese integrierte Versorgung hinaus auch die Grundlagen
für eine bessere Qualitätssicherung der gesundheitlichen Versorgung geschaffen. Es ist Sache der gemeinsamen Selbstverwaltung, nun an der Optimierung dieser
Aufgaben zu arbeiten. Es geht jetzt darum, die schnellere
Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxen
der niedergelassenen Ärzte und in die Krankenhäuser
hineinzutragen, und es geht auch um eine Intensivierung
der medizinischen Weiterbildung in diesen Fragen. Es
geht uns um Leitlinien für qualitätsgestützte Behandlungen, die den Einfluss der Ärzte nicht schmälern werden
und mit denen wir Transparenz- und Qualitätssteigerungen zu wirklichen Merkmalen unseres Gesundheitssystems machen werden.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Qualitätssicherungsgesetz für die Pflege, das Ihnen zur Beratung vorliegt und das den gleichen Prinzipien verpflichtet
ist.
({20})
Dieses Prinzip, liebe Kolleginnen und Kollegen, verfolgen wir auch, wenn wir den Gesetzentwurf zur Verbesserung der Situation der Pflegenden bei der Betreuung demenzkranker Patienten einbringen werden. Auch dieses
wichtige Aufgabenfeld wird die Bundesregierung noch in
dieser Legislaturperiode angehen.
({21})
Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen, bei dem es
ebenfalls scheinbar einen Zielkonflikt zwischen Beitragsstabilität und Qualitätssicherung gibt. Auffällig und
schwer zu rechtfertigen ist es, dass das geltende
Selbstkostenerstattungsprinzip es zulässt, dass die gleiche Operation in dem einen Krankenhaus teurer ist als in
dem anderen. Es liegt auf der Hand, dass dem unterschiedliche Erfolge bei der Bemühung um Wirtschaftlichkeit in den Krankenhäusern zugrunde liegen. Das System der Fallpauschalen, das wir einführen werden, wird
die Wirtschaftlichkeitsreserven ausschöpfen und die Leistungen angemessen vergüten. Das ist gut so und deshalb
halten wir an dieser Entscheidung fest.
({22})
Es wird sehr viel darüber geredet, dass im Gesundheitswesen sehr viel Streit ist. Ich kann nach meinen bisherigen Erfahrungen feststellen, dass der Streit zwischen
den Beteiligten im Gesundheitswesen allmählich der Einsicht weicht, dass es nicht anders geht, als dass wir zu Gesprächen zusammenkommen. Die Einsicht wächst, dass
wir die Zukunft nur gemeinsam gestalten können.
({23})
- Ich wundere mich, dass Sie lachen, Herr Kollege
Seehofer. Das, was Sie jetzt immer als Hinterzimmerpolitik zu verunglimpfen suchen, war doch das, was Sie mit
den Petersberger Beschlüssen erreichen wollten, wobei
Sie aber an Ihrem Koalitionspartner und an dem damaligen Bundeskanzler Kohl, der Sie zurückgepfiffen und zur
Untätigkeit verdammt hat, gescheitert sind.
({24})
Deshalb kann es sein, dass Sie aufgrund eigener Erfahrungen das, was ich heute mache, als Quadratur des
Kreises ansehen. Aber ich kann Ihnen versichern: Wir lassen uns davon nicht entmutigen. Die Bereitschaft aller
Beteiligten, die eigenen Positionen zum Wohl der Patientinnen und Patienten zu überdenken, ist erkennbar. Die
Aussichten, die Sicherung, ja sogar die Verbesserung der
Leistungen des Gesundheitswesens mit dem volkswirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Ziel stabiler
Beiträge zu vereinbaren, wachsen Schritt für Schritt. Wir
werden nicht aufhören, dieses Ziel mit Engagement und
Einsicht anzustreben, um zu einer tragfähigen Reform für
dieses Gesundheitswesen zu kommen.
Einer der Schritte auf diesem Wege ist die Einrichtung
des runden Tisches, den ich ins Leben gerufen habe und
an dem wir mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen darum ringen werden, Lösungen zu finden, um dieses Gesundheitswesen zukunftsfähig zu machen und um Qualität
und Wirtschaftlichkeit zu dem zu machen, was unser Gesundheitswesen bestimmen soll. Wir wollen evidenzbasierte Medizin zum Wohle der Menschen in diesem Lande.
Dabei werden wir nicht stehen bleiben. Wir reden mit
allen, die im Gesundheitswesen Verantwortung tragen
und die an diesem runden Tisch sitzen, über die Vorschläge, die sie einbringen. Wir werden die Ergebnisse der
Gespräche dann zur Grundlage der politischen Beratungen machen. Der runde Tisch ist nicht geschaffen worden,
um aktuelle Probleme, die wir hier im Bundestag bereden,
zu diskutieren, sondern er ist geschaffen worden, um zu
versuchen, die widerstrebenden Interessen im deutschen
Gesundheitswesen zu bündeln, und zu prüfen, ob wir
nicht zum Wohle der Patientinnen und Patienten in diesem
Lande zu gemeinsamen, belastbaren Lösungen kommen
können.
({25})
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Sich an dieser
Arbeit kreativ und konstruktiv zu beteiligen, dazu fordere
ich Sie auf. Die Menschen in unserem Lande brauchen
Vertrauen in die Sicherheit und Qualität unseres Gesundheitswesens
({26})
und sie brauchen Vertrauen in die solidarischen Leistungen dieses Gesundheitswesens. Wir alle haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die entsprechenden
Maßnahmen umgesetzt werden. Ich kann Ihnen nur sagen: Hören Sie auf, sich zu verweigern; beginnen Sie endlich mitzuarbeiten - zum Wohle der Menschen in diesem
Lande und für ein besseres Gesundheitswesen!
({27})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die letzte Gesundheitsreform der rot-grünen Koalition wurde 1999 verabschiedet. Mit dieser Gesundheitsreform wurden die Budgets in Deutschland wieder eingeführt.
({0})
Wenn man die damals gehaltenen Reden nachliest, dann
wird man finden, dass diese Gesundheitsreform - die
noch nicht einmal zwei Jahre alt ist - als die Lösung der
Probleme des deutschen Gesundheitswesens dargestellt
wurde.
Nun haben wir heute gehört, dass wesentliche Elemente dieser Gesundheitsreform korrigiert werden, insbesondere was das Arzneimittel- und Heilmittelbudget
betrifft. Liebe Frau Kollegin Schmidt, das, was wir heute
gehört haben, ist keine kreative, innovative Gesundheitspolitik, sondern stellt ausschließlich eine Reparatur der eigenen Fehlleistungen dar, die Rot-Grün zu verantworten
hat.
({1})
Das Problem des deutschen Gesundheitswesens besteht in der Tat nicht in dem Maße dessen, was Pflegekräfte und Ärzte täglich segensreich an medizinischer
Hilfe, an Zuspruch für kranke Menschen leisten. Auch ich
möchte den vielen Frauen und Männern im deutschen Gesundheitswesen für diesen täglichen Dienst und die Hilfe
am kranken Menschen danken.
({2})
Aber das Problem des deutschen Gesundheitswesens
liegt nicht in der Leistung dieser Menschen. Das Problem
des deutschen Gesundheitswesens liegt in den politischen Rahmenbedingungen, die Rot-Grün diesen Menschen durch Reglementierung und Budgetierung täglich
mitgibt.
({3})
Ich möchte hier auch einmal energisch widersprechen,
wenn immer wieder behauptet wird, das deutsche
Gesundheitswesen sei im internationalen Vergleich nur
Durchschnitt oder schlecht.
({4})
Die Qualität der Dienstleistungen ist gut, die politischen
Rahmenbedingungen sind miserabel. Der Vergleich, den
der Sachverständigenrat der Bundesregierung angestellt
hat und der besagt, das deutsche Gesundheitswesen sei
deshalb schlecht, weil das Verhältnis zwischen Kosten
und Lebenserwartung ungünstig sei, ist wissenschaftlich
höchst zweifelhaft. Wenn man nur die beiden Parameter,
Ausgaben für das Gesundheitswesen und Lebenserwartung der Menschen gegenüberstellt, sie international vergleicht und zu dem Ergebnis kommt, die Deutschen liegen in der unteren Tabellenhälfte, bedeutet das ja, dass wir
ein besseres Gesundheitswesen hätten, wenn wir 10 Milliarden DM weniger für Gesundheit ausgeben würden.
Hören wir also deshalb auf mit einer solchen oberflächlichen Betrachtung. Die Menschen sehen das offensichtlich ganz anders; denn jährlich schließen 23 Millionen Menschen eine Versicherung ab, damit sie im Falle
einer Auslandserkrankung nach Deutschland in die Obhut
des deutschen Gesundheitswesens zurückgebracht werden. Dieses Grundvertrauen in das deutsche Gesundheitswesen konnte nicht einmal diese Regierung verändern.
({5})
Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, Sie haben nach der Bundestagswahl 1998 eine verhängnisvolle, falsche Richtungsentscheidung getroffen.
Sie haben sich für die Wiedereinführung der Budgets im
deutschen Gesundheitswesen entschieden. Ich möchte darauf hinweisen - das ist der Unterschied zu den Gesprächen, die Sie führen -, dass wir nach Petersberg 1996
die Budgets für die ambulante - ärztliche und zahnärztliche - Behandlung aufgehoben haben,
({6})
dass wir die Budgets für die Krankenhäuser aufgehoben
und der Selbstverwaltung Instrumentarien in die Hand geBundesministerin Ulla Schmidt
geben haben, die Arznei- und Heilmittelbudgets aufzuheben. Sie haben uns für diese Richtungsänderung, die wir
vor der Bundestagswahl eingeleitet haben - weniger
staatliche Reglementierung und mehr Eigenverantwortung für alle Beteiligten -, gegeißelt. Sie haben das als Sozialabbau beschimpft
({7})
und haben unsere freiheitlichen Elemente nach der Bundestagswahl zurückgenommen. Am Anfang Ihrer verhängnisvollen Gesundheitspolitik stand eine völlig
falsche Richtungsentscheidung.
({8})
Wir haben Sie vor einer solchen Richtungsentscheidung, nämlich eine einnahmenorientierte Gesundheitspolitik zu betreiben und den Beteiligten im Gesundheitswesen vorzuschreiben, sie dürften für kranke Menschen nur
das ausgeben, was an Einnahmen für die Krankenkassen
zur Verfügung steht, gewarnt. Wir haben Sie davor gewarnt, dass, wenn Krankheiten und ihre Behandlung
budgetiert werden, dies zu einer Qualitätsverschlechterung und zu einer Rationierung von Gesundheitsleistungen führt.
({9})
Nicht nur wir, sondern viele Experten haben Sie gewarnt. Der ehemalige SPD-Fraktionschef Klose hat zu
dieser angeblichen Gesundheitsreform, die 1999 verabschiedet wurde, gesagt:
Mein Hauptproblem ist die Philosophie, die diesem
Entwurf zugrunde liegt.
({10})
Da wird in starkem Maße reglementiert und man tut
so, als ob es eine richtige, für alle Patienten anwendbare Medizin gebe. Die wird vorgegeben nach der
Melodie: Wir sagen euch, nach welcher Methode die
Ärzte zu behandeln haben. Ich
- so Klose habe ein anderes Menschenbild als jenes, das diesem
Entwurf der rot-grünen Koalition zugrunde liegt. Es
geht um die grundsätzliche Entscheidung, ob man
auf Reglementierung oder auf mehr individuelle
Eigenverantwortung setzt.
({11})
Das war der Grundfehler, den Sie 1998 nach der Bundestagswahl gemacht haben. Jetzt sind Sie unter dem
Druck der Realität dabei, diesen Grundfehler Stück für
Stück zu korrigieren. Die Kuriosität besteht darin, dass die
SPD-Bundestagsfraktion die damalige Gesundheitsministerin der Grünen gezwungen hat, wieder Budgets einzuführen, und dass die jetzige SPD-Gesundheitsministerin
die von der SPD durchgesetzten Budgets wieder aufhebt mit bitterer Miene bei den Grünen, wie man sieht.
({12})
Frau Schmidt, wir werden sehr Obacht geben, ob das,
was Sie vorhaben und wozu ich noch etwas Konkretes
sagen werde, in der Betonfacharbeiterriege der SPD hier
im Bundestag am Ende auch durchzusetzen ist. Sie tun
dies ja nicht aus Überzeugung. Sie tun dies, weil die im
Gesundheitswesen angerichteten Schäden Sie mittlerweile dazu zwingen, Ihre Gesundheitspolitik zu korrigieren.
({13})
Denn es ist unzweifelhaft, dass sich die Qualität der
medizinischen Versorgung in der Bundesrepublik
Deutschland in den letzten zweieinhalb Jahren erkennbar,
massiv und signifikant verschlechtert hat.
({14})
Selbsthilfegruppen, Umfragen von seriösen Instituten und
wissenschaftliche Langzeitstudien, zum Beispiel die der
Bremer Universität,
({15})
kommen zu dem Ergebnis, dass die von Ihnen wieder eingeführte Budgetierung dazu geführt hat, dass chronisch
Kranke in vielen Fällen - dies sind etwa 10 bis 20 Prozent - die notwendige medizinische Behandlung nicht
mehr erhalten. Die Langzeitstudie der Universität Bremen
kommt sogar zu folgendem Ergebnis: Jedem vierten Patienten wurde das notwendige Arzneimittel aus Budgetgründen nicht verordnet.
({16})
Viele Patienten kommen sich mittlerweile aufgrund der
Budgetierung wie Bittsteller vor; dies ist eine beschämende Situation für das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland.
({17})
Frau Gesundheitsministerin, die Deutsche RheumaLiga berichtet, dass die Budgets zu erheblichen Problemen führen und dass Patienten und Ärzte gleichermaßen
verunsichert seien. Das Arzt-Patienten-Verhältnis leidet
unter den ständigen Budgetdiskussionen. Die Frauenselbsthilfegruppe nach Krebs weist darauf hin, dass dringend notwendige Heilmittel wie Lymphdrainage und
Krankengymnastik nicht mehr verordnet werden.
({18})
Nur noch 10 Prozent der Tumorpatienten erhalten eine
adäquate Schmerztherapie.
Auch Kinder zählen bereits zu den Opfern der Budgets.
Der Bundesverband für Logopädie, der Verband der
Ergotherapeuten und der Berufsverband für Pflegeberufe
weisen darauf hin, dass es eine zunehmende Verordnungszurückhaltung der Ärzte gibt.
({19})
- Das war jetzt der größte Widerspruch: Es liegt nicht an
den Ärzten, sondern an den Budgets. Durch diese wird es
den Ärzten verweigert, das medizinisch Notwendige zu
tun. Das ist doch die Realität.
({20})
Diese Verbände weisen darauf hin, dass die Folgen dieser Verordnungszurückhaltung Entwicklungsstörungen
bei Kindern seien.
Der Verband der Krankenversicherten stellt fest, es sei
eine Unverschämtheit, wenn die Krankenkassen behaupten würden, es gebe keine Rationierung. Bei vielen Diagnosen, zum Beispiel bei MS, Morbus Alzheimer und
Schizophrenie, ist mittlerweile in der Bundesrepublik
Deutschland eine Unterversorgung evident. Frau
Schmidt, genau heute veröffentlicht der Vorsitzende des
Sachverständigenrates bzw. der Konzertierten Aktion, der
Ihr Chefberater ist, Professor Schwartz, eine Untersuchung, wonach Deutschland hinsichtlich der Sterblichkeit
durch Herzinfarkt, Brustkrebs und Darmkrebs zurückfällt.
({21})
Deutschland landet nie in der Spitzengruppe und die Tendenz geht hin zu einer relativen Verschlechterung.
Nein, nicht die Aufhebung der Budgets, wie wir sie betrieben und immer vertreten haben, sondern das Festhalten an den Budgets führt zu einer Zweiklassenmedizin in
der Bundesrepublik Deutschland.
({22})
Was macht es denn für einen Sinn, wenn Sie, Frau
Schmidt, hier auftreten und vom Recht der Patienten auf
eine gesundheitliche Versorgung reden, aber tatsächlich
eine Politik betreiben, die gerade chronisch Kranke von
einer hochwertigen Medizin ausschließt? Ich bleibe dabei: Eine Selbstbeteiligung in Höhe von 5 DM pro Medikament mit einer Befreiung der Kinder und Kleinverdiener, wie wir sie vor der Bundestagswahl eingeführt haben,
ist sozialverträglicher als eine hundertprozentige Leistungsausgrenzung aufgrund Ihrer Budgetpolitik.
({23})
Sie selbst schreiben in Ihrem Referentenentwurf, mit
dem Sie jetzt den Versuch machen, die Arznei- und Heilmittelbudgets aufzuheben:
Die bisherigen gesetzgeberischen Bemühungen zur
Sicherung der wirtschaftlichen Verordnung von Arznei- und Heilmitteln im Wege einer Budgetsteuerung
waren wenig erfolgreich.
({24})
Vor allem stießen sie auf erhebliche Umsetzungsprobleme. Diese betrafen sowohl die Akzeptanz bei den
beteiligten Vertragsärzten bis hin zu Ansätzen eines
resignativen Verhaltens oder einer sich verfestigenden Verweigerungshaltung.
({25})
Das stellen Sie jetzt, zweieinhalb Jahre nach der Regierungsübernahme, fest! Das haben wir Ihnen vor und
nach der Bundestagswahl ständig gesagt. Sie haben es immer als sozialen Kahlschlag, sozialen Abbau und Kniefall
vor den Ärzten diffamiert. Jetzt, nach zweieinhalb Jahren,
rechnen Sie mit Ihrer eigenen Gesundheitspolitik in der
bisherigen Regierungszeit ab. Das ist der Inhalt Ihrer Regierungserklärung.
({26})
Mit Ihrer Reglementierungs- und Budgetierungspolitik
haben Sie kein einziges Problem im Gesundheitswesen
gelöst, sondern neue Probleme geschaffen. Das Gleiche
gilt für den Risikostrukturausgleich. Wir haben gemeinsam - wir sind froh darüber - am Ende des 20. Jahrhunderts ein Wahlrecht für die Versicherten des Inhalts eingeführt, dass sie ihre Krankenkasse frei wählen können. Es
war ein erbitterter Kampf und das Ganze trat 1996 in
Kraft.
({27})
Gleichzeitig haben wir einen Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen ins Leben gerufen, damit eine
Krankenkasse für Risiken, die sie nicht verantworten
kann - etwa überproportional viele chronisch Kranke -,
einen Finanzausgleich bekommt.
Dann haben wir hier noch vor der Bundestagswahl ein
Gesetz mit einem Gutachtenauftrag verabschiedet, um
Einzelheiten des Risikostrukturausgleichs zu optimieren
und zu verfeinern. Hier geht es nicht um eine Ausweitung
des Risikostrukturausgleichs. Man muss einmal darauf
hinweisen, dass beinahe 10 Prozent der Gesundheitsausgaben in Deutschland auf den Ausgleich zwischen den
Krankenkassen entfallen.
({28})
Versuchen Sie doch nicht, den Eindruck zu vermitteln,
als würden die Krankenkassen Rosinenpickerei betreiben.
Die Betriebs- und Ersatzkrankenkassen, die angeblich
„gute Risiken“ haben, zahlen 23 Milliarden DM als Finanzausgleich an andere Krankenkassen. Das wollen wir
nicht ausweiten. Diesen Finanzausgleich kann man gerechter gestalten.
Wir haben per Gesetz einen Gutachtenauftrag erteilt,
aber das Erste, was Sie nach der Wahl getan haben, war,
diesen gesetzlichen Auftrag im Bundestag wieder zu kassieren. Dadurch sind Sie in Zeitverzug geraten. Bezogen
auf die Verfeinerung des Risikostrukturausgleichs haben
Sie in den letzten zweieinhalb Jahren nicht gehandelt.
Jetzt haben Sie den Versicherten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zwei Tage bis zum Kabinettsbeschluss Zeit gegeben, um noch die Krankenkasse zu wechseln. Jetzt können sie das nicht mehr.
Wenn Sie es mit Wettbewerb und Wahlfreiheit wirklich
ehrlich meinen, warum kündigen Sie den Versicherten für
das nächste Jahr Wahlrechte an, heben aber die bestehenHorst Seehofer
den Wahlrechte durch Kabinettsbeschluss auf? Warum
haben Sie das getan?
({29})
Ich prophezeie Ihnen, dass Sie große Schwierigkeiten
haben werden. Sie brauchen den Bundesrat, um diese
Wahlrechte und den Risikostrukturausgleich im nächsten
Jahr in Kraft setzen zu können. Den Leuten ein Recht
wegzunehmen, ohne ihnen das neue Recht bereits gegeben zu haben - das ist staatsorientierte Gesundheitspolitik dieser Regierung.
Sie haben im Grundsatz die volle Unterstützung,
({30})
wenn Sie die Arznei- und Heilmittelbudgets aufheben.
Wir werden gespannt abwarten, wie das Gesetz, das Sie
einbringen, im Parlament behandelt wird
({31})
und wie es das Parlament verlässt.
Obwohl dieser Schritt einen Paradigmenwechsel in der
rot-grünen Gesundheitspolitik darstellt - das muss man
einmal deutlich sagen; noch vor anderthalb Jahren sind
wir massiv kritisiert worden, weil unsere Haltung gegen
die Budgets angeblich zulasten der Versicherten und Patienten gehe - und im Grundsatz richtig ist, ist er doch nur
halbherzig und hasenfüßig. Ich frage Sie: Wenn Sie doch
erkannt haben, dass sich die Budgets gegen die Patienten
richten, warum heben Sie dann die Budgets nur für Arznei- und Heilmittel auf, nicht aber für die ärztliche Behandlung, die zahnärztliche Behandlung und die Krankenhausbehandlung? Dort treten nämlich die gleichen
Rationierungseffekte auf;
({32})
auch dort findet die notwendige medizinische Versorgung
der Patienten aufgrund der begrenzten Finanzmittel in
vielen Fällen nicht mehr statt. Wir werden Sie in den
nächsten Monaten zwingen, hierzu im Parlament Farbe zu
bekennen. - Das ist der erste Punkt.
Wir werden hier die Aufhebung auch dieser Budgets
beantragen; das haben wir zum Teil schon getan. Sie werden dann dokumentieren können, ob Sie es mit einer Korrektur in Richtung einer freiheitlichen, eigenverantwortlichen Gesundheitspolitik wirklich ernst meinen oder ob
dies nur Beruhigungspillen für die Beteiligten im Gesundheitswesen sind.
Der zweite Punkt: Was nützt die Aufhebung eines Budgets, wenn nicht gleichzeitig die notwendige Strukturreform im Gesundheitswesen in Angriff genommen wird?
Ich prophezeie Ihnen eines, Frau Schmidt: Die Aufhebung
der Budgets und das Unterlassen einer strukturellen Gesundheitsreform wird Ihnen auf beiden Seiten des Gesundheitswesen, also sowohl auf der Einnahmeseite als
auch auf der Leistungsseite, noch vor der Bundestagswahl
erhebliche Schwierigkeiten bringen.
({33})
Dies wird zu einem Druck auf die Beiträge und auf die
Qualität der Leistungen führen. Es entspricht nämlich gewissermaßen einer organisierten Orientierungslosigkeit
in der Gesundheitspolitik, wenn man ein Instrument wegnimmt, ohne den Menschen zu sagen, wohin die Reise gehen soll. Das kann und wird nicht gut gehen.
Dies ist ein ganz großer Mangel. Deshalb möchte ich
unsererseits wiederum darauf hinweisen: Wir wollen weg
von diesem staatsorientierten Gesundheitswesen und hin
zu dem Dreiklang von Wettbewerb, Wahlfreiheit und
Transparenz. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn Sie uns
heute gesagt hätten, ob Sie endlich bereit sind, das, was
wir vor der Bundestagswahl in das Gesetz geschrieben haben, zu vollziehen: dass die Versicherten über die Leistung und die Kosten der Leistung einen Beleg bekommen;
denn nur ein informierter Patient ist auch ein mündiger
Patient. Dazu haben Sie heute nichts gesagt.
({34})
Auch sagen Sie nach wie vor nichts zu dem Element eines geordneten Wettbewerbs innerhalb des Gesundheitswesens zwischen Ärzten und Krankenkassen. Krankenkassen müssen künftig wie Serviceunternehmen und
dürfen nicht wie Behörden geführt werden. Wenn Ärzte
und Krankenkassen selbstständiger wirtschaften und ein
eigenständiges Profil entwickeln können, werden sie noch
besser. Wir müssen daher bei allen Beteiligten im Gesundheitswesen das Interesse zur Übernahme von mehr
Eigenverantwortung wecken. Das gilt sowohl für die Kartelle als auch für die Zünfte, die in diesem Bereich vorhanden sind. Wir müssen den Beteiligten mehr Spielräume geben; denn sie können vor Ort durch ihre
Innovationskraft, ihre Kreativität vieles besser regeln als
wir als Gesetzgeber durch Paragraphen. Wir müssen weg
von dieser reglementierten, an Paragraphen orientierten
Gesundheitspolitik.
Frau Schmidt, Sie werden nicht umhinkommen, den
Weg, den wir vor der Bundestagswahl beschritten haben
- wir haben den Menschen schon damals die Wahrheit gesagt ({35})
und den Sie zwar im Grundsatz, aber handwerklich miserabel in der Rentenreform verfolgt haben, auch in der Gesundheitspolitik weiterzugehen, nämlich den Menschen
zu sagen: Das oberste Ziel, eine hochwertige Medizin für
alle Menschen ohne Ansehen des Alters und des Standes
- das muss unser sozialpolitisches Ziel bleiben -, ist nicht
durch mehr Paragraphen zu erreichen, sondern nur dadurch, dass wir definieren, was als Regel- und Kernversorgung künftig solidarisch zu finanzieren ist. Wir müssen
den Menschen aber auch sagen, dass eine hochwertige
Medizin für alle nur dann möglich ist, wenn Wahlfreiheit
und Eigenverantwortung hinzukommen. Denn mit
gleich bleibenden Mitteln ist eine hochwertige Medizin
für alle in der Zukunft aufgrund des medizinischen Fortschritts und der steigenden Lebenserwartung nicht zu erreichen. Solange Sie dieser Wahrheit ausweichen, werden
Sie den Weg in die Zweiklassenmedizin weiter befördern,
Frau Schmidt. Das wollen wir nicht. Wir wollen mehr Eigenverantwortung, weniger Staat, mehr Wettbewerb,
mehr Transparenz und weniger Gesundheitsbürokratie.
Dann können wir das Ziel einer hochwertigen und auch
sozial verantwortlichen Medizin erreichen.
({36})
Nun erklären Sie: Wir reden miteinander. - Das ist so
durchsichtig, dass wir das natürlich durchschauen. Sie haben aus dem Kanzleramt ganz offenkundig den Auftrag
erhalten, dass bis zur Bundestagswahl im Gesundheitswesen nichts mehr passieren darf. Das einzige Programm
in der Gesundheitspolitik heißt Stillstand. Sie dürfen
keine Wellen schlagen und müssen alle beruhigen. Frau
Schmidt, Sie sind im Kern eine wandelnde Beruhigungspille.
({37})
Sie gehen durch das Land und sagen allen: Sie haben
Recht und auch ihr habt Recht. - Es wird aber überhaupt
nicht erkennbar, wohin es mit dem deutschen Gesundheitswesen geht. Was Sie machen - ich nehme einmal Anleihe aus dem Gesundheitswesen -, ist lediglich Linderung und Schmerztherapie, nicht aber Heilung.
Wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, Frau
Schmidt, dass Sie sich bis zur Bundestagswahl durchmogeln und nach der Bundestagswahl die Menschen mit
Ihrer Reglementierung und Budgetierung wieder überfallen - falls Sie überhaupt die Mehrheit bekommen. Wir
werden uns mit unserem sozialverantwortlichen und freiheitlichen Konzept bemühen, Ihnen eine Alternative
gegenüberzustellen.
Die Realität, Frau Schmidt, hat uns Recht gegeben.
Ihre Politik hat zu einer massiven Qualitätsverschlechterung geführt, insbesondere für jene, die das Gesundheitswesen ganz besonders brauchen, nämlich die chronisch
Kranken. Sie haben uns gescholten, dass unser Weg unsozial sei. Jetzt zwingt Sie die Realität Stück für Stück auf
den Weg, den wir schon immer vertreten haben.
Ich habe meine Zweifel, ob Sie den Weg, den Sie vielleicht im Herzen tragen - das möchte ich Ihnen gar nicht
absprechen -, bei den Betonfacharbeitern Ihrer Fraktion
wirklich durchsetzen können. Wir werden dafür sorgen,
dass Sie Gelegenheit bekommen, dies durch Abstimmungen zu dokumentieren. Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie vor der nächsten Bundestagswahl
den Menschen erneut verschweigen, wohin die gesundheitspolitische Reise bei dieser Koalition gehen soll. Die
Gesundheitspolitik ist die Achillesferse dieser Regierung.
Wir werden das deutlich machen, sodass die Menschen
dies merken.
Herzlichen Dank.
({38})
Ich erteile der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Seehofer, wer Ulla Schmidt kennt - Sie kennen
sie eigentlich recht gut -, der weiß: Wenn man versuchen
würde, ihr Befehle zu erteilen, bräuchte man wahrscheinlich selber eine Beruhigungspille. Denn was einem da entgegenkäme, wäre sicher sehr, sehr aufregend. Das ist
nicht das Markenzeichen der Politik Ulla Schmidts: Befehle zu empfangen und sie umzusetzen. Sie will - das haben wir heute gehört - Politik gestalten.
({0})
Wenn wir über die Weiterentwicklung der Gesundheitspolitik reden, sollten wir aus meiner Sicht zwei
Dinge auseinander halten, nämlich die Qualität der Versorgung und die Maßstäbe, die wir daran anlegen, und die
Frage der Ausgabenpolitik. Alle, die dies für zwei Seiten
einer Medaille halten, sollten wissen, dass dies nur ein
Teil der Wahrheit ist. Ja, wir brauchen Qualität, Transparenz und Kostenbewusstsein. Dafür müssen wir wissen: Wer sind die Hauptakteure im System? Sind das die
Krankenkassen? - Nein. Sind das die Ärzte und Krankenhäuser? - Nein. Hauptakteure sind die Versicherten, die
Patientinnen und Patienten.
({1})
Die rot-grüne Bundesregierung hat es zum ersten Mal
geschafft, die Versicherten in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik zu stellen. Die Patienten sind nicht länger
Objekte, für die etwas entschieden wird, sondern gleichberechtigte Partner. Allerdings sind wir noch längst nicht
bei einem partnerschaftlichen Dreiecksverhältnis zwischen Patienten und Versicherten, Krankenkassen und
Ärzteschaft angekommen.
Verantwortliche Politik wird diese Entwicklung weiter
vorantreiben müssen, und zwar aus unterschiedlichen
Gründen: Erstens. Die Frage, wie hoch die Beiträge der
Versicherten für die gesetzliche Krankenversicherung
sind, ist nicht nur, aber auch für den Arbeitsmarkt relevant. Sie entscheidet darüber, ob Solidarität innerhalb
des Systems wirklich funktionieren kann.
Deswegen werden wir - auch wenn wir richtigerweise
über Instrumente reden und sie weiterentwickeln - nicht
infrage stellen dürfen, dass die Belastungen der Bürgerinnen und Bürger, die sie heute schon in Form von Beiträgen, Steuern und Abgaben zu tragen haben, nicht mehr erhöht werden dürfen.
Zweitens. Wenn wir wollen, dass sich Versicherte - Patientinnen und Patienten - bewusst entscheiden, müssen
wir sie in die Lage versetzen, eigenverantwortlich zu handeln. Nur so können Prävention und Gesundheitsförderung tatsächlich funktionieren. Die individuelle Kompetenz eines Jeden und einer Jeden muss gestärkt werden
und das System muss für den Einzelnen endlich durchschaubar werden.
({2})
Dazu gehört unter anderem eine umfangreiche unabhängige Beratung, dazu gehören Anreize, Krankheiten zu
vermeiden, eine gesunde Lebensweise zu praktizieren,
und dazu gehört, bei Krankheiten Wahlmöglichkeiten zu
erfahren und selbst entscheiden zu können.
Frau Kollegin
Göring-Eckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert?
Gern.
({0})
Frau Kollegin Göring-Eckardt,
wenn Sie die Prävention so besonders hervorheben - in
diesem Ziel sind wir ja sicherlich einer Meinung -, können Sie mir dann bitte einmal sagen, was Ihre Regierung
tun wird, damit diese eine Mark pro Versicherten, die für
Selbsthilfeförderung ausgegeben werden soll, nun wirklich wenigstens annähernd ausgegeben wird?
Wir alle wissen, dass im vergangenen Jahr der ausgegebene Betrag zwischen 17 und 20 Pfennig lag. Die
Selbsthilfegruppen brauchen aber - das wissen Sie so gut
wie ich - jeden Pfennig, erst recht die 80 Pfennig, die noch
fehlen, dringend, um genau das, was Sie gerade gesagt haben, so qualitativ und flächendeckend zu erreichen, wie es
nötig wäre.
Was wollen Sie tun? Wird endlich ein Pool gebildet
oder was auch immer, damit diese Mark tatsächlich ausgezahlt wird?
Herr Kollege Seifert, ich bin wie Sie der Meinung,
dass wir dafür sorgen müssen, dass das, was wir beschlossen haben und was wir angekündigt haben, auch in
die Realität umgesetzt wird.
({0})
Ich glaube, dass die sehr intensiven Gespräche, die
hierzu mit den Krankenkassen und den anderen Beteiligten geführt werden, dazu führen werden, dass die Entwicklung, die damit angestoßen worden ist - so ist nun
einmal der Verlauf, wenn man neu mit solchen Regelungen beginnt -, schneller vorangeht, was wir uns sicherlich
alle gemeinsam wünschen.
({1})
Drittens. Prävention ist für das Gesundheitswesen - die
Vorredner haben darauf hingewiesen - jetzt und in Zukunft von enormer Bedeutung. Deswegen müssen wir mit
dem Kurs von Vorbeugung und Vorsorge - beides gehört
zusammen - fortfahren.
Viertens. Neben der Prävention, die dem Ziel dient, die
Realisierung von Gesundheitsrisiken zu verhindern, müssen die physischen und psychischen Ressourcen gefördert
werden, Krankheiten zu bewältigen. Prävention und Gesundheitsförderung müssen Hand in Hand gehen. Eben
genau aus diesem Grund ist die Gesundheitsförderung
wieder in den Leistungskatalog aufgenommen worden.
Bei Volkskrankheiten wie Diabetes sieht man sehr gut,
wie notwendig das ist.
Herr Seehofer, Sie haben ja zu Recht darauf hingewiesen, dass wir in Deutschland bei einer Reihe von Erkrankungen nicht so weit sind, wie wir eigentlich sein wollen
und auch sein sollten. Der Ansatz, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen und dabei nicht nur über die Finanzierung des Systems zu reden, sondern auch darüber, wie wir
hier wieder vorankommen, wie wir zum Beispiel mit Aktionsprogrammen, mit schnellem Handeln diese Erkrankungen - eine Reihe von Krebserkrankungen gehören
dazu - in Deutschland von der Qualität der Versorgung,
von der ganzheitlichen Versorgung her bearbeiten können, ist der richtige Weg. Dafür ist so etwas wie der runde
Tisch nach meiner Meinung ein richtiges Instrument, weil
er deutlich macht: Hier geht es um Zusammenarbeit und
um einen Wettstreit der Ideen.
Lassen Sie mich noch einmal bekräftigen, dass die
Senkung der Lohnnebenkosten und die stabilen Beitragssätze weiterhin zentrale Zielsetzung sind. Darin sind
wir uns auch einig. Das Festbetrags-Anpassungsgesetz ist
ein Beispiel für das Bestreben, hier weiterzukommen.
Frau Schmidt hat auf die Einführung der Fallpauschalen
und auf den RSA hingewiesen.
Herr Seehofer, Sie können natürlich so weitermachen,
dass Sie den Leuten suggerieren, sie hätten auf einmal
schlechtere Wechselbedingungen, was das Krankenkassenwahlrecht angeht. Sie wissen genau, dass das Gegenteil der Fall ist, dass Verbesserungen eingeführt werden
und dass unser Kassenwahlrecht verbraucherfreundlicher
sein wird als alles, was wir in der Vergangenheit hatten.
Wenn man gemeinsam Fehler macht, dann sollte man
nicht am Ende versuchen, daraus Kapital zu schlagen,
sondern sollte diese Fehler gemeinsam beheben. Dazu
kann ich Sie nur auffordern.
({2})
Unsere finanziellen Mittel sind begrenzt, auch wenn
sie im Umfang zunehmen werden. Deswegen müssen wir
uns überlegen, wofür wir jetzt und in Zukunft Geld ausgeben.
({3})
Wir müssen uns einer ehrlichen Diskussion stellen, die
benennt, was im System überflüssig ist; ein jeder von uns
kennt Mehrfachuntersuchungen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in dieser Frage mit Restriktionen und
Appellen nicht weit kommen. Es wird fast immer eine Begründung dafür gefunden werden können, warum bestimmte Maßnahmen notwendig sind. Hier helfen nur
mündige Patientinnen und Patienten, die selbst entscheiden und bestimmen können, was notwendig und
sinnvoll ist, die von ihrer Ärztin oder ihrem Arzt gut
beraten werden, die aber auch unabhängige Informationen erhalten und verwenden können.
Dennoch glaube ich, dass wir uns nicht dauerhaft der
Frage verschließen können, wie der Leistungskatalog der
GKV künftig aussehen soll. Wenn wir medizinisch notwendige Maßnahmen - insofern besteht ein Unterschied
zu dem, was Sie, Herr Seehofer, zu Grund- und Regelleistungen gesagt haben; in diesem Punkt stimme ich nicht
mit Ihnen überein ({4})
für alle erhalten und solidarisch finanzieren wollen, lohnt
es sich, darüber zu sprechen, welche zusätzlichen Leistungen zur freien Wahl der Versicherten stehen können.
Dazu gehört dann auch, nur Beitragsleistungen anzubieten, die beitragsfinanziert sind. Mittelfristig muss die
Krankenversicherung - ebenso wie wir das bei der Rentenversicherung gemacht haben - von versicherungsfremden Leistungen entlastet werden.
({5})
Wenn wir in diesem Zusammenhang über Gesundheitsziele und Qualitätsmanagement sprechen, muss darauf hingewiesen werden, dass es auch darauf ankommt,
ressortübergreifend die gesundheitliche Situation zu
verbessern. Das geht - auch wenn es banal klingen mag von Maßnahmen im Straßenverkehr bis hin zum Schlaumachen der Kinder in einem Fach Gesundheitserziehung.
Das Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ ist
hierfür beispielgebend und nachahmenswert.
Die Umsetzung der GKV-Gesundheitsreform und vor
allem die Umsetzung der in der Gesundheitsreform beschlossenen Qualitätsverpflichtungen für die Leistungsempfänger müssen vorangetrieben werden. Der Sachverständigenrat hat uns ja aufgefordert, gerade in Bezug auf
die integrierte Versorgung tätig zu werden. An diesem
Punkt werden wir weiter arbeiten. Das Pflegequalitätssicherungsgesetz ist hierzu ein wichtiger Schritt.
Wir dürfen nicht nachlassen, das Gesundheitssystem
zu modernisieren. Die rot-grüne Regierung hat mit der
Regierungsübernahme die Weichen neu gestellt. Die Reparaturarbeiten, Herr Seehofer, finden nicht an dem, was
wir gemacht haben, sondern an dem, was Sie uns hinterlassen haben, statt.
({6})
Wenn wir über Qualität und die Stellung der Versicherten bzw. Patienten reden, stellt sich die Frage nach
Kompetenz - an erster Stelle -, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sowie nach solidarischer Finanzierung. Nur so kann die Durchsetzung dieser Ziele gewährleistet werden. Dies wird für Bündnis 90/Die Grünen bei
weiteren Reformschritten im Mittelpunkt stehen.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Diese Koalition taumelt zwischen Staatsmedizin und sozialer Marktwirtschaft.
({0})
Anfänglich hatte ich geglaubt, die Ministerin würde sich
Worten wie Patientensouveränität, Wettbewerb oder
Wahlfreiheit nähern. Aber mittlerweile muss ich feststellen: Sie fällt wieder in alte Überlegungen zurück - eigentlich sehr schade!
Auf der anderen Seite zwingt die Wirklichkeit sie zu
handeln. Wir haben - Horst Seehofer hat es sehr eindrucksvoll gesagt - 1998 einen Wechsel herbeigeführt,
mit vielen liberalen Bestandteilen. Das war richtig, weil
es - davon bin ich fest überzeugt - keinen anderen Weg
gibt.
({1})
Eine Säule Ihrer Staatsmedizin, die Budgetierung, wollen Sie jetzt einreißen. Sie machen das aber nur halbherzig: Sie wollen die Budgetierung bei Arznei- und
Heilmitteln abschaffen und glauben, Sie könnten die
Budgetierung in anderen Bereichen weiter etablieren, an
ihr als tragender Säule der Gesundheitspolitik weiter festhalten. Das wird nicht funktionieren, und zwar deshalb,
weil die Patienten das nicht mitmachen werden. Ich finde
es gut, dass Sie die Budgetierung im Arzneimittel- und
Heilmittelbereich zum Wohle der Patienten beseitigen
wollen. Aber ich würde es auch vernünftig finden, wenn
Sie sagen würden: Wir diskutieren auch über die Beseitigung der Budgetierung im ärztlichen und zahnärztlichen
Bereich
({2})
sowie im Krankenhausbereich.
An die Adresse vor allem der Politiker Ihrer Fraktion,
die aus Ostdeutschland stammen, sage ich: Schauen Sie
sich die Situation der ostdeutschen Ärzte einmal genau
an! Die Situation dort ist so dramatisch, dass selbst freie
Zahnarztpraxen in den neuen Bundesländern aus finanziellen Gründen nicht mehr übernommen werden. Wenn
Sie Informationsveranstaltungen in den neuen Bundesländern machen und mit den Ärzten und den Patienten reden, dann wissen Sie, dass Ärzte in den neuen Bundesländern zu Honoraren arbeiten müssen, mit denen sich
noch nicht einmal die Kosten decken lassen. Sie zerstören in den neuen Bundesländern zunehmend die Freiberuflichkeit.
({3})
Zu diesen Auswirkungen Ihrer Gesundheitspolitik haben Sie, Frau Schmidt, überhaupt nichts gesagt. Wer solKatrin Göring-Eckardt
len die Träger Ihrer Gesundheitspolitik sein? Sollen es
Freiberufler oder Staatsmediziner sein? Dies ist die entscheidende Frage der Zukunft.
({4})
Wohin eine Staatsmedizin führt, wissen wir aus Schweden
und England. Sie sind dabei, eine solche Staatsmedizin zu
etablieren.
({5})
- Hören Sie auf; Sie haben doch keine Ahnung!
({6})
Sie haben mit der Budgetierung die Freiberuflichkeit
weitgehend zerstört. Sie glauben - das ist ein weiterer
wichtiger Punkt Ihrer Gesundheitsreform -, Sie könnten
den Wettbewerb intensivieren, wenn Sie das Kassenwahlrecht unter anderem durch Einführung eines Mindestbeitragssatzes neu regeln. Über einen Maximalbeitragssatz hätten wir diskutieren können. Aber wenn Sie
jetzt einen Mindestbeitragssatz festschreiben und so die
echte Wahlfreiheit bis nach den Bundestagswahlen abschaffen, in dem Glauben, dadurch die finanzielle Basis
der großen Versorgungskassen zu sichern, merkt doch jeder, welches Spiel Sie treiben: Sie belügen und betrügen
die Patienten bezüglich der Wahlfreiheit.
({7})
- Ich sage das so deutlich. Da gibt es kein Entkommen!
({8})
Sie könnten das Problem anders lösen, wenn Sie Mut
hätten. Aber Sie haben keinen Mut, eine echte Reform
durchzuführen. Sie verschieben ja alles. Wenn Sie den
Mut hätten, bei den Vertragsgestaltungsmöglichkeiten
größere Freiheiten zu erlauben, dann müssten Sie keinen
Mindestbeitragssatz einführen und würden die Probleme
über wettbewerbliche Strukturen lösen. Ich möchte Ihnen
das an einem für den Krankenhausbereich typischen Beispiel deutlich machen. Warum haben Sie nicht den Mut,
die einheitliche Vertragsgestaltung im Krankenhausbereich aufzuheben?
({9})
Wenn Sie das täten, könnten die großen Versorgungskassen ihre Leistungen zu niedrigeren Preisen einkaufen als
kleine Krankenkassen, die nur wenige Leistungen einkaufen. Sie könnten so den Wettbewerb etablieren, dadurch Veränderungen herbeiführen und die Beitragssätze
stabilisieren. Aber dazu haben Sie nicht den Mut. Sie wollen stattdessen mit planwirtschaftlichen Elementen das
bisherige System aufrechterhalten.
({10})
Sie hoffen, mit den DRGs schnell zu einer Lösung zu
kommen. Aber wenn Sie die Praxis kennen, dann wissen
Sie, dass darüber nur geredet und nicht gehandelt wird.
Das ist das Problem.
({11})
Sie wissen doch schon heute, dass die DRGs nicht zum
geplanten Zeitpunkt, sondern erst viel später eingeführt
werden können. Ich bin zwar für die Einführung der
DRGs.
({12})
- Ja, aber wir wollen die DRGs nicht wie Sie bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Budgets einführen. Wir
wollen die DRGs als echte Preise. Das ist der himmelweite Unterschied zu Ihnen.
Sie haben noch weitere Ideen: Qualitätssicherung eine prima Idee!
({13})
Aber Sie können dieses Thema nur etablieren, wenn Sie
auch dafür sorgen, dass wir ausreichend Pflegekräfte in
den Krankenhäusern haben. Wie ist denn heute die Situation? Teilweise gibt es doch überhaupt keine Nachwuchspflegekräfte in diesem Bereich. Es wäre gut, wenn Sie
über Informationskampagnen diesen Beruf aufwerteten,
damit wir diese Qualität, die wir fordern, auch erreichen.
Sie schaffen es nicht! Schauen Sie sich die großen Krankenhäuser an, meine Damen und Herren: Gerade in den
Ballungsgebieten gibt es mittlerweile einen großen Bedarf an Pflegekräften, der in Deutschland nicht aufgefangen werden kann.
({14})
Meine Damen und Herren, Ihre Politik geht weiter in
die völlig falsche Richtung. Ihre Staatsmedizin wird
scheitern und wir mit unseren liberalen Gedanken werden
uns letztlich durchsetzen.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile der Kollegin Ruth Fuchs, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lieber Kollege Thomae, ich bin froh, dass
Sie nicht Gesundheitsminister werden können.
({0})
Aber zum Thema: Es war der Grundfehler der Gesundheitsreform 2000, dass die volkswirtschaftliche Kennziffer „Beitragsstabilität der GKV“ zu einer Art Dogma in
der Gesundheitspolitik erhoben wurde. An den daraus folgenden rigorosen Budgetierungen und der falschen Annahme, große Wirtschaftlichkeitsreserven erschließen zu
können, ist sie letztlich auch gescheitert.
({1})
Aber diese Gesundheitsreform hatte auch einen großen
Vorzug. Das Solidarsystem sollte in allen wesentlichen
Grundlagen erhalten werden. Jetzt aber erleben wir - und
das waren unsere Befürchtungen von Anfang an -, dass
jene Oberwasser bekommen, die schon immer ein anderes Gesundheitswesen wollten, ein Gesundheitswesen,
das mit Privatisierung, Entsolidarisierung und mit rücksichtsloser Ökonomisierung medizinischer Arbeit an
Stelle von Humanität verbunden ist.
({2})
Natürlich hat die SPD bisher im Wesentlichen dafür
gestanden, solchen Entwicklungen einen Riegel vorzuschieben.
({3})
Auch Sie, Frau Ministerin, haben Ihre heutige Erklärung
unter das schöne Motto „Vertrauen und Solidarität“ gestellt. Ich habe mit Interesse in der „FAZ“ gelesen, dass
Sie die Krankenversicherung nicht auf eine Grundversorgung reduzieren wollen. Sie haben das auch heute
wieder bestätigt. Aber wie verträgt sich das mit den Äußerungen von Bundeskanzler Schröder und anderen SPDPolitikern, dass es auch im Gesundheitswesen nicht mehr
ohne zusätzliche individuelle Zahlungen der Versicherten
gehen wird? Wie ist das mit Ihren Aufforderungen an die
Gesundheitsberufe in Einklang zu bringen, sich nicht
mehr allein auf die Einnahmen der GKV zu verlassen, und
wie verträgt sich das alles mit Ihren wiederholten Angeboten an die Union für eine erneute große Koalition im
Gesundheitswesen? Hier, Frau Ministerin, liegen entscheidende Unklarheiten Ihrer Politik. Diesbezüglich
schulden Sie dem Parlament und der Öffentlichkeit wesentlich eindeutigere Erklärungen.
({4})
Andernfalls werden Sie, Frau Ministerin, entgegen all
Ihren Absichten, kein Vertrauen schaffen und auch Solidarität nicht gewährleisten können.
Im Übrigen wird ein konsensorientierter politischer
Stil, wie Sie Ihn pflegen wollen, allein nicht weiterhelfen.
Das Streben nach Dialog ist gut und der richtige Weg.
Aber wer den Dialog sucht, muss vorher klare und vor allem eigene Vorstellungen zur Lösung der Probleme haben. In einen Dialog mit knallhart interessengeleiteten
Gesprächspartnern zu gehen, um dann zu sehen, was am
Ende herauskommt, davor, Frau Ministerin, kann man nur
warnen!
({5})
Das Gesetz zur Anpassung der Arzneimittelfestbeträge ist ein anschauliches Beispiel dafür. Natürlich ist zu
begrüßen, dass Sie die vertrackte Sache zügig angepackt
haben. Dass dann aber eine erhebliche Absenkung der
Einsparbeträge zugunsten der Pharmaindustrie herausgekommen ist und beinahe so etwas wie ein Festbetragsabschaffungsgesetz über die Bühne gehen sollte, ist nicht als
erfolgreiche Gesundheitspolitik zu werten. Es ist, gelinde
gesagt, eine ziemliche Katastrophe.
({6})
Auf solche Weise werden Sie die notwendigen Strukturveränderungen kaum voranbringen können. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Kosten wieder rascher steigen
und das Ziel der Beitragsstabilität, das auch von Ihnen beschworen wird, nicht zu halten ist.
Um hier nicht missverstanden zu werden: Mit wachsenden Kosten des Gesundheitswesens, die zu großen Teilen auf objektiv steigenden Bedarf zurückgehen, muss die
Gesellschaft leben lernen. Für uns verbindet sich damit
aber nicht der Untergang des Abendlandes. Im Gegenteil,
ein modernes Gesundheitswesen ist - auch bei ernsthaftem Streben nach mehr Effektivität - ein dynamischer
Wachstumssektor, dessen Entwicklung nicht ungestraft
stranguliert werden darf.
Die entscheidende Frage künftiger Gesundheitspolitik
liegt also keineswegs darin, ob die gesellschaftlichen Aufwendungen über die Grundlohnsumme hinaus steigen
dürfen oder nicht. Sie liegt in der Art und Weise, wie diese
wachsenden Mittel aufgebracht werden. Das, Frau Ministerin, ist die zentrale Herausforderung, vor der Sie heute
und gegebenenfalls auch in der nächsten Legislaturperiode stehen.
Von uns können Sie immer dann Unterstützung erwarten, wenn es um die notwendige Erneuerung der gesetzlichen Krankenversicherung und des Gesundheitswesens
im Sinne von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit geht.
({7})
Mit gleicher Konsequenz aber werden wir einem Kurs in
Richtung Entsolidarisierung, Deregulierung und Liberalisierung entgegentreten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile Kollegin
Regina Schmidt-Zadel, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Ihre Regierungserklärung hat gezeigt, dass die Gesundheitspolitik
der Koalition eindeutig die Richtung verfolgt, die optimale Versorgung von kranken Menschen sicherzustellen.
Dies stellen Sie in den Mittelpunkt Ihres politischen Handelns und dafür sage ich Ihnen ganz herzlichen Dank.
({0})
Ich bin Ihnen auch für Ihr entschlossenes Handeln dankbar. Ganz ausdrücklich begrüße ich es, dass Sie im offenen Dialog mit allen an unserem Gesundheitssystem
Beteiligten nach Lösungen für die notwendigen Veränderungen suchen.
Lassen Sie sich von den Schreiern, die unser Gesundheitssystem fast an die Wand gefahren haben, nicht irritieren!
({1})
Gerade von jemandem, der in der Regierung Kohl in verantwortlicher Position vieles zu dem beigetragen hat, was
wir heute reparieren müssen, lassen wir uns hier nicht beschimpfen und in die Enge treiben.
({2})
- Ja, legen Sie ruhig die Hand ans Ohr.
Die Menschen können nur sehr schwer nachvollziehen,
dass jemand, der sechs Jahre lang Minister war und in dieser Zeit bestimmte Dinge nicht getan hat, diese jetzt ungeniert einfordert, Herr Seehofer.
({3})
Es ist auch Ihre Hinterlassenschaft: Heute haben wir den
Flurschaden zu bereinigen, den Sie zu verantworten haben.
({4})
Wer im Gesundheitswesen - das haben die Wahlergebnisse gezeigt, Herr Dr. Thomae; weiter will ich auf Ihre
Rede gar nicht eingehen - gelogen und betrogen hat,
({5})
das haben die Menschen registriert. Sie haben es bei der
Bundestagswahl 1998 mit der Abwahl der alten Regierung quittiert.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle wissen, dass die Bundesrepublik in vielen Ländern um ihr
solidarisches Krankenversicherungssystem beneidet
wird. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
({7})
- wer gelogen hat, habe ich dir gerade erzählt - haben von
Anbeginn unserer politischen Arbeit für dieses System
gekämpft und werden das auch weiterhin tun. Solidarität,
das gemeinsame Handeln, die Hilfe der Starken für die
Schwachen sind und bleiben unverrückbar der Kern unseres politischen Handelns.
({8})
Wir werden aktiv an den notwendigen Veränderungen unseres Gesundheitssystems mitarbeiten - die Frau Ministerin hat in ihrer Regierungserklärung darauf hingewiesen und sehr darauf achten, dass die Solidarität in diesem Prozess erhalten bleibt.
Auf welche Herausforderungen werden wir uns in den
nächsten Jahren einstellen müssen? Zum einen ist es der
begrüßenswerte Wandel und Fortschritt in der Medizin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 100 Jahren mussten
die Menschen noch Angst haben, an Tuberkulose und
Wundfieber zu sterben; heute ängstigen uns unter anderem Alzheimer und Krebs. Die große Herausforderung an
den Medizinbetrieb zu Beginn dieses Jahrhunderts stellen
die chronischen Krankheiten vor allem älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber auch jüngerer Menschen dar.
Damit sind wir schon beim zweiten wichtigen Punkt
angelangt: der Wandel in der Bevölkerungsstruktur.
Wir alle leben heute - Gott sei Dank - statistisch gesehen
länger als frühere Generationen. Wir sind uns alle bewusst, dass das seinen Preis fordert und wir vor großen
Herausforderungen stehen, wenn dann noch die Zahl der
jüngeren Menschen, die den Generationenvertrag mitfinanzieren, abnimmt. Auch das ist uns allen klar. Ich bin
mir aber sicher, dass wir hierfür mit dem von den Koalitionsfraktionen eingeschlagenen Weg
({9})
Lösungen finden können. Das werden Sie sehen. - Wir
werden nicht scheitern, sondern Ihnen beweisen, dass wir
tragfähige Lösungen für die Probleme haben.
({10})
Nun zu den konkret anstehenden Änderungen: Die
wichtigste - das wurde ja auch von Ihnen heute schon angesprochen - betrifft die heilige Kuh der Kollektivhaftung; so will ich es einmal nennen. Für das Instrument des
Kollektivregresses sind auch Sie, Herr Seehofer, während
Ihrer Amtszeit lange eingetreten.
({11})
Den Mut, es abzuschaffen, haben Sie nicht aufgebracht.
({12})
Wir bringen ihn auf. Wie Sie wissen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wird zurzeit die Abschaffung des Kollektivregresses vorbereitet. Die Ministerin ist darauf eingegangen. Die Verantwortung - da sollten Sie gut hinhören wird in die Hände der Ärzte und Krankenkassen gelegt
werden.
({13})
In diesem Vorhaben kommt ein großer Vertrauensvorschuss insbesondere gegenüber der ärztlichen Selbstverwaltung zum Ausdruck.
({14})
- Wir haben uns viele neue Vorhaben auf die Fahne geschrieben; passen Sie einmal auf.
Eine Kostenexplosion im Arzneimittelbereich nach
Abschaffung des Kollektivregresses wäre eine große Niederlage für die Kassenärztlichen Vereinigungen auf ihrem
Weg weg von staatlich verordneter Reglementierung, den
Sie ja heute so beklagen; dass er eingeschlagen wurde,
dafür tragen aber Sie selber auch Verantwortung. Ich
möchte hier noch einmal betonen,
({15})
dass nach wie vor das gesetzlich verbriefte Gebot der Beitragsstabilität gilt. Die Verschreibung von Arzneimitteln
- aber nicht nur sie, sondern auch die Verordnung von
pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen - muss in
Zukunft noch mehr vom Gesichtspunkt der Qualitätssicherung bestimmt werden. Hierin sind sich alle Beteiligten einig. Ich denke, das haben auch die Vorredner gezeigt.
Die Begriffe „Qualität“ und “Qualitätssicherung“ wurden von vielen in den Mittelpunkt ihrer Reden gestellt. Es
ist höchste Zeit, dass diese Begriffe nicht nur als Kampfinstrumente zur Durchsetzung eigener Interessen verwandt, sondern mit Inhalten gefüllt werden. Leider vergeht kein Tag, an dem wir nicht von neuem von
Qualitätsdefiziten in Medizin und Pflege lesen und
hören. Es darf nicht sein - ich denke, in diesem Punkt sind
wir uns alle in diesem Hause einig -, dass alte Menschen
in deutschen Pflegeheimen nicht ordnungsgemäß versorgt
werden oder gar Pflegefehler dazu führen, dass sie sterben. Es darf ebenso wenig sein, dass viel zu viele Röntgenuntersuchungen in Deutschland vorgenommen werden; nahezu jede zweite ist nämlich überflüssig.
({16})
- Lesen Sie es doch nach; Sie können doch lesen, Herr
Seehofer. - Weitere Beispiele sind Ihnen bekannt.
Warum sage ich Ihnen das?
({17})
Solche Fälle schaden nicht nur dem Ansehen des gesamten Systems, sondern sie schaden jedem einzelnen Versicherten und jedem einzelnen Kranken in mehrerlei Hinsicht: Jede unnötige Behandlung und Diagnostik birgt
Risiken für die Gesundheit der Menschen.
({18})
Jede unnötige Behandlung und Untersuchung geht zulasten der Lebensqualität. Zu guter Letzt - es wird ja immer
wieder gefordert, dagegen etwas zu unternehmen - kostet
sie Zeit und Geld. Hierüber müssen wir, auch wenn es
manchem und mancher schwer fällt, offen diskutieren.
Das jüngste Gutachten des Sachverständigenrates - ich
hoffe, Sie haben es gut gelesen -,
({19})
die Studie der WHO und viele andere Untersuchungen
zeigen immer das Gleiche auf: Deutschland liegt - das
geht auf Entscheidungen während Ihrer Regierungszeit
zurück - weltweit bei den Gesundheitsausgaben an dritter Stelle, bietet aber nur eine mittelklassige Versorgung.
Die Experten diskutieren offen darüber, die Versicherten
spüren es: Die optimale Versorgung stand in den vergangenen Legislaturperioden nicht im Mittelpunkt des bundesdeutschen Gesundheitsbetriebes.
({20})
- Es kommt nicht nur auf die Arzneimittel an.
Die Versicherten wissen nicht, welche Behandlung für
ihre Krankheit die beste ist. Der Arzt steht in der Pflicht
- darauf hat er einen Eid geschworen -, die Patienten
bestmöglich zu behandeln. Auf der anderen Seite wissen
wir alle, dass sich der Arzt dabei im Spagat zu seiner eigenen finanziellen Existenz bewegt.
({21})
Diese beiden Aspekte sind ohne politische Vorgaben nicht
zu vereinbaren.
Die Versicherten können die Qualität der Behandlung,
die in dem Spannungsfeld zwischen Heilung und Ökonomie steht, nicht oder nur schwer beurteilen.
({22})
Transparenz und Beratung sind nötig, damit die Patientinnen und Patienten eigenverantwortlich darüber entscheiden können, welche Behandlung sie wollen und welche nicht.
Genau das ist es, was die Koalitionsfraktionen mit der
Gesundheitsreform 2000 und den jetzt anstehenden Änderungen erreichen wollen
({23})
- die Frau Ministerin hat schon auf Punkte hingewiesen,
beispielsweise Risikostrukturausgleich, die Sie während
Ihrer Regierungszeit nicht geschafft haben ({24})
und auch - das sage ich ausdrücklich - gegen viele Widerstände erreichen werden.
({25})
Wir wollen den mündigen Patienten, der im Mittelpunkt
unseres Gesundheitssystems steht.
({26})
Wir wollen die optimale Versorgung von kranken und alten Menschen in dieser Republik.
({27})
Das ist das Ziel unserer Gesundheitspolitik. Wir werden es erreichen. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen
zu machen.
Vielen Dank.
({28})
Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Lohmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute
mit einer Regierungserklärung zum Thema „Vertrauen
und Solidarität“, weil die rot-grüne Gesundheitspolitik
Vertrauen und Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung nachhaltig beschädigt hat.
({0})
Patienten, Versicherte, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Masseure, Krankenkassen, Krankengymnasten, Pflegekräfte,
Demenzkranke und ihre Angehörigen sowie Krankenhäuser, Heime und Kassen haben inzwischen das Vertrauen in
diese Gesundheitspolitik verloren.
({1})
Frau Schmidt-Zadel, wenn Sie jetzt sagen, Sie wären
dabei, das zu reparieren, was wir hinterlassen haben, dann
muss ich Sie wirklich fragen, ob Sie möglicherweise im
falschen Film sind;
({2})
denn was heute von der Ministerin gesagt worden ist, was
schon vorgelegt worden ist und was in den nächsten Wochen vorgelegt werden soll, ist ausschließlich der Versuch, Ihre eigenen Fehlleistungen zu reparieren.
({3})
Es geht doch überhaupt nicht darum, was wir angeblich
hinterlassen haben; denn was wir in der zweiten Hälfte der
letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben, haben Sie zurückgenommen. Sie haben sogar den Spieß herumgedreht. Jetzt stellen Sie aber plötzlich fest, dass es
falsch war, den Spieß herumzudrehen. Insofern sollten Sie
keinen Popanz aufbauen.
Den Patienten und Versicherten wurden im Wahlkampf
1998 unbegrenzte Leistungen zu stabilen Beiträgen versprochen. Die erste herbe Enttäuschung erlebten sie dann,
als sie feststellen mussten, dass die Zuzahlung - wir sind
in diesem Punkt ständig kritisiert worden - unter RotGrün nicht, wie angekündigt, drastisch, sondern nur sehr
unwesentlich reduziert worden ist.
({4})
Die Senkung der Zuzahlung um die berühmte 1 DM ergab zwar in der Summe 1 Milliarde DM. Aber es hat der
Oma in der Apotheke nicht sehr viel geholfen, dass die
Zuzahlung von 9 DM auf 8 DM gesenkt wurde.
Die zweite Enttäuschung stellte sich bei den Patienten
und Versicherten ein, als Rot-Grün die Budgetierung der
Arznei- und Heilmittelausgaben wieder einführte. Es darf
nicht vergessen werden, dass es diese so genannten Budgets während unserer Regierungszeit gar nicht mehr gab.
Die alte Regierung hatte nach der Erfahrung, die sie zugegebenermaßen erst machen musste, die Zeichen der
Zeit erkannt und die Budgetierung abgeschafft. Sie haben
sie wieder eingeführt und so zur Rationierung beigetragen.
Es ist im Übrigen interessant, Frau Ministerin, dass Sie
jetzt die Arzneimittelbudgets abschaffen und dafür arztund arztgruppenbezogene Richtgrößen einführen wollen. Ich habe genau im Gesetzentwurf nachgelesen: Nirgendwo steht dort das Wort „Budget“; es musste überall
gestrichen werden. Bei den Richtgrößen heißt es jetzt:
arzt- und arztgruppenbezogene budgetablösende Richtgrößenvolumen.
({5})
Ich lege auf das Wort „Volumen“ Wert. Man kann also auf
die Idee kommen: Da müssen doch noch irgendwelche
Restgrößen von Budgets sein. Im Grunde genommen ersetzt man das Wort „Budget“ nur durch den Begriff „Volumen“.
Das ist noch nicht alles. Weil die GKV unter diesen
Umständen ihrer Aufgabe als Solidargemeinschaft nicht
mehr gerecht werden kann, schleicht sich bei den Patienten und bei den Versicherten zunehmend das Gefühl ein,
immer mehr in das System zahlen zu müssen, aber immer
weniger Leistungen zu bekommen. Mit der Budgetierung
untergräbt Rot-Grün - das wissen Sie - das Vertrauen von
Patienten und Versicherten in die Leistungsfähigkeit der
Krankenversicherungen. Der Patient wird vor die Wahl
gestellt, auf Leistungen zu verzichten oder 100 Prozent
selbst zahlen zu müssen, wenn er ein bestimmtes Medikament braucht.
Frau Schmidt, Sie haben in Ihrer ersten Rede - ich habe
das Zitat dabei - gesagt:
Wenn mich jemand fragt, wie ich denn mir ein solidarisches Gesundheitswesen ... vorstelle, dann ist für
mich eines klar: In einem solidarischen Gesundheitswesen darf niemand auf den Gedanken kommen:
Wenn ich nur mehr Geld hätte, dann würde ich besser behandelt.
Leider kommen die Menschen inzwischen - aufgrund Ihrer Politik - auf genau diesen Gedanken.
({6})
Denn am Standort Deutschland sind GKV-Patienten bei
wichtigen Erkrankungen mittlerweile unterversorgt und
stellen sich die Frage, die nach Ihrer Meinung in Deutschland nie aufkommen dürfte.
Auch das Vertrauen der Ärzteschaft in die Politik von
Rot-Grün ist beschädigt. Den Ärzten wird immer wieder
unterstellt - Frau Schmidt-Zadel, Ihre Zwischenrufe waren intellektuell und auch, was den Inhalt anbelangt, kaum
zu übertreffen; Sie haben sinngemäß „Die Ärzte waren es;
haltet den Dieb!“ gerufen -, sich auf Kosten der Patienten
und Versicherten schadlos halten zu wollen. Es heißt, die
Ärzte wollten nur mehr Geld. Mit diesen diffamierenden
Unterstellungen ist das Arzt-Patienten-Verhältnis belastet
und damit wurde letztendlich der gesamten GKV Schaden
zugefügt, weil die Patienten mangels Vertrauen mehr
denn je von Arzt zu Arzt pilgern. Immer mehr Patienten
haben das Gefühl - das hören sie von anderen -, ihr Arzt
sei daran schuld, dass er dieses oder jenes nicht mehr verordne, und deswegen versuchen sie es einmal bei einem
anderen Arzt.
Die Ministerin erwartet von den Ärzten, mit immer weniger Geld eine evidenzbasierte Medizin sicherzustellen.
Wolfgang Lohmann ({7})
Das ist die Quadratur des Kreises - das ist heute schon
einmal gesagt worden - und kann nicht gut gehen. Nähmen Sie sich einmal die Zeit - ich mache Ihnen nicht den
Vorwurf, zu wenig Gespräche zu führen -, um sich mit
Vertretern der ostdeutschen Kassenärztlichen Vereinigungen zu unterhalten, ohne sie, wie neulich, quasi als
Bettler abzuweisen, dann wüssten Sie, dass es diesen Ärzten nicht nur um ihr persönliches Einkommen - was übrigens legitim wäre -, sondern auch um die Sicherstellung
einer flächendeckenden medizinischen Versorgung geht.
({8})
Wenn sich die Vergütungssituation der Ärzte in den
neuen Ländern nicht grundlegend verbessert, dann wird
es dort in den nächsten Jahren keine ambulante medizinische Versorgung mehr geben. Gelegentlich frage ich
mich, ob das vielleicht sogar gewünscht ist. Es könnte
sein, dass man alles in Richtung Krankenhaus abschieben
möchte. Immer mehr Praxen finden jedenfalls keinen
Nachfolger mehr. Hausärzte und Fachärzte warnen deshalb vor einem Zusammenbruch der medizinischen Versorgung. Die Notrufe der Ärzte überhören Sie. Der von
den Koalitionsfraktionen eingebrachte Gesetzentwurf
zum Wohnortprinzip gibt auf die Frage nach dem ärztlichen Honorar keine Antwort. Im Gegenteil, durch Ihren
Gesetzentwurf wird ein Konflikt zwischen Ostärzten und
Westärzten heraufbeschworen, nur damit eine Umverteilung von West nach Ost stattfindet.
Alle Fachleute sagen schon längst, dass es aufgrund
der Konsequenzen, die sich aus den Budgets ergeben, eine
Unterversorgung gibt. Das heißt, auch die Ärzte im Westen können die entsprechenden Verordnungen nicht vornehmen. Jetzt wollen Sie, dass noch weniger Geld zur
Verfügung gestellt wird, um das Problem zu lösen. Das
reicht nicht. Eine Verbesserung der Honorarsituation wird
nur erzielt, wenn man - in den von uns bisher vorgelegten
Gesetzentwürfen ist das entsprechend verankert - auch
bei den ärztlichen Vergütungen die Budgetierung beendet
und beispielsweise Regelleistungsvolumina mit festen
Punktwerten einführt. Der Koalitionsentwurf bleibt insofern Flickwerk und macht nur deutlich , dass der Geist der
Budgetierung weiterhin in den Köpfen von Rot-Grün
- Herr Kirschner, ich wollte nicht wieder von dem berühmten Betonfacharbeiter der Dreßler-Riege sprechen - wabert. Solange Sie diesen Geist nicht abtöten, wird aus
dem, was Sie vorhaben, keine vernünftige Politik werden.
Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Krankenkassenwahlrechte greift Rot-Grün - jedenfalls nach
meiner Auffassung - die Patienten und die Versicherten
massiv an. Frau Schmidt, Sie können doch keiner Bürgerin und keinem Bürger erklären, warum ihre Wahlrechte
erst drastisch eingeschränkt werden müssen, um sie anschließend auszubauen. Die Leute fragen sich doch, ob da
noch alles ganz in Ordnung ist oder ob sie, wie Dieter
Thomae sagt, nicht doch hinters Licht geführt werden,
sage ich einmal etwas vorsichtig in der Wortwahl.
({9})
Die Grünen sind offenbar schon nach zwei Jahren Koalition so degeneriert - um nicht zu sagen: sozialdemokratisch infiltriert; das könnten wir auch sagen -, dass ihnen ihre Identifikation als Bürgerrechtspartei völlig abhanden gekommen ist. Es ist doch nicht anders zu erklären, Frau Knoche, dass Sie in der Koalition nicht mehr für
die Versicherten gekämpft haben.
Frau Schmidt sagte heute: Wir wollen stabile und die
Lohnnebenkosten schonende Beiträge. Mit der Einführung
eines Mindestbeitragssatzes von 12,5 Prozent - Sie stellen ja ein Ultimatum, das muss gemacht werden - stehen
den Versicherten und den Arbeitgebern todsicher Beitragssatzsteigerungen bevor; denn alle Kassen - zum Glück
sind es eine ganze Reihe, die noch unter 12,5 Prozent liegen - müssen jetzt auf 12,5 Prozent erhöhen. Also schonen
Sie nicht die Lohnnebenkosten und auch nicht die Beitragsentwicklung und Beitragsgestaltung.
Wir können nicht erkennen, das Rot-Grün einem Konzept folgt, geschweige denn einem neuen Konzept.
({10})
Vielmehr stellen die jetzt vorgelegten Gesetzentwürfe ein
Sammelsurium von Einzelmaßnahmen dar und sind nicht
geeignet, die von Ihnen gewünschte Solidarität und das
Vertrauen in die gesetzliche Krankenversicherung wieder
herzustellen. Die Beteiligten im Gesundheitswesen wissen ebenso wenig wie wir, wie die breite Öffentlichkeit,
wofür Rot-Grün nun eigentlich steht. Was ist das Konzept
der rot-grünen Bundesregierung? Was meint der Bundeskanzler, der heute Vormittag da war, wenn er von mehr Eigenverantwortung spricht?
({11})
Meint er damit die Ausweitung der Zuzahlung, eine
höhere Selbstbeteiligung? Wird sich die Regierung der
Einnahmenproblematik zuwenden? Dazu ist nichts gesagt
worden. Bisher hat sie konsequent verschwiegen, dass aus
hoher Arbeitslosigkeit und veränderter Altersstruktur Einnahmeprobleme entstehen.
Wann und wie will die Regierung das Urteil des Verfassungsgerichts zur Gleichbehandlung von freiwillig
Versicherten, Pflichtversicherten und Rentnern umsetzen? Vage Andeutungen bisher. Es ist übrigens interessant, dass Sie die freiwillig Versicherten eventuell den
Pflichtversicherten gleichstellen wollen. Umgekehrt würde ja möglicherweise ein vernünftiger Schuh daraus. Aber
das passt nicht in Ihre Gesamtrichtung; ich spreche noch
einmal von Frau Schmidt-Zadel oder Herrn Kirschner.
({12})
Wie steht es mit dem Wettbewerb? Was ist mit dem
Leistungskatalog? Auf einer Veranstaltung im ICC hat
Herr Kirschner gestern am Schluss der Diskussion noch
einmal definitiv festgestellt, dass für ihn - er wusste nicht
genau, ob er auch für die Fraktion sprechen konnte - feststeht: Mit dieser Fraktion wird es niemals Kern- und
Wahlleistungen oder Grund- und Wahlleistungen geben.
Warum lese ich denn dauernd von Herrn Hovermann und
anderen etwas anderes? Es ist doch ein Erosionsprozess in
Wolfgang Lohmann ({13})
Gang gekommen. Das wollen wir und das will die Öffentlichkeit wissen.
({14})
Hat die Bundesregierung tatsächlich eine Vorstellung
davon, wie sie das Gesundheitswesen reformieren will?
Wenn das der Fall wäre, würden Sie - das glaube ich
schon - das Konzept vorlegen. Stattdessen berufen Sie
runde Tische ein, lassen die Verbände Lösungen erarbeiten, die Sie dann teilweise eins zu eins übernehmen, oder
Sie machen sich zum Spielball der Verbände.
Ein gutes Beispiel ist das zu beratende FestbetragsAnpassungsgesetz. Die Kassen hatten ursprünglich
durch die Absenkung der Festbeträge ein Volumen von
1 Milliarde DM herausholen wollen. Nach dem Kuhhandel mit den Pharmaverbänden hat man sich auf 650 Millionen DM verständigt. Die Kassen melden aber schon
jetzt Bedenken wegen der Realisierung dieses Einsparvolumens an.
Das für diesen Gesetzentwurf eigentlich ausschlaggebende Problem ist mit dieser Vorlage aber noch nicht
gelöst. Die Bundesregierung hat nicht geklärt, wer in Zukunft rechtssicher die Absenkung der Festbeträge vornehmen soll. Die Regierung wartet auf die Entscheidung des
Verfassungsgerichts; die Gerichtsentscheidung soll den
Weg vorgeben. Dabei könnte die Bundesregierung doch,
um in einen Dialog zu kommen, bereits jetzt sagen, ob sie
in Zukunft an Festbeträgen festhalten - das wäre eine
Möglichkeit, das würden wir mit Sicherheit unterstützen oder ob sie diese durch freie Preisverhandlungen ersetzen
will - das würde vielleicht Dieter Thomae unterstützen.
({15})
Mit der jetzt vorgesehenen Übergangslösung wird die
Rechtsunsicherheit jedenfalls nicht beseitigt.
Ähnlich konturenlos verläuft die Entwicklung beim
Thema Risikostrukturausgleich, RSA genannt,
({16})
den Sie bei Ihrer Inthronisation als zentrale Aufgabe mit
auf den Weg bekommen haben. Statt selbst ein Konzept
auf der Grundlage der von Ihrem Ressort eingeholten
Gutachten zu erstellen, zwingen Sie erst die Gutachter für
sich und dann die Kassen am runden Tisch zu einer gemeinsamen Lösung. Angesichts der Herausforderungen,
vor denen unser Gesundheitswesen steht, ist der Kompromiss im Grunde unverantwortlich.
Frau Ministerin, ich rate dringend, sich wieder der am
Gemeinwohl ausgerichteten Politik zuzuwenden. Sorgen
Sie dafür, dass die gesetzliche Krankenversicherung, die
wir alle unterstützen und jahrzehntelang unterstützt haben, wieder an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Erfordernisse angepasst wird, und lassen Sie sich dabei
nicht von der Beliebigkeit leiten. Patienten, Versicherte,
Ärzte und Pflegekräfte erwarten von Ihnen ein Konzept.
Wenn Sie eines haben, dann legen Sie es vor und lassen
Sie die Katze nicht erst nach der Bundestagswahl aus dem
Sack; sonst bleiben Ihre Reden reine Fensterreden.
({17})
Ich erteile Kollegin
Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Herren
und Damen! Herr Lohmann, ich verstehe es ja, dass Sie
gesundheitspolitisch endlich einmal wieder aus der Vorhand spielen möchten, aber dazu müssten Sie erst einmal
eine Leitidee vorstellen. Ich habe keine erkennen können.
({0})
Ihre Kritik war sehr kleinteilig; das sei Ihnen auch zugestanden. Aber worauf zielt sie denn? Das Einzige, was
ich gehört habe, war, dass Herr Thomae, egal, um was es
sich handelt, die Idee des Wettbewerbs, der Deregulierung
in den Vordergrund stellt,
({1})
egal, was es gesellschaftspolitisch kostet. Das ist nicht unsere Vision.
({2})
Ich möchte jetzt etwas Wichtiges sagen; wir haben
schließlich ungefähr Halbzeit, zu der Rückblick und Ausblick angebracht sind: Wenn eine Ökonomisierung der Beziehung im und zum Gesundheitswesen prägend wird,
dann steigen die gesamtgesellschaftlichen Kosten, und eines geht verloren, nämlich das Vertrauen in dieses System.
({3})
Die Verluste sind beträchtlich. Wir können nie auf einen
Ausbau der solidarischen Sicherungssysteme verzichten, wenn uns und den Menschen eines gewiss bleiben
soll, nämlich dass der Kernauftrag, alles, woraus wir unsere Legitimation beziehen, ist: Heilen, Helfen, Lindern,
Fürsorge, Vorsorge und - im Zeitalter der Gen- und Repromedizin - zuletzt auch das Recht auf Schicksal.
Gerade das ruft aber nach mehr Verantwortung, nach
mehr Gestaltung und ist genau das Gegenteil von dem,
was Sie hier ständig einfordern. Es kann keine Selbstenteignung und kein Wegschieben von politischer Verantwortung für das geben, was die Kultur des Sozialen in der
Gesellschaft in der nächsten Zeit ausmacht und prägt. Ich
bin in keiner Weise bereit, die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens ohne Solidarität als feste Grundlage zu
diskutieren.
({4})
Wolfgang Lohmann ({5})
Schon bekannt: Der Ausstieg aus der bewährten GKV
ist teuer und selbst partiell können wir uns ihn nicht leisten. Aber gerade als Grüne, die ich noch immer einen
Emanzipationsanspruch habe, weiß ich, dass der Verlust
individueller Freiheit enorm ist, wenn die Sicherheit der
Solidarität nicht mehr gegeben ist.
({6})
Diese Sicht unterscheidet sich grundlegend von jeder neoliberalen Idee und Ideologie.
Die neue Ungleichheit, die dadurch entstehen würde,
({7})
und die Unfreiheit der Kranken und Versicherten ist auch
mit fiktiven Beitragssätzen und fiktiver Stabilität nicht
aufzurechnen. Modernität muss bitte immer frei sein von
modischen Launen, die es bedauerlicherweise auch in der
Politik immer wieder gibt.
({8})
Modernität heißt auf dem Feld der Gesundheit: Lassen Sie
uns gesundheitspolitische Ziele definieren, die ethische
Maßstäbe und humanitäre Ansprüche auf Teilhabe am
medizinischen Fortschritt für alle benennen. Diese stehen
über den ökonomischen Anreizsystemen.
({9})
Das bedeutet, dass Wettbewerb kein Wert an sich ist, sondern dass soziale Gerechtigkeit das oberste Leitbild ist.
Dann suchen wir uns die Steuerungsinstrumente aus, die
geeignet sind, dies sicherzustellen.
({10})
Es wird gebetsmühlenartig mit Redundanz davon geredet, die Zuwächse und die Sicherheit in der GKV seien
nicht mehr bezahlbar. Ich wiederhole hier, was ich schon
sehr oft gesagt habe: Es gab und gibt sie nicht, die Kostenexplosion.
({11})
- Selbst jetzt, da wir die Zuzahlungen zurückgeführt haben, ist der Anteil am Bruttoinlandsprodukt durch die
GKV gesunken und nicht gestiegen. Lassen Sie uns also
bitte keine falschen Botschaften in die Welt setzen.
({12})
Beziehen wir uns auf das, was wir zu tun haben.
Wenn der Druck auf die Beitragssätze da ist, dann resultiert er primär nicht aus den Leistungen und aus der
Leistungserbringung, sondern er resultiert nach wie vor
- so bedauerlich das auch ist - aus der geringen Lohnquote und aus der Tatsache, dass die hohe Arbeitslosigkeit
mit ihrer Abfederung die Einnahmenausfälle bei der
GKV hervorruft.
({13})
Das wiederum verlangt von uns, dass wir für die Stabilisierung der GKV endlich wieder die Option transportieren, dass dann die Beitragssätze stabil bleiben, wenn
sich alle an der Finanzierung des Sozialsystems beteiligen.
({14})
Das ist eine ökonomische Wahrheit und auch Klarheit,
und die lässt sich sehr gut in die Gesellschaft hineintransportieren.
Sie hat nämlich noch ein ganz wesentliches Moment.
Eine moderne Krankenversicherung integriert. Sie
schließt ein, sie schließt nicht aus.
({15})
Grund- und Wahlleistungen, Kostenerstattung, alles, was
Sie heute hier vorgetragen haben, macht die GKV in hohem Maße unattraktiv, macht sie ungerecht, macht die
Leistungserbringung im privaten Sektor für die Menschen, die die Leistungen brauchen, immer unbezahlbarer. Das ist ein Weg, den ich nicht gehen will.
Lassen Sie uns also darüber reden, was denn eigentlich
modern ist. Modern ist wie eh und je das Prinzip der GKV,
und wer sich davon verabschiedet, hat seinen Modernisierungsanspruch längst aufgegeben.
({16})
Es gibt ein Thema - das wissen Sie -, das in sich engstens etwas damit zu tun hat, welche Werte für uns in der
Gesundheitspolitik maßgeblich sind. Es sind neue Herausforderungen für uns gekommen. Wir haben in dieser
Legislaturperiode versucht, in vielfältiger Weise parlamentarisch-demokratische Antworten zu geben. Es sind
die Fragen der Bio- und Gentechnik, denen wir uns nicht
verschließen können. Deshalb hier noch zwei, drei kurze
Bemerkungen.
Wenn wir an anderer Stelle über die Frage reden, ob
Gene patentierbar sind, dann weiß ich als Gesundheitspolitikerin, wenn es diese Stoffpatente gäbe, hätte das weitreichende Auswirkungen darauf, zu welchem Preis und
für wen künftig neue Medikamente verfügbar sind. Das ist
eine wichtige Frage, mit der wir uns zu befassen haben.
Wenn jetzt Gentests, prädiktive Tests, möglich sind, dann
ist es unsere Aufgabe, zu sagen, dass sie nur im Rahmen
der ärztlichen Behandlung einen Sinn haben, dass nur da
die Sicherheit gegeben wird, dass niemand über diese Daten und Informationen fremdverfügt.
({17})
Das sind ganz wichtige Voraussetzungen, die wir der
Bevölkerung garantieren müssen. Das schafft Vertrauen,
das schafft Sicherheit und das bereitet auch den Boden für
eine abgewogene rationale Debatte darüber, was die
Chancen sind, was die Risiken sind, was wir tun müssen,
damit das Ideal der Gleichheit und der Antidiskriminierung beibehalten wird, damit wir das also sichern können;
denn nichts ist wichtiger als die Frage, wie wir mit
Behinderungen, mit Anderssein, mit anderen Arten von
Krankheiten und Bedingungen umgehen. Deshalb ist das
auch eine eminent gesundheitspolitische Frage. Wenn ich
sehe, wie Sie in Ihren Beispielen, den Leistungskatalog zu
verschlanken, als allererstes auf die Idee kommen, die
künstliche Befruchtung dem Privatbereich zu übereignen, sie sogar als Dienstleistung zu kategorisieren, dann
weiß ich, welche Risiken damit verbunden sind. Ich weiß
mich auch einig mit vielen im Hause, wenn ich die Kommerzialisierung des Frauenkörpers auf das Entschiedendste ablehne. Jedwede Bestrebungen im Bereich
der Reproduktionsmedizin müssen wir zu einem Thema
der Gesundheitspolitik machen. Auch wenn manche
schmunzeln werden: Es wird sich alsbald zeigen, welche
zentrale Rolle das, was ich soeben angesprochen habe,
hat.
({18})
In diesem Sinne - ich habe mir noch vieles anzusprechen vorgenommen; ich muss aber zum Schluss kommen - bin ich absolut in Übereinstimmung mit den
Forderungen, die die deutsche Ärzteschaft in der Biopatentierungsfrage erhebt. Wir tun gut daran, uns klarzumachen, dass wir all diese ethischen und menschenrechtlichen Herausforderungen in der Gesundheitspolitik nur
dann beantworten können, wenn wir das Projekt der Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung weiter vorantreiben. Das ist Reform; das will ich umsetzen.
Danke schön.
({19})
Ich erteile
dem Kollegen Detlef Parr für die Fraktion der F.D.P. das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich bin am Montag auf einer Ärzteveranstaltung in der Lutherstadt Wittenberg gewesen. Wenn ich
diese Veranstaltung, Frau Ministerin, unter das Motto Ihrer Regierungserklärung „Vertrauen und Solidarität - die
Chancen der Zukunft nutzen“ gestellt hätte, dann hätte
man mich aus dem Brauhaus gejagt.
({0})
In den neuen Bundesländern ist nämlich das Vertrauen
in eine sich zu ihren Gunsten entwickelnde Gesundheitspolitik längst verloren gegangen. Die Solidarität erschöpft
sich im gemeinsamen Erdulden von Fremdbestimmung
und Planwirtschaft. Die Chancen der Zukunft sind nicht
abhängig von der Leistung, die dort erbracht wird, sondern vom Wohlverhalten der Banken. Ich zitiere aus dem
Schreiben eines Facharztes:
Ich fühle mich ein zweites Mal betrogen, denn schon
zu DDR-Zeiten hatten wir Ärzte keinen guten Stand.
Jetzt aber geht es sogar um die blanke Existenz!
({1})
Es ist ein Skandal, wie in unserem hoch entwickelten und weltweit anerkannten Wirtschaftsstaat mit
engagierten Menschen, die wie kaum eine andere
Berufsgruppe bereit sind, unter vollstem Einsatz Tag
und Nacht Dienst am Nächsten zu leisten, umgegangen wird.
({2})
Frau Knoche, das ist die Realität im Osten unseres Landes und auch in manchen westlichen Regionen. Sie reden
an dieser Realität vollkommen vorbei.
({3})
Neben den niedrigeren Arztzahlen, den damit verbundenen längeren Arbeitszeiten für Ärzte und ihr Personal
und den in vielen Praxen nach zehn Jahren Niederlassung
fehlenden Mitteln für notwendige Modernisierungsinvestitionen ist für die Qualität der medizinischen Versorgung die hohe Zahl von Ärzten in höherem Alter, die
vergeblich nach jungen Nachfolgern suchen, am bedrohlichsten.
Ihre Politik zeigt bisher keine berechenbaren Perspektiven auf. Zukunftschancen für junge Leute? Fehlanzeige!
Die Studierenden stellen Ihnen die entsprechende Quittung aus. Vage Hoffnungsschimmer am Horizont reichen
nicht aus, Frau Ministerin. Das System steht auf dem
Kopf. Wir müssen es wieder auf die Füße stellen, und
zwar mit den Säulen, die wir immer wieder nennen: mehr
Wahlfreiheit, mehr Transparenz, mehr Patientensouveränität und mehr Wettbewerb.
({4})
Runde Tische hin, runde Tische her: Sie könnten sich viel
Zeit sparen, die wir eigentlich schon jetzt nicht mehr haben.
Wir haben im Gesundheitsausschuss seit 1998 eine
Fülle von grundlegenden Anhörungen durchgeführt.
Hätte man mehr zugehört und weniger weggehört, dann
wären wir weiter.
({5})
Es sind Gutachten erstellt worden. Die Reformvorstellungen liegen auf dem Tisch. Ich denke, es reicht vollkommen aus, wenn man die Ergebnisse vorurteilsfrei nebeneinander stellt, die Alternativen bewertet und endlich
zu einem umfassenden und in sich schlüssigen Handlungskonzept kommt, anstatt Zeit in vermeintlichen
Konsensrunden zu vergeuden. Diese sind gut gemeint,
aber mehr als deutlich als Hinhaltetaktik erkennbar.
Ich hoffe sehr, dass Sie, Frau Ministerin, nicht nach der
Devise verfahren, die Ludwig Marcuse so ausdrückt: „Die
Zeit heilt nicht alles; aber sie rückt vielleicht das Unheilbare aus dem Mittelpunkt.“ Da spielen wir nicht mit.
({6})
Eine letzte Bemerkung: Die F.D.P.-Fraktion, Frau Ministerin, begrüßt Ihre offene Haltung zur Gentechnologie.
({7})
Wir haben am Dienstag unter den Obleuten auf der
Grundlage des F.D.P.-Antrages „Präimplantationsdiagnostik rechtlich absichern“ eine Anhörung im Bundestag
vereinbart. Ich habe gestern Ihrem Kanzler sehr genau zugehört, der dafür plädiert hat, dass wir bei der Beantwortung dieser Fragen über unsere Landesgrenzen hinaus
schauen sollten, um zu sehen, auf welchen Wegen die anderen Europäer zu welchen Lösungen gekommen sind. Es
sollten also nicht nur nationale, sondern auch internationale Experten angehört werden.
Ich denke, wir müssen die hoch emotionale und polarisierte Debatte zwischen und in den Parteien und in der
Öffentlichkeit zu einem sachorientierten Dialog zurückführen. Sie haben zu Recht zu mehr Gemeinsamkeit aufgerufen, die wir gemeinsam ausleben möchten, wo wir
dies können. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie eine
Anhörung zur rechtlichen Absicherung der Präimplantationsdiagnostik mit unterstützen und so zu einem wirklich sachorientierten Dialog darüber beitragen würden.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die
SPD-Fraktion erteile ich der Kollegin Hildegard Wester
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon
bei der letzten Regierungserklärung der neuen Bundesgesundheitsministerin, meiner Kollegin Ulla Schmidt, hat es
hier heftige Auseinandersetzungen über den richtigen
Weg, über die richtigen Steuerungsinstrumente in der Gesundheitspolitik gegeben.
Heute - wir erleben es alle - ist es genauso. Seit Jahren, fast schon seit Jahrzehnten diskutieren wir diesen so
genannten Königsweg eines Systems zwischen staatlicher
Steuerung, selbst verwaltetem System und zunehmendem
Wettbewerb der Akteure. Die Mängel und Schwächen
dieses Systems werden seit Jahren analysiert und diskutiert. An den Grundvoraussetzungen hat sich gar nicht viel
geändert.
Wir haben bereits 1992 in Lahnstein fraktionsübergreifend den Grundstein dafür gelegt, dort, wo es möglich und
sinnvoll ist, wettbewerbliche Elemente in die gesetzliche
Krankenversicherung einzubringen. Damals haben wir
konsequent den Weg eingeschlagen, die Rechte der Versicherten, nämlich der Patientinnen und Patienten, zu stärken. Seitdem kann zum Beispiel jeder seine Krankenkasse
frei wählen.
({0})
Das gilt trotz aller Unkenrufe auch weiter so.
({1})
Wir sind sogar noch einen Schritt weitergegangen: Ab
2002 soll jeder Versicherte, egal, ob pflichtversichert oder
freiwillig versichert, mit einer Frist von sechs Wochen
seine Krankenkasse neu wählen können.
({2})
Dies stellt nicht nur die längst überfällige Gleichstellung
von Pflichtversicherten oder freiwillig Versicherten sicher, sondern ist gleichzeitig eine wesentlich flexiblere
Regelung als die bisherige.
({3})
Diese beiden Grundpfeiler eines flexibleren Wahlrechts werden im Kampfgeschrei gerne vergessen und die
angebliche Schlechterstellung der Versicherten wird beschrien.
In der Reform des Jahres 2000 sind wir weitere Schritte
hin zur Stärkung der Rechte der Patientinnen und Patienten gegangen. Das war nur konsequent und wird weiter unsere konsequente Linie bleiben. Viele Diskussionen
der letzten Jahre um Kostendämpfung, Budgetierung oder
Anbieterdominanz haben oft vergessen lassen, um was es
im Gesundheitswesen eigentlich geht, nämlich um die
Versicherten, die Patientinnen und Patienten. Es geht darum, diesen die Sicherheit zu geben, dass sie für ihre
Beiträge eine vernünftige Versorgung immer dann erhalten, wenn sie sie benötigen.
({4})
Ich halte deswegen den Weg von Ulla Schmidt und der
SPD, die Versicherten in den Mittelpunkt aller Maßnahmen im Gesundheitswesen zu stellen, für richtig.
({5})
- Natürlich war das der Fall und es wird auch der Fall bleiben. Denn die Effizienz des Systems spielt auch bei der
Frage eine wichtige Rolle, ob und wie man die Patienten
behandeln kann.
({6})
Dabei ist es unsere Aufgabe, allen Beteiligten und Akteuren im Gesundheitssystem einen Rahmen vorzugeben,
der es ihnen ermöglicht, sich genau auf diese Aufgabe zu
konzentrieren. Ich glaube, darüber, dass sich alle politischen Maßnahmen daran messen lassen müssen, ob sie
die Handlungsmöglichkeiten der Akteure im Gesundheitswesen, ihre jeweiligen Versorgungsbereiche eigenverantwortlich zu regeln und zu steuern, verbessern, besteht gar kein Dissens, auch wenn Sie den jetzt beschreien
wollen.
Viele der Maßnahmen, die die Ministerin eben genannt
hat, erfüllen genau diese Kriterien. Sie geben den Ärzten,
den Krankenkassen und weiteren Akteuren Instrumente
an die Hand, die Versorgung der Versicherten beispielsweise mit Arzneimitteln und die Verantwortung für eine
rationale Arzneimitteltherapie, die aber gleichzeitig wirtschaftlich ist, sicherzustellen.
Das Ausmaß dieser Eigenverantwortung der Beteiligten ist für manche überraschend gekommen, möglicherweise auch für Sie, Herr Thomae, und für die
CDU/CSU.
({7})
Aber ich hoffe, dass die erste Überraschung schnell konstruktiver Arbeit an den Zielen weicht.
({8})
Diese Ziele lauten, allen Versicherten eine an ihrem medizinischen Bedarf orientierte Arzneimitteltherapie zur
Verfügung zu stellen, die Transparenz zu erhöhen und
gleichzeitig Verantwortung für die Finanzierbarkeit des
Systems zu übernehmen. Auch in weiteren gesetzgeberischen Maßnahmen sehe ich den roten Faden in der Stärkung der Versichertenrechte und in der Verbesserung der
Versorgung. Ein besonderes Augenmerk wird auf chronische Erkrankungen, die Stärkung der Prävention und die
Entwicklung und Stärkung von morbiditätsorientierten
Indikatoren gelegt - all dies sind richtige Maßnahmen, um
eine zielgerichtete Versorgung der Versicherten zu gewährleisten.
Lassen Sie mich noch kurz auf das eingehen, was heute
Morgen von den Vorrednern seitens der F.D.P. und der
CDU/CSU angerissen wurde. Ich halte es für falsch zu
glauben, die Versichertenrechte würden dadurch gestärkt,
dass ein Großteil der medizinischen Versorgung in die private Verantwortung überführt wird. Dieses Konzept wird
auch dadurch nicht besser, dass es ständig wiederholt und
beschrien wird.
({9})
Wir haben uns in unserer Koalitionsvereinbarung und
in unseren Zielen auf eine sozial gerechte Gesundheitspolitik verpflichtet, die allen Bürgern eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung gewährleistet und ein
leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem sicherstellt; daran wird auch nicht gerüttelt. Wir wollen die
Rechte der Versicherten stärken. Wir wollen die medizinische Versorgung vor allem der Patientinnen und Patienten verbessern, die sie am dringendsten benötigen. Wir
wollen die Instrumente stärken, die den Akteuren Handlungsspielräume für die Erreichung dieser Ziele eröffnen,
sie aber gleichzeitig auch in die Lage versetzen, mit den
Geldern der Versicherten und Arbeitgeber vernünftig umzugehen. Wir wollen die Solidarität stärken und nicht
schwächen.
Unter diesen Prämissen - das hat die Ministerin eben
bereits deutlich gemacht - werden wir auch an die Herausforderungen herangehen, die oft als Untergang der
bisherigen traditionellen gesetzlichen Krankenversicherung beschrieben werden, nämlich auf die demographischen Herausforderungen, den medizinischtechnischen Fortschritt und die Veränderungen in der Arbeitswelt. Auf diese Herausforderungen müssen wir Antworten finden. Wir stellen uns diesen Fragen aber nicht
unter dem Damoklesschwert einer Veränderung des gesamten Systems.
({10})
Wir werden sie vielmehr im Dialog mit den Beteiligten
angehen, ohne unsere Ziele aus den Augen zu verlieren.
Ich bin überzeugt, dass wir nur so das Vertrauen in die gesetzliche Krankenversicherung stärken können. Man
kann es nicht oft genug sagen: Nicht die Akteure stehen
im Mittelpunkt, sondern die Patientinnen und Patienten.
Im Rahmen einer solidarischen Krankenversicherung
muss es unser Ziel sein, die Versorgung der Kranken zu
verbessern, alle Möglichkeiten zur Verbesserung von Behandlungsabläufen zu nutzen und die wettbewerblichen
Elemente da zu stärken und auszubauen, wo sie der Verbesserung der Versorgung, der Transparenz und der Vergleichbarkeit der Angebote dienen, und gleichzeitig sicherzustellen, dass dies auch finanzierbar bleibt.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die Urteile
des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung
eingehen. Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. April
dieses Jahres vier Urteile verkündet. Insbesondere bei einem dieser Urteile, nämlich dem, in dem die Berücksichtigung der Erziehung von Kindern bei der Bemessung der
Beiträge zur Pflegeversicherung gefordert wird, wird
vermutet, dass es Auswirkungen auch auf die gesetzliche
Renten- und Krankenversicherung hat. Zumindest hat
der Gesetzgeber die Aufgabe erhalten, dies zu überprüfen.
Wir werden auch in dieser Frage, also bei der ungerechten Lastenverteilung zwischen Menschen, die Kinder
erziehen, und Menschen, die keine Kinder haben, auf die
Problematik der demographischen Entwicklung gestoßen. Durch die enge Verknüpfung von Demographie
und unseren Sozialsystemen stehen wir vor großen Herausforderungen. Wir werden die Konsequenzen dieser
Urteile in aller Ruhe und Sorgfalt prüfen. Dabei ist eines
klar: Die Herausforderung, das Gesundheitssystem leistungsfähig und dabei bezahlbar zu halten, ist dadurch
noch gewachsen. Gerade im Interesse der nachwachsenden Generation ist es aber wichtig, eine Leistung zu gewährleisten, die nicht vom Geldbeutel des Einzelnen abhängt. Eine schlechte Leistung aufgrund eines geringen
Beitrags kann keine Lösung sein.
Ich bin zuversichtlich, dass wir auf dem richtigen Weg
sind, und hoffe, dass möglichst alle Beteiligten diesen
Weg mitgehen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Für die
PDS-Fraktion spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Immerhin hat die Kollegin
Wester zumindest gemerkt, dass auch die Pflegeversicherung in den Bereich der Gesundheitspolitik gehört.
Das ist schon erfreulich.
({0})
- Ja, Frau Schmidt-Zadel, ich weiß.
Frau Ministerin, Sie haben sich diesem Thema nur sehr
kurz zugewandt. Ich will die wenige Redezeit, die der
PDS noch bleibt, nutzen, um dazu etwas zu sagen. Was
Sie Pflegequalitätssicherungsgesetz nennen, kann nicht
das leisten, was wir brauchen. Wir brauchen nämlich kein
Gesetz, das die Pflegequalität sichert, sondern wir brauchen ein Gesetz, das die Lebenssituation von Menschen,
die in Pflegeheimen wohnen, verbessert.
({1})
Das ist etwas ganz anderes, als irgendwelche Strukturen
und Verwaltungswege zu verändern. Leider ist das in den
Vorlagen, die ich bisher gelesen habe, überhaupt nicht
vorgesehen.
Wenn Sie diesen Grundansatz nicht hineinnehmen,
dann können alle Ihre Veränderungen und Verbesserungen nur Stückwerkelei sein. Ich finde, das haben die Menschen an ihrem Lebensende und natürlich auch dann,
wenn sie länger in solchen Einrichtungen leben, nicht verdient.
({2})
Im Übrigen will ich daran erinnern, dass Sie bis Ende
dieses Jahres verpflichtet sind, manches neu zu regeln.
Darüber wurde bisher noch gar nicht geredet. Das Urteil
des Verfassungsgerichts ist das eine. Das andere ist die
Regelung der Kurzzeit- und Behandlungspflege. Diese
und einige weitere Maßnahmen wurden nur bis Ende dieses Jahres verlängert. Ich bitte darum, dies einmal so zu
regeln, dass die pflegeversicherten Menschen davon profitieren, diejenigen, die Hilfe, Unterstützung oder auch
Assistenz brauchen.
({3})
Wir müssen endlich dazu kommen, dass nicht mehr das
Teilkaskoprinzip im Vordergrund steht. Wir müssen in
erster Linie an die Menschen denken, die Assistenz brauchen. Diesen muss so geholfen werden, dass es deren
Lebensqualität verbessert. Den Dienstplan in einer Einrichtung zu optimieren kann nicht das entscheidende Kriterium sein. Das ist der Weg, aber nicht das Ziel, über das
wir reden. Diese Verwechslung sollte nicht länger anhalten.
Da ich noch eine halbe Minute Redezeit habe, will ich
auf den Punkt eingehen, den die Kollegin Knoche sehr
deutlich angesprochen hat. Ich bin ihr dafür sehr dankbar.
Wenn wir die ethischen Maßstäbe, die wir bei der Präimplantationsdiagnostik bzw. bei der Verhinderung dieser
Selektionsmaßnahme und bei anderen biomedizinischen
Fragen brauchen, nicht auch in allen anderen Bereichen
der Medizin anwenden, dann werden wir zu einer
Marktwirtschaft im Gesundheitswesen kommen, die mit
ethischen und humanistischen Maßstäben überhaupt nicht
zu messen ist.
Insofern, Herr Thomae, verstehe ich nicht, wie Sie dieser unglaublich unsolidarischen Herangehensweise so das
Wort reden können. Jeder soll sich quasi vorher aussuchen, welche Krankheit er sich wünscht, und sich entsprechend versichern. Das kann es nicht sein.
Wenn wir nicht zu dem universellen Prinzip zurückkehren - wir haben es leider schon durchbrochen -, die
Starken für die Schwachen, dann werden wir mit ethischen und humanistischen Grundsätzen in der Gesundheitspolitik nicht mehr viel zu tun haben. Es tut mir Leid,
aber das musste einmal gesagt werden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile
dem Kollegen Eike Hovermann für die Fraktion der SPD
das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der
Herr Präsident hat nicht nur meinen Vornamen Maria unterschlagen, sondern mein vollständiger Vorname heißt
korrekt eigentlich „Eike Anna-Maria“; deswegen bin ich
hin und wieder auch schon mit Frau Hovermann begrüßt
worden. Aber man gewöhnt sich ja an alles.
Im Zuge der abstrakten Diskussion über das Thema
„Budget“ will ich - auch in Anlehnung an das, was Sie,
Herr Dr. Thomae, über Planwirtschaft gesagt haben - einiges aus dem konkreten Alltag von Herrn Seehofer in die
Erinnerung zurückrufen.
Erstens. Er hat seinerzeit die stationären Reha-Maßnahmen auf drei Wochen starr begrenzt - wider jede medizinische Notwendigkeit, wider jeden medizinischen
Sinn. Die Folge war ein Drehtüreffekt, ein Ansteigen der
Folgekosten im ambulanten Bereich und beim Medikamentenaufwand. Diese Zahlen sind nachprüfbar, Herr
Dr. Thomae.
Was war das jetzt? War das eine Budgetierung, war das
eine falsche Budgetierung, war das Planwirtschaft? Oder
muss nicht im Grunde jenseits der Frage „Budgetierung
hin - Budgetierung her“ die eigentlich viel wesentlichere
Frage gestellt werden: Wo muss das riesenhaft vorhandene Geld - 270 Milliarden DM - im deutschen Gesundheitswesen effektiv eingesetzt werden, an welcher Stelle
in der ganzen Behandlungskette? Hierbei ist in der Vergangenheit ein schwerer Fehler geschehen;
({0})
an dem leiden wir natürlich, weil durch diese Entscheidungen seinerzeit Strukturen zusammengebrochen sind,
weil Bäder keine Planungssicherheit mehr hatten und
weil dort Unsicherheiten beim Personal entstanden sind,
die bis heute nachwirken, weil man eben nicht wusste,
worauf man sich einstellen sollte, ob das so richtig ist.
Wir waren deshalb mit Herrn Gnahn und vielen anderen bayrischen Kurortdirektoren zusammen, mit Verwaltungsdirektoren, die zu uns kamen und fragten: Was machen die da?
({1})
Das kam dann noch hinzu.
Der zweite Punkt: Der ganze Bereich der Prävention
wurde aus dem SGB V herausgenommen.
({2})
- Frau Bergmann-Pohl, der Bereich der Prävention mit
nachvollziehbaren geldlichen Leistungen ist seinerzeit
von Ihnen herausgekürzt worden; auch deshalb sind doch
die Vertreter der Bäder zu uns gekommen und haben sich
beschwert, insbesondere Herr Gnahn. Der ist seinerzeit
sogar vor lauter Schreck aus der CSU ausgetreten.
({3})
Der dritte Punkt, an den ich einmal erinnern möchte Budgetierung hin, Budgetierung her und Planwirtschaft,
Herr Dr. Thomae -: Es wurden Zuzahlungen für den stationären Aufenthalt im Reha-Bereich erhöht, etwa 30 bis
40 Prozent; nachprüfbar valide Zahlen, Frau BergmannPohl, damit Sie nicht wieder sagen, das stimme nicht. Das
hat vielfach dazu geführt, dass viele, denen eine Kur zugestanden worden war, diese Kur gar nicht mehr antreten
konnten, weil sie zu viel Geld zuzahlen mussten.
({4})
Dass das natürlich in erhöhtem Maße zu Folgekosten geführt hat, Herr Lohmann ({5}), an denen wir
heute noch leiden, ist ja wohl unbestritten.
Also noch einmal: Die zentrale Frage ist wohl nicht das
Thema „Budget hin - Budget her“, sondern die entscheidende Frage ist nach wie vor, wo das Geld in der gesamten Behandlungskette eingesetzt wird bzw. ob es sinnvoll,
qualitätsgesichert und kontrolliert eingesetzt wird.
Aus diesen Überlegungen heraus hatten wir seinerzeit
den Gedanken des Globalbudgets entwickelt und gesagt:
Je nachdem, in welchem Teil der Behandlungskette Notwendigkeiten entstehen, müssen wir in der Lage sein,
Gelder aus dem einen Bereich in den anderen Bereich zu
transferieren. Stellen Sie sich doch einmal vor - folgendes Problem begegnet uns ja in nächster Zeit; da bin ich
auch wieder auf Ihre Planwirtschaft und die von Herrn
Lohmann und von Frau Bergmann-Pohl gespannt -, wir
bekommen die Liste der stationsersetzenden Leistungen;
das heißt, zehn Operationen - ich greife einmal eine fiktive Zahl - werden demnächst aus dem stationären Bereich in den ambulanten Bereich verlagert, weil man
weiß, dass die Qualität gleich, teilweise sogar höher als im
stationären Bereich ist. Was müsste denn dann geschehen? Es müsste ein Transfer geschehen
({6})
vom stationären Bereich in den ambulanten Bereich, und
zwar unter der Fragestellung: Wo wird das Geld am sinnvollsten ausgegeben?
Dies bereitet uns aber noch Schwierigkeiten. Da möchten wir mit Ihnen gemeinsam konstruktiv arbeiten, weil
Sie genau wissen, dass im Krankenhausgesetz noch einige
Hindernisse bestehen, ohne weiteres Gelder aus dem stationären Bereich in den ambulanten Bereich zu transferieren. Eines darf aber nicht geschehen - das ist ja Ihr Ruf
nach mehr Geld im System -, dass man nämlich sagt: Wir
verlagern zehn Operationen aus dem stationären Bereich
in den ambulanten Bereich. Das Geld dafür kriegen wir
von dort aber nicht. Also muss zusätzlich Geld in den ambulanten Bereich hinein.
({7})
- Ja, ja, wären Sie seinerzeit unserem Globalbudget gefolgt; dann wäre das alles sehr viel besser möglich gewesen.
({8})
Der vierte Punkt, an den ich erinnern möchte: Wenn
man jenseits der vielen abstrakten Diskussionen über
Friede, Freude, Eierkuchen - das unterschreibt ja jeder in den konkreten Alltag geht, geht es doch um Folgendes:
Ich erinnere mich sehr wohl, dass die Kurorte sagten, dass
Herr Seehofer zur Stabilisierung der Entwicklung in
Deutschland sagte: Wir machen jetzt ein Beitragsentlastungsgesetz. Wir machen ein Gesetz für mehr Wachstum
und Beschäftigung zugunsten der Bäder. - Sie wissen,
was dabei herausgekommen ist. Es geschah das genaue
Gegenteil und zusätzlich gab es noch Beitragserhöhungen, und zwar Jahr für Jahr.
({9})
Ich will gar nicht darauf eingehen, dass das den Standort
Deutschland hinsichtlich der Lohnnebenkosten enorm beschädigt und lädiert hat. Wir versuchen nicht nur umzusteuern, sondern haben dazu erste Schritte getan.
Es geht um die entscheidende Frage: Wird das vorhandene Geld - hochgerechnet immerhin 270 Milliarden DM
in diesem Jahr - an der richtigen Stelle ausgegeben?
({10})
In diesem Zusammenhang haben OECD, WHO und der
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen gesagt: Es ist zwar viel Geld da, aber es
wird nicht an der richtigen Stelle und nicht effizient genug
ausgegeben. - In diesem Zusammenhang verweise ich auf
das schon etwas malträtierte Beispiel vom Rolls Royce
und einem Polo oder vom Mercedes und einem Golf. Ich
sage immer: Die Deutschen bezahlen in der medizinischen Versorgung offensichtlich Geld fürs Taxi und gehen
anschließend zu Fuß.
({11})
Wo liegen die Probleme? Immer noch steigen die Kosten für oftmals unnötig oder schlecht erbrachte Leistungen. Das ist ein ganz einfacher, aber schlimmer Umstand.
Zu lange - Aspekt Gerätedichte - wurde zu wenig geprüft,
ob der betriebene Aufwand in einem sinnvollen Verhältnis zum therapeutischen Nutzen steht. Erst langsam setzt
sich doch bei uns allen - ich nehme mich davon nicht
aus - die Erkenntnis durch, dass viele teure Untersuchungen für den Patienten keinen medizinischen Nutzen haben; häufig kommt es im Gegenteil zu einer Belastung
oder sogar zu einer Gefährdung des Patienten. In diesem
Zusammenhang erwähne ich Röntgenaufnahmen bei
Doppeluntersuchungen.
Eine ähnliche Problematik gibt es in dem Bereich ambulanter und stationärer Operationen, den ich eben schon
gestreift habe. Es wird immer noch zu viel stationär, mit
einer nicht sehr viel besseren Qualität als ambulant, operiert. Hier fehlt es an Geld und in diesem Bereich müssen
wir zu Transferleistungen kommen.
Ein Beispiel, das mich sehr bedrückt: Gleichzeitig
wächst leider die Zahl der nicht erbrachten, aber dennoch
abgerechneten Leistungen in einem Umfang von vielen
Millionen Mark. Man spricht in diesem Zusammenhang,
Herr Lohmann, vielfach abwiegelnd von einzelnen
schwarzen Schafen, obwohl es sich nach überprüften Abrechnungen und Stichprobenuntersuchungen der Kassen
eigentlich mehr um ganze schwarze Herden - damit sind
nicht Sie bildlich gemeint - handelt.
All diese Umstände gehen zulasten der Patienten und
damit der Beitragszahler; sie betreffen vor allem diejenigen Bereiche, bei denen jede Mark dringendst notwendig
gebraucht wird, nämlich für eine sinnvolle Sekundär- und
Tertiärprävention oder für die Behandlung chronisch
Kranker. Sie wissen aus der Anhörung - dem ist auch
nicht widersprochen worden -, dass rund 500 Millionen DM pro Jahr eingespart werden könnten, wenn man
Diabetes zeitgerecht und zielgerichtet behandeln könnte.
Probleme bestehen auch bei der Ausbildung; ich nenne
die Begriffe ganzheitlich versus Facharzt. Weil das häufig
nicht klappt, sind wir zu der Lösung einer integrierten
Versorgung gekommen, bei der die Kompetenzen aus allen Bereichen gebündelt werden.
In dieser Anhörung ist also gesagt worden: 500 Millionen DM versickern im deutschen System, weil durch ein
nicht zeitgerechtes Erkennen von Diabeteserkrankungen
amputiert werden muss, weil zu viele Erblindungen oder
Nierenversagen mit anschließenden hohen Dialysekosten
auftreten.
Das sind die Probleme des Gesundheitssystems. Mit
Verlaub, Herr Dr. Thomae: Dahinter treten doch im
Grunde genommen die Fragen nach dem Budget zurück.
Wer diese Fehlentwicklungen unverdrossen ignoriert und
nach mehr Geld für das System ruft, dem möchte ich die
Einschätzung von Professor Reinhard, einem der berühmtesten Gesundheitsökonomen, der an sehr vielen Tagungen in Deutschland teilnimmt, mitteilen. Er skizziert das
deutsche Gesundheitswesen so: In den langen Jahren, bis
in die 80er- und 90er-Jahre, ist die deutsche Gesundheitspolitik auf eine reine Einkommenspolitik degeneriert. Genau an dieser Stelle liegt das Problem.
({12})
Es steht eben vielfach nicht der Patient im Vordergrund.
Eben wurde argumentiert - ich weiß nicht, wer es war; ich
glaube, Herr Parr -, die Ärzte im Osten hätten für ihre Praxen hohe Summen aufgewendet und könnten diese Kosten jetzt nicht erwirtschaften. Das ist doch nicht das Problem. Das Geld hat nicht den Investitionen der Ärzte zu
folgen, sondern wir müssen die Frage beantworten: Was
brauche ich für den Patienten?
({13})
Keine andere Frage gilt es zu beantworten. Wenn Geldströme nur deshalb verlagert werden, weil der Leistungserbringer nicht genug Geld erhält, hat der Patient
Nachteile oder Schäden zu befürchten. Das ist, Herr
Dr. Thomae, ein bisschen flach, aber nun ja.
Mehr Geld bedeutet nicht automatisch mehr Qualität.
Das Geld der Beitragszahler ist in der Vergangenheit häufig nicht der Leistung, sondern den Wünschen der gut organisierten Leistungserbringer gefolgt. Das wollen und
müssen wir ändern.
Die Bundesregierung hat mit der Gesundheitsreform
2000 erste Schritte zu mehr Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement getan. Hierfür sind schon viele Beispiele genannt worden.
Ich komme zum Schluss, obwohl ich gerne noch auf
den Versandhandel als neue wettbewerbliche Form und
auf die integrierte Versorgung eingegangen wäre, bei der
die KVen landesweit jeden Stock in den Weg werfen, nach
dem Motto: Bloß keine neue Versorgungsform; denn es
könnte sich dann ja offenbaren, dass diese besser ist und
mehr Drive in die Versorgung der Patienten bringen
könnte.
Wir sind sehr froh, dass wir jetzt mit allen Leistungserbringern über alle schwerwiegenden Fragen am runden
Tisch diskutieren werden. Vielleicht gibt es die Möglichkeit zu einem Lahnstein 2, Herr Seehofer. In Würdigung
der Arbeit des Kollegen Lohmann mag man es auch
Lüdenscheid 1 nennen.
Wir hoffen, dass Sie auch aufgrund Ihrer Erfahrungen
mit der Renten- und der Steuerreform konstruktiv mitarbeiten werden; denn auch wir wollen nicht, dass sich das
manifestiert, was eine große deutsche Zeitung in der letzten Woche geschrieben hat: „Derzeit ist die Opposition
nicht nur nicht regierungsfähig, sie ist noch nicht einmal
oppositionsfähig.“
Schönen Dank für das Zuhören.
({14})
Nun gebe
ich das Wort der Kollegin Dr. Carola Reimann ebenfalls
für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Als Gesundheitspolitiker müssen wir
Lösungen verantworten, die den vielfältigen Interessen
der Akteure - Ärzte, Krankenkassen, pharmazeutische
Hersteller und vor allem Patienten - gerecht werden.
Dazu gehören eine bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung und eine rationale Arzneimitteltherapie, die auch
wirtschaftlich ist. Diesen Maßstäben ist der vorliegende
Entwurf eines Festbetrags-Anpassungsgesetzes ebenfalls
verpflichtet. Unser Vorschlag erlaubt eine moderate Entwicklung der Arzneimittelpreise und bildet so eine Voraussetzung für Beitragssatzstabilität.
Worum geht es nun bei Festbeträgen? Die schon 1989
eingeführten Festbeträge für Arzneimittel sind ein Instrument zur Kostensteuerung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Für die Kostensituation der Kassen ist die
Entwicklung des Arzneimittelmarktes ein ganz wesentlicher Faktor. Es geht dabei um ein Finanzvolumen von
36,8 Milliarden DM - das sind die Zahlen von 1999 - bei
783 Millionen Verordnungen. Die Festbeträge ermöglichten in der Vergangenheit eine Begrenzung der Ausgaben
für Medikamente. Das entlastete Beitragszahler und Kassen, und das bei einer Arzneimittelversorgung auf hohem
Niveau. Gleichzeitig intensivieren Festbeträge den Preiswettbewerb, weil sie die Hersteller zwingen, ihre Marktanteile über günstige Angebote zu sichern, einen Wettbewerb, den die F.D.P. eigentlich so gerne möchte. Der
Erfolg dieses Systems zeigte sich in der moderaten Preisentwicklung auf dem Gesamtmarkt.
Nach den bislang geltenden Regelungen bestimmen
die Spitzenverbände der Krankenkassen in Zusammenarbeit mit dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen die Festbeträge. Letzterer definierte die Gruppen
von Medikamenten, für die Festbeträge galten. Die Festbeträge wurden mithin von den Selbstverwaltungsorganen unseres Gesundheitssystems ausgehandelt. Mit den
Festbeträgen hatte man ein wirksames Instrument zur Stabilisierung der Kostensituation. Jetzt ist der Gesetzgeber
erneut gezwungen, über Lösungen in diesem Bereich
nachzudenken; denn das Bundessozialgericht hat in einem 1995 gefassten Beschluss das Festbetragsmodell als
verfassungswidrig eingeschätzt. Das Verfahren ist in Karlsruhe noch anhängig.
Darüber hinaus gibt es kartellrechtliche Bedenken: Die
Krankenkassen seien Unternehmen und folglich seien deren Spitzenverbände Unternehmensvereinigungen. Hier
könnte also ein Nachfragekartell bestehen. Das hindert
jetzt die Krankenkassenverbände an einer rechtswirksamen Bestimmung der Festbeträge; denn das Bundeskartellamt will künftig Absprachen in diesem Bereich
konsequent unterbinden. In Verantwortung für eine kosteneffiziente und bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung
muss der Gesetzgeber deshalb jetzt handeln.
Mit dem vorliegenden Entwurf eines Festbetrags-Anpassungsgesetzes wird sich Rechts- und Planungssicherheit im Bereich der Arzneimittelversorgung wieder herstellen lassen.
({0})
- Das sage ich Ihnen gleich. - Dieser Gesetzentwurf hat
nicht in einer dunklen Schreibstube das Licht der Welt
erblickt. Er ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und den
Verbänden der pharmazeutischen Industrie. Durch die
tatkräftige Geburtshilfe des Bundesgesundheitsministeriums konnten die vielfältigen Interessen in einer, wie
ich finde, tragfähigen Lösung zusammengeführt werden.
Wie sieht dieser Konsens nun konkret aus? Die Neuregelung schafft die gesetzliche Grundlage für eine einmalige allgemeine Anpassungsrunde der Festbeträge. Das
heißt: Bis zum Ende des Jahres 2003 legt das Bundesministerium für Gesundheit die Festbeträge im Einvernehmen mit dem Wirtschaftsminister fest. Die Bestimmung
der Festbeträge orientiert sich dabei an einer bedarfsgerechten, qualitativ hochwertigen und zugleich wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung. Sie folgt den bewährten
Prinzipien und der Gesetzentwurf enthält die Kriterien:
Mindestens ein Drittel der Verordnungen und mindestens
ein Viertel der Packungen müssen zum Festbetrag verfügbar sein.
Für die Absenkung der Festbeträge wurde eine Kappungsgrenze von 27,5 Prozent ausgehandelt. Damit bieten wir auch der pharmazeutischen Industrie einen sicheren Kalkulationsrahmen.
Der vorliegende Entwurf erlaubt es, die vorhandenen
Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen. Festbeträge
wirken sich positiv auf die Preisentwicklung aus. Erfahrungsgemäß ist mit Preissenkungen in diesem Bereich zu
rechnen. Wir rechnen mit einem Einsparvolumen von
jährlich 650 Millionen DM. Es sollte auch an dieser Stelle
gesagt sein, dass es sich nicht um ganz kleine Beträge
handelt.
Gleichzeitig bietet die Lösung mehr Transparenz. Der
Entwurf sieht neu vor, dass die betroffenen Präparate ins
Internet eingestellt und die Beschreibungen vierteljährlich aktualisiert werden.
Meine Damen und Herren, bei unserem Vorschlag
handelt es sich um eine klar befristete Lösung. Wir möchten keineswegs die lange Tradition erfolgreicher Selbstverwaltung gegen Bürokratie und Vorschriften eintauschen.
Wir meinen, dass die langfristige Sicherung einer qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung nur durch
Kooperation zu bewerkstelligen ist. Das Festbetrags-Anpassungsgesetz ist deshalb mit einem Verfallsdatum versehen, nämlich dem 31. Dezember 2003.
Wir brauchen eine ordnungspolitische Weiterentwicklung des Arzneimittelsektors, und zwar eine, die weit über
die gegenwärtige Praxis hinausweist. Dazu müssen sich
aber alle Akteure in einer vorurteilsfreien Diskussion zusammenfinden können. Dieser Gesetzentwurf schafft mit
der Übergangslösung einen Zeitpuffer, der diesen Dialog
ermöglicht, zu dem wir alle einladen. Zugleich begründet
er natürlich einen neuen Wettbewerb der Ideen. Die Ziellinie ist der 31. Dezember 2003, und die Siegertrophäe ist
eine umfassend abgewogene rechtssichere Lösung, die
auch die künftige Rechtsprechung zum gegenwärtigen
Festbetragssystem berücksichtigt.
({1})
Ein ganz entscheidender Schritt in diese Richtung ist
bereits getan. Mit der Eröffnung des „Runden Tisches zur
Zukunft des Gesundheitswesens“ hat die Bundesregierung ihren Willen zum Dialog dokumentiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem Hintergrund
der Verantwortung, die wir in der Gesundheitspolitik haben, können wir eine Kostenexplosion in der Arzneimittelversorgung nicht zulassen. Deswegen sehe ich zum
vorliegenden Entwurf des Festbetrags-Anpassungsgesetzes keine Alternative.
Vielen Dank.
({2})
Damit
schließen wir die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/6041 und 14/6054 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Ich sehe keine anderen Vorschläge. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c
sowie Zusatzpunkt 3 auf:
4 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Günter Nooke, Ulrich Adam, Klaus Brähmig, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Konzertierte Förderpolitiken für Ostdeutsch-
land
- Drucksachen 14/3546, 14/4125 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Friedrich Merz, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Deutschland 2015 - Aufbau Ost als Leitbild für
ein modernes Deutschland
- Drucksache 14/6038 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sonderausschuss Maßstäbe-/ Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht 2000 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit
- Drucksachen 14/4129, 14/4694 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Jürgen Türk, Dr. Karlheinz Guttmacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Offensive für Zukunftsinvestitionen in neuen
Bundesländern starten - Abwanderung stoppen - 10-Punkte-Programm für den Aufbau
Ost
- Drucksache 14/6066 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Zum Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der F.D.P. vor, über den wir anschließend abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Das Haus
ist damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst
für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Günter Nooke.
({3})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über den Aufbau Ost - wieder einmal, könnte man sagen. Aber es ist
notwendig! Nicht neue Konsensgespräche, runde Tische
außerhalb des Parlaments und schon gar nicht Kungelrunden mit SPD-Ministerpräsidenten werden diesem
Thema und dieser nationalen Herausforderung gerecht.
Das Bündnis für den Aufbau Ost muss der Deutsche Bundestag sein, und es wäre sicher gut gewesen, wenn nicht
nur meine Fraktion, die CDU/CSU, und die der F.D.P. hier
konkrete Anträge zum Aufbau Ost vorgelegt hätten.
({0})
Doch die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung sind tief zerstritten. Derzeit gibt es ein chaotisches
Durcheinander bei den SPD-Abgeordneten, bei den Grünen und auch bei den Mitgliedern der Bundesregierung.
Die Chefsache Aufbau Ost von Bundeskanzler Gerhard
Schröder beschränkt sich auf gestellte Bilder mit wiederentdeckten Cousinen in Thüringen.
({1})
Das gibt zwar für einen Tag Bilder in den Zeitungen,
hat aber doch den Beigeschmack, dass damit die Menschen in den neuen Bundesländern für dumm verkauft
werden. Bitte gehen Sie davon aus, Herr Bundeskanzler,
dass Agitation und Propaganda in den neuen Bundesländern eine längere Tradition haben als im Westen und deshalb weniger geachtet und weniger wirksam sind, als Sie
vielleicht meinen.
Wolfgang Thierse, immerhin der Bundestagspräsident,
hat sich in die Debatte mit dem falschen Bild vom Osten,
der auf der Kippe steht, eingemischt. Ich habe es begrüßt,
dass er damit ein wichtiges Thema wie den Aufbau Ost auf
die gesamtdeutsche Tagesordnung gesetzt hat. Er kam
nicht umhin, die von seiner eigenen Partei geführte Bundesregierung in massiver Weise zu kritisieren. Allerdings
gibt es seitdem nicht nur im Parlament und in der Regierung, sondern auch in der Öffentlichkeit einen Wirrwarr an
Fakten, Meinungen und unterschiedlichsten Interessen.
Die Chefvolkswirte der deutschen Banken erklären,
warum eine Sonderförderung für den Osten nicht notwendig ist. Ich behaupte, sie verfolgen damit vor allem
ein Interesse: keine weiteren Kredite für den Osten. Sie
haben Thierse kritisiert, dass das Bild vom „Osten auf der
Kippe“ nicht stimme. Aber vielleicht sind sie es sogar, die
nicht an den Osten glauben, auch wenn sie es nicht sagen.
({2})
Vielleicht haben gerade sie davor Angst, dass noch mehr
faule Kredite für den Osten ihnen die Bilanzen verderben.
Dem haben sich einige Sachverständige und Gutachter
angeschlossen, die zuvor noch den Nachholbedarf des
Ostens bei der Infrastruktur mit 300 Milliarden DM bezifferten und jetzt im Auftrag der Bundesregierung nur
noch die Hälfte davon ermitteln.
Daneben gibt es Demographen, die die Abwanderung
von jungen, kreativen und flexiblen Menschen aus den
neuen Bundesländern entweder für nicht problematisch
oder sogar für wünschenswert halten. Andere wiederum
meinen, diese Abwanderung sei die größte seit der Völkerwanderung nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die einen schädigen ihren Ruf, die anderen verfolgen eigene Interessen. Nur seriöse Politikberatung sehe ich weit und
breit kaum.
Wir befinden uns immer noch in einer Situation, in der
die einen dramatisieren und die anderen die Lage unverantwortlich schönreden. Der Zeitpunkt dieser Diskussion
ist natürlich nicht zufällig. Es geht bei den Verhandlungen
von Bund und Ländern im Zusammenhang mit dem
Länderfinanzausgleich und dem Solidarpakt II, der Anschlussfinanzierung nach 2004, um sehr viel Geld.
Auftragsgutachten hin oder her, natürlich braucht der
Osten noch besondere finanzielle Unterstützung und
natürlich brauchen die von besonders hoher Arbeitslosigkeit geprägten Regionen in den neuen Bundesländern erhebliche Mittel für regionale Entwicklungen und für Aufträge, damit kleine und mittelständische Betriebe vor Ort
stabilisiert werden können.
({3})
Natürlich brauchen wir auch mehr industrielle Kerne und
Ansiedlung von Großbetrieben, damit die Chance einer
selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung im Osten wenigstens bestehen bleibt.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle
reden viel zu viel über Geld und zu wenig über Ziele und
Prioritäten beim Geldausgeben. Wir haben deshalb in unserem Antrag „Deutschland 2015 - der Aufbau Ost als
Leitbild für ein modernes Deutschland“ die grundsätzliche Richtung der Entwicklung beschrieben. Wir haben
aus ostdeutscher Perspektive konkrete Vorschläge gemacht, wo Prioritäten gesetzt werden sollten, was notwendig ist und was zu tun wäre, und natürlich auch, welche finanzielle Unterstützung die neuen Bundesländer
noch brauchen, damit Chancengleichheit für die Entwicklung in den neuen Ländern besteht.
Als Erstes sage ich hier für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ganz klar: Die blühenden Landschaften im
Osten Deutschlands gibt es.
({4})
Es ist viel erreicht: zuerst von den Menschen in den neuen
Bundesländern, aber auch mit der Unterstützung vieler,
die aus dem Westen in den Osten kamen, und derjenigen,
die in den alten Bundesländern für den Osten gezahlt haben. Das Geld ist gut und sinnvoll angelegt.
Wir sollten weiterhin festhalten: Die friedliche Revolution vom Herbst 1989 und die Wiederherstellung der
staatlichen Einheit in Freiheit sind positive Bezugspunkte
für das nationale Selbstbewusstsein aller Deutschen.
Es gibt aber erhebliche Probleme beim Aufbau Ost.
Der Osten steht zwar nicht auf der Kippe, die neuen Länder befinden sich jedoch an einer Weggabelung. Wenn die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen so weitermachen wie bisher, wird es immer teurer und frustrierender. Heute fehlende Investitionstransfers führen morgen
zu doppelten Sozialtransfers.
({5})
Die Wachstumsrate lag im vergangenen Jahr in Ostdeutschland bei 1,3 Prozent und in Westdeutschland bei
3,4 Prozent. Die Aufholjagd des Ostens gegenüber dem
Westen hat sich in den letzten zwei Jahren ins Gegenteil
verkehrt; der negative Trend hat sich sogar verstärkt. Die
jetzige Bundesregierung hat dem bisher nichts entgegengesetzt. Sie hat auch kein Konzept erkennen lassen, wie
sie ihm begegnen will. Ich kann mich deshalb des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bundesregierung im
Osten eine Strategie der „passiven Sanierung“ verfolgt.
Derzeit wandern Arbeitskräfte, die im Westen gebraucht
werden, aus dem Osten ab. Zusätzlich kommen ab 2006
wegen des radikalen Geburtenrückgangs nach dem Zusammenbruch der DDR immer weniger Menschen auf
den ostdeutschen Arbeitsmarkt. Dieser Bundeskanzler,
der sich an der Zahl der Arbeitslosen messen lassen
wollte, bekämpft nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die
Arbeitslosenstatistik.
({6})
Unser Leitbild ist ein anderes: Wir halten am Ziel einer
selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung fest und sind
nicht, wie der Bundestagspräsident, der Meinung, dass
Ostdeutschland als Industrieregion keine Chancen hat;
schauen Sie einmal nach Dresden, Leipzig, Jena, Erfurt
und in den Ostteil sowie das Umland Berlins. Natürlich
haben die neuen Bundesländer als Industriestandort sowie
als Standort für moderne Dienstleistungen und für die Internet-Branche eine Zukunft.
Unser Leitbild für den Aufbau Ost ist von einem föderalen Grundansatz geprägt. Elf Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit sind Unterschiede zwischen Nord und Süd nicht nur in Westdeutschland,
sondern auch in Ostdeutschland sehr wohl erkennbar.
Gleichermaßen muss man aber feststellen, dass Unterschiede zwischen Ost und West bestehen. Diese sind von
einer anderen Qualität: 40 Jahre getrenntes Leben in
unterschiedlichen Gesellschaftssystemen hat die Menschen unterschiedlich geprägt und die Wirtschaft sowie
die Infrastruktur unterschiedlich zur Entfaltung kommen
lassen. Das kann in elf Jahren nicht aufgeholt werden.
Der Verweis auf 16 Bundesländer mit unterschiedlichen
Prägungen und Entwicklungen darf aber nicht dazu führen,
dass das Thema Aufbau Ost von der Tagesordnung genommen wird. Wir fragen in unserem Antrag, wo Deutschland
2015 stehen soll, und erkennen an, dass der Weg dorthin
zwischen den alten und den neuen Bundesländern unterschiedlich sein wird. Wir werden feststellen müssen, dass
auch der Weg für Mecklenburg-Vorpommern, für Berlin
und für Sachsen unterschiedlich sein wird. Wir wollen, dass
jedes Bundesland - auch die östlichen - dazu seinen Beitrag leistet, die gesellschaftlichen Grundtrends erkennt und
sie für die eigenen Entwicklungen nutzt. Es geht darum,
nicht über die eigenen Schwächen zu jammern, sondern die
eigenen Stärken zu nutzen.
({7})
Eine einseitige Orientierung auf die Angleichung der
Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse der östlichen an die
westlichen Bundesländer ist der falsche Maßstab. Es ist
frustrierend und führt zur Resignation, wenn der Osten
dem Westen auf ausgefahrenen Wegen hinterher hechelt.
Natürlich wollen auch wir mehr Wachstum in den neuen
Bundesländern. Das Ziel muss aber die Modernisierung
Deutschlands sein. Es kann nicht darum gehen, Strukturen, die in den alten Bundesländern auch 1990 schon als
modernisierungsbedürftig angesehen wurden, weiter auf
die neuen Bundesländer zu übertragen. Für den Osten
kann es nicht gut sein, ausgefahrene Gleise in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik einfach weiter zu befahren.
({8})
Herr Kollege Nooke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kaspereit?
Frau Kaspereit, Sie können gleich fragen. - Die neuen Bundesländer sollten sich
nach unserer Auffassung nicht in jedem Einzelbereich an
der alten Bundesrepublik orientieren und sie zum Leitbild
nehmen. Für uns ist der Aufbau Ost kein Nachbau West.
Deutschland 2015 ist für uns genau dann eine Vision,
wenn östliche und westliche Bundesländer ihren jeweils
eigenen Weg dorthin finden können.
({0})
Herr Kollege Nooke, ich
habe Sie gerne ausreden lassen. - Ich habe in Ihrem Antrag eine - und zwar nur eine - konkrete Aussage gefunden. Es besteht darin aber ein erheblicher Widerspruch:
Auf der einen Seite fordern Sie die Öffnung von Tarifverträgen in der Wirtschaft und stellen damit auch die Tarifverträge in den alten Bundesländern in Frage, indem Sie
von einem Vorbild für den Westen sprechen. Auf der anderen Seite wollen Sie den Bundesbediensteten die Angleichung auf 100 Prozent des Westgehalts ermöglichen,
und zwar relativ schnell.
In diesem Zusammenhang habe ich folgende Fragen:
Wie hoch veranschlagen Sie die Kosten? Wie soll das
Geld dafür aufgebracht werden? Meines Erachtens gibt es
vier Möglichkeiten: Anhebung der Staatsverschuldung,
höhere Transfers aus dem Westen in den Osten für konsumptive Zwecke, Verzicht auf Wirtschaftsförderung
oder auf andere freiwillige Leistungen oder Personalabbau. Wie stellen Sie sich also konkret diese Finanzierung
vor und wie wollen Sie sie politisch vertreten?
({0})
Frau Kollegin Kaspereit,
wir haben vorgeschlagen, ab dem Jahr 2003 die Angleichung der Löhne und Gehälter in Zwei-Prozent-Schritten
auf 100 Prozent bis zum Jahr 2007 auf Bundesebene
herbeizuführen. Das kostet nach Schätzungen des Bundesinnenministers am Ende ungefähr 780 Millionen DM.
Es ist richtig, dass wir vorgeschlagen haben, dass es für
Berufseinsteiger in den Bundesbehörden heute schon den
gleichen Lohn geben sollte. Es kann doch nicht richtig
sein, dass mitten in Berlin elf Jahre nach Wiederherstellung der deutschen Einheit beim Innenminister in Moabit
Westlöhne und beim Bauminister in der Invalidenstraße
nur Ostlöhne gezahlt werden.
({0})
Weil wir wissen, dass dies in den neuen Bundesländern
nicht ohne weiteres bezahlbar ist, haben wir in dem Antrag konsistenterweise geschrieben - ich muss sagen, dass
Sie ihn doch nicht ganz richtig gelesen haben -: Öffnungsklauseln sollten ein Abweichen von der Stufenregelung auf Bundesebene erlauben. - Dass aber für Bundesbedienstete ungleiche Verhältnisse bestehen, ist nicht
richtig. Wir wollen dem Innenminister die Hintertür verschließen, sein Nichthandeln damit zu begründen, dass
die Länder nicht mehr Gehalt zahlen können. Diese Auffassung kann nicht richtig sein.
({1})
- Was das kostet, haben Ihre Kollegen in den Ländern
doch gesagt! Herr Timm aus Mecklenburg-Vorpommern
hat sich unserer Auffassung angeschlossen und fordert das
Gleiche wie wir. Sie müssen diese Unstimmigkeit innerhalb der SPD selbst regeln. Ich habe ebenfalls gesagt, dass
ich damit einverstanden bin, wenn Sachsen eigene Wege
geht.
Wir haben in unserem Antrag konkrete Punkte und
grundsätzliche Aussagen zu verschiedenen Politikbereichen gemacht. Einen Punkt habe ich gerade genannt. Es
geht bei der Wirtschaftspolitik natürlich um Ansiedlung in
den neuen Bundesländern. Nur mit innovativen Produkten kann Ostdeutschland neue Absatzmärkte erobern. Das
heißt auch, Kooperationsstrukturen zwischen Wirtschaft,
Forschungseinrichtungen und Universitäten sind herzustellen. Überregulierungen sind abzubauen.
({2})
Überflüssige Verwaltungsvorschriften, die irgendwann in
der alten Bundesrepublik in den 60er- und 70er-Jahren
Sinn machten, können heute und morgen im Osten kontraproduktiv sein. Das gilt auch, wenn die Bundesregierung jetzt das Betriebsverfassungsgesetz mittelstandsfeindlich verschärft.
({3})
Bei unsinnigen Baustandards brauchen wir Öffnungsklauseln. In ostdeutschen Kindergärten kann zum Beispiel der Abstand der Kleiderhaken selbst bestimmt werden.
Zuerst geht es um eine bessere Verkehrsinfrastruktur
und um den Straßenbau in Ostdeutschland. Es geht auch
um die Verbesserung der wirtschaftsnahen Infrastruktur.
Im Sinne der Vorschläge des Sprechers der ostdeutschen
Ministerpräsidentenkonferenz, Bernhard Vogel, fordern
wir eine Infrastrukturpauschale, die für den Bau kommunaler Verkehrsanlagen, für Schulen, Bildungseinrichtungen und Umweltschutzprojekte wie Abwasserkanäle und
Kläranlagen bereitgestellt wird. Es ist besser, jetzt einen
Teil davon in Angriff zu nehmen, als wenn es erst in fünf
oder zehn Jahren geschieht. Insofern ist die Forderung
von Ministerpräsident Vogel nach einem Sonderprogramm Ost voll gerechtfertigt.
({4})
- Ich habe keine 40 Milliarden gefordert. Aber da Sie dazwischenrufen, muss ich Ihnen sagen: Sie sind doch nur
neidisch, dass Herr Vogel das vorgeschlagen hat.
({5})
Der Bundeskanzler kann jetzt im Wahljahr nicht mehr
durch die Lande ziehen und sagen, das sei seine Idee gewesen. Wir haben Ihnen die Tür verschlossen, mit billigen
Wahlgeschenken in Höhe von 1 oder 2 Milliarden DM
den Osten wieder vorzuführen.
({6})
Wir haben den Finger in die Wunde gelegt. Sie haben bislang nichts getan. Das Verabreichen von Placebos im
Wahljahr lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({7})
Wir haben mit unserem Antrag - das will ich noch einmal betonen - nicht nur Forderungen aufgeschrieben,
schon gar nicht nur solche, die Geld kosten. Wir haben
auch an das Selbstbewusstsein der Menschen in den
neuen Bundesländern appelliert, die zum Beispiel in
Sachsen und Thüringen im Bildungsbereich eigene Wege
gegangen sind, die auf dieses moderne Deutschland im
Jahre 2015 hindeuten. Ich nenne zum Beispiel das Abitur
nach zwölf Jahren oder die verstärkte Ausbildung im
Technik- und Naturwissenschaftsbereich.
Wir wollen mit diesem Antrag auch Schritte zur Reform des Föderalismus einleiten. Die Leitideen für die
Gestaltung föderaler Beziehungen in Deutschland sollten
Eigenständigkeit, klare Verantwortlichkeit und Transparenz sein. Ziel muss es sein, die Handlungsfähigkeit aller
politischen Ebenen zu stärken. Wir brauchen in Bund und
Ländern effizientere Entscheidungsstrukturen. Der Bund
könnte Flexibilisierungsgesetze erlassen, die es den alten
wie den neuen Bundesländern erlauben, bei der Erfüllung
von Aufgaben im eigenen Wirkungskreis von bundesstaatlichen Standards abzuweichen, wenn die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung gewährleistet ist.
({8})
Wir wollen, dass Anreize geschaffen werden, damit
Fähigkeiten und eigene Potenziale ausgeschöpft werden.
Sowohl das Handeln als auch das Nichthandeln müssen
Folgen haben. Die Verantwortung für Erfolg und Misserfolg soll durchaus auch im Hinblick auf die Bundesländer den politisch Verantwortlichen zugerechnet werden.
Was die Bundesebene angeht, haben wir zum Beispiel
vorgeschlagen, sich beim Wohnungsbau zurückzunehmen, den Ländern Geld zur Verfügung zu stellen, damit
sie eigene Konzepte umsetzen können.
({9})
- Wollen wir noch extra über den Wohnungsbau reden?
Derzeit stellen Sie für den Osten kein Geld zur Verfügung.
Herr Eichel sitzt auf dem Geld und Herr Schwanitz hält
ihm den Rücken frei.
({10})
Der Aufbau Ost - das will ich abschließend sagen kann nach unserer Meinung nicht allein dadurch vorankommen, dass sich die ostdeutschen Ministerpräsidenten
im Kanzleramt treffen. Wenn diese Kungelrunde auch
noch Beschlüsse über die Höhe des Solidarpaktes II fasst,
Herr Bundeskanzler - und zwar in einer Art und Weise,
die weit hinter dem zurückbleibt, was CDU- und SPDMinisterpräsidenten gemeinsam gefordert haben -,
({11})
dann ist das dreist und dumm zugleich. Dafür spricht auch
die Ignoranz gegenüber den demokratischen Institutionen
in unserem Land.
({12})
Ich fordere die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen auf, sich unserem Antrag anzuschließen und
heute im Deutschen Bundestag gemeinsam mit uns für
den Aufbau Ost zu streiten. Wir brauchen für den Aufbau
Ost keinen runden Tisch, schon gar nicht mit halber Besetzung im Kanzleramt; wir brauchen nur die Zusammenarbeit der Vernünftigen in diesem Hause.
Danke schön.
({13})
Ich erteile
das Wort dem Staatsminister im Kanzleramt, dem Kollegen Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
In der vergangenen Woche, fast zur gleichen Uhrzeit wie
heute, hat hier eine Debatte über das Maßstäbegesetz
stattgefunden. In dieser Debatte gab es eine Situation - die
Redner haben das nicht wahrgenommen, zumindest haben sie in ihren Reden darauf keinen Bezug genommen -,
die mich persönlich sehr nachdenklich gemacht hat. Für
die Zuschauer an den Bildschirmen muss man Folgendes
sagen: Im Maßstäbegesetz sollen die Rahmenbedingungen für den neuen Länderfinanzausgleich - es geht um die
Regelung der Hilfen für die neuen Bundesländer für die
Zeit nach 2004 - festgelegt werden.
Der amtierende Präsident hat kurz die Debatte unterbrochen, um eine Parlamentsdelegation aus Litauen zu begrüßen. Die Situation war ganz eigentümlich: Wir, die anwesenden Parlamentarier, befanden uns in einer
emotionalen Debatte, in der wir darum rangen, wie es nach
2004 weitergeht. Eine wichtige Forderung war, dass die
Hilfen für die neuen Bundesländer zehn Jahre nach 2004
fortgeführt werden. Der Ministerpräsident von Thüringen
wies darauf hin - was ich gar nicht kritisieren will -, dass
die ostdeutschen Länder im Jahre 2005 16 Jahre lang dasjenige Gebiet in Europa gewesen sein würden, das am meisten gefördert worden sei, woran sich nichts ändern dürfe.
Und auf der Besuchertribüne schauten uns sehr interessierte, nachdenkliche und aufmerksame Gesichter zu.
Mein Fazit dieser Situation sah so aus: Trotz aller Kontroversen in unseren Debatten und trotz all unseres
Schlagabtauschs - manchmal in einer Grobschlächtigkeit,
die ich nicht kommentieren will - müssen wir immer wieder überprüfen, ob die Maßstäbe, die wir persönlich in der
politischen Auseinandersetzung anlegen, auch von anderen an solche Debatten angelegt werden.
({0})
Die Ministerpräsidenten der neuen Länder haben vor
kurzem auf einer Ministerpräsidentenkonferenz erklärt:
Es ist in den letzten zehn, elf Jahren sehr viel passiert in
den neuen Bundesländern, der Aufbau Ost gelingt. Ich
sage ausdrücklich: Die Bundesregierung teilt diese Einschätzung. Ich füge hinzu: Das, was wir in den letzten
zweieinhalb Jahren geschaffen haben, kann sich sehen
lassen. „Wir“ setze ich nicht nur synonym mit dem, was
die Bundesregierung getan hat, sondern das ist natürlich
eine Gemeinschaftsleistung: der Verwaltungen, der Regierungen der neuen Länder, auch der kommunalpolitischen Ebenen und vor allen Dingen derer, die die Arbeit
in den Unternehmungen, in den Betrieben vor Ort zu leisten haben.
Das ist eine stolze Entwicklung, die man übrigens auch
quantifizieren kann. Die für mich persönlich - jeder mag
da andere Kennzahlen haben - ganz wichtigen drei Parameter sind das Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt, die
Arbeitslosenzahlen - vor allen Dingen übrigens die der
Unterbeschäftigung; denn bei denen, die am ersten Arbeitsmarkt nicht unterkommen, liegt ja das eigentliche
Problem - und die Größe der Ausbildungsplatzlücke, also
die Anzahl jener Jugendlichen, die am 30. September eines jeden Jahres noch nicht in feste Ausbildungsverhältnisse gekommen sind. Bei allen drei Parametern lagen wir
in den Jahren 1999 und 2000 besser als im Jahr 1998, dem
letzten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung, und wir werden auch in diesem Jahr besser liegen.
Ich will ausdrücklich sagen: Es ist richtig, wir haben in
der Tat noch keine Situation wie in den alten Bundesländern. Wir haben beim Bruttoinlandsprodukt nicht die
Wachstumsraten, wir haben gesamtwirtschaftlich gesehen
andere Wachstumsgeschwindigkeiten,
({1})
wir haben noch nicht westdeutsche Verhältnisse. Wir haben besondere strukturelle Probleme in den neuen Bundesländern, die natürlich durchschlagen und die sich auch
in den Bilanzen, insbesondere wenn man die Summen anschaut, niederschlagen. Aber ob Politik sich hinstellen und
so tun darf - Herr Nooke, Sie haben das gerade noch einmal getan -, als könne man ein wie auch immer geartetes
staatliches Sonderprogramm generieren, durch das dieser
Unterschied zwischen Ost und West innerhalb von zwei
Jahren ausgeglichen werden könne, das darf auf seine Redlichkeit hin sehr wohl kritisch hinterfragt werden.
({2})
Herr Kollege Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Türk?
Nein, ich möchte gern im Zusammenhang vortragen.
Meine Damen und Herren, man muss das Bild differenziert analysieren. Das, was grobschlächtig immer mit
dem schönen Bild der „Schere zwischen Ost und West“
beschrieben wird, wird der differenzierten Entwicklung
in den neuen Bundesländern nicht gerecht. Auf der einen
Seite hat das Wachstum im verarbeitenden Gewerbe eine
ganz erfreuliche Entwicklung genommen. Im letzten Jahr
hatten wir bei der Produktion einen Zuwachs von 13 Prozent, völlig anders übrigens als Anfang und Mitte der
90er-Jahre, als Sie herumgelaufen sind und gesagt haben,
wir seien im Osten die Wachstumsregion Nummer eins.
Damals kam das Wachstum ausschließlich aus der Baubranche. Jetzt ist die Industrie der Wachstumsmotor der
neuen Bundesländer geworden mit 13 Prozent Steigerung
des Produktionswachstums.
({0})
Beim überregionalen Absatz, beim Export, haben wir
einen Zuwachs von sage und schreibe 28 Prozent.
({1})
Ich erinnere mich noch an das letzte Frühjahr, als Sie von
der Opposition hier eine Debatte losgetreten haben: Der
Osten würde vom Exportboom abgekoppelt. 28 Prozent
Zuwachs innerhalb eines Jahres sind eine stolze Leistung.
({2})
Wenn das Ifo-Institut gestern beispielsweise feststellte,
„die Auslastung der westdeutschen Industrie ist rückläufig“, freut mich das nicht. Man sollte sich nicht freuen,
wenn im Westen ein Rückgang zu verzeichnen ist. Doch
gleichzeitig steht da, der ostdeutschen Industrie gehe es
besser. Ich zitiere:
Die ostdeutsche Industrie dürfte auch in diesem Jahr
die Rolle des Konjunkturmotors übernehmen. Einer
Studie zufolge ist die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auch in den internationalen
Märkten wirksam geworden.
Darüber können wir uns alle freuen, meine Damen und
Herren.
({3})
Ursache für die unterschiedlichen Wachstumsgeschwindigkeiten ist vor allen Dingen die Situation der ostdeutschen Bauwirtschaft. Da gibt es nichts darum herum
zu reden.
({4})
Das hat übrigens auch eine förderpolitische Geschichte.
Es sind entsprechende Kulissen aufgebaut worden und es
gibt schmerzliche Überkapazitäten.
({5})
Deswegen finde ich es intellektuell unredlich, so zu tun,
als gäbe es diesen strukturellen Anpassungsprozess nicht.
Ohne die ostdeutsche Bauwirtschaft haben wir bei den
Leistungsparametern der ostdeutschen Branchen ein
Wachstum von 3,1 Prozent.
({6})
Das ist in etwa vergleichbar mit der westdeutschen Situation. Damit wird klar, welche Wirkung die schwierige Anpassungssituation in der ostdeutschen Baubranche gesamtwirtschaftlich, auch am Arbeitsmarkt, in den neuen
Bundesländern hat.
Der Strukturwandel ist in vollem Gange. Staatlichkeit
kann diesen Anpassungsprozess nicht mit einem besonderen programmatischen Zauberstab auf wenige Jahre
verkürzen. Er sollte auch nicht in die Zukunft verschoben
werden; denn das wäre ein Beladen der Zukunft der neuen
Bundesländer mit nicht ausgestandenen Problemen der
Gegenwart. Auch dazu kann ich nicht raten.
Deswegen von meiner Seite noch einmal ein ganz klares
Signal: Die Debatte über diesen besonderen Impuls, von
dem Sie sich versprechen, damit innerhalb von zwei Jahren
westdeutsche Verhältnisse zu erlangen, vernebelt die eigene strukturelle Situation in den neuen Bundesländern
({7})
- Sie können ja nachher dazu noch etwas sagen -, knüpft
an vormundschaftliche Vorstellungen von Politik und
Staatlichkeit an, als könne der Staat über solche ökonomischen Entwicklungsprozesse hinwegzaubern, und - ich
finde, auch das sollte man einmal aussprechen - gefährdet den Wunsch nach und die Dauerhaftigkeit von Solidarität.
({8})
Denn es kann nicht nur nach den ostdeutschen Wünschen
gehen; es muss auch nach der Akzeptanz solcher Programme in den alten Bundesländern gehen. Solidarität ist
ein Konto, das man nicht nur einseitig überziehen darf,
sondern das auch gepflegt werden muss und bei dem man
um Akzeptanz, Unterstützung und Hilfe nachsuchen
muss. Das ist ein wichtiger Punkt. Deswegen ist dieser
Wettlauf um das schwerste Milliardenprogramm für eine
solidarische Unterstützung der neuen Bundesländer in
den nächsten Jahren schädlich.
({9})
Es gibt allen Grund, stolz auf das zu sein, was die Menschen in den letzten Jahren geschaffen haben. Es war richtig, dass wir die bundespolitischen Instrumente der Förderpolitik nach dem Regierungswechsel neu ausgerichtet
haben - der Etat des Bundeswirtschaftsministers und der
Forschungsetat von Frau Bulmahn haben eindeutig eine
klare Technologieorientierung erfahren -, dass wir auch
regionalpolitisch Maßnahmen ergriffen haben, indem wir
dort die Förderkonzepte ausgebaut haben und mit InnoRegio in 25 Modellregionen einen Schritt tun, der in den
acht Jahren Ihrer Regierungstätigkeit nicht getan worden
ist, und dass wir dies mit den zusätzlichen Hilfen aus den
UMTS-Lizenzeinnahmen noch verstärken und dadurch in
den nächsten Jahren Wachstumskerne entwickeln werden.
Auch das ist ein richtiger Schritt innerhalb der neuen
Konzeption der Bundesregierung. Andere werden sicherlich noch einiges dazu sagen.
({10})
Innerhalb des Infrastrukturausbaus dürften die Prioritäten eigentlich nicht streitig sein - jedenfalls nicht jenseits Ihrer Vorstellung, in den Kassen noch Gelder zu finden, um milliardenschwere Programme zu finanzieren.
Wir haben eine Schwerpunktsetzung beim Straßenausbau. 60 Prozent aller Straßeninvestitionen in der Zuständigkeit des Bundes erfolgen in den neuen Bundesländern.
Das gilt auch für die Schiene, bei der die Investitionen
knapp darunter liegen; und bei den Wasserstraßen sieht es
nicht anders aus. Damit werden die Prioritäten sehr deutlich zugunsten der neuen Länder gesetzt. Dafür müssen
wir uns nicht verstecken. Aber dafür zu werben, dass dies
auch gesamtgesellschaftlich akzeptiert wird, ist eine
schwere Aufgabe, die gewürdigt werden sollte.
({11})
Wir wollen bei dem Thema Stadtumbau nicht die Strategie verfolgen, die ich acht Jahre lang erlebt habe, als ich
noch in der Opposition gesessen habe, nämlich so zu tun,
als sei das eine Angelegenheit ausschließlich der Länder
und der Kommunen.
({12})
Wir gehen das Thema Stadterneuerung grundsätzlich an.
Wir haben im letzten Herbst eine Altschuldenhilfegesetzgebung gemacht, die dem Bund in den nächsten zehn Jahren 700 Millionen DM zur Altschuldenhilfe für vom Leerstand bedrohte Unternehmungen abverlangen wird. Es ist
wichtig und richtig, dass wir dies tun.
({13})
Wir sind dabei, das Wohnungsbauförderrecht, den sozialen Wohnungsbau zu ändern. Wir müssen auch - das
will ich klar sagen - im Bereich der Hilfe für die Stadterneuerung zusätzliche Impulse geben,
({14})
wenn wir diesen Weg gehen wollen. Wir sind fest dazu
entschlossen.
Herr Nooke, Sie haben in Ihrem Antrag - vorhin in der
Debatte tauchte das noch einmal auf - von einem neuen
Leitbild und von einer Weggabelung gesprochen, an der
man stehe. Wenn irgendjemand ein neues Leitbild oder
eine Weggabelung braucht, dann sind Sie es mit Ihrer Oppositionspolitik, meine Damen und Herren.
({15})
Ich meine das übrigens sehr ernst. Sie stehen vor der
Wahl, ob man in den nächsten Jahren aus einem puren ostdeutschen Populismus - beim Lohn haben wir das vorhin
gesagt - beim öffentlichen Dienst einen ungedeckten
Scheck, den andere in der Kommune zu bezahlen haben,
rüberreicht und bei den Arbeitnehmern in den Betrieben
sagt, da mögen sich die Westdeutschen, bitte schön, an
den Zustand der ostdeutschen Tariflosigkeit gewöhnen.
({16})
Das ist purer Ostpopulismus, der hier zum Ausdruck
kommt.
({17})
Ihr Antrag ist ja noch einmal verändert worden, Herr
Nooke. Das Thema Freizügigkeitsregelung quasi zwangsweise durch die Fraktion verändert zu bekommen ist sehr
interessant. Ich habe schon gelesen, dass Sie Übergangsregelungen mit begrenzter Freizügigkeit für die EUOsterweiterung ursprünglich nur in den Grenzregionen
des Ostens wollten und dann in der Fraktion entschieden
worden ist: Nein, wir brauchen sie für Ostdeutschland
insgesamt.
({18})
Dass Sie das als ostdeutscher Abgeordneter nicht erkannt
haben, zeigt, wie wenig Problembewusstsein Sie in der
Wahrnehmung der Situation in den neuen Bundesländern
haben.
({19})
Wir stehen in der Tat vor schweren, aber, wie ich finde,
auch vor lohnenswerten Debatten über die Situation und
den weiteren Weg. In einem Punkt - die Debatte ist nicht
beendet - sollten wir sie gemeinsam führen - dazu lade
ich Sie herzlich ein -: in dem Punkt, dass das eine Generationenaufgabe ist, dass wir dazu die Kraft und die Ausdauer sowie die Hilfe dafür - da bin ich nicht anderer Meinung als Sie -, auch im Interesse der alten Bundesländer,
aufgrund deren Interessenlage aufbringen müssen.
Dazu gehören aber auch andere Themen. Ich reiße zum
Schluss noch einmal eines an. Wir haben auch große regionale Unterschiede in den alten Bundesländern, die
bisher in unserer Wahrnehmung keine Rolle gespielt haben. Dass beispielsweise der Einwohner in RheinlandPfalz im Verhältnis zu dem Einwohner in Hessen im
Durchschnitt ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von
70 bis 73 Prozent erwirtschaftet, ohne dass sich der
Rheinland-Pfälzer als Bürger zweiter Klasse fühlt, ist etwas, worüber wir reden müssen. Das hat bisher in der Debatte keine Rolle gespielt. Es gibt also konfliktbeladene
Themen, über die öffentlich zu sprechen sich lohnt.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich bei dieser
Weggabelung als Fraktion und ostdeutsche CDU-Abgeordnete vor einer Entscheidungssituation sehen, dann
freut mich das. Wenn Sie den Weg für die richtige
Entscheidung finden, dann fände ich das ganz toll. So
verstehe ich Ihren Antrag und so sollten Sie sich auch bewegen.
Schönen Dank.
({20})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Angela
Merkel.
Herr Staatsminister,
wenn Sie in Ihrer Rede sagen, Sie sind fest dazu entschlossen, dann muss ich Sie fragen: Was haben Sie eigentlich die ersten zweieinhalb Jahre Ihrer Regierungszeit
gemacht? Das ist die Frage, an der wir Sie messen.
({0})
Ich muss Ihnen ganz einfach sagen: Die Menschen in
den neuen Bundesländern schauen, ob da, wo der Staat etwas tun kann, ganz bewusst für sie Entscheidungen in
eine richtige Richtung getroffen werden.
({1})
Da kann ich nur sagen: Der A3XX wird in Hamburg gebaut. Und das letzte Wort des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder war, das sei auch besser so, denn
da könnten die Pendler aus Niedersachsen besser hinkommen als nach Mecklenburg-Vorpommern. Das merken sich die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern.
Der Transrapid wird wahrscheinlich gar nicht gebaut.
Und wenn er in Deutschland gebaut wird, dann entweder
in Bayern oder im Ruhrgebiet. Das merken sich die Menschen in den neuen Bundesländern.
Wenn Herr Scharping in seinem Ressort kürzt, dann
muss ich Ihnen ehrlich sagen: Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass der Ort, an dem das Zusammenwachsen der Bundeswehr geradezu symbolisch stattgefunden
hat - in Eggesin -, von den Kürzungen am stärksten betroffen ist.
({2})
Es fehlen Symbole. An solchen Symbolen könnte man
erkennen, dass für die Bundesregierung der Aufbau Ost
Priorität hat.
({3})
Sie sagen, dass die Situation der Bauindustrie sehr
schlecht ist. Natürlich ist das so. Aber warum hat der Bundeskanzler Holzmann zu retten versucht und sich überhaupt nicht um den ostdeutschen Mittelstand gekümmert?
Das ist die Frage, die wir stellen.
({4})
Herr Schwanitz, Sie versuchen hier, den Eindruck von
Sachinteresse zu erwecken. Sie sollten einmal unseren
Antrag lesen. Wir haben von einem Leitbild 2015 gesprochen. Wir haben nicht gesagt: „Der Osten steht auf der
Kippe“, sondern wir haben gesagt: Wir sind an einer Weggabelung und brauchen eine neue Anstrengung und Öffnungsklauseln für die einzelnen Bundesländer, damit die
dort bestehende Unterschiedlichkeit gelebt werden kann.
Ein solches Vorgehen entsprach noch nie sozialdemokratischem Denken - außer in Ansätzen; aber da werden Sie
sich nicht durchsetzen.
Lieber Herr Schwanitz, sprechen Sie doch einmal darüber, dass das Abitur in Thüringen und Sachsen innerhalb
von zwölf Jahren gemacht werden kann. Auch Ihr Wirtschaftsminister sagt, dass er dies prima findet. Es gibt aber
kein einziges SPD-regiertes Land, das eine ernsthafte Anstrengung, das Abitur nach zwölf Jahren zu ermöglichen,
unternimmt.
({5})
Die Menschen in Sachsen und Thüringen würden stolz
sein und ganz Deutschland würde etwas davon haben,
wenn Sie darauf hinweisen würden. Das hätte ich heute
von Ihnen erwartet.
({6})
Zur Erwiderung, Herr Staatsminister Schwanitz. - Danach gebe ich
der Kollegin Christa Luft zu einer weiteren Kurzintervention das Wort.
Frau Kollegin Merkel, Sie haben noch einmal Ihren Antrag ins Gespräch gebracht. Ich will ausdrücklich feststellen: Eine Diskussion über ein Leitbild ist in Ordnung.
Aber dann sollten Sie auch eines vorlegen.
({0})
Das, was Sie in Ihren Antrag hineingepackt haben, sind
Allgemeinplätze gröbster Art. Große Teile, die Sie in diesem Antrag ansprechen, betreffen allein die föderale Zuständigkeit; mit dem Abitur haben Sie gerade ein solches
Thema angesprochen. Er ist also nahezu substanzlos, was
bundespolitische Zuständigkeiten betrifft.
({1})
Wenn Sie den Mut haben, in der Überschrift dieses Antrages von einem Leitbild 2015 zu sprechen, dann sollten
Sie das in Ihren eigenen Reihen klären. Ich finde das sehr
gewagt, um es einmal vorsichtig auszudrücken.
({2})
Ich habe folgende herzliche Bitte: Wenn wir es ernst
damit meinen, dass in Ostdeutschland eine Generationenaufgabe vor uns liegt, zu deren Lösung in beiden Teilen
des Landes noch schwere Lasten geschultert werden müssen, dann sollten wir mit solchen Diffamierungsstrategien
und damit aufhören, dieses Thema auf Stammtischniveau
zu behandeln. Das haben Sie hier aber leider getan.
({3})
Frau Kollegin Luft, bitte schön.
Herr Staatsminister, ich
stimme Ihnen völlig zu, wenn Sie sagen, innerhalb von
zweieinhalb bzw. drei Jahren könne eine neue Regierung
nicht all das verändern, was sie vorgefunden hat. Das ist
völlig klar. Aber was mich wundert, ist, dass man innerhalb von zweieinhalb bzw. drei Jahren seine Position zu
den bestehenden Sachverhalten so ändert, wie Sie das getan haben. Ich sehe und höre Sie immer noch, wie Sie damals von der Oppositionsbank aus die Situation in den
neuen Bundesländern beurteilt haben. Heute schätzen Sie
sie ganz anders ein. Das wundert einen natürlich schon.
({0})
Ich möchte Folgendes feststellen: Wir haben in Ostdeutschland einen Anteil an der gesamtdeutschen Wohnbevölkerung von etwa 18 Prozent, aber einen Anteil an den
gesamtdeutschen Arbeitslosen von mehr als 33 Prozent.
Dies ist ein erstes großes Problem. Dazu haben Sie nicht
ein Wort gesagt. Sie haben kein Wort dazu gesagt, was Sie
den arbeitslosen Menschen in den neuen Bundesländern
- die nicht alle „Faulenzer“ sind, wenn ich das richtig
sehe -, ausgehend von dieser Debatte, anzubieten haben.
Bei einem 18-prozentigen Anteil an der gesamtdeutschen Wohnbevölkerung haben wir trotz der Wachstumsraten, die Sie hier lobend erwähnt haben, einen 11-prozentigen Anteil an der Erzeugung des Bruttoinlandsprodukts,
einen 7-prozentigen Anteil an der Industrieproduktion des
ganzen Landes, einen 3,6-prozentigen Anteil am Export
und einen etwa 5 Prozent hohen Anteil am Forschungspotenzial.
Wenn man diese Zahlen analysiert, sieht man, wo die
eindeutigen Schwerpunkte und wo die Schwachstellen
liegen, nämlich nach wie vor im verarbeitenden Gewerbe,
im Export und beim Forschungs- und Entwicklungspotenzial. Dort ist anzusetzen, wenn es in den neuen Bundesländern zu einem sich selbst tragenden Aufschwung,
wie Sie das nennen, kommen soll, damit die Menschen,
die dort leben und arbeiten, ihr Geld mit ihren eigenen
Händen verdienen können und nicht auf Alimente angewiesen sind.
({1})
Seit 1998 hat sich - leider, so muss ich sagen; dabei
darf man nicht übersehen, dass sich bestimmte Dinge zum
Positiven verändert haben - an der Produktionslücke
nichts verändert. Nach wie vor werden im Osten Güter
und Leistungen im Wert von 200 Milliarden DM mehr
verbraucht, als dort produziert werden - aber nicht deshalb, weil die Leute dort nicht bereit wären, die Ärmel
aufzukrempeln. Von dem 1,8-Fachen des westdeutschen
Durchschnitts bei der Arbeitslosenrate 1998 sind wir inzwischen bei dem 2,5-Fachen angelangt. Zudem hält die
Abwanderungswelle an. Sie sagen zwar, Sie hielten nichts
von martialischen Überschriften wie etwa der, dass der
Osten ausblute. Aber dazu kann ich nur sagen: Der Osten
wird ausbluten, wenn es so weitergeht.
Natürlich muss man die jungen Leute darin bestärken,
zu wandern. Das ist keine Frage. Aber warum wandern die
eigentlich nur zwischen Ost und West
({2})
und nicht auch zum Beispiel von Greifswald nach Dresden oder von Cottbus nach Schwerin? Dies wäre doch
auch eine Wanderungsbewegung.
({3})
Das war
eine klare Frage, aber Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Danke schön.
({0})
Nun hat der
Kollege Schwanitz die Möglichkeit, darauf zu antworten.
Frau Kollegin Luft, zum Thema Abwanderung empfehle
ich, von der schmerzlichen Dimension, die die Debatte
durch solche Worte wie „Ausbluten“ - in der Debatte werden ja noch viel schwerere Geschütze aufgefahren ({0})
bekommt, wegzukommen und sich die Fakten anzuschauen.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass es in den neuen
Bundesländern enorme Umbrüche gibt. Das Abwandern,
das Gehen von West nach Ost, ist nur eine Dimension. Es
gibt die Stadt-Land-Dimension, die sich übrigens in den
alten Bundesländern seit den 70er-Jahren als Suburbanisierung vollzogen hat und dort seit Anfang der 90er-Jahre
mit Brachialgewalt hineinbricht. Die ostdeutschen Länder
liegen auch bei der Intensität des grenzüberschreitenden
Wanderns nicht an der Spitze, sondern die höchsten Werte
entfallen auf alte Bundesländer. Sachsen liegt dabei sogar
unterhalb des deutschen Durchschnitts.
Ich will Ihnen einmal vorlesen, was die sächsische Industrie dazu gerade erklärt hat:
Festzuhalten bleibt: Es gibt parallel zur natürlichen
Bevölkerungsbewegung eine rege Wanderung aus
Sachsen, nach Sachsen und in Sachsen. Die Wanderungen sind nicht auf eine bestimmte Richtung beschränkt, sondern verlaufen vielgestaltig und unterliegen verschiedenen Einflüssen. Vom Ausbluten der
Region kann daher nicht gesprochen werden. Zwar
wandern eher junge Personen, doch dies gilt für die
Fort- genauso wie für die Zuzüge und ist Ausdruck
gewachsener Normalität.
Ich empfehle, den Blick zu öffnen, auch mit anderen zu
reden und sich nicht nur selektiv die Daten herauszusuchen, die in die eigene Argumentation passen.
({1})
Für die
F.D.P.-Fraktion erteile ich nunmehr der Kollegin Cornelia
Pieper das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Angesichts des „Jahresberichts 2000 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“, den wir heute zur Kenntnis nehmen, muss
sich die Bundesregierung ein Hinterfragen der Bilanz der
Chefsache Aufbau Ost gefallen lassen.
({0})
Lassen wir dazu doch bitte einmal die Bevölkerung in
den neuen Bundesländern zu Wort kommen. Nach der
jüngsten Umfrage des Emnid-Instituts sind 75 Prozent der
Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern von der
rot-grünen Bundesregierung enttäuscht, was ihr Engagement in den neuen Bundesländern angeht.
({1})
Das wundert auch nicht. Denn wenn man sich die letzten
Wochen, Monate und Jahre ansieht, wenn man sich insbesondere die Äußerungen des Bundeskanzlers, der den
Aufbau Ost zur Chefsache gemacht hat, vor Augen hält,
hat man den Eindruck, dass die linke Hand nicht weiß,
was die rechte tut.
Im April noch rügt der Bundeskanzler den Bundestagspräsidenten Thierse für seine Äußerung, der Osten
stehe auf der Kippe, und lehnt schlichte Aktionsprogramme für Ostdeutschland ab. Kurz darauf verkündet
der Kanzler ein Sonderprogramm: Bis zu 2 Milliarden DM für den Ausbau von kommunaler Infrastruktur,
({2})
Schulen und Straßen im Osten. Es sei jedoch nicht sinnvoll, darüber in der Öffentlichkeit allzu sehr zu diskutieren, sagt der Kanzler; so zitiert in der „Süddeutschen Zeitung“. Alle Tageszeitungen vom gleichen Tage waren voll
mit Überschriften wie „Schröder plant Milliardenhilfe für
den Aufbau Ost“, „Schröder wird von allen Seiten zur
Ostförderung gedrängt“. Von einer geplanten Sommerreise ist die Rede - Reisen ist gut, Reisen bildet, Herr
Bundeskanzler -, auf der er mitteilen soll, wie hoch die
Förderung ausfallen wird. Aber eine Woche nach dieser
Berichterstattung gab er der deutschen Öffentlichkeit bekannt, das sei alles Schnee von gestern, es werde kein weiteres Geld für die Chefsache Aufbau Ost geben.
Meine Damen und Herren, wer so unzuverlässig Politik für die neuen Bundesländer betreibt, der hat versagt,
der hat nichts vorzuweisen, der nimmt den Aufbau Ost
nicht ernst genug.
({3})
Es ist für die Bundesregierung und auch für uns als Opposition in diesem Hause noch immer ein Verfassungsauftrag, die innere Einheit zu vollenden. Das ist ein
Thema, das uns allen am Herzen liegen sollte.
Wenn ich mir die Politik der Bundesregierung in den
letzten Jahren anschaue, dann stelle ich fest, dass mehr
Gesetze beschlossen wurden, die den Konjunkturaufschwung in den neuen Bundesländern förmlich behindern.
({4})
Durch die Steuerreform werden Personengesellschaften
und damit das Handwerk, die Freiberufler und der Mittelstand benachteiligt. Auch die Ökosteuer belastet das
Handwerk, den Mittelstand und die Bürger immer mehr.
Die Grünen werden nicht müde, eine weitere Erhöhung
der Mineralölsteuer zu fordern. Die gesetzlichen Regelungen zur Scheinselbstständigkeit behindern jegliche Eigeninitiative und jede Existenzgründung.
({5})
Diese Kritik ist berechtigt - deswegen müssen Sie sie sich
anhören -,
({6})
denn ohne ein verändertes Denken in dieser Frage wird es
mit dem Aufbau Ost nicht vorangehen.
Wir sind uns bewusst, dass man die Entwicklung, die
die alte Bundesrepublik in 40 Jahren vollzogen hat, nicht
in zehn Jahren nachholen kann. Deswegen brauchen wir
eine differenzierte Betrachtungsweise. Es gibt doch bereits, wie gerade gesagt wurde, ermutigende Entwicklungen in den neuen Bundesländern. Es sind „Leuchttürme“
entstanden; sie befinden sich insbesondere um Hochschulstandorte. Es gibt neue Wissenszentren, aus denen
innovative Forschungsunternehmen ausgegründet wurden. Ich nenne nur Jena, Dresden, Leipzig und Halle. Ihnen fällt außer dem von mir Genannten sicher noch viel
mehr ein.
({7})
Herr Staatsminister, Sie haben die Zuwachsraten in der
Industrie und im verarbeitenden Gewerbe angesprochen. Diese Zahlen können sich sehen lassen; das ist
richtig. Die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe steigt. Die Wachstumsrate der Bruttowertschöpfung beim verarbeitenden Gewerbe ist im Vergleich mit
allen anderen Branchen mit 8,3 Prozent am höchsten. Zur
Wahrheit gehört aber auch, dass die industrielle Basis in
den neuen Ländern viel zu schwach ist, weil viele Industriebetriebe weggebrochen sind.
({8})
Wahr ist auch, dass die Zuwächse im verarbeitenden Gewerbe nicht ausreichen, um neue Beschäftigungsimpulse
zu setzen und die Arbeitslosenquote zu senken.
({9})
Sie müssen den Aufbau Ost viel ernster nehmen;
({10})
denn auch der negative Trend bei der Jugendarbeitslosigkeit - sie liegt bei 18 Prozent - kann nicht ermutigen. Ich
freue mich, dass Sie dies wenigstens jetzt ernst nehmen;
sonst würden Sie sich ja nicht so aufregen.
({11})
Das ist ein Zeichen dafür, dass Ihnen das, was ich Ihnen
hier sage, ganz schön wehtut, meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition.
({12})
Herr Staatsminister Schwanitz, Sie haben die Abwanderung angesprochen. Ich würde das nicht auf die leichte
Schulter nehmen. Die Abwanderung junger Menschen
aus einem Landstrich Deutschlands darf man nicht
bagatellisieren, vor allem dann nicht, wenn es die jungen,
fleißigen, kreativen und fachlich ausgebildeten Menschen
sind.
({13})
Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik; das sage ich ganz deutlich. Wenn Sie den jungen und mobilen Menschen mit Ihrer Politik keine Zukunftsoptionen geben können, dann ist
es doch verständlich, wenn sie sich ökonomisch gesund
verhalten und sich einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz
im Westen Deutschlands suchen. Wir wollen diesen Menschen auch in den neuen Bundesländern eine Zukunft bieten. Ich denke, dies muss unser gemeinsames Ziel sein.
({14})
- Sie bekommen von mir auf jede Frage eine Antwort.
({15})
Uns, der F.D.P., ist die Solidarität mit den neuen Bundesländern besonders wichtig.
({16})
Dies entspricht unserer Tradition als gesamtdeutscher
Partei, die auch durch unsere liberalen Außenminister vertreten worden ist, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, insbesondere von der SPD.
({17})
Es geht darum, Steuern in Deutschland zu senken.
({18})
Es geht darum, nicht erst im Jahr 2005 eine neue Steuersenkungspolitik zu betreiben. Wir brauchen ein Niedrigsteuergebiet Deutschland. Das wird insbesondere auch
den neuen Bundesländern zugute kommen. Es geht nicht
darum, eine isolierte Forderung nach der Abschaffung des
Solidaritätszuschlages in den Vordergrund zu stellen.
({19})
Wir geben zu, dass wir bei der Vermittlung von Politik
Fehler gemacht haben. Das sage ich ganz deutlich.
({20})
Wir sehen unsere Fehler aber ein und versuchen, sie zu
korrigieren. Sie sind noch nicht mal bereit, Ihre Fehler
einzusehen und Ihre Politik zu korrigieren. Das ist doch
der entscheidende Unterschied.
({21})
Lassen Sie mich zum kreativen Teil der F.D.P.-Bundestagsfraktion kommen.
({22})
Berechtigte Kritik ist der eine Teil meiner Rede. Aber wir
alle kommen in der Debatte nur dann weiter, wenn wir uns
ernsthaft darüber unterhalten, wie es mit den neuen Bundesländern weitergehen soll. Ich vermisse - das sage ich
ganz deutlich - ein Gesamtkonzept der Bundesregierung.
Bisher haben Sie uns dies nämlich nicht vorgelegt. Deswegen gibt es keinen Grund, der Opposition Vorwürfe zu
machen, wenn sie Gesamtkonzepte in den Deutschen
Bundestag einbringt; Herr Schwanitz, das ist nicht berechtigt.
({23})
Ich möchte Ihnen drei Schwerpunkte aus unserem
10-Punkte-Programm nennen, die uns besonders wichtig
sind. Dies fällt übrigens auch in Ihre bundespolitische Zuständigkeit, Herr Schwanitz.
Erstens. Der Infrastrukturausbau muss verstärkt
werden. Das halten wir für eine der wichtigsten Aufgaben
in den nächsten Jahren. Damit müssen wir jetzt beginnen.
Wir alle sind uns bewusst, dass die 80 Milliarden DM zur
Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen
Bundesländern in der Vergangenheit eine großartige Leistung waren. Aber man darf die Prioritätensetzung auch
beim Infrastrukturausbau nicht aufgeben.
In diesem Zusammenhang möchte ich als Beispiele
die Ostsee-Autobahn - Mecklenburg-Vorpommern wurde
schon genannt -, die A 20, nennen. Die Grünen melden
vor Ort ständig ihre Bedenken zum Bau dieser Autobahn
an. Wir wissen, dass der Autobahnbau gerade in der
Ostseeregion weit hinter dem Bedarf herhinkt. Dabei geht
es dort um Projekte wie die Anbindung an die A 1 nach
Lübeck, die Ortsumfahrung von Wismar, aber auch die
A 11 nach Stettin oder die Rügenquerung, die immer noch
auf Eis liegen. Es hätte schon viel mehr gemacht werden
können. Ich denke, die grüne Verzögerungstaktik ist ein
Grund dafür, dass diese Projekte in der Vergangenheit
nicht realisiert werden konnten.
({24})
Unter Prioritätensetzung verstehe ich etwas anderes.
Sie haben als Erstes den ICE Nürnberg-Erfurt-Leipzig-Berlin als Hochgeschwindigkeitsstrecke aus den
Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ herausgenommen.
({25})
Damit wird der Osten aus dem europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz abgekoppelt. Das ist so.
({26})
Was ist denn das für eine Prioritätensetzung? Alle namhaften wirtschaftswissenschaftlichen Institute der Bundesrepublik haben bereits darauf hingewiesen: Ohne
Verkehrswege, die Lebensadern einer Region sind, gibt es
keine Investitionen und Arbeitsplätze.
({27})
Mobilität ist im schnelllebigen Informationszeitalter
eine der wichtigsten Voraussetzungen für wirtschaftlichen
Aufschwung. Deswegen sind wir der Auffassung: Auch
mit Blick auf die EU-Osterweiterung und unter Berücksichtigung der Zunahme des PKW- und Güterverkehrs
brauchen wir ein Sonderprogramm für den Infrastrukturausbau in den neuen Ländern.
({28})
Zweitens. Die Forschungsstandorte in den neuen
Bundesländern müssen gestärkt werden. Der Ausbau der
wissenschaftlichen Infrastruktur ist die Keimzelle für moderne und zukunftssichere Arbeitsplätze. Das heißt aber
auch: Wir dürfen die neuen Länder bei Investitionen in
Hochschule und Forschung nicht im Regen stehen lassen.
({29})
Wir brauchen einen Nachteilsausgleich. Deswegen haben
wir mit unserem Antrag ein Programm in Höhe von
1,17 Milliarden DM zum Ausbau der wissenschaftlichen
Infrastruktur vorgeschlagen, aber insbesondere auch zum
Nachteilsausgleich.
({30})
Sie selbst haben doch die Chance verspielt, mit den
Zinsersparnissen durch den Verkauf der UMTS-Lizenzen
einen besonderen Akzent für die neuen Bundesländer zu
setzen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition.
({31})
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit bereits überschritten. Ich
möchte Sie bitten, zum Schluss zu kommen.
Herr Präsident, in der Tat ist
die Redezeit für dieses Thema immer zu kurz, besonders
für die F.D.P., die eben viele gute Vorschläge für den Aufbau Ost hat.
({0})
Das Dritte sei hier noch genannt: Eine Existenzgründeroffensive wollen wir gemeinsam auf den Weg bringen. Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sollten uns dabei unterstützen.
({1})
Der Erfolg dieses Landes - das möchte ich als letzten Satz
sagen - auch mit Blick auf die europäische Integration
wird auch und insbesondere davon abhängen, wie wir den
Anschluss der neuen Länder an den Wirtschaftsaufschwung der Bundesrepublik meistern.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile
dem Kollegen Werner Schulz das Wort; er spricht für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
gut, dass wir die Debatte über den Aufbau Ost heute nicht
mehr aus der Lamäng der allgemeinen Gefühlslage
führen, sondern endlich einmal - darauf habe ich mich gefreut - anhand von Papieren, und zwar anhand des von der
Bundesregierung vorgelegten Berichts zum Stand der
deutschen Einheit und anhand der Anträge der Opposition.
({0})
Damit kann sich jeder, der lesen kann und das gelesen hat,
ein Bild machen, wie die einen den Aufbau Ost betreiben
und voranbringen und aus welch einer diffusen Mixtur aus
dürftigen und überzogenen Forderungen das Repertoire
der anderen besteht.
({1})
Frau Pieper, Sie haben dankenswerterweise bereits
zwischen dem kreativen Teil des Antrags der F.D.P. und
den anderen drei Punkten - das lasse ich offen - getrennt.
({2})
Dabei stößt der CDU-Antrag zunächst wirklich auf Interesse, Günter Nooke, wenn dort ein neues Leitbild versprochen wird. Wenn man dieses Leitbild aber sucht, stößt
man auf einen Irrgarten. Offenbar ist die Kampfparole
von Friedrich Merz zum Regierungsangriff, die er ausgegeben hat - Widersprüche, Sprüche und Plagiate -, als eigener Arbeitsauftrag missverstanden worden.
({3})
Das jedenfalls spiegelt sich in diesem Antrag wider. Er ist
eine Fundgrube für Stilblüten. So viel vielleicht zu den
blühenden Landschaften.
Ich zitiere hier nur ganz kurz, Günter Nooke. Das Kapitel „Leitbild“ beginnt mit dem Anspruch, dass der Aufbau Ost „eine kreative Neuausrichtung“ braucht. Sieh mal
an! Nur verliert sich dieser Anspruch im Nirwana eines
solchen Satzes wahrer Leitkultur:
Deutschland 2015 ist dann eine Vision, wenn auch
die östlichen Bundesländer ihren eigenen Weg dorthin finden können.
({4})
Na, das finde ich grandios; das finde ich absolut grandios.
Der Zeitrahmen ist verändert worden.
Wenn man dann wirklich sucht - ich habe mir die
Mühe gemacht, in deinen Pressegesprächen usw. zu suchen, wo das Leitbild ist -, dann findet man nur Negativbeschreibungen: Der Osten darf kein Grüngürtel zwischen Westdeutschland und Osteuropa werden. Die
Weggabelung scheint also offenbar zwischen grünen
Streifen und blühenden Landschaften zu verlaufen, für die
wir uns entscheiden können,
({5})
also eine biologische Betrachtung der Ostlandschaft.
Oder ich zitiere die F.D.P., die davor warnt, dass der
Osten nicht zum Altersheim werden darf.
({6})
Bis 1998 gab es scheinbar nur Erfolge zu feiern; wenn ich
Ihre damaligen Reden höre. Unter der rot-grünen Koalition scheint dort im Osten aber die Apokalypse ausgebrochen zu sein. Wo leben wir denn?
({7})
Ich will Ihnen eines ganz ernsthaft sagen: Den Abstieg
Ost hat es gegeben; der hat sich ereignet, und zwar in den
Jahren zwischen 1996 und 1998. Wir hatten 1994 ein
Wirtschaftswachstum von 11,4 Prozent, und 1998, als
Gerhard Schröder das Wort von der Chefsache geprägt
hat, und zwar nicht, weil er sich da überpotent gefühlt hat,
sondern weil er die Sache eben in die Hand nehmen wollte
({8})
- billiges Lachen! -, hatten wir 0,7 Prozent Wirtschaftswachstum. 0,7 Prozent!
Der Begriff „Kippe“, der in diesem Zusammenhang
geprägt worden ist, ist richtig; er kam nur zwei Jahre zu
spät. 1998 stand der Osten auf der Kippe. So sieht es aus.
({9})
- Nein, ich beantworte Ihnen diese Frage am Ende; ich
will diesen Gedanken jetzt nicht unterbrechen.
({10})
Ich will Sie mit Ihrer eigenen Politik konfrontieren;
denn so leicht kommen Sie mir hier nicht davon.
({11})
1995 ist uns von Herrn Rexrodt ein Bericht zum Stand
der deutschen Einheit vorgelegt worden; dieser Bericht
nannte sich „Die Hälfte des Weges“, die Hälfte des Weges
ist geschafft.
({12})
Ich frage Sie: Was gibt es denn noch zu tun? Der Aufbau
Ost müsste nach Ihrer Meinung doch abgeschlossen sein.
({13})
- Was heißt hier „billige Ablenkung“? Sie haben im
Grunde genommen noch nicht einmal den Mut, Ihre späte
Erkenntnis einzugestehen und zuzugeben, dass Sie sich
absolut getäuscht haben, dass Sie über Jahre hinweg die
falschen Zielgrößen ausgegeben haben und dass Sie den
Elan, der anfangs im Osten vorhanden war, gebrochen haben, weil Sie die Menschen enttäuscht haben. Noch nicht
einmal dieses kleine Quäntchen Selbstkritik kommt in
Ihren Anträgen zum Ausdruck.
({14})
Ich finde, der Antrag, aber auch deine Rede, Günter
Nooke, hat einige freudige Überraschungen zu bieten. Ich
habe 1991 im Bundestag gesagt, der Aufbau Ost dürfe
kein Nachbau West werden. Vielleicht rührt es noch aus
gemeinsamer Parteiverbundenheit, dass das bei dir so haften geblieben ist.
({15})
Die westdeutschen Gebrauchsmuster reiben sich an der
ostdeutschen Realität, sodass man sie nicht im Maßstab
1:1 übertragen darf.
Was hat, Angela Merkel, denn in der Zeit, in der die
Modernisierung Deutschlands hätte betrieben werden
können, eigentlich stattgefunden? Ich frage: Wer hat diese
Bürokratie aufgebaut, sodass jetzt gefordert werden muss,
die Überregulierung abzubauen? Was haben wir denn in
den Jahren 1990 bis 1998 erlebt?
({16})
Es gab doch Möglichkeiten, das Verwaltungsrecht, das
Steuerrecht oder anderes zu vereinfachen. Der Mut dazu
hat nicht gereicht. Wir haben einen Schnäppchenverkauf
durch die Treuhand erlebt. Wenn man jetzt die Affäre
Leuna/Elf Aquitaine nachvollzieht, kann man sehen, wie
geschmiert der Aufbau Ost damals gelaufen ist.
({17})
Man kann sehen, wie Subventionen aus dem Fenster geworfen wurden, und zwar in einer Streubreite, dass offenbar auch einige Milliönchen im Adenauerhaus hängen geWerner Schulz ({18})
blieben sind. Darum sollten Sie sich, Angela Merkel,
kümmern und nicht um die Frage, ob die Großprojekte
- Großraumflugzeug A 380 oder Transrapid - durch den
Kanzler aufgehalten werden. Das sind doch Ammenmärchen. Solche Projekte allein bringen doch den Osten nicht
voran.
Wir haben im Osten eine Deindustrialisierung sondergleichen erlebt. Die heutigen Strukturschwächen des
Ostens haben mit der Tatsache zu tun, wie in den 90erJahren Wirtschaftspolitik betrieben worden ist. Es wurden
Kungelrunden gebildet, anstatt einen großen nationalen
Kraftakt, der Standortverlagerungen sowie eine Industrieund Strukturpolitik beinhaltete, zu vollziehen.
Ich finde, man kann es sich nicht so leicht machen, dass
man einfach in die Opposition hineinschlittert und meint,
diese acht Jahre Regierung spielten überhaupt keine Rolle
mehr. Die jetzige Bundesregierung hat eine doppelte Erblast übernommen. Sie besteht zum einen aus dem Wirtschaftsbankrott der DDR - ich will das nicht weiter ausführen; Sie können das bei Gerhard Schürer nachlesen und zum anderen aus der Deindustrialisierung, die in den
Jahren 1990 bis 1998 stattgefunden hat. Das Wunder des
Ostens ist, dass wir heute eine Reindustrialisierung und
ein Wirtschaftswachstum von 13 Prozent in der gewerblichen Wirtschaft haben. Diese Entwicklung hat erst in den
letzten Jahren stattgefunden und hat ihre Ursache in einer
Umorientierung der Förderpolitik der Wirtschaft.
({19})
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vaatz?
Nein. - Wir haben sektorale Disparitäten und
Strukturschwächen. Ich denke beispielsweise an die Abwicklung der industrienahen Forschung und den ergebnislosen Kampf von Paul Krüger als Forschungsminister.
Er hat sich mit vielen Anträgen bemüht, diese Entwicklung aufzuhalten und Mittel in den Personal- und Sachmittelaufbau der Forschung des Ostens zu stecken. Doch
was ist passiert? Der Forschungsbereich ist auf einen
Niedrigststand abgebaut worden.
Frau Pieper, ich staune, wie sich durch Ihren Antrag
das Grundmissverständnis zieht, der Aufbau Ost sei eine
Staatsaufgabe. Wo sind denn Ihre liberalen Positionen geblieben, die Ihre Partei sonst vertritt? Da Sie sich neuerdings mit Wissenschaft und Forschung beschäftigen, sollten Sie sich einmal die Studie des Fraunhofer-Instituts für
Systemtechnik und Innovationsforschung anschauen. In
dieser Studie wird die Produktivitätslücke Ostdeutschlands vor allen Dingen darauf zurückgeführt, dass es einen Qualifizierungsmangel durch die mangelnden Investitionen in Forschung und Technologie in den neuen
Bundesländern gibt.
Das heißt: Der Ruf nach Risikokapital wird so lange
nichts bringen, so lange die Unternehmen nicht riskieren,
auch in Köpfe zu investieren. Dieser Aufgabe müssen sich
Unternehmen, Verbände, Kammern und dergleichen mehr
stellen. Man darf solche Forderungen nicht nur einseitig
an den Bundeskanzler richten. Das ist doch einfach und
naiv.
({0})
Ich hätte große Lust, diesen Antrag noch weiter auseinander zu nehmen und auf einige Dinge näher einzugehen. Ich habe selten einen so miserablen und substanzlosen Antrag gesehen.
({1})
- Nein, Günter Nooke, ich möchte auf den eigentlichen
Skandal Ihres Antrags eingehen; denn wenn das, was Sie
in Ihrem Antrag fordern, das Leitbild für Ostdeutschland
sein soll, dann gute Nacht!
In dem CDU/CSU-Antrag steht allen Ernstes - ich frage
mich, wie ein solcher Antrag an den CDU-Sozialausschüssen vorbeikommen konnte -, dass im Zuge der EU-Osterweiterung im ostdeutschen Grenzgebiet - man höre und
staune! - eine „maquiladora“-Industrie aufgebaut werden sollte. Wer den Begriff nicht kennt, dem erkläre ich ihn.
Mit diesem Begriff bezeichnet man beispielsweise die Betriebe in Sondergebieten von Mexiko, die Lohndumping
betreiben und in denen unter miserabelsten Arbeitsbedingungen bei Umgehung von Arbeitsschutz-, Gesundheitsschutz- und Umweltschutzbestimmungen nach brutalsten
Ausbeutungsmethoden produziert wird. Alle mir bekannten Sozialwissenschaftler warnen vor solchen Twin-plantStrukturen in Europa, weil dadurch soziale Brennpunkte
geschaffen würden, die es bisher nicht gegeben hat. Nationale Ressentiments und Nationalismus werden nicht
auf sich warten lassen, wenn solche Strukturen etabliert
werden. Wenn das das Leitbild für Ostdeutschland ist,
dann gute Nacht!
({2})
In dem Antrag der CDU/CSU lassen sich zahlreiche
Widersprüche finden. Im Grunde genommen stehen in
fast allen Kapiteln immer nur These und Antithese nebeneinander. Die Synthese soll wahrscheinlich die Regierung
leisten. Das machen die Antragsteller nicht selbst. Nehmen wir die Infrastruktur als Beispiel. Es wird die Einführung einer kommunalen Infrastrukturpauschale,
was immer das auch sein mag, und gleichzeitig die Abschaffung des Gießkannenprinzips gefordert.
({3})
Nehmen wir zum Beispiel die Angleichung der Löhne
in Ost und West. In dem CDU/CSU-Antrag lässt sich kein
Zeitplan für diese Angleichung in den unterschiedlichen
Branchen finden. Gleichzeitig soll - das wird betont „eine zeitlich überschaubare Perspektive der Angleichung“ sogar Bestandteil des Leitbildes sein. Das ist völlig widersprüchlich. Darüber wird sicherlich nicht nur
Werner Schulz ({4})
Thomas de Maizière in der sächsischen Staatskanzlei den
Kopf schütteln.
Nehmen wir den Föderalismus als Beispiel. Es werden
Flexibilisierungsgesetze, was immer das auch ist - es wird
nicht erklärt -, und gleichzeitig die strikte Gleichbehandlung im föderalen System gefordert. Wunderbar!
Im Kapitel über die Stadtsanierung ist zu lesen, dass
man den Leerstand in Ostdeutschland nur auf die Abwanderung zurückführt. Wir haben zudem gehört, dass es sich
in Ostdeutschland um die schlimmste Abwanderung seit
dem Dreißigjährigen Krieg handelt. Wer so etwas anführt,
der hat keine Mauer, sondern einen Hirnriss im Kopf. Das
kann ich einfach nicht mehr nachvollziehen!
({5})
Gleichzeitig wird gefordert, die Regelung der Eigenheimzulage zu verlängern, obwohl diese Zulage sowie die unsinnigen Steuerabschreibungen, mit für die Schaffung von
Überkapazitäten im Bau, und dafür, dass jetzt 1 Million
Wohnungen in Ostdeutschland leer stehen, verantwortlich
sind. - Den Leerstand haben wir nicht aus der DDR übernommen. Sie sind verantwortlich für Zersiedelung im
städtischen Umfeld, Entstädterung und dafür, dass es
Fehlallokationen in unglaublichen Größenordnungen gegeben hat, dass Büropaläste entstanden sind und so eine
Scheinblüte in Ostdeutschland vorgegaukelt werden
konnte und dass verprellte Anleger zurückgeblieben sind.
Dass Sie so etwas fordern, ist unglaublich.
Nehmen wir die Arbeitsmarktpolitik als Beispiel. Im
CDU/CSU-Antrag wird der Abbau von ABM-Stellen gefordert, von einer Opposition, die 1998, als sie noch an der
Regierung war, die Zahl der ABM-Stellen - man höre und
staune! - von 130 000 auf 300 000 gesteigert und betont
hat, dass man das nicht nur im Wahljahr mache, sondern
kontinuierlich fortführen werde. Diese Opposition fordert
jetzt den Abbau von ABM-Stellen, wobei ich betonen
muss: Die Zahl der ABM-Stellen liegt heute wieder unter
200 000, und das bei einem gleich bleibenden Niveau der
Arbeitslosigkeit im Osten. Das ist ein großer Erfolg, der
leider oft nicht so deutlich wahrgenommen wird.
({6})
Ich betone deswegen nochmals: Obwohl wir ABM-Stellen abgebaut haben, ist die Arbeitslosigkeit nicht gestiegen. Das ist ein großer Erfolg und macht deutlich, dass wir
neue Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt geschaffen haben.
({7})
Nehmen wir die Erinnerungskultur als Beispiel. In
dem CDU/CSU-Antrag beschränkt man sich auf ein
Denkmal für die Freiheits- und Einheitsbewegung. Das ist
alles, was sich dem Antrag zu diesem Thema entnehmen
lässt. Es wird nicht etwa gefordert, dass mehr über die
DDR gelernt werden muss, damit die Kandidaten bei
Günther Jauch nicht regelmäßig bei den DDR-Fragen
durchfallen.
({8})
Nehmen wir zum Beispiel die Schul- und Bildungspolitik. Dazu lässt sich im CDU/CSU-Antrag nur ein armseliger Kanon finden: Abitur nach12 Jahren, Kopfnoten und
berufspraktischer Unterricht. Die F.D.P.-Fraktion fordert
in ihrem Antrag noch die flächendeckende Ganztagsschule. Kein Wort über Demokratiemangel, humanistische Bildung oder darüber, wie der Rechtsradikalismus
im Osten verringert werden kann!
Ich muss Ihnen also zusammengefasst sagen: Dieser
Antrag ist ein politisches Armutszeugnis ersten Ranges.
In den gewünschten Kopfnoten ausgedrückt, würde ich es
so formulieren: Fleiß und Mitarbeit gut, Kreativität und
Konstruktivität mangelhaft. Sie werden in der Opposition
sitzen bleiben und nicht blühende Landschaften, sondern
ein Wiederholen, ohne einzuholen, zu erwarten haben.
({9})
Es liegen
nunmehr zwei Wünsche auf Kurzinterventionen vor. Herr
Kollege Schulz, Sie können dann selber entscheiden, ob
Sie auf jede einzelne Intervention oder nachher geschlossen antworten.
Zunächst bekommt die Kollegin Cornelia Pieper das
Wort.
Lieber Kollege Schulz, ich
muss mich schon wundern und frage mich, ob Sie unsere
Anträge überhaupt gelesen haben. Ich befürchte, dass Sie
das nicht getan haben; denn sonst hätten Sie hier nicht so
argumentieren können.
Lassen Sie mich kurz auf das Gesagte eingehen. - Sie
haben erwähnt, dass der Industrieaufschwung erst seit
dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung stattfinde. Ich darf Sie daran erinnern: Seitdem es diese rotgrüne Bundesregierung gibt, ist die Prioritätensetzung,
was auch Standortentscheidungen der Industrie anbelangt, nicht mehr gegeben. Unter einer früheren Regierung, auch mit Beteiligung der F.D.P.-Wirtschaftsminister, sind Standortentscheidungen auch immer ein Thema
für die Politik gewesen; sonst gäbe es nämlich die Industriestandorte, die wir jetzt in den neuen Ländern haben,
gar nicht. Bitte nehmen Sie das einmal zur Kenntnis!
({0})
Sie sprechen von den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die unter Ihrer Regierung bei gleichem Stand der
Beschäftigungsquote, die für die neuen Bundesländer
beängstigend ist, rückläufig sind. Wir können ja nicht
wollen, dass sie doppelt so hoch bleibt wie in den alten
Ländern. Das ist auch ein bedeutender sozialer Sprengstoff.
Bitte berücksichtigen Sie, dass die Arbeitslosenquote
auch zurückgegangen ist, weil wir einen Bevölkerungsrückgang haben. Sie können ja Ihren Erfolg nicht damit
begründen, dass immer mehr Menschen - glücklicherweise - in Rente gehen können, sondern Sie müssen sich
Werner Schulz ({1})
daran messen lassen, wie viele Arbeitsplätze in den neuen
Bundesländern entstehen. Das ist der Punkt.
({2})
Frau Kollegin, kommen Sie doch bitte jetzt zum Schluss.
Ja. - Ich möchte Sie noch
darauf hinweisen, dass Sie es sind, die jegliche Eigeninitiative blockieren. Ich habe die Beispiele genannt. Ich
habe das Beispiel Steuerreform genannt und ich habe das
Beispiel der gesetzlichen Regelung der Scheinselbstständigkeit genannt. Das blockiert Eigeninitiative und schafft
keinen neuen Gründergeist, kein neues Unternehmertum.
Sie sollten Ihre Aussagen eher relativieren. Mogeln Sie
sich bitte nicht ständig durch, indem Sie Begründungen
suchen, die einfach nicht mehr der Realität entsprechen!
Nehmen Sie Ihre Aufgabe bei der Chefsache Aufbau Ost
endlich wahr! Dann haben Sie unsere Unterstützung.
({0})
Zu einer
weiteren Kurzintervention der Kollege Nooke.
Die Kollegen von der
Koalitionsfraktion der SPD sind ja noch dran.
Ich habe mich gewundert, lieber Werner Schulz, dass
man sich hier für die Regierung so einspannen lässt und
eine konstruktive Debatte, die ich mir eigentlich gewünscht hätte, in solch einer Weise verhindert, wie das
hier passiert ist. Das war meines Erachtens nicht nur unbefriedigend, sondern das war im Rahmen dieser Debatte
total ungenügend. Ich möchte einfach darauf hinweisen:
Mit so viel unsinniger, unangebrachter Polemik kann man
das Nichtwissen und die chaotischen Zustände innerhalb
der Regierungskoalition und der Bundesregierung nicht
übertünchen.
({0})
Ich habe wirklich selten erlebt, dass jemand von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hier so schwach in einer Debatte aufgetreten ist,
({1})
in der es wirklich um eine nationale Herausforderung
geht. Ich will dir das lediglich noch als altes Ressentiment
zugestehen.
Ich will etwas zu der „maquiladora“-Ansiedlung sagen
und darauf hinweisen, dass es in unserem Antrag doch
Konzepte gibt, über die man ja reden kann. Zumindest
weise ich erst einmal darauf hin, dass es an der amerikanisch-mexikanischen Grenze heute prosperierende Regionen gibt, dass das sehr wohl zum Erfolg geführt hat
und dass es vielleicht für die neuen Bundesländer besser
ist, es kommt die Hälfte der Arbeitsplätze dorthin, als dass
gar keine Arbeitsplätze geschaffen werden.
({2})
- Vielleicht schauen Sie sich erst einmal an, was in der
Substanz in unserem Antrag steht,
({3})
anstatt in einer Kaskade von falschen Behauptungen ein
Bild an die Wand zu malen, das in keiner Weise gerechtfertigt ist.
Wir haben einen Weg beschrieben, über den wir gemeinsam sprechen können. Wie viel Geld wir heute und
morgen sowie beim Solidarpakt II in die Hand nehmen,
steht gar nicht in unserem Antrag. Auch darüber können
wir miteinander sprechen. Aber dass wir jetzt Investitionen - zum Beispiel bei der Infrastruktur - brauchen, um
in den neuen Bundesländern die Produktivität zu erhöhen,
ist doch eigentlich Konsens. Sie aber laufen hier wie ein
angeschossenes Wildschwein herum.
({4})
- Ich muss einfach einmal dieses Bild benutzen.
({5})
Auf diese
Bemerkung sollte der Kollege Werner Schulz jetzt antworten.
Ich nehme das Wort
„Wildschwein“ zurück und gebe dem Kollegen Schulz die
Chance, sich von seiner Rede zu distanzieren.
({0})
Des Weiteren würde ich mich freuen, wenn die Beiträge
aus der SPD-Fraktion wirklich einmal Klarheit schafften,
welche Meinung Parlamentarier hier zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder als dem „Chefsachenkanzler“,
der von einer Staatsaufgabe redet, und Bundestagspräsident Thierse, der den Osten schlecht redet, vertreten.
Danke.
({1})
Zur Erwiderung gebe ich dem Kollegen Werner Schulz das Wort.
Das Wildschwein ist geschenkt. Es ist Ihnen offenbar über die Weggabelung gelaufen und hat bei Ihnen
zur Verwirrung beigetragen.
({0})
Frau Pieper, ich möchte den Zensurenaustausch hier
eigentlich nicht fortsetzen. Ich war schon geneigt, Ihnen
für den Antrag eine Vier zu geben. Angesichts der Tatsache aber, dass Sie gerade die Beschäftigungsquote und die
Arbeitslosenquote durcheinander gebracht haben, muss
ich sagen, dass Sie das Ganze möglicherweise doch nicht
verstanden haben. Die Beschäftigungsquote ist im Osten
teilweise sogar etwas höher als im Westen. Es ist wesentlich komplizierter, als Sie glauben: Die Arbeitslosigkeit
ist im Osten doppelt so hoch, aber die Beschäftigungsquote liegt bei etwa 72 Prozent. Darüber, was das heißt,
müssen wir einmal ernsthaft diskutieren.
Zu den Industrieansiedlungen: Frau Pieper, ich weiß,
dass über sie in der Ära Helmut Kohl offenbar in Kungelrunden entschieden worden ist. Damit hat man jetzt ja
auch seine Schwierigkeiten, was Elf Aquitaine und Leuna
anbelangt. Eine solche Ansiedlung ist nach wie vor eine
unternehmerische Entscheidung. Ich drösele Ihnen gern
noch einmal auf, wie es beim A3XX gelaufen ist: Da haben sich zwei deutsche Standorte gleichzeitig beworben,
Hamburg und Rostock, und es bestand die große Gefahr,
dass die Produktion gar nicht nach Deutschland kommen
könnte
({1})
- selbstverständlich -, weil wir uns in einem europäischen
Standortwettbewerb befanden und es eine unternehmerische Entscheidung und nicht eine Entscheidung des Bundeskanzlers war. Das führt uns also nicht weiter.
Zu Günter Nooke: Eigentlich sollten wir uns mit dem
Antrag nicht weiter beschäftigen. Aber wir müssen es in
unseren Beratungen tun. Ich freue mich darauf. Man
müsste das Material dem „Scheibenwischer“ überweisen,
weil genügend Textstellen satirischen Wert haben. Natürlich ist ein Leitbild enthalten, die „maquiladora“-Industrie. Wenn das aber das Leitbild ist - von der DDR-Gestattungsproduktion über die verlängerten Werkbänke, die
wir erlebt haben, hin zur „maquiladora“-Industrie -, dann
habe nicht ich etwas zurückzunehmen, sondern die
CDU/CSU-Fraktion und die gesamte Partei. Daran sollten
Sie arbeiten. Sie haben hier ein ernsthaftes politisches
Problem.
({2})
Jetzt erhält der
Fraktionsvorsitzende der PDS, Roland Claus, das Wort.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sehen Sie es mir nach, dass
ich gerade darüber nachgedacht habe, wie wohl Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern unsere Debatte
wahrnehmen. Ich fürchte, wir sind wieder einmal dabei,
eine gemeinsame Chance zu vertun.
({0})
Zunächst muss ich über unlauteren Wettbewerb reden,
Herr Kollege Nooke. Manches von dem, was in Ihrem Antrag steht, ist nun hinreichend kritisiert worden; das muss
man nicht noch ergänzen. Aber es gibt auch eine ganze
Reihe von Forderungen, die wir für vernünftig halten. Allerdings handelt es sich in aller Regel um Forderungen,
die die PDS vor Jahren erhoben hat und die Sie übernommen haben.
({1})
Das geht zum Teil bis hin zu wörtlichen Formulierungen
von Christa Luft oder Gregor Gysi.
({2})
Jetzt haben wir folgendes Problem: Sie stellen dieses so
dar, als wenn das neu aus der Kiste geholter Zauber wäre.
Wir aber müssen der erstaunten Öffentlichkeit erklären,
warum manches, was von uns schon früher gesagt wurde,
immer noch und immer wieder vertreten wird. Das ist unlauterer Wettbewerb.
({3})
Der Antrag verdient aber auch an einer Stelle Respekt.
Wenn das in diesem Antrag enthaltene Angebot wirklich
ernst gemeint ist, dass gemeinsam darüber gestritten und
nachgedacht werden soll, was denn für die neuen Länder
nützlich ist - Sie nicken ja jetzt ein wenig zaghaft -,
({4})
dann müsste die CDU/CSU-Fraktion endlich ihren anachronistischen Beschluss aufheben, gemäß dem jeder
Vorschlag von der PDS-Fraktion, auch in Bezug auf die
neuen Länder, schon deshalb abzulehnen sei, weil er von
dieser Fraktion komme. Das geht nämlich nicht zusammen.
({5})
Sie müssten sich auch noch zu etwas anderem durchringen: Wenn das, was Sie vorgeschlagen haben, nunmehr
die richtige Lösung für die Belange der neuen Länder darstellt, dann müssten Sie ehrlich eingestehen, dass dieser
Vorschlag die schärfste in diesem Hause vorgetragene
Kritik an Ihrer eigenen Regierungspolitik von 1990 bis
1998 ist. Daran kommen Sie nicht vorbei.
({6})
Ansonsten ist Ihr Ruf an der jetzigen Weggabelung
„Kommt nur her, wir kennen den richtigen Weg und zeigen ihn euch schon!“ ein wenig deplatziert. Die Leute haben nicht vergessen, wohin die von Ihnen eingeschlagenen Wege geführt haben.
({7})
Nun haben wir auch wahrgenommen, dass der Kanzler
im Land der unbekannten Cousinen eingetroffen ist.
({8})
Das Erstaunliche war dabei, dass die Fernsehbilder den
Eindruck erweckten, als kämen diese Szenen aus Fernost.
({9})
Werner Schulz ({10})
Wir alle sollten eines akzeptieren: Die Menschen in den
neuen Ländern haben inzwischen ihr Selbstbewusstsein
wiedergewonnen und können damit auch etwas anfangen.
Auch Sie dürften mittlerweile bemerkt haben, dass die
PDS im Zusammenhang mit dem Thema deutsche Einheit
sich nicht auf die Rubrik „Meckern und jammern“ beschränkt.
({11})
Das setzt aber voraus, dass wir gemeinsam - und nicht nur
die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern - das
Hinzukommen neuer Länder und der dort wohnenden
Menschen nicht länger als Belastung, sondern als Chance
begreifen.
({12})
Deshalb haben es die Menschen in den neuen Ländern
auch nicht so gerne, wenn man ihnen sagt: „Der Segen
kommt von oben“ oder von einer Chefsache spricht. Sie
wünschen sich, dass Bedingungen geschaffen werden,
damit sie mit der eigenen Hände und Köpfe Arbeit zu einem selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung beitragen können. Hierfür müssen wir die Bedingungen
schaffen.
({13})
Nun haben Sie seitens der Koalition andere Konzepte kritisiert. Ich finde, dass Sie in Bezug auf die Verbindlichkeit
Ihrer Absichten mit Ihrem eigenen Bericht kritischer sein
sollten.
Ihr Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit hat
einen wesentlichen Mangel. Auf der einen Seite analysiert
er Sachverhalte ziemlich klar. So sagt er zum Beispiel: In
den Bereichen Forschung und Entwicklung bleibt der
Osten erheblich zurück. Ich erinnere Sie, dass die Potenziale auf unter 20 Prozent des Standes zu DDR-Zeiten
zurückgefahren wurden. Weiterhin stellt er richtig fest,
dass es Marktzugangsbarrieren gibt. Auf der anderen
Seite bleibt er aber bei der Analyse stehen und klammert
die daraus zu ziehenden Konsequenzen aus. Dieses kritisieren wir an dem Bericht.
Meine Damen und Herren, wir alle sind nicht nur Gast,
sondern auch engagierte Besucherinnen und Besucher
von Unternehmen. Oftmals wird uns gesagt: Ihr müsst
euch gar nicht so sehr dafür einsetzen, dass noch mehr
Geld kommt; das Problem ist vielmehr, dass wir die für
die Förderung eingesetzten Mittel nicht zweckbestimmt
erhalten können und nicht an der Bürokratie vorbeikommen. Es müsste endlich gelingen, Wirtschafts- und
Arbeitsmarktförderung zusammenzubringen.
({14})
Die Problematik dabei ist nicht einmal so sehr, dass
Steuermittel aus den alten Ländern in den neuen Ländern
nicht ankommen - es wäre ja nicht so schlimm, wenn
diese Mittel dorthin zurückfließen würden, wo sie hergekommen sind -, sondern dass Steuermittel, die für die
Wirtschaftsförderung gedacht waren, auf einmal auf Konten von Banken und Unternehmen landen, für die sie
wirklich nicht vorgesehen waren. Da kann man also etwas
ändern, auch ohne dass zusätzliches Geld fließt.
({15})
- Wir werden gerne die Gelegenheit nutzen, Ihnen das zu
erläutern.
({16})
Auch wir setzen uns dafür ein, dass eine kommunale
Investitionspauschale von jährlich mindestens 3 Milliarden DM aufgelegt wird, und zwar ohne Ergänzungsfinanzierung durch die Kommunen, die das in vielen Fällen gar
nicht leisten können.
Wir brauchen eine Altschuldentilgung bei den
Wohnungswirtschaftsunternehmen. Ich war des Öfteren
bei Hofe, also in Sachsen. Nicht nur durch Abwanderung,
sondern auch durch andere Migrationsprozesse - da
können Sie rechnen, wie Sie wollen - hätte Sachsen im
Jahre 2100 - vorausgesetzt, diese Prozesse laufen so weiter wie bisher - exakt noch 1 Million Einwohner. Das ist
die Realität, auf die wir uns einstellen müssen, auch bei
der Frage der Unterstützung der Wohnungswirtschaft.
({17})
Sie müssen natürlich auch eines wissen: Als Niedriglohngebiet hat der Osten in der Zukunft keine Chancen.
Wenn Niedriglöhne ein Standortvorteil wären, dann
müssten wir an vielen Stellen schon längst weiter sein.
({18})
Ich muss noch ein Wort an die CDU/CSU richten. Sie
fordern in Ihrem Antrag auf, die Probleme gemeinsam anzupacken und etwas für die neuen Länder zu tun. Ich will
Ihnen aber ein konkretes Beispiel für Ihr Demokratieverständnis nennen: Bei der Landratswahl auf der Insel Rügen landet die PDS-Kandidatin - das muss für Sie sehr kurios sein - auf Platz eins mit mehr als 20 Prozent
Vorsprung vor dem CDU-Kandidaten. Eine Stichwahl
steht an.
({19})
Nun sagen Sie sich: Wollen wir doch einmal schauen, ob
es nicht einen Trick gibt. - Das dortige Wahlgesetz
schreibt vor, dass auf eine Kandidatin, die als Einzelbewerberin antritt, 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten entfallen müssen. Jetzt kommt es: Auf Geheiß
von Berlin, von Frau Merkel ziehen Sie auf Rügen Ihren
CDU-Kandidaten zurück
({20})
und versuchen mit diesem Trick, die Wahl einer PDSLandrätin zu verhindern. Das ist Ihr Demokratieverständnis.
({21})
Das werden Ihnen die Bürgerinnen und Bürger auf Rügen
nicht durchgehen lassen. Sie werden nicht verhindern
können, was Sie verhindern wollen.
({22})
Ich will eine letzte Bemerkung zum Antrag der
CDU/CSU machen. Sie konnten es wiederum mehrfach
nicht unterlassen, die DDR und das nationalsozialistische
Regime gleichzusetzen. Dafür erfinden Sie das Wort von
der Erinnerungskultur. Ich will Ihnen dazu sagen: Die
PDS geht, wie aktuelle Debatten hinreichend belegen,
wahrlich kritisch und selbstkritisch mit ihrer Verantwortung für die DDR um. Sie tritt auch für eine Opferentschädigung ein.
({23})
Aber eines muss auch für Sie klar sein: Demokratische
Sozialistinnen und Sozialisten im Deutschen Bundestag
werden es niemals hinnehmen, dass das Nazi-Regime und
die DDR - von wem auch immer - auf eine Stufe gestellt
werden.
Danke.
({24})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Siegfried Scheffler.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Werter Kollege Nooke,
mich wundert schon, dass Sie als erster Redner in dieser
Debatte zum Stand der deutschen Einheit die Zeit von
1990 bis 1998, in der Sie an der Regierung waren, ausblenden. Sie blenden beispielsweise völlig aus, auf welcher Basis die neue Bundesregierung 1998 mit ihrer Arbeit beginnen musste. Sie lassen, wie auch in Ihrem
Antrag, die immense Staatsverschuldung in Höhe von
1,4 Billionen DM völlig außer Acht. Früher habe ich immer gedacht, so etwas wie Wunsch und Wolke seien nur
in den Anträgen der PDS zu finden. Bei Ihnen ist das teilweise noch schlimmer. Sie sprechen von einem zusätzlichen 400-Milliarden-DM-Programm: jährlich 40 Milliarden DM. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber spricht
von einem Familienlastenausgleich in Höhe von 60 Milliarden DM. Ihr Fraktionsvorsitzender, Kollege Merz,
spricht von einem Modell, das vorsieht, Steuern in Höhe
von 40 Milliarden DM zu senken. Mich wundert das
schon ein bisschen.
({0})
- Noch mehr? - Wenn Sie die Regierung übernähmen was sich keiner wünscht -, stiege die jährliche Neuverschuldung erneut, nämlich um circa 80 Milliarden DM.
Ihnen ist bekannt, dass sich Finanzminister Eichel, der
Bundeskanzler, die Bundesregierung und die Koalitionsparteien das anspruchsvolle Ziel gesetzt haben, die Nettoneuverschuldung bis zum Jahre 2006 auf null zurückzuführen. Genauso unseriös, wie Sie bis 1998 Infrastrukturpolitik betrieben haben, so unseriös sind auch Ihre
neuen Vorschläge - soweit das, was Sie vorgetragen haben, überhaupt Vorschläge enthielt.
({1})
Eines ist natürlich klar - darin sind wir uns einig -: Die
finanziellen Anstrengungen für den Ausbau der Infrastruktur werden auch in den nächsten zehn, 15 Jahren
immense Lasten mit sich bringen. Es sind gewaltige Anstrengungen - das ist der Unterschied -, die die neuen und
die alten Länder in Deutschland gemeinsam - im Konsens
oder zumindest aufeinander abgestimmt - schultern müssen.
Ich unterstelle Ihnen einmal, dass Sie in den vergangenen Jahren nicht nur in den neuen Ländern unterwegs waren, sondern dass Sie auch mit den Verantwortlichen in
Bayern und Baden-Württemberg gesprochen haben. Vielleicht haben Sie sich auch mit dem jetzigen hessischen
Verkehrsminister unterhalten. Können Sie sich erinnern,
wie die Reaktion war, wenn immer neue Forderungen gestellt wurden? Noch nicht einmal in Bezug auf das, was
Staatsminister Schwanitz vorhin über die Vereinbarung
des Bundeskanzlers mit den ostdeutschen Ministerpräsidenten vorgetragen hat, gibt es mit den von mir genannten Regierungen der alten Länder einen entsprechenden
Konsens.
({2})
Dort sagt man: Jetzt ist Schluss mit lustig; zehn Jahre nach
der deutschen Einheit müssen einmal die Schlaglöcher in
Bayern, in Baden-Württemberg oder in Hessen geflickt
werden und muss die fehlende Infrastruktur ergänzt werden.
Wenn Sie darauf hinweisen, dass ein erheblicher Infrastrukturstau aufgelöst werden muss, dann sage ich Ihnen:
Sie haben mich und natürlich auch die Bundesregierung
auf Ihrer Seite. Es kommt also nicht von ungefähr, dass ab
dem Jahre 2005 für etwa 15 Jahre erhebliche Mittel investiert werden.
Aber: Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn wir
zukünftig immer größere Summen von A nach B schieben, wenn wir ständig einen Wettlauf um mehr Geld veranstalten. Damit ist weder uns in diesem Hause noch den
Menschen außerhalb geholfen. Dagegen ist es eine Hilfe
- in unseren Beratungsunterlagen kommt das entsprechend zum Ausdruck -, wenn die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nachhaltig vorangetrieben wird.
({3})
Wir regen konkrete Maßnahmen im Bereich der Infrastruktur an; es geht nicht nur um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, sondern auch um den Ausbau von
Schulen und des Wohnumfelds.
Natürlich ist in den letzten Jahren - zu Zeiten Ihrer Regierung, das sage ich ausdrücklich, aber insbesondere
nach der Regierungsübernahme - an den verschiedenen
Standorten viel getan worden. Kollegin Pieper und Staatsminister Schwanitz haben darauf zu Recht hingewiesen.
Aber durch die verstärkte Förderung im Infrastrukturbereich in den letzten zwei Jahren ist der Investitionsstau
schon jetzt erheblich abgebaut worden. Insofern haben
der pauschale Vergleich Ostdeutschlands mit Westdeutschland und das Verteilen nach dem Gießkannenprinzip überhaupt nicht geholfen. Kollege Schulz hat die
Investitionspauschale konkret angesprochen. Der Vergleich in Bezug auf Westdeutschland oder den internationalen Wettbewerb ist für die Menschen in den neuen Bundesländern überhaupt nicht hilfreich.
Denn Förderpolitik Ost vollzieht sich natürlich auf
vielen Ebenen und mit verschiedenen Prioritäten. Peter
Eckardt wird nachher auf die Problemfelder Wissenschaft, Forschung und Technik eingehen, in denen wir seit
1998 - ich könnte hier einige Beispiele aus dem Ostteil
Berlins oder auch aus den Regionen Sachsen/Thüringen
oder Mecklenburg-Vorpommern nennen, auch aus dem
Bereich der Telekommunikation - schon erhebliche Fortschritte erzielt haben. Trotz Abbau von ABM, SAM und
LKZ - das wurde schon angesprochen - wurde die Arbeitslosigkeit insgesamt erheblich verringert.
Ich darf im Übrigen daran erinnern, Kollege Nooke,
dass der Verkehrshaushalt trotz Haushaltskonsolidierung der mit Abstand größte Investitionshaushalt des
Bundes ist. Rund 39 Prozent der gesamten investiven
Ausgaben betreffen Investitionen im Verkehrsbereich, ob
nun Straße, Schiene oder Wasserweg. Staatsminister
Schwanitz hat auf die Prioritäten hingewiesen. Ich sage
Ihnen ganz deutlich: In den letzten zwei Jahren gab es in
den Verhandlungen mit den Ländern, ob unter Minister
Müntefering, Minister Klimmt oder jetzt Minister
Bodewig,
({4})
ob mit den alten oder den neuen Ländern, für eine weitere
Erhöhung über die 60 Prozent für die neuen Länder hinaus
überhaupt keine Akzeptanz. Das wissen Sie natürlich
ganz genau, weil Sie ebenso wie die F.D.P. den Straßenbau in den Vordergrund Ihres Antrages gestellt haben.
({5})
Trotzdem hat diese Bundesregierung das geschultert. Sie
wissen natürlich, dass der Investitionshaushalt für den
Straßenbau in diesem und insbesondere im nächsten Jahr
der höchste überhaupt nach 1990 war. Zu keiner Zeit hat
Ihr Haushalt hier wirklich geglänzt, ob bei Wissmann oder
bei Krause, der ja durch andere Dinge in den letzten Tagen wieder in der Zeitung erwähnt wurde. Geglänzt haben
Sie in Ihrem Verkehrshaushalt mit einem unseriösen, erheblich unterfinanzierten Bundesverkehrswegeplan. Mit
dieser Erblast von minus 80 bis 100 Milliarden DM müssen wir seit 1998 umgehen.
({6})
Dazu braucht man dann überhaupt nichts mehr zu sagen.
({7})
Die Bundesregierung bedient sich unkonventioneller
Mittel, was Sie bis 1998 überhaupt nicht fertig gebracht
haben. Ich erinnere nur an die streckenbezogene LKWGebühr, die wir ab 2003 einführen, oder an die zusätzlichen Mittel, die wir durch die Zinseinsparung aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen erhalten. Aus all diesen
Dingen wird sichtbar, dass in der Prioritätenliste der
Bundesregierung der Verkehrshaushalt an erster Stelle
steht, natürlich prioritär in den neuen Ländern. Das gilt
auch noch für den Bereich Bildung und Forschung.
Als weiteres Beispiel möchte ich die EU-Osterweiterung nennen, weil das Stichwort heute schon des Öfteren
gefallen ist.
Denken Sie mit
Ihrem weiteren Beispiel aber auch an die Zeit.
Ich erinnere nur an das
EFRE-Sonderprogramm, das gerade in den letzten Tagen von der Europäischen Union bestätigt wurde. Wo waren Sie denn? Bis 1998 hätten Sie dieses EFRE-Programm doch auch auflegen können. Die neue Bundesregierung hat hier innovativ und kreativ neue Finanzierungsquellen erschlossen, von denen gerade die neuen
Länder von Rostock bis Zittau in erheblichem Maße profitieren.
({0})
Gleiches gilt - auch da könnte ich Beispiele aufzeigen für den Bausektor.
Herr Kollege,
jetzt muss ich Sie doch ermahnen, zum Schluss zu kommen.
Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. - Kollege Nooke, Sie und Ihre Fraktion waren es
doch, die 1999 die KfW-Mittel auslaufen lassen wollten.
Die neue Regierung hat die Mittel nicht nur verstetigt,
sondern erhöht. Insofern kam von Ihnen nicht viel Neues.
({0})
Das, was in den nächsten 15 Jahren getan werden muss,
wird heute auf den Weg gebracht.
({1})
Das Wort hat die
Abgeordnete Katherina Reiche.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen nahm ich
an einer Veranstaltung zu dem Thema „Berlin-Brandenburg im Jahr 2011“ teil. Zu Beginn der Veranstaltung
wurden fiktive Nachrichten vorgelesen, wie sie vielleicht
im Jahr 2011 aussehen könnten: „Der Flughafen Berlin
Brandenburg International ist noch immer nicht ausgebaut“; „Das Zukunftsprojekt Transrapid ist gebaut, aber
nicht als Hauptstadtanbindung, sondern zwischen München und Prag“; „Die Einwohnerzahl der neuen Länder
hat sich im Vergleich zu 1990 halbiert“.
Dieses Szenario ist zum Glück nur fiktiv. Trotzdem
wird die Politik nicht aus ihrer Pflicht entlassen werden,
solchen Entwicklungen mit aller Kraft entgegenzuwirken.
Dazu sind immer wieder neue Ideen und kreative Konzepte gefordert, die Wege eröffnen. Dies gilt in besonderem Maße für die neuen Länder.
({0})
Es ist viel erreicht worden, dank der Aufbauleistung der
Menschen in den neuen Ländern, aber auch dank der Solidarität der Menschen in den alten Ländern. Dennoch
verlangen die neuen Länder weiterhin besondere Aufmerksamkeit. Dies ist der Kern unseres Antrages.
Eines der Kernprobleme besteht in der nach wie vor
starken Abwanderung, besonders der jungen qualifizierten und motivierten Menschen. Die Zahlen sprechen eine
deutliche Sprache. Seit 1990 haben über 1 Million Menschen den Osten verlassen. Die Abwanderungsbewegung
nahm Mitte der 90er-Jahre ab; seit 1998 ist sie wieder
sprunghaft angestiegen.
({1})
Der negative Wanderungssaldo lag 1999 bei 44 000 Menschen, die von Ost nach West gegangen sind. Eine Besserung ist bislang leider nicht zu verzeichnen.
Nun mag es falsch sein, die Abwanderung zu dramatisieren; denn wir haben die berechtigte Hoffnung, dass ein
Teil der jungen Leute zurückkommt. Aber was Ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende Frau Gleicke im Magazin „Wirtschaft & Markt“ äußert, ist dann doch hanebüchen. Sie schreibt: „Pure Illusion ist die Annahme, dass
alle jungen Leute in absehbarer Zeit den Arbeitsplatz ihrer Wahl am eigenen Heimatort finden können.“ - Ich
frage mich: Wo bleibt denn Ihr politischer Anspruch, dies
zu ändern?
Sie schreibt weiterhin: „Liebe Eltern, seid stolz auf
eure Kinder, wenn sie den Mut finden, ihr Glück in der
Ferne zu suchen. Sie brauchen Hilfe und Unterstützung;
wir wollen doch, dass sie es zu etwas bringen.“
Sie äußern dann Ihre Hoffnung, dass sie auch wiederkommen, und schreiben: „Wenn nicht, dann kommen
eben andere junge Leute. Wir sind doch ein Volk in einem
gemeinsamen Land.“ - Ich weiß nicht, woher diese Leute
kommen sollen; ich finde diese Ansichten wirklich naiv.
({2})
Gerade die Folgen der Abwanderung geben zusätzlich
Anlass zur Sorge, nämlich der zunehmende Wohnungsleerstand und der Mangel an Fachkräften, die wir in Ostdeutschland dringend brauchen.
Wenn man sich heute noch einmal die Worte des Kanzlers in Erinnerung ruft, er wolle den Aufbau Ost zur Chefsache machen, kann man nur feststellen, dass dies Wahlkampfrhetorik war und dass außer Spesen nicht viel
gewesen ist.
({3})
Die Ankündigungen sind von den Menschen jedoch sehr
wohl gehört worden und viele haben Hoffnungen in diese
Worte gesetzt. Sie aber lassen vielen Worten nur wenige
Taten folgen. Der Vertrauensverlust - diese Worte muss
sich der Bundeskanzler gefallen lassen - lässt sich auch
nicht damit ausgleichen, dass er im Sommer durch die
neuen Länder tourt. Stattdessen kommt es darauf an, dass
die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzt. Diese
Rahmenbedingungen haben wir in unserem Antrag ganz
klar beschrieben.
Lassen Sie mich etwas zur Ausbildungssituation in
den neuen Ländern sagen. Im vergangenen Jahr ist die Anzahl der Ausbildungsverträge um 7,8 Prozent zurückgegangen, im Bereich des Handwerks sogar um 12,3 Prozent. Auch hier haben die vollmundigen Ankündigungen
der Bundesregierung bislang nicht viel bewirken können.
Das Vorzeigeprojekt JUMP hat sich als wenig effektiv erwiesen. So ist von 770 000 Jugendlichen lediglich die
Hälfte in eine Ausbildung gekommen und nur ein ganz geringer Teil hat die Chance, im ersten Arbeitsmarkt einen
Job zu finden.
Der von der Bundesregierung selbst gesetzte Bewertungsmaßstab hinsichtlich ihrer Arbeit - die spürbare Reduzierung der Arbeitslosigkeit - ergibt im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit ein ganz besonders negatives Ergebnis. Weitaus bedauerlicher aber ist es, wenn der Bundeskanzler ein von Jugendlichen gewünschtes Gespräch
über ihre persönliche Ausbildungssituation mit der Begründung ablehnt, er sei ausgepfiffen worden.
Wenn der Herr Bundeskanzler zur Jobparade nach
Schwerin fährt, dann muss er sich schon den einen oder
anderen kritischen Kommentar gefallen lassen. Und der
fällt eben bei jungen Leuten manchmal ruppiger aus.
({4})
Aber statt das Gespräch zu suchen, hat er die Jugendlichen
mit einer arroganten Attitüde abgewiesen und ist einfach
gegangen. Das war eine echt blamable Vorstellung.
Ein weiteres Thema, das unserem Antrag zugrunde
liegt, ist die Erweiterung der Europäischen Union.
Wenn die EU in absehbarer Zeit erweitert wird, dann liegt
Ostdeutschland im Herzen Europas. Allerdings müssen
die jetzigen Grenzregionen auch auf ihre veränderte geopolitische Lage vorbereitet werden. Vorschläge kommen
jedoch nicht etwa aus Berlin, sondern aus den neuen Ländern und aus Brüssel. So war es die Europäische Kommission, die einen Aktionsplan für die deutsche Grenzregion vorgeschlagen hat. Kern dieses Aktionsplanes ist der
Ausbau von Schienen und Straßen, was unbedingte Priorität erhalten muss. Dies sagen auch wir deutlich in unserem Antrag.
Die Osterweiterung wird aber eben nur Erfolg haben,
wenn die Menschen informiert sind und von den zu erwartenden Vorteilen überzeugt werden. Ängste und Vorbehalte der Menschen muss man ernst nehmen. Man kann
nicht über sie hinweggehen.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheffler?
Ich würde ganz gern
fortfahren. - Schon heute ist zu erkennen, dass die mit der
Osterweiterung verbundene Vergrößerung des Binnenmarktes zu wirtschaftlichen Vorteilen führen wird, sowohl
in Ostdeutschland als auch in den Erweiterungsgebieten.
Der größere Binnenmarkt wird den Unternehmen weitere
Arbeitsplätze eröffnen. Nur kommt es jetzt eben darauf
an, angemessene Übergangsfristen zu finden, die den
Interessen diesseits und jenseits der Oder Rechnung tragen.
Herr Bundeskanzler - er ist nicht mehr da, ich wünschte, er wäre da -, es reicht nicht, Ostdeutschland medienwirksam zu bereisen oder nach elf Jahren die ostdeutsche
Verwandtschaft wiederzuentdecken.
({0})
Der zuständige Staatsminister für die Angelegenheiten
der neuen Länder spielt in der Öffentlichkeit keine Rolle,
weder bei politischen Entscheidungen noch in der öffentlichen Wahrnehmung. Er muss sich sogar seinen Abgesang in aller Öffentlichkeit gefallen lassen - das tut mir
schon fast wieder Leid -, gerüchteweise ist der Oberbürgermeister aus Potsdam, Matthias Platzeck, als Nachfolger im Gespräch.
({1})
Das gäbe mit dem neuen SPD-Hoffnungsträger Ost dann
allenfalls wieder nette Bilder mit freundlichen Menschen.
Nur, alter Wein wird in neuen Schläuchen auch nicht besser. Was wir brauchen, ist eine kluge Politik mit Herzblut
für Ostdeutschland.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Eckardt.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: Ich
finde es natürlich gut, dass ich heute bei dieser Debatte reden darf, als jemand, der den größten Teil seines Lebens
in Westdeutschland verbracht hat, dort sozialisiert wurde
und sich für dieses Thema interessiert hat. Aber ich hätte
es auch gut gefunden, wenn zu den Entwürfen, die Sie
„Deutschland 2015“ nennen - Werner Schulz hat ja schon
gesagt, was der Antrag sprachlich und inhaltlich wert ist -,
nicht nur jemand wie Sie, Herr Nooke, sondern auch Ihre
Parteivorsitzende oder Ihr Fraktionsvorsitzender eine
Rede gehalten hätte, statt die Darstellung von Gegenentwürfen auf eine Kurzintervention zu verschieben. Das
hätte ich als jemand, der das immer mit Interesse beobachtet, ganz gut gefunden.
({0})
- Der Herr Staatsminister hat das ganz gut gemacht, denke
ich.
({1})
- Jawohl, Herr Nooke! Da ich Sie ja aus dem Ausschuss
für Angelegenheiten der neuen Länder kenne, weiß ich,
wie das mit Ihren Anträgen nervt: Berichterstattungen
über die Förderung eines jeden Pflastersteines in jedem
brandenburgischen Dorf! Ich hätte erwartet, dass wenigstens in diesem Antrag „Deutschland 2015“ etwas Übergreifendes, Richtungweisendes steht.
Als jemand, der das als Westdeutscher beobachtet hat,
muss ich feststellen: Die neuen Länder, über deren Entwicklung wir heute hier im Hause diskutieren, befinden
sich elf Jahre nach der deutschen Einheit in vielen Regionen und Branchen in einem viel versprechenden, aber
- wie man weiß - noch nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozess. Dies gilt auch für Wissenschaft und Forschung.
Natürlich gab es schon - beginnend 1990 - Fortschritte
auf vielen Gebieten und in vielen Regionen. Das ist nicht
zu bestreiten. Aber schon vor Jahren konnte eigentlich
klar sein: Neben der Entwicklung der Infrastruktur, auf
die schon mein Kollege Scheffler hingewiesen hat, wird
in den neuen Ländern die verstärkte Förderung von Innovationen und die der Wettbewerbsfähigkeit nur über Wissenschaft und Forschung erfolgreich sein. Die flächendeckende, nicht gezielte und pauschale Förderung aus
früheren Zeiten, wie wir sie seit fast einem Jahrzehnt kennen, wird es nicht schaffen, den Aufschwung Ost zu vollenden.
Den Hochschulen und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie ihrer Vernetzung und Kooperation mit der Wirtschaft, besonders mit der mittelständischen, kommt für die Wettbewerbsfähigkeit und die
Arbeitsplatzentwicklung in Ostdeutschland eine Schlüsselrolle zu. Zunehmend tragen individuelle Kompetenz,
Wissen, Kreativität, Selbstständigkeit, Kommunikationsstrukturen - die derzeit unterentwickelt sind -, die Zusammenarbeit und Eigeninitiative zum wirtschaftlichen
Erfolg in der technischen Produktion und in den Dienstleistungen bei.
Manche Illusionen wären den Menschen in den neuen
Ländern erspart geblieben, hätte die CDU/CSU manche
ihrer heutigen Forderungen nicht nur früher gestellt - so
wie sie das jetzt in ihrer Anfrage zur konzertierten Förderpolitik für Ostdeutschland tut -, sondern auch realisiert. Ich denke, die Opposition versucht heute, zu suggerieren, erst mit dem Regierungswechsel 1998 habe sich
die Entwicklung in den neuen Ländern verschlechtert. Einige von Ihnen wissen, dass ich aus einer Region komme,
die an der Nahtstelle zwischen den neuen und den alten
Ländern seit zehn Jahren die Probleme hautnah erlebt und
in der man weiß, dass die Förderung des Aufbaus Ost auch
Akzeptanz im Westen benötigt. Denn der Erfolg in den
neuen Ländern hängt wesentlich auch von den Menschen
in den alten Ländern ab.
Gerade Wissenschaft und Forschung gedeihen nur in
der Kooperation zwischen Ost und West und dem Ausland. Das akademische Leben an den Universitäten und
Fachhochschulen hängt sehr stark davon ab, dass dort
Menschen aus allen Teilen Deutschlands und dem Ausland lehren, forschen und studieren. Hier müssen ostdeutsche Universitäten und Fachhochschulen noch mehr
Werbung machen, um sich und ihre zum Teil exzellenten
Angebote zu präsentieren.
({2})
Ohne eine neue und vor allen Dingen qualitative Politik des Aufbaus Ost ist ein nachhaltiger Erfolg nicht oder
nur langsam zu erreichen. Ich habe nach der Lektüre des
vorliegenden CDU/CSU-Antrages und der Großen Anfrage der CDU/CSU den Eindruck, dass immer noch die
alte Politik betrieben wird, dass man immer noch das Alte
- wenn auch mit neuen Worten - fordert: Verteilung der
Fördergelder, möglichst viel für den eigenen Wahlkreis,
ohne Blick für die neuen Notwendigkeiten einer gezielten
Förderung unterschiedlicher Regionen und Bereiche, die
auch einmal nicht den eigenen Wahlkreis betreffen können.
Sie können sich ja einmal die Mühe machen, in der
Großen Anfrage der CDU/CSU die Wörter „Forschung“
und „Wissenschaft“ zu suchen. Sie werden sie nicht finden. Dafür finden Sie aber die Begriffe Förderebenen,
Förderprogramme, Fördertöpfe, Förderung, Wirtschaftsförderung, Förderquellen, Förderkonzepte, Förderstellen,
Förderkompetenz, Förderpolitik und Fördervolumina in
großer Menge. Die Wörter „Wissenschaft“ und „Forschung“, die zentralen Inhalte und Ziele einer neuen qualitativ erfolgreichen Ostpolitik, kommen auch im Antrag
der CDU/CSU „Deutschland 2015“ kaum vor. Auf den
Seiten 6 und 7 werden diese Begriffe spärlich und ohne jeden Zusammenhang benutzt.
Das Leitbild Ost wird dann aber auf drei Seiten mit
konservativer Bildungspolitik gefüllt: Kopfnoten, bilinguale Angebote und achtjährige gymnasiale Bildungsgänge sollen verpflichtend sein und dann endlich den Aufbau Ost schaffen. Welche Naivität und welcher Eingriff in
die föderalen Kompetenzen!
Die Große Anfrage und der Antrag der CDU/CSU bestätigen: Nach acht Jahren CDU/CSU-Politik in der Ostförderung musste die Bundesregierung im September
1998 einen Strategiewechsel vollziehen, um dem Aufbau
Ost neuen Schwung zu geben.
({3})
Dieser Strategiewechsel ist gelungen und verspricht erfolgreich zu sein. Einige wenige Zahlen aus dem Bereich
Wissenschaft und Forschung: Im Bundeshaushalt 2001
werden 8,2 Prozent mehr Mittel in Bildung und Forschung investiert als 1998. Von diesen Mitteln profitieren
ostdeutsche Einrichtungen der Wissenschaft und Forschung in hohem Maße. Für die Förderung von Innovation, Forschung und Entwicklung stehen jährlich mehr als
3 Milliarden DM zur Verfügung. Ich könnte noch weitere
Zahlen nennen. So standen zum Beispiel für die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau etwa 30 Prozent aller Mittel bereit.
({4})
- Herr Kollege Nooke, die Intelligenz eines sozialdemokratischen Abgeordneten reicht aus, ein paar Zahlen und
Begriffe in den Zusammenhang zu bringen, und zwar besser, als Sie das in Ihrem Antrag gemacht haben.
({5})
Hätte ich eine Rede mit hohem Unterhaltungswert halten wollen, hätte ich Werner Schulz in der Interpretation
Ihres Antrages sprachlich und inhaltlich erheblich überboten.
({6})
Das habe ich mich hier nicht getraut und deshalb nicht gemacht.
({7})
Wir reden im Ausschuss noch einmal darüber, wie das intelligent aussehen könnte.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Ja.
Herr
Kollege, könnten Sie uns einmal erklären, warum der
Bundestagspräsident in letzter Zeit permanent von den
Ostdebatten fern gehalten wird?
({0})
Das kann ich Ihnen, Herr
Kollege, nicht erklären, weil ich an diesen Entscheidungen nicht beteiligt bin.
({0})
- Ich nicht. Ich denke, dass Sie auf einen bestimmten Begriff rekurrieren, der in der öffentlichen Debatte eine
große Rolle gespielt hat, der - vorsichtig ausgedrückt unglücklich war und auch die Situation nicht korrekt beschrieben hat. Aber da er in der gesamten Presse und in
100 Presseerklärungen der CDU nun 500-mal behandelt
worden ist, müsste jetzt eigentlich Schluss damit sein. Einigen wir uns darauf: Die Wahl der Begrifflichkeit von
Herrn Thierse über die Frage, was nun in Ostdeutschland
vor sich geht und was nicht, ist nicht das Wichtigste. Ich
habe mich davon distanziert und jetzt ist Ende.
({1})
- Der Begriff „Kippe“ lässt sich sprachlich erheblich variieren, von Müll bis Kinderspielplatz. Er ist nicht geeignet,
einen sozial relevanten Zusammenhang der Entwicklung
eines Landes ausreichend zu beschreiben.
({2})
Das wissen auch Sie ganz genau. Kritik ist okay - einmal,
zweimal oder dreimal -, aber dann muss es das gewesen
sein.
({3})
- Das weiß ich nicht. Fragen Sie ihn doch!
({4})
- Herr Nooke, wir kennen uns nun schon drei Jahre,
({5})
aber ich komme immer mehr zu der Einsicht, dass ich mit
Ihren Interpretationen der sozialen Wirklichkeit im Wesentlichen nicht übereinstimme.
Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, dann hätte ich die
entsprechenden Zahlen vortragen können, aber die vorhin
genannten Stichworte zeigen: Wissenschaft und Forschung entscheiden über die Chancen Deutschlands im
internationalen Wettbewerb. Sie entscheiden auch über
die Frage, wie schnell und gut sich Ost und West sozialwirtschaftlich angleichen. Wir hätten reden müssen über
das Jugend-Sofortprogramm JUMP, die BAföG-Erhöhungen dieser Koalition und weitere Maßnahmen, die
den Menschen in den ostdeutschen Ländern helfen, ihr
zum Teil schweres Schicksal zu bewältigen.
({6})
Ich bin im Westen Deutschlands aufgewachsen und
werbe überall dort, wo ich hin komme - ich glaube, so gut
kennen wir uns -, auch dafür, dass wir die Chancen für
Ostdeutschland als gemeinsame politische Aufgabe von
Ost und West begreifen
({7})
und natürlich auch Erfolg als unseren gemeinsamen Erfolg ansehen.
Danke.
({8})
Jetzt hat der Abgeordnete Michael Luther das Wort.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich am Anfang formulieren: Der Aufbau Ost ist und
bleibt eine deutsche Erfolgsgeschichte und darauf können
wir als Deutsche stolz sein.
({0})
Wir können stolz sein auf den Aufbauprozess, auf die
Leistungen der Menschen in den neuen Ländern, auf die
Leistungen der Politik, auch auf die solidarischen Leistungen der Menschen aus den alten Bundesländern.
({1})
Wir können auch auf das stolz sein, was dem vorangegangen ist, nämlich eine friedliche Herbstrevolution - etwas Einmaliges in dieser Welt.
({2})
Ich finde es richtig, dass darauf insbesondere im Bericht
der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit
verwiesen wird.
Schlecht ist allerdings - das will ich an dieser Stelle
sagen -, dass die Bundesregierung nicht die Größe hat, die
ganze Wahrheit auszusprechen. So wird zwar zum
Jahr 1989 wörtlich Willy Brandt zitiert, der festgestellt
hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“,
aber sonst niemand. Ich verstehe ja, dass Sie Ihre damaligen Vorderen Lafontaine und Schröder, die gegen die
deutsche Einheit waren und sich heute dafür schämen
müssen, nicht erwähnen. Zur Vollständigkeit gehört aber,
dass damals Helmut Kohl die Chance ergriffen und die
deutsche Einheit staatlich gestaltet hat.
({3})
Der Bericht zum Stand der deutschen Einheit ist mit
der rot-grünen Brille geschrieben worden; das wird ganz
deutlich. Ich warne deshalb jeden, der diesen Bericht liest,
dies mit äußerster Vorsicht zu tun. Das Strickmuster ist
einfach - ich möchte dies ähnlich ausdrücken, wie Sie es
gesagt haben, Herr Schulz -: Die Erfolge, die bis 1998 geleistet worden sind, konnten Sie in diesem Bericht zwar
nicht verschweigen; aber Sie weisen in epischer Breite auf
eine Vielzahl von Defiziten hin. Anschließend, nach 1998,
beginnt nach Meinung von Rot-Grün das goldene Zeitalter des Aufbau Ost, der Chefsache. - Allein: Die Menschen haben die Nase voll von dem, was sie in Sachen
Aufbau Ost seitens Rot-Grün seit 1998 erlebt haben. Sie
haben den Aufbau Ost in den letzten zweieinhalb Jahren
sträflichst vernachlässigt. Ich meine, das muss sich ändern.
({4})
Der Osten steht nicht auf der Kippe; er braucht neue
Impulse.
({5})
Ich habe das Gefühl, dass das, was Thierse zu Anfang dieses Jahres beschrieben hat, nicht die Situation in den
neuen Bundesländern ist, sondern der geistige Zustand
der SPD-Fraktion bzw. im Bundeskanzleramt. Es zeigt
sich ganz deutlich, dass die damalige Debatte zum Aufbau
Ost, auch wenn sie heute fortgeführt würde, niemandem
nutzt.
Die Lage in den neuen Bundesländern ist nicht einfach.
Ich will die Stimmung wie folgt beschreiben: Die Bürger
in den neuen Bundesländern bewegt die hohe Arbeitslosigkeit. Sie bewegt das Gefühl, dass sie keine Perspektive
haben, aus dieser Arbeitslosigkeit herauszukommen; dies
hat sich seit 1998 dramatisch verschlechtert. Sie bewegt
aber auch die Tatsache - jede Oma und jede Mutter verspürt dies -, dass ihre Kinder, dass die jungen Leute in die
alten Bundesländer abwandern. - Woran liegt das? Für
meine Begriffe ist dies im Kern das Ergebnis der Politik
von Schröder, der den Aufbau Ost als Chefsache betrachtet. Schröder hat kein Herz für die neuen Bundesländer
und deshalb entstand diese Hoffnungslosigkeit.
({6})
Wir von der Union sehen das anders und fordern daher
Handlungsbedarf durch die Politik ein. Wir sind der
Meinung, dass durch politisches Engagement in der Vergangenheit viel erreicht worden ist und dass die neuen
Bundesländer jetzt erneut einen Impuls, politisches Engagement, brauchen. Die neuen Bundesländer brauchen
Visionen. Wir haben uns einmal die Mühe gemacht, diese
in unserem Antrag „Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes Deutschland“ aufzuführen.
({7})
Wir sind uns in diesem Hause diesbezüglich in vielen
Fragen einig. Ein wichtiges Element für die Fortsetzung
des Aufbaus Ost ist der Solidarpakt. Ich finde es
lobenswert, dass sich die neuen Bundesländer parteiübergreifend aufgemacht haben und insofern in Vorleistung
getreten sind, als sie die renommierten deutschen Wirtschaftsinstitute beauftragt haben, festzustellen, wie der
Bedarf nach 2004 aussieht. Das Ergebnis ist uns allen bekannt: Die Institute haben im Infrastrukturbereich einen
Nachholebedarf von 300 Milliarden DM und für den
Ausgleich des kommunalen Defizits jährlich 10 Milliarden DM ermittelt.
Die Aussage, dass der Solidarpakt fortgesetzt werden
soll - in diesem Wunsch sind wir, die Länder und auch wir
in diesem Hause, uns wohl einig -, war ein gewisses Aufbruchsignal. Aber nach dem, was wir in den letzten
Wochen in den Zeitungen lesen mussten, dass sich der
Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten aus Ostdeutschland zusammengesetzt und Leistungen im Rahmen des Solidarpaktes abgestimmt - Bernhard Vogel hat
gesagt: „ausgekungelt“ - hat, die den aufgestellten Forderungen der Wirtschaftsinstitute nicht mehr entsprechen, ist ein wichtiges und positives Signal wieder einmal
ins Negative verkehrt worden.
({8})
Das, was als Ergebnis herausgekommen ist, entspricht
nicht dem, was als notwendig erklärt worden ist. Damit
bleibt der Aufbau Ost für Bundeskanzler Schröder das,
was er seit 1998 ist: Nebensache!
({9})
Zu Recht beschweren sich - ich nenne Zahlen, die ich in
Zeitungen gelesen habe - die Ministerpräsidenten aus den
neuen Bundesländern, dass die Summe von 200 Milliarden DM, die für die nächsten 15 Jahre vorgeschlagen
worden ist, zu niedrig ist.
({10})
Ministerpräsident Höppner aus Sachsen-Anhalt erklärt,
dass die vorgeschlagene Summe nur 40 Prozent des Notwendigen abdeckt.
({11})
Ich will das nicht in aller Breite unterstützen, aber es zeigt,
in welche Richtung es geht. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass der Solidarpakt über weitere zehn Jahre
fortgesetzt werden muss, und zwar dort, wo er heute ist,
mit den Mitteln, die heute zur Verfügung stehen.
({12})
Es geht beim Aufbau Ost jedoch nicht allein ums Geld.
Es geht auch um politische Initiativen. Ich will Ihnen einmal ein positives Beispiel aus der Vergangenheit nennen:
die Einkaufsinitiative Ost.
({13})
Das ist eine politische Begleitung des Solidarpakts gewesen. Ich kann Ihnen eine Vielzahl von Firmen aus meinem
Wahlkreis zeigen, die heute nur deshalb existieren, expandieren und auf den internationalen Märkten agieren,
weil ihre ersten Aufträge aus dieser Einkaufsinitiative resultierten.
({14})
Ich meine, es wäre ein richtiger Schritt, wenn der Bundeskanzler die deutsche Wirtschaft an seinen Tisch riefe
und diese Einkaufsinitiative wiederbelebte. Das wäre
wahrhaftig eine Tat im Sinne der Chefsache Aufbau Ost.
Er könnte sich auch für die Ansiedlung von industriellen
Kernen einsetzen, so wie das in der Vergangenheit geschehen ist.
Frau Merkel hat es bereits deutlich gesagt: Beim A3XX
haben Sie versagt. Weitere Projekte haben Sie nicht vor.
Wenn wir beim Aufbau Ost vorankommen wollen, dann
müssen Sie erfolgreiche Initiativen auf den Weg bringen.
Ich wünsche mir, dass wir so etwas in diesem Haus gemeinsam angehen. Sie jedoch machen nichts. Der Bundeskanzler fährt auf einer Sommerreise durch das Land
und verkündet Wohltaten, die ihm niemand glaubt. Falls
ihn jemand kritisiert - das darf natürlich nicht sein; Frau
Reiche hat dazu ein Beispiel genannt; genügend andere
gibt es aus Sachsen -, dann wird versucht, dies in den Medien herunterzuspielen. Letztlich soll nur Erfolg verkündet werden, auch dann wenn es keinen gibt.
Herr Schwanitz, Sie haben es richtig gesagt: Der Aufbau Ost ist eine Generationenaufgabe. Er ist in einer Generation zu bewältigen. Aber momentan gibt es eine Unterbrechung.
({15})
Als letztem
Redner in der Debatte gebe ich nun dem Abgeordneten
Christian Müller das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Verständnis
dafür, dass es für eine ehemalige Regierungspartei eine
Gratwanderung ist: Sie muss aus heutiger Sicht Politik
machen und gleichzeitig das im Auge zu behalten, was sie
in der Vergangenheit gewollt hat. Insofern ist diese Debatte bemerkenswert: Herr Claus hat Ihnen bestätigt, dass
Sie nun gewissermaßen Forderungen der PDS aufgegriffen haben und damit Ihre eigene Regierungspolitik infrage stellen. Sie sind also tatsächlich in der Opposition
angekommen.
Ansonsten habe ich gehofft, diese Debatte würde ein
bisschen mehr Klarheit bringen, was Ihre etwas unscharfen Bilder betrifft, die Sie in Ihrem Antrag verwenden.
Die Weggabelung hat heute ja schon einmal eine gewisse
Rolle gespielt - ein unzutreffender Begriff, denn er impliziert ja, man sei heute an einem kritischen Punkt angekommen, an dem die Entscheidung gefällt werden müsse,
die richtige Entscheidung werde von der CDU gefällt und
die falsche sei die, die wir letztlich verfolgen. Mit einer
derartig monokausalen und einschichtigen Betrachtungsweise ist dem Prozess, der jetzt seit nunmehr zehn Jahren
läuft, vermutlich überhaupt nicht beizukommen.
({0})
Im Übrigen würde es Ihnen ja vermutlich auch nicht
gefallen, wenn man diese Weggabelungstheorie vielleicht
im Jahre 1996 aufgestellt hätte; denn das hieße ja, dass damals die Weiche falsch gestellt worden ist, als nämlich die
staatliche Nachfrage so erheblich zurückgeführt wurde.
Das kann es ja wohl nicht sein.
Ich werbe doch sehr dafür, dass wir diesen komplexen
Prozess ein wenig differenzierter betrachten. Wenn dazu
noch eine Bemerkung gestattet ist: Ich glaube, der entscheidende Punkt, der letztlich auch die Entwicklung der
letzten zehn Jahre zur Folge hat, war in gewisser Weise
die Einführung der Deutschen Mark in der damaligen
DDR, mit all ihren grandiosen Vorzügen.
({1})
- Was auch immer Sie wünschen! In jedem Fall haben wir
damals die Industriegesellschaft alter Prägung verlassen.
Insofern ist das Leitbild, von dem Sie sprechen, eigentlich
vorgegeben. In dieser postindustriellen Gesellschaft, die
jetzt zu einer wissensbasierten Gesellschaft wird und die
auch eine Dienstleistungsgesellschaft sein muss, finden
wir uns im Osten wieder, und zwar früher als andere,
früher als die Leute aus der alten Bundesrepublik
Deutschland. Insofern ist es auch völlig irrelevant, danach
zu fragen, ob nun das Leitbild Bundesrepublik West das
Leitbild für den Osten sein kann. Diese Frage ist im
Grunde genommen längst von der Realität beantwortet.
Ich komme zu einem zweiten Punkt. Wir erleben eine
Entwicklung, die als eine Transformation, die nicht abgeschlossen ist, zu beschreiben ist. Sie wird auch ständig
neue Impulse erhalten. Heute wurde hin und wieder schon
der Begriff der EU-Osterweiterung erwähnt. Natürlich
ist auch die EU-Osterweiterung ein weiterer wichtiger
Impuls, der dieser Transformation letztlich eine neue
Richtung - oder zumindest veränderte Richtungen - verleihen kann und wird. Daran werden erhebliche Erwartungen geknüpft; auf lange Sicht lässt die zentralere Lage
in Europa eine günstigere Entwicklung erwarten. Dieser
Prozess wird aber auch mit gewissen Risiken verbunden
sein - Risiken, über die wir inzwischen ein wenig mehr
wissen.
Dieser Prozess bedarf also einer Begleitung. Wir werden eine sehr intensive Regionalförderungspolitik
benötigen. Nicht nur die Europäische Union begleitet diesen Prozess, beispielsweise mit dem Kohäsionsbericht.
Dieser gibt sehr tief greifende Empfehlungen und beschreibt als permanente Probleme den Strukturwandel,
die Demographie, die Globalisierung und alle damit verbundenen Fragen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auch
darauf lenken, dass die Bundesregierung - in diesem Fall
das Bundeswirtschaftsministerium - mit einer sehr umfassenden Studie, „Preparity“ genannt, auf einer sehr soliden Grundlage analytisch tätig geworden ist. Inzwischen
liegen also gute Handlungsempfehlungen für diese Begleitung des Integrationsprozesses unserer Nachbarn auf
dem Tisch. Diese sollte man in diese Betrachtung einbeziehen.
({2})
Natürlich hat das alles Folgen für die Regionalpolitik.
Wir werden zusätzliche Spielräume benötigen - darauf ist
bereits in anderen Debatten hingewiesen worden -, weil
wir ja nach dem Jahre 2006, nach dem Auslaufen der EUFörderungsperiode, natürlich veränderte Bedingungen
vorfinden werden. Folglich ist es nur richtig, wenn sich
unsere Bundesregierung im Post-Nizza-Prozess darum
bemüht, dass wir nationale Spielräume behalten oder
zurückgewinnen, die es uns gestatten, unsere eigenen
Disparitäten besser behandeln zu können.
({3})
- Ihre Zwischenbemerkung, Herr Nooke, enttäuscht mich
zutiefst, da zumindest in Ihrem Antrag eine etwas weisere
Erkenntnis enthalten ist. Sie haben darin geschrieben, am
Ende komme es auf eine Schwerpunktsetzung an,
({4})
und zwar bei einer Verstetigung von Mitteln - die wir ja
alle akzeptieren und die auch notwendig ist -, und weniger auf Geld an sich.
({5})
Wir werden im Grunde genommen miteinander einiges
zu tun haben. Sie sollten in diesem Zusammenhang - ich
weise Sie ausdrücklich darauf hin - vielleicht die Antwort
auf die Große Anfrage etwas genauer lesen; denn sie beschreibt den Weg. Man kann die Zuständigkeiten ja beleuchten; man kann feststellen, wer laut Verfassung für
Regionalentwicklung zuständig ist. Es ist eine Aufgabe
der Gemeinden, der Kreise und in besonderer Weise der
Länder. Auch der Europäischen Union fallen nach dem
EG-Vertrag Kompetenzen auf diesem Gebiet zu.
Was Sie möglicherweise überlesen haben könnten: Die
Bundesregierung hat erklärt, dass sie unter dem Eindruck
dieser Entwicklung, die sich mit der EU-Osterweiterung
verschärft, Bund und Länder in einer größeren Verantwortung sieht, zu koordinieren, anzuregen und letztendlich Prozesse vorwärts zu bringen. Wir sind schon mittendrin - Sie haben das möglicherweise ebenso übersehen -:
Wir haben mit den heute bereits erwähnten Projekten im
Zusammenhang mit der Technologieförderung, dem
Inno-Regio-Wettbewerb und den innovativen regionalen
Wachstumskernen als Nachfolge etwas vor uns, was am
Ende nur gelingen kann, wenn wir - darauf ist es angelegt - eine bessere Vernetzung verschiedener raumwirksamer Bundespolitiken zustande bringen.
Genau darin besteht die Arbeit dieser Bundesregierung, die Sie heute gelegentlich polemisch kritisiert haben. Wenn Sie diese Tatsachen ernst nehmen, müssen Sie
zu der Erkenntnis kommen, dass Ihr gesamter Antrag in
seiner merkwürdigen Vielgestaltigkeit an den Realitäten
erheblich vorbeigeht. Diese Bundesregierung gestaltet
diesen Prozess der nächsten Jahre durch eine vernünftige
Wirtschafts- und Technologieförderung; denn das hat
etwas mit einer wissensbasierten Gesellschaft zu tun. Ich
glaube, Sie könnten sich an diese Initiativen anlehnen. Es
wäre besser, wenn Sie in der nächsten Zeit bei der Behandlung Ihrer Anträge in medias res gingen und darüber
nachdächten, was noch besser zu machen ist.
({6})
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6038 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Angelegenheiten der neuen Länder. Der Ausschuss
empfiehlt in Kenntnis des Jahresberichts 2000 der Bun-
desregierung zum Stand der deutschen Einheit die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache
14/6074. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P.
abgelehnt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6066 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a sowie 26 d bis
26 p - es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte - auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Jüdisches Museum Berlin“
- Drucksache 14/6028 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes ({1})
- Drucksache 14/5943 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Rechtsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften
über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten ({3})
- Drucksache 14/5910 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über
den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen
Adoption
- Drucksache 14/5437 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung
von Rechtsfragen auf dem Gebiet der internationalen Adoption und zur Weiterentwicklung
des Adoptionsvermittlungsrechts
- Drucksache 14/6011 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 25. Januar
1996 über die Ausübung von Kinderrechten
- Drucksache 14/5438 Christian Müller ({7})
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Wohnungsbaurechts
- Drucksache 14/5911 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Statistik im Handel und Gastgewerbe
- Drucksache 14/5813 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen von 1995 und 1998 des Basler Übereinkommens vom 22. März 1989 über die Kontrolle
der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung ({11})
- Drucksache 14/5854 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung reiserechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/5944 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Tourismus
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard
Jüttemann, Monika Balt, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Rechtsanspruch auf Sozialtarif für Sprachtelefondienst
- Drucksache 14/5831 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
n) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der
Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2000 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes
({15}) -
- Drucksache 14/5858 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
o) Beratung des Antrags der Präsidentin des
Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2000 - Einzelplan 20 -
- Drucksache 14/5888 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
p) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({16}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung hier: TA-Projekt
„Brennstoffzellen-Technologie“
- Drucksache 14/5054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 i sowie über die Zusatzpunkte 4 a
und 4 b. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Das Wort zu einer persönliche Erklärung zur Abstimmung wünscht der Abgeordnete Dr. Fink. - Er scheint im
Moment nicht anwesend zu sein. Ich gebe ihm später noch
eine Chance, weil wir jetzt erst über den Tagesordnungspunkt 27 a bis 27 i abstimmen.
Tagesordnungspunkt 27 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts und zur Änderung anderer Vorschriften
({18})
- Drucksache 14/4660 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({20})
- Drucksache 14/6029 Berichterstattung:
Abgeordnete Gerd Höfer
Thomas Kossendey
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung auf Euro-Beträge im Lastenausgleich und zur Anpassung der LAG-Vorschriften
({21})
- Drucksache 14/5440 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({23})
- Drucksache 14/5850 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Hagemann
Hartmut Koschyk
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Petra Pau
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({24}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Umsetzung des integrierten Küstenzonenmanagements in Europa KOM ({25}) 545 endg.; Ratsdok.
11322/00
- Drucksachen 14/5172 Nr. 2.73, 14/5632 Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Hartnagel
Helmut Lamp
Marita Sehn
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des Vorschlags
die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses bei Enthaltung des PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({26}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt,
Hildebrecht Braun ({27}), Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Änderung der Anlagen 1 und 3 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
- Drucksachen 14/2365, 14/5791 Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Andreas Schmidt ({28})
Hans-Christian Ströbele
Dr. Evelyn Kenzler
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2365 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 e:
Beratung der zweiten Beschlussempfehlung und
des zweiten Berichts des Ausschusses für Arbeit
und Sozialordnung ({29}) zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung
- Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierungen für den Zeitraum 2001 bis 2006
KOM ({30}) 567 endg., Ratsdok.-Nr.
13537/99
- Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur
Festlegung eines allgemeinen Rahmens für
die Verwirklichung der Gleichbehandlung
in Beschäftigung und Beruf KOM ({31})
565 endg., Ratsdok.-Nr. 13540/99
- Drucksachen 14/2952 Nr. 2.9, 14/4146 Nr.
2.19, 14/3738, 14/5837 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer
Der Ausschuss empfiehlt die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/5837? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen. Nur die CDU/CSU hat sich
enthalten.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 266 zu Petitionen
- Drucksache 14/5977 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 266 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen; nur die PDS hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 267 zu Petitionen
- Drucksache 14/5978 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 267 ist wiederum mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen; die PDS hat sich
enthalten.
Tagesordnungspunkt 27 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 268 zu Petitionen
- Drucksache 14/5979 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 268 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses ohne Gegenstimmen und Enthaltungen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 269 zu Petitionen
- Drucksache 14/5980 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 269 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Initiative des Europäischen Parlaments zur
Buchpreisbindung in Europa unterstützen
- Drucksache 14/6056 Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/6056? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Der Kollege Fink hat eine persönliche Erklärung zur
Abstimmung abzugeben.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion - das haben Sie ja eben erlebt - stimmt dem interfraktionellen Antrag, die Initiative des Europäischen Parlaments zur Buchpreisbindung in Europa zu unterstützen,
eindeutig zu. Ich bringe jedoch gleichzeitig mein Unverständnis und meine Empörung darüber zum Ausdruck,
dass die PDS beim Einbringen dieses Antrages ausgegrenzt wurde. Dies ist umso weniger verständlich, als wir
in den bisherigen Debatten zur nationalen Buchpreisbindung unsere Position engagiert und übereinstimmend mit
allen anderen Parteien formuliert haben.
Herr Kollege
Fink, leider muss ich Sie belehren, dass Sie mit diesem
Instrument nur über Ihr persönliches Abstimmungsverhalten eine Erklärung abgeben dürfen.
({0})
Sie sind ja nun schon fast ein erfahrener Parlamentarier
und sollten das wissen. Deswegen darf ich Ihnen nicht die
Möglichkeit geben, Ihre Empörung für die Fraktion mit
diesem Instrument auszudrücken.
({1})
Meine Empörung, Frau Präsidentin, hören Sie ja: dass es darum ging, dass wir von
dem Antrag - ({0})
-„Meine“ Empörung!
Ich glaube, was
Sie ausdrücken wollten, ist ausgedrückt worden. Sehen
Sie das auch so? - Gut. Vielen Dank.
({0})
Wir fahren in den Abstimmungen fort.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht
1 BvQ 23/01
- Drucksache 14/6070 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Anordnung und in dem angekündigten Verfahren
in der Hauptsache Stellungnahmen abzugeben. Wer
stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - EnthaltunVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
gen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Rechtsausschuss, den Präsidenten zu bitten, Herrn Professor
Dr. Bodo Pieroth mit der Prozessvertretung zu betrauen.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen angenommen, während sich CDU/
CSU, F.D.P. und PDS enthalten haben.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur Reform der
Erbschaftsbesteuerung
Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist doch schön, dass es im Bundestag auch Professoren gibt. Nun geht es in der Aktuellen Stunde um die Haltung der Bundesregierung zur
Reform der Erbschaftsbesteuerung, was aber nicht nur
Professoren und Professorinnen, sondern alle Bürgerinnen und Bürger interessiert.
Wir haben in der vergangenen Woche zur Kenntnis
nehmen müssen, dass Herr Bundeskanzler Schröder und
Herr Finanzminister Eichel erklärten, die Reform der Erbschaftsbesteuerung um weitere zwei Jahre zu verschieben. Damit wollen sie weitere zwei Jahre an einer verfassungswidrigen Bewertung des Grundbesitzes festhalten.
Sie wollen auf Steuermehreinnahmen in Milliardenhöhe
verzichten und begraben ihr Versprechen, Vermögende
stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen.
Deshalb unterstützen wir als PDS mit allem Nachdruck
die Initiative von fünf SPD-geführten Bundesländern, die
Grundbesitzbewertung zu reformieren. Es ist auch Sache
dieses Hauses, in dieser Frage nicht einfach ein „Basta“
des Kanzlers zu akzeptieren. Daher fordere ich Sie alle
auf, diese Länderinitiative zu unterstützen. Ich hoffe, dass
die SPD-Linken, die Entsprechendes am Wochenende
verkündet haben, dies mit Erfolg in ihrer Fraktion durchbringen werden.
({0})
Dabei geht es nicht um die kleinen Sparer und Sparerinnen. Aber: Der Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung hat vor Kurzem gezeigt, dass Armut und
Reichtum in unserer Gesellschaft weiter auseinander driften. Das allein ist schon schlimm genug. Entscheidend ist,
dass mit diesem Auseinanderdriften die Lebenschancen
von Menschen ebenfalls stärker auseinander gehen. Dies
macht sich auch und gerade an der Erbschaftsbesteuerung
fest: Erbschaften bevorteilen nun einmal insbesondere die
Menschen, die schon von Geburt an über eine höhere Vermögensausstattung verfügen. Umgekehrt werden diejenigen benachteiligt, die es ohnehin schwer haben, ihre soziale Stellung zu verbessern. Wenige erhalten zufällig - es
ist nicht ihr eigenes Verdienst, sondern das ihrer Eltern,
Verwandten oder Bekannten - und ohne eigene Leistung
üppigen Vermögenszuwachs, während die große Masse
der Menschen weitgehend leer ausgeht. Erbschaften sind
damit zu einem wesentlichen Faktor sozialer Gegensätze
geworden.
({1})
Uns in der Politik müsste es demgegenüber darum gehen - wir als PDS halten an diesem Anspruch fest -, die
Chancengleichheit der Menschen am Start ins Leben und
im Leben zu gewährleisten. Sie, meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, hatten dies auch in
Ihrem Koalitionsvertrag verankert.
Dies würde dann aber bedeuten, wieder eine sozial gerechte Erbschaftsteuer einzuführen; denn dadurch könnte
die Möglichkeit geschaffen werden, wirklich Vermögende stärker an der Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben zu beteiligen.
({2})
Nun könnten Sie natürlich sagen, dass die Erbschaftsteuer im vergangenen Jahr gerade einmal 5,8 Milliarden DM eingebracht habe, also etwa so viel wie die
Branntweinsteuer. Weniger als 1 Prozent aller Steuereinnahmen entfällt damit auf die Erbschaftsteuer. Aber gerade darin besteht doch der Skandal: Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland mindestens 1,5 Millionen
Vermögensmillionäre. Obwohl nach Schätzungen der
Deutschen Bundesbank jährlich 100 bis 200 Milliarden DM an privatem Sach- und Geldvermögen vererbt
werden, gehen nur 5,8 Milliarden DM in die Steuerkasse
ein. Diesen Zustand könnte man relativ leicht durch eine
Veränderung von Freibeträgen und Steuersätzen ändern.
Dadurch wären Mehreinnahmen möglich und Herr Eichel
bräuchte nicht mehr die Erhöhung des Kindergeldes unter
einen Finanzierungsvorbehalt zu stellen, was doch der eigentliche Skandal ist.
Niemand in diesem Hause - das gilt gerade für uns demokratische Sozialisten und Sozialistinnen - will mit einer Reform der Erbschaftsbesteuerung „Oma ihr klein
Häuschen“ wegsteuern. Ein solcher Vorwurf ist lächerlich. Es geht um die wirklich Vermögenden in dieser Republik. Die Erbmassen sind nun einmal sehr unterschiedlich verteilt. In gerade 4 Prozent aller Erbfälle ist der
Nachlass höher als 1 Million DM und in der Hälfte aller
Fälle liegt er mehr oder weniger deutlich unter
100 000 DM. Die Erben in der Mehrheit der Fälle werden
heute nicht zur Erbschaftsteuer herangezogen und würden
auch nach einer Reform nicht herangezogen werden. Wir
haben unsere Vorschläge dazu bereits in der letzten Legislaturperiode auf den Tisch gelegt. Wir werden Sie auch
in dieser Wahlperiode nicht in Ruhe lassen, sondern verlangen, dass an diesem Thema weiter gearbeitet wird.
Die SPD beschloss 1999 auf ihrem Parteitag, „die Gerechtigkeitslücke“ durch ein Mehr an Erbschaftsteuer zu
schließen. Damals verlangten die Delegierten dies wohl
als Tribut für die Absage an die Vermögensteuer seitens
der Bundesregierung. Der Kanzler versprach es ihnen damals. Zwei Jahre später sind Sie bereit, das „Basta“ des
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Bundeskanzlers zu akzeptieren und weitere zwei Jahre
ohne eine Reform verstreichen zu lassen. Das kann nicht
im Sinne der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande
sein.
({3})
Wir halten es für notwendig, die Reform anzupacken, und
sind sehr gespannt, wie sich die Bundesregierung und Sie
heute äußern werden.
Ich bedanke mich.
({4})
Für die Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Barbara Hendricks das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Nach § 138 Abs. 4 des
Bewertungsgesetzes gelten die im Rahmen der Bedarfsbewertung maßgebenden Wertverhältnisse vom 1. Januar
1996 für die Feststellung von Grundbesitzwerten nur
noch bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Nach diesem
Zeitpunkt tritt ein verfassungswidriger Zustand ein, sofern der Gesetzgeber nicht tätig wird. Das den Ländern
zustehende Aufkommen der Erbschaft- und Grunderwerbsteuer wäre dann ernsthaft gefährdet. Mit der Befristung hat sich der Gesetzgeber selbst verpflichtet, bis zum
Ablauf des Jahres 2001 tätig zu werden.
Die Bundesregierung hält unverändert an der Auffassung fest, dass die Initiative zur Änderung von Steuern,
deren Aufkommen den Ländern zusteht, von den Ländern
ausgehen sollte. Die Länder wirken über den Bundesrat an
der Gesetzgebung mit und können über den Bundesrat
Bundesgesetze einbringen. Der Bund will die Länder bei
Steuern, die in deren Bereich fallen, nicht in eine bestimmte Richtung drängen. Sie sind bei Steuern, die in
ihre Hoheit fallen, in erster Linie selbst gefordert. Die
Bundesregierung hat es den Ländern deshalb überlassen,
die Schlussfolgerungen aus den praktischen Erfahrungen
mit der Bedarfsbewertung zu ziehen.
Die Länder Schleswig-Holstein, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt
haben einen Gesetzesantrag zur Änderung des Bewertungsgesetzes im Bundesrat eingebracht. Inhaltlich wird
darin eine Lösung vorgeschlagen, für die sich die obersten
Finanzbehörden aller Länder auf Fachebene ausgesprochen haben. Der Finanzausschuss des Bundesrates hat
heute jedoch mit Mehrheit vorgeschlagen, die im geltenden Gesetz enthaltene Befristung um zwei Jahre zu verlängern.
({0})
Die Bundesregierung ist bereit, den Ländern weiterhin
fachliche Unterstützung zu gewähren.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Gerda Hasselfeldt.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, Sie
spielen hier den Unschuldsengel. In Wahrheit treiben Sie
mit den Erben ein ganz falsches Spiel.
({0})
Erster Punkt: Es gibt einen SPD-Parteitagsbeschluss
aus dem Jahre 1999. In diesem Parteitagsbeschluss ist
klipp und klar festgehalten, dass die SPD eine Höherbewertung des Grundvermögens bei der Erbschaftsteuerberechnung erreichen möchte. Daraufhin wurde eine
Arbeitsgruppe nicht irgendwo, sondern im Bundesfinanzministerium eingerichtet. Diese hat ihre Arbeit nicht nur
aufgenommen, sondern auch mit folgendem Ergebnis
abgeschlossen: Statt der bisherigen durchschnittlichen
Bewertung des Grundvermögens mit 50 Prozent des Verkehrswertes soll es künftig mit 80 Prozent bewertet werden.
({1})
Meine Damen und Herren, wenn Sie dies nicht gewollt
hätten, dann hätten Sie nicht diesen Parteitagsbeschluss
gefasst und die Arbeitsgruppe nicht eingesetzt.
({2})
Ein zweiter Punkt: Es liegt ein Antrag der SPD-regierten Länder im Bundesrat vor; Sie haben davon gesprochen. Dieser wurde übrigens nicht nur von der PDS initiiert, sondern auch von den Grünen, und zwar in den
Ländern, in denen sie mitregieren, beispielsweise in
Schleswig-Holstein. Dieser Antrag wurde im Bundesfinanzministerium erarbeitet. Auch bezüglich dieses Punktes können Sie nicht sagen, Sie seien unschuldig und hätten damit nichts zu tun. Sie können sich nicht aus der
Verantwortung stehlen. In diesem Gesetzentwurf ist statt
der bisher geltenden durchschnittlichen Orientierung an
50 Prozent des Verkehrswertes eine Orientierung an circa
72 Prozent des Verkehrswertes enthalten. Hinzu kommt
die Erhöhung des Vervielfältigers sowie eine Änderung
bei den Bodenrichtwerten. Dies ist ein deutliches Zeichen
dafür, dass Sie wieder einmal abzocken und die Linken in
Ihren eigenen Reihen zufrieden stellen wollen.
({3})
Ich möchte ein Drittes klarstellen: Erst nach massivem
Protest von uns und den unionsregierten Ländern
({4})
in den letzten Wochen wird jetzt erwogen, die geltende
Regelung um zwei Jahre zu verlängern. Es ist wirklich zu
offensichtlich, dass Sie sich damit nur über den Wahltermin retten wollen,
({5})
um danach das zu realisieren, was Sie eigentlich vorhaben
und schon vorbereitet haben.
Ihre Begründung lautet immer, eine Reform sei verfassungsrechtlich notwendig. Ich kann Ihnen sagen, was
das Verfassungsgericht moniert hat. Es hat Mitte der
90er-Jahre moniert, dass das Grundvermögen nach den
alten Einheitswerten von 1964, aber das Kapitalvermögen nach den aktuellen Werten bewertet wird. Es hat angemahnt, dass das Grundvermögen realitätsnah und zeitnah bewertet werden muss. Genau das haben wir 1996/97
mit der Novellierung des Erbschaftsteuergesetzes getan.
Es ist nicht gefordert worden, dass das Grundvermögen
genauso wie das Kapitalvermögen bewertet werden
muss. Das wäre im Übrigen auch nicht sachgerecht, weil
Grundvermögen nicht genauso verwertbar ist wie Kapitalvermögen; denn es unterliegt beispielsweise im Mietbereich und im Betriebsvermögensbereich sozialen Bindungen.
Der Handlungsbedarf liegt einzig und allein darin - nur
darum geht es -, die Wertgrenze, von der Sie gesprochen
haben, in Bezug auf die Bodenrichtwerte bei unbebauten
Grundstücken und in Bezug auf die Mindestbewertung
bei bebauten Grundstücken zu prüfen; denn dafür gelten
die Werte von 1996 bis Ende dieses Jahres. Bis Ende dieses Jahres muss also die Prüfung erfolgt sein. Wenn sie ergibt, dass sich die Grundstückspreise in Deutschland im
Großen und Ganzen nicht erhöht haben, dann spricht hinsichtlich der Erbschaftsteuer nichts für eine Erhöhung der
Bewertung.
({6})
Aus dieser Überprüfung können sich genauso gut andere Konsequenzen ergeben. Ich nenne Ihnen zwei mögliche Alternativen: Entweder gelten die aktuellen Bodenrichtwerte weiterhin, oder die geltende Regelung wird
verlängert. Es darf aber nicht nur eine Verlängerung um
zwei Jahre geben, um sich über den Wahltermin zu retten.
Es muss vielmehr wie bisher eine Verlängerung um mindestens fünf Jahre geben.
({7})
Wir fordern Sie deshalb auf, von Ihren Erhöhungsplänen grundsätzlich und endgültig Abschied zu nehmen und
die jetzige Regelung nicht nur bis kurz über den Wahltermin hinaus zu verlängern; denn die Bürger in diesem
Land haben ein Recht darauf, zu wissen, was nach der
Wahl für längere Zeit auf sie zukommt und nicht nur bis
unmittelbar nach der Wahl.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es sehr schade, dass bei diesem Thema immer eine
gewisse Aufregung mitschwingt, die meines Erachtens
völlig unangebracht ist. Es geht nicht um eine Steuererhöhung,
({0})
sondern es geht darum, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1995 umgesetzt werden.
({1})
Frau Hasselfeldt, es gibt sehr unterschiedliche Auslegungen des Urteils des Verfassungsgerichts;
({2})
das wissen Sie. Sie legen es aber in Ihrem Sinne aus. Wir
wissen von Verfassungsjuristen und -juristinnen, dass
man es auch anders bewerten kann.
({3})
Man kann auf solch polemische Weise Gerichtsurteile
nicht einfach vom Tisch wischen und sagen: Das interessiert uns nicht.
({4})
Es geht um eine realitätsnahe Bewertung von Immobilienvermögen annähernderweise zu den Verkehrswerten.
Sie haben gesagt - das stimmt -, dass die jetzige Bewertung zum 31. Dezember dieses Jahres ausläuft. Die Länder haben mit dem Bundeskanzler vereinbart, dass es eine
Verlängerung gibt
({5})
und dass man die Zeit nutzt, zwischen den Ländern Einvernehmen herzustellen, um zu einer vernünftigen Neubewertung zu kommen.
({6})
Es ist doch vollkommen klar, dass die Mehrheit der Länder im Bundesrat zustimmen muss.
({7})
Es ist ein gemeinsames Anliegen, eine grundlegende
Regelung zu finden, die von den Ländern - dazu gehören
auch die CDU- und CSU-regierten Länder wie beispielsweise Bayern - getragen wird.
({8})
Ziel der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ist im
Prinzip die Umsetzung des Grundsatzes der gleichmäßigen Besteuerung aller Vermögensarten. Auch von Herrn
Kirchhof haben wir letztens wieder gehört, dass man diese
Vorgabe so durchhalten muss. Der Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung aller Vermögensarten gilt natürlich
auch für den Erbfall oder für den Fall, dass etwas verschenkt wird.
({9})
Bislang ist es so, dass Geld- und Grundvermögen nicht
gleichermaßen besteuert werden. Deswegen muss man
Überlegungen anstellen, wie man auf vernünftigem Wege
zu einer verfassungsrechtlich dauerhaften Regelung
kommt, um das Ziel der Aufhebung der unterschiedlichen
Besteuerung von Geld- und Grundvermögen zu erreichen.
({10})
Es ist natürlich verständlich, dass die Länder zur Aufrechterhaltung ihrer Steuereinnahmen - die Erbschaftsteuer ist eine reine Ländersteuer - eine entsprechende Gesetzesinitiative gestartet haben. Es stellt sich
allerdings die Frage, ob die Bewertungsgrundsätze im
Expressverfahren geändert werden oder ob die Geltungsdauer der im bestehenden Gesetz existierenden Regelungen nur für einen Übergangszeitraum verlängert wird. Die
Bundestagsfraktionen - das gilt sowohl für die Oppositionsfraktionen als auch für die Koalitionsfraktionen - können durchaus erwarten, dass die Bundesländer im Bundesrat über die herbeizuführende Änderung oder
Verlängerung des Bewertungsgesetzes befinden, dass sich
im Bundesrat also eine mehrheitliche Meinung bildet, mit
der wir uns dann befassen. Dieser Weg ist vollkommen
korrekt. Die Erbschaftsteuer ist eine Ländersteuer und die
Länder haben über sie gemeinsam zu diskutieren und zu
entscheiden.
({11})
Ich möchte noch etwas zu den Zahlen sagen: Die
Erbschaftsteuereinnahmen sind im Jahr 2000 um 200 Millionen DM - 1999 lagen sie bei 6 Milliarden DM, im Jahr
2000 bei 5,8 Milliarden DM - zurückgegangen. Wir sehen also, dass die Situation durchaus schwierig ist. Die
Länder sind enttäuscht - das ist klar -, dass ihre Erwartung, dass die Höhe ihrer Einnahmen zunimmt, wenn das
Vermögensvolumen, das vererbt oder verschenkt wird,
zunimmt, nicht erfüllt worden ist.
Ziel einer Reform der Erbschaftsteuer muss ihre verfassungsrechtlich gerichtsfeste Ausgestaltung sein. Dazu
gehört meines Erachtens tatsächlich die Notwendigkeit,
die Grundsätze für die Bewertung von Immobilienvermögen zu ändern, ohne dass es zu einer Belastung von selbst
genutztem Immobilieneigentum, also von Gebrauchsvermögen, kommt. Das von Ihnen so gerne benutzte Bild,
Omas Häuschen werde dann mehr besteuert, ist vollkommen falsch. Omas Häuschen soll der nächsten Generation
steuerfrei vermacht werden. Auch darf kein Betrieb im
Falle einer Betriebsübergabe an einen Erben gefährdet
werden. Das haben wir immer wieder eindeutig gesagt
und diese Auffassung wird von allen Ländern so geteilt.
Die Forderung nach Gleichbehandlung unterschiedlicher Vermögensarten wird noch einsichtiger, wenn man
zur Kenntnis nimmt, wie sich das Bruttovermögen der privaten Haushalte zusammensetzt. Es hatte 1997 einen Bestand von 14 Billionen DM. Davon entfielen auf den Immobilienbestand im In- und Ausland sowie auf das
Gebrauchsvermögen 9 Billionen DM; das sind 62 Prozent. Etwa 38 Prozent machte das private Geldvermögen
aus. In den kommenden Jahren werden schätzungsweise
4,4 Billionen DM vererbt; das ist doppelt so viel wie in
den 90er-Jahren. Es ist also grundsätzlich zu erwarten,
dass das Erbschaftsteueraufkommen der Länder im Trend
steigen wird. Auch die Oppositionsparteien können sich
nicht der Tatsache verweigern, dass wir eine verfassungsgerechte Lösung brauchen. Im Hinblick auf die gesamte
Debatte bitte ich um mehr Ehrlichkeit, Frau Hasselfeldt.
Danke.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die seit Monaten andauernde Debatte über
die Erhöhung der Erbschaftsteuer ist durch ein weiteres
Machtwort des Bundeskanzlers für zwei Jahre beendet
worden. Anscheinend hat der Bundeskanzler als erster in
der SPD gemerkt, dass Steuererhöhungen in einem Wahljahr Wählerstimmen kosten könnten. Der SPD in denjenigen Ländern, die im Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht haben, durch den die Erbschaftsteuer erhöht
werden sollte, war das egal, da dort - so Frau Simonis keine Wahlen anstehen. Deutlicher kann man sich nicht
ausdrücken.
Die SPD als Partei der so genannten Neuen Mitte hat
wieder einmal ihr wahres Gesicht gezeigt: Vermögen
höher zu besteuern, sollte diesmal über die Erbschaftsteuer umgesetzt werden.
({0})
Die Wiederbelebung der Vermögensteuer, die Ihnen ja so
sehr am Herzen liegt, verwehrt Ihnen das Bundesverfassungsgericht. Eine Vermögensabgabe - das haben Sie
ebenfalls lange diskutiert - ist rechtlich nicht möglich.
Also musste diesmal die Erbschaftsteuer herhalten.
Hier macht Ihnen - deutlicher kann das überhaupt nicht
sein - das Bundestagswahljahr 2002 einen Strich durch
die Rechnung, und das hat der Kanzler folgerichtig erkannt. Aber niemand soll sich Illusionen machen. Sie geben Ihre Pläne nicht auf, Sie verschieben sie bis zur nächsten Bundestagswahl. Ehrlich wäre es doch, den Bürgern
ganz deutlich zu sagen, dass Sie nach der nächsten Bundestagswahl, sollten Sie noch regieren, was ja unwahrscheinlich ist,
({1})
die Erbschaftsteuer und die Grunderwerbsteuer erhöhen
werden. Haben Sie eigentlich einmal mit Bürgern und Unternehmern gesprochen und sie gefragt, was sie davon
halten? Die Antwort dürfte ziemlich eindeutig sein. Aber
es ist das alte Spiel: Sie predigen den Menschen medienwirksam so genannte Jahrhundertreformen und hinten
herum erhöhen Sie die Steuern.
({2})
Das gilt nicht nur für die jetzt aufgeschobene Erbschaftsteuer, das gilt auch für die Ökosteuer, deren weitere Erhöhung ja bereits beschlossen ist.
({3})
Ich bin sehr gespannt, wann der Bundeskanzler sich
hierzu äußert. Auch Populismus, meine Damen und Herren, wird irgendwann berechenbar. Es lässt sich schon
heute voraussagen, dass es zumindest eine Diskussion
und eine Auseinandersetzung über die weiteren Stufen der
Erhöhung der Ökosteuer geben wird. Ebenfalls ist klar,
dass diese Diskussion medienwirksam selbstverständlich
vom Bundeskanzler eröffnet wird. So durchsichtig ist dieser Populismus allmählich geworden.
Zurück zur Sache: Die Anhebung der Erbschaftsteuer
durch eine höhere Bewertung der Immobilien ist keineswegs vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben worden
- das ist hier schon gesagt worden -, aber die Autoren des
Gesetzentwurfes behaupten das. Das ist falsch. Im Gegenteil, Karlsruhe hat ausdrücklich entschieden, dass Immobilien weniger hoch bewertet werden können als sonstiges Vermögen. Verworfen wurde lediglich das alte
Einheitswertverfahren mit Werten aus 1964.
Das einzige Argument, das die fünf genannten SPD-geführten Länder vorbringen, ist also schlichtweg falsch.
Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist
vielmehr ausdrücklich zu entnehmen, dass Grundvermögen einer hohen Sozialbindung unterliegt, dass es Mieterschutzbestimmungen und öffentlich-rechtliche Auflagen
gibt, die die Verwertbarkeit von Grundvermögen einschränken. Auch volkswirtschaftliche Erwägungen wie
die Höhe des Mietniveaus und die Lage der Bauwirtschaft
können bei der Bewertung von Grundvermögen herangezogen werden. Das alles wird nicht beachtet.
Das geltende Bewertungsrecht kann also fortgeführt
werden. Aus diesem Grund hat die F.D.P.-Fraktion einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der das geltende Bewertungsrecht für fünf weitere Jahre festschreibt. Dieser Zeitraum
ist allein deswegen gerechtfertigt, da sich die Immobilienpreise in den letzten Jahren nicht wesentlich erhöht haben
({4})
und nichts für einen starken Preisanstieg in der nächsten
Zeit spricht oder darauf hindeutet. Ich kann Sie, meine
Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur
bitten und auffordern, diesem Entwurf zuzustimmen,
dann machen Sie etwas Vernünftiges.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Lothar Binding.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben sehr oft das Wort „Wahl“ gehört,
jetzt von der F.D.P., auch von der CDU. Es soll ja so sein,
dass auch für die CDU, natürlich auch für die CSU, und
für die F.D.P. im nächsten Jahr Wahlen sind. Man fragt
sich, warum Sie eigentlich diese Chance nicht auch nutzen, um konstruktive Modelle und Gesetzesvorhaben
einzubringen, über die wir in diesem Sinne reden können.
({0})
Den Vorgaben nach zu urteilen sind im Hause alle irgendwie mehr oder weniger - manche deutlich weniger - für
soziale Gerechtigkeit, manche sehr christlich, manche
eher frei.
({1})
Doch muss man gucken, was denn genau unter dieser
Überschrift passiert. Die CDU/CSU kümmert sich zum
Beispiel mit Schwerpunkt - es vergeht keine Debatte, in
der das fehlt - um das Stichwort „630 Mark“.
({2})
- Vielen Dank für den Applaus. Das zweite Thema ist die
Ökosteuer. Es gibt aber noch ein ganz großes Thema,
nämlich das große Geld, um das Sie sich auch kümmern.
Jetzt frage ich mich, inwiefern unsere Gesellschaft mit der
Zielstellung soziale Gerechtigkeit mit diesen drei Themen
wirklich vorankommt.
Die F.D.P. ist in einer ganz ähnlichen Situation. Um unsere Gesellschaft weiterzubringen, kümmert sie sich nicht ohne Erfolg in den Medien - erstens um das große
Thema „18 Prozent“. Das zweite große Thema heißt „Big
Brother“ und das dritte große Thema heißt „Möllemann“.
({3})
Auch diese drei Themen sind nicht zwingend geeignet,
unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen.
Nun zur PDS. Mit der PDS tut man sich immer etwas
schwerer, denn erstens ist sie dabei, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Das ist sehr lobenswert, aber nicht unbedingt
zukunftsweisend und zielführend für die Entwicklung
unserer Gesellschaft.
({4})
- Ihrer Gesellschaft, aber nicht unserer Gesellschaft.
Das Zweite, das uns mehr Probleme macht, ist die Diskussion über die reine Lehre. Denn die reine Lehre funkGerhard Schüßler
tioniert immer nur, wenn man die Gruppe hinreichend
klein macht.
({5})
Ich vermute, dass das bei Ihnen jetzt hinreichend sein
könnte.
Ich möchte noch kurz auf die Bundesverfassungsgerichtsurteile eingehen, aufgrund derer bisher zu viel oder
zu wenig passiert ist. 1995 wurde festgestellt, dass die Bewertung von Grundbesitz mit Einheitswerten, des übrigen
Vermögens aber mit Verkehrswerten nicht mit dem
Grundgesetz vereinbar ist.
Der zweite wichtige Punkt, der noch nicht vorgelesen
wurde: Die verschiedenen Vermögensarten - jetzt mögen
Sie Ihre Argumente vor diesem Hintergrund noch einmal
reflektieren - müssen im Verhältnis zueinander realitätsgerecht bewertet werden. Es werden genannt: landwirtschaftliches, Betriebs-, Grund- und sonstiges Vermögen.
Drittens. Familienangehörigen ist der Nachlass im
Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses steuerfrei zu belassen.
Der Bundestag änderte daraufhin 1996 das Bewertungsgesetz und führte die Bedarfsbewertung zur Berechnung der Erbschaft-, Schenkung- und Grunderwerbsteuer
ein. Für bebaute Grundstücke wurde 1997 das
Ertragswertverfahren eingeführt. Wenn ich richtig informiert bin, ging das auf eine Gesetzesinitiative aus Bayern
zurück. Das ist ein Hinweis darauf, dass es nicht hinreichend war. Der Bundestag schaffte daraufhin 1997 die
Vermögensteuer ab bzw. sie lief leer.
Jetzt habe ich einmal nachgeschaut, welche Konsequenzen das im Haushalt hatte, und konnte feststellen,
dass im Haushalt überhaupt keine Einbußen zu verzeichnen waren. Das fand ich sehr interessant.
Irgendjemand hat hier von Steuererhöhungen gesprochen. Ich habe einmal geschaut, warum die Abschaffung
der Vermögensteuer keine Auswirkungen im Haushalt
hatte; sie wird abgeschafft und keiner merkt es. Mit ihrer
Abschaffung war am Rande eine kleine Steuererhöhung
einhergegangen, und zwar die Anhebung der Grunderwerbsteuer um 75 Prozent von 2 auf 3,5 Prozent.
({6})
- Wir schauen mal, wie das im Verhältnis zur Vermögensteuer gewirkt hat.
Diese Umverteilung war für mich das gravierendste
Beispiel, aus dem sich für uns Handlungsbedarf ergibt,
und zwar Handlungsbedarf auf einer seriös vorbereiteten
Grundlage
({7})
und nicht in aller Hektik und womöglich noch bis tief in
irgendeinen Wahlkampf hinein, sondern in der nächsten
Legislaturperiode.
({8})
Das Zweite war das Ungleichgewicht - Frau
Hasselfeldt hat es schon zitiert - zwischen bebauten und
nicht bebauten Grundstücken. Wir stellen fest, dass die
bebauten Grundstücke gegenwärtig im Durchschnitt mit
51 Prozent ihres Verkehrswertes und die unbebauten
Grundstücke mit durchschnittlich 72 Prozent des Verkehrswertes bewertet werden. Da ist die vorhin genannte
Relation, die das Bundesverfassungsgericht vorsieht,
nicht eingehalten. Hieraus ergibt sich der zweite Handlungsbedarf, der ebenfalls nicht kurzfristig und hektisch
vorbereitet werden darf, sondern seriös und langfristig
vorbereitet werden muss.
({9})
Deshalb werden wir eine solche Gesetzesvorlage seriös vorbereiten. Mit Blick auf die Zeit darf ich eine solche Gesetzesinitiative, sicherlich gestützt auf die intensive Mitarbeit der Oppositionsfraktionen, für die nächste
Legislaturperiode ankündigen.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Götz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dieser Erbschaftsteuerdebatte
heute geht es offensichtlich nicht nur um Erbschaftsteuer,
es geht um mehr.
({0})
Es geht um die Frage, ob wir wollen, dass die Menschen
in unserem Land Wohneigentum schaffen oder ob die Politik das verhindern will.
({1})
Hier tut sich die Kluft zwischen der sozialistischen Denkweise der Regierung auf der einen Seite und von
CDU/CSU auf der anderen Seite ganz klar auf.
({2})
Da hilft auch das Geeiere von Ihnen, Herr Binding und
Frau Scheel, überhaupt nicht.
Wir sagen Ja zum Wohneigentum in privater Hand. Wir
wollen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger Wohneigentum bilden. Sie wollen dies offensichtlich nicht.
Frau Staatssekretärin, Ihr Redebeitrag strotzt trotz seiner Kürze vor Scheinheiligkeit. In Wahrheit wollen Sie
mit Ihrer Neidkampagne Ihre ideologischen Theorien aus
der Mottenkiste durchsetzen und gleichzeitig die Grundstückseigentümer abkassieren.
({3})
Lothar Binding ({4})
Ständig verschlechtern Sie die Rahmenbedingungen im
Wohnungsbau, seien es die steuerlichen Bedingungen,
seien es Kürzungen im sozialen Wohnungsbau oder bei
der Eigenheimzulage. Das Ergebnis lässt sich bereits ablesen: Von einem Jahr aufs andere bricht die Zahl der Baugenehmigungen ein, von Januar 2000 auf 2001 um über
30 Prozent.
({5})
Das ist das Ergebnis rot-grüner Wohnungsbaupolitik.
Eine alarmierende Entwicklung!
({6})
Bei der Grundsteuer läuft still und leise das gleiche
Spiel wie bei der Erbschaftsteuer an. Eine dringend notwendige Grundsteuerreform kommt nicht, aber gleichzeitig wird versucht, über die Neubewertung der Grundstücke Grundstückseigentümer abzuzocken.
Welche Konsequenzen das in den Kommunen und bei
den Mietern hat, ist Ihnen letztlich egal. Wenn Sie die
Grundstücke für die Berechnung der Erbschaftsteuer und
der Grundsteuer höher bewerten, heißt dies - erstens - für
die Mieter höhere Mieten. Und die Mieter sind durch hohe
Energiekosten und die Ökosteuer schon genug gestraft.
({7})
Zweitens. Für die Kommunen, die für die Bewertung
der Grundstücke zuständig sind, bedeutet dies einen wesentlich höheren bürokratischen Aufwand. Denn wir wissen alle, es muss erheblich präziser bewertet werden. Wer
erstattet den Kommunen diesen Aufwand? Hier bahnt
sich erneut ein Verschiebebahnhof zulasten kommunaler
Haushalte an, wie wir es in der Vergangenheit von RotGrün ständig gewöhnt waren.
Nun befürchtet der Bundeskanzler, dass dieses Thema
vor der Bundestagswahl möglicherweise ungeeignet ist,
Stimmen zu gewinnen, und er hat es vorübergehendend
durch ein Basta „eingesammelt“. Ob er es schafft, durch
Machtworte die Diskussion in der eigenen Partei zu beenden, wird sich herausstellen.
({8})
Es zeigt sich auch hier, dass die SPD nach wie vor als
Partei der alten Linken und auf keinen Fall der Neuen
Mitte agiert.
({9})
Ich bezweifele auch, dass der Bundeskanzler endlich erkannt hat, dass Rot-Grün die Menschen in diesem Land
schon mehr als genug zur Kasse gebeten hat, angefangen
vom unsäglichen 630-Mark-Gesetz bis zum Abkassieren
an der Tankstelle.
({10})
Die Steuer- und Abgabenbelastung war in Deutschland
noch nie so hoch wie zurzeit. Deshalb heißt das Gebot der
Stunde, nicht rauf, sondern runter mit den Steuern.
({11})
Was sind die Folgen dieser geplanten Erhöhung der
Erbschaft- und Schenkungsteuer?
Erstens. Viele Menschen werden sich überlegen, ob sie
überhaupt noch Wohneigentum schaffen. Sie schädigen
deshalb einmal mehr ein wichtiges Element der dringend
notwendigen privaten Altersvorsorge.
Zweitens. Die Bauwirtschaft wird weniger Aufträge
bekommen. Das Wirtschaftswachstum in Deutschland
wird weiter sinken. Sie haben Deutschland beim Wirtschaftswachstum schon jetzt auf den letzten Platz in Europa hinunterregiert.
Drittens. Viele Erben von kleinen und mittleren Firmen
werden den Betrieb verkaufen müssen, um ihre verschärfte Erbschaftsteuer zahlen zu können.
({12})
Das ist aktive Vernichtung von Existenzen und von Arbeitsplätzen.
({13})
Meine Damen und Herren, CDU und CSU sind gegen
eine Erhöhung der Erbschaftsteuer. Damit bieten wir eine
klare Alternative zum Durcheinander in der SPD. Wir fordern Rot-Grün deshalb auf, die Verschleierungstaktik aufzugeben und endlich Farbe zu bekennen, damit die Menschen in diesem Land wissen, was auf sie zukommt, und
zwar vor der Wahl und nicht erst nach der Wahl.
Herzlichen Dank.
({14})
Jetzt hat die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Götz, ich bin etwas irritiert. Ich
habe den Eindruck, als ob die Denkfähigkeit proportional
zur Nähe des Wahltages abnimmt und Abgeordnete zwar
ein Assoziationsvermögen in alle Richtungen entwickeln,
aber nicht wirklich auf den Tagesordnungspunkt zu sprechen kommen.
({0})
Ich frage mich, was die Erbschaftsteuer mit Baugenehmigungen zu tun hat. Sollen denn die Häuser in den Sperrmüll geworfen werden? Das hat niemand beantragt. Die
Rede, die soeben gehalten worden ist, habe ich nicht
verstanden.
Es hat geklappt - Kollege Binding hat es angekündigt -: Die Stichworte „630-DM-Jobs“ und „Ökosteuer“
sind gefallen. „Bingo!“ kann ich da nur sagen.
({1})
Ich fände es aber trotzdem von einem sonst als Stadtund Baupolitiker sehr engagierten Kollegen gut, wenn er
zur Sache diskutieren würde. Von daher sollten wir festhalten: Sie hatten mit Ihrer Koalitionsmehrheit eine Befristung der Gültigkeit des Bewertungsgesetzes bis zum
31. Dezember dieses Jahres beschlossen. Sie haben also
1996, als das Bewertungsgesetz in der Form, in der es jetzt
vorliegt, beschlossen worden ist, Überprüfungsbedarf gesehen.
({2})
Ich finde, Sie sollten dazu stehen und hier nicht billige
Wahlkampfpolemik und Neidkampagnen betreiben. Letztere schüren Sie in einer fast unanständigen Form,
({3})
anstatt ernsthaft, methodisch und unter dem Aspekt der
Gerechtigkeit und Belastbarkeit darüber zu diskutieren,
um welche Aufgaben es hier geht. Das ist unser Job und
nicht, dumme Sprüche zu machen.
({4})
Ich möchte es konkret formulieren: Ich setze mich eindeutig für eine Verlängerung der Gültigkeit des Bewertungsgesetzes ein; das habe ich schon in früheren Reden
getan. Ich würde mich zur Stunde nicht festlegen wollen,
ob diese Verlängerung um zwei, drei oder mehr Jahre erfolgen sollte.
({5})
Dies hat inhaltliche Gründe: Ich bin der Meinung, dass es
eine wichtige Aufgabe ist, das Bewertungsrecht für
Grundsteuer, für Grunderwerbsteuer und für Erbschaftsteuer inhaltlich zusammenzuführen, damit hier
endlich ein Stück Vereinfachung erreicht und nicht ständig das eine Bewertungsrecht gegen das andere ausgespielt wird.
({6})
Das hat eine sehr bedeutende Folge: Wir können bei den
Bodenrichtwerten nicht mehr mit der Bedarfsermittlung
arbeiten,
({7})
wie das jetzt bei der Erbschaftsteuer getan wird.
({8})
Darüber haben wir schon intensiv fachlich diskutiert. Bei
den Bodenrichtwerten müssen wir zu einer neuen Form
der Differenzierung kommen. Denn nur dann kann man
die Bestimmungen zur Grundsteuer neu formulieren und
das Einheitswertsystem anders definieren.
({9})
- Es geht nicht um Steuererhöhungen, sondern um die
Systematik bzw. die Grundlagen. Sie sollten hier nicht
wie die Geier sitzen und rufen „Das sind Steuererhöhungen“ angesichts dessen, dass es bei diesem Thema um
eine klare Systematik im Bewertungsrecht geht. Dieser
Aufgabe sollten Sie sich stellen. Ganz so primitiv sollten
Sie sich nicht verhalten. Auch als Opposition haben Sie
hier ein Stück weit politische Arbeit zu leisten und nicht
nur dumme Sprüche zu machen.
({10})
Dies ist eine sehr wichtige Aufgabe. Denn wir befinden
uns in einer historischen Phase. Es geht zurzeit nicht nur
um die permanente Gesetzmäßigkeit von Wertsteigerungen der Immobilien. Wir leben derzeit vielmehr in einer
Phase mit enormen Umbrüchen: sei es durch Konversionen im Militärbereich; sei es durch die vielen Industriebrachen; sei es dadurch, dass Immobilien aufgrund neuer
Anforderungen völlig anders strukturiert werden; sei es
dadurch, dass wir im Osten einen großen Wohnungsleerstand haben, während in München oder Hamburg enorme
Wertsteigerungen zu verzeichnen sind.
({11})
Es besteht also eine enorme Differenzierung bei der
Wertentwicklung. Es gibt Eigentümer, die schon jetzt
bzw. in Zukunft mit Wertsenkungen werden leben müssen. Es gibt Eigentümer, die eine Wertsicherung, und Eigentümer, die enorme Wertsteigerungen zu verzeichnen
haben. Von daher ist ein Eingehen auf diese Differenzierung nötig.
Eines muss ich sagen: Ich bin sehr dafür, dass wir die
Reform des Bewertungsverfahrens verschieben und jetzt
nicht weiter daran arbeiten, weil sie in das ganze System
integriert werden muss. Aber wenn Sie sich einmal den
Gesetzentwurf der Nordländer ernsthaft ansehen, dann
stellen Sie fest, dass sie eine stimmige Form der Differenzierung vorschlagen. Das, was soeben vorgeworfen
wurde, nämlich dass bei einem solchen Vorgehen Betriebe
aufgeben müssten, ist überhaupt nicht wahr. Bei
Geschäftsgrundstücken wird der Vervielfältiger 12 vorgeschlagen. Dies ist also sogar ein Stück günstiger als das,
was im jetzigen Bewertungsrecht steht.
({12})
Sie sprechen von Dingen, von denen Sie nichts verstehen. Sie machen sich nicht einmal die Mühe, das einmal
genauer zu betrachten. In dem Gesetzentwurf der Nordländer wird sehr sorgfältig mit den jetzigen Problemen
umgegangen. Es geschieht also kein Raubbau an den armen Bürgern unseres Landes.
({13})
Daher: Erstens klar verschieben, das Bewertungsrecht
jetzt erst einmal verlängern, zweitens Integration mit dem
sonstigen Immobilienbewertungsrecht und drittens sorgfältige Beratung und dann bitte nicht ständig auf dem
Rücken dieses Themas Neidkampagnen züchten, sondern
sorgfältig zwischen Gerechtigkeit und Belastbarkeit der
Bürger in unserem Land abwägen. Auch Sie stehen in der
Verantwortung, für Gerechtigkeit zu sorgen und die Bevorzugung gegenüber anderen Vermögensgegenständen
wirklich zu rechtfertigen. Dieser Verantwortung sollten
Sie sich stellen, und zwar auch schon vor der Wahl.
({14})
Jetzt spricht die
Abgeordnete Pia Maier.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst ein herzliches Dankeschön an
Frau Eichstädt-Bohlig, die es nach all den Ausflügen in
diverse andere Politikfelder geschafft hat, zum Thema
zurückzukommen.
Allerdings konnten auch Sie mir nicht erklären, warum
die vielen Probleme, die Sie angesprochen haben, von den
zwei damit befassten Ministerien, die - beide in SPDHand - schon 1999 von der SPD aufgefordert worden
sind, eine solche Reform vorzunehmen, in den letzten anderthalb bis zwei Jahren nicht gelöst worden sind. Warum
das nicht geschehen ist, versteht heutzutage keiner, der
weiß, welch ein Apparat hinter diesen Ministerien steckt,
und der sich noch an die Wahlversprechen und die Versprechen des 99-er Parteitages der SPD erinnert.
Ich möchte ein paar Worte dazu verlieren, was Erben
und Erbschaft in diesem Land eigentlich bedeuten, und
zwar basierend auf dem nationalen Armuts- und Reichtumsbericht, den ich mir sehr genau angesehen habe. Bei
der Erbschaftsteuer und vor allem bei der Erbschaft gilt
der Grundsatz: Wer hat, dem wird gegeben. In diesem
Land werden soziale Verhältnisse vererbt, und zwar sowohl arme wie auch reiche.
Eine Erbschaft von über 5 000 DM erwarten unter allen Erben 18 Prozent der Westdeutschen, aber nur 8 Prozent der Ostdeutschen. Das bedeutet eine Verfestigung sozialer Missverhältnisse zwischen Ost und West in diesem
Land. Eine Erbschaft über 5 000 DM erwarten unter allen
Erben 35 Prozent der Hochschulabsolventen und -absolventinnen, aber nur 8,7 Prozent der Hauptschulabgänger.
Dies bezieht sich jeweils auf die 40- bis 85-Jährigen der
Bevölkerung dieses Landes. Daran sehen Sie, wie durch
die Erbschaften, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen, die sozialen Verhältnisse oder vielmehr die Missverhältnisse in diesem Land fortgeführt und verstärkt
werden.
Drei Viertel der Hochschulabsolventen erben überhaupt, aber nur knapp die Hälfte der Hauptschulabsolventen. Wenn man sich diese Tatsachen, die auch im Armuts- und Reichtumsbericht stehen, ansieht, fragt man
sich, warum Sie nicht die Chance ergreifen, mit einer Erbschaftsteuer eine Politik der Umverteilung, eine Politik
des sozialen Ausgleichs anzugehen, den die rot-grüne Regierung eigentlich schon vor einiger Zeit versprochen hat.
({0})
Aber Sie folgen weiterhin dem Grundsatz „Den Seinen
gibt’s der Herr im Schlaf“ und gehen nicht nach einem
Grundsatz vor, der lauten könnte: Armut bekämpfen,
Reichtum begrenzen.
({1})
Weder beim Vorschlag der fünf Länder, die vom Bundeskanzler und vom Bundesfinanzminister zurückgepfiffen worden sind, noch bei unseren Vorschlägen zur Erbschaftsteuer geht es darum, Omas Häuschen nicht mehr
vererbbar zu machen. Vielmehr geht es um große Vermögen und darum, dass die normalen Durchschnittshäuser
durch Freibeträge für die Kinder gesichert werden sollen.
Wenn man sich ansieht, dass mit der jetzigen Einheitswerttabelle bei einem Verkaufswert des Grundstückes von
1,2 Millionen DM abzüglich der Freibeträge eine Erbschaftsteuer in Höhe von rund 32 000 DM herauskommt,
sieht man, dass hier große Vermögen wirklich in einem
sehr geringen Maße belastet werden. Eine solche Belastung ist für Inhaber großer Vermögen wirklich gut zu tragen. Aber ein Grundstück im Wert von 1,2 Millionen DM
ist nicht das, was der Durchschnittsverdiener besitzt. Aber
ich verstehe schon, dass derjenige, der 1 Million DM auf
seinem Konto nicht mehr findet, auch die 32 000 DM
nicht mehr findet bzw. vergisst, sie zu überweisen.
({2})
Mit der Vertagung der Erbschaftsteuerreform haben
Sie die Möglichkeit vertan, eine Umverteilung zugunsten
der Länderfinanzen vorzunehmen. Wäre die Erbschaftsteuerreform jetzt durchgeführt worden, hätten Sie die
Landespolitik stärken können. Mit den Einnahmen aus
der Erbschaftsteuer hätten die Länder zum Beispiel Ganztagseinrichtungen für Kinder und eine bessere Ausstattung der Schulen und Hochschulen finanzieren können.
Damit hätten die sozialen Verhältnisse, die mit Erbschaften fortgesetzt und verfestigt werden, ausgeglichen werden können. So aber haben Sie das grundlegende Problem
der Vererbung von Vermögen und damit der Verfestigung
sozialer Verhältnisse außer Acht gelassen, und zwar per
Dekret von zwei Ministerien, nachdem die Länder versucht hatten, ihre berechtigten Interessen durchzusetzen.
({3})
Sie müssen sich schon den Vorwurf gefallen lassen,
dass Sie keine Umverteilungspolitik machen, dass Sie die
Armut nicht bekämpfen wollen und den Reichtum noch
nicht einmal in so geringem Maße, wie es durch eine Erbschaftsteuer geschehen würde, begrenzen wollen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat nun die
Kollegin Simone Violka, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Das BundesverfassungsFranziska Eichstädt-Bohlig
gericht entschied in seinem Urteil von 1995, dass Immobilien- und Grundbesitz realitätsnäher erfasst werden
müsse. Die daraufhin von der damaligen Regierung eingeführte Neuregelung war allerdings befristet und läuft
am 31. Dezember dieses Jahres aus.
Aus diesem Grund wurde von uns schon in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, zu diesem Thema eine
Sachverständigenkommission einzuberufen. Diese Kommission, bestehend aus Praktikern der Finanzverwaltungen aller Länder, Bausachverständigen und verschiedenen Vertretern des Bundesministeriums, hat inzwischen
einen Bericht vorgelegt. Fünf Bundesländer bereiteten
aufgrund dessen eine Gesetzesinitiative für den Bundesrat vor.
Leider wird heute wie auch schon am 10. Mai letzten
Jahres, als wir ebenfalls eine Aktuelle Stunde zu diesem
Thema hatten - damals allerdings auf Antrag der
CDU/CSU, die dieses Thema für den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen missbrauchen wollte -, seitens der Opposition völlig am Thema vorbeigeredet.
({0})
Statt Aufklärung war und ist auch heute Panikmache angesagt. Die Opposition auf der von mir aus gesehen rechten Seite dieses Hauses schreit Zeter und Mordio und die
Opposition links außen sieht bei Erben Reichtum, der so
schnell wie möglich umverteilt werden muss.
Immerhin ist auch die PDS-Fraktion der Meinung, dass
im Erbfall niemals Einfamilienhäuser weggesteuert werden dürfen und auch der Fortbestand von Familienbetrieben nicht gefährdet werden darf. Darin geht die PDS ausnahmsweise konform mit uns; denn das ist in unseren
Reihen noch nie strittig gewesen und wird es auch nie
sein.
({1})
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das weder die
CDU/CSU- noch die F.D.P.-Fraktion hören will. Sie
begeben sich lieber in die Welt von Grimms Märchen und
erzählen Schauergeschichten, und das nicht erst seit
heute.
({2})
Ich habe noch einmal die Reden in der Debatte im letzten Jahr zu diesem Thema gelesen. Damals sprach unter
anderem Herr Thiele, der heute leider nicht gesprochen
hat. Er sagte, „dass Rot-Grün an das sauer erarbeitete und
ersparte Geld der Bürger in unserem Land heran will“. Es
tut mir Leid, aber ich kann nicht ganz erkennen, wodurch
sich der Steuerpflichtige, also der Erbe, das Geld so sauer
erarbeitet haben soll. Als Erbe würde ich mir eine solche
Unterstellung verbitten; denn das anzunehmen lieferte
höchstens Stoff für einen Kriminalroman.
Herr Götz, zu Ihrer Rede möchte ich nur Folgendes sagen: Mein Mathematiklehrer benutzte für solche Beiträge
immer eine sehr kurze Formel; sie lautete: b2. Das bedeutet: Der Inhalt ist blühender Blödsinn.
({3})
- Nein, bei mir nicht.
({4})
Frau Hasselfeldt von der CDU/CSU-Fraktion indes ignorierte in ihrer Rede das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes und führte aus, die SPD habe schon immer eine Erhöhung der Erbschaftsteuer gewollt und benutze die
Erbschaftsteuer als ideologisches Neidinstrument. Diese
Äußerung ist nicht neu und zeigt nur, wie wenig Sie bei
diesem Thema an einer konstruktiven Mitarbeit interessiert sind.
Interessant ist auch, dass es durchaus vermögende
Menschen gibt, die das völlig anders sehen. Gates senior
zum Beispiel, der nun nicht gerade einer der Ärmsten ist,
ist der Meinung, dass Kinder kein Recht auf Reichtum haben, nur weil sie in eine reiche Familie geboren wurden.
({5})
- Ich finde es schon peinlich, wenn Sie Herrn Gates nicht
kennen.
({6})
Ich hoffe, Sie können wenigstens mit den Computern von
ihm umgehen, die Sie benutzen.
In der „Financial Times Deutschland“ wurde er vorgestern wie folgt zitiert:
Ein gutes Leben soll man sich erarbeiten. Es sollte
nicht von dem Bauch abhängen, in dem man zufällig
sein Leben beginnt.
Ich finde, das ist ein Zitat, über das man vielleicht auch in
Ihren Reihen nachdenken kann.
({7})
Bei ihrem Neidvorwurf übersah Frau Hasselfeldt anscheinend, dass Immobilien und Grundbesitz im Steuerrecht viel niedriger als Geldvermögen bewertet werden.
Wo bleibt die immer von Ihnen viel zitierte Steuergerechtigkeit, alles gleich zu besteuern? Warum muss derjenige,
der eine Million als Geldvermögen erbt, 90 000 DM Steuern zahlen und derjenige, der Immobilien erbt, die auf
dem Markt mehr wert sind, keine Steuern zahlen? Das
kann doch nicht in Ihrem Sinne sein.
Dieser Zustand ist durch nichts gerechtfertigt und wird
immer wieder Gegenstand von Gerichtsverfahren sein.
Dabei ging und geht es niemals um „Oma ihr klein Häuschen“. Aber das interessiert Sie nicht, sondern diese Irrigkeit wird von Ihnen immer wieder nach dem Motto verbreitet: Wenn man etwas nur lange genug behauptet,
glaubt es vielleicht sogar außer einem selbst noch einer.
Vor allem solche haltlosen Unterstellungen sind der
Grund, dass sich die Länder, die letztendlich betroffen
sind, momentan keine einheitliche Meinung dazu gebildet haben. Dennoch ist gesetzliches Handeln notwendig,
da sonst ab dem nächsten Jahr keine Grundstückswerte
mehr festgestellt werden könnten und folglich keine Steuerveranlagungen mehr durchgeführt werden. Die daraus
resultierenden Steuerausfälle wären für die Länder nicht
verkraftbar.
Daher wird es zu einer erneuten Befristung kommen,
die den Ländern erst einmal Rechtssicherheit verschafft.
Gleichzeitig gibt uns das genügend Zeit, um auf der
Grundlage des mittlerweile vorliegenden Berichtes der
Kommission gut und umsichtig vorzubereiten, wie man
eine verfassungsrechtlich sichere und gerechtere Bewertung von Grund- und Immobilienbesitz umsetzen kann.
Das kann allerdings nur im Einvernehmen aller Länder
geschehen. Ich bin zuversichtlich, dass auch die CDU/
CSU-geführten Bundesländer nicht umhinkommen, sich
an dieser Arbeit zu beteiligen; denn die Länder sitzen in
dieser Frage alle in einem Boot.
({8})
Jetzt hat der Kollege
Hansgeorg Hauser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Der „Basta-Kanzler“ hat wieder zugeschlagen - zum Glück, wie man in diesem Fall sagen muss. Der
Versuch, die Erbschaftsteuer drastisch zu erhöhen, ist vorerst gestoppt. Oder war es doch wieder nur ein abgekartetes Spiel? Einige Länderfürsten preschen unter tätiger
Mitwirkung des Bundesfinanzministeriums vor, um neue
Steuererhöhungen zu erreichen,
({0})
und der Kanzler kann sich zum Retter der Häuslebesitzer
aufschwingen.
({1})
Großzügig lässt er die Pläne auf Eis legen und
beschwichtigt die Ministerpräsidenten am Kamin.
Ganz so glücklich damit scheinen aber Simonis,
Möller und Co. doch nicht zu sein; denn sie verkündeten
rasch, dass diese Erhöhung nur aufgeschoben sei. Auch
die Linken in der SPD setzen nach und verkünden ihre alten Parolen, dass leistungsloses Vermögen stärker belastet werden muss.
({2})
Nordrhein-Westfalen springt dem Retter bei und bringt
mit einem Verschiebeantrag, wie wir es gerade gehört
haben, den lahmenden Gaul über die Hürden. Dies
geschah getreu dem Motto, wie es die „Süddeutsche
Zeitung“ vorgestern zum Ausdruck brachte:
Das Ende der Politik ... Gerhard Schröder macht den
Stillstand zur Chefsache.
({3})
Ein bei uns sehr populärer fränkischer Kabarettist würde
sagen: Aufgemerkt, das dicke Ende kommt noch! - Aber
die Wähler sollen dieser Koalition erst einmal wieder ihre
Stimme geben. Dann werden sie schon sehen, was auf sie
zukommt. Das wurde vor den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bereits vorexerziert:
Kaum ist gewählt, schon quält die SPD die Steuerzahler.
So schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ am 28. März dieses
Jahres.
Was wollen die fünf SPD-geführten Länder mit ihrem
Vorschlag erreichen? Was bringt er für Auswirkungen?
Aufgrund der Verfallsklausel - das haben wir schon
gehört -, nach der die für die Grundstücksbewertung
maßgeblichen Wertverhältnisse nur bis zum 31. Dezember 2001 gelten sollen, meinten die Länder SchleswigHolstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, eine weitere Verschärfung
im Bewertungsrecht erreichen zu müssen. Finanzminister
Möller aus Schleswig-Holstein sagte im Bundesrat am
30. März 2001 dazu:
Ziel des Gesetzentwurfs ist es, erstens eine Annäherung der Grundbesitzwerte an den Verkehrswert zu
erreichen, zweitens das Bewertungsverfahren zu vereinfachen und drittens das Aufkommen der Länder
aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer sowie der
Grunderwerbsteuer zu sichern.
Hier war wohl „erhöhen“ gemeint; denn eine gerechtere
Bewertung ließe sich auch aufkommensneutral erreichen. - Der Vorschlag hätte Erhöhungen der Verkehrswerte von durchschnittlich 51 Prozent auf durchschnittlich 72 Prozent erreicht.
Hier wird immer das Urteil des Verfassungsgerichts zitiert. Meine Damen und Herren, dieses Urteil hätte sehr
wohl ausreichend Spielraum gelassen und eine sachbezogene Differenzierung bei der Bewertung von Vermögenswerten ermöglicht. Wenn jetzt gesagt wird, dass der Zustand, den wir zur Zeit haben, verfassungswidrig sei, dann
frage ich Sie, wie man mit einem Antrag auf Verschiebung
diese Verfassungswidrigkeit beseitigen kann.
({4})
Meine Damen und Herren, an zahlreichen Beispielen
lässt sich nachweisen, wie groß die Erhöhung wäre. Lassen Sie mich ein Beispiel zitieren, das der bayerische Finanzminister in der Bundesratssitzung genannt hat: Eine
Alleinerbin, eine Tochter, erbt ein Zweifamilienhaus in
Amberg in der Oberpfalz - das ist nun weiß Gott keine
Gegend, in der der Jetset zu Hause ist -, die Wohnungen
haben eine Wohnfläche von 123 m2, die Grundfläche beträgt 800 m2, die monatliche Kaltmiete für eine Wohnung
1180 DM, der Bodenrichtwert 250 DM. Die Erbschaftsteuerbelastung beträgt zurzeit 0 DM, nach den Vorschlägen von Herrn Möller beliefe sie sich auf
15 180 DM. Dann gab es einen modifizierten Vorschlag,
nach dem es immer noch 13 800 DM gewesen wären, und
nach den Vorstellungen der Sachverständigenkommission
wären es sogar 21 000 DM gewesen.
Oder lassen Sie mich ein zweites Beispiel anführen,
weil es immer heißt, der Enkel solle nicht das Häuschen
der Oma verkaufen müssen. Natürlich muss er es nicht
wegen der Erbschaftsteuerbelastung verkaufen, aber ich
frage mich: Wieso ist es gerechtfertigt, bei solchen geringfügigen Vermögen überhaupt diese Steuer zu verlangen? Dazu noch ein Beispiel aus der Oberpfalz - das sind
jetzt aktuelle Werte -: ein Häuschen, 1961 gebaut, Wohnfläche 115 m2, Grundstücksfläche 500 m2, Monatsmiete
950 DM. Die Erbschaftsteuerbelastung beträgt zur Zeit
bereits 2 450 DM, die künftige Belastung nach dem Vorschlag liegt bei 12 000 DM.
Meine Damen und Herren, dieses Beispiel beweist
ganz genau, dass die Redensart, ein kleines Häuschen
solle nicht belastet werden, völlig daneben liegt. Der
Kanzler hat erkannt, dass das eine Zeitbombe sein könnte;
deswegen hat er die Sache gebremst. Lassen Sie die Diskussionen, lassen Sie es bei den bisherigen Werten! Das
wäre sachgerecht und auch vernünftig. Schenken Sie den
Wählern vorher reinen Wein ein!
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat die Kollegin
Lydia Westrich für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich schade; gerade
die Fraktion der PDS und oft auch die F.D.P.-Fraktion beklagen sich immer darüber, dass wichtige Themen so weit
in die Abendstunden geschoben werden. Hier sitzen wir
jetzt zur besten Zeit und unterhalten uns mit Leidenschaft
- zum wievielten Mal? - über die Erhöhung der Erbschaftsteuer:
({0})
Eine Aktuelle Stunde dazu im November 1999, eine im
Mai 2000, eine im Mai 2001; sollen wir denn den Termin
für das nächste Jahr schon miteinander ausmachen, Frau
Hasselfeldt?
({1})
Mit welchem Pathos und welchem Tremolo Sie hier
über Chimären reden!
Nach dem kommenden Sonntag
- das war damals der Wahlsonntag in Nordrhein-Westfalen - davon sind wir überzeugt - werden Sie die Katze
aus dem Sack lassen!
So hat es Heinz Seiffert im Mai 2000 gesagt. 53 oder
54 Sonntage sind nun ins Land gegangen. Und gibt es etwas? - Nichts! „Die arme Katze“, könnte man sagen.
Die einzige Erhöhung der Erbschaftsteuer in den letzten Jahren haben doch Sie von der CDU/CSU und der
F.D.P., Frau Hasselfeldt, vorgenommen. Diese Erhöhung
war laut Herrn Repnik - er ist ja ein wichtiges Mitglied
Ihrer Fraktion, werte Kolleginnen und Kollegen aus der
CDU/CSU - familienfreundlich und unternehmerfreundlich. Wenn aber eine Erhöhung von Steuern in Ihren Augen familienfreundlich und unternehmerfreundlich sein
soll, dann begreife ich Ihr Pseudo-Wehklagen überhaupt
nicht. Selbst Herr Thiele hat im Mai 2000 bestätigt, dass
er und seine Fraktion zu dem höheren Aufkommen aufgrund der Erbschaftsteuererhöhung stehen. Noch letzte
Woche versuchten Sie uns mit Anträgen zur Verbesserung
der Situation des Mittelstandes vorzuführen. Die Wahrheit ist: Sie hätten in den letzten Jahren Zeit gehabt, eine
Verbesserung der Lage des Mittelstandes herbeizuführen.
Sie hätten in dieser Zeit ein Paradies für den Mittelstand
schaffen können. Sie verstehen sich aber nur als reiner
Marketingverein und fordern, was nicht wehtut, um dann
Belastungen - wie Herr Repnik es tut - als freundlich zu
verkaufen.
({2})
Ich verstehe die Intention der PDS, diese Aktuelle
Stunde zu beantragen, weil sie es als Gelegenheit sieht,
ihre Pläne zur massiven Erhöhung der Erbschaftsteuer
zum wiederholten Male vorzustellen. Ich erkenne auch
die Anstrengungen der Länder an - vor allem von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt -, ihre eigene
Steuerbasis zu verbessern. Finanzminister Claus Möller
aus Schleswig-Holstein hat aus seiner Sicht eine wirklich
sorgfältige Argumentation zu diesem Thema vorgelegt.
Auch Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU haben wiederholt die soziale Verpflichtung des Eigentums - wie es
auch die PDS vorgetragen hat - bekräftigt. Herr Binding
und Frau Eichstädt-Bohlig haben wieder einmal versucht,
Ihnen die Grundlage genau zu erklären, um eine sachliche
Diskussion zu ermöglichen. Wenn alle Länder fordern,
ihre eigenen Einnahmequellen so gut es geht zu verbessern, kann sich das ganze Haus dieser Möglichkeit nicht
verschließen. Solange dieses Ereignis aber nicht eintritt,
ist jede Diskussion überflüssig.
Seit zwei Jahren versuchen Sie mit wilden Spekulationen die Menschen zu verunsichern, weil es Ihnen nicht
passt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Erbschaftsteuererhöhungsfraktionen, dass wir - SPD und
Bündnis 90/Die Grünen - wahr gemacht haben, was Sie
nur in Sonntagsreden von sich geben. Wir haben die Steuerbelastungen für die Bürger, die Familien, die Unternehmen sowie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
unserer rot-grünen Mehrheit massiv gesenkt.
({3})
Endlich klaffen Brutto- und Nettoeinkommen nicht mehr
so weit auseinander und die Menschen merken das. Sie
aber können das anscheinend nicht verkraften. Anstatt
sich mit den Menschen zu freuen, dass sie mehr Geld zur
Verfügung haben, hetzen, spekulieren und verunsichern
Sie. Das ist alles, was Sie können, anstatt mit uns neue
Möglichkeiten zu erreichen, um eine gute, verfassungsrechtlich tragfähige Bewertungsreform auf die Beine zu
stellen.
Hansgeorg Hauser ({4})
Gerade im sensiblen Bereich von Erbschaftsfällen und
Schenkungen brauchen wir Rechtssicherheit. Deshalb
war es richtig, dass die Bundesregierung eine klare Position bezogen hat. Rechtssicherheit bei der Erbschaftsteuer
ist für die Menschen wichtiger als ideologisch geprägte
Debatten. Neid oder Privilegierung des Reichtums dürfen
keine Rolle spielen. Die Bürger brauchen Vertrauen und
wir brauchen eine sachliche und gründliche Diskussion.
Jetzt sind Sie dran, endlich die Interessen der Menschen zu vertreten und damit aufzuhören, mit wilden Spekulationen immer nur Unfrieden zu stiften.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat der Kollege
Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Westrich,
wenn Sie sagen, diese Debatte sei überflüssig, haben Sie
sich im Verlauf der Debatte eigentlich selbst widerlegt.
Heute ist völlig klar geworden: Nicht nur die Regierung
spielt auf Zeit, sondern auch SPD und Grüne tun dies.
Wenn Rot-Grün weiter an der Regierung ist, wird die Erbschaftsteuer in diesem Land erhöht werden. Das ist für die
Menschen unter dem Strich deutlich geworden. Das ist
wichtig.
({0})
Wenn man die Reden Revue passieren lässt, ist viel
wichtiger, darauf zu schauen, wer nicht gesprochen hat,
als zu schauen, wer gesprochen hat und was der vielleicht
gesagt hat. Ich frage mich in diesem Zusammenhang:
Warum spricht Detlev von Larcher - er ist ja Mitglied des
Finanzausschusses - nicht?
({1})
Der ist nicht da; haben Sie den bei diesem Thema weggesperrt, um die Widersprüche nicht allzu deutlich werden
zu lassen?
({2})
Warum spricht denn Andrea Nahles nicht, von der wir
hören, im Oktober gebe es von der parlamentarischen Linken einen neuen Vorstoß, um das Vorhaben auf den Weg
zu bringen?
({3})
Wieso spricht Finanzminister Möller nicht, der nach der
Kanzlerkungelrunde trotzig erklärt hat, an den Plänen
festzuhalten? Wieso hört man nichts von Frau Ministerpräsidentin Simonis?
Also: Es ist häufig aufschlussreicher, sich anzuschauen, wer nicht spricht, als sich anzuhören, was die gesagt haben, die gesprochen haben, was im Übrigen auch
nicht besonders erhellend war.
({4})
Frau Scheel - sie ist leider schon gegangen; aber es
wird ihr sicherlich jemand darüber berichten - hat sich in
ihrer Situationsanalyse geirrt, als sie festzustellen glaubte,
dass das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer gesunken
sei. Vielleicht verfügt sie über andere Zahlen als ich. Mir
liegen die Zahlen des Bundesfinanzministers vor. Nach
denen ist das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer kontinuierlich gestiegen, nämlich von 1996 von etwas über
4 Milliarden DM auf 6,2 Milliarden DM im Jahr 2000.
Das ist auch ganz logisch; denn wir alle reden von einer
„Erbschaftswelle“. Es ist also völlig klar, dass auch das
Volumen des Erbschaftsteueraufkommens wächst.
Hinzu kommt, dass der demographische Faktor auch in
diesem Bereich wirkt. Wenn weniger Kinder vorhanden
sind und deshalb weniger Freibeträge genutzt werden
können, erhöht sich das Erbschaftsteueraufkommen.
Wenn nicht mehr in direkter Linie, sondern weitläufiger
vererbt wird, dann können nur geringere Freibeträge in
Anspruch genommen werden. Aber Ihnen reicht dieser
Trend nicht. Sie wollen 500 Millionen DM mehr haben
und halten sich bislang nur taktisch zurück.
Der Bundesfinanzminister hat seine Sprecherin erklären lassen: Aus unserer Sicht ist eine Erbschaftsteuererhöhung vorerst nicht erforderlich.
({5})
Dieser Satz lässt beim Steuerbürger in Deutschland alle
Alarmglocken läuten.
({6})
Es ist völlig klar, wo dieses Thema demnächst behandelt
werden wird: Es ist ein Thema für die Mauschelrunden. In
den letzten zweieinhalb Jahren ist es in der Politik ja wie
auf einem orientalischen Basar zugegangen.
({7})
Sie tauschen - das war die erste Rate - Rente gegen Ladenschluss. Dann tauschen Sie - das war die zweite Rate Rente gegen Betriebsverfassungsgesetz, dann Steuerreform gegen Stadtstaatenprinzip und Sportstadion sowie
Altersvermögensaufbau gegen 1 200 Jobs hier im Umland. Vielleicht nutzt man das Thema der Erbschaftsbesteuerung auch noch, um Herrn Holter in MecklenburgVorpommern zu trösten.
({8})
Das Thema ist jetzt in dem großen Topf, aus dem Kompensationen geleistet werden sollen und mit dessen Hilfe
Wohlverhalten hergestellt werden soll.
Wenn Sie sich das, was auf dem Tisch liegt, wirklich
einmal anschauen würden - Hansgeorg Hauser hat es
eben schon deutlich gemacht -, dann würden Sie feststelLydia Westrich
len, dass Sie tatsächlich an „Oma ihr klein Häuschen“ gehen, um diesen Ausdruck aufzugreifen. Wenn wir schon
von der Oma und ihrem kleinen Häuschen sprechen, dann
sollten wir uns auch den Enkel betrachten. Wenn Sie sich
die Grundstücks- und Immobilienpreise in den Ballungsräumen anschauen und mit dem Verkehrswert vergleichen, dann werden Sie selbst bei einer nur überschlägigen
Rechnung feststellen, dass der Enkel schon heute nicht
erbschaftsteuerfrei erben kann und dass seine Belastung
nach Ihren Plänen sogar noch auf das Dreifache steigen
wird. Wenn man eine Immobilie im Wert von 1 Million DM erbt, dann muss man mit einer Erbschaftsteuer in
Höhe von mindestens 60 000 DM rechnen. Das muss man
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Sie wollen sich - das ist völlig klar - über die Wahl hinaus retten. Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Wir sagen: Bürger aufgepasst! SPD und Grüne wollen an „Oma ihr klein Häuschen“! Wer Vorsorge treffen
will und nicht möchte, dass das geschieht, der hat das selber in der Hand und muss bei der Wahl im nächsten Jahr
CDU/CSU wählen. Dann wird das verhindert.
Danke schön.
({9})
Zum Abschluss dieser
Aktuellen Stunde gebe ich das Wort an die Kollegin Ingrid
Arndt-Brauer für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! All denjenigen, die
später zu uns gestoßen sind, möchte ich sagen: Hier findet zurzeit eine Aktuelle Stunde statt. Aktuell könnte man
natürlich über viele Themen reden. Ich denke zum Beispiel an Leuna und an Biedenkopf. Es gibt unheimlich
viele Dinge, die die Leute im Moment interessieren. Stattdessen reden wir über ein Thema, über das wir traditionell
eigentlich jährlich diskutieren. Wir reden ungefähr jedes
Jahr im Mai über die Erbschaftsteuer.
({0})
Das macht eigentlich wenig Sinn, weil wir aktuell gar
nicht vorhaben, in diesem Bereich etwas zu verändern.
({1})
Ein wenig aktueller ist die Ökosteuer, über die wir monatlich reden. Dieses Thema spielte in die heutige Debatte
ein bisschen mit hinein. Das war sozusagen halbaktuell.
Aber wir reden, wie gesagt, eigentlich über die Erbschaftsteuer.
Ich möchte kurz auf das eingehen, was meine Vorredner gesagt haben. Es ist inhaltlich immer das Beste, wenn
man als letzte Rednerin spricht; denn dann ist das meiste
schon zum Thema gesagt worden. Ich finde es sehr ehrenwert, dass die PDS für eine angemessene Besteuerung
sorgen möchte. Etwas anderes wollen auch wir nicht
({2})
und werden wir in Zukunft auch nicht tun. Die Frau
Staatssekretärin hat darauf hingewiesen, dass es sich um
eine Länderinitiative handelt und dass dies auch so bleiben wird. Wir sind sehr gespannt, wie sich diese Initiative
in den nächsten Jahren entwickeln wird.
Was mich sehr freut, ist, dass vor allem die CDU/CSU
unsere Parteitagsbeschlüsse ausgiebig liest.
({3})
Das ist wichtig für Sie. Sie können nur davon lernen. Ich
lese Ihre leider nicht.
({4})
Deshalb wäre es gut, wenn Sie ab und zu auch einmal hier
vortragen würden, was Sie perspektivisch machen möchten.
({5})
Was ich persönlich immer wieder schade finde, ist,
dass hier über „linke“ Sozialdemokraten so geredet wird,
als ob das ein Schimpfwort wäre. Ich kann Sie beruhigen:
Bei uns in der Partei werden die Leute nicht abgestempelt.
Damit haben wir kein Problem.
({6})
Sie fordern immer wieder: Sagen Sie doch den Leuten
vor der Wahl die Wahrheit; dann merken sie es nicht erst
hinterher. Sie gehen also ganz automatisch - wie wir
natürlich auch - davon aus, dass wir die Wahl gewinnen.
({7})
Das freut mich sehr und das macht mich zufrieden.
Schwierig wird es in Zukunft, so denke ich, mit der
F.D.P. Wir wissen, dass Sie nächstes Mal mitregieren
möchten. Das wird schwierig; denn Sie müssen Ihre Meinung dann komplett ändern. Aber das F steht wohl für
„flexibel“ oder „Fallschirmspringen“. Da werden Sie die
Kurve schon kriegen.
({8})
Zu Herrn Götz möchte ich noch kurz anmerken: Auch
wir stehen natürlich zum Wohneigentum. Wir möchten
auch, dass die heutigen Erben sich ein Haus bauen können. Ich bin zuversichtlich, dass sie mit all unseren Steuerreformen dazu auch in der Lage sein werden. Die Apokalypse, die Sie an die Wand gemalt haben, werden wir
also erst einmal für zwei Jahre verschieben, und dann wird
sie auch nicht so dramatisch werden, wie Sie das befürchten.
Herrn Hauser wollte ich noch fragen, woher er den Begriff „leistungsloses Vermögen“ hat. Den kannte ich bisher nicht. Wenn Sie keine Nutzungsrechte daran haben,
würden wir den in Zukunft gern verwenden.
({9})
Ich finde den ganz gelungen. Bei uns habe ich das noch
nicht gehört.
({10})
Aber Sie können mich ja gern aufklären.
Zu Herrn Willsch noch: Ich sehe das Ganze nicht so
dramatisch. Wenn Sie neidisch darauf sind, dass wir gestalten können und dass wir vielleicht auch ein bisschen
verhandeln, wenn wir Reformen machen, dann tut mir das
Leid. Aber Sie werden sich damit arrangieren müssen.
Das wird auch in Zukunft so bleiben.
({11})
Ich danke Ihnen.
({12})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe den heute Morgen aufgesetzten Zusatzpunkt
12 auf:
Zweite und dritte Beratung der von der Bundesregierung und von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwürfe eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses
- Drucksachen 14/4733, 14/3750, 14/6036 Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.
vor. Die Fraktion der CDU/CSU hat ihren Gesetzentwurf
zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens,
Drucksache 14/163, zurückgezogen.
Wie heute Morgen beschlossen, beträgt die Dauer der
Aussprache eineinhalb Stunden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hermann Bachmaier für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren!
Auf Dauer wird die bürgerliche Rechtspflege nicht in
der Lage sein, ohne weitergehende Maßnahmen diesen Geschäftsanfall und - erst recht nicht - die vom
Gesetzgeber übertragenen neuen Aufgaben zu bewältigen und dem rechtsuchenden Bürger in angemessener Zeit Rechtsschutz zu gewähren.
So heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs der
CDU/CSU-Fraktion vom Anfang dieser Legislaturperiode.
In diesem Antrag ist neben dem verstärkten Einsatz
von Einzelrichtern eine „Einschränkung des Angebots der
Rechtsmittel“, wie es so schön heißt, sprich: eine recht rigorose Befugnis zur Zurückweisung von Berufungen bis
zu einem Streitwert von sage und schreibe 60 000 DM
vorgesehen.
Dieser Gesetzentwurf, über den wir, wie gesagt, heute
mit zu beraten und auch mit zu entscheiden haben, liegt in
der unseligen Tradition der vielen so genannten Rechtspflegeentlastungsgesetze, mit denen wir in den zurückliegenden Legislaturperioden immer dann befasst,
manchmal fast traktiert wurden, wenn die Justiz mit ansteigenden Fallzahlen in Schwierigkeiten geriet.
Dann wurde an der Streitwertschraube mit der Folge
gedreht, dass wir inzwischen fast eine Art Zweiklassenjustiz haben: Hohe Streitwerte genießen komfortabelsten
Rechtsschutz bis hin zum Bundesgerichtshof; Verfahren
mit niedrigeren Streitwerten müssen sich unabhängig davon, wie existenziell ihre Bedeutung für die Beteiligten
ist, mit begrenzten Rechtsmittelmöglichkeiten begnügen.
Die Folge ist auch, dass die Amtsgerichte, die den größten Teil aller Zivilrechtsverfahren zu schultern haben,
zum Teil rettungslos überlastet sind. Richterinnen und
Richter, die jährlich über 700 Fälle zu bearbeiten haben,
können auch bei noch so gutem Willen dem Einzelfall
nicht die Zuwendung zukommen lassen, die Rechtsuchende von der Justiz zu Recht erwarten können.
Die von der Regierung und den Koalitionsfraktionen
heute zur Abstimmung gestellte Zivilprozessreform führt
zu deutlichen Verbesserungen. Zivilrechtliche Auseinandersetzungen sollen künftig wieder so von den Gerichten
bewältigt werden können, dass die Rechtssuchenden
möglichst schon in erster Instanz mit einem abschließenden Ergebnis rechnen können, und zwar in einem Verfahren, das ihren Gerechtigkeitsvorstellungen
entspricht. Verstärkte Aufklärungspflichten des Gerichtes
sollen schon in einem frühen Stadium den Rechtssuchenden die Chancen und Risiken des Verfahrens offen legen.
Dem Ziel, bereits in diesem Stadium zu einem fairen Ausgleich zu kommen, dient auch die Verpflichtung des Gerichts, vor der streitigen Verhandlung im Rahmen einer
Güteverhandlung eine vergleichsweise Regelung anzustreben. Erhöhte Aufklärungspflichten schaffen nicht nur
Transparenz und verhindern Fehleinschätzungen durch
die Prozessparteien, sondern verstärken gleichzeitig die
Bereitschaft, im Vergleichswege eine Lösung zu suchen.
Wir brauchen diese Stärkung der ersten Instanz dringend;
denn allein die Zahl der durchlaufenen Instanzen ist noch
kein zwingender Beleg dafür, dass bessere Ergebnisse erzielt werden.
Eine gründliche Befassung und ein transparentes Verfahren in der ersten Instanz rechtfertigen es auch, aussichtslose Berufungen durch einstimmigen Beschluss
der Berufungskammer bzw. des Berufungssenates zurückzuweisen. Anders als dies noch der CDU/CSUAntrag vorsieht, sollen auch in diesem Falle die Prozessparteien nicht plötzlich mit einer solchen Entscheidung
konfrontiert werden. Das Berufungsgericht hat vielmehr
seine Absicht, die Berufung zurückzuweisen, unter Nennung der Gründe mitzuteilen und dem Berufungsführer
Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Dadurch werden zur Verbitterung Anlass gebende überfallartige Entscheidungen vermieden und dem Gebot des rechtlichen
Gehörs Rechnung getragen.
Durch die Reform des Berufungsverfahrens wird die
Durchführung erkennbar aussichtsloser Berufungen verIngrid Arndt-Brauer
mieden und bereits nach Abschluss der ersten Instanz
Rechtssicherheit hergestellt. Dem von manchen so hervorragend beherrschten Spiel, durch eine exzessive Ausnutzung des Instanzenzuges sich möglichst lange Zahlungs- und Leistungspflichten zu entziehen, wird mit
diesen prozessualen Möglichkeiten Einhalt geboten.
Rechtlich und tatsächlich zweifelhafte Entscheidungen
der ersten Instanz können aber nach wie vor, wie die einschlägigen Vorschriften zeigen, in der Berufungsinstanz
gründlich überprüft werden.
Gerade auch die einschlägigen Vorschriften zur Berufung zeigen, dass der Reform die intensive Beratung im
Parlament und in der Fachöffentlichkeit sowie im Kreis
ausgewiesener Experten gut getan hat. Ich glaube, wir
können mit Fug und Recht behaupten, dass kaum ein
rechtspolitisches Reformvorhaben eine so umfassende Beratung im Parlament und in der Öffentlichkeit erfahren hat.
({0})
Dazu hat die sicherlich streitbare, aber immer offene Dialogbereitschaft des Justizministeriums entscheidend beigetragen.
Auch bei der immer heftig umstrittenen Frage der Abgrenzung von Kammer- und Senatszuständigkeit gegenüber einem verstärkten Einsatz von Einzelrichtern
wurde letztlich ein, wie ich meine, recht vernünftiges und
ausgewogenes Ergebnis erzielt. Schließlich wissen wir
aus der täglichen Praxis, dass auch bei komplizierten und
bedeutenden Verfahren die Akzeptanz einzelrichterlicher
Entscheidungen letztlich nicht hinter Kammer- und Senatsentscheidungen zurücksteht. Aus vielerlei Gründen,
wie zum Beispiel der Heranführung junger Richterinnen
und Richter an die gerichtliche Praxis und für höchst diffizile und umfangreiche Prozessmaterien in erster und vor
allem in zweiter Instanz, benötigen wir jedoch auch in Zukunft Kammern und Senate.
Gerade auch die Neuregelung des Revisionsrechtes
zeigt, dass wir bei der Zivilprozessrechtsreform Ernst machen mit unserem Anliegen, Rechtsmittel nicht nach der
jeweiligen Höhe des Streitwertes zur Verfügung zu stellen oder zu verweigern. In Zukunft ist die Revision gegen
alle Berufungsurteile unabhängig vom Streitwert dann
möglich, wenn sie durch das Berufungsgericht zugelassen
oder über eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof erstritten wird, wenn auch erst nach einer
Übergangsregelung von fünf Jahren. Die in einem sozialen Rechtsstaat höchst ungerechte und willkürliche Streitwertgrenze von 60 000 DM wird endlich abgeschafft.
Insgesamt konnten die meisten der angestrebten Reformziele erreicht werden. In Zukunft wird es bei der Lösung zivilrechtlicher Konflikte wieder stärker darauf ankommen, welche prozessualen Instrumente jeweils geboten sind, um einen Rechtsstreit einer vernünftigen Lösung zuzuführen, und weniger darauf, welcher Streitwert
dem Verfahren zugrunde liegt. Zwar wurde im Zuge der
parlamentarischen Beratung, wobei die Bundesländer
frühzeitig einbezogen wurden, letztlich eine Konzentration aller Berufungsverfahren bei den Oberlandesgerichten noch nicht realisiert. Dies ändert aber nichts daran,
dass mit diesem Gesetz eine innere Reform des Zivilprozesses in die Wege geleitet wird. Es schadet nicht, die
Konzentration der Berufungsverfahren bei den Oberlandesgerichten zunächst einmal in der Praxis zu erproben
und aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen dann
die notwendigen und gebotenen Schlussfolgerungen zu
ziehen.
In Anbetracht der außerordentlich guten Erfahrungen,
die wir in unserem Gerichtswesen mit eindeutigen Zuweisungen von Funktionen an die jeweiligen Instanzen
gemacht haben, wäre es sicherlich sinnvoll gewesen, auch
diesen Schritt bereits jetzt zu vollziehen. Zur praktischen
Realisierung einer Reform des Zivilprozessrechtes ist
aber eine breite Akzeptanz erforderlich. Erst wenn diese
Akzeptanz gegeben ist, wird der damit beabsichtigte Erfolg auch eintreten.
Zusammenfassend, meine Damen und Herren, kann
ich feststellen, dass mit dieser Reform die Justiz gut für
ihre zukünftigen Aufgaben gerüstet ist.
Herzlichen Dank.
({1})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ein großer Wurf sollte
es werden. Die alte Dame ZPO sollte nicht nur aufpoliert
werden,
({0})
sondern es sollte eine Runderneuerung erfolgen. Wie der
Kollege Siemann so treffend gesagt hat: Dieses Reformvorhaben ist als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. Die Luft ist raus. Aus der großen Reform, die eine
Jahrhundertreform werden sollte, ist ein Reförmchen geworden.
({1})
Die SPD und auch die Grünen wollten damit ja in die Geschichte eingehen, zumindest in die Rechtsgeschichte.
({2})
Mit dieser rechtspolitischen Ruine werden sie in die Geschichte eingehen, aber nicht so, wie sie es geglaubt haben.
Insgesamt sind wir dankbar dafür, dass diese Reform
entsprechend zusammengestutzt worden ist. Wir haben
auf diese Weise, wie ich meine, unsere gut funktionierende Justiz erhalten. Die jetzigen Regelungen werden
den Justizablauf zwar behindern, aber sie werden ihn
nicht maßgeblich stören können.
({3})
Verehrte Frau Justizministerin, an Ihrer Stelle würde
ich hier eigentlich heute in Sack und Asche Buße tun,
denn Sie haben diese Reform nun wirklich in der Öffentlichkeit angepriesen. Lesen Sie doch einfach einmal, was
der „Spiegel“, den ich sonst gar nicht so gern zitiere, von
dieser Woche dazu schreibt. Dann werden Sie feststellen,
was der „Spiegel“ und ähnlich ausgerichtete Zeitschriften
von Ihrer Reform halten.
({4})
- Warum müssen Sie immer so meckern? Nur weil ich
Geis heiße? Lassen Sie es doch einmal bleiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns in aller Ruhe diesen Scherbenhaufen, der nun übrig
geblieben ist, betrachten.
({5})
Wie ist es zu diesem Scherbenhaufen gekommen? Ich
habe noch nie einen solch massiven Widerstand der Fachwelt gegen ein Reformvorhaben der Regierung erlebt. Die
Anwälte sind regelrecht auf die Barrikaden gegangen;
({6})
sie haben Anzeigen geschaltet und das Gespräch mit dem
Bundeskanzler gesucht. Die Richter waren nicht etwa
verschnupft. Nein, sie haben ganz erheblichen Widerstand
gegen diese Reform geleistet. 23 deutsche Oberlandesgerichtspräsidenten haben auf ihrer Konferenz im Sommer letzten Jahres zu dieser Reform ihr kategorisches
Nein erklärt und Widerstand angekündigt.
({7})
Diesem Widerstand konnten Sie nicht länger standhalten.
Es hätte einer Kamikazementalität bedurft, um diesen geballten Angriff der Fachwelt aushalten zu können.
({8})
Sie haben aus diesem Grunde nachgegeben und nicht, wie
ich vermute, aus besserer Einsicht.
Das Ziel Ihrer Reform, die Dreistufigkeit unseres Gerichtsaufbaus - wenn auch in verschiedenen Schritten zu erreichen, haben Sie im Grunde nicht aufgegeben. Das
zeigt sich nach der Reform der Reform an Veränderungen
hinsichtlich der Berufungsinstanz, an der Experimentierklausel und an der zentralen Stellung des Einzelrichters.
Ich werde das nachher noch erläutern.
Auch wir hatten einen Entwurf vorgelegt.
({9})
Er stammt aus der letzten Legislaturperiode. Wir haben
ihn seinerzeit mit den Ländern erörtert und entwickelt. Sie
haben daran mitgewirkt. Es war deshalb auch ganz logisch und richtig, dass die großen Parteien diesen Entwurf, soweit es den ZPO-Anteil angeht, in der letzten
Legislaturperiode gemeinsam verabschiedet haben. Ich
möchte in Erinnerung rufen, dass es keinen Widerstand
gegen den ZPO-Teil gab.
Weil dieser Entwurf im Vermittlungsausschuss aufgrund einer Klausel - über die man streiten kann, die ich
aber gar nicht für so verkehrt halte - gescheitert ist und
schließlich der Diskontinuität verfallen ist, war es logisch,
dass wir ihn neu einbringen. Wir hatten die Hoffnung,
dass wir auf ein neues Interesse stoßen. Aber Sie wollten
über diesen Entwurf nicht sprechen. Sie wollten vielmehr
groß herauskommen und Ihren eigenen Entwurf einbringen. Sie haben deshalb unseren Entwurf von vornherein
nicht behandeln wollen. Wir haben zugestimmt, zunächst
die Beratung Ihres Entwurfs abzuwarten, obwohl wir unseren Entwurf vorher eingebracht haben.
({10})
Unser Entwurf wurde aber nicht zum Gegenstand der
Beratung. Ich gebe Ihnen zu, dass wir unseren Entwurf
nach dieser Diskussion heute nicht so verabschieden würden, wie wir ihn eingebracht haben.
({11})
Frau Ministerin, im Übrigen haben wir hier noch nie ein
Gesetz so verabschiedet, wie es in das Parlament eingebracht wurde. Im Rechtsausschuss gab es schon viele
fruchtbare Diskussionen und es wurden dort schon immer
Änderungen vorgenommen. Es sei festgehalten, dass wir
gemeinsam schon viele gute Regelungen auf den Weg gebracht haben. Es sei auch anerkannt, dass die entsprechende Diskussion, die wir mit Ihnen im Rechtsausschuss
geführt haben, fruchtbar - wir konnten das Schlimmste
verhindern; das wissen Sie - im Sinne einer vernünftigen
ZPO-Regelung war.
({12})
- Es waren die Opposition und - wenn ich das einmal so
sagen darf - die außerparlamentarische Opposition, nämlich die Fachwelt, die einen so großen Widerstand geleistet haben, weil sie mit Ihrem Entwurf nicht einverstanden
sein konnten.
({13})
Es ist völlig klar, dass auch unser Entwurf heute nicht
so zur Abstimmung gestellt worden wäre, wie wir ihn eingebracht haben. Diese Erkenntnis haben wir aufgrund der
Diskussion in den letzten eineinhalb Jahren gewonnen.
Weil unser Entwurf nicht Gegenstand der parlamentarischen Erörterung geworden ist - Sie haben sich nicht darauf eingelassen -, war es logisch und richtig, ihn am
Ende zurückzuziehen.
Woran entzündete sich der Widerstand? Die Fachwelt
hat insgesamt erkannt, dass unsere Rechtsordnung einen
sehr schweren Schaden nehmen würde, wenn Ihre Reform
unverändert und ungestutzt in das Gesetzblatt aufgenommen werden würde. Deswegen hat die Fachwelt sofort heftigsten Widerstand geleistet. Der Widerstand und
die Diskussion entzündeten sich zunächst einmal an den
Regelungen bezüglich des Berufungsverfahrens. Sie hatten diesbezüglich ganz andere Vorstellungen. Sie wollten
aus der Berufungsinstanz eine reine Rechtskontrollinstanz machen. Durch die Diskussion sind Sie eines Besseren belehrt worden. Ihren Vorstellungen wurde sozusagen die Spitze genommen.
({14})
- Frau Präsidentin, vielleicht könnten Sie einmal die Frau
Ministerin bitten, damit aufzuhören, Witze zu machen.
({15})
Ich möchte die Frau
Justizministerin bitten, keine Zurufe von der Regierungsbank zu machen, um die Würde des Parlaments zu wahren.
({0})
- Aber nicht zu laut, Frau Ministerin, das stört den Redner.
Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Frau Ministerin, solange
Sie über Ihr eigenes Versagen lachen, soll es mir recht
sein.
({0})
Wir haben mit Recht angenommen, es sei wichtig, dass
die rechtsuchende, in einem Prozess unterliegende Partei
die Chance haben muss, mit ihrem Sachvortrag voll und
ganz in die nächste Instanz zu gehen. Bei der Berufung
geht es nicht um Rechtskontrolle - in einer Rechtsstreitigkeit ziviler Natur macht die Rechtskontrolle 10 Prozent
aus -, sondern um den Sachverhalt und bei der Feststellung des Sachverhalts werden die Fehler gemacht.
({1})
Deshalb ist es wichtig, dass man in zweiter Instanz die
Möglichkeit hat, den Sachverhalt erneut und ohne Einschränkung überprüfen zu lassen. Diejenigen Einschränkungen, die wir in den Jahren 1990 und 1993 vorgenommen haben, gingen vielen von uns - ich erinnere an die
Haltung der F.D.P. - aus den von mir genannten Gründen
eindeutig zu weit.
Unsere Lehre sollte sein: Es ist gefährlich, an der
falschen Schraube zu drehen. Es ist wichtig und notwendig, dass der Rechtsuchende, der in der ersten Instanz unterlegen ist, seinen Sachverhalt voll und ganz in die zweite
Instanz einbringen kann. Wir nehmen die von uns selbst
1990 und 1993 eingeführten Beschränkungen hin; aber
damit ist es auch gut. Die Beschränkungen dürfen nicht
weiter gehen. Sie aber verschärfen die Beschränkungen
heute.
({2})
Deswegen lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Wir sind
der Meinung, dass dem Bedürfnis der Bürgerinnen und
Bürger auch nach der Reform dieser Reform immer noch
nicht genügend Rechnung getragen wird.
({3})
- Herr Stünker, stänkern Sie nicht immer so viel und lassen Sie mich ausreden! - Wir lehnen diese Reform daher
auch in diesem Teil ab.
Der Versuch, für die Zuständigkeit aller Berufungen
das Oberlandesgericht zu bestimmen, hat eine heftige
Diskussion hervorgerufen. Unserer Auffassung nach kann
man bei einem Streitwert von 1 200 DM - bekanntlich ist
jetzt ab diesem Streitwert die Berufung möglich - einer
rechtsuchenden Person, die in erster Instanz unterlegen
ist, nicht zumuten, vor einem weit entfernten Oberlandesgericht zu klagen, damit die dortige Berufungsinstanz
seine Sache überprüft.
({4})
Das ist eingesehen worden. Wir haben hier immer wieder
getrommelt und Sie haben sich unseren Argumenten letztendlich angeschlossen und Ihr Vorhaben zurückgezogen.
Allerdings sind Sie bei der Experimentierklausel geblieben. Damit unternehmen Sie den Versuch, die von Ihnen gewünschte Dreistufigkeit doch noch durchzusetzen.
Sie warten ab, ob der so heftige Widerstand mithilfe der Experimentierklausel nicht doch eines Tages gebrochen werden kann. Das wollen wir nicht akzeptieren. Wir wollen die
Dreistufigkeit nicht. Uns passt die ganze Richtung nicht.
Die Dreistufigkeit gab es schon einmal, und zwar
während der Kriegszeit. Die Dreistufigkeit wurde durch
das Rechtseinheitsgesetz von 1950 abgeschafft. Damals
wurde erklärt: Wir schaffen die Dreistufigkeit ab, weil wir
meinen, dass es besser ist, wenn der Bürger vom Amtsgericht zum Landgericht geht und dort seine Berufungssache vortragen kann. In der DDR wurde bis zur Wiedervereinigung die Dreistufigkeit beibehalten. Wir brauchen
die Fehler der Kriegszeit - kriegsbedingt war die Dreistufigkeit vielleicht notwendig; das will ich nicht beurteilen -, die man in der DDR, blind wie man war, fortgesetzt
hat, nicht zu wiederholen.
Ich bitte Sie sehr herzlich: Lassen Sie die Dreistufigkeit weg und bleiben Sie bei unserem System, das - ich
gebe es zu - aus dem Jahre 1877 stammt. In diesem Jahr
ist das GVG entstanden und es hat sich bewährt. Auch aus
diesem Grund wehren wir uns gegen die Experimentierklausel. Außerdem meinen wir, dass mit dieser Klausel
eine gewisse Unübersichtlichkeit entsteht. Es könnte sehr
leicht der Fall eintreten, dass man in dem einen Land vor
dem Oberlandesgericht klagen muss, um seine Berufung
vorzutragen, während man in einem anderen Land vor einem Landgericht klagen muss. Das alles bedeutet Rechtsuneinheitlichkeit. Wir fallen zurück in die Zustände des
18. Jahrhunderts, als wir das alles schon einmal hatten.
({5})
Das wollen wir nicht. Wir lehnen aus all diesen Gründen
diese Experimentierklausel ab.
({6})
Letzter Punkt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie billigen dem Einzelrichter eine zu große Bedeutung zu. Sie geben ihm einen zu großen Wirkungskreis
und schaffen auf diese Weise praktisch die Kammer am
Landgericht ab.
({7})
- Lesen Sie Ihren eigenen Entwurf durch. - Die Kammer
wird praktisch zur Bedeutungslosigkeit degradiert. Unser
Entwurf sah das nicht vor. Wir hatten die Kammer immer
noch beibehalten. Aber ich gebe zu, Herr Stünker, dass die
Stellung des Einzelrichters auch in unserem Entwurf aus
heutiger Sicht und nach diesem Diskussionsprozess uns
zu weit geht. Das haben wir alle in der letzten Legislaturperiode noch für richtig gehalten. Sie nicht, Herr Stünker,
weil Sie noch nicht Mitglied dieses Hauses waren. Ich bin
der Meinung, dass wir damals bei der Bedeutung, die wir
dem Einzelrichter eingeräumt haben, zu weit gegangen
sind. Wir hätten heute diesen Vorschlag in unserem eigenen Entwurf so nicht verabschiedet, wenn es denn überhaupt zur Diskussion darüber gekommen wäre. Das ist
ganz sicher.
({8})
Es gibt erhebliche Bedenken gegen die Abschaffung
des Kammersystems. Warum wollen Sie dieses Kammersystem abschaffen?
({9})
- Sie haben es praktisch abgeschafft. Lesen Sie Ihren Entwurf einmal richtig durch! Das sage nicht nur ich, das sagen auch die Fachkreise.
Wir hatten das Ganze schon einmal. Ich wiederhole: In
der Kriegszeit wurde das Kammersystem abgeschafft,
1950 wurde es durch das Rechtseinheitsgesetz wieder eingeführt. Man hat es damals aus zwei Überlegungen wieder eingeführt: einmal, weil man meinte, auf diese Weise
junge Richter besser auf ihre Tätigkeit vorbereiten zu
können - das haben Sie mit berücksichtigt -; aber zum
Zweiten auch, weil die Kammer für die Rechtsfindung
besser geeignet ist. Sechs Augen sehen vielleicht mehr als
zwei Augen.
Wir reden heute überall von Teamarbeit. In der ganzen
Welt wird Teamarbeit groß geschrieben, nur nicht bei der
Justiz. Das ist eigentlich nicht einzusehen. Deswegen sind
wir gegen die Abschaffung der Kammer und gegen die besonders herausgehobene Position des Einzelrichters.
Auch insoweit lehnen wir den Entwurf ab.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das waren
die drei wichtigsten Gründe, die uns dazu führen, auch die
Reform der Reform abzulehnen. Aber wir haben noch andere Punkte, mit denen wir uns nicht einverstanden erklären können. Das Güteverfahren ist für uns zu formalisiert.
Die Pflicht zur Aktenkundigmachung gerichtlicher Hinweise halte ich für zu formalistisch.
({10})
- Darüber haben wir lang und breit diskutiert.
Die Gehörsrüge wird nicht helfen, das Verfassungsgericht zu entlasten. Ich habe auch größte Bedenken gegen
die Pflicht Dritter, Schriftstücke und Urkunden vorzulegen. Damit ziehen wir Dritte in einen Rechtsstreit hinein.
Das sollten wir nicht tun. Auf zivilrechtlicher Ebene haben Dritte in einem Rechtsstreit, der zwischen zwei Parteien geführt wird, nichts verloren und sie sollten deswegen auch nicht in den Streit hineingezogen werden.
Das Revisionsverfahren, das nur noch der Rechtsvereinheitlichung und der Rechtsfortbildung dienen soll,
können wir nicht unterstützen. Man kann sich darüber unterhalten, ob man die Streitwertbindung bei der Revision
beibehalten soll. Da gibt es viele Möglichkeiten. Aber das
Revisionsverfahren, das nur noch der Rechtsvereinheitlichung und nur noch der Rechtsfortbildung dienen soll
- und das auf Kosten der streitenden Parteien ({11})
und in dem die Einzelfallgerechtigkeit verloren geht, halten wir für falsch. Deshalb lehnen wir auch diesen Punkt
der Reform ab.
Wir sind der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf zu einer
Rechtsruine geworden ist, die wir der Bevölkerung so
nicht zumuten können. Ich möchte Sie bitten - obwohl ich
weiß, dass ich diese Bitte vergebens ausspreche -: Nehmen Sie Ihren Entwurf zurück! Sie täten damit der deutschen Rechtsöffentlichkeit und der deutschen Rechtskultur einen Gefallen. Aber Sie werden es nicht tun. Wir
werden diesen Entwurf ablehnen.
({12})
Das Wort hat nun der
Kollege Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war nun
wirklich ein zirkusreifer Eiertanz, den Sie hier gerade vorgeführt haben.
({0})
Da haben Sie letzte Woche einem Gesetzentwurf Ihrer
Fraktion zugestimmt, von dem Sie im Laufe der Woche
gemerkt haben, dass er so schlimm ist, dass Sie ihn wieder zurückziehen müssen und ihn nicht mehr zur Abstimmung stellen wollen. Immerhin, Sie haben etwas dazugelernt. Aber, Herr Geis, das war nun wirklich keine
konsequente rechtspolitische Position.
({1})
Ich finde es schon sehr beachtlich, wie die Diskussion
in Ihrer Fraktion verlaufen sein muss.
({2})
Sie haben offensichtlich ein ziemlich schlechtes Gewissen, dass Sie die Koalition in Punkten angegriffen haben,
die in Ihrem Gesetzentwurf in einer rechtsstaatlich
äußerst problematischen Art und Weise stehen und bei denen die Koalition ausgewogene und vertretbare Lösungen
gefunden hat.
({3})
- Ich habe ihn gelesen und manches - ich komme nachher noch auf einen Punkt zu sprechen - finde ich wirklich
erschreckend.
Mehr Bürgernähe, mehr Transparenz, mehr Effizienz das ist die Überschrift über die Zivilprozessreform, die wir
heute verabschieden. Diese Reform schafft den Spagat
zwischen mehr Rechtsstaatlichkeit für die Rechtsuchenden und zügiger Erledigung von Rechtsstreitigkeiten.
Wenn es unter Schwarz-Gelb um die Zivilprozessordnung
ging, so wurden ausschließlich reine Beschleunigungsmaßnahmen beschlossen. Die so genannten Rechtspflegeentlastungsgesetze gingen regelmäßig zulasten der Rechtsuchenden. Sie waren Rechtsmittelverhinderungsgesetze.
Gedreht wurde an der Streitwertschraube, falsche Urteile
erwuchsen in Rechtskraft. Zur Not konnte allenfalls das
Bundesverfassungsgericht korrigierend eingreifen. Wir
alle wissen, wie hocherfreut Karlsruhe über diese Aufgabenzuweisung war.
Die Koalition kehrt mit dieser Reform den Trend der
vergangenen Jahre um, obwohl auch Rot-Grün diesmal an
der Streitwertschraube gedreht hat, allerdings in die andere
Richtung. Wir haben die Berufungssumme auf 1 200 DM
gesenkt und wir haben mit einer Zulassungsberufung
selbst für wertmäßig darunter liegende Streitfälle ein
Rechtsmittel geschaffen. Mit der Abhilfeentscheidung bei
Verletzung des rechtlichen Gehörs entlasten wir das Bundesverfassungsgericht und wir schaffen vor allem die
Möglichkeit, eklatant fehlerhafte Urteile zügig zu korrigieren. Das ist auch ganz wichtig für den kleinen Mann als
Rechtsuchenden vor Gericht.
Der Stuttgarter Professor Udo Kornblum hat im „Deutschen Anwaltsblatt“ vom November 2000 im emotionslosen Juristendeutsch gesagt, wie man diese Maßnahmen
interpretiert. Sie seien „eine nicht unbeträchtliche Verbesserung des gegenwärtigen Rechtszustands“. Recht hat er!
({4})
Nicht der Wert eines Rechtsstreites soll künftig darüber
entscheiden, ob ein Urteil anfechtbar ist. Diese Philosophie zieht sich durch die gesamte Reform. Im Revisionsrecht haben wir auf die willkürliche Rechtsmittelwertschranke von 60 000 DM ganz verzichtet. Ohne dass - das
betone ich - die Einzelfallgerechtigkeit auf der Strecke
bleibt, wird sich der BGH künftig wieder auf seine ureigensten Aufgaben konzentrieren: die Überprüfung von
Grundsatzfragen sowie die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung.
Es war schon unglaublich, mit welchen teils recht widersprüchlichen Argumenten der Reformkritiker sich die
Koalition im Gesetzgebungsverfahren auseinander setzen
musste. Mal hieß es, wir würden die Rechtsmittel der Bürger im Hinblick auf zu viel Effizienz beschneiden, mal
hielt man uns vor, die Reform gehe nicht weit genug, eigentlich würde alles beim Alten bleiben.
Die Wahrheit liegt in der Mitte. Diese Reform ist eine gelungene Mischung richtiger Maßnahmen, mit denen die
Interessen aller am Zivilprozess Beteiligten hinreichend
berücksichtigt werden.
Mit der Experimentierklausel bleibt die Perspektive
der Dreistufigkeit im Instanzenzug gewahrt. Sicher, mir
wäre es lieber gewesen, wenn wir die Berufungsinstanz
sofort einheitlich bei den Oberlandesgerichten installiert
hätten. Herr Geis hat heute in seiner Rede eigentlich nicht
einen einzigen Grund angegeben, warum dies falsch
wäre; er hat nur wortreich erklärt, dass er dagegen ist. Ich
hoffe daher, dass sich möglichst viele Bundesländer an
dem wissenschaftlich begleiteten Experiment beteiligen
werden. Wir haben eine flexible Regelung geschaffen. Ich
bin mir sicher, dass es 2007 nur vernünftig sein wird, das
GVG entsprechend zu ändern.
Aber, Herr Geis, vielleicht könnten Sie hier Ihren Einfluss in den unionsgeführten Ländern noch einmal geltend
machen. Möglicherweise überlegen Sie sich noch einmal,
wenn das Gesetz beschlossen ist, ob es nicht einen Versuch wert wäre, dass es in A- und B-Ländern zu entsprechenden Versuchen kommt.
({5})
Wer aber, wie die Union, in allen Bereichen der Justizpolitik getreu dem Adenauer-Motto „Keine Experimente“
verfährt, der sollte hier mit seiner Kritik lieber zurückhaltender sein.
Meine Damen und Herren, profitieren werden von der
Reform in erster Linie die Rechtsuchenden in diesem
Land. Die Lobby für diese Gruppe ist ja im Gesetzgebungsverfahren oft zu kurz gekommen.
Manche Organisationen haben vorgegeben, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. Ich erinnere nur an den großen Automobilklub, der in seinen Stellungnahmen um die Rechtsstellung der Autofahrer als
Geschädigte von Verkehrsunfällen fürchtete. Ich glaube,
wir Grüne sollten bei künftigen rechtspolitischen Vorhaben wieder vermehrt die zahlreichen Fahrradorganisationen in diesem Lande um ihren kompetenten rechtspolitischen Rat fragen.
({6})
Die Berufsverbände waren bei dieser Reform oft hin
und her gerissen. Manche Interessenvertreter mussten
nach außen gelegentlich etwas anderes verkünden, als sie
zuvor noch in persönlichen Gesprächen gegenüber der
Volker Beck ({7})
Koalition geäußert hatten. Breit angelegte Anzeigenkampagnen einer Organisation waren sicher Wasser auf
die Mühlen der Opposition. Aber, Herr Kollege Funke, so
wie Sie im Berichterstattergespräch den Präsidenten des
Deutschen Anwaltvereins, Herrn Rechtsanwalt Dr. Streck,
angegangen sind, nur weil er nicht nach der Pfeife der
F.D.P. tanzen wollte, war schon ziemlich unglaublich.
({8})
Es soll kein Missverständnis entstehen: Diese Justizreform sendet nicht das Signal aus: Prozessieren lohnt sich
wieder. In Deutschland wird nämlich zu viel prozessiert.
Mit der Reform der Rechtsmittel wollen wir die Parteien
nicht ins Rechtsmittel drängen. Im Gegenteil: Mit der
Stärkung der ersten Instanz bei Amts- und Landgerichten
durch Akzentuierung der richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflichten, aber auch durch Beibringungspflichten
der Parteien wird sich die Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen erhöhen, gerade die der ersten Instanz, übrigens auch bei den Rechtsuchenden, die nicht anwaltlich
vertreten sind. Das hat die AgV, die Arbeitsgemeinschaft
der Verbraucherverbände, in ihrer Stellungnahme ausdrücklich gewürdigt.
Wir wollen, dass die Parteien möglichst auch dann einen Richterspruch akzeptieren, wenn sie den Prozess verlieren. Wenn eine Partei künftig zügiger zu einem berechtigten Titel kommen wird, weil zum Beispiel eine
komplette Beweisaufnahme, deren Ergebnis bereits vorher feststeht, nicht wiederholt werden muss, dann bedeutet auch dies keine Erosion des Rechtsstaates, sondern
Qualitätsverbesserung.
Am liebsten wäre es uns, wenn die Parteien von zeitraubenden und kostspieligen Rechtsstreitigkeiten überhaupt verschont blieben. Deshalb ist die Einführung einer
obligatorischen und trotzdem flexiblen Güteverhandlung auch im Zivilprozess ein echter Fortschritt. Nachdem 1999 bereits die außergerichtliche Streitbeilegung in
Kraft getreten ist, stärkt die Koalition den Gütegedanken
jetzt auch im Gerichtsverfahren selbst.
({9})
Die Modernisierung des Zivilprozesses ist keine bloße
Worthülse. Wie modern wir den Zivilprozess machen,
zeigt beispielsweise die neu geschaffene Möglichkeit der
Videokonferenz im Prozess. Zeugen müssen nicht mehr
Hunderte Kilometer zurücklegen, um zwei Minuten vernommen zu werden. Mit einer solchen Regelung minimieren wir letztlich die Kosten eines Prozesses, die ja am
Ende von den Rechtsuchenden zu tragen sind.
Noch zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens warf
uns die Opposition vor, alles gehe hopplahopp und sie sei
bei den Beratungen nicht hinreichend einbezogen worden. Wie sich in einer der letzten Rechtsausschusssitzungen herausgestellt hat, ist diese Kritik jetzt wohl vom
Tisch. Herr Geis, Sie haben uns sogar ausdrücklich für die
kommunikative Offenheit gelobt.
({10})
Für dieses Lob bedanken wir uns. Aber, Herr Geis, es
wäre jetzt nur konsequent, wenn Sie und Ihre Kolleginnen
und Kollegen diesem Gesetz heute zustimmen würden,
({11})
zumal, wie Sie selbst am besten wissen, der Entwurf Ihrer
Fraktion, der heute Morgen ja noch vorhanden war, dem,
was wir heute beschließen, sogar ähnelt, nur mit einem
kardinalen Unterschied: Die Reform der rot-grünen Koalition ist rechtsstaatlich ausgereifter. Wenn ich mir in
Ihrem Entwurf beispielsweise die Verwerfungskompetenz des Berufungsgerichtes bei offensichtlicher Unbegründetheit anschaue, dann wird mir wirklich angst und
bange.
({12})
Von der Wahrung des rechtlichen Gehörs kann da nun
überhaupt keine Rede mehr sein.
Auf einen solchen Abbau der Justizgrundrechte der
Bürgerinnen und Bürger hat sich die Koalition bei dieser
Justizreform zu Recht nicht eingelassen.
({13})
Wir haben eine vernünftige Reform vorgelegt. Nach ein
paar Jahren Praxis werden Sie dies wahrscheinlich selbst
hier an diesem Pult bestätigen können.
({14})
Ich erteile dem Kollegen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesjustizministerin war ja mit
dem hohen Anspruch einer allumfassenden Justizreform
gestartet. Aus dieser Justizreform ist nun nichts geworden. Gerade einmal eine Novelle zur Zivilprozessordnung
ist es geworden. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, wenn
auch das Ergebnis nach wie vor abzulehnen ist.
({0})
Zu Recht haben praktisch alle am Wirtschaftsleben
und am Justizwesen Beteiligten die ursprünglichen Vorschläge der Bundesjustizministerin abgelehnt. Dies gilt
insbesondere für die angestrebte Dreistufigkeit unseres
Gerichtswesens. Herr Kollege Beck, wenn Sie nicht telefonieren würden, würde ich Sie darauf aufmerksam machen, dass auch das jetzige Ergebnis von der Bundesrechtsanwaltskammer, in der alle Anwälte vertreten
sind, abgelehnt wird. In der Tat habe ich in dem Berichterstattergespräch, das wir mit dem Präsidenten des Anwaltvereins geführt haben - das ist auch mein Präsident;
ich bin ja Mitglied des DAV -, gefragt - ich habe ihn nicht
angegriffen -, wie er denn nun zu dieser Justiznovelle
steht. Da hat er nicht sagen können: „Ich bin dafür“ oder:
Volker Beck ({1})
„Ich bin dagegen“. Es gab vielmehr ein entschiedenes Sowohl-als-auch.
({2})
- Herr Urbaniak, ich weiß, dass Sie Juristen sonst sehr
schätzen. Wir haben ja schon viele schöne Dinge gemeinsam umgesetzt. - Dieses Sowohl-als-auch vom Präsidenten des Anwaltvereins fand ich in der Tat nicht gerade zielführend.
({3})
Diese Ablehnung durch die Beteiligten erfolgte meines
Erachtens auch deshalb zu Recht, weil das Bundesjustizministerium den Reformbedarf im Zivilprozess nicht hat
darlegen können. Wer eine Reform will, trägt sozusagen
die Beweislast dafür, dass tatsächlich auch ein Reformbedarf vorhanden ist.
({4})
Die deutsche Ziviljustiz funktioniert im Vergleich zu
der in anderen europäischen Ländern im Großen und
Ganzen gut. Der Bürger erhält innerhalb einer angemessenen Zeit ein Urteil. Natürlich kann man sich überall
Verbesserungen wünschen und umsetzen. Vieles Wünschenswerte, beispielsweise die Ausstattung der Gerichte
mit technischen Hilfsmitteln, liegt aber in der Länderkompetenz.
Jede Novellierung der Zivilprozessordnung hat sich
meines Erachtens an zwei Grundfragen zu orientieren:
Erstens. Der Rechtsschutz des Bürgers muss verbessert
und darf nicht verkürzt werden. Zweitens. Die Belastung
der Justiz darf zumindest nicht verschärft werden. Beide
Voraussetzungen erfüllt die Novelle nicht,
({5})
wenn auch nicht zu verkennen ist, dass einzelne Verbesserungen in der ZPO, wie zum Beispiel die Videovernehmung von Zeugen, durchaus sinnvoll sind.
Der Bürger hat ein Interesse daran, dass sein Prozess
schnell und zügig abgewickelt wird und er rasch ein Urteil erhält, das er auch schnell vollstrecken lassen kann.
Auch ist es im Interesse des Rechtsfriedens, dass der Bürger in möglichst kurzer Zeit weiß, wie das Gericht entscheidet. Ich sage Ihnen voraus - auch Sie als Anwalt,
Herr Kollege Bachmaier, der zu den Gerichten zu gehen
hat, werden das alsbald feststellen -, dass dieses Ziel nicht
erreicht wird, sondern dass sich im Gegenteil gerade die
erstinstanzlichen Fälle länger hinziehen werden.
({6})
Die Verhandlungen in erster Instanz müssen von den
Parteien gründlicher vorbereitet werden - auch von Ihnen,
Herr Bachmaier -,
({7})
im Übrigen auch in den Fällen, in denen Sach- und
Rechtslage weitestgehend unstreitig sind. Vor allem die
mündliche Verhandlung muss von den Richtern intensiver als bisher vorbereitet werden
({8})
und in den mündlichen Verhandlungen muss mit den Parteien intensiver und länger beraten werden.
({9})
Dabei werden Vermerke über die im Rahmen der Aufklärungspflicht nach § 139 ZPO gemachten Hinweise abgefasst und die Frage einer vergleichsweisen Streitbeilegung angesprochen werden müssen.
({10})
Dies muss auch noch protokolliert werden. All diese Formalisierungen der mündlichen Verhandlung führen automatisch zu stärkeren Belastungen der Gerichte.
Bereits nach der geltenden Fassung der §§ 139 - ich
komme genau zu dem, was Sie sagen wollen - und
278 ZPO hat der Richter Hinweispflichten. Jeder verständige Richter hat diese in der Vergangenheit auch wahrgenommen.
({11})
Dies gilt auch hinsichtlich der gütlichen Streitbeilegung
nach § 278 ZPO in der jetzigen Fassung. Jeder verständige Richter hat schon im Interesse des Rechtsfriedens in
jedem Stadium des Verfahrens auf einen Vergleich hingewirkt.
({12})
Dazu brauche ich aber die Formalisierung nicht.
Ursprünglich war im Regierungsentwurf vorgesehen,
dass die im ersten Rechtszug festgestellten Tatsachen in
der zweiten Instanz praktisch nicht mehr hätten überprüft
werden können. Nachdem aber sowohl der Richterbund
als auch die Anwaltsverbände hiergegen Sturm gelaufen
waren, ist § 529 ZPO überarbeitet worden. Trotzdem erscheint uns die gefundene Formulierung nicht ausreichend, denn sie führt zu erheblichen Einschränkungen
hinsichtlich eines neuen Sachvortrags in der zweiten Instanz. Damit ist der Individualrechtsschutz des Bürgers
eingeschränkt; aber auf den kommt es meines Erachtens
an.
({13})
Wir haben jetzt abzuwarten, wie die Gerichte
§ 529 ZPO auslegen. Das bedeutet zunächst einmal
Rechtsunsicherheit und gerade die wollten wir eigentlich
vermeiden.
({14})
- Ja, aber bis der Rechtsstreit zum BGH kommt, Herr Kollege, dauert es einige Zeit. In dieser Zeit besteht eine
gewisse Rechtsunsicherheit. Das können Sie doch nicht
bestreiten.
({15})
In den Beratungen des Rechtsausschusses und in den
Berichterstattergesprächen haben wir hinsichtlich der Revision angeregt, dass ähnlich wie in der Finanzgerichtsordnung die Revision bei schwerwiegender Verletzung
von Verfahrensgrundsätzen zulässig sein sollte. Dies ist
von den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden, obwohl
eine Angleichung der Prozessordnungen durchaus zweckmäßig wäre. Auch dies führt zu einer Verkürzung des
Rechtsschutzes des Bürgers. Demgemäß wird die Nichtaufnahme dieses Revisionsgrundes von uns abgelehnt.
Zur Verkürzung des Rechtsschutzes trägt auch bei, dass
in der Berufungsinstanz - sowohl beim Landgericht als
auch beim Oberlandesgericht - weitgehend Einzelrichter
tätig werden und vom Kammer- bzw. Senatsprinzip abgewichen wird.
Die F.D.P. spricht sich nach wie vor gegen eine Konzentration der Berufungsverfahren bei den Oberlandesgerichten aus. Dieser Einstieg in die Dreistufigkeit, der jetzt
durch die Experimentierklausel ermöglicht wird, führt in
der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Instanzenzuges zu einem Flickenteppich. Es kann eigentlich
nicht richtig sein, wenn ein Hamburger Bürger einen anderen Instanzenzug hat als sein niedersächsischer Nachbar. Das kann für die Rechtsordnung nicht gut sein und
führt zu anachronistischen Verhältnissen.
({16})
Die §§ 142 und 144 ZPO sind von Herrn Geis schon
angesprochen worden. Diese Vorschriften führen eine
Pflicht zur Vorlage von Urkunden gegen den Willen einer
Partei und eines nicht am Prozess beteiligten Dritten ein.
Das entspricht dem angloamerikanischen Discovery-System, das unserer zivilprozessualen Inter-partes-Lösung
zuwiderläuft. Berechtigte Geschäftsgeheimnisse der Parteien und vor allem auch des unbeteiligten Dritten bleiben
völlig ungeschützt. Die Amerikaner haben eine Reihe von
Vorschriften, durch die Geschäftsgeheimnisse geschützt
werden können. Wir sind hier aber der reinen Lehre gefolgt und haben keine entsprechenden Schutzvorschriften
in § 142 ZPO aufgenommen.
Die vorliegenden Vorschriften führen zu einer erheblichen Belastung für die Justiz. Zudem wird sich jeder findige Anwalt zum Beweis seiner Behauptung zunächst einmal auf Schriftstücke beziehen, die sich im Besitz Dritter
befinden, was die Prozesse unnötig verlängern wird und
zu unnötigem Streit führt. Das mindert den Rechtsschutz
des Bürgers und erhöht die Kosten des Verfahrens insbesondere in der ersten Instanz. Auch die Zahl der Berufungs- und Revisionsverfahren wird nicht etwa, wie beabsichtigt, geringer, sondern größer. Damit wird die von
den Ländern einmal angestrebte Kostenneutralität nicht
gegeben sein.
Die Länderfinanzminister haben jedoch bereits angekündigt, nicht mehr Richterstellen zu bewilligen, sodass viele Richter befürchten, dass sie noch mehr Arbeit
bekommen werden, obwohl sie schon am äußersten Rand
ihrer Kapazitäten angelangt sind.
({17})
Diese für die Richter zusätzliche Belastung scheint die
Koalitionsfraktionen nicht zu interessieren. Eine Überlastung der Richter aber führt zu schlechten Urteilen.
({18})
Durch Justizunfälle wiederum ist der Rechtsfrieden, der gerade in der Demokratie eine große Rolle spielt, gefährdet.
Vielen Dank.
({19})
Nun hat die Kollegin
Dr. Evelyn Kenzler das Wort für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute am Ende
einer langen, intensiven und zum Teil durch heftige Auseinandersetzungen geprägten Diskussion zum vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses.
Im Unterschied zu meinen Kolleginnen und Kollegen
von der Unionsfraktion, der F.D.P. und des Deutschen Anwaltvereins sehe ich durchaus erheblichen Reformbedarf
in der Justiz angesichts deutlich unterschiedlicher Arbeitspensen der Richter an den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten,
({0})
eines überholten vierstufigen Gerichtsaufbaus und einer
notwendig gewordenen bürgerfreundlicheren, transparenteren und effektiveren Justiz.
Dass wir der vorliegenden Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses dennoch nicht zustimmen können - allerdings ohne Triumphgefühl und überzogene Polemik -,
ist nicht so sehr auf eine Reihe von durchaus begrüßens-,
zumindest jedoch bedenkens- oder erprobenswerten Einzelvorschlägen zur Stärkung der Eingangsinstanz zurückzuführen, sondern auf die zugrunde liegende Gesamtkonzeption in ihren zu erwartenden Auswirkungen auf die
verschiedenen Instanzen der Zivilgerichtsbarkeit und nicht
zuletzt auf die rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger.
Bei der Abwägung des Für und Wider des heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurfes waren für meine
Fraktion vor allem folgende Aspekte ausschlaggebend:
Die Zivilprozessreform stand von Anfang an unter der
Maßgabe der Kostenneutralität als einer Grundvoraussetzung für die Zustimmung der sie umsetzenden Bundesländer. Die begrüßenswerte und notwendige Stärkung
der ersten Instanz sollte deshalb im Wesentlichen über die
Schaffung einer einheitlichen Berufungsinstanz bei den
Oberlandesgerichten, einschließlich der Einschränkungen
bei den Rechtsmitteln, erreicht werden.
Da die deutlich höheren Arbeitspensen der Amtsrichter
im Vergleich zu ihren Kollegen an den Landgerichten und
insbesondere Oberlandesgerichten ohnehin eine personelle Verstärkung bei den Eingangsgerichten notwendig
machen, äußerte ein nicht geringer, ja sogar großer Teil
der Sachverständigen in der Expertenanhörung Ende
Dezember letzten Jahres erhebliche Zweifel daran, ob die
voraussichtlich an den OLGs frei werdenden Stellen ausreichen würden, um die für die Stärkung der Eingangsinstanz erforderliche deutliche personelle Aufstockung zu
ermöglichen.
({1})
Auch wir sind der Auffassung, dass eine kostenneutrale
Reform nach dem vom Bundesjustizministerium entwickelten Konzept nicht machbar ist. Im Unterschied zu
den Ländern, die nicht mehr Geld für die Justiz ausgeben
wollen, bin ich jedoch der Meinung: Eine bessere Justiz
muss in vertretbarem Rahmen auch mehr kosten dürfen.
Eine solche Forderung ist weder realitätsfern noch unverschämt, wenn man sich vor Augen führt, dass sich die Justiz zu einem nicht geringen Teil über Gerichtskosten
selbst finanziert und seit Jahren im Zuge etlicher
Justizentlastungsgesetze unter erheblichem Sparzwang
steht. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass Sie, Frau Ministerin, diese vorgefundene Situation nicht zu verantworten haben, die Schwierigkeiten einer Justizreform
schon lange vorausgesehen haben und sich in einer
Zwickmühle befinden.
Als Fazit bleibt jedoch: Ohne die für die wünschenswerte Stärkung der Eingangsinstanz notwendige deutliche personelle Aufstockung werden die Amtsrichter mit
der erweiterten Dokumentations- und Hinweispflicht
und den grundsätzlich erhöhten qualitativen Anforderungen an die Verhandlungsführung, insbesondere der Streitschlichtung, aber auch der Sachverhaltsaufnahme, in eine
Überforderungssituation gebracht. Eine wesentliche
Folge, die vor allem zulasten der Bürgerinnen und Bürger
geht, werden längere Verfahrensdauern sein. Die tatsächlich gewollte Stärkung der Eingangsinstanz durch mehr
Bürgernähe und Effizienz kann sich damit in das Gegenteil verkehren.
Die Einführung der so genannten Experimentierklausel hat zwar als Zugeständnis an die Länder, insbesondere
an die Flächenländer, die zu Recht wegen der Bürgerferne
der Berufungsgerichte interveniert hatten, dazu geführt,
dass deren Widerstand spürbar abgeflaut ist. Summa summarum wird sich jedoch das eingangs beschriebene Problem weiter zuspitzen. Ich bin nicht grundsätzlich gegen
ein Rechtsexperiment. Doch was geschieht in dem ganz
überwiegenden Teil der Länder, die von dieser Experimentierklausel keinen Gebrauch machen? Hier werden
keine Richter zur Stärkung der ersten Instanz frei. Auch
die Hoffnung, die Länder würden unter dem Druck des
Faktischen die notwendige personelle Aufstockung der
ersten Instanz in die Wege leiten, reicht nicht.
Unter dem Strich bleibt also ein deutlich gestiegener
Arbeitsanfall in der ersten Instanz, ohne dass eine Bereitstellung der dafür erforderlichen Stellen in Sicht ist. In
den neuen Bundesländern stellt sich die personelle Situation für die Stellenfreisetzung in der zweiten Instanz noch
ungünstiger dar, weil durch die gerichtliche Umstrukturierung Anfang der 90er-Jahre der Altersdurchschnitt der
an den OLGs tätigen Richter bekanntlich in der Regel
niedriger ist.
Die schon erwähnten Rechtsmittelbeschränkungen
in der zweiten Instanz stellen einen weiteren Knackpunkt
des Reformvorhabens dar. Die Absenkung der Berufungssumme und die Einführung einer Zulassungsberufung sind zunächst einmal begrüßenswerte Neuerungen.
Auch erkenne ich durchaus an, dass die heftig umstrittene
Einzelrichterregelung durch die Einführung einer Kannbestimmung sinnvollerweise abgeschwächt wurde. Die
Beschlussverwerfung bei offensichtlich unbegründeten
Berufungen ohne mündliche Verhandlung und ohne Überprüfungsmöglichkeit stellt jedoch einen deutlichen Verlust an Rechtsschutz dar.
Ebenso verhält es sich mit der jetzt vorgesehenen
grundsätzlichen Bindung an die Tatsachenfeststellung in
der ersten Instanz. Der dadurch verringerte Rechtsmittelschutz wird durch die Ausnahmeregelungen zur Berücksichtigung neuen Tatsachenvortrages nur abgeschwächt,
aber nicht beseitigt.
Benachteiligt werden vor allem diejenigen, die sich in
erster Instanz, meist aus finanziellen Gründen, nicht anwaltlich vertreten lassen, soweit nicht das Berufungsgericht
selbst unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen eine
erneute Sachverhaltsfeststellung für nötig erachtet. Gerade
sie sind es jedoch, die meist aus Unerfahrenheit und Rechtsunkenntnis nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen
in erster Instanz vortragen und deshalb darauf angewiesen
sind, dass sie in der zweiten Instanz gegebenenfalls durch
einen Rechtsanwalt noch eingeführt werden können. Eine
solche Regelung läuft damit dem Grundsatz der Bürgernähe zuwider und führt dazu, dass eine wirksame rechtliche Vertretung ohne Rechtsanwalt in erster Instanz wesentlich risikovoller wird.
Schließlich ist die Einführung der Grundsatzrevision
bei gleichzeitiger Abschaffung der Streitwertrevision für
meine Fraktion zwar akzeptabel; dies setzt jedoch die Einführung eines weiteren Zulassungsgrundes im Interesse
des Individualrechtsschutzes voraus, und zwar das Vorliegen eines entscheidungserheblichen Verfahrensmangels.
Auch wenn meine Fraktion aus den genannten Gründen dieser Reform als Gesamtpaket nicht zustimmen
kann, möchte ich mich am Ende dennoch sowohl für die
bei den Berichterstattergesprächen als auch bei der Anhörung im Rechtsausschuss eingeräumten Möglichkeiten
der ausführlichen Diskussion und des Austausches bedanken.
({2})
Danke.
({3})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Joachim Stünker für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Verabschiedung einer wirklichen Strukturreform des Zivilprozessrechts, wie sie das Hohe Haus hier
gleich vornehmen wird, ist historisch. Heute ist ein guter
Tag für die ordentliche Gerichtsbarkeit in unserem Land,
({0})
ein guter Tag vor allen Dingen für die rechtsuchenden
Bürgerinnen und Bürger in ihrem berechtigten Anspruch,
als Prozessparteien schneller zu ihrem Recht zu kommen
und vor allen Dingen die Entscheidungen auch zu verstehen, die letztlich dabei herauskommen.
({1})
Es ist aber ebenso ein guter Tag für die Richterinnen und
Richter; sie werden zukünftig jeden Zivilrechtsstreit mit
einem hocheffizienten und vor allem flexiblen Prozessrecht moderieren und entscheiden können, mit einem Zivilprozessrecht, das sie in die Lage versetzen wird, die
neu und vermehrt auf die Zivilgerichtsbarkeit zukommenden Aufgaben in der Zukunft ohne neue Personalanforderungen zu bewältigen,
({2})
zudem mit einem Zivilprozessrecht, mit dem das Verfahren für alle an ihm Beteiligten transparenter werden wird,
und letztlich einem Zivilprozessrecht, das endgültig
Schluss macht mit der obrigkeitsstaatlichen Annahme,
Herr Kollege Geis, gutes Recht oder umfassender Rechtsschutz müssten von der Höhe des zu entscheidenden
Streitwerts abhängig sein. Damit wird in diesem Land
endgültig Schluss gemacht
({3})
und darauf sind wir stolz. - Ich bin über Jahrzehnte hinweg Praktiker gewesen, Herr Kollege Geis, wie Sie wissen.
({4})
Wirkliche Rechtsstaatlichkeit zeigt sich für uns darin,
dass jedem Rechtsuchenden unabhängig vom materiellen
Wert und der Höhe des Begehrens das ganze umfassende
Instrumentarium der Rechtsfindung bei der Streitschlichtung oder -entscheidung zur Verfügung stehen wird.
Zukünftig kann also - um das einmal praktisch darzustellen - auch die Kaufpreisforderung oder die Werklohnforderung mit einem Streitwert von 5 000 DM in die letzte Instanz bis zum Bundesgerichtshof kommen, wenn sich eine
Partei völlig falsch behandelt fühlt und meint, es sei Unrecht, was da geschehen sei. Das ist mehr Bürgernähe, Herr
Geis; das ist neu und das ist wichtig an unserem Entwurf.
({5})
Lassen Sie mich noch einmal ganz kurz die Schwerpunkte der skizzierten Reform nennen, und zwar aus einem bestimmten Grund, zu dem ich hinterher noch ein
Wort sagen werde. Was machen wir?
Wir sehen Neuregelungen mit der Einführung moderner Kommunikationsmittel im Zivilprozess durch
Zulassung einer Verhandlung im Wege der Videokonferenz vor, die Institutionalisierung des Schlichtungsgedankens im Zivilprozess durch die Einführung einer
Güteverhandlung, die Erhöhung der Transparenz und Akzeptanz richterlicher Entscheidungsfindungen durch eine
stärkere Betonung der richterlichen Aufklärungs- und
Hinweispflichten, die Einführung des originär zuständigen Einzelrichters mit trotzdem noch wesentlichen Bestandteilen der Kammerzuständigkeit, den Abbau von
streitwertabhängigen Zugangsbarrieren - darauf ist bereits hingewiesen worden - und eine deutlichere Funktionsdifferenzierung der Rechtsmittelebenen durch die
Umgestaltung der Berufung in ein Instrument zur Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung. Wir führen beschleunigte Erledigungsmöglichkeiten bei substanzlosen Berufungen ein. Das Ganze ist die Wegbereitung zur
Harmonisierung der Verfahrensordnungen in unserem
Rechtssystem.
Wer dies alles, Herr Kollege Geis - aber Sie haben ja
Herrn Siemann als Wortschöpfer angegeben, glaube ich -,
ein „Reförmchen“ nennt, der weiß wohl nicht, worüber er
redet, der kennt den deutschen Zivilprozess nicht, wie er
sich heute darstellt. Was wir hier letztlich machen, das ist
eine grundlegende Reform.
({6})
Herr Kollege Geis, wenn Sie davon reden, wir würden
damit wieder die Zuständigkeitsverhältnisse - von einem
Flickenteppich hat der Kollege Funke gesprochen - und
Rechtsverhältnisse des 17. oder 18. Jahrhunderts schaffen, wenn wir bei der Konzentration der Berufungen bei
Oberlandesgerichten eine Experimentierklausel einführen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Davon ist das, was
in unserem Gesetz steht, weit entfernt.
({7})
Das ist moderne Gesetzgebung, Herr Geis, wie wir gestern in der Anhörung zur Juristenausbildung von vielen
Professoren gehört haben. Wir schaffen mit einer Experimentierklausel die Möglichkeit, dass sich die einzelnen
Bundesländer differenziert beteiligen und der Gesetzgeber dann nach einer gewissen Zeit auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse
({8})
darüber entscheidet, wie die Zuständigkeiten denn in Zukunft aussehen sollen. Tut er es nicht, gilt das alte, heute
geltende Recht; schafft er eine Neuregelung, gilt sie bundeseinheitlich. Wo ist da der Flickenteppich, von dem
Sie gesprochen haben? Wo sind da die Verhältnisse des
18. und 19. Jahrhunderts? Sie bauen immer Popanze auf,
von denen dann letzten Endes nur Luft übrig bleibt.
({9})
Wir sehen die Konsequenzen unseres Gesetzentwurfes. Auf Dauer wird die Rechtseinheit erhalten bleiben.
Aus einem weiteren Grunde ist heute ein sehr guter Tag
({10})
für die ordentliche Gerichtsbarkeit in unserem Lande,
denn bis heute Morgen gab es ja noch den Entwurf der
Unionsparteien, der nun wohl zurückgenommen worden
ist.
({11})
- Gott sei Dank, Herr Kollege Manzewski, genauso ist es.
Die F.D.P. hat zu dieser Frage überhaupt nichts vorgelegt. Das heißt, rechtspolitisch betrachtet, stehen Sie heute
im Grunde genommen nackt da.
({12})
Plötzlich bestreiten Sie einen rechtspolitischen Reformbedarf, den Sie 1998 noch gesehen haben, weil Sie selber
keine konkreten Vorstellungen haben.
({13})
Nachdem Sie Ihren Entwurf zurückgenommen haben,
ist nach meiner Überzeugung ein von Anfang an verfehlter rechtspolitischer Ansatz Gott sei Dank endgültig gescheitert. Die ständige Heraufsetzung der Streitwertgrenzen in Bezug auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen
Amts- und Landgerichten sowie die Erhöhung der Beschwerdewerte für Berufungen und Revisionen, wie sie in
den letzten 15 Jahren von Ihnen vorgenommen worden
ist, haben letztendlich zu immer weniger Bürgernähe und
Effizienz in der Justiz geführt.
({14})
Das ist heute das einheitliche Urteil in der Fachöffentlichkeit. Von daher, Herr Kollege Funke, ist der Reformbedarf, den Sie eben noch bestritten haben, für den Fachmann evident. Genauso wird es heute in der Praxis auch
gesehen.
({15})
Sie haben letzten Endes die Amtsgerichte, die heute
im Durchschnitt jährlich knapp 750 Verfahren pro Richter
zu bearbeiten haben, immer stärker belastet.
({16})
Ein solches Vorgehen ist eben nicht bürgernah, sondern
das genaue Gegenteil davon.
({17})
Die Kritik, die Sie heute an unserem Reformentwurf,
teilweise lautstark und vehement - Herr Kollege Röttgen
wird sicherlich gleich als praktizierender OLG-Anwalt
pro domo sprechen -, vorgetragen haben, dass die Reform
bereits im Ansatz überflüssig und aus einem großen Reformversprechen ein Reförmchen geworden sei, nehme
ich gelassen entgegen. Ich weiß, wovon ich rede.
Die heute auf den Weg gebrachte Strukturreform des
Zivilprozesses wird unumkehrbar sein. Sie wird die
Streitkultur auf den verschiedenen Seiten des Zivilprozesses verändern.
({18})
Sie wird insbesondere die Struktur der Amts-, Land- und
Oberlandesgerichte - hören Sie zu, Herr Geis - auf Dauer
verändern. Wir werden als Ergebnis dieser Reform im Zivilprozess zukünftig mehr Richterinnen und Richter an
den Amtsgerichten haben und werden mehr Richterinnen
und Richter dort einsetzen können, wo bereits heute
1,5 Millionen rechtsuchende Menschen ihre Erfahrungen
mit der Justiz machen.
({19})
- Herr Kollege Hirche, ich gebe Ihnen gerne Privatunterricht, um Ihnen das zu erklären. Das ergibt sich aus dem
System dieser Reform. Wir können das gerne nachher besprechen.
Die Stärkung der ersten Instanz wird mit diesem Entwurf auf den Weg gebracht. Das Ganze wird unumkehrbar sein.
({20})
- Herr Kollege Hirche, warten Sie es ab. Wir werden über
dieses Thema in einigen Jahren reden.
({21})
Herr Kollege Geis, ich vermag Ihre Kritik auch aus einem weiteren Grund sehr gelassen zu ertragen: Diese Koalition wird mit ihrem Reformgesetzentwurf den jetzt
eingeschlagenen Weg der Modernisierung der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Justiz generell unbeirrt
fortsetzen.
({22})
- Nach der Zivilgerichtsbarkeit kommt der Strafprozess,
Herr Kollege Geis, und danach - ich habe es Ihnen schon
einmal gründlicher erklärt - die freiwillige Gerichtsbarkeit.
Ich betone - ich habe das mit großer Freude in den
letzten Tagen in einer Pressemitteilung gelesen -, dass
auch der nordrhein-westfälische Justizminister Jochen
Dieckmann deutlich erklärt hat: Zur notwendigen Modernisierung der Justiz werden wir alle Binnenressourcen
ausschöpfen. - Diese Vorschläge werden wir noch in dieser Legislaturperiode auf den Tisch legen. Am Ende wird
ein neues Bild einer modernen ordentlichen Gerichtsbarkeit stehen, die in der Lage sein wird, angesichts der zunehmenden Internationalisierung und Europäisierung des
Rechts den globalen Veränderungen, denen wir uns zu
stellen haben, zukunftsorientiert standzuhalten und weiterhin schnell und gut in diesem Land Recht zu sprechen.
Das wird das Ergebnis sein. Ich freue mich auf die
nächsten Jahre der Erprobung. Wenn es der Wähler
zulässt, dass ich im Jahre 2007 hier noch stehen darf, garantiere ich Ihnen, dass wir ein positives Ergebnis erzielt
haben werden.
Schönen Dank.
({23})
Das Wort hat nun der
Kollege Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, eineinhalb
Jahre lang haben Sie versucht, sich durchzusetzen. Sie haben die ganze Zeit versucht, an Ihrem Kurs festzuhalten,
und haben nur ein paar marginale und kosmetische Änderungen vorgeschlagen. Sie haben im Grunde genommen
sogar - das gehört zu den Kosten Ihres Festhaltens - eine
Blockade der Rechtspolitik hingenommen. Es gibt in dieser Bundesregierung bekanntlich nur wenige Leistungsträger. Aber es gibt noch weniger Minister, die eine so
magere Bilanz vorzuweisen haben wie Sie in der Rechtspolitik. Das liegt an der Selbstblockade, die Ihre Justizreform in der Rechtspolitik herbeigeführt hat.
({0})
Sie als Mitglieder des Rechtsausschusses wissen, dass
die Liste der Ankündigungen der rot-grünen Regierung
enorm lang ist, dass aber die Zahl der Punkte, über die federführend im Rechtsausschuss beraten wird, immer geringer wird. Sie bekommen keine Ergebnisse zustande.
Sie machen nur Ankündigungspolitik.
Anderthalb Jahre lang haben Sie es versucht. Dann
musste die Selbstblockade beendet werden. Nach den
Landtagswahlen in Baden-Württemberg und RheinlandPfalz stand die Ministerin vor der Alternative, entweder
ihr Scheitern einzugestehen oder entgegen ihrer persönlichen Überzeugung - Sie halten ja den ursprünglichen Entwurf nach wie vor für richtig; das spricht auch gar nicht
gegen Sie - Zugeständnisse zu machen, einzuknicken und
die Operation „Gesichtswahrung“ durchzuführen. Im ersten Fall hätte es nur eine Verliererin gegeben, nämlich die
Bundesjustizministerin, die ihr Scheitern hätte eingestehen müssen. Im zweiten Fall - Einknicken und Gesichtswahrung - gibt es zwei Verlierer, nämlich die Bundesjustizministerin und die Ziviljustiz in Deutschland.
Das sind die tatsächlichen Verlierer.
({1})
Es stimmt zwar, dass der jetzige Gesetzentwurf nicht
mehr so schlimm ist wie am Anfang. Er hat sich von einer
rechtsstaatlichen Katastrophe zu rechtspolitischem Murks
gewandelt.
({2})
Das ist der Weg, den Sie zurückgelegt haben. Es war kein
Weg des Lernens, sondern des Scheiterns; denn es besteht
kein Zweifel daran: Im Vergleich zur jetzigen Zivilprozessordnung wird der Entwurf für Verschlechterungen
sorgen. Es wird nichts besser werden. Er bringt fast nur
Nachteile.
({3})
Es gibt eine Ausnahme - diese war nie umstritten -, nämlich die Einführung der Möglichkeit der Videokonferenz
im Zivilprozess. Das haben wir immer begrüßt. Davon abgesehen gibt es nur Nachteile für die Ziviljustiz und die
rechtsuchenden Bürger.
({4})
Sie haben den Bürgerinnen und Bürgern in diesem
Land nur falsche Versprechen gemacht. Lieber Herr
Bachmaier, die Ministerin hat mehr Transparenz versprochen. Herausgekommen ist eine Rechtswegzersplitterung. Im Zeitalter der europäischen Harmonisierung sorgen Sie für eine nationale Rechtswegzersplitterung. Das,
was bereits vor 125 Jahren als historisch überwunden galt,
wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder eingeführt.
Sie sind - das wissen Sie doch selber - von der Öffnungsklausel nicht überzeugt. Sie wissen, dass Sie sich
auf einen faulen Kompromiss einlassen und dass das nicht
gut ist. Trotzdem müssen Sie mitmachen; denn die Öffnungsklausel ist das große Pflaster für das politische
Scheitern der Bundesjustizministerin. Ihre Funktion ist,
zu verdecken, nicht zu verbessern. Damit werden Sie Ihrer Verantwortung für eine qualitativ gute Justiz in unserem Land nicht gerecht.
({5})
Sie haben mehr Effizienz versprochen. Herauskommen wird Mehrarbeit für die ohnehin schon jetzt überlasteten Amtsgerichte. Das wird zu längeren Verfahrensdauern führen, vielleicht zu schlechteren Urteilen. Jedenfalls
können die an der Front, in den Amtsgerichten, Ihre Suppe
auslöffeln.
({6})
Versprochen wurde mehr Bürgernähe. Herauskommen
wird: mehr Einzelrichter statt Kollegialgerichte - kein
Fortschritt in der Qualität der Rechtsfindung. Außerdem
wird es in der Berufung weniger Akzeptanz für ein Urteil
geben, wenn der eine Einzelrichter den anderen Einzelrichter aushebelt.
Darum ist unsere Position, dass möglicherweise in der
Eingangsinstanz der Einzelrichter entscheidet, aber dass
immer dann, wenn in der Eingangsinstanz der Einzelrichter entschieden hat, in der Berufungsinstanz ein Kollegialgericht entscheiden sollte, weil dies höhere Akzeptanz
bei den Bürgern mit sich bringt.
({7})
Was herauskommen wird, ist die Möglichkeit der
Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung. Der Bürger muss nicht mehr gehört werden. Über
seine Sache wird gar nicht mehr geredet, sondern er wird
beschieden: Über deine Sache reden wir nicht mehr. - Die
Zurückweisungsbeschlüsse in der Berufungsinstanz werden weniger Akzeptanz für zivilgerichtliche Entscheidungen mit sich bringen.
({8})
Versprochen worden ist mehr Bürgernähe. Der Zugang
zum Bundesgerichtshof wird aber zum glücklichen
Zufall für den Bürger. Diese rechtsstaatlich gravierende
Verschlechterung bleibt unter dem Strich übrig. Die Amputation des Bundesgerichtshofs, die Abschaffung des
Bundesgerichtshofs als Instanz des Individualrechtsschutzes bedeutet, dass er nicht mehr für den einzelnen
Bürger, der klagt, ihm sei Unrecht geschehen, zuständig
sein kann.
({9})
Er soll vielmehr objektive Rechtsfortbildung betreiben.
Die Abschaffung des höchsten deutschen Zivilgerichts
als eines Gerichts, das für Einzelfallgerechtigkeit zuständig ist, trifft den Punkt, an dem der Bürger Justiz kennen
lernt - nämlich nicht in der objektiven Rechtsordnung,
sondern in seinem Fall.
({10})
Sie haben es sogar abgelehnt, dass Verfahrensmängel,
die sich im Urteil der vorherigen Instanz niedergeschlagen haben, mit der Revision vor dem Bundesgerichtshof
angefochten werden können. Selbst ein Verfahrensmangel, der das Urteil beeinflusst hat - ein ergebniskausaler
Verfahrensmangel -, kann nicht mehr vor dem Bundesgerichtshof gerügt werden. Das ist statt mehr Bürgernähe
weniger Rechtsschutz für den Bürger. Alle Versprechungen, die Sie gemacht haben, lösen Sie nicht ein.
({11})
Sie wissen das auch; aber trotzdem werden Sie heute
dafür im Bundestag eine Mehrheit finden.
({12})
- Aber, Herr Kollege Dr. Bürsch, versuchen Sie es in irgendeinem deutschen Gericht, bei dem die Richter und
Anwälte über diese Zivilprozessreform entscheiden könnten. Sie würden in keinem deutschen Gericht eine Mehrheit für diese Reform finden, weil die Praktiker des Zivilprozesses - das ist doch nicht die Kritik der CDU/CSU,
der Opposition - von Ihnen nicht mit dieser Reform beglückt werden wollen. Sie lehnen sie nach wie vor ab, weil
sie Verschlechterungen bringt. Das ist das Ergebnis.
({13})
Wir können uns über das Scheitern der Ministerin nicht
freuen.
({14})
Das Bedrückendste an der Geschichte ist, dass Sie aus
Ihren Fehlern nicht lernen.
({15})
Das ist der entscheidende Punkt: Sie lernen nicht. Das
Scheitern der Ministerin in der Justizreform birgt im
Grunde die Quelle neuen Unheils in sich. Denn Sie brauchen nun einen anderen Erfolg. Hier sind Sie gescheitert.
({16})
Diesen Erfolg suchen Sie jetzt auch. Darum wird das
nächste Projekt herausgehauen.
({17})
Jetzt ist das Schuldrecht an der Reihe, ein Herzstück,
vielleicht das Herzstück des deutschen Privatrechts. In der
letzten Woche wurde es im Kabinett verabschiedet. Gestern kam die Drucksache mit 686 Seiten Umfang in meinem Büro an. Morgen soll die Debatte sein.
({18})
Sie wissen gar nicht, was Sie beschließen. Die Folgewirkungen können Sie nicht einschätzen. Sie wollen das
durchpeitschen, weil Sie auf einen Erfolg angewiesen
sind, weil Sie nach einem Erfolg dürsten, den Sie bislang
in zweieinhalb Jahren nicht gehabt haben. Darum müssen
Sie nun, wie gesagt, ein neues Projekt raushauen. Das ist
im Grunde das entscheidende Versagen: Die Rechtspolitik Ihrer Regierung befindet sich aufgrund Ihres Verhaltens und Ihres Stils in einem aktionistischen Teufelskreis,
der darin besteht, dass aus dem einen Scheitern das
nächste übereilte Projekt folgt, das nichts Gutes bringen
wird.
({19})
Lassen Sie mich die heutige Debatte über diesen zentralen Bereich der Rechtspflege, in dem die Bürger ihr
Recht suchen, zum Anlass nehmen, eine allgemeine Bemerkung zum Stil der Rechtspolitik seit 1998 zu machen.
Wie man an diesem Fall, aber auch darüber hinaus studieren kann - als Rechtspolitiker unserer Fraktion bedauern wir dies, und zwar nicht unter parteipolitischen Gesichtspunkten, sondern um des Zieles willen, dem wir uns
alle verschrieben haben -, muss konstatiert werden, dass
es seit 1998 einen Stilwandel in der Rechtspolitik gegeben
hat. Diesen Wandel spüren wir in fast jeder Rechtsausschusssitzung. Die Mehrheit geht vor dem Argument, das
Sich-durchsetzen-Wollen vor dem Aufeinanderzugehen,
Tempo vor Sorgfalt. Das ist ein neuer Stil.
Ich bin kein Fossil des Rechtsausschusses - ich hoffe,
dass man mir das noch ansieht -, aber immerhin seit 1994
Mitglied dieses Ausschusses. Dort herrscht ein neuer Stil,
der nicht gut ist, weil bei ihm die Qualität und die Beherrschbarkeit des Rechts und seiner Institutionen als
Schutz davor, dass uns der Rechtsstaat in einer komplexen
Gesellschaft über den Kopf wächst, auf der Strecke bleiben. In einer verflochtenen, hoch komplexen Gesellschaft
ist die Gefahr gegeben, dass wir die Regulierungen, die
wir selbst beschließen, nicht mehr beherrschen können.
Wer nicht auf Qualität und auf das Argument setzt, sondern auf Mehrheit und Geschwindigkeit, beschädigt die
Beherrschbarkeit des Rechts. Das ist nicht parteipolitisch
gemeint. Vielmehr ist unsere allgemeine Sorge, dass in
diesem anderen, neuen Stil die eigentliche Fehlleistung
und Fehlleitung rot-grüner Rechtspolitik besteht. Wir bitten Sie, darüber nachzudenken, ob dieser Stil im gemeinsamen Interesse nicht geändert werden sollte.
Herzlichen Dank.
({20})
Ich erteile nun das
Wort der Bundesjustizministerin Dr. Herta DäublerGmelin.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz ({0}):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Keine Sorge, lieber Herr Röttgen, ich werde nicht auf das
eingehen, was Sie sagten, sieht man von einer einzigen
Bemerkung ab. Das, was Sie über Stil gesagt haben, ist ein
Punkt, bei dem Sie sich an die eigene Nase fassen müssen.
({1})
In den Beiträgen, die wir in dieser wichtigen Fachdebatte
von den Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen gehört haben, ist mir Folgendes so richtig deutlich
geworden: Wenn man Ihnen zuhört, dann weiß man,
warum die Modernisierung der Justiz in den 16 Jahren, in
denen Sie die Mehrheit hatten, keinen Schritt vorankam.
({2})
Das liegt einfach daran, meine Damen und Herren, dass
Sie sich ständig widersprechen, dass Sie Ihre Meinungen - ich werde Ihnen das gleich anhand einiger wichtiger Justizpolitiker darlegen, die es in Ihren Reihen ja auch
gegeben hat und gibt - ständig so ändern, wie Sie es gerade brauchen. Wenn Sie dann noch auch nur die Hälfte
Ihrer Kreativität, die Sie darauf verwenden, gute Gesetzesvorhaben in der Öffentlichkeit madig zu machen, dazu
nutzten, Sachargumente in die Diskussion einzubringen,
dann wären wir wirklich schon viel weiter.
Es ist geradezu lachhaft, jetzt so zu tun, als sei RotGrün in der Rechtspolitik nicht erfolgreich. Gerade in den
letzten beiden Wochen hat der Bundestag eine Reihe von
wichtigen Reformgesetzen beschlossen, die Sie alle schon
hätten realisieren können, angefangen vom Mietrecht bis
hin zur elektronischen Grundlage des Rechts- und Gerichtsverkehrs. Zu nichts waren Sie in der Lage.
({3})
Wenn man sich aber so wenig ernsthaft auseinander setzt,
wie es jetzt gerade geschehen ist, dann braucht man sich
darüber nicht zu wundern.
Jetzt gehen Sie auch noch her und sagen den Bürgerinnen und Bürger öffentlich, diese Justizreform sei nicht
nötig. Wo leben Sie denn?
({4})
- Entschuldigen Sie, das haben Sie doch gerade gesagt. Sie wissen doch ganz genau, dass jeder Brief, in dem sich
Handwerker oder Unternehmer zum Beispiel über die
Zahlungsmoral oder säumige Schuldner beklagen, das
Gegenteil bescheinigt.
({5})
Sie wissen auch ganz genau, dass selbst Ihre eigenen Mitglieder dieses bestätigen.
So hat der heutige Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer 1998 im Namen der Kammer, in der ich Mitglied
bin, einen offenen Brief an uns Politiker gerichtet, in dem
er beklagt, dass die Überlastung der Justiz einen kritischen Punkt erreicht habe.
({6})
Lassen Sie mich die Beispiele fortführen und einen Kollegen von der F.D.P. heranziehen: Vor zweieinhalb Jahren
hat das F.D.P.-Mitglied Professor Schmidt-Jortzig, mein
Vorgänger, dieses auf dem Deutschen Juristentag in
Bremen zum Anlass genommen, zu sagen, dass er für die
Dreistufigkeit sei und diese jetzt endlich umgesetzt werden müsse.
({7})
Gelegentlich zitieren Sie ja hier auch Herrn Minister
Goll. Wogegen wollen Sie sich mit dem Anführen seiner
Aussagen eigentlich wenden? Er hat 1998, als Bund und
Länder über diese Reform diskutiert und Anregungen gesammelt haben, gesagt, er sei für eine Umgestaltung der
Berufungsinstanz schrittweise hin zu einer RechtsüberDr. Norbert Röttgen
prüfungsinstanz. Heute tun Sie, meine Damen und Herren,
so, obwohl wir das gar nicht vorhaben, als sei das Blendwerk vom Teufel.
Darf ich auch Sie, sehr verehrter Herr Funke - Sie wissen, wie ich Sie schätze -, daran erinnern, was Sie auf dem
12. Verwaltungsrichtertag 1998 gesagt haben? Da haben
Sie sich darüber ausgelassen, dass die erste Instanz gestärkt werden
({8})
und der Instanzenzug reformiert werden müsse. Hierfür
könne die Dreistufigkeit in der Verwaltungsgerichtsbarkeit als Modell dienen. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit diesem Modell werde über die Übernahme desselben auch in andere Verfahrensordnungen diskutiert.
Weshalb wollen Sie denn hier der staunenden Öffentlichkeit weismachen, dass überhaupt nichts geändert werden
müsse?
Hoch qualifizierte Rechtspolitiker, von denen auch Sie
einige in Ihren Reihen hatten und haben, gehen sogar noch
weiter. Ich erinnere Sie an das, was der ehemalige Rechtsausschussvorsitzende Eylmann immer wieder sagte.
({9})
Ich bitte Sie darum, hiermit ernsthaft umzugehen und dieses nicht einfach deswegen, weil Sie Rot-Grün nicht mögen oder in der Opposition sind - ich gebe ja zu, dass das
schwer ist -, abzutun.
({10})
Wenn Sie an Ihre Parteifreunde, die jetzt nicht mehr Mitglieder des Bundestages sind, nicht erinnert werden wollen, dann bedenken Sie wenigstens ein Wort des jetzigen
Vorsitzenden des Rechtsausschusses, übrigens auch Mitglied der CDU, der sagte:
Der Weg immer neuer Entlastungsgesetze, der in den
vergangenen Jahren beschritten worden ist, mit dem
Versuch, die Symptome zu lindern, kann nicht weiter beschritten werden. Es muss an den Kern gegangen werden; die Zeit dafür ist überreif. Bedenken, mit einer einheitlichen Eingangsinstanz werde
in Flächenländern ein Verlust an Bürgernähe einhergehen, sind nicht gerechtfertigt.
Meine Damen und Herren, diese Beispiele mögen als
Vorbemerkung reichen, um die Ernsthaftigkeit Ihrer Argumentation zu beleuchten. Wir werden auf dem Weg, die
Justiz zu modernisieren, fortschreiten. Wir werden die
entsprechenden Vorschläge weiter auf den Tisch legen
und Sie weiter zur Mitarbeit einladen. Wir werden weiterhin sämtliche Praktiker aus den Gerichten, den Ländern
und der Wissenschaft, die sich beteiligen wollen, einladen
und bitten, bei uns mitzumachen. Wir werden gute Anregungen von diesen aufnehmen. Das ist, Herr Geis, kein
Zeichen von Schwäche - das mag vielleicht bei Ihnen so
sein -, sondern ein Zeichen von Stärke, wenn man sich zutraut, über Fragen zu diskutieren und gelegentlich gute
Sachargumente auch aufzunehmen.
({11})
Wir werden auch Sie weiterhin dazu einladen. Die Modernisierung der Justiz ist um der Bürger willen nötig, die
Sie durch das ständige Heraufsetzen der Streitwertgrenze empfindlich getroffen haben. 80 Prozent müssen
sich nämlich an das Amtsgericht wenden, um ihr Recht
einzuklagen. Es ist Ihr „Verdienst“ - diese Tatsache muss
festgehalten werden -, dass heute die 80 Prozent, die zu
den Amtsgerichten gehen müssen, die schlechtesten Bedingungen vorfinden. Die Amtsrichterinnen und Amtsrichter dort haben die meiste Arbeit - die richtige Zahl
wurde schon genannt -, nämlich durchschnittlich 750 Fälle pro Jahr. Wir werden mit dieser Reform die Stellung der
Amtsgerichte stärken.
({12})
Sie werden Ihren Wählerinnen und Wählern erklären
müssen, warum Sie dagegen waren.
Ich will Ihnen einen zweiten Grund nennen - die Kolleginnen und Kollegen der SPD haben schon darauf hingewiesen -, warum diese Reform nötig war. Gerade für
die Bürgerinnen und Bürger, die ihr Recht bei den Amtsgerichten suchen, müssen die Berufungsbedingungen, die
sich während Ihrer Regierungszeit verschlechtert haben,
verbessert werden.
({13})
Wir verbessern mit diesem Gesetz die Berufungsmöglichkeiten in diesem Bereich. Davon sind 80 Prozent der
Klagenden betroffen. Sie werden den Bürgerinnen und
Bürgern erklären müssen, warum Sie ihnen die besseren
Bedingungen, die wir schaffen wollen, vorenthalten wollen. Den Amtsrichtern müssen Sie erklären, warum Sie sie
nicht entlasten wollen.
Ich nenne Ihnen einen dritten Grund. Wir wollen in der
Tat, dass aussichtslose Prozesse - also Prozesse, die durch
ein Kollegialgericht einstimmig als aussichtslos angesehen werden - nicht wie bisher allein wegen ihres Streitwerts durch die Instanzen gezogen werden können.
Dieses wollen wir im Interesse einer zügigen Rechtsprechung, auf deren Notwendigkeit uns gerade die mittelständische Wirtschaft sowie die Bürgerinnen und Bürger
immer wieder aufmerksam machen.
({14})
Das erreichen wir mit unserem Gesetz.
({15})
Wenn Sie dagegen sind, werden Sie der mittelständischen
Wirtschaft sowie den Bürgerinnen und Bürgern erklären
müssen, warum Sie weiterhin für diese Form des Justizkredits eintreten. Das ist aber Ihr Problem.
({16})
Lassen Sie mich für die Öffentlichkeit in sieben Punkten zusammenfassen, was wir mit diesem Gesetz erreichen wollen.
Erstens. Wir stärken die Amtsgerichte, was Sie aber
nicht mittragen wollen. Wir schaffen bessere Bedingungen für 80 Prozent der Bürger, die bei den Amtsgerichten
ihr Recht suchen. Wir helfen auch den Amtsrichterinnen
und Amtsrichtern, die sich oft bitter darüber beklagt haben - das wissen wir doch alle -, dass sie in den 16 Jahren Ihrer Regierung zu den „Lasteseln“ der Justiz gemacht
worden seien.
Zweitens. Wir setzen auch im Zivilprozess ganz entschieden auf die Schlichtungskultur.
({17})
Wir haben bei der außergerichtlichen Streitschlichtung
angefangen. Wir werden sehr sorgfältig schauen, was gerade die Länder, in denen Sie regieren, in Bezug auf die
Schlichtungskultur unternehmen.
Frau Kenzler, Ihre Auffassung, dass es zu mehr Arbeit
für die Amtsrichterinnen und Amtsrichter führen wird,
wenn sie mit den Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen eines Schlichtungsversuchs verstärkt sprechen müssen, ist
nicht ganz korrekt; denn die Stärkung des Schlichtungsverfahrens bringt die große Chance mit sich, dass es weniger streitige Urteile gibt. Diese Urteile sind es aber, die
Arbeit machen.
({18})
Auch unter diesem Aspekt ist die Schlichtung eine sehr
wichtige Sache.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der Union
einmal aufhören würden, dazwischenzurufen,
({19})
würde ich Ihnen gerne sagen: Alle diese Überlegungen,
die in das Gesetz eingegangen sind, beruhen natürlich auf
guten Vorbildern, wie wir sie in einigen Ländern bei den
Amtsgerichten und Landgerichten finden. Wir haben uns
dort sehr sorgfältig umgeschaut, um diese guten Modelle
zum Vorbild nehmen zu können. Schon aus diesem
Grunde handelt es sich um sinnvolle Regelungen.
Drittens. Wir erweitern die Berufungsmöglichkeiten
gerade für die Verfahren vor dem Amtsgericht. Wir straffen die Berufung da, wo das rechtsstaatlich einwandfrei
möglich ist. Diese Straffung fällt moderater aus als die,
die Sie in Ihrem Entwurf, den Sie glücklicherweise
zurückgezogen haben, vorgeschlagen haben. Gerade die
Bürgerinnen und Bürger und die mittelständische Wirtschaft sind uns dafür dankbar.
Viertens. Wir weiten das Tätigkeitsfeld des Einzelrichters aus. Er entscheidet durchweg in amtsgerichtlichen Verfahren. Er soll aber auch dann bei landgerichtlichen Verfahren zum Einsatz kommen, wenn der Fall
nicht eine besondere Spezialmaterie umfasst. Es macht
Sinn, wenn ein Gremium nur im Falle einer Spezialmaterie tätig wird. Aber da, wo das nicht der Fall ist, soll der
originäre Einzelrichter tätig sein.
Wir sind der Meinung, dass in einfachen Spezialfällen
rückübertragen werden kann. Wir sind auch der Auffassung, dass die Tätigkeit des Einzelrichters ausgeweitet
werden kann. Wir sind zudem - fünftens - fest davon
überzeugt, dass die Landesjustizminister - sie tragen
schließlich Verantwortung für die Justiz und können nicht
einfach so daherschwätzen - selbstverständlich dafür sorgen werden, dass aufgrund der frei werdenden Stellen
neue Arbeitsplätze bei den Amtsgerichten - also dort, wo
sie hingehören - geschaffen werden.
({20})
Noch eine kleine Reminiszenz: Sie haben behauptet,
Sie hätten die Tätigkeit der Einzelrichter in viel höherem
Maße ausgedehnt, Sie hätten sogar die Anfänger, also die
Proberichter, zu Einzelrichtern gemacht. - Das alles
spricht nicht für Ernsthaftigkeit, sondern erklärt, warum
es mit Ihrem Versuch der Modernisierung überhaupt
nichts geworden ist.
({21})
Sechstens: das Revisionsrecht. Was Sie hier schildern,
ist falsch. Es ist überhaupt nicht zu bezweifeln, dass ein
oberstes Bundesgericht Grundsatzentscheidungen klären
muss, Rechtsfortbildung im Einzelfall betreiben muss und
die Einheitlichkeit der Rechtsprechung - insofern geht es
natürlich um Qualitätsaspekte - sichern muss. Wer das bestreitet, der stellt sich nicht nur gegen die Richter des Bundesgerichtshofs,
({22})
sondern - das wissen Sie ganz genau - der weiß nicht, wovon er redet. Ich muss wirklich sagen: Einiges von dem,
was Sie hier geboten haben, hätte schon ein bisschen gehaltvoller sein können.
({23})
Es ist schon ganz gut, dass Sie wenigstens anerkennen,
dass mit Zustimmung aller Beteiligten unter Einhaltung
der notwendigen Voraussetzungen der Einsatz von elektronischen Geräten, mit denen heute jeder Anwalt arbeitet, jetzt auch bei Gericht möglich sein soll.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehb?
Ja.
Bitte, Herr Kollege
Gehb.
Da Sie, Frau Ministerin, fragen, ob wir wissen, wovon wir reden: Erklären Sie
mir bitte, ob es einen Grund gibt, warum ausgerechnet in
der ZPO der Revisionsgrund „entscheidungserheblicher
Verfahrensmangel“, so wie er in der VwGO, in der StPO
und in der Finanzgerichtsordnung besteht, keinen Platz
gefunden hat. Gibt es dafür irgendeine Erklärung? Ich
habe noch nicht gehört, warum dieser Revisionsgrund auf
der Strecke geblieben ist.
Lieber Kollege, der Wortlaut der von Ihnen genannten Verfahrensordnungen ist nicht ganz richtig. Lassen Sie mich ganz eindeutig sagen: Generell gibt es viele
Gemeinsamkeiten und es gibt manche Unterschiede. Daraus erklärt sich - wenn auch nicht in jedem Fall, so doch
in diesem Fall - das, was Sie wahrscheinlich meinen.
Wir kommen jetzt - siebtens - zur Experimentierklausel. Herr Röttgen hat hier erklärt, dies sei eine Öffnungsklausel, und tut so, als würde er den Unterschied
nicht kennen. Das ist ein bisschen wenig. Sie sollten noch
einmal aufmerken: Wissen Sie, woher der Gedanke der
Experimentierklausel kommt? - Zum einen kommt dieser
Gedanke aus der Praxis in den Ländern, wo man sagt: Wir
brauchen noch etwas mehr Zeit zum Diskutieren. Da uns
daran liegt, im Einklang mit der Praxis vorzugehen, greifen wir diesen Gedanken auf. Zum anderen hat auch der
Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Professor Scholz, Mitglied der CDU, diese
Überlegung dezidiert vorgetragen. Wenn Sie schon anfangen zu polemisieren, dann sollten Sie sich die Stellen,
an denen Sie das tun, ein bisschen glücklicher heraussuchen.
({0})
Wir sind der Meinung, dass Sie sehr viel mehr an eigener Aktivität und Initiative hätten einbringen können.
Wenn das geschehen wäre, dann wären wir im Hinblick
auf die nötige Umgestaltung und Modernisierung unserer
Justiz weiter. Jeder, der angesichts der Veränderungen in
der Welt und der damit verbundenen Herausforderungen
die starke Stellung der Justiz bewahren will, jeder, der den
großen Einfluss der Richterinnen und Richter, der unabhängigen dritten Gewalt in unserem Rechtsstaat bewahren will, der muss modernisieren. Wenn man mit Ihnen
unter vier Augen redet, dann stimmen Sie uns darin zu.
Warum sind Sie nicht einmal so mutig, stellen sich hierher und sagen: Jawohl, das ist so, wir müssen das gemeinsam angehen und wollen das auch.
Sie haben erklärt - das ist ihr Problem -, bei der
ZPO-Reform nicht mit uns zusammenzuarbeiten. Wir
werden Ihnen noch viele andere Möglichkeiten geben, das
zu tun. Übrigens: Wir führen die ZPO-Reform in Zusammenarbeit mit dem Richterbund, in Zusammenarbeit mit
der Praxis, in Zusammenarbeit mit vielen Amtsrichterinnen und Amtsrichtern sowie in Zusammenarbeit mit vielen Wissenschaftlern durch.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt ans Ende
der Beratungen zu diesem wirklich wichtigen Schritt der
Justizreform - im Rahmen der Modernisierung der Justiz,
die natürlich weitergeht. Deswegen werden Sie mir gestatten, dass ich mich bei all denen bedanke, die es anders
gemacht haben als Sie und die wirklich mitgearbeitet haben:
({1})
Das sind die Kolleginnen und Kollegen des Rechtsausschusses, die nicht nur mitreden konnten, sondern in der
Tat jahrelang heftig mitdiskutiert haben. Das sind die Berufsverbände. Das sind weite Bereiche aus Wissenschaft
und Praxis. Das sind viele Länderjustizminister, übrigens
auch solche, die nicht in die Nähe der rot-grünen Mehrheit gehören. Vor allem aber will ich mich an dieser Stelle
beim Präsidenten a. D. des Amtsgerichts Stuttgart, Herrn
Netzer, und seiner Gruppe ganz herzlich bedanken, die
eine enorme Arbeit geleistet hat
({2})
und die - lassen Sie mich das einfach noch einmal sagen - im Gegensatz zu vielen aus Ihren Reihen, die wir
gehört haben, die Praxis nun wirklich aus dem Effeff kennen. Wenn Sie mir gestatten, füge ich noch einen Satz
hinzu. Auch der Vorgänger von Herrn Netzer als Abteilungsleiter, Herr Hilger, der in den Ruhestand gegangen
ist, und sein Stellvertreter, der leider viel zu früh
gestorbene Reinhard Schubert, sollen an dieser Stelle bedacht werden. Sie haben zusammen mit ganz vielen Kolleginnen und Kollegen in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die seit Jahren an diesem Projekt arbeitet, eine
gute Arbeit gemacht, und es ist wichtig, dass wir uns auch
an dieser Stelle an sie erinnern.
({3})
Meine Damen und Herren, ich danke all denen, die diesen Schritt mit uns gehen. Ich glaube, jetzt kommt es darauf an, in den Ländern - gerade bei den vielen Richterinnen und Richtern, die hier mitmachen wollen und
mitmachen werden - dafür zu sorgen, dass sie auch mitmachen können. Wir werden jedenfalls in der nächsten
Legislaturperiode den ersten Bericht über die Erfahrungen einbringen und dann die nächste Stufe der Modernisierung weitergehen.
Ganz herzlichen Dank.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Norbert
Geis.
({0})
Frau Ministerin, ich
möchte natürlich nicht auf Ihre ganze Rede antworten,
aber noch einmal in drei Punkten die Gegenposition klarmachen.
Erstens. Sie vergessen nach meiner Auffassung bei allen Ihren Ausführungen immer wieder, dass wir nach dem
Urteil der internationalen Fachwelt eine hervorragend
funktionierende Justiz haben und dass die Fachwelt in
Deutschland größte Bedenken hatte, dass durch Ihre Reform diese hervorragend funktionierende Justiz beschädigt werden könnte.
({0})
Zweitens. Wir haben in vielen Podiumsdiskussionen,
in vielen Beratungen im Parlament und auch in vielen Berichterstattergesprächen unsere Gegenpositionen dargetan, zusammen mit den Anwälten, mit den Richtern und
mit anderen Fachleuten aus dem Bereich der Rechtswissenschaft. Ergebnis dieses langen Diskussionsprozesses,
an dem wir teilgenommen haben, war, dass Sie wichtige
Positionen Ihrer Reform zurückgenommen haben. Deswegen können Sie nicht sagen, wir hätten uns überhaupt
nicht beteiligt. Diese Reform, so wie sie heute auf dem
Tisch liegt - mit der wir immer noch nicht einverstanden
sind -, ist auch ein Ergebnis dieser Diskussion.
Drittens. Es ist richtig, dass in der Kommission für die
Rechtsmittelreform die Dreigliedrigkeit indirekt immer
wieder mitdiskutiert worden ist, und richtig ist auch, dass
sich an den Diskussionen in dieser Kommission Fachleute
aus den Länderministerien beteiligt haben und dass die
Länder zu einer größeren Reform ausholen wollten. Das
ist wahr. Aber wahr ist auch, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in ihrer Gesamtheit immer an der Viergliedrigkeit festgehalten und sich gegen die Dreigliedrigkeit gewehrt hat.
({1})
Zur Erwiderung Frau
Ministerin Däubler-Gmelin, bitte.
Das war ja schon viel besser.
({0})
Wenn man fachlich und sachlich mit jemandem argumentieren will, darf man natürlich nicht solche unernsten
Beiträge halten, wie wir sie vorhin gehört haben. Wenn
Sie angesichts des vereinigten Rechtsraums in Europa
und angesichts all der Herausforderungen, die dadurch
zusätzlich auf uns zukommen - zwei europäische Gerichte und zusätzliche Spezialgerichte -, weiter an der
Viergliedrigkeit festhalten wollen, kann ich Sie nur bitten,
diese Position zu überdenken. Sie waren schon einmal
weiter. In Richtung F.D.P. will ich hinzufügen: Herr Professor Schmidt-Jortzig, mein Vorgänger im Amt, hat vor
zweieinhalb Jahren auf dem Deutschen Juristentag doch
nicht nur für sich gesprochen, sondern selbstverständlich
auch als Justizminister und damit für die ihn tragende
Mehrheit aus CDU/CSU und F.D.P.
Was also soll das jetzt? Ich habe Ihnen gerade vorgetragen, was Herr Eylmann, Herr Scholz und x andere
Leute sagen und was Herr Dombek vor zwei Jahren zur
Überlastung der Justiz, die den kritischen Punkt erreicht
habe, gesagt hat. Wenn das noch nicht genügt, dann will
ich jetzt wiederholen: Wenn Sie der Meinung sind, man
könne 1,5 Millionen Menschen - das sind, wie gesagt, etwas mehr als drei Viertel aller Rechtsuchenden, die heute
vor Gericht müssen - mit den schlechtesten Bedingungen
abspeisen und das sei eine vorbildliche Justiz, dann kann
ich Sie nur bitten, auch dies zu überdenken.
Nochmals: Wenn jemand heute streitwertbedingt zum
Amtsrichter muss, dann trifft er auf Richterinnen oder
Richter, die in aller Regel hervorragend sind, aber pro Person 750 Fälle im Jahr zu bearbeiten haben.
({1})
Wenn es um 10 000 DM oder mehr geht, dann sind es
170 Fälle und bei den Oberlandesgerichten sind es
69 Fälle. Diese Zahlen kennen Sie alle genau.
Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Wenn wir die
Amtsrichterinnen und die Amtsrichter weiterhin als die
Lastesel der Justiz nutzen und ihnen dann auch noch sagen, es sei doch alles toll und es müsse nichts geändert
werden, meinen Sie nicht, dass sich diese Kolleginnen
und Kollegen nicht mehr ernst genommen fühlen
({2})
und dass sie den Eindruck haben, die CDU/CSU habe
keine Ahnung von den Bedingungen, unter denen sie arbeiten müssen?
Ich appelliere an Sie, einmal darüber nachzudenken,
ein bisschen von Ihrer Grundhaltung, Nein zu sagen, abzurücken, sich den Sachproblemen zu stellen und mit uns
die Modernisierung der Justiz Punkt für Punkt anzugehen - durch Ihre Zustimmung zu der ZPO-Reform.
({3})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Helmut Wilhelm für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe diese Woche im „Spiegel“ gelesen, die
ZPO-Reform sei gescheitert; die Kollegen Geis und
Röttgen haben hier ja ins gleiche Horn gestoßen. Zwar
habe ich den „Spiegel“ natürlich noch nie für eine profunde juristische Fachzeitschrift gehalten,
({0})
aber hier liegt er besonders schief.
Ich jedenfalls freue mich, dass wir heute eine neue, moderne und ausgewogene Zivilprozessordnung auf den
Weg bringen können.
({1})
Viel mehr Verfahren als bisher können zukünftig beschleunigt erledigt werden, und zwar endgültig bereits in
erster Instanz - in einer ersten Instanz, die zudem mehr
Zeit und Personalressourcen hat und sich damit sorgfältiger auseinander setzen kann, als es bisher möglich war.
Das hat ganz einfach damit zu tun, dass ein Amtsrichter heute über 700 Verfahren im Jahr zu bearbeiten hat,
sein Kollege am OLG aber nur 75.
({2})
Was an diesem krassen Missverhältnis erhaltenswert sein
soll, meine Damen und Herren von der Opposition, vermag ich wirklich nicht zu erkennen.
({3})
Im Gerichtssaal des Amtsgerichts hat der Rechtsuchende
zum ersten Mal mit der Justiz zu tun und dort soll er auch
nachvollziehen können, warum das Gericht so und nicht
anders entscheidet.
Dass der ursprüngliche Entwurf im Lauf des parlamentarischen Verfahrens einige Änderungen erfahren
hat - die, nebenbei gesagt, die Grundtendenz nicht verändert haben -, ist doch gerade die Konsequenz sorgfältiger
parlamentarischer Arbeit.
Wir haben mit Vertretern der Fachverbände diskutiert,
mit den Berichterstattern der Opposition, mit Ihnen,
meine Damen und Herren, wir haben im Rechtsausschuss
eine umfangreiche Expertenanhörung durchgeführt und
wir sind bereit, den strittigen Punkt der Berufungszuständigkeit über einen gewissen Zeitraum hinweg zu experimentieren. So haben die Länder in eigener Zuständigkeit die Möglichkeit, in der täglichen Praxis
herauszufinden, inwieweit unsere Vorstellungen von einer
Konzentration der Berufung bei den Oberlandesgerichten
machbar und zweckmäßig sind. Ich bin mir da ganz sicher: Diese Erfahrungen werden letztlich dazu führen,
dass unsere Vorstellungen zum Tragen kommen.
Dass wir Experten angehört haben, dass wir verändert
und berechtigten Vorschlägen Rechnung getragen haben,
das ist doch solide, qualitätsvolle parlamentarische Arbeit
und nicht etwa - wie der „Spiegel“ und auch Sie irrigerweise meinen - Ausdruck des Scheiterns.
Nein, wer hier gescheitert ist, das ist die Opposition.
({4})
Denn wenn ich mir Ihre alten Gesetzentwürfe ansehe,
dann wussten doch auch Sie, dass diese Reform überfällig war. Aber diese Erkenntnis in Taten umzusetzen, das
haben Sie nie geschafft. Ihr ständiges Drehen an der
Streitwertschraube hat die Situation nur verschlimmert.
Auch heute haben Sie nichts anderes parat als ein simples
Nein.
Eigentlich sollten Sie uns dankbar sein, dass wir endlich die überfällige komplette Reform machen.
({5})
Die CDU/CSU hatte ja selbst einen Entwurf - ich bezeichne ihn jetzt als Klandestinentwurf -, der einige Ähnlichkeiten mit unserem aufwies.
({6})
Aber der verschwand irgendwo in der Versenkung.
({7})
Ich bedanke mich beim Ministerium, ich bedanke mich
bei Ihnen, Frau Ministerin, für die geleistete umfangreiche Arbeit. Ich bedanke mich bei den Verbänden, die den
Entwurf durch konstruktive Kritik begleitet haben, die
Regelungsalternativen entwickelt haben und die - siehe
das letzte Gespräch der Berichterstatter aller Fraktionen
mit den Verbänden der Anwälte und Richter - das Gesetz
letztlich als positiv bewertet haben.
({8})
Mit Ihrem alternativlosen Nein standen Sie zum
Schluss doch ziemlich allein da.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 14/6036. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des
Zivilprozesses in der Ausschussfassung anzunehmen,
Drucksache 14/4722.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 14/6061? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen
die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und
PDS-Fraktion angenommen.
({0})
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Gesetzentwurf der Fraktionen
Helmut Wilhelm ({1})
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Reform
des Zivilprozesses auf Drucksache 14/3750 für erledigt zu
erklären. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 5:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski ({2}), Wolfgang Zeitlmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Islam in Deutschland
- Drucksachen 14/2301, 14/4530 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die
CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Ruprecht Polenz.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir debattieren über die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum
Islam in Deutschland.
Wir hatten zur Vorbereitung dieser Großen Anfrage
1999 im Deutschen Bundestag eine Anhörung mit führenden Vertretern islamischer Verbände veranstaltet; denn
wir wissen, für die Integration der dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer sind Fragen von Kultur und Religion von zentraler
Bedeutung. Die Frage nach dem Islam in Deutschland ist
deshalb eine der Kernfragen einer modernen Integrationspolitik. Daher haben wir uns so intensiv damit beschäftigt.
Auf der Grundlage unseres Fragenkatalogs hat jetzt die
Bundesregierung eine umfassende Bestandsaufnahme
über den Islam in Deutschland erarbeitet. Ich möchte der
Bundesregierung dafür danken. Denn aus dieser Antwort
ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für politische Initiativen des Bundes, der Länder und der Gemeinden.
Meine Damen und Herren, von unserer heutigen Islamdebatte sollten konkrete Botschaften an die circa
3,2 Millionen Muslime in Deutschland ausgehen:
Erstens. Wir achten und respektieren ihre religiösen
Überzeugungen.
Zweitens. Wir respektieren und achten sie als unsere
Nachbarn in den Städten und Gemeinden. Deshalb interessieren wir uns für ihren Glauben, für ihre religiösen
Überzeugungen und für die Hochkultur des Islam.
Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes gewährleistet
die Religionsfreiheit in Deutschland auch für Muslime.
Jeder Muslim soll in Deutschland ein Leben nach seinen
religiösen Überzeugungen führen können. Allerdings gelten für Muslime dieselben Schranken und Grenzen, die
sich aus der Wertordnung des Grundgesetzes auch für
Christen und andere Religionsgemeinschaften ergeben.
Wir wollten mit unserer Großen Anfrage auch ermitteln, wo in diesem Rahmen ein Leben nach den islamischen Geboten in Deutschland noch auf Schwierigkeiten
stößt, damit wir diese Schwierigkeiten überwinden können. Wenn man Menschen, die keine Muslime sind, nach
ihrer Einstellung zum Islam fragt, so überwiegen nach
meinem Eindruck zwei ganz gegensätzliche Sichtweisen:
Die einen entwickeln Skepsis und Sorge bis hin zu Angst
vor einer akuten Bedrohung für die christlich-abendländische Kultur; andere neigen zu einer unreflektierten, naiven Idealisierung und Harmonisierung des Islam.
Einen Grund für diese Idealisierung und Harmonisierung sehe ich darin, dass vor lauter multikultureller Beliebigkeit die Vorstellung dafür abhanden gekommen ist,
dass religiöse Überzeugungen auch die Lebenswirklichkeit nachhaltig und durchaus konflikthaft prägen können.
Man sollte schon ernst nehmen, dass religiöse Glaubenswahrheiten auch Absolutheitsansprüche gegenüber Gläubigen formulieren und dass es zu nicht hinnehmbaren
Konflikten kommen kann, wenn diese Absolutheitsansprüche mit durchaus weltlichen Mitteln gegen Andersgläubige durchgesetzt werden sollen.
Weil der Islam die Grenzen zwischen Religion und
Politik, zwischen Staat und Religion nicht in gleicher
Weise zieht, wie sich dies bei uns durch Säkularisierung
und Aufklärung herausgebildet hat, müssen wir festhalten, dass in Deutschland die Wertordnung des Grundgesetzes für die Ausübung aller Religionen gilt. Eine Einführung der Scharia zum Beispiel wäre mit dem
Grundgesetz selbstverständlich nicht vereinbar. Ein solches Ziel wird - das möchte ich ausdrücklich hinzufügen - allenfalls von einer verschwindend geringen Zahl
der Muslime in Deutschland angestrebt.
Der Generalsekretär des Verbandes der Islamischen
Kulturzentren hat auf einer Anhörung, die die CDU/CSUFraktion zu diesem Thema abgehalten hat, ausdrücklich
auf Folgendes hingewiesen:
Auch in der islamischen Orthodoxie ist anerkannt,
dass Muslime, die in einem nicht islamischen Staat
leben und dort Religionsfreiheit und die übrigen
Grundrechte genießen, ihrerseits zur Loyalität zu
diesem Staat und seiner Rechtsordnung verpflichtet
sind.
Woher kommen Skepsis und Sorge, ja sogar Angst vor
dem Islam? Ich sehe hierfür vor allem drei Gründe:
Es ist erstens vor allem die falsche Gleichsetzung von
islamistischem Fundamentalismus mit dem Islam. Dabei geht es den Islamisten um eine Instrumentalisierung
der Religion für politische Zwecke. Die Islamisten wollen
den Islam als Herrschaftsmittel einsetzen und damit eigene Herrschaftsansprüche begründen, in erster Linie
übrigens gegenüber den Regierungen in islamischen Ländern, denen sie „unislamisches Handeln“ vorwerfen.
Ein zweiter Grund sind die Terroranschläge, die von islamistischen Organisationen begangen werden, also
Selbstmordkommandos, die auch bei uns Angst auslösen
und die fälschlicherweise dem Islam zugerechnet werden,
obwohl der Islam Terror und Gewalt verbietet.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Nicht zuletzt die Schreckensherrschaft, die die Taliban
in Afghanistan errichtet haben, oder die blutigen Auseinandersetzungen in Algerien wirken auf das Bild ein, das
sich viele vom Islam machen.
Es mag auch sein, dass für manche, die ohne Feindbild
nicht leben können, der Islam an die Stelle des zusammengebrochenen Kommunismus getreten ist.
Hinzu kommt - wie ich meine - eine unvollständige
und damit einseitige Wahrnehmung der gemeinsamen Geschichte, die vor allem die Konflikte und Kriege betont,
von Karl Martell über die Kreuzzüge bis zu den Türken
vor Wien. Übersehen werden dabei Epochen weitgehend
friedlichen Zusammenlebens wie im Spanien zur Zeit der
Omaijaden. Übersehen wird dabei auch, wie viele kulturelle Errungenschaften beispielsweise in der Mathematik,
der Astronomie oder Architektur wir der islamischen Welt
verdanken. Vielleicht sollten die Länder auch hier das bewährte Mittel gemischt zusammengesetzter Schulbuchkommissionen nutzen, um die Darstellungen in den Geschichtsbüchern einmal zu überprüfen.
Festzuhalten bleibt, dass es oft Unkenntnis und gegenseitiges Unverständnis zwischen Muslimen und der einheimischen, christlich geprägten Bevölkerung gibt. Umso
wichtiger ist deshalb ein Dialog zwischen den Religionen und Kulturen. Aus der Antwort der Bundesregierung geht hervor, dass die beiden christlichen Kirchen
vielfältige Foren für interreligiöse Gespräche anbieten. Es
gibt nachbarschaftliche Begegnungen zwischen Kirchengemeinden und muslimischen Moscheengemeinden und
am „Tag der offenen Moschee“ machen jedes Jahr viele
tausend Gäste von dem Angebot zum besseren Kennenlernen Gebrauch.
Manchem dürfte erst durch solche Begegnungen bewusst werden, dass es in seiner Nachbarschaft eine Moschee gibt.
Die meisten Gebetsstätten sind bisher nach außen
kaum kenntlich. Sie sind in Wohnhäusern, gewerblichen Gebäuden und Ähnlichem untergebracht ...
heißt es zutreffend in der Antwort der Bundesregierung.
Ich meine, es wäre eine Aufgabe der Kommunen, rechtzeitig geeignete Grundstücke für den Bau von Moscheen
planungsrechtlich auszuweisen, damit Muslime nicht in
Gewerbegebiete oder Hinterhöfe abgedrängt werden,
wenn sie in ihren Gotteshäusern beten wollen.
({0})
Ich hatte vor einem Jahr die Gelegenheit, die prächtige
blaue Moschee in Isfahan zu besuchen. Man spürt dort,
welche Kraft vom Islam ausgegangen ist, wenn Menschen trotz ihrer eigenen Armut über Jahrzehnte und
Jahrhunderte an der Vollendung solcher Bauten gearbeitet haben. Ich bin deshalb überzeugt davon, dass Respekt
und Achtung vor der Weltreligion Islam wachsen werden,
wenn die Möglichkeit zur Errichtung angemessener islamischer Sakralbauten in der Stadtplanung berücksichtigt
wird.
Jeder zehnte Schüler an deutschen Schulen bekennt
sich zum islamischen Glauben. Das sind mehr als
700 000. Trotzdem gibt es bis heute in keinem Bundesland
islamischen Religionsunterricht als ordentliches Pflichtfach, so wie es katholischen oder evangelischen Unterricht gibt. Es ist Sinn und Zweck des Religionsunterrichts,
eine systematische Werteerziehung zu vermitteln, die bei
der persönlichen und gesellschaftlichen Orientierung helfen soll. Dies wird muslimischen Kindern in unseren
Schulen bislang verwehrt. Da hilft auch ein irgendwie gearteter Ethikunterricht wenig, denn ohne die substanzielle
Auseinandersetzung mit dem eigenen Glaubensbekenntnis kommen die Schüler leicht in die Gefahr einer undifferenzierten Gleichmacherei oder Gleichgültigkeit, statt
dass sie die jeweiligen Besonderheiten religiöser Überzeugungen in ihrer Andersartigkeit tolerant verstehen lernen.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich deshalb dafür ein,
dass die Voraussetzungen für die Erteilung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Pflichtfach an
öffentlichen Schulen geschaffen werden. Dieser Religionsunterricht soll ein islamisches Selbstverständnis in einer christlich geprägten Gesellschaft entwickeln helfen.
Er soll jungen Muslimen das Verständnis und die Akzeptanz der Wertenormen der deutschen Gesellschaft ermöglichen und so dazu beitragen, kulturelle Spannungen abzubauen.
Nun ist bekannt, dass sich der Islam nicht als Kirche organisiert, mit der man ein Konkordat schließen könnte. Es
wäre deshalb gut, wenn die großen Dachorganisationen
der Muslime in Deutschland, also Zentralrat und Islamrat,
dem Staat als verlässliche Partner für islamischen Religionsunterricht gegenübertreten könnten. Der Zentralrat hat
bereits einen viel versprechenden Lehrplan für einen muslimischen Religionsunterricht formuliert.
Wie katholischer und evangelischer Religionsunterricht unterliegt auch islamischer Religionsunterricht dem
staatlichen Schulrecht und der staatlichen Schulaufsicht.
Über die Ziele und Inhalte aber entscheiden die Religionsgemeinschaften nach eigenen Maßgaben.
Eine weitere Voraussetzung nach unseren Vorstellungen ist, dass die Unterrichtssprache Deutsch ist, auch
beim islamischen Religionsunterricht. Der Umstand, dass
zwei Drittel der Muslime in Deutschland aus der Türkei
stammen, würde bei einer Durchführung in türkischer
Sprache außerdem „nur“ das türkische Verständnis des
universellen Islam vermitteln und jeden dritten Muslim in
Deutschland ausgrenzen.
Besonders wichtig ist es, dass die Lehrkräfte, die zur
Durchführung des islamischen Religionsunterrichts autorisiert werden, möglichst bald eine theologische Ausbildung in Deutschland erhalten.
({2})
Langfristig müssen deshalb ordentliche Studiengänge in
islamischer Theologie an deutschen Hochschulen eingerichtet werden.
Ich weiß, dass beispielsweise die Universität Münster
gern einen solchen Lehrstuhl einrichten würde. Es liegt
jetzt am Land Nordrhein-Westfalen, die dafür erforderlichen Mittel bereitzustellen. Bis dahin müssen Übergangsregelungen getroffen werden, damit der islamische
Religionsunterricht in absehbarer Zeit Pflichtfach an öffentlichen Schulen in den Bundesländern werden kann.
Allerdings darf man sich von der Einführung des islamischen Religionsunterrichts nicht die Abschaffung von
Korankursen versprechen. Die Korankurse wird es auch
weiterhin geben. Denn dort wird das Rezitieren der Suren
des Korans auf Arabisch unterrichtet - eine für orthodoxe
Muslime obligatorische Pflicht. Anders zu bewerten sind
natürlich die so genannten wilden Korankurse, in denen
Kinder indoktriniert werden. Ihnen muss - unabhängig
von der Einführung islamischen Religionsunterrichts mit allen zu Gebote stehenden Möglichkeiten entgegengewirkt werden.
({3})
Gestatten Sie mir eine Bemerkung zum Schluss: Der
Deutsche Bundestag debattiert heute über den Islam in
Deutschland. Wir wollen dies in einem Geist der Achtung
und des Respekts vor dieser Weltreligion tun.
({4})
Uns wird bei dieser Debatte bewusst, wie wichtig für
Muslime ihre religiöse Überzeugung ist. Wir spüren, wie
sehr es Muslime verletzen muss, wenn ihre Religion herabgesetzt oder verächtlich gemacht würde. Das, meine
Damen und Herren, gilt übrigens auch für Christen. Es
wäre deshalb ein wichtiger Ertrag unserer Debatte, wenn
wir das allgemeine Bewusstsein auch dafür schärfen
könnten.
({5})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Der Islam ist eine der großen Weltreligionen
und - das muss man sich deutlich machen - fast 3 Millionen Menschen in Deutschland gehören ihm an. Dennoch
- das muss man zugeben - erscheint der Islam der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft oft ein Stück fremd
oder manchmal auch ein Stück bedrohlich.
Die Bundesregierung hat diese Große Anfrage daher
ausdrücklich begrüßt und sie für eine umfassende Bestandsaufnahme genutzt. Ich möchte an dieser Stelle den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für dieses umfangreiche Werk gesorgt haben, ausdrücklich ein Dankeschön sagen.
({0})
Viele Ängste und Besorgnisse erwachsen aus mangelnder Kenntnis des Islams. Information und Aufklärung
sind daher geboten, um Verständnis für die in Deutschland
lebenden Muslime zu fördern. Allerdings darf dabei nicht
übersehen werden, dass es unter ihnen auch Anhänger islamistischer Strömungen gibt, die Anlass zu Sorge geben.
Es ist daher gut, dass sich der Bundestag mit der heutigen
Debatte der Situation der islamischen Minderheit in
Deutschland zuwendet. Ich sage vorweg: Gerade bei diesem Thema besteht die Notwendigkeit der Differenzierung.
Wichtig für jede Diskussion über religiöse Fragen ist
der seit der Weimarer Reichsverfassung in Deutschland
endgültig anerkannte Grundsatz der Trennung von Staat
und Kirche. Der Staat darf und soll sich nicht in religiöse
Fragen einmischen. Umgekehrt dürfen Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht für sich in Anspruch nehmen,
staatliches Handeln bestimmen zu dürfen. Auf dieser
Grundlage hat sich in Deutschland ein von gegenseitigem
Respekt getragenes Verhältnis partnerschaftlicher Kooperation zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen
entwickelt. Die Bundesregierung erwartet von den hier lebenden Muslimen und ihren Gemeinschaften, dass sie
diese Trennung von staatlichen und religiösen Fragen beachten, da dies für ein friedliches Miteinander ganz entscheidend ist. Die Bundesregierung achtet die Ernsthaftigkeit, mit der viele Muslime ihren religiösen Pflichten
nachkommen. Aber ich sage ebenso deutlich: Sie wird
nicht zulassen, dass religiöser Eifer und religiöses Eiferertum staatliches Handeln beeinflussen.
Das Grundgesetz gewährleistet in Art. 4 die Glaubensund Gewissensfreiheit. Sie umfasst auch das Recht auf
ungestörte Religionsausübung, sei es als Individuum oder
als Gemeinschaft. Zur Religionsausübung gehört auch die
religiöse Vereinigungsfreiheit. Religionsgemeinschaften
können daher die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen
Formen des bürgerlichen Rechts vor allem in der Form
des eingetragenen Vereins erwerben. Diese Rechte gelten
für alle in Deutschland, also auch für die muslimischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger, und zwar unabhängig davon, ob ihre Herkunftsstaaten ebenso verfahren.
Neben dem Grundrecht auf freie Religionsausübung
gelten die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der
Weimarer Verfassung fort, wonach Religionsgemeinschaften unter bestimmten Voraussetzungen den besonderen Rechtsstatus einer Körperschaft des öffentlichen
Rechts erhalten können. Dieser den islamischen Vereinigungen bisher nicht verliehene besondere Status gewährt
einer Religionsgemeinschaft - das muss man sagen zusätzliche Vorrechte. Voraussetzung hierfür aber wäre,
dass sich die Muslime eine Organisationsform gäben, die
sie in der Öffentlichkeit wahrnehmbar machte, so wie dies
die christlichen Kirchen und die jüdischen Gemeinden
tun.
Etliche der gestellten Fragen konnte die Bundesregierung aus rechtlichen Gründen nicht oder nur begrenzt beantworten. Sie hat die aus dem Grundsatz der Trennung
von Staat und Kirche folgende Pflicht des Staates zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität zu beachten.
Diese Pflicht zur Neutralität verbietet es dem Staat, sich
zu theologischen Fragen zu äußern. Das gilt umso mehr,
wenn diese auch innerhalb der Religionsgemeinschaften
nicht eindeutig geklärt oder sogar strittig sind. Dies gilt
beispielsweise für die in den muslimischen Ländern sehr
unterschiedlich beantwortete Frage zum Verhältnis von
Staat und Religion.
Die Bundesregierung hat deshalb die Fragen zur
islamischen Lehre - das darf ich so formulieren - mit
Zurückhaltung beantwortet. Diese erklärt sich nicht aus
Desinteresse, sondern allein aus der Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität. Auch viele Fragen zur Religionszugehörigkeit oder Religionsausübung konnte die
Bundesregierung aus rechtlichen, aber insbesondere aus
datenschutzrechtlichen Gründen nicht beantworten.
Wer dies kritisiert, wie zum Beispiel die „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ in einem Bericht vom 28. Februar 2001, und behauptet, die immerhin über 90-seitige
Antwort der Bundesregierung zeige vor allem, wie dürftig die Informationen über Leben und Alltag der Muslime
seien, übersieht nach meiner Auffassung wesentliche Fakten. Es liegen keine Daten darüber vor, weil sich, wie bereits gesagt, die Muslime keinen Status und damit keine
Auskunft über sich selbst geben. Es liegt und lag nicht am
mangelnden Willen der Bundesregierung.
Nach Art. 30 des Grundgesetzes liegt die Zuständigkeit
für die Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei den Ländern. Lieber Herr Kollege Polenz,
das darf nicht übersehen werden. Dies gilt für zahlreiche
in der Großen Anfrage gestellte Fragen der Religionsausübung. Sie haben beispielsweise Fragen des Religionsunterrichtes in den Schulen und der Einrichtung von
theologischen Lehrstühlen an Hochschulen angesprochen. Die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft als
Körperschaft des öffentlichen Rechts, die Eintragung religiöser Vereine in das Vereinsregister, das Friedhofswesen, die Seelsorge in Krankenhäusern und Strafanstalten,
die Erteilung von Baugenehmigungen für religiöse Gebäude sowie die meisten kulturellen Angelegenheiten
müssen in diesem Zusammenhang genannt werden.
Dennoch hat die Bundesregierung nicht einfach auf die
Zuständigkeiten der Länder verwiesen. Im Interesse der
auch aus gesamtstaatlicher Sicht ungemein wichtigen Integration der Angehörigen des Islams hat sie sich um eine
möglichst umfassende Beschreibung der Situation der
Muslime in Deutschland bemüht und daher eine Umfrage
bei den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden
durchgeführt. Deren Ergebnisse wurden in die Antwort
aufgenommen. Hierbei wurden auch Möglichkeiten der
Eingliederung der Muslime und die noch ungeklärten
Probleme deutlich gemacht. Ich möchte an dieser Stelle
ausdrücklich auch den Ländern und dem Deutschen Städtetag für die gute Zusammenarbeit bei der Beantwortung
dieser Großen Anfrage danken.
Für die islamischen Spitzenorganisationen ist die
Frage des islamischen Religionsunterrichts besonders
wichtig. Die Länder haben hierzu entsprechend den jeweiligen landeseigenen Gegebenheiten verschiedene Modelle entwickelt. In Übereinstimmung mit den christlichen Kirchen - auch das sollte gesagt werden - besteht
parteiübergreifend Konsens, dass die Einführung eines regulären islamischen Religionsunterrichts durch den Staat
an staatlichen Schulen sehr wünschenswert wäre. Das
sollten wir auch gemeinsam miteinander umzusetzen versuchen.
Eine Schwierigkeit liegt für die Länder jedoch darin,
dass sie keine muslimische religiöse Gemeinschaft vorfinden, die auch mit der notwenigen Autorität nach innen
mit ihnen über die Gestaltung des Religionsunterrichts
verhandeln kann. Das erklärt sich wesentlich daraus, dass
es im Islam grundsätzlich keine mitgliedschaftlich verfassten Organisationsstrukturen gibt. Klar ist jedoch, dass
die Muslime die einzelnen Fragen ihrer Religionsausübung im Rahmen unseres föderalen Systems weiterhin
mit den zuständigen Ländern und Kommunen werden
verhandeln müssen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sieht
vor allem in der Gestaltung der Rahmenbedingungen der
Integration der Zuwanderer eine wichtige Aufgabe der
Politik. Je mehr sich die Zuwanderer und ihre Nachkommen in die Gesellschaft integrieren, umso weniger wird
schließlich ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion ein Problem darstellen. Das gilt auch für die muslimischen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.
Über die zahlreichen Einzelmaßnahmen hinaus ist allerdings ein umfassendes Konzept für die Integration der
dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer erforderlich.
Ich denke, dass gerade die Ergebnisse dessen, was uns in
den nächsten Wochen vorliegen wird - auch im Hinblick
auf die vom Bundesinnenminister eingesetzte Zuwanderungskommission -, hier erörtert und diskutiert werden
müssen. Maßnahmen der Integration müssen allen Zuwanderern gleichmäßig zugänglich sein; sie dürfen und
müssen jedoch auch die kulturellen und sozialen Besonderheiten der einzelnen Zielgruppen berücksichtigen.
Das gilt besonders auch für die unerlässliche Sprachförderung. Insoweit ist beispielsweise zu bedenken, dass
viele der in Deutschland lebenden türkischen Männer
Frauen aus der Türkei heiraten, die ohne jegliche
Deutschkenntnisse nach Deutschland kommen. Dies
wirkt sich leider auch auf ihre Kinder aus, die oft nur mit
geringen Deutschkenntnissen in die Grundschulen kommen. Aber das Beherrschen der deutschen Sprache ist eine
gute und notwendige Voraussetzung für eine gelungene
Integration; deswegen muss dort auch ein Schwerpunkt
liegen.
Im Bereich der inneren Sicherheit gilt es, sich eingehend mit bestimmten Erscheinungsformen des Islams zu
befassen. Die Antwort auf die Große Anfrage listet daher
eine Reihe islamistischer Organisationen auf, die der Verfassungsschutz beobachtet. Ich möchte hier auch deutlich
sagen, dass die Bundesregierung im Einzelfall sogar das
Verbot besonders gefährlicher islamistischer Vereine erwägt, denn wir sind der Auffassung: Deutschland darf
kein Tummelplatz für islamistische Extremisten werden.
Es ist aber sehr darauf zu achten, meine Damen und
Herren, dass der Islam als Religion in seinen vielen Facetten und unterschiedlichen kulturellen Traditionen keineswegs mit seiner ideologisch-extremistischen Instrumentalisierung durch einige islamistische Strömungen
und Organisationen gleichgesetzt werden darf. Die Zahl
der Mitglieder islamistischer Organisationen in Deutschland beläuft sich zurzeit auf circa 31 000 Muslime. Die
Gefahren, die von dieser Minderheit ausgehen können,
nehmen wir sehr ernst. Diese dürfen und sollten aber nicht
dazu benutzt werden, Feindbilder aufzubauen.
Allerdings sollte den muslimischen Mitbürgerinnen
und Mitbürgern auch bewusst sein, dass ein Beitritt oder
eine Unterstützung solcher Organisationen einem friedlichen Zusammenleben in dieser Gesellschaft nicht förderlich ist. Selbst die scheinbar harmlose Inanspruchnahme der verlockenden sozialen Aktivitäten solcher
islamistischer Gruppen erschwert letztendlich die gewünschte Integration.
Für den Dialog mit dem Islam gibt es auf Bundesebene
leider bisher keinen inländisch organisierten Gesprächspartner mit der nötigen Autorität nach innen. Nach dem
im Sommer 2000 erfolgten Austritt des Verbandes der
Islamischen Kulturzentren aus dem Zentralrat der Muslime gibt es zurzeit fünf islamische Spitzenorganisationen, von denen allerdings keine für alle oder eine klar
abgrenzbare Gruppe für die Muslime repräsentativ ist.
Das ist in der Tat ein Problem.
Zudem kann die Bundesregierung nicht mit Organisationen sprechen, die die Verfassungsschutzbehörden als
islamistisch einstufen oder die von islamistischen Gruppierungen gesteuert werden. Sie kann auch nicht mit
Organisationen verhandeln, die mit ausländischen staatlichen oder parteilichen Strukturen personell und organisatorisch eng verbunden sind. Wir wollen es mit Gesprächspartnern zu tun haben, die uns glaubwürdig dartun
können, dass sie ihre Angelegenheiten und Probleme aus
eigener Kraft in Deutschland, innerhalb unserer rechtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, regeln wollen.
Eine vernünftige Eingliederung ist für eine friedliche,
zivile Bürgergesellschaft unerlässlich. Dabei müssen die
Menschen aufeinander zugehen. Zu diesen Voraussetzungen gehört, dass die Muslime - ebenso wie alle anderen
Zuwanderer - die Sprache des Landes lernen, die Grundelemente der Verfassung annehmen und organisatorische
Strukturen entwickeln, die es ermöglichen, gemeinsam
berührende Fragen auf allen Ebenen im Dialog zu klären.
In den Ländern gibt es dazu bereits Ansätze. Hier haben
sich Muslime oft in Organisationen zusammengefunden,
die die zu klärenden Fragen - also Fragen des islamischen
Religionsunterrichtes, der muslimischen Bestattungen
oder der Gefangenenseelsorge - konkret mit den zuständigen Behörden vor Ort verhandeln. Erinnert sei an den
vor Ort stattfindenden christlich-islamischen Dialog; das
ist bereits erwähnt worden. So können sich langsam vertrauensvolle Gesprächsbeziehungen entwickeln. Aufbauend auf diesen Erfahrungen können dann repräsentative
und kooperative Spitzenorganisationen eingerichtet werden. Gegenseitiges Voneinanderlernen und gegenseitiges
Voneinanderwissen bewahrt uns vor Vorurteilen und fördert somit die Toleranz im Miteinander.
Bundestagspräsident Thierse hat in seiner kürzlich gehaltenen Rede „Islam und der Westen“ zu Recht auf ein
Sprichwort griechischen und arabischen Ursprungs hingewiesen: „Der Mensch ist der Feind dessen, was er nicht
kennt.“ Damit wir kulturelle Vielfalt nicht als Bedrohung,
sondern als Bereicherung erfahren, muss in Bildung und
Erziehung einiges mehr getan werden. Ich denke, dass wir
diesen Dialog suchen müssen. Wir sind dazu bereit und
bieten an, die Probleme gemeinsam anzugehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun für
die F.D.P.-Fraktion der Kollege Dr. Edzard SchmidtJortzig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir,
dass ich bei diesem sehr grundsätzlichen Thema zunächst
einmal den Blick auf uns selbst richte, auf das Eigenverständnis, das aus Fragen und Antworten spricht. In
Deutschland und der deutschen Bevölkerung wird als Unterscheidungsmerkmal nicht auf Herkunftsländer oder
Staatsangehörigkeit abgestellt, sondern auf eine Religionszugehörigkeit; so als würde Deutschland im Übrigen oder überhaupt von einer - eben von einer anderen Religionszuordnung bestimmt, und zwar natürlich, wie es
auch allenthalben zwischen den Zeilen hervortritt, vom
Christentum.
Bei einer solchen Anfrage und einer solchen grundsätzlichen Diskussion sollten wir einmal innehalten und ein
nüchternes kritisches Auge auf die Realitäten haben.
Zweifellos ist Deutschland ein Land, das auf dem kulturgeschichtlichen Sockel des Christentums steht und sicherlich auch christlich geprägt ist. Das wird man nach
wie vor sagen können. Aber schon bei der Formel „ein
christliches Land“ melden sich manche Zweifel. Jedenfalls ist die Zahl der Mitglieder der christlichen Religionsgemeinschaften und namentlich der beiden großen
christlichen Kirchen kontinuierlich zurückgegangen. Nun
muss das allein noch nicht viel besagen; denn christliches
Bekenntnis kann sich theoretisch auch außerhalb der offiziellen und traditionellen Gruppierungen entfalten und
die Flucht aus der förmlichen Mitgliedschaft kann auch
ganz profane Gründe haben wie den, von der Kirchensteuer befreit zu sein. Ein Austritt ist aber immer ein Beleg für innere Entfremdung bzw. mindestens für deren Anfang.
Die generell wachsende Gleichgültigkeit gegenüber
christlich-kirchlichen Belangen in der Gesellschaft lässt
sich allenthalben feststellen. Dabei ist meines Erachtens
die Suche nach transzendentalem Halt im Leben sicherlich nicht weniger wichtig für die Menschen auf dieser
Welt geworden. Man mag sogar meinen, die Hektik, die
mit der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung einhergeht, die Unermesslichkeit vieler moderner Problemstellungen oder schlicht die Vereinsamungstendenzen in
der Massengesellschaft hätten die Orientierungsbedürftigkeit eher wachsen lassen. Aber offensichtlich erfüllen
die christlichen Kirchen - das gilt nicht nur für sie, sonParl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
dern für alle - die Bedürfnisse kaum noch so unangefochten, wie es früher einmal der Fall gewesen ist. Jedenfalls tummeln sich auf diesem Feld immer mehr so genannte Jugendreligionen, Meditationskulte und weltliche
Heilslehren. Aber auch andere Religionen finden ihre Anhänger.
Nach der deutschen Wiedervereinigung - ich erinnere
mich noch sehr genau an den Zungenschlag der damaligen Kommentierungen - hat man gesagt, Deutschland sei
nun evangelischer geworden; denn zahlenmäßig hatte die
evangelische die römisch-katholische Kirche überflügelt.
Aber die Größenordnungen sind relativ und die Zahl der
Mitglieder dieser beiden Kirchen hat abgenommen. Real
gesehen wurde Deutschland nicht evangelischer, sondern
atheistischer. Den wenigen und überdurchschnittlich aktiven Christen aus der ehemaligen DDR stehen ungleich
mehr unchristliche, ja, areligiöse Menschen gegenüber,
die teils transzendental uninteressiert oder teils aktiv in
weltlich-materialistischen Werteordnungen befangen
sind.
Dass nun gleichzeitig die Zahl der islamischen Religionsgemeinschaften in Deutschland aufgrund von Zuwanderung und generativer Verbreiterung enorm gestiegen ist, ist eine ergänzende Entwicklung. Auch sind
gewiss etliche Bekehrungen bzw. Konvertierungen zum
Islam zu verzeichnen. Jedenfalls sind die Muslime in
Deutschland durchaus nicht mehr ethnisch homogen. Ihre
Herkunft lässt sich nicht länger nur auf den Orient oder
auf Nordafrika beschränken. Dass die islamischen Religionsgemeinschaften längst die größte nicht christliche
Religionsgruppe in Deutschland ausmachen und zahlenmäßig eine beachtliche Größe erlangt haben, ist allenthalben bekannt. Die Bundesregierung geht in ihrer Antwort
auf die Große Anfrage der CDU/CSU von circa 3 Millionen Mitgliedern aus.
Zum Verhältnis zum „Islam in Deutschland“, so lautet
die Überschrift der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion und der Antwort der Bundesregierung, ist zunächst
eindeutig festzustellen, dass ihm volle Toleranz zusteht.
Deutschland ist nicht nur a limine ein laizistischer Staat,
sondern auch ein religiös und weltanschaulich neutrales
Gemeinwesen. „Es besteht keine Staatskirche“, steht in
der Verfassung, wenn auch nur in den Fußnoten, weil es
eine der übernommenen Formeln aus der Weimarer Zeit
ist. Weiter heißt es:
Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher
Rechte
- in Deutschland sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind
unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.
In concreto hat der festgestellte Sachverhalt nun jedenfalls spezielle wie generelle Folgen. Auf diese will ich,
wenn ich darf, noch kurz eingehen.
Erstens. Ganz praktisch bedeutet die staatliche Pflicht
zur unparteilichen Pflege und Ermöglichung geistlicher
Entfaltung der Menschen etwa, dass islamische Religionsgemeinschaften den gleichen Rechtsstatus beanspruchen können, wie ihn die christlichen Kirchen haben,
also den einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft.
({0})
Auf die verwaltungsrechtlichen Schwierigkeiten, die
das macht, wurde schon hingewiesen. Die deutsche Verwaltung muss aber wohl, da die Lebenssachverhalte in unserem Lande nun einmal so sind, wie sie sind, hier umdenken und manche ihrer überkommenen Vorstellungen
von den Formvoraussetzungen überdenken. Denn diese
Formvoraussetzungen, die wir bisher als selbstverständlich angesehen haben, können von den islamischen Gemeinschaften ihrer Identität nach so nicht erbracht werden.
Vielleicht sollte man den Regelstatus einer öffentlichrechtlichen Körperschaft ohnehin durch eine eigenständige Verbandsrechtsform ersetzen. Das gäbe jedenfalls
die Gelegenheit, öffentlich-rechtliche Körperschaft durch
einen viel spezifischeren Status auszutauschen; denn öffentlich-rechtliche Körperschaft ist auch schon jetzt für
Religionsgemeinschaften kein optimales Instrument.
({1})
Zweitens. Eine andere Konsequenz ist natürlich - auch
darauf wurde schon vielfach hingewiesen, und hier gilt,
wie ich finde, Ähnliches wie zu dem Punkt, den ich eben
angeschnitten hatte -, dass auch die Muslime einen Schulreligionsunterricht verlangen dürfen. Auch hier freilich
sind gegebenenfalls die vertrauten Strukturen, in denen
der Staat diesen Unterricht mit einer betreffenden Religionsgemeinschaft vereinbart, vorhält und garantiert, zu
modifizieren und den neuen Gegebenheiten anzupassen.
Jedenfalls ist es meines Erachtens nicht mehr zulässig,
dieses Problem aus den alten Bunkern heraus anzugehen.
Drittens. Generelle Folgerung aus der neuen Wirklichkeit in Deutschland schließlich ist, dass der Islam hierzulande deutlicher zur Kenntnis genommen werden muss,
dass ihm gegenüber die noch immer vorhandene öffentliche Ignorierung und Ausgrenzung aufhören und dass ein
Klima des gegenseitigen Interesses und des Dialogs - in
geistlicher wie geistiger Auseinandersetzung natürlich,
aber in Partnerschaft - beginnt. Die gemeinsamen Wurzeln lassen sich verdeutlichen. Vielleicht könnte gar eine
„abrahamische Erörterung“ geführt werden.
In verschiedenen Punkten kann gewiss auch fruchtbare
Kooperation erfolgen. Hoffnungsvoll stimmt etwa - ich
kann das jedenfalls ganz persönlich sagen - die Erfahrung, die im Rahmen der Europaratsbemühungen um biomedizinische Grenzsetzungen zu machen war. Hier stellte
sich nämlich heraus, dass beispielsweise die monotheistischen Religionen mit ihren festen Vorstellungen vom
göttlich bestimmten und mit unverwechselbarer Identität
ausgestatteten Menschen sehr entschieden am gleichen
Strang zogen.
Quintessenz: Toleranz, Akzeptanz und Einbezug heißt
also die Devise -und nicht mehr Indifferenz und Verdrängung.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist
der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir
werden dem Islam in seinem gesamtgesellschaftlichen,
zivilisatorischen Kontext nur dann gerecht, wenn wir begreifen, dass der Islam im Prinzip kein Problem mit Pluralismus hat, im Prinzip kein Problem mit Rationalismus
und auch mit Wissenschaft hat.
Kollege Polenz hat bereits darauf hingewiesen, welche
Rolle der Islam in der Vergangenheit spielte. Im maurischen Spanien beispielsweise ist das zustande gekommen,
was wir heute Abendland, was wir heute westliche moderne Zivilisation nennen. Vieles von dem, was wir heute
in unseren Schulen über die griechische Antike lehren und
lernen, verdanken wir dem maurischen Spanien, dass
nämlich vieles an Wissen nicht verloren gegangen ist, das
sonst heute nicht mehr bestehen würde. Es ist der Islam,
der häufig mit dem Islam, wie er uns heute entgegentritt,
einem eher bäuerlich geprägten Volksislam, verwechselt
wird. Man darf diesen Islam nicht mit dem Islam verwechseln, wie er uns in der Vergangenheit entgegentrat.
Islamische Gesellschaften haben gerade in der zivilisatorisch bedeutsamen Blütezeit Platz für Menschen gehabt,
die nicht Teil des Islams waren, die andersgläubig waren,
die nicht praktizierten. Man kann nicht von einem streng
islamisch-monolithischen Gesellschaftsaufbau sprechen.
Wie sonst wäre erklärbar, dass in der Blütezeit des Islam jemand wie Hafis seine schönsten Gedichte geschrieben hat? Ich weiß nicht, wer von Ihnen schon einmal Gedichte von Hafis aus dem heutigen Iran gelesen hat. Sie
sind sehr zu empfehlen. Die Gedichte von Hafis sind
wahrscheinlich ohne den Einfluss von recht viel Rotwein
gar nicht zu erklären.
In diesen Kontext gehört auch die Geschichte von
Nasreddin Hodja, die man sich vom Balkan bis an die
Grenzen Westchinas erzählt. Diese Gedichte, die sehr viel
Obrigkeitskritik enthalten, wären nicht ohne einen sehr liberalen Zeitgeist zu verstehen, der damals geherrscht haben muss.
Ebenfalls sehr ans Herz legen möchte ich Ihnen die
Bektaschiden-Witze oder Bektaschiden-Geschichten,
die man in unserem Kulturkreis leider viel zu wenig
kennt. Die in ihnen enthaltene Kritik an der religiösen Obrigkeit und der staatlichen Führung spricht für einen - im
Vergleich zu dem, was damals in Europa vorgeherrscht
hat - sehr liberalen Zeitgeist.
Wenn wir hingegen von Fundamentalismus sprechen,
dann dürfen wir diesen - darauf haben meine Vorredner
eindrücklich hingewiesen - nicht mit dem gesamten Islam
gleichsetzen. Der Versuch von frommen, orthodoxen Muslimen, einen uniformen Islam zu kreieren, muss zurückgewiesen werden. Dieser Versuch, den es in der Geschichte des Islam immer gab, wird der Breite des Islam
nicht gerecht.
Ich muss deshalb aber auch einen Teil dessen korrigieren, was meine Vorredner gesagt haben. Es war sicherlich
sehr gut gemeint. Aber der Wunsch nach einer islamischen Dachorganisation, die analog zu den christlichen
Amtskirchen aufgebaut ist, wird das Gegenteil dessen bewirken, was wir wollen.
({0})
Ich kann sehr gut verstehen, dass gerade die Landesregierungen den Wunsch verspüren, einen Ansprechpartner
auf Landesebene zu bekommen, mit dem man den Religionsunterricht und viele andere praktische Probleme, die
in einer Zivilgesellschaft geregelt werden müssen, regeln
kann. Aber wir dürfen vom Islam nicht Dinge verlangen,
die nicht Bestandteil des Islam sind. Das Bild des Christentums - das Jesuswort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers,
und Gott, was Gottes ist“ - ist nicht 1:1 auf den Islam
übertragbar. Eine vergleichbare, volkskirchenartige
Struktur sollte deshalb vom Islam nicht verlangt werden.
Die Konsequenz daraus wäre eher, dass die Gruppen sich
durchsetzten, von deren Durchsetzung wir nicht unbedingt begeistert wären.
Gerade weil das so ist, ist eine Quantifikation, wie viele
Muslime in Deutschland und in Europa leben, sehr
schwierig. Wer ist denn, bitte schön, Muslim? Welche Institution definiert, wer Muslim ist? Ich bin mit meiner Geburt Muslim geworden. Die Tatsache, dass meine Eltern
Muslime sind, macht mich zum Muslim. Um Muslim zu
sein, genügt bereits ein Satz: „Al-hamdu-li-llahi, Müslümanim“ - „Allah sei gepriesen, ich bin ein Muslim“. Das
Verlassen des Islam ist nur durch Konversion oder Tod
möglich; das muss beides nicht unbedingt sein. Daher rate
ich dazu, bei der Diskussion zu berücksichtigen, dass wir
es mit einer völlig anderen Struktur zu tun haben und dass
die Strukturen des Islam im Hinblick auf Eintritt und
Austritt nicht mit denen des Christentums vergleichbar
sind. Insofern sollten wir den Anspruch aufgeben, das zu
definieren.
Wie schwierig das ist, erkennt man an einer Meldung
der Nachrichtenagentur ddp von heute. Daran sieht man,
dass auch die Journalisten sich damit sehr schwer tun. Da
wird eine Abgeordnete genannt, und die Rede ist von der
„einzigen bekennenden Muslimin“ im Deutschen Bundestag. Mir war bisher nicht bekannt, das wir eine Art Religionspolizei im Deutschen Bundestag oder wo auch immer in der deutschen Gesellschaft haben. Daran sehen
Sie, wie schwer wir uns mit der Definition tun.
Wir sollten islamistischen, orthodoxen Organisationen
nicht erlauben, zu definieren, wer Muslim ist und wer kein
Muslim ist. Wir sollten ihnen nicht erlauben, zu definieren, dass der Muslim eine bestimmte Religionspraxis haben muss, damit er als gläubiger Muslim gelten kann. Wir
sollten aber gleichzeitig auch selber diesen Anspruch
nicht erheben. Nur dann kommen wir der Aufgabe nach,
die wir in der Demokratie zu leisten haben, nämlich dass
wir diejenigen in der säkularen Gesellschaft schützen, die
sich zwar Muslime nennen, deren religiöse Praxis sich
aber diametral von der Praxis orthodoxer Muslime unterscheidet. In der Demokratie muss es also möglich sein,
dass Menschen nicht bzw. anders praktizieren. Es muss
möglich sein, dass einige Menschen den Ramadan einhalten, während dies andere nicht tun. Beides muss in der
Demokratie erlaubt und möglich sein. Diesen Schutz zu
gewährleisten ist unsere Aufgabe als Demokraten.
Herr Kollege
Özdemir, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Eckart von Klaeden?
Gerne.
Herr Kollege
Özdemir, ich stimme dem, was Sie zuletzt gesagt haben,
in allen Punkten zu. Zu der aufklärerischen Tradition, zu
der auch Sie sich gerade bekannt haben, gehört gerade
auch, dass der Staat keine religiösen Inhalte definieren
soll. Wie schaffen wir es, einen Partner zu finden, mit dem
der Staat Übereinkünfte zur Ausgestaltung des Religionsunterrichtes treffen kann? Da der Staat diese Aufgabe
nicht übernehmen soll, wird es ja ohne einen Partner nicht
gehen können.
Die
Frage ist völlig berechtigt. Man muss deshalb das Gespräch mit den unterschiedlichsten Organisationen suchen. Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland ist
heterogen, so wie er auch weltweit heterogen ist. Es gibt
Muslime aus unterschiedlichen Ländern, die unterschiedliche Sprachen sprechen - darauf hat Kollege Polenz bereits hingewiesen - und unterschiedlichen Konfessionen
angehören. Innerhalb der jeweiligen Konfessionen gibt es
unterschiedliche Rechtsschulen und Sekten. Dies ist
übrigens ein Phänomen, mit dem wir es sehr häufig zu tun
haben. Viele Phänomene, die uns ärgern, sind auf Sekten
und nichts anderes zurückzuführen. Diese mit dem Islam
gleichzusetzen wäre ungefähr genauso, als wenn Sie eine
christliche Sekte mit dem Christentum gleichsetzten. Ich
glaube, das sollten wir weder beim Christentum noch
beim Islam machen. Sie haben es auch nicht getan.
Es wird uns nicht erspart bleiben, dass wir das Gespräch mit vielen, nicht nur mit einer Organisation suchen. Insofern stimme ich mit dem überein, was alle hier
gesagt haben. Auf der Basis der Werte unserer Verfassung,
die von Muslimen, Juden, Christen, Atheisten, von allen
getragen werden kann, muss man sich mit unterschiedlichen Organisationen über die Frage des Religionsunterrichts unterhalten. Ich stimme auch hier mit dem Kollegen
Polenz überein, dass dieser Religionsunterricht in deutscher Sprache von Lehrern, die bei uns ausgebildet wurden, durchgeführt werden muss. Selbstverständlich werden wir dabei die Erkenntnisse der al-Aksa-Moschee
und der Theologischen Fakultät von Istanbul einbeziehen. Die Theologen werden aber hier in deutscher Sprache ausgebildet. Diese werden in Deutschland unter der
Verantwortung des jeweiligen Kultusministeriums die
Kinder im Vormittagsunterricht und nicht in der Weise eines Konsulatsmodells unterrichten. Ich glaube, so kommen wir auf den Weg, den wir alle gemeinsam gehen wollen.
Warum ich in dieser Frage so insistiere, will ich an einem Beispiel deutlich machen. Mir scheint es, dass sich
hier ein weit verbreiteter Irrtum eingeschlichen hat, dass
nämlich Säkularismus und die Verteidigung des Laizismus mit einer autoritären Struktur gleichgesetzt wird. Als
Beispiel dafür wird gerne die Türkei angeführt. Es waren
nun gerade die Putschisten des 12. September 1980 in der
Türkei, die dort den zwangsweisen muslimisch-sunnitischen Religionsunterricht eingeführt haben, zu Beginn
übrigens auch für die Christen. Heute noch ist dieser Unterricht für alevitische Kinder verpflichtend. Sie müssen
sich vorstellen, dass Sie in der Schule im Religionsunterricht lernen, dass die Religionsgemeinschaft, der Sie angehören, etwas Verwerfliches ist. Ich möchte verhindern,
dass das auf deutschem Boden - egal, wer in welchem
Land regiert - oder wo auch immer in Europa geschieht.
({0})
Wir haben eine Verantwortung für die Heterodoxen
und für die Minderheiten im Islam, ob es die Bahai oder
die Aleviten sind. Auch für deren Schutz sind wir gewählt.
Deren Rechte müssen wir durchsetzen und verteidigen. Es
kann in der Demokratie keinen Alleinvertretungsanspruch geben. Keiner der so genannten Dachverbände
kann den Anspruch erheben, dass er allein für alle Muslime in der Bundesrepublik Deutschland spricht. Genauso
wenig wie die katholische Kirche den Anspruch erheben
kann, dass sie auch für die Protestanten spricht, kann es
die protestantische Kirche für andere. Dieses gilt übertragen auch für den Islam.
Ich möchte das zusammenfassen, was ich gesagt habe:
Es muss ein Dialog mit allen Organisationen auf der Basis des Grundgesetzes stattfinden, Alleinvertretungsansprüche müssen zurückgewiesen werden. Das Recht, ein
Bild zu definieren, wie der Muslime zu sein hat, hat niemand. Ein solches gilt es ebenso zurückzuweisen. Die islamische Theologie gewährt niemandem eine Definitionsgewalt. Das Kalifat gibt es nicht mehr; auch wir
werden es nicht einführen. Deshalb hat niemand das
Recht, zu sagen, dieser sei ein guter Muslim und diese sei
eine schlechte Muslima. Unsere Demokratie muss dafür
Sorge tragen, dass die Menschen, die bei uns leben, unabhängig von ihrer Herkunft - es gibt zunehmend auch deutsche Muslime, Menschen, die hier geboren sind und muslimischen Glaubens sind - bei uns geschützt sind.
Ich will verhindern, dass folgende Situation in der
Bundesrepublik Deutschland Realität wird: In der Türkei
gibt es Gebiete, wo der religiöse Druck besonders groß ist,
weil die Orthodoxen in der Mehrheit sind. Dort stehen
Menschen - vor allem beispielsweise Aleviten - im Fastenmonat morgens auf und schalten das Licht ein, damit
es so aussieht, dass sie sich an die im Fastenmonat geltenden Regeln halten. Die Nachbarn sollen nicht den Eindruck haben, sie seien schlechte Muslime oder sie würden
den Islam nicht praktizieren. Diese Situation wird Gott
sei Dank auch in der Türkei kritisiert. Ich möchte verhindern, dass diese Situation in Deutschland eintritt, dass
nämlich in bestimmten Quartieren Menschen der Meinung sind, dass sie nur dann als gute Muslime von ihrer
Nachbarschaft akzeptiert werden, wenn sie eine bestimmte Praxis des Islam beachten. Es ist unsere Aufgabe,
das zu verhindern.
({1})
Ich glaube, dass diese Gesellschaft eine Chance hat,
einen Dialog in Gang zu setzen. Dazu sind wir alle aufgerufen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den katholischen Theologen Küng, der mit seinem Weltethosprojekt - das ist meines Erachtens ein sehr wichtiges
Projekt, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde - einen
Gesprächsprozess in Gang gebracht hat. Dieses Projekt
wird von vielen Theologen, auch von islamischen Theologen, unterstützt. Es ist gut, dass gerade in Deutschland
dieser Dialog geführt wird. Darin liegt eine große Chance.
Wir dürfen allerdings nicht den Fehler machen, den
Eindruck zu erwecken, uns würde es darum gehen, eine
Art deutschen Islam zu schaffen. Dieses ist theologisch
nicht haltbar. Der Staat hat nicht das Recht und auch nicht
die Aufgabe, zu definieren, welches die richtige und welches die falsche Religion ist. Wir müssen den Muslimen
hier die Chance geben, eine eigene Glaubenspraxis zu entwickeln.
Das Gespräch zwischen Juden, Muslimen, Christen,
Atheisten und Andersgläubigen in der Bundesrepublik
Deutschland kann eine Chance sein, den weltweiten Dialog der Weltregionen zu fördern, wenn es darum geht,
die Schöpfung zu bewahren und sich für den Weltfrieden
sowie für die Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen. Angesichts der Versäumnisse in der Vergangenheit und der
Aufgaben in Gegenwart und Zukunft haben die großen
Buchreligionen eine gemeinsame Verantwortung, sich
stärker für den Dialog einzusetzen und sich dem Druck
der Politik, die in vielen Ländern versucht, die Religion
für ihre Zwecke zu missbrauchen, entgegenzusetzen.
Es liegt mir sehr viel daran festzustellen: Das Zusammenleben von Muslimen, Christen, Angehörigen anderer
Glaubensgemeinschaften, aber auch Konfessionslosen
kann nicht auf der Grundlage einer virtuellen abendländischen Identität aufgebaut werden. Kollege Polenz hat
bereits darauf hingewiesen, wie sich diese abendländische
Identität aus unterschiedlichsten Quellen gespeist hat und
wahrscheinlich auch in Zukunft speisen wird. Wenn wir
versuchen, die europäische oder auch die deutsche Identität quasi als Erbengemeinschaft von Karl Martell oder
Prinz Eugen zu konstituieren, dann grenzen wir damit
Menschen aus, die muslimischen, jüdischen oder anderen
Glaubens sind. Darum sollte man diesen Versuch zurückweisen.
Die Sicherung des christlichen Abendlandes gegen den
Islam gehört der Vergangenheit an; darum geht es heute
nicht mehr. Siege über Mauren und Türken dürfen nicht
das moderne Bild einer kulturell vielfältigen Gesellschaft,
wie wir sie in der Bundesrepublik Deutschland längst haben, prägen. Wer so denkt, verhält sich etwa so wie die
nordirischen Protestanten, die noch heute in provozierenden Umzügen die Siege Wilhelm von Oraniens gegen
die Katholiken feiern.
Das konstituierende Element Europas ist gerade der
Gedanke der Vielfalt. Deshalb gilt: All diejenigen, die
sich zu den Werten unseres Grundgesetzes bekennen, sind
in diesem Land willkommen. Wenn sie hier leben, dann
sind sie Teil unserer Gesellschaft, egal, welchen Glaubens
sie sind. Deshalb ist der Islam Bestandteil Europas genauso wie der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Jetzt spricht der Kollege Dr. Heinrich Fink für die PDS-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit der
vorliegenden Drucksache 14/4530 ist mehr als nur eine
Antwort auf die Große Anfrage der Abgeordneten der
CDU/CSU-Fraktion geleistet worden. Damit sind erstmalig wichtige Informationen zusammengestellt und zugänglich gemacht worden, die bisher im Bedarfsfall nur
unzulänglich und dank aufwendiger Recherchen erlangt
werden konnten. Leider kann ich in der kurzen Zeit, die
mir hier zur Verfügung steht, nicht auf die großen Leistungen eingehen, sondern nur meinen Respekt erweisen.
Der durch die Anfrage bedingte Frage-Antwort-Stil
des vorliegenden Textes ist eine begrüßenswerte Leseerleichterung und Informationsquelle, nicht nur für Interessierte. Die nun vorliegenden Antworten beanspruchen
nicht - das ist ausdrücklich betont und das finde ich sehr
wohltuend -, eine abschließende Information zu sein. Sie
werfen jeweils neue Fragen auf, die dringend weiterer
Antworten bedürfen. Sie sind eine wichtige Voraussetzung für einen Dialog zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, wobei Positionen der beiden Kirchen bzw. der
christlichen Religionsgemeinschaften einen speziellen religiösen Dialog im kulturellen Dialog darstellen.
Dankenswerterweise ist darüber eine Handreichung
des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland erschienen mit dem Titel: „Zusammenleben mit Muslimen
in Deutschland“. In dieser Handreichung wird behandelt,
was in der Drucksache fehlt, nämlich die theologischen
Differenzen. Ich finde es sehr gut, dass die Drucksache
darauf nicht eingeht; denn das wäre - der Kollege
Özdemir hat eben versucht uns das zu erklären - eine Einmischung in innerreligiöse Angelegenheiten.
Auf Seite 3 der Drucksache wird ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass der Islam kein monolithischer Block
sei und dass die sprachliche Vereinfachung leider immer
wieder zu einer inhaltlichen Verkürzung führe. Es wird
ausdrücklich erwähnt, dass, wenn schon innerhalb eines
muslimischen Landes Unterschiede konfessioneller Art
zu Spannungen und Konflikten führen, die kulturell unterschiedlichen islamischen Traditionen, zum Beispiel
von Menschen aus der Türkei, aus Bosnien, aus dem Libanon oder aus Afghanistan, bei uns in Deutschland zu oft
als unlösbare Widersprüche verstanden werden.
Gerade diese Verständigungsschwierigkeiten werden in den Antworten leider nicht berücksichtigt. Frauen,
Männer, Jugendliche und Kinder, die mit diesen konfessionell wie kulturell extrem unterschiedlichen ErfahrunCem Özdemir
gen und Prägungen ihrer Religion in Deutschland einer
fremden, säkularisierten Kultur begegnen, haben kaum
eine Chance, abendländisch-religiöses, also christliches
Leben in Kirchen und Gemeindezentren zu erleben. Dieses Leben bleibt für sie unsichtbar und daher fremd. Ich
gehe gleich auf eine positive Situation ein.
Tendenzen zu Parallelgesellschaft und Gettobildung
müssen daher keineswegs schon eine Kritik an den Strukturen unseres demokratischen Rechtsstaates sein; vielmehr sind sie möglicherweise nur ein Schutz vor der totalen Irritation in einer Gesellschaft, zu deren
demokratischen Errungenschaften die für Moslems unverständliche Trennung von Staat und Religion gehört.
Wo können Moslems die Kultur des Abendlandes lernen? Wo können Deutsche Religion und Kultur des Islams
lernen? Ich möchte mit Erich Fried fragen, wo sie „lernen
wollen lernen“ können.
Gerade Begegnungsangebote von Kirchengemeinden zu gemeinsamen Festen, vielleicht sogar jeweils im
Wechsel von Kirche und Moschee, sind für viele Muslime
und für viele Christen sehr hilfreich. In Städten, in denen
es jüdische Gemeinden gibt, ist der Trialog ein besonderer Gewinn. Nicht selten kommt es bei diesen Begegnungen zu dem Aha-Erlebnis, dass sich alle drei auf den gleichen Stammvater - auf Abraham - berufen. Allein das
Bewusstsein des gemeinsamen Vaters sollte uns toleranter werden lassen und uns dazu bewegen, dass wir uns
nicht weiterhin als Stiefgeschwister begegnen.
Es stellt sich die Frage, ob im alltäglichen Miteinander,
etwa am Arbeitsplatz, Menschen muslimischen Glaubens
überhaupt ausreichend Informationen über die abendländisch-europäische Kultur erhalten. Wie können sich in
dieser Kultur Menschen öffnen, ohne sich selber in irgendeiner Weise am Ende aufzugeben und ohne ihre eigene kulturelle Identität zu verlieren? Es darf nicht zu
einer Assimilation kommen, wie wir es in der jüdischen
Tradition des 19. Jahrhunderts leider erlebt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir uns schon
einmal klar gemacht, was in muslimischen Familien vorgeht, wenn lieb gewordene, verbindliche Traditionen, die
sogar ein Gesetz für sie sind, von der jungen Generation
abgelehnt werden? Es ist doch nicht nur das Tragen des
Kopftuches, sondern es ist zum Beispiel die Tradition der
Autorität des Vaters. Mir erzählte neulich ein Großvater,
er habe es als Demütigung empfunden, dass er vor einer
deutschen Behörde sich von seiner zehnjährigen Enkelin
dolmetschen lassen musste, was ich gar nicht schlimm
fand, was aber in seiner Tradition eine Demütigung ist.
Für uns muss es Integration heißen. Es heißt Erfahrungsaustausch im Bereich gesellschaftlicher und rechtlicher Akzeptanz. Ich halte es für gefährlich, dass neben
Isolierung als Folge negativer Erfahrungen wie Ausgrenzung und Angst gleich von Rückzug in extremistische Gegenpositionen die Rede ist. Fundamentalismus ist nicht
bedeutungsgleich mit Terrorismus. Unsere Gesellschaft
hat keine lebendige Dialogerfahrung aufzuweisen. Deswegen erscheint es mir dringend notwendig, für einen
Verständigung schaffenden Dialog zwischen Deutschen
und Muslimen nachhaltig einzutreten und ihn zu organisieren.
({0})
Wir müssen, auch ernsthaft finanziell gestützt, gerade
für junge Menschen räumliche Begegnungsmöglichkeiten schaffen, die möglicherweise dann zum Dialog über
Inhalte führen, zu gemeinsamer außerschulischer Betätigung wie Sport, Musik, Spiel. Hier möchte ich ganz besonders den Lehrern danken, die in ihren Klassen muslimische Kinder betreuen. Die Lehrer sind für viele
muslimische Kinder die intensivsten Ansprechpersonen
und haben wesentlich zur Integration und Einführung in
unsere säkulare Gesellschaft beigetragen.
Nicht schon das Grundgesetz als solches bietet die
Grundlage dafür, sondern erst der demokratisch gewährte
Lebensraum schafft die Voraussetzung für Erfahrung von
Integration. Das zum Slogan gewordene Diktum von
Max Frisch: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen und es sind
Menschen gekommen“ verdeutlicht das Problem. Nicht
allein die sozialen und marktpolitischen Probleme der
Flüchtlinge und abendländischen Arbeitskräfte müssen
gelöst werden. Auch die kulturellen Prägungen, die uns
bis dahin fremd waren, müssen vertieft und wahrgenommen werden, und zwar von uns, um in ihrer Bedeutung
überhaupt erst einmal für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen begriffen zu werden.
({1})
Dazu gehört der Islam als eine neue Herausforderung in
unserer Gesellschaft, der wir uns stellen müssen.
Mir liegt ausdrücklich daran - ich wiederhole, was
Kollegen schon gesagt haben -, mich bei den Kolleginnen
und Kollegen zu bedanken, die uns mit diesem „Kompendium zum Islam in Deutschland“ dazu verhelfen wollen, den Islam und damit auch unsere durch den Islam veränderte Kultur besser zu verstehen.
Vielen Dank.
({2})
Jetzt spricht der Kollege Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion.
Meine Damen und
Herren! Das Thema „Islam in Deutschland“ finde ich
schon deshalb passend für eine Diskussion zu jetziger
Zeit, weil sich alle Parteien mit den Fragen einer Zuwanderungs- und Integrationskonzeption beschäftigen.
Genau in diesen Rahmen gehört auch dieses wichtige
Thema. Ich bin auch froh, wenn ich das hier ergänzend
noch sagen darf, dass sich in dieser Diskussion ein Konsens anzudeuten scheint. Ich würde mich freuen, wenn
beim Konsens über ein Zuwanderungs- und Integrationskonzept der Blick nicht nur in Richtung ökonomische
und demographische Notwendigkeiten geht, sondern
wenn in diesen Konsens auch die humanitären Aspekte
voll einbezogen würden.
({0})
Meine Damen und Herren, im Rahmen dieser Integrationsdebatte wird häufig - vielleicht führt unsere Debatte
dazu, dass sich das ändert - über rechtliche, soziale, ökonomische und andere Fragen diskutiert. Das ist selbstverständlich richtig. Aber ich glaube, wir müssen in dieser Integrationsdebatte viel stärker Fragen der Kultur und der
Religion, Fragen der kulturellen Identität etc. aufnehmen.
Sie sind wichtig, gerade in einer Zeit, in der - das betrifft
die Mehrheitsgesellschaft wie die Minderheitsgesellschaften - die Angst vor Identitätsverlust gestiegen ist.
Durch einen Zuwanderungsprozess könnte diese Angst
sogar noch gesteigert werden. Deshalb finde ich es so
wichtig, dass wir uns mit solchen Themen, die die kulturelle und religiöse Identität von Menschen betreffen,
beschäftigen.
Ich möchte die Harmonie, die bei diesem Thema ausgebrochen ist, nicht stören.
({1})
Aber ich habe mich beim Lesen dieser Anfrage doch
manchmal gefragt: Wo soll das Ganze eigentlich politisch
hinführen? Was ist das Erkenntnisinteresse dieser Großen
Anfrage? Ich gestehe, dass ich mir meine eigene Frage
nicht so richtig beantworten konnte.
Ich möchte erst einmal denen ein großes Dankeschön
aussprechen, die diese 93 Seiten, die fast Lehrbuchcharakter haben, hier vorgelegt haben. Ich weiß aber auch,
dass manche Fragen bereits behandelt worden sind. Zum
Beispiel zu Fragen bezüglich Islamisten und Fundamentalisten gibt es den Bericht des Verfassungsschutzes, in
dem viele Informationen enthalten sind. Es gibt auch die
Broschüren, die wir von der Ausländerbeauftragten bekommen haben: „Muslime in Deutschland“. Es gibt eine
Menge zu diesem Thema. Trotzdem finde ich die Debatte
sinnvoll, weil wir die Informationen hier komprimieren.
Aber ich wollte bei dieser Gelegenheit auch auf jene Broschüren hinweisen, um zu zeigen, dass das nichts Neues
ist.
Ich will, wie ich zu Beginn gesagt habe, das Thema in
einen Zusammenhang mit Integrationsprozessen bringen.
Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass
man nicht von dem Islam und den Muslimen sprechen
kann. Das ist nicht nur abstrakt und akademisch wichtig,
sondern dabei geht es auch um das Veränderungspotenzial, das in der Religion und in der Kultur generell
liegt. Kultur und Religion sind keine homogenen Blöcke.
Sie sind veränderbar und sie verändern selbst. Sie werden
geprägt vom gesellschaftlichen Umfeld und sie prägen
auch das gesellschaftliche Umfeld.
Ich möchte daran erinnern, dass es zurzeit in Deutschland eine Diskussion über einen europäischen Islam
gibt. Ich weiß, dass diese Diskussion und selbst dieser Begriff sehr umstritten sind. Aber ich bekenne mich dazu:
Ich möchte einen Islam, der in der europäischen Gesellschaft verwurzelt ist; denn wir reden über Islam in
Deutschland und nicht über Islam in Algerien oder sonst
wo. Ich möchte gern einen Islam haben, der in dieser Gesellschaft, in der er von den Menschen, die hier leben,
praktiziert wird, verankert ist.
Dass der Islam eine große Weltreligion und in Deutschland die drittgrößte Glaubensgemeinschaft ist, ist bekannt. Aber auch ich möchte, wie Herr Polenz, die Frage
stellen: Wie sieht eigentlich das Islambild in Deutschland aus? Sicher auch so vielfältig, wie die Richtungen
sind. Aber manchmal, auch bei der Lektüre der Zeitungen,
die darüber berichten, was in einigen islamischen Ländern
geschieht, habe ich das Gefühl, dass die schlimmen
Geschehnisse, von denen wir erfahren, mit dem Islam
gleichgesetzt werden, dass viele, auch in Deutschland, Islam und Fundamentalismus faktisch als Einheit verstehen
und dass der Islam nach dem Ende des Kommunismus in
der öffentlichen Debatte als neues Feindbild aufgebaut
wurde.
Es gibt übrigens auch differenziertere Formen im Umgang mit dem Islam. Es wird zwar toleriert, aber nicht akzeptiert. In diesem Zusammenhang möchte ich an ein Begriffspaar erinnern. Wir benutzen zu Recht - im
positivsten Sinne des Wortes - immer den Begriff der Toleranz. Aber ich hatte folgendes Erlebnis. Als ich einmal
bei einer Veranstaltung das Hohelied der Toleranz gesungen habe, sagte mir ein Mensch arabischer Herkunft: Herr
Barthel, ich möchte von Ihnen nicht toleriert werden, sondern ich möchte von Ihnen respektiert und akzeptiert werden. Denn bei dem Begriff der Toleranz klingt mit: Eigentlich mögen wir das nicht, aber wir lassen es zu.
Ich finde, dass wir im Zusammenhang mit dem Islam
bei uns nicht nur von Toleranz sprechen dürfen, sondern
dass der Islam in dieser Gesellschaft als gleichwertig akzeptiert werden muss.
({2})
Es gibt aber - das möchte ich sehr positiv sagen - inzwischen ein ungestörteres Bild vom Islam, vielleicht gerade durch den Dialog, der durch Menschen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit entstanden ist. Aber bei
aller Achtung des Islam und der Muslime möchte ich hier
durchaus noch erwähnen: Es gibt auch das Gegenteil davon. Denken Sie bitte daran, dass auch in Deutschland
Moscheen angegriffen und zerstört wurden. Vergleichsweise ist darüber wenig berichtet worden und die Verurteilung war auch viel geringer, aber das ist nun wirklich
ein manifester Angriff sowohl auf Muslime als auch auf
den Glauben, übrigens auch auf den Dialog zwischen den
Menschen aus verschiedenen Kulturen.
Was mich bei diesem Fragenkatalog verwundert hat,
war folgende Frage: Unter der Überschrift „Islam in
Deutschland“ ist die Frage nach der Situation der Christen in islamischen Staaten gestellt worden.
Ich will jetzt kein Missverständnis aufkommen lassen.
Ich halte das für eine ganz wichtige Frage. Wenn mich
nicht alles täuscht, haben wir darüber hier auch schon einmal gesprochen. Mir ist auch bekannt, wie schlimm in
manchen arabischen Ländern die Situation von Christen
oder Angehörigen anderer Religionen, die nicht islamisch
sind, ist, etwa in der Frage der Diskriminierung usw. Ich
halte es für vollkommen richtig, diese Frage zu behandeln. Das wäre vielleicht auch ein Auftrag an die deutsche
Außenpolitik.
Eckhardt Barthel ({3})
Doch im Zusammenhang mit dem „Islam in Deutschland“ diese Frage zu stellen - ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Sollen damit Rückschlüsse auf Deutschland gezogen werden, eine Art Rückkopplung? Das hielte
ich natürlich für äußerst bedenklich. Wenn wir Berichte
aus Afghanistan oder Algerien hören, stellen sich Verbindungen zum Islam und zu Muslimen her. Vielleicht wird
denen dann - gar nicht bewusst - eine Verantwortung zugeschrieben. Das wäre meines Erachtens etwas ganz
Schlimmes. Ich bin auch sicher, dass Sie das nicht gemeint und nicht diese Absicht verfolgt haben. Doch ich
will vor diesen Verbindungen, die da hergestellt werden
könnten, warnen. Es ist beim Islambild noch weit verbreitet, diese Verbindung zwischen einigen islamischen
Staaten, dem Islam generell und den Menschen, die hier
leben, herzustellen.
Selbstverständlich gibt es in Deutschland Islamisten.
Die Antwort der Bundesregierung hat das ja gerade deutlich gemacht. Es gibt Fundamentalisten und Islamisten,
also Menschen, die die Religion für ihre politischen
Zwecke instrumentalisieren und am liebsten weltweit einen Gottesstaat etablieren würden, die mit einem Absolutheitsanspruch auftreten, den sie religiös begründen und
der eigentlich nichts von dem zulässt, was in unserer Verfassung an Werten niedergeschrieben ist. Es ist klar, dass
Organisationen dieser Art nicht der Religionsfreiheit unterliegen, sondern in die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes fallen.
Allerdings sollte man hier - ohne ein Wort davon
zurückzunehmen - doch einen Blick auf die Realität werfen. Es ist gut, dass das in der Antwort auch mit genannt
ist. Von den etwa 3 Millionen sind dies 30 000. Das ist
etwa 1 Prozent aller Muslime, die in Deutschland leben.
Aber, meine Damen und Herren, das sind immerhin noch
30 000 zu viel. Das ist sicherlich nicht die Frage; bloß soll
es in der richtigen Relation dargestellt werden.
Die Anerkennung des Islams auch im Integrationsprozess ist deshalb so wichtig, weil die Alternative
dazu führen könnte, dass sich die Menschen in Selbstisolierung oder Selbstethnisierung begeben und dann die
besten Integrationsbemühungen vergebens wären. Es
muss deutlich werden, dass Muslime in diesem Land Teil
dieser Gesellschaft sind, und umgekehrt übrigens auch,
dass sie sich selbst als Teil dieser Gesellschaft verstehen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort bewusst das
neue Staatsbürgerschaftsrecht mit aufgeführt. Da kann
man sich erst einmal wundern, ob das dazugehört. Ich
glaube jedoch, es ist richtig, dass dieses Staatsbürgerschaftsrecht mit dabei ist, weil es auch signalisiert: Du
gehörst dazu, unabhängig vom Glauben. Es gibt ja so eine
Aussage, so eine Art Gratulation. Wenn jemand eingebürgert wurde, dann sagt man nicht: Ich gratuliere zur Einbürgerung. Es gibt vielmehr den Spruch - natürlich, wie
sich das gehört, in Englisch -: Welcome to the club. Ich
finde, das ist genau die Sache, um die es hier geht. Das ist
eine richtige Formulierung. Insofern ist die Frage der Einbürgerung eine wichtige Frage: Wer gehört dazu? Da kann
es nicht nach der religiösen Herkunft gehen.
Meine Damen und Herren, es ist notwendig, dass dieses Thema im Religionsunterricht und in Religionskunde
mit behandelt wird. Es ist richtig, wir benötigen Kenntnisse der Religionen, zumindest der Religionen, die von
Menschen in unserem Lande praktiziert werden. Ich will
es einmal so sagen: Ich halte es für wichtig, dass Kinder
christlichen Glaubens wissen, was das Zuckerfest bedeutet, und dass Kinder muslimischen Glaubens wissen, was
Ostern bedeutet. Die Kenntnis der Alltagskultur meines
Nachbarn führt dazu, dass ich für ihn Verständnis entwickeln und mit ihm umgehen kann. Auf diese Art und
Weise ist - auch das ist ein Ziel der Integrationspolitik vor Ort ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben
von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft
möglich.
({4})
Die Koranschulen sind erwähnt worden. Ich kenne
hier in Berlin eine Menge Koranschulen und kann nur sagen, dass diese den Menschen und dem Glauben gegenüber unwürdig sind. Was dort teilweise gepredigt oder gelehrt wird, das ist sicher nicht das, was wir uns in einem
demokratischen Land unter dem Islam vorstellen. Das gilt
übrigens auch für andere Bereiche: Ich habe mir ein paar
Mal Predigten, die im Offenen Kanal gesendet wurden,
übersetzen lassen. Wenn man das hört, gehen einem - ich
darf das einmal so locker sagen - die Schnürsenkel auf.
Deswegen geht es hierbei genauso wie beim Religionsunterricht darum, Alternativen zu schaffen. Es gibt
viele - auch liberale - Eltern, die möchten, dass ihre Kinder religiös erzogen werden. Wenn sie keine Alternative
haben, dann schicken sie ihre Kinder in die Koranschule.
Deswegen ist es unsere Aufgabe, eine Alternative anzubieten. Ich weiß, wie schwer das ist: Ich habe an manchem
runden Tisch gesessen, an dem Vertreter verschiedener religiöser Richtungen - von sehr gläubigen Schiiten bis hin
zu liberalen Aleviten - zusammensaßen. Man versuchte
dort, sich auf eine Trägerschaft für den Religionsunterricht zu einigen. Das ist jedes Mal gescheitert. Ich bin
nicht sehr optimistisch, dass man sich in Zukunft einigen
wird.
Es ist richtig geantwortet worden: Das Problem ist,
dass wir bei der Lösung von solchen Kompetenzfragen
keinen Ansprechpartner haben. Der Islam hat, um das einmal kurz zusammenzufassen, keinen Vatikan. Das ist das
Problem beim Angebot von Religionsunterricht in den
Schulen.
Das Gleiche betrifft meines Erachtens die Religionslehrer. Es kann nicht gut gehen, wenn Kinder von Lehrern
unterrichtet werden, die weder die Landessprache noch
das gesellschaftliche Umfeld, noch die möglichen Konflikte von Kindern kennen, die sich auf der einen Seite in
einer liberalen Schule befinden und möglicherweise auf
der anderen Seite in einem streng religiösen Elternhaus leben. Das bewirkt Konflikte, die die Kinder austragen
müssen. Das müsste von jemandem, zum Beispiel von einem Religionslehrer, aufgefangen werden, der in dieser
Gesellschaft zu Hause ist und die Sprache der Kinder
spricht. Deswegen ist es notwendig, dass wir derartige
Lehrer bekommen.
Eckhardt Barthel ({5})
Mich hat es betroffen gemacht, als ich in der Antwort
auf die Große Anfrage las, dass es in Deutschland keinen
Lehrstuhl für Islamische Theologie und keine Studiengänge für islamischen Religionsunterricht gibt. Herr
Körper, Sie haben auf die Kompetenzfrage hingewiesen.
Das ist, so glaube ich, an dieser Stelle nicht entscheidend.
Denn das ist die Beschreibung eines Mangels, der meines
Erachtens zwingend behoben werden muss.
({6})
Meine Damen und Herren, in dieser Großen Anfrage
wurden auch ein paar Reizpunkte genannt, vor denen man
sich gerne drückt. Auch wir haben uns heute davor gedrückt. Ich nenne einmal zwei dieser Punkte - sie sind als
Frage formuliert und dann auch beantwortet worden -:
Das ist die berühmte Frage nach dem Kopftuch und die
Frage nach dem Schächten. Dies sind zwei Themen, mit
denen jedenfalls ich, wenn ich in der Öffentlichkeit über
den Islam spreche, permanent konfrontiert werde. Insofern unterscheidet sich die Diskussion, die ich vor Ort
führen muss, von der, die wir hier führen; das ist verständlich. Aber das sind Themen, zu denen man etwas sagen
muss.
Ich möchte zu beiden noch ein paar Sätze sagen: Ich
glaube, wir sollten die Kopftuchfrage auf kleinerer
Flamme kochen und nicht so viel in diese Frage hineininterpretieren. Ich weiß, das Kopftuch kann Ausdruck eines fundamentalistischen Glaubens sein. Aber ich weiß
auch, dass es bei vielen Frauen Ausdruck eines modischen
Schmuckes ist. Die Palette der Motive ist sehr breit. Ich
weiß, dass dem nicht alle zustimmen. Aber gerade bei
jungen Frauen ist diese Bandbreite durchaus zu sehen. Ich
würde mich freuen, wenn wir damit in dem Bereich, in
dem die Neutralitätspflicht und die negative Bekenntnisfreiheit nicht betroffen sind, etwas pragmatischer umgehen würden.
Ich möchte gern einmal ein Beispiel aus Holland dafür
bringen, wie man das macht. Die Holländer zeigen uns in
vielen Bereichen, wie man damit umgeht. Es gibt dort
eine Lebensmittelkette, in der drei Kolleginnen ein Kopftuch tragen wollten. Darüber gab es eine lange Diskussion. Man hat sich zu folgendem Ergebnis durchgerungen: Die Kolleginnen trugen alle die gleiche Schürze.
Diese Schürze hat man für alle um ein Tuch ergänzt. Einige trugen es um den Hals und die anderen um den Kopf.
Von dem Moment an stellte das Tragen des Kopftuches in
dieser Kette kein Problem mehr dar.
({7})
Man kann also mit diesem Thema sehr pragmatisch umgehen.
Herr Kollege Barthel,
ich muss jetzt ganz pragmatisch mit der Zeit umgehen. Sie
sind bereits ein Stück über Ihre Redezeit hinaus.
Ich habe es befürchtet, deswegen ein Schlusssatz: Der Dialog der Religionen, den Sie auch in Ihrer Frage ansprachen, existiert.
Das ist ja das Schöne. Wenn unsere Debatte, die wir heute
führen, dazu beigetragen hat, die Dialogbereitschaft zwischen den Religionen zu fördern, war es eine gute Debatte.
Ich bedanke mich.
({0})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Beatrix Philipp für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Barthel, ich
glaube, so einfach, wie Sie es sich zum Schluss gemacht
haben, kann man es sich mit dem Kopftuch nicht machen.
Das brauchen wir aber auch nicht zu vertiefen.
Ich kann auch Ihre Interpretation von Toleranz überhaupt nicht akzeptieren, weil ich glaube, dass das ein sehr
ernst zu nehmender und hier nicht umzudeutender Begriff
ist, ohne den wir eigentlich überhaupt nicht zusammenleben könnten, zumindest nicht friedlich. Deswegen sollten
wir uns auf diesen Begriff verständigen.
Es reizt mich auch, zu sagen: Natürlich kann man über
die Auswahl der Fragen, die wir gestellt haben, unterschiedlicher Auffassung sein. Aber diese Fragen sind - und
darauf hat Herr Polenz zu Beginn hingewiesen - Ergebnis
von Gesprächen und einer Anhörung, die dokumentiert
ist. Im Zweifelsfall können Sie nachlesen, wie diese Fragen zustande gekommen sind.
Ich stimme ausdrücklich all dem, was hier vorher gesagt worden ist, zu, auch Ihnen, Herr Özdemir. Ich finde
es ausgesprochen gut, dass Sie darauf hingewiesen haben,
dass der Islam kein Problem mit Pluralismus, Rationalismus und Wissenschaft hat! Aber außerhalb dieses
Hauses ist auch das viel zu wenig bekannt. Deswegen ist
ein wesentlicher Punkt und eine wesentliche Begründung
dafür, dass wir diese Große Anfrage gestellt haben und
heute über die Antwort sprechen, die Tatsache, dass wir
viel mehr dafür tun müssen, dass die Menschen den Islam
und das, was damit verbunden ist, kennen lernen.
({0})
Ausgangspunkt ist die Feststellung gewesen - auch darauf hat Herr Polenz hingewiesen -, dass wir in Deutschland Probleme haben. Ich denke, hier ist der richtige Ort,
sie zu benennen, darauf hinzuweisen und uns nicht darum
herumzumogeln. Es gibt diese Probleme in den Wohngegenden, in den Schulen, in den Kindergärten, also eigentlich in allen Alltagsbereichen.
Wir müssen uns auch damit befassen, warum das so ist
und was wir dagegen tun können, damit die Angst abgebaut wird, von der hier auch schon mehrfach die Rede gewesen ist. Es gibt eben Angst. „Angst ist ein schlechter
Ratgeber“, sagt ein altes Sprichwort. Angst haben die
Menschen vor Dingen, die sie nicht kennen. Die MögEckhardt Barthel ({1})
lichkeiten, die wir Menschen haben, mit Angst umzugehen und sie abzubauen, sind vielfältig. Uns stehen viele
Möglichkeiten offen, uns mit Unbekanntem auseinander
zu setzen und es kennen zu lernen.
Wie eben schon erwähnt, haben die christlichen Kirchen ständig Kontakt mit den Muslimen und den sie vertretenden Organisationen. Es gibt eine hervorragende
Handreichung der EKD mit dem Titel „Zusammenleben
mit Muslimen in Deutschland“, die ich allen nur wirklich
ans Herz legen kann und die viele ganz konkrete Handlungsanweisungen und auch Aufklärung enthält.
({2})
Ich hoffe, dass unsere Anfrage einen Beitrag dazu leistet, mehr Verständnis zu haben, aber auch dazu, die Probleme genauer zu erkennen und zu benennen. Herr Polenz
hat schon darauf hingewiesen, dass wir uns schon seit geraumer Zeit mit dieser Problematik befassen.
Nun gibt es sicherlich Ereignisse, auf die wir sehr
schnell und kurzfristig antworten und reagieren müssen.
Es gibt aber auch Entwicklungen, die wir mit Sorgfalt und
Bedacht bedenken und die wir mit sich langfristig
auswirkenden Maßnahmen versehen müssen. Um ein solches Thema geht es hier und heute: Es nutzt meiner Ansicht nach wenig, ständig den Begriff der Integration im
Mund zu führen, ohne die Bedingungen zu kennen und sie
zu beschreiben, unter denen Integration erst möglich ist.
Es nutzt auch wenig, Integration zu fordern, wenn nicht
klar und deutlich gesagt wird, dass beide Seiten integrationsbereit sein müssen und dass man diese Bereitschaft
auch erkennen können muss.
Sie wissen, dass ich aus dem Schulbereich komme. Ich
behaupte, dass die Bereitschaft zur Integration vor zehn
bis 15 Jahren viel größer und deutlicher gewesen ist, als
sie es heute in den Schulen ist. Das ist so! Das wird Ihnen
jeder bestätigen, der sich in diesem Bereich auskennt.
({3})
Das muss uns nachdenklich machen. Darüber müssen wir
uns austauschen und zu Lösungen kommen. Wir müssen
uns fragen, warum das so ist. Beide Seiten müssen diese
Integrationsbereitschaft zeigen und sie deutlich machen.
Sonst schaukelt es sich gegenseitig hoch.
Schließlich zitiere ich aus dem Papier der Zuwanderungskommission der CDU Deutschlands:
Zuwanderungspolitik und Integrationspolitik können
nur dem gelingen, der sich seiner eigenen nationalkulturellen Identität gewiss ist.
Darauf haben Sie eben auch hingewiesen.
Hier liegt, glaube ich, ein ganz wesentlicher Grund für
die eingangs beschriebenen Ängste und Sorgen, die wir
nicht wegreden können, sondern die wir ernst nehmen
müssen - ob sie nun berechtigt sind oder auch nicht.
Meine Damen und Herren, ohne Diskussion über die eigene Identität, über die deutsche Identität und ein eindeutiges Bejahen derselben und ohne eine Diskussion
über das eigene Selbstverständnis können - ich würde sogar sagen: dürfen - wir über Integration überhaupt nicht
sprechen.
Insofern habe ich persönlich - das darf ich hier sagen - die fast irrationale Debatte über die Verwendung des
Begriffes „deutsche Leitkultur“ überhaupt nicht verstanden. Das heißt doch nicht: Deutschland, Deutschland über
alles. Das heißt auch nicht: Es gibt nur eine Kultur, unter
der sich alle anderen zusammenfinden müssen. Vielmehr
heißt es, dass es in diesem unseren Land Regeln gibt, die
alle Menschen, die hier leben, einhalten müssen, damit ein
friedliches Miteinander überhaupt möglich ist. Das ist
auch mehr als Verfassungspatriotismus. Denn in der Verfassung steht nicht geschrieben, dass man die deutsche
Sprache lernen, verstehen, sprechen und möglichst auch
schreiben können sollte.
Es gibt Dinge, die für uns selbstverständlich sind, aber
längst nicht für alle anderen, die bei uns leben oder zu uns
kommen: etwa die Gleichberechtigung von Mann und
Frau oder die Trennung von Staat und Kirche. Aber
dies sind die Bedingungen, unter denen wir hier leben und
die Akzeptanz finden müssen.
Wir brauchen diese Akzeptanz - nicht mehr, aber auch
nicht weniger -, weil sie Basis des Zusammenlebens, und
zwar des friedlichen Zusammenlebens ist.
({4})
Wir dürfen sie nicht nur von Ausländern und von Menschen, die hierher kommen, erwarten. Sie ist ganz selbstverständlich von jedem Deutschen und jeder Deutschen
zu erwarten.
Meine Damen und Herren, im Übrigen schüttelt man
im Ausland über unsere Debatte nur den Kopf, weil man
es dort für ganz selbstverständlich hält, wie man mit der
eigenen Leitkultur umgeht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen
gegangen ist, aber ich habe nur Kommentare gehört nach
dem Motto: undenkbar. Das höchste der Gefühle war: typisch Deutsch. So lauteten die Kommentare, die ich
gehört habe.
Meine Damen und Herren, wie gesagt: Man darf den
Menschen in unserem Lande - das meine ich ernst - nicht
die Möglichkeit nehmen, sich zu ihrem Lande zu bekennen. Man darf dieses Bekenntnis nicht mit einem negativen Vorzeichen versehen und ihnen absprechen, stolz sein
zu dürfen. Auch diese Debatte hat mich gestört. Wenn jemand stolz sein möchte, soll er es doch sein. Entweder
man ist es oder man ist es nicht. Das ist doch Wurscht.
Aber wir müssen doch dafür keine Maßstäbe anlegen. Frau Präsidentin, wenn ich die Herren von der SPD-Fraktion, die sich so angeregt unterhalten, wirlich fürchterlich
störe, höre ich auf zu sprechen. Es stört mich schon ein
bisschen.
({5})
Wie gesagt: Wenn man den Menschen abspricht, stolz
sein zu dürfen, oder dies mit einem negativen Vorzeichen
versieht, dann nimmt man ihnen ein Stück ihrer Identität.
Dass wir aber auf die Bereitschaft jedes einzelnen Menschen angewiesen sind, brauche ich doch eigentlich nicht
zu betonen.
Meine Damen und Herren, trotzdem würden wir die
Realität nicht vollständig beschreiben, wenn wir nicht
auch auf die anderen Kulturen und Religionen hinweisen
würden, die in zunehmendem Maße bei uns anzutreffen
sind. Ich habe deshalb ein wenig weiter ausgeholt, weil
bei der Frage nach den Bedingungen, unter denen Integration stattfinden kann, nun auch deutlich werden wird,
was für jede Gesellschaft und jedes Staatswesen gilt. Ich
zitiere noch einmal den Beschluss des CDU-Bundesvorstands:
Jedes Staatswesen und jede Gesellschaft muss auf
ein bestimmtes, gemeinsames Fundament, ein gegenseitiges Vertrauen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl achten. Zu diesem Fundament gehört
auch die Akzeptanz eines gemeinsames Grundwertekanons.
Anders kann ein Gemeinwesen mit unterschiedlichen individuellen Lebensvorstellungen nicht stabil
bleiben. Ohne Loyalität gegenüber den Wertvorstellungen des Aufnahmestaats und einem entsprechend
gemeinsamen Identitätsbewusstsein kann unser Gemeinwesen weder seine Aufgaben erfüllen, noch
seine Bürger für das Gemeinwohl in die Pflicht nehmen. ... Integration ist in diesem Sinne weder einseitige Assimilation noch unverbundenes Nebeneinander auf Dauer. Multikulturalismus und Parallelgesellschaften sind kein Zukunftsmodell. Unser Ziel
muss eine Kultur der Toleranz und des Miteinander
sein auf dem Boden unserer Verfassungswerte und
im Bewusstsein der eigenen Identität.
Daraus ergeben sich einige Fragen, die zu diskutieren
sind: Erstens. Kann man gläubiger Muslim sein und sich
dennoch loyal gegenüber den grundlegenden Wertvorstellungen des Aufnahmestaates Deutschland verhalten? Antwort: ja. Das haben wir gelernt und ausführlich diskutiert.
Herr Polenz hat schon darauf abgehoben, wie diese Frage
in der Anhörung eindeutig geklärt worden ist. Manche
glauben es aber vielleicht nicht. Deswegen muss man es
den Menschen draußen ständig und auch von dieser Stelle
aus sagen. Die größte Zahl der hier lebenden Muslime
verhält sich entsprechend. Sie haben sich selbstständig
gemacht oder gehen einer regelmäßigen Arbeit nach.
Anders verhält es sich mit den extremistischen Gruppierungen. Auch das ist hier schon gesagt worden. Ihre
Zahl umfasst ausweislich der Beantwortung der Großen
Anfrage und, wie Herr Barthel gerade gesagt hat, des neuesten Verfassungsschutzberichtes zwischen 31 000 und
32 000 Muslime. Ich zitiere aus dem Bericht:
Den Ideologen dieser Denkrichtung geht es nicht um
eine Exegese des Koran, die auf die Fragen der modernen Welt eingeht und sie zu berücksichtigen versucht, sondern um eine Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke.
32 000 Muslime sind 1 Prozent der hier lebenden Muslime. Es ist schon seltsam: 1 Prozent ist ungefähr die Zahl
der sich in Irland bekriegenden Katholiken und Protestanten. Wenn man es genau untersucht, entspricht die Zahl
von 1 Prozent wahrscheinlich auch der der Rechts- und
Linksextremisten in unseren eigenen Reihen. Sie zum
Maßstab für die Beurteilung der Loyalität zu unserem
Staat zu machen ist unredlich, auch wenn diese Menschen
zweifellos lauter sind und dadurch mehr auffallen.
({6})
Zweitens. Kann oder darf sich ein gläubiger Muslim
klar und deutlich für unsere Verfassung und unsere Staatsordnung entscheiden und sich in unsere kulturellen Lebensverhältnisse einordnen, ohne in religiöse Konflikte
zu geraten? Antwort: Daran hindert ihn der Islam nicht. In
der Anhörung ist diese Frage ebenfalls eindeutig beantwortet worden.
Zur Frage des Tragens eines Kopftuchs kennen Sie
alle die Debatte. Ich habe schon eben etwas zur Diskussion in Baden-Württemberg gesagt. Aber meiner Ansicht
nach reichen diese Fragen und Antworten nicht aus. Die
Angst der Menschen mag darin begründet sein, dass ihnen
Frauen mit Kopftüchern, denen sie auf der Straße begegnen, fremd vorkommen. Dass die Zahl dieser Frauen zunimmt, dass sie oft das Bild ganzer Stadtteile prägen und
dass sich die Stellung der Frau im Islam zweifellos von
der der deutschen Frau unterscheidet, macht deutlich,
dass die Zahl der Zuwanderer mindestens ebenso im Auge
behalten werden muss wie die Frage der Ansiedlung dieser Menschen.
Aus meiner zehnjährigen Tätigkeit im Rat der Stadt
Düsseldorf weiß ich: Kommunikation mit diesen Frauen
ist in den meisten Fällen nur selten bis gar nicht möglich,
weil sie oft nur wenig oder kein Deutsch sprechen. Sie
werden zum Teil ganz bewusst und gezielt von Außenkontakten fern gehalten, und zwar nicht durch den Koran
und den Islam, sondern durch ihre Männer. Auch bei uns
gibt es sicherlich einige, die das ganz toll finden. Aber dieses Thema will ich jetzt nicht vertiefen. - Ich gebe sofort
zu: Das war ein nicht ganz passender Scherz. Aber ich
meine es sehr ernst. Das ist keine Verpflichtung, die aus
dem Koran kommt. Es sind ihre Männer, die das so organisieren.
Das Erlernen der Sprache und der Schrift wird diesen
Frauen fast unmöglich gemacht. Sie werden ausgegrenzt,
was ihre Gettoisierung fördert. Dem, denke ich, gilt es
entgegenzuwirken, und zwar von allen Seiten. Ich habe es
früher nicht gewusst und erst jetzt erfahren, Herr
Özdemir: Das erste Wort im Koran heißt „lies“ von „lesen“. Das finde ich toll und dies wird auch von emanzipierten, selbstbewussten und gut ausgebildeten Musliminnen immer wieder betont. Von diesen Frauen gibt es
- auch das gehört dazu - eine zunehmende Zahl. Das
finde ich sehr erfreulich.
Es ist sehr begrüßenswert, wenn in diesem Hohen
Hause nun endlich Einigkeit darüber herrscht, dass das
Erlernen und der Gebrauch der deutschen Sprache
ebenso wie die Akzeptanz der Grundwerte ein eindeutiges
Integrationskriterium ist. Ich zitiere aus dem letzten Bericht der Ausländerbeauftragten aus dem Jahr 2000:
Wir müssen eindeutige Kriterien für Integration definieren - und die sind vor allem Sprachkompetenz
und die Akzeptanz der gesellschaftlichen Grundwerte.
Lassen Sie mich noch einen Augenblick bei dem Begriff der Toleranz bleiben, meine Damen und Herren;
meine Ausführungen dazu richten sich an Herrn Barthel
mit seiner Frage nach der Situation der Christen in anderen Ländern. Es gibt natürlich keine Kollektivhaftung der
Mitglieder von Weltreligionen. Selbstverständlich sind in
einem freiheitlichen Verfassungsstaat die Menschenrechte nicht von der Menschenrechtslage in anderen Staaten abhängig, denn unsere Maßstäbe sind absolut und
nicht ein gnädiger Gunsterweis. Aber man wird schon,
wenn man sich gegenseitig verstehen, vertrauen und auch
achten will, fragen dürfen: Wie hältst du es, der du Religionsfreiheit in Deutschland in Anspruch nimmst, mit der
Freiheit von Christen und Juden in anderen Teilen der
Welt und wie steht es mit der Gleichberechtigung der Frau
und des Mannes? Und wie ist es mit den Menschenrechten?
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. In
den Leitsätzen des Deutsch-Türkischen Forums heißt es:
Integration ist für uns eine wechselseitige Annäherung von Deutschen und Menschen ausländischer
Abstammung unter Wahrung ihrer kulturellen Identität. In diesem Annäherungsprozess ist es natürlich,
dass die Minderheit einen längeren Weg gehen muss
als die Mehrheit.
Ich halte dies für eine realistische Einschätzung; auch um
die sollte man sich nicht herummogeln. Ich wünschte mir,
dass ein Teil der Vorbemerkung aus der Anfrage auch dem
Stil der heutigen Debatte entspräche. Ich fände das sehr
erfreulich. Deshalb darf ich zum Schluss zitieren:
Eine Assimilierung der Zuwanderer wird von keiner
Seite ernsthaft in Betracht gezogen. Die hier lebenden Muslime sollen ihre kulturelle und religiöse
Identität nicht preisgeben. Allerdings ist von ihnen zu
verlangen, dass sie sich in die Strukturen eines demokratischen Rechtsstaates einfügen,
Frau Philipp, ich muss
auch Sie leider etwas bremsen.
Ich führe nur noch kurz
das Zitat zu Ende, wenn ich das darf:
das Grundgesetz uneingeschränkt bejahen, insbesondere die Trennung von Staat und Religion anerkennen und keine Parallelgesellschaft oder Gettobildung
anstreben.
Ich hoffe, dass die heutige Debatte dazu beigetragen
hat, dass diese beiden Gruppierungen weiter und enger
aufeinander zugehen.
Ich bedanke mich sehr.
({0})
Ich schließe die Aussprache und rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Dietmar Nietan, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans-Josef
Fell, Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen
Union
- Drucksache 14/6057 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe
keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
SPD-Fraktion ist die Kollegin Ursula Burchardt.
Frau Präsidentin! Meine
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Beratung unseres Antrages findet im Kontext einer immer intensiver werdenden Debatte über die zukünftige Gestaltung und die zukünftige Gestalt Europas statt und sie zielt
auf die anstehende Tagung des Europäischen Rates in
Göteborg ab. Unsere Botschaft für diesen Europäischen
Rat lautet: Europa muss nachhaltiger und demokratischer
werden.
({0})
Als größter Wirtschaftsraum der Welt trägt die Europäische Union eine besondere Verantwortung für die Sicherung der Lebenschancen und der Lebensqualität heutiger und zukünftiger Generationen, und wie kaum eine
andere Region der Welt steht Europa in der Pflicht, wenn
im Jahre 2002 Bilanz gezogen wird, was zehn Jahre nach
Rio tatsächlich geschehen ist, nicht nur Deklarationen,
sondern substanzielle Ergebnisse und neue Weichenstellungen vorzuweisen.
Deshalb begrüßen wir ausdrücklich das Vorhaben der
europäischen Staats- und Regierungschefs, im Juni in Göteborg eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie auf den
Weg zu bringen,
({1})
und wir begrüßen ausdrücklich den Verfahrensvorschlag
der Kommission; sie schlägt vor, den Lissabon-Prozess,
der darauf zielt, Europa zum wettbewerbsfähigsten und
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der
Welt zu machen, um die Dimension der Nachhaltigkeit zu
erweitern. Diese Erweiterung ist notwendig, denn die
Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen ist die
existenzielle Bedingung für mehr Wohlstand, mehr Lebensqualität und mehr soziale Stabilität in Europa - in
Verantwortung für die gesamte Welt.
Ich denke, eine nachhaltige Gemeinschaft ist eine Vision, für die man Menschen begeistern kann, für die man
sie gewinnen kann.Diese Vision bietet die Chance, Skepsis gegenüber Europa und seiner künftigen Entwicklung
zu überwinden, wenn sie offensiv angegangen, umgesetzt
und genauso kommuniziert wird.
({2})
Doch die Skepsis gegenüber der Union hängt nicht nur
mit einer bislang fehlenden Vision und Kommunikation
zusammen. Ich denke, für 99 Prozent der Bürgerinnen und
Bürger - Abgeordnete sind auch nur Menschen - ist
undurchschaubar, wer wo wie für sie entscheidet - und
was. Mehr Demokratie ist also angesagt. Transparente
Entscheidungsprozesse, klare Verantwortlichkeiten und
Abgrenzungen, die Frage, was auf den unterschiedlichen
Ebenen - auf der europäischen Ebene, in den Mitgliedstaaten, den Ländern, Regionen und Kommunen - zu regeln ist, sowie die Stärkung der Rechte des Europäischen
Parlaments, all das steht zur Klärung an.
All das ist aber nicht ausreichend, um das viel beschworene Demokratiedefizit zu beheben und die Zivilgesellschaft zu stärken. Wenn man sich ansieht, wie Entscheidungen vorbereitet werden und damit letztendlich
auch Vorentscheidungen getroffen werden, stellt man fest,
wie groß der Einfluss der Bürokratien ist. Deswegen sagen wir: Mehr Parlament ist angesagt. Mehr als bisher
müssen sich die Parlamente der Mitgliedstaaten das Recht
und den Raum nehmen, auf die inhaltliche Zukunftsgestaltung Europas Einfluss zu nehmen.
({3})
Um es einmal ganz drastisch zu formulieren und es auf
den Punkt zu bringen: Als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages wollen wir uns nicht mit der Rolle eines Exekutivorgans europäischer Gesetzgebung zufrieden geben.
Deswegen wollen wir mit unserem Antrag der Bundesregierung für den Gipfel in Göteborg einen ganz klaren Verhandlungsauftrag mit auf den Weg geben.
Die bisherigen Kommissionsvorschläge zur Nachhaltigkeitsstrategie finden in vielen Punkten unsere Zustimmung, sollten aber an einigen entscheidenden Stellen verbessert werden. Ich nenne in diesem Zusammenhang drei
Punkte:
Erstens. In dem Konsultationspapier sind entscheidende Problemfelder benannt, die angegangen werden
müssen: Klimawandel, Gesundheitsschutz, Erhalt der
natürlichen Ressourcen, Mobilität, Armut und demographischer Wandel. Aus unserer Sicht ist es unverzichtbar,
diesen Katalog um die Agrarpolitik und den Verbraucherschutz zu erweitern.
({4})
Zweitens. Die Nachhaltigkeitsstrategie braucht eine
starke ökologische Säule. Das 6. Umweltaktionsprogramm bietet sich an. Der dazu vorliegende Entwurf ist allerdings noch zu schwach. Er muss durch konkrete Ziele,
Zeitpläne, Maßnahmen und Überprüfungsmechanismen
ergänzt werden.
({5})
Drittens. Nicht nur die Umweltpolitik steht in der
Pflicht. Diese Erkenntnis verfolgt die EU seit mehr als
zwei Jahren; Stichwort: Cardiff-Prozess. Umweltbelange
sollen integraler Bestandteil der Fachpolitiken - Wirtschaft, Finanzen, Verkehr und Energie - werden. Wir sind
der Meinung, dass die Forschungspolitik - der Forschungsministerrat - aus diesem Prozess der Integration
von Umweltpolitik in die Sektorpolitiken nicht länger
ausgeklammert werden darf. Gerade die Forschungspolitik ist ein entscheidender Bereich, in dem sich die Weichenstellung für die Zukunft vollzieht.
({6})
Ich komme zum Schluss: Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte Sie und appelliere an Sie - an alle
Seiten des Hauses -: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Wenn wir diesen heute verabschieden, so ist das Ausdruck
parlamentarischen Selbstbewusstseins, des Willens, künftig stärker auf die Gestaltung Europas Einfluss zu nehmen
und die Interessen unserer Kinder und Enkelkinder wahrzunehmen. Ich denke, je ungeteilter das Votum des Deutschen Bundestages ausfällt, desto stärker wird das Signal
in Europa wirken.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Peter Paziorek von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Christlich Demokratische
Union und die Christlich-Soziale Union können Ihrem
Antrag unter keinem Gesichtspunkt zustimmen.
Das gesamte Verfahren im Zusammenhang mit diesem
Antrag ist in höchstem Maße erstaunlich: Wir haben den
Antrag Dienstagabend vorgelegt bekommen.
({0})
- Sie am Mittwochmorgen, also im Grunde genommen
zeitlich gleich. - Trotzdem wollen Sie diesen Antrag heute
bereits abschließend beraten und darüber beschließen. Sie
gehen damit von dem guten Verfahren ab, solche Anträge
zuerst in den Ausschüssen - im konkreten Fall im Umweltausschuss und im Wirtschaftsausschuss - zu beraten.
Es stellt sich die Frage: Warum wählen Sie auf einmal eine
solche Verfahrensweise, mit der Sie die inhaltliche Beratung im Bundestag verhindern?
Für diese Hektik gibt es überhaupt keine Veranlassung;
denn es ist allgemein bekannt, dass das 6. Umweltaktionsprogramm, worauf sich Ihr Antrag bezieht, bis zum
Gipfel in Göteborg nicht mehr durch das Europäische Parlament kommen wird. Im Europäischen Parlament sind
inzwischen 300 Änderungsanträge zu dem eingebracht
worden, was Sie selbst gerade als konkretisierungsbedürftig bezeichnet haben. Sie selbst haben ja zugegeben,
dass das, was im Augenblick vorliegt, noch nicht ausgereift und in sich geschlossen sei. Erstaunlich ist ja, dass
gerade die sozialistische Fraktion viele Änderungsanträge
eingebracht hat, auf die ich gleich noch genauer eingehen
werde.
Es stellt sich nun die spannende Frage: Warum wollen
Sie die inhaltliche Diskussion, die im Augenblick in Europa stattfindet, nicht auch im Deutschen Bundestag
führen? Warum führen Sie ein Verfahren durch, das gerade die inhaltliche Diskussion im deutschen Parlament
verhindert? Ich kann Ihnen sagen, warum Sie das tun.
Man muss sich nur einmal die Punkte konkret anschauen,
die strittig sind. In Art. 4 des Kommissionsentwurfes zum
Umweltaktionsprogramm heißt es - ich wende mich insbesondere an die sozialdemokratischen Vertreter, die sich
bisher lautstark für die Steinkohle und die Braunkohle
eingesetzt haben -, dass „Subventionen für Kohle die
Umstellung auf umweltfreundlichere Energien hemmen“,
und dort wird die „Abschaffung von Energiesubventionen
für nicht erneuerbare Energiequellen“ vorgeschlagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Ruhrgebiet, die
Sie bisher immer dafür gestritten haben, dass alles zusammengefasst wird - Herr Weiermann, hier waren wir
immer einer Meinung -, Ihnen muss doch klar sein, dass
Sie dann, wenn Sie den vorliegenden Antrag verabschieden, Positionen stärken, die den klaren Interessen der Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen zuwiderlaufen.
({1})
- Frau Burchardt, ich habe nichts dagegen, wenn wir zum
Beispiel darüber diskutieren, ob die Kohlesubventionen
weiter heruntergefahren und dafür andere Bereiche - das
alles steht in dem Kommissionsentwurf, zu dem Sie Ihren
Antrag vorgelegt haben - subventionieren werden sollten.
Aber warum diskutieren wir darüber nicht im deutschen
Parlament? Ich kann Ihnen genau sagen, warum wir das
nicht tun. Sie haben Angst, dass die im 6. Umweltaktionsprogramm enthaltenen konkreten Aussagen bekannt
werden; denn wenn sie bekannt würden, dann würde die
Diskussion in Ihrer Fraktion erst richtig losgehen.
Wo wollen Sie - da wird es spannend - die Subventionen hinlenken: wie bisher in den Bereich der Kohle oder
in den der erneuerbaren Energien? In Ihrem Antrag heißt
es:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung dazu auf, bei der Beratung der Vorschläge der
Europäischen Kommission für ein 6. Umweltaktionsprogramm dafür Sorge zu tragen, dass der
vorliegende Entwurf um konkrete Ziele und Zeitpläne ergänzt wird.
Welche konkreten Ziele und Zeitpläne meinen Sie? Auf
diese Frage geben Sie in Ihrem Antrag überhaupt keine
Antwort. Das ließe sich reihenweise fortsetzen.
Heute Nachmittag haben uns Vertreter von Betriebsräten und Mitarbeiter aus der Chemieindustrie besucht. In
der Chemieindustrie wird im Augenblick darüber diskutiert, wie sich die Politik bezüglich der Chemikalien verändern wird. Darauf wird im Umweltaktionsprogramm
eingegangen. Auch an dieser Stelle wird deutlich, warum
Sie als Sozialdemokraten eine konkrete Diskussion im
Deutschen Bundestag nicht wollen. Die Europäische
Union fordert zum Beispiel die Einführung eines Emissionshandels. Das hört sich im ersten Augenblick phantastisch an. Es stellen sich nur folgende Fragen: Soll der
Emissionshandel auf europäischer Ebene durchgeführt
werden? Dazu gibt es keinen konkreten Vorschlag. Soll
der Emissionshandel auf nationaler Ebene durchgeführt
werden? Sie selbst wissen doch, dass Ihre Vorberatungen
noch lange nicht so weit sind, dass Ihre Regierung einen
Gesetzentwurf zum Emissionshandel auf nationaler
Ebene einbringen kann, wo ein solcher Handel sinnvoll
wäre.
Die Europäische Union schlägt in den Begleitpapieren
zum 6. Umweltaktionsprogramm vor, einen Emissionshandel auf Unternehmensebene durchzuführen. Das bedeutet, dass Sie den großen chemischen Fabriken Chargen
vorgeben müssen. Es ist ganz klar, dass multinationale
Konzerne wie BASF einen Teil ihrer Produktion ins Ausland verlagern werden, wenn ihnen solche Caps vorgegeben werden.
Betriebsräte von der IG BCE sind zu uns gekommen
und haben gesagt: Das, was Rot-Grün machen will und
in den Antrag hineingeschrieben hat, darf auf keinen Fall
realisiert werden, weil das nicht nachhaltig ist. Nachhaltigkeit bedeutet nämlich, zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten abzuwägen. In dem
Entwurf des Umweltausschusses des Europäischen Parlaments gibt es Stellen, an denen man als Umweltpolitiker die Frage aufwerfen muss, ob es ökologisch sinnvoll
ist, wenn die Produktion aufgrund falscher Vorgaben nur
verlagert wird. Dadurch werden Arbeitsplätze beeinträchtigt, und Sie gewinnen ökologisch überhaupt nichts
für die gesamte Situation.
Das alles steht in diesen Papieren. Und Sie bringen am
Dienstag einen Antrag ein und sagen: Den wollen wir am
Donnerstag ohne Beratung in den Ausschüssen schon abschließend behandeln.
({2})
- Das ist das Thema! - Sie wollen durch diese Vorgehensweise nur eine intensive Beratung in den Ausschüssen verhindern.
Wo war denn bisher die heftige Kritik am so genannten
5. Umweltaktionsprogramm? Es war einhellige Meinung - das ist auch am letzten Mittwoch im Umweltausschuss bei einem anderen Tagesordnungspunkt gesagt
worden, als nämlich der Bericht des Umweltbundesamtes
vorgelegt wurde -: Das 5. Umweltaktionsprogramm ist zu
nebulös gewesen, es hat keine richtigen Leitideen für die
Umweltpolitik enthalten. Aber - so sagten auch die Fachleute - das jetzt vorliegende 6. Umweltaktionsprogramm
muss sich sogar den Vorwurf gefallen lassen, dass es in
vielen Bereichen noch viel weniger konkret ist als das
Vorgängerprogramm. Es wird in diesem Programm überhaupt nicht dargestellt, wie zum Beispiel die Verzahnung
zwischen den verschiedenen medialen Bereichen, zwischen den verschiedenen sektoralen Bereichen stattfindet.
Es soll jetzt neue Ansätze geben: Querschnittsaufgabe
Nachhaltigkeit. Das ist ja richtig. Sie sagen: Ich brauche
jetzt eine Leitidee, um diese Verzahnung tatsächlich herzustellen. Recht haben Sie. Aber sagen Sie uns doch einmal in dem Antrag, wie Ihre Leitidee konkret aussehen
soll, um diese Verzahnung zu ermöglichen! Das steht an
keiner Stelle in Ihrem Papier, weil Sie nämlich, wenn Sie
es täten, in Ihrer Fraktion Fronten aufreißen würden - bei
den Grünen vielleicht nicht, aber bei der SPD -, wie es in
der Kohle- und wie es in der Umweltpolitik weitergeht,
wie es in der Chemikalienpolitik weitergeht. Es gibt ja
Ausführungen in diesem Umweltaktionsprogramm auch
zur Chemikalienpolitik. Es wird gesagt: Das müssen wir
unterstützen. Zu der Frage zum Beispiel, ob auch für den
letzten kleinen mittelständischen Handwerker Vorgaben
gemacht werden müssen - wenn etwa ein Lack angewendet wird -, sagen Sie nichts. Das sind die Themen, die im
Augenblick diskutiert werden.
Deshalb kann ich nur sagen, dass Ihr gesamter Antrag
nur einen tieferen Grund hat: Sie wollen eine Aussprache
zu den wirklich spannenden Themen, wie nämlich Ökonomie, Ökologie und Soziales verbunden werden können,
im Deutschen Bundestag nicht führen. Sie kneifen,
({3})
Sie tauchen weg und legen einen Antrag vor, der nur ganz
allgemein und pauschal ausgerichtet ist.
Ich kann zusammenfassend nur sagen: Ihr Antrag soll
Initiative vortäuschen. Er ist jedoch letztlich nichts anderes als das Eingeständnis von Unfähigkeit, konkret Profil
zu zeigen, Profil im Sinne einer nachhaltigen Umweltpolitik.
Mit Blick auf die Vorbereitung für Göteborg wie auch
für den Weltgipfel im Jahre 2002 in Südafrika fordern wir
die Bundesregierung auf, die nationale und internationale
nachhaltige Umweltpolitik zu konkretisieren, die Aussprache hier in diesem Hause zu suchen, konkrete Initiativen, wie es sie bei den Vorgängerregierungen gab, aufzugreifen und nicht mehr, wie mit diesem Antrag, nur
verbale Absichtserklärungen vorzutragen. Gleich wird
mein Fraktionskollege Arnold Vaatz auch darauf hinweisen, wie schlecht bisher die Umweltpolitik teilweise koordiniert worden ist.
Man kann abschließend wieder einmal sagen, dass Sie
einen allgemeinen Antrag vorgelegt haben, weil der Satz
auch für Sie gilt: Wenn ein Kapitän nicht weiß, welches
Ufer er ansteuern soll, dann ist kein Wind der richtige.
({4})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Winfried Hermann vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Lieber Kollege Paziorek, um in der Sprache des Seemanns zu bleiben: Das einzige Problem Ihrer Rede war,
dass Sie nicht wissen, auf welchem Dampfer wir sind. Das
ist Ihr Problem.
({0})
Es tut mir herzlich Leid. Es ist normalerweise, Kollege
Paziorek, pure Polemik, wenn man sagt: Sie wissen nicht,
wovon Sie reden. Aber ich muss Ihnen in dem Fall wirklich allen Ernstes sagen: Sie haben in Ihrer gesamten Rede
zum 6. Umweltaktionsprogramm und zu dem entsprechenden Antrag geredet. Das ist aber nicht das Thema der
heutigen Tagesordnung. Wir reden heute über die europäische Nachhaltigkeitsstrategie
({1})
und nicht über das Umweltaktionsprogramm. Insofern
haben Sie komplett am Thema vorbei gesprochen.
({2})
Deswegen werde ich auch im Einzelnen gar nicht auf Sie
eingehen können.
({3})
Ich werde in einem Punkt auf Sie eingehen, bei dem es
Überschneidungen gibt. Bisweilen sagen Europaspötter:
Gottes Mühlen mahlen langsam, aber die der Europäischen Union noch langsamer. Das hat sehr lange Gültigkeit gehabt. Aber gestern hat uns die Europäische Kommission überrascht, mich jedenfalls. Ich hatte mit der
Vorlage der Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen
Union durch den Präsidenten der Kommission persönlich,
Herrn Prodi, gestern nicht gerechnet.
({4})
Sie steht unter dem Titel „A Sustainable Europe for a Better World: A European Union Strategy for Sustainable Development“. Kollege Paziorek, das ist das Thema, darum
geht es. Dazu haben Sie nicht gesprochen.
({5})
Dieser Entwurf soll in Göteborg besprochen und diskutiert werden. Das war der Grund, warum wir gesagt haben: Wir müssen das heute ins Plenum bringen, um unserer Regierung noch einmal einen Anstoß zu geben, wie sie
über diese Strategie verhandeln soll.
({6})
Was steht nun in diesem Papier? Ich finde, es ist für die
Verhältnisse der Europäischen Union durchaus ehrgeizig.
Es erfüllt übrigens in vielen Bereichen bereits die Ziele
unseres Antrages. Es benennt die zentralen Herausforderungen aus europäischer Sicht: Treibhauseffekt und
Klimawandel, Gesundheitsgefahren und Lebensmittelsicherheit, Armut - übrigens keine Frage des Umweltaktionsprogramms -, Überalterung der Bevölkerung - auch
kein Umweltthema -, Artenrückgang und Artensterben
und schließlich übermäßige Belastungen durch Verkehr.
Dieses Konzept hat eine klare Gliederung. Es enthält
konkrete Qualitätsziele, die ich nicht in allen, aber in vielen Bereichen sehr interessant finde. Darüber müssen wir
streiten. Es wird vorgeschlagen, eine jährliche Berichterstattung einzuführen und jedes Jahr zum Frühjahrsrat
der Europäischen Union neben dem Beschäftigungsgipfel
einen Nachhaltigkeitsinformationsgipfel zu veranstalten.
Das ist ein echter Fortschritt.
Herr Paziorek, auf europäischer Ebene gibt es demnächst einen Nachhaltigkeitsrat. Er wird „Round Table“
heißen. Dessen Konstruktion entspricht unserer Konzeption eines Nachhaltigkeitsrates für Deutschland.
Ich finde es auch sehr interessant, dass die Europäische
Union klipp und klar sagt: Wir brauchen mehr Bürgerbeteiligung - Kollegin Burchardt hat das angemahnt -,
mehr Bürgerengagement im Sinne der nachhaltigen Entwicklung. Wir müssen auch mehr in Sachen Bildung für
nachhaltige Entwicklung tun - ein schöner Vorschlag.
({7})
Ich darf Ihnen einige dieser, wie ich finde, anspruchsvollen Ziele einmal vortragen: Die Europäische Union
will die Treibhausgase bis zum Jahre 2020 um jährlich
1 Prozent, gemessen an 1990, reduzieren. Das ist sehr anspruchsvoll und deutlich mehr als das, was bisher auf der
Ebene der Europäischen Union verhandelt wurde.
Die Europäische Union will - das wird die CDU nicht
freuen - bis zum Jahre 2002 eine Richtlinie zur europaweiten, harmonisierten Energiebesteuerung und Ressourcenbesteuerung vorlegen.
({8})
Dann ist Schluss mit der billigen Tankstellenrhetorik der
CDU. Dann wird sozusagen europaweit Ökosteuer gemacht.
({9})
Die EU schlägt vor, dass bis 2020 biogene Treibstoffe
einen Anteil von 20 Prozent erreichen sollen. Das ist ebenfalls ein anspruchsvolles Ziel, das uns auch national herausfordert.
Sie will im Bereich der Chemikalienpolitik - das hatten Sie kurz angesprochen, weil es auch im Umweltaktionsprogramm steht - bis 2020 zu einer sicheren Kreislaufwirtschaft ohne Belastungen für Umwelt und Mensch
kommen. Auch dies ist ein weit reichendes Ziel. Beginnen
will man 2004 mit der Umsetzung des Weißbuchs in einer
neuen Richtlinie.
Es wird die Entkopplung von Wirtschaftswachstum
und Ressourcenverbrauch vorgegeben. Das ist ein Ziel,
über das wir auf nationaler Ebene schon lange diskutieren.
Wenn es aber europaweit gilt, auch für die neuen Staaten,
dann ist es sehr ambitioniert.
Die externen Preise des Verkehrs, die gesellschaftlichen und ökologischen Kosten, sollen internalisiert werden, und das schon ab 2005. Meine Damen und Herren
von der Opposition, Sie müssen sich einige Gedanken machen, wie Sie zukünftig überhaupt noch in der Debatte
eine Rolle spielen wollen.
Schwerpunkt der öffentlichen Infrastrukturinvestitionen soll eindeutig der öffentliche Verkehr sein. Das ist
der neue Akzent, den wir als neue Regierung setzen. Er
gilt jetzt also auch europaweit.
Jetzt habe ich die EU viel gelobt. Ich will auch deutlich
machen: Es ist nicht alles gut. Wir sehen noch Verbesserungsmöglichkeiten. Dass man den Aspekt der Umweltentwicklung weitgehend ausgeklammert und gesagt hat,
das liefern wir erst nächstes Jahr nach, ist zum Beispiel
schade; denn damit macht sich die EU ein Stück weit angreifbar. Sie verfährt nämlich nach dem Motto: Wir handeln nur in unserer komfortablen, elitären europäischen
Festung nachhaltig. Es ist aber auch nötig, dass die Europäische Union ihre Wirtschaftsweise und den Lebenswandel ihrer Bürger am Maßstab der Nachhaltigkeit misst
und auf Auswirkungen auf andere Länder überprüft. Es
muss auch in Europa über den „ökologischen Rucksack“
unserer Lebensweise diskutiert werden. Eine europäische
Strategie der Nachhaltigkeit muss auch aufzeigen, wie wir
die ökologischen Problempakete anpacken, die wir zulasten der Dritten Welt schnüren.
({10})
Unser Wunsch an die Regierung und damit an den Rat in
Göteborg ist, dass auch für andere Felder, auf denen es noch
nicht so konkrete Maßnahmen wie zum Beispiel im Bereich
des Klimaschutzes gibt - das kann man nachlesen -, sondern eher allgemeine Absichtserklärungen vorherrschen,
konkrete Ziele mit Zeitangaben und möglichst einleuchtenden Indikatoren vorgegeben werden.
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle
der schwedischen Ratspräsidentschaft außerordentlich
danken. Sie hat dafür gesorgt, dass Nachhaltigkeitsstrategien auf europäischer Ebene so weit vorangebracht
wurden.
({11})
Ein Grund dafür, dass sie es so erfolgreich tun konnte, lag
in ihrer Glaubwürdigkeit; denn schon seit 1996 gibt es in
Schweden eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie auf gesetzlicher Basis, die mehrfach überarbeitet und mit ganz
konkreten Zielen für viele Bereiche versehen wurde.
Ich möchte auch noch einmal den Begriff der Umweltintegration aufgreifen, der vom Kollegen Paziorek
aus einem anderen Blickwinkel angesprochen wurde. Damit möchte ich deutlich machen, warum Sie meiner Meinung nach ein Stück weit an der Sache vorbei gesprochen
haben. Das Prinzip der Umweltintegration, das gerade
durch das Umweltaktionsprogramm nochmals verstärkt
werden soll, nachdem das, wie man im Rückblick feststellen muss, durch das 5. Aktionsprogramm nicht gelungen ist, gilt es weiterhin durchzusetzen. Das wird überhaupt nicht bestritten und auch im Entwurf zur
Nachhaltigkeitsstrategie ausdrücklich noch einmal betont. Hier liegt kein Konkurrenzverhältnis vor, sondern
hiermit wird ein ökologischer Schwerpunkt gesetzt, der
Teil des europäischen Vertragswerkes ist, gemäß dem
Umweltziele in alle anderen Politikbereiche zu integrieren sind. Aber hierbei geht es eben nur um Umweltziele,
während die Nachhaltigkeitsstrategie weit über das Ökologische hinausgeht und ein ambitionierteres Vorhaben
ist; sie hat nämlich soziale, ökonomische und weitere Dimensionen. Auch diese müssen nachhaltig gestaltet werden.
({12})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Die EU hat lange gezögert und lange gebraucht, bis sie die
in Rio eingegangenen Verpflichtungen aufgegriffen und
in konkretes Handeln bzw. in Strategievorschläge umgesetzt hat. Der Antrag der Koalitionsfraktionen wurde
noch aus dem Geist heraus geschrieben, die EU müsse angetrieben werden, damit sie endlich etwas vorlege. Heute
müssen wir sagen: Sie hat etwas geliefert, was nicht
schlecht ist. Jetzt müssen wir aufpassen - das sage ich
ganz besonders an die Adresse der Opposition -,
({13})
dass wir den internationalen Anschluss nicht verlieren.
Wir müssen jetzt sehr aktiv, kreativ und partizipativ an einer europäischen und an einer deutschen Nachhaltigkeitsstrategie arbeiten.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. begrüßt grundsätzlich den Vorstoß der EU-Kommission, den Lissabon-Prozess um die Umweltdimension zu erweitern und somit
eine Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit in der EU
einzuleiten.
({0})
Aber der Antrag, den Sie hierzu vorlegen, ist schon bemerkenswert.
({1})
Er ist deshalb bemerkenswert, weil Sie trotz einstimmigen
Beschlusses des Deutschen Bundestages die Sache bis vor
kurzem verschlafen haben.
({2})
Nachdem Sie die Koalition gebildet und die Regierungsverantwortung übernommen hatten, hatten Sie sofort erklärt, dies umsetzen zu wollen; es gab ja auch schon
während der letzten Legislaturperiode einen entsprechenden Beschluss des Deutschen Bundestages. Aber nach
dieser Erklärung vor zweieinhalb Jahren kam erst einmal
lange nichts. Vor zwei Jahren, nämlich im Juni 1999, hat
der Umweltausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig beschlossen, dass ein nationaler Nachhaltigkeitsrat eingesetzt werden soll. Im Januar 2000 hat das
Plenum des Deutschen Bundestages dies ebenfalls einstimmig beschlossen.
({3})
Im Juni 2000 habe ich nachgefragt: Es wurde geantwortet,
der Nachhaltigkeitsrat werde in Kürze eingesetzt.
({4})
Im April 2001 haben Sie ihn endlich zu Wege gebracht.
Sie haben dafür also knapp zwei Jahre gebraucht. Trotzdem haben Sie jetzt den Anspruch, den Nachhaltigkeitsprozess in Europa vorantreiben zu wollen. Da werden die
anderen Länder angesichts der Leistungen, die Sie hier in
Deutschland erbracht haben, aber beeindruckt sein.
({5})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass Ihr Antrag nur Aktivität vortäuscht.
({6})
Bemerkenswert finde ich es auch, dass Herr Bury zu diesem Thema reden wird. Ich begrüße den Herrn Staatsminister ganz besonders.
({7})
Er sollte eigentlich schon seit Januar im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages einen Bericht abgeben, weil die Regierung in dieser Frage nicht vorwärts
kam. Es gab aber immer zig Gründe, warum er sich im
Umweltausschuss nicht hat sehen lassen. Ich bin also gespannt darauf, was er uns heute zu sagen hat. Vorhin
wurde das Beispiel von Herrn Prodi gebracht. Sie können
daraus lernen. Vielleicht kommen Sie dann besser voran
als bisher.
Hinzu kommt, dass der nationale Nachhaltigkeitsrat
von vornherein torpediert wird. Es soll doch das Ziel erreicht werden, ökonomische, ökologische und soziale
Aspekte bei Entscheidungen für die Zukunft gleichermaßen zu berücksichtigen. Das haben wir gemeinsam
festgelegt. Stattdessen erklärt der Bundeskanzler Gerhard
Schröder - meines Wissens von der SPD - laut ddp aus
Anlass der Einführung des Nachhaltigkeitsrates, dieser
solle kein zweiter Umweltrat sein; er solle vielmehr ökonomische Fragen berücksichtigen. Mir scheint sinnvoll zu
sein, dass Sie erst einmal Herrn Schröder informieren und
auf Linie bringen, bevor Sie Europa voranbringen wollen.
({8})
Obwohl Sie bis heute national keine Handlungsfelder
definiert haben - der Nachhaltigkeitsrat wurde ja gerade
erst eingesetzt -, legen Sie in Ihrem Antrag ein ganzes
Sammelsurium von Handlungsfeldern für die europäische
Ebene fest.
({9})
Sie haben sie vorhin genannt, Frau Burchhardt und Herr
Hermann. Ich brauche sie deswegen nicht zu wiederholen.
({10})
Sie haben diese Handlungsfelder noch um zwei Punkte
über das hinaus, was die EU-Kommission vorschlägt, erweitert. Sie, Herr Hermann, nennen das ambitioniert.
({11})
Ich sehe das nicht so. Die F.D.P. unterstützt diesen Katalog nicht, weil er nicht zielführend ist und weil er zu viel
enthält. Damit werden Sie auf jeden Fall scheitern.
({12})
Die Begriffe sind außerdem zu weit gefasst. Sie haben
selbst gesagt, Frau Burchhardt, die Punkte müssten noch
konkretisiert werden. Es gibt keine klare Kompetenzverteilung. Bei den Punkten, die in dem Katalog von der EUKommission und von Ihnen aufgelistet werden, besteht
die Gefahr der Verletzung des Subsidiaritätsprinzips.
Um es klar zu sagen: Die F.D.P. will eine klare Kompetenzverteilung zwischen EU und Nationalstaaten im Verfassungsvertrag bis 2004 regeln. Dabei können wir uns
gerade im Umweltbereich einiges an gemeinschaftlichen
Regeln vorstellen, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Wir dürfen nicht national, sondern müssen europäisch und international in der Umweltpolitik handeln,
aber unter strikter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips.
Das ist weder mit dem EU-Vorschlag noch mit Ihrem Antrag sichergestellt.
({13})
Hinzu kommt: Sie machen den Vorschlag, den Nachhaltigkeitsprozess durch ein Monitoring zu überwachen.
Das ist prinzipiell richtig.
({14})
Aber im Rahmen der Lissabon-Strategie dürfen keine
überflüssigen neuen bürokratischen Elemente eingeführt
werden. Auf den ersten Blick ist Ihr Antrag ganz in diesem Sinne. Sie sagen, es existiere bereits ein Monitoringsystem; dieses könne man in den Umweltbereich einbeziehen. Was Sie allerdings nicht sagen, ist, dass in diesem
Monitoringprozess bisher nur wirtschaftliche und soziale
Indikatoren berücksichtigt werden. Dabei handelt es sich
um Daten, die heute schon erhoben werden und beim Statistischen Bundesamt abgerufen werden können.
Aber das, was Sie in Ihrem Antrag an Themen behandeln, wird dazu führen, dass eine ganze Reihe von Daten
erst einmal erhoben werden muss. Das entsprechende Datenmaterial liegt gar nicht vor, um es in einen Monitoringprozess einzubeziehen.
({15})
So schafft man neue Bürokratie und erreicht nichts anderes, als Berichtspflichten einzuführen, die neben hohem
bürokratischem Aufwand wahrscheinlich nichts anderes
bringen als Datenfriedhöfe.
({16})
Ich komme zum Schluss. Die F.D.P. begrüßt grundsätzlich - ich sage es noch einmal - die Erweiterung der
Lissabon-Strategie um die Umweltdimension. Auch wir
wollen eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie, die alle
drei Säulen des Begriffs umfasst. Ein solches Vorhaben
kann man aber nicht im Hauruckverfahren - ohne Befassung im Ausschuss und ohne saubere Abstimmung durchs Plenum peitschen. Hier einfach abzustimmen wird
der Sache insgesamt nicht gerecht und deswegen werden
wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
({17})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Kersten Naumann von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Konferenz von Rio 1992 ist der
Begriff „nachhaltige Entwicklung“ zu einem umweltpolitischen Leitbild geworden. Die integrierende Betrachtung
ökologischer, ökonomischer und sozialer Probleme macht
den übergreifenden Zusammenhang deutlich, in den die
Umweltprobleme gestellt werden müssen.
Die Koalition hat in ihrem Antrag hoch gesteckte Ziele
formuliert, was die PDS sehr begrüßt. Zu Recht sind die
bisher weitgehend unverbundenen Sektorstrategien zur
Einbeziehung des Umweltschutzes aufeinander abzustimmen; zu Recht wird von der Stärkung der Beschäftigung
gesprochen; denn man kann dem Markt nicht die Dimension einer sozialökologischen Nachhaltigkeit überlassen.
Schließlich ist im Antrag von klaren Zielvorgaben und
zeitlich definierten Schritten zur Umsetzung die Rede.
Leider finden sich im Forderungsteil jedoch keine konkreten Vorstellungen und keine Angebote als Auftrag an
die Bundesregierung.
({0})
Ein Vergleich des vorliegenden Antrags mit der von der
Koalition formulierten nationalen Nachhaltigkeitsstrategie macht deutlich, dass es gravierende Unterschiede gibt:
Warum werden nicht auch die Atomkraft, mehr Generationengerechtigkeit, eine breitenwirksame Medien- und
Bildungsoffensive sowie friedenspolitische Aspekte in
die europäische Nachhaltigkeitsstrategie einbezogen?
Schwerpunkte einer Nachhaltigkeitsstrategie müssten unter anderem sein: eine Langfrist- und Folgeorientierung,
die Verbindung von regionalen und globalen Analyseebenen, die Orientierung an gesellschaftlichen Bedürfnisfeldern, eine Akteurs- und Anwenderorientierung, Sozialverträglichkeit und die Bildung und Erziehung zur
nachhaltigen Entwicklung.
Oft verbirgt sich hinter dem Etikett „nachhaltige Entwicklung“ nur eine schöne Ummantelung konkreter Projekte, deren Nachhaltigkeit für die Zukunftsfähigkeit der
Gesellschaft umstritten ist. Seit Jahren ist ein zunehmendes ökologisches Unwohlsein in der Gesellschaft zu
beobachten. Um dem Einhalt zu gebieten, gibt es inzwischen sehr viele Papiere zur Nachhaltigkeit auf allen Ebenen. Sie sollen den Ergebnissen von Rio, der Agenda 21
oder dem Vertrag von Amsterdam Rechnung tragen.
Auch in der Wirtschaft haben sich fast alle großen
Konzerne die Nachhaltigkeit in ihre Unternehmensphilosophie geschrieben, mit dem Erfolg, dass seit Jahren die
profunden Aussagen und Analysen in Umweltberichten,
des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen und
der damaligen Enquête-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ zunehmenden Ressourcenverbrauch, abnehmende Artenvielfalt sowie hausgemachte
Katastrophen verkünden und dass seit Jahren bei jeder
Rationalisierung, bei jeder Fusion Arbeitsplätze abgebaut
werden. Seit Jahren wird politisch verbal auf Nachhaltigkeit gesetzt; aber nachhaltig gestalten sich nur die Profite
der Großindustrie.
Auch bei dem Verbraucher stellt sich - bewusst oder
unbewusst - ein zunehmendes ökologisches Unwohlsein
ein. Das beginnt frühmorgens beim Zähneputzen mit dem
Geschmack von chloriertem Wasser. Das setzt sich fort,
wenn man - bei ständig steigenden Preisen für eine Umweltkarte - mit dem Bus im Stau steht, und es endet mit
einem Biss ins Ungewisse, obwohl die Qualität und die
Sicherheit deutscher Lebensmittel schon von jeher als die
besten propagiert werden. Der Hauptkonflikt für eine
nachhaltige Entwicklung besteht nun einmal zwischen
den wirtschaftsorientierten Kapitalinteressen sowie dem
Wunsch nach menschenwürdigen Lebensbedingungen
und Lebensweisen, die das untrennbare Verflochtensein
von Mensch und Natur beinhalten.
({1})
Die Nachhaltigkeitsstrategie scheint daher eher eine
End-of-pipe-Strategie, eine Reparaturtechnologie, zu
sein. Sie bekämpft nicht die wahren Ursachen von Umweltzerstörung, Hunger in der Welt, Fehlernährung in den
Industrieländern sowie von wirtschafts- und sozialpolitisch negativen Tendenzen in Entwicklungsländern. Was
uns in diesem Antrag fehlt, ist die Einsicht der Politik,
dass eine breite Integration des Umweltschutzes mit einer
Weiterentwicklung der Öffentlichkeitsbeteiligung verbunden werden muss. Deshalb wird sich die PDS bei der
Abstimmung über diesen Antrag der Stimme enthalten.
({2})
Für die
Bundesregierung hat jetzt der Staatsminister Hans Martin
Bury das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Angesichts des schnellen technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandels wächst das
Bedürfnis nach einer langfristigen Orientierung deutscher
und europäischer Politik. Die Frage lautet: Wie wollen wir
in Zukunft leben? Wir müssen heute die Weichen stellen,
damit auch nachfolgende Generationen in einer gesunden
Umwelt leben und ihre Chancen auf Bildung, befriedigende Arbeit und Wohlstand ergreifen können.
Unser Leitfaden ist die Idee der nachhaltigen Entwicklung. Ich begrüße es deshalb, dass auch auf EU-Ebene eine
Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet wird. Wer in Göteborg
die europäische Diskussion glaubwürdig führen will,
muss auch im eigenen Land die Herausforderung annehmen.
Bei allem Respekt, Frau Kollegin Homburger, da verdeckte Ihr starker Auftritt doch eher die schwachen Inhalte Ihrer Partei.
({0})
Ich freue mich ja, dass Sie jeden Schritt unserer fortschrittlichen Politik so aufmerksam verfolgen.
({1})
Ich kann das auch verstehen; denn Sie hatten in 16 Jahren,
von denen Sie acht Jahre persönlich hier zugebracht haben, einige Gelegenheit, in puncto Nachhaltigkeit Weichen zu stellen. Aber das einzig Nachhaltige Ihrer Politik
war, dass sie nachhaltig falsch war und ist.
({2})
Für die Bundesregierung bedeutet Nachhaltigkeit nicht
einfach die Fortsetzung der Umweltpolitik mit anderen
Mitteln. Nachhaltigkeit ist ein Handlungsprinzip, das für
alle Politikbereiche gilt:
({3})
von der Haushaltskonsolidierung über die Stärkung der
Zukunftsbereiche Bildung und Forschung bis zur neuen
Säule der Altersvorsorge oder dem Einstieg in eine neue
Energiepolitik. Zukunftsfähigkeit ist der rote Faden des
Regierungshandelns.
Die Bundesregierung hat zudem einen Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung, das „Green
Cabinet“, eingesetzt.
({4})
Seine wichtigste Aufgabe ist es, für die Rio-Folgekonferenz 2002 in Johannesburg eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln. Schon während des Arbeitsprozesses ist ein kontinuierlicher Dialog mit den
gesellschaftlichen Gruppen und der Bevölkerung vorgesehen. So hat auch der Rat für nachhaltige Entwicklung
seine Arbeit aufgenommen. Von ihm erwarten wir Beiträge zu diesem Dialog, weiterführende Impulse für die
Strategie und Vorschläge für konkrete Maßnahmen. Wir
wollen den bereits existierenden Kommissionsberichten
nicht einfach einen weiteren hinzufügen, sondern uns auf
zentrale Handlungsfelder konzentrieren und dafür konkrete Projekte auf den Weg bringen.
Im Mittelpunkt steht für uns die Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz. Das ist unsere Antwort auf
steigende Ölpreise und auf die Herausforderungen des
Klimaschutzes.
({5})
Damit vermindern wir die Abhängigkeit von Importen,
geben Impulse für Innovationen und mehr Beschäftigung.
Ich sehe darin zugleich einen entscheidenden Beitrag, um
die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu stärken. Wir wollen, dass Deutschland die Nummer eins ist, wenn es um neue, hocheffiziente und umweltverträgliche Technologien geht. Wir konzentrieren
uns dabei zunächst auf die Handlungsfelder Klimaschutz
und Energie, Mobilität sowie Umwelt, Ernährung, Landwirtschaft.
({6})
Meine Damen und Herren, die klare Setzung von Prioritäten ist auch unsere entscheidende Forderung für den
Europäischen Rat in Göteborg. Angesichts der Krise der
europäischen Landwirtschaftspolitik gehört für mich vor
allem die Neuorientierung der europäischen Agrarpolitik und ihre Verknüpfung mit den Themen Umwelt und
Gesundheit zu den Kernthemen.
({7})
Auf diesem Gebiet hat die Europäische Union umfassende Kompetenzen. Hier muss Europa zeigen, wie wir
nachhaltige Entwicklung künftig buchstabieren.
Wir wollen, dass nachhaltige Entwicklung zu einem
gemeinsamen europäischen Projekt wird. Mit der gleichrangigen Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer
und sozialer Belange knüpft das Konzept der Nachhaltigkeit an europäische Traditionen an und weist Europa zugleich den Weg in die Zukunft. Diesen Weg wollen wir in
Göteborg fortsetzen.
({8})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Arnold Vaatz
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bury, die
Kollegin Homburger hat nach meiner Auffassung zu
Recht gesagt, dass es schon richtig ist, dass Sie keine Fortsetzung der Umweltpolitik mit anderen Mitteln betreiben.
Was Sie betreiben, ist der Stillstand der Umweltpolitik mit
anderen Leuten.
({0})
Ich bin auch einer Meinung mit dem Kollegen
Hermann. Sie sind auf dem richtigen Dampfer, Herr Kollege Hermann, aber ich habe das Gefühl, Sie sind mit dem
richtigen Schiff auf hoher See vor Anker und merken das
nicht.
({1})
Das Problem, das ich hier sehe, ist folgendes. Es dürfte
in diesem Raum niemand sein, der der Auffassung ist,
dass wir keine klaren Kriterien für Nachhaltigkeit brauchen. Ich bin auch überzeugt, dass es notwendig ist, uns
sehr genau Gedanken darüber zu machen, wie das Monitoring aussehen muss, damit wir die Zielabweichungen
von der Nachhaltigkeit in verschiedenen Politikdisziplinen feststellen können. Daran gibt es sicher keinen Zweifel. Aber der Teufel steckt nach meiner Auffassung im Detail.
({2})
Es muss klar werden, wo diese großen philosophischen
Forderungen tatsächlich die Erde berühren,
({3})
wo sie die Umweltpolitik erreichen und in sie eingreifen.
Da schweigen Sie sich in Ihrem Antrag leider aus
({4})
und das bemängeln wir.
Ich will zum Beispiel fragen: Wie soll nach Ihrer Meinung nach diesen Kriterien ein Zustand, wie er im europäischen Umweltrecht im Augenblick vorhanden ist,
nämlich dass es sehr viele unterschiedliche Gesetze gibt,
die nicht übereinstimmen, bewertet werden, zum Beispiel
die Tatsache, dass in Dänemark Dosenverkauf verboten,
aber die Herstellung von Dosen erlaubt ist und wir uns in
Deutschland mit den importierten Dosen und der Mehrwegquote herumschlagen? Solche Fragen sind konkreter
Natur. Der Bürger wartet darauf, beurteilt zu sehen, an
welcher Stelle in diesem Zusammenhang die Nachhaltigkeitsprinzipien verletzt werden. Das machen Sie aber
nicht.
({5})
Als Nächstes zum Thema Vollzugsqualität. Sie wissen alle, dass europaweit gleiche Trinkwassernormen gelten, und diese werden scheinbar ordentlich eingehalten.
Aber wenn Sie nach Griechenland oder Süditalien fahren,
müssen Sie sich oft die Frage stellen, ob das Trinkwasser
die gleiche Qualität hat, wenn es leicht bräunlich aussieht
und etwas Nachgeschmack hat. Die EU sagt, es habe die
gleiche Qualität. Jetzt ist meine Frage: Wenn es in der Europäischen Union diese Vollzugsdifferenzen gibt, wie
wollen Sie dann - diese Frage müssen Sie beantworten eigentlich garantieren, dass Nachhaltigkeitskriterien eine
höhere Autorität entfalten als die bisherigen Richtlinien
und tatsächlich eingehalten werden?
({6})
Dazu sehe ich nichts in Ihrem Papier.
Wenn über diese Dinge keine Auskunft zu erhalten ist,
dann haben Sie uns letzten Endes weiße Salbe zugemutet,
statt etwas Konkretes zu sagen.
({7})
Wenn Sie aber nichts Konkretes sagen, wenn Sie nicht
einmal sagen, wie Sie beispielsweise Zielabweichungen,
die durch das Monitoringsystem festgestellt werden,
sanktionsbewehren wollen, wie Sie überhaupt die Diskussion darüber beginnen wollen, dann führen Sie die
Menschen in die Irre. Sie spiegeln ihnen vor, dass Sie ein
Problem in Angriff genommen und gelöst haben, während
Sie es in Wirklichkeit überhaupt nicht erkannt haben.
({8})
Noch etwas gefällt mir an diesem Papier nicht. Wir haben uns in letzter Zeit sehr viel darüber unterhalten, welchen Raum eigentlich freiwillige Verpflichtungen im
Wirtschaftsbereich einnehmen sollen. Ich halte es für
äußerst gefährlich, wenn der Eindruck erweckt wird, dass
das Instrument der freiwilligen Verpflichtung, das ein
wichtiges Stück Wettbewerb bei der Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien darstellen könnte, durch den zu schnellen Griff nach ordnungspolitischen Regeln außer Kraft gesetzt wird bzw. keinen Raum mehr erhält. Das muss nach
meiner Auffassung in ein solches Papier hinein.
({9})
Wenn Sie solche Papiere vorlegen, dann gibt es noch
etwas zu beachten. Der Bürger auf der Straße - das gilt für
jedes Land der Europäischen Union - möchte die Transparenz des Ganzen erkennen können. Er möchte wissen,
wie die Entscheidungen fallen, und er möchte insbesondere wissen, ob Sie nun eigentlich mehr Regulierung oder
mehr Deregulierung vorhaben.
({10})
Sie aber geben keinerlei Auskunft darüber, was Sie vorhaben.
Es ist noch eine weitere Frage von Bedeutung: Inwiefern sollen beispielsweise die Nachhaltigkeitskriterien bei
den europäischen Förderprogrammen berücksichtigt
werden?
({11})
Es wär interessant, zu wissen, ob Sie europäischen Förderprogrammen nur noch dann zustimmen wollen, wenn
sie mehr Nachhaltigkeit bringen.
({12})
Sagen Sie das doch! Wir wissen aber, dass Ihnen das
wehtäte, weil Sie ganz genau wissen, dass Sie dann sehr
viel Widerspruch ernten würden, auch bei den europäischen Mitgliedsländern. Doch an dieser Stelle muss meines Erachtens das Fuhrwerk nach vorn geschoben werden. Die Vorspiegelung, man könne darauf verzichten und
eine Reihe von wolkigen Bemerkungen machen, lassen
wir Ihnen nicht durchgehen.
({13})
Dann sage ich Ihnen noch etwas. Ich sehe nicht, wie
Sie das Prozedere gestalten wollen, solche Kriterien zu
entwickeln. Sie haben eine ganze Reihe von Angeboten,
zur Mitarbeit bekommen. So haben die Länder auf der
ACK im Mai dieses Jahres angeboten, Ihnen ihre Erfahrungen mitzuteilen. Die Kommunen haben erhebliche Erfahrungen bei der lokalen Umsetzung der Agenda 21 gesammelt. Ich frage Sie: Wie wollen Sie alle diese
Erfahrungen in den europäischen Prozess einbringen?
Meine Damen und Herren, solange Sie darauf keine
Antwort geben können, sollten Sie nicht solche Anträge
stellen. Überlegen Sie sich das noch einmal in Ruhe und
bringen Sie dann etwas ein, das wirklich Hand und Fuß
hat. Ihr Antrag ist ein genaues Abbild der stagnierenden
Überlegungen der Bundesregierung zur Nachhaltigkeit.
Er ist unausgegoren, undifferenziert, wenig durchdacht,
wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet, und schadet der
Umwelt deshalb mehr, als er ihr nützt.
({14})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der
Kollege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wirklich überrascht, wie
man einen so klar strukturierten Antrag so missverstehen
kann wie Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition.
({0})
Wenn Sie aber zu dem Ergebnis kommen, dieser Antrag
werfe für Sie Fragen über Fragen auf, dann stimmt mich
das wieder hoffnungsfroh, denn Sie kennen den Spruch:
Wer nicht fragt, bleibt dumm. Also fragen Sie weiter!
({1})
Wenn Sie zudem der Meinung sind, dieser Antrag sei
sehr unkonkret und unspezifisch, dann kann ich Ihnen
auch da weiterhelfen. Ich empfehle Ihnen das schöne
dicke Buch mit 120 Seiten, in dem die SPD-Bundestagsfraktion aktuell alle Facetten nachhaltiger Politik für
Deutschland und Europa beschrieben hat. Ich stelle es Ihnen gerne zur Verfügung. Vielleicht sind Sie dann in der
Lage, unserem nächsten Antrag zu diesem Thema zu folgen.
({2})
Sie reden hier wirklich an der Sache vorbei. Wir sprechen über das Konsultationspapier der Kommission zur
Nachhaltigkeitsstrategie, das seit ungefähr zwei Monaten
vorliegt und gestern zusammen mit einem, wie ich finde,
hervorragenden Papier der Kommission zur Konkretisierung dieser Nachhaltigkeitsstrategie vorgestellt wurde.
Interessant ist, dass sich keiner Ihrer Beiträge auf diese
Papiere der Kommission bezog. Ich weiß nicht, ob Sie sie
nicht gelesen oder nicht verstanden haben. Aber genau um
diese Aktionen der Europäischen Kommission dreht sich
unser Antrag.
({3})
Frau Kollegin Homburger hat auf die anderen Staaten
der EU verwiesen. Ich möchte hier hervorheben, dass die
Europäische Kommission SPD und Grüne ausdrücklich
gelobt hat, weil wir eines der wenigen Parlamente sind,
die überhaupt einen konkreten Antrag zur Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union vor dem Gipfel in
Göteborg behandeln. Das zeigt, dass wir an dieser Stelle
sehr fortschrittlich und unserer Zeit ein ganzes Stück voraus sind.
({4})
Was ist dagegen einzuwenden, dass wir versuchen wollen, die ehrgeizigen ökonomischen Ziele des LissabonProzesses um ökologische und soziale Ziele und Leitplanken zu ergänzen? Nur so wird aus diesem Prozess
doch ein nachhaltiger Prozess und genau das ist es, was
wir mit diesem Antrag erreichen wollen. Wir haben diesen Antrag eingebracht in der Hoffnung, dass einem so
guten Anliegen eigentlich jeder zustimmen kann. Wir hätten nicht im Traum daran gedacht, dass wir ihn noch einmal in den Ausschüssen beraten müssen, weil er eigentlich klar gegliedert diesen fortschrittlichen Prozess
unterstützt. Dass Sie ihm nicht folgen wollen, spricht
nicht gerade für Sie.
Ich will sehr deutlich sagen, dass die Kommission in
ihren gestrigen Vorschlägen dazu, diesen Nachhaltigkeitsprozess weiterzubringen und in Zukunft zum Beispiel bei
der Überarbeitung der gemeinsamen Agrarpolitik ein
Hauptaugenmerk auf die nachhaltige Entwicklung zu
richten, die Politik der Bundesregierung hin zu einer
Agrarwende erkennt und unterstützt. Auch da waren wir
unserer Zeit einen Schritt voraus, was man von Ihnen
nicht behaupten kann.
({5})
Die Kommission schlägt jetzt vor, dass der europäische
Gipfel in jedem Frühjahr nicht nur die Nachhaltigkeitsstrategie bewerten soll, sondern auch, wie die Umsetzung
der Nachhaltigkeitsstrategie in der Europäischen Union
und in den einzelnen Mitgliedstaaten gelingt. Damit sind
wir genau an dem Punkt, von dem der Kollege Vaatz gesprochen hat, nämlich dass wir über Sanktionen erst dann
diskutieren können, wenn wir ein Überprüfungssystem
und dementsprechend Indikatoren geschaffen haben,
({6})
aufgrund deren wir dann Sanktionen verhängen können,
wenn die entsprechenden Ziele nicht erreicht werden. Ich
finde es sehr bemerkenswert, dass Sie an dieser Stelle
diese Reihenfolge offensichtlich verwechselt haben.
({7})
Wir stehen historisch gesehen vor der Chance - wir
wollen die Bundesregierung mit unserem Antrag bestärken, diese Chance zu nutzen -, auf dem Gipfel in Göteborg einen wirklich großen Schritt weiterzukommen,
nämlich die nachhaltige Strategie in alle Politikbereiche
der Europäischen Union zu integrieren. Das ist ein großer
Schritt, der natürlich konkretisiert werden muss; da sind
wir uns einig.
({8})
Aber ich sage sehr deutlich: Jetzt geht es darum, diesen
Schritt in Göteborg durchzusetzen. Dafür braucht die
Bundesregierung Rückendeckung. Ich kann Sie nur
auffordern - das sollte eigentlich auch in Ihrem Interesse
sein -, durch eine große Mehrheit für diesen Antrag eine
solche Rückendeckung für die Bundesregierung herzustellen. Denn es handelt sich in der Tat um sehr ehrgeizige
Ziele. Die sollten wir jetzt gemeinsam angehen.
({9})
Lassen Sie mich als Europapolitiker zum Schluss noch
etwas sagen: Sie sehen an diesem Antrag und zum Beispiel auch an der Implementierung eines runden Tisches,
der unserem System des Nachhaltigkeitsrates folgt, dass
die Bundesregierung in Europa auf diesem Feld eine fortschrittliche Politik macht. Sie muss jetzt darangehen,
diese fortschrittliche Politik auch mit den europäischen
Partnern umzusetzen. Sie sehen daran in aller Deutlichkeit, dass wir nicht nur in der Diskussion über die konstitutiven Elemente und die institutionellen Reformen, die
wir im Rahmen des Leitantrages der SPD betreffend
Europa debattieren werden, führend sind, sondern dass
wir unsere Vorschläge hinsichtlich der Reform der Institutionen auch mit konkreten Inhalten füllen. Folgen Sie
uns auf diesem Weg! Ich glaube, wir alle haben etwas davon.
Vielen Dank.
({10})
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union. Wer stimmt für
diesen Antrag auf Drucksache 14/6057? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Hildebrecht Braun
({0}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen Rabattrechts an die EU-Richtlinie über den
elektronischen Geschäftsverkehr ({1})
- Drucksache 14/4423 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3})
- Drucksache 14/6060 Berichterstattung:
Abgeordnete Birgit Roth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. eine Redezeit von acht Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat für die antragstellende F.D.P.-Fraktion die Kollegin Gudrun Kopp
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Herren und Damen! Die liberale Handhabung
von Rabatten und Zugaben bringt allen Marktbeteiligten
Vorteile: den Verbrauchern wie dem Handel. - So lautet
das Ergebnis einer jüngsten internationalen Expertenbefragung in verschiedenen benachbarten EU-Ländern, die
bereits Erfahrungen mit einer solchen Liberalisierung haben. Das hat die F.D.P. schon vor Jahren gewusst, nämlich
in Person des ehemaligen Wirtschaftsministers Günter
Rexrodt, der seiner Zeit weit voraus war
({0})
und die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung vorangebracht hat. Allerdings hat dieses Vorhaben im damaligen Bundesrat keine Mehrheit gefunden.
Aber wir versuchen es wieder.
Seit sieben Monaten schon liegen die beiden erneuten
Anträge der F.D.P.-Bundestagsfraktion auf Abschaffung
des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung vor. Wir
wollen damit nicht nur EU-Richtlinien erfüllen. Durch die
Liberalisierung wollen wir Preisvorteile für die Verbraucher im elektronischen Geschäftsverkehr, aber auch im
Handel schaffen. Aber was bedeutet das? Es ist typisch
deutsch, da wieder allerhand Ängste zu schüren und Probleme aufzubauen, die eigentlich gar keine sind; denn es
wird niemand nach Basar-Manier oder in Preiskriegen
über den Preis für ein halbes Pfund Butter streiten. Natürlich geht es vielmehr darum, dass auch höherwertige Güter zu günstigen Preisen abgegeben werden sollen - zum
Wohle der Verbraucher. Wir, die F.D.P.-Bundestagsfraktion, trauen den Bürgern zu, dass sie diese Wahl eigenständig treffen können und dass sie keine Bevormundung
durch den Staat brauchen, der befürchtet, dass diese Entscheidung nicht von erwachsenen Menschen allein getroffen werden könnte.
({1})
Ich hoffe, wir sind uns einig darüber, dass Auswüchse
durch das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb, also das
UWG, verhindert werden.
Eine Umfrage der Beratungsgesellschaft Ericsson
Consulting, die in verschiedenen europäischen Ländern
im vergangenen Monat durchgeführt wurde, hat zudem
ergeben, dass eine Liberalisierung der Regelungen in Rabattgesetz und Zugabeverordnung den größeren Firmen
keinerlei Vorteile gegenüber den kleinen Firmen gebracht
hat, sondern dass von der Liberalisierung sowohl der
kleine und mittelständische Handel als auch die Großbetriebe profitieren. Ich denke, wir brauchen nicht zu befürchten, dass es durch die Liberalisierung zu Konzentrationstendenzen im Handel kommen wird.
({2})
Heute entscheiden wir leider nur über einen unserer
Anträge, nämlich über den Antrag zur Abschaffung des
Rabattgesetzes. Ich hoffe, dass wir am heutigen Abend
mit Ihrem Votum unter Beweis stellen, dass wir im Deutschen Bundestag auch einmal auf ein Gesetz verzichten
können, das längst überflüssig ist. Ich denke, das wäre
vernünftig.
Ich verhehle nicht, dass ich mich darüber wundere,
dass Sie von der CDU/CSU-Fraktion ein wenig zögerlich
sind und zum einen überlegen, eine Anhörung zu diesem
Thema zu machen, die am 25. Juni stattfinden soll, und
zum anderen, ob nicht gerade dem mittelständischen Handel ein weiteres Jahr an Übergangsfrist zugestanden werden soll, damit entsprechende Marketingstrategien vorbereitet werden können. Ich denke, das brauchen wir nicht.
Der Handel weiß lange genug, was auf ihn zukommt. Wir
sollten nicht länger verzögern und Rechtsunsicherheit
schaffen.
({3})
Zu allem Überfluss ist unser Antrag auf Abschaffung
des Rabattgesetzes im Wirtschaftsausschuss schon vor einigen Wochen von Rot-Grün abgelehnt worden.
({4})
Das Kuriose dabei ist, dass die Regierungsfraktionen inzwischen einen eigenen Antrag gleichen Inhalts vorgelegt
haben. Allerdings - das gestehe ich Ihnen zu -: Sie wollen das Gleiche wie die F.D.P.-Fraktion, nur sind die Inhalte noch nicht von jeder Fraktion genannt worden. Insofern hoffe ich, dass Sie heute Abend den Mut haben,
einem Antrag der F.D.P.-Bundestagsfraktion zuzustimmen. Das wäre einmal etwas ganz Kühnes: völlig auf den
Inhalt bezogen und weg vom Taktieren.
({5})
Wir haben seit neuestem ein Verbraucherministerium, ein Ministerium, das sich fernab von Agrarkrisen
auch um den umfassenden Verbraucherschutz kümmern
sollte. Ich vermisse in diesem Zusammenhang die Anwesenheit der Verbraucherministerin oder eines Vertreters
bzw. einer Vertreterin aus dem Verbraucherministerium.
({6})
Frau Künast hat sich zum Inhalt überhaupt nicht geäußert.
Das ist eben vom Wirtschaftsministerium und im Wirtschaftsausschuss bearbeitet worden und hat mit dem Verbraucherministerium null Komma nichts zu tun. Ich finde,
das beweist sehr schön, wie wenig Bedeutung die Bundesregierung dem umfassenden Verbraucherschutz und
der umfassenden Verbraucherpolitik tatsächlich beimisst.
({7})
Es ist schon klar, dass der Umbau der Agrarpolitik, der
nun seit vielen Monaten angekündigt wird - obwohl sich
recht wenig tut -, viel Arbeit macht. Aber wir als F.D.P.Bundestagsfraktion haben gleich gewarnt und gesagt:
Dies ist eine Überforderung des Ministeriums. Wichtige
andere Fragen wie die des Wettbewerbs, der Wirtschaftspolitik kommen hier einfach zu kurz.
({8})
Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie
sehr herzlich, heute Abend dem Antrag der F.D.P.Bundestagsfraktion auf Abschaffung des Ladenschlussgesetzes zuzustimmen und mutig nach vorne zu gehen,
um den Verbrauchern die Möglichkeit zu bieten, endlich
von günstigeren Preisen zu profitieren. Denn Sie alle wissen, dass in der Praxis Preisrabatte von weit über 3 Prozent bei höherwertigen Gütern an der Tagesordnung sind.
Ob Möbel, Automobile oder andere Artikel gekauft werden, es ist längst an der Tagesordnung, dass sich Verbraucher entsprechend orientieren. Ich finde, sie sollten das
mit Fug und Recht möglichst bald tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dirk Manzewski von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem hier debattierten Gesetzentwurf begehrt die F.D.P.-Fraktion die Aufhebung des Rabattgesetzes. Das Anliegen der F.D.P.-Fraktion, Frau
Kollegin Kopp, hat durchaus seine Berechtigung. In der
Vergangenheit hat es immer wieder Bemühungen gegeben, das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung abzuschaffen. Der bisherige Widerstand der Wirtschaftsund Verbraucherinteressenverbände
({0})
ist spätestens nach der im Juli letzten Jahres in Kraft getretenen EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, den so genannten E-Commerce, gewichen, zu Recht. Denn danach muss sich ein Anbieter, der
über das Internet wirbt, ausschließlich an das Wettbewerbsrecht seines Heimatlandes halten.
({1})
- Frau Kollegin, ich möchte Ihnen eines vorschlagen: Sie
lassen mich jetzt ein paar Minuten lang reden, anstatt hier
hereinzuschreien. Dann bin ich gerne bereit, Ihnen Rede
und Antwort zu stehen.
({2})
Sie können mir auch eine Zwischenfrage stellen. Aber ich
bin gerade dabei, meine ersten zwei Sätze zu reden und
Sie schreien schon dazwischen.
({3})
Warten Sie doch erst einmal ab.
({4})
Für Anbieter mit Sitz in Deutschland würde dies eine
massive Benachteiligung gegenüber ihren Mitbewerbern
aus den Nachbarländern bedeuten, da Deutschland in diesem Zusammenhang innerhalb der Europäischen Union
die einengendsten Vorschriften hat. Insoweit bin ich doch
völlig auf Ihrer Seite, werte Frau Kollegin. Konkret würde
dies bedeuten, dass Anbieter aus anderen EU-Staaten innerhalb der EU und damit auch in Deutschland mit hohen
Rabatten und attraktiven Zusatzleistungen Kunden werben dürften, während dies einheimischen Anbietern untersagt wäre.
Daher teile ich - Frau Kollegin, das sage ich ganz deutlich - das grundsätzliche Ansinnen der F.D.P., dies nicht
tatenlos hinzunehmen, und halte es nur für folgerichtig,
dass der Gesetzgeber zugunsten der Chancengleichheit
Vorgaben schaffen muss, um Wettbewerbsnachteile deutscher Unternehmen im In- und Ausland zu verhindern.
Deshalb weise ich in diesem Zusammenhang aber auch
darauf hin, dass die Bundesregierung eigene Gesetzesentwürfe vorgelegt hat, die genau dies zum Inhalt haben.
({5})
Insofern - jetzt werde ich ein bisschen ernster und allmählich auch böse - ist es mir völlig unverständlich - das
sage ich ganz klar -, warum wir hier heute gesondert den
Antrag der F.D.P.-Fraktion debattieren müssen. Dies kostet das Parlament nur Zeit und bringt in der Sache wenig.
({6})
Man gewinnt vielmehr den Eindruck - das sage ich Ihnen ganz klar -, dass Sie diese Debatte ausnutzen,
({7})
um ein wenig politisches Profil zu erlangen, das Sie ansonsten überhaupt nicht aufweisen können.
({8})
Es hätte Ihnen, meine Damen und Herren von der
F.D.P.-Fraktion, ganz gut angestanden, hier etwas zurückhaltender zu sein,
({9})
weil Sie lediglich auf einen fahrenden Zug aufgesprungen
sind. Das möchte ich hier einmal ganz klar sagen.
({10})
Die Bundesregierung hat - daran möchte ich Sie erinnern - erst im letzten Jahr eine ausführliche Anhörung zu
diesem Gesetzesvorhaben durchgeführt,
({11})
an der über 70 Verbände und Interessengruppierungen
teilgenommen haben. Sie hat zu Recht erst einmal das Ergebnis dieser Anhörung abgewartet, was Sie leider nicht
getan haben.
({12})
Nachdem die F.D.P.-Fraktion dann mitbekommen hat,
wohin der Zug fährt, in welche Richtung sich die Bundesregierung positionieren wird und wie ihr Meinungsbild sein wird, hat sie ganz schnell einen eigenen Gesetzentwurf aus der Tasche gezogen und eingebracht. Dieses
Verhalten mag zwar legitim sein, ändert aber nichts daran,
dass die F.D.P. lediglich den Ball aufgenommen hat, der
von der Bundesregierung bereits längst ins Spiel gebracht
worden war.
Herr Kollege Manzewski, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kopp?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, meine Frage
können Sie dazu nutzen, ein wenig abzukühlen. Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Initiative zur Abschaffung des Rabattgesetzes und auch der Zugabeverordnung schon lange vor dieser Zeit von der F.D.P., von
Herrn Rexrodt, erfolgt ist, wie ich das eben gesagt habe?
({0})
Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass unsere Anträge vom November des letzten Jahres datieren?
Sie haben eben davon gesprochen, dass wir auf den
fahrenden Zug aufgesprungen seien. Sie als Regierungsfraktion sind es gewesen, die vor wenigen Wochen Ihren
gleich lautenden Antrag nachträglich eingebracht haben.
Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Ihnen
das unangenehm sein mag, aber dass Sie damit leben müssen?
Frau Kollegin, ich möchte
Ihre letzte Frage zuerst beantworten. Es ist natürlich richtig, dass Sie den Gesetzentwurf als Erste eingebracht haben. Dies geschah allerdings erst - das habe ich vorhin
eindeutig gesagt -, nachdem die Bundesregierung eine
Verbandsanhörung durchgeführt hat und klar war, in welche Richtung sich die Bundesregierung positionieren
würde. Das als erste Antwort.
Wenn Sie sagen, Sie haben vor drei, vier oder fünf Jahren bereits eine Gesetzesinitiative eingebracht, dann mag
das sein. Ich weiß es nicht. Ich war damals noch nicht im
Bundestag. Entscheidend ist doch, dass offensichtlich
nichts passiert ist.
({0})
- Frau Kollegin, wir haben immer noch das Rabattgesetz
und die Zugabeverordnung. Sie sind doch in der Regierung gewesen. Sie können mir doch keine Vorwürfe machen. Wenden Sie sich an Ihren ehemaligen Koalitionspartner und nicht an uns.
({1})
- Frau Kollegin, ich bin möglicherweise ein bisschen lauter geworden, weil Sie nicht in der Lage gewesen sind,
meine bis dahin ruhig vorgetragene Rede vernünftig anzuhören. Damit müssen Sie leben.
({2})
- Sie ist wirklich fürchterlich. Das sehe ich genauso.
Aber ich möchte gerne in meiner Rede fortfahren. Man
kann über alles diskutieren. Ich will damit sagen, dass die
Intention Ihres Gesetzentwurfs von uns im Grundsatz geteilt wird. Was ich nicht verstehe - Sie haben es selbst angesprochen - ist, warum nicht abgewartet wird, bis der
Diskussionsbedarf, der offenbar besteht, befriedigt ist. Die
überwiegende Mehrheit der Wirtschafts- und Verbraucherverbände spricht sich tatsächlich für eine ersatzlose Abschaffung aus. Aber es gibt einzelne, wenn auch wenige
Verbände, die unsicher sind, ob die bestehenden Gesetze
ausreichen, um vor einer Verwilderung der Wettbewerbssitten zu schützen. Dazu gehört zum Beispiel auch der
Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, der HDE.
Ich teile zwar die Bedenken dieses Verbandes im Wesentlichen nicht. Aber ich halte es in der Sache für vollkommen richtig, die Bedenken des Einzelhandels ernst
zu nehmen. Dafür sind jedenfalls mir persönlich, Frau
Kollegin, Thema und Klientel viel zu wichtig. Ich befürworte deshalb eindeutig die Vorgehensweise, nicht zu
schnell zu handeln, weil wir uns nichts vergeben, wenn
wir diese Anhörung und die Diskussion abwarten. Ich
sage Ihnen ganz klar: Es ist für mich auch Mittelstandspolitik, die Sorgen des Einzelhandels ernst zu nehmen.
Deswegen verstehe ich Ihre Ungeduld nicht.
Der Deutsche Bundestag wird eine Anhörung durchführen, um abzuklären, ob Rabattgesetz und Zugabeverordnung ersatzlos gestrichen werden können oder ob
nicht doch noch im UWG verankerte Auffangregeln zum
Schutz des Wettbewerbsrechts geschaffen werden müssen. Nach der Anhörung - davon bin ich fest überzeugt werden wir mit noch größerer Sicherheit sagen können,
ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben oder ob
wir nicht doch noch Maßnahmen ergreifen müssen, um
den Betroffenen ihre Ängste zu nehmen.
Ich selbst habe - darauf habe ich bereits in der letzten
Rede hingewiesen - lediglich bei den so genannten Kundenbindungssystemen Bedenken. Zum einen befürchte
ich, dass hier die Konzerne im Vorteil sein könnten. Das
ist aber nur meine momentane Sorge. Zum anderen sehe
ich die Gefahr, dass die Verbraucher, um in den Genuss
der dort ausgegebenen Bonuspunkte zu kommen, keinen
Preisvergleich mehr anstellen. Auch hierüber - deswegen
halte ich sie für sehr wichtig - wird die Anhörung Klarheit bringen. Es wäre sehr schön und sachgerecht gewesen, Frau Kopp, wenn auch Sie diese Anhörung noch abgewartet hätten. Bereits hieraus ergibt sich, wie unsinnig
die heutige Debatte ist.
({3})
- Das ist meine Auffassung.
Es wird hierdurch deutlich, wie wenig sich die F.D.P.
offensichtlich für die Belange des Einzelhandels interessiert. Anders kann man Ihre Argumentation nicht interpretieren. Wenn ich, was zurzeit öfters vorkommt, Frau
Kollegin, zu diesem Thema mit den regionalen Vertretern
der Verbände Gespräche führe, wird dieses Verhalten - um
es vorsichtig auszudrücken - nicht gerade freundlich zur
Kenntnis genommen. Dies zeigt dann aber auch ganz
deutlich, Frau Kollegin Kopp, welche Interessen die
F.D.P. vertritt - jedenfalls nicht die des Einzelhandels.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Ich
halte es für sehr wichtig, dass die Bundesregierung das
Vorhaben weiter begleiten wird. Das Bundesjustizministerium hat deshalb zutreffenderweise parallel zu dieser
Reform eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Verbraucherverbände und der beteiligten Wirtschaftskreise eingerichtet, um die Rechts- und Wirtschaftspraxis im Bereich
von Zugaben und Rabatten zu verfolgen und zu bewerten.
Diese Arbeitsgruppe wird aber auch Vorschläge für die
weitere Modernisierung des Rechts gegen den unlauteren
Wettbewerb - die ich für wichtig erachte - und - das halte
ich für noch wichtiger - für ein europäisches Harmonisierungskonzept erarbeiten.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der zunehmenden Verflechtung internationaler Märkte und
der wachsenden Bedeutung grenzüberschreitender Marketingstrategien wird es entscheidend darauf ankommen
- darauf lege ich sehr viel Wert -, unabhängig von dem,
was wir hier beschließen, international vereinheitlichte
Rahmenbedingungen für den Wettbewerb zu schaffen. Insoweit halte ich es dann auch für richtig, dass sich die Europäische Kommission nicht zuletzt auf Initiative der
Bundesregierung, der ich dafür sehr danken möchte, verpflichtet hat, Vorschläge für geeignete Regeln für das
Marktverhalten von Unternehmen zu erarbeiten. Ich denke, dies ist der einzig richtige Weg, mit diesem Thema
sachgerecht umzugehen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Als
nächster Redner hat Herr Kollege Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Manzewski,
ich denke, an einer Stelle sollten wir ganz redlich sein:
Beim Rabattgesetz und bei der Zugabeverordnung war es
wirklich vor allem und immer nur die F.D.P., die beides
eigentlich schon lange hat abschaffen wollen. Damals
waren die SPD und wesentliche Teile der CDU/CSU dagegen. Dass sich aber eine kleinere Koalitionspartei gegenüber dem größeren Koalitionspartner nicht immer
durchsetzt, ist nicht nur verständlich, sondern sogar begrüßenswert. Was würden sonst die Grünen permanent
mit Ihnen machen, Herr Staffelt!
({0})
Das ist doch einfach nur vernünftig. An dieser Stelle sollten wir uns wirklich nicht streiten.
Es besteht auch Einigkeit darüber, dass das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung in ihrer jetzigen Form
nicht aufrechterhalten werden können und abgeschafft
werden sollen; darüber gibt es keinen wirklichen Streit.
Ich brauche jetzt auch nicht die Gründe dafür zu nennen, warum das alles so ist. Das wissen wir: technologische Gründe, Inländerdiskriminierung, Umgehungstatbestände, die Tatsache, dass die Kunden klüger geworden
sind - ich könnte die Liste der Gründe beliebig verlängern; darüber gibt es ja viele Untersuchungen.
({1})
Aber die Ziele, die mit diesen beiden Gesetzen über
viele Jahre angestrebt werden sollten, nämlich der Verbraucherschutz und die Sicherung des Wettbewerbs,
bleiben ja wichtig. Die Frage ist: Wie können wir diese
Ziele in der sich verändernden Zeit dennoch verfolgen?
Wie kriegen wir das hin?
Deswegen finde ich es zu kurz gedacht, einfach zu sagen: „Ersatzlos weg damit“, ohne dass man abwartet, wo
es ein Problem gibt, und sich dann fragt: Wie kann man
diesem Problem begegnen? Das ist nach meiner Meinung
zu kurz und nicht nachhaltig gedacht; die Nachhaltigkeit
ist hier ja heute breit diskutiert worden.
Machen wir uns nichts vor: Das, was wir hier tun, bewirkt eine sehr bedeutende Veränderung der Verhaltensweisen im deutschen Markt. Die Beziehung zwischen
Kunde und Kaufmann, die eigentlich ein ganz wesentliches Element jeder Marktwirtschaft ist - vielleicht das
wesentliche Element -, wird gründlich geändert. Viele
Veränderungen sind mit diesen so unwirklich klingenden
Gesetzen verbunden. Sie betreffen das Verhalten von
Käufern und Herstellern, das Verhalten von Käufern und
Verkäufern - alles das wird verändert. Wenn man da bei
einer schwachen Handelsstruktur Fehler macht, kann das
bei manchen Betroffenen zu erheblichen Problemen
führen. Deswegen müssen wir das Thema ernst nehmen.
Man kann nicht einfach sagen: Weg damit!
Ich will jetzt nicht eine lange Liste aufführen, welche
Veränderungen im Einzelnen stattfinden. Unglaublich
viel wird sich im deutschen Käuferverhalten, im Verhältnis zwischen Anbietern und Nachfragern verändern. Der
Einzelhandel ist in Deutschland so schwach strukturiert,
dass ich keine Experimente nach der Methode erleben
will: Schauen wir erst einmal, wie viele dabei auf der
Strecke bleiben; dann fällt uns vielleicht etwas ein.
Da lautet meine Frage: Wie sind wir darauf vorbereitet? Wir haben genug Zeit gehabt. Wir wissen seit spätestens zwei, drei Jahren - CDU/CSU und SPD -, dass das
nicht zu halten ist.
Was haben wir denn getan? Wir erheben in diesem Zusammenhang die Forderung nach Entwicklung eines
europäischen Lauterkeitsrechts. Dazu muss ich sagen:
Fehlanzeige! Bisher ist nichts passiert. Schade! Ich will
gar nicht genau angeben, was das sein müsste, aber es
sollte etwas passieren.
Das muss man aktiv gestalten. Dann wird dann gesagt,
das sei in Europa schwer durchzusetzen. Das Wettbewerbsrecht, das es in Europa gibt, ist in Deutschland entwickelt worden; es ist damals mutig in die Europäische
Union getragen worden und ist heute einer der wesentlichen Stützpfeiler für ordentliches Marktverhalten. Diesen
Mut wünsche ich mir auch im Zusammenhang mit einem
Lauterkeitsrecht.
Ich denke, die Sache kann vorangehen, wenn der Kanzler wirklich will. Er hat bei der Frage des Übernahmerechts, allerdings zu spät, eine Aktion gestartet. Er ist dabei wohl von VW angesprochen worden. Die Sache war
ihm offensichtlich so wichtig, dass er sich gegen alle
14 Länder stellt. Das ist eine interessante Entwicklung.
Wenn er eine Sache wirklich ernst nehmen würde, zum
Beispiel die Entwicklung eines vernünftigen, harmonisierten europäischen Lauterkeitsrechts, könnte er etwas
bewegen. Ich muss in diesem Zusammenhang leider von
einer Fehlgestaltung sprechen.
Es ist wichtig, zu prüfen, wie es sich mit dem UWG
und dem GWB verhält. Man muss sich überlegen, was
man dort eventuell noch einbauen kann. Es gibt Vorschläge, die ich mir momentan noch nicht zu Eigen mache. Wir sind in diesem Bereich in einem Such- und Lernprozess. Aber diesen müssen wir wenigstens beginnen,
damit wir die Betroffenen nicht alleine lassen und verhindern, dass sie Konsequenzen zu tragen haben, die sie
existenziell bedrohen.
Für die Verbraucherschützer ist es ein wichtiges und
bisher nicht wirklich gelöstes Problem, wie eine irreführende Preisgestaltung verhindert werden kann. Eine
solche wollen wir nicht; wir wollen fair miteinander umgehen. Wir müssen uns überlegen, wie wir das regeln
können und was uns dazu einfällt. Man darf in diesem Zusammenhang nicht so tun, als seien nur die Deutschen so
verrückt. So finden wir in sieben europäischen Ländern
Zugaberegelungen. Wir stehen somit nicht alleine mit unseren Überlegungen, das Marktverhalten fair zu gestalten,
ohne die Innovationskraft zu beeinträchtigen und gleichzeitig Sicherheit und Solidität zu gewährleisten.
Um diese Fragen zu klären, haben wir gesagt: Wir veranstalten ein Hearing. Ein solches gehört zum zentralen
Bestand der parlamentarischen Mittel. Die Regierung veranstaltet selbstverständlich eine Anhörung, bevor sie einen Referentenentwurf macht. Aber wir waren alle nicht
anwesend; vielleicht muss das geändert werden. Deshalb
veranstalten wir ein eigenes Hearing; wir machen es auch
relativ kurz: nur zweieinhalb Stunden. Angesichts des
komplexen Themas müssen wir sehen, dass wir das so
konzentriert hinbekommen, dass die richtigen Fragen gestellt werden können und die wichtigen Verbände und
Interessenvertreter dabei sind. Ich denke, wir sind hier auf
einem guten Wege. Morgen findet noch ein Obleutegespräch statt.
Lassen Sie mich noch einen anderen Gedanken ansprechen, der mir sehr wichtig ist: Ich glaube, dass wir die
größten Veränderungen in den Strukturen über die Entwicklung von Kundenbindungssystemen bekommen
werden. In diesem Zusammenhang besteht ein unglaublich großes Veränderungspotenzial.
Ich will dabei nur eine Frage ansprechen, die mir sehr
wichtig ist: Im europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht gilt, dass Konzerne alles dürfen, weil sie eine Firma
sind. An jedem Ort, an dem sie vertreten sind, können sie
Absprachen treffen, Werbestrategien machen und einkaufen, wie sie wollen. Sie sind absolut frei. Dagegen sind
selbstständige Händler und selbstständige Kaufleute
durch einige Regeln im Wettbewerbsrecht daran gehindert, sich so zu verbinden, dass sie ähnliche Vorteile wie
Konzerne erreichen können. Ein selbstständiger Kaufmann, der sich mit seinem Nachbarn - ein Nachbar in einer anderen Stadt oder in einer anderen Branche - beim
Einkauf oder bei der Werbung derart verbinden würde,
würde an Grenzen stoßen, die durch das Kartellrecht gezogen werden: Das ist eine Absprache.
Das Wettbewerbsrecht darf aber nicht so gestaltet sein,
dass derjenige, der es ausnutzen will, gezwungen wird,
ein Konzern zu werden. Das würde bedeuten, dass das
Wettbewerbsrecht eine Beschleunigungswirkung in BeHartmut Schauerte
zug auf die Konzernbildung hätte; eine solche wollen wir
alle nicht. Also muss man bei Kundenbindungssystemen
überlegen: Welche neuen Freiräume muss ich zum Beispiel dem Einzelhandel geben, damit er, ohne das Kartellrecht zu verletzen, seine Einkaufs- und Verkaufsstrategien
so entwickeln kann, wie es für ihn passt? Das ist ein objektiv gegebenes Problem.
Deswegen dürfen wir nicht vorschnell Regelungen ersatzlos beseitigen, sondern müssen uns überlegen, welche
Wirkungen eintreten und welche Maßnahmen wir treffen
können, um die Wirkungen so zu steuern, dass sie die
Chancen vergrößern und die Risiken vermindern. In diesem Zusammenhang sind wir alle gefragt. Deswegen dürfen wir das nicht überstürzen; es ist nicht kriegsentscheidend, ob wir eine Entscheidung in zwei, drei, fünf oder
sechs Monaten treffen. Rabatt- und Zugabeverbote werden fallen. Dies betrifft viele selbstständige Existenzen
sowie die Verbraucher. Lassen Sie uns deshalb vernünftige Ansätze finden, um Fehlentwicklungen rechtzeitig zu
erkennen, und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen
gefallen ist. Man kann Fehlentwicklungen in vielen Bereichen kommen sehen und vorsorglich die entsprechenden Maßnahmen ergreifen.
Ich möchte zum Schluss kommen und nicht die ganzen
16 Minuten nutzen, die mir an Redezeit zustehen und die
ich lieber bei einem anderen Thema und bei vollem Haus
hätte; denn es wird zum selben Thema nach dem Hearing
eine neue Debatte mit einem fast identischen Gesetzentwurf geben. Wir wollen - damit das klar ist - den Betroffenen Fragen stellen und von ihnen Antworten hören. Wir
wollen ihnen zeigen, dass wir ihre Sorgen ernst nehmen
und nicht einfach kaltschnäuzig über sie hinweggehen.
Wir wollen mit ihnen gemeinsam nach Lösungen suchen.
Wir fordern erstens die Harmonisierung des Wettbewerbsrechts und des Lauterkeitsrechts in Europa, zweitens europataugliche Reformen des UWG und des GWB
und drittens von der Bundesregierung - diese Bitte habe
ich schon in der letzten Debatte Anfang April vorgetragen -, einen Bericht über den Stand der Harmonisierung
des europäischen Wettbewerbsrechts vorzulegen, und zwar
bald und rechtzeitig, damit wir aus ihm Konsequenzen für
das ziehen können, was noch anzupacken ist. Dieser Bericht ist überfällig.
Ich hoffe auf das Verständnis der F.D.P., wenn ich jetzt
erkläre: Die Antragslage ist kompliziert. Sie haben wie
wir und die Regierung einen eigenen Antrag eingebracht.
Außerdem haben wir noch ein Hearing vor uns. In einer
solchen Situation entscheiden wir nicht einfach. Wir wollen die Ergebnisse des Hearings abwarten und enthalten
uns deswegen hier und heute der Stimme.
Herzlichen Dank.
({2})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Helmut
Wilhelm vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 5. April dieses Jahres wurde der Antrag der
Bundesregierung zur Aufhebung des Rabattgesetzes auf
den parlamentarischen Weg gebracht. Im Warum sind wir
uns ja völlig einig: Die EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ist in nationales Recht umzusetzen. Dann müssen in Deutschland anbietende ausländische Unternehmen kein Rabattgesetz beachten,
deutsche Unternehmen im Ausland schon. Deutsche Unternehmen werden also am Markt diskriminiert. Darüber
besteht absoluter Konsens.
Am 9. Mai hat der Wirtschaftsausschuss eine
Sachverständigenanhörung beschlossen. Ich weiß
wirklich nicht, warum wir uns heute nochmals mit demselben Anliegen befassen müssen, ohne die anstehende
Anhörung zu diesem Thema abgewartet zu haben. Es ist
ja wohl guter parlamentarischer Brauch, auf Antrag Sachverständigenanhörungen durchzuführen. Aber Sie, meine
Damen und Herren von der F.D.P., wollen heute abschließend über Ihren Antrag beraten. Sie sollen Ihren Willen
bekommen. Gleich ist Ihr Antrag vom Tisch!
({0})
Ich frage mich natürlich - ich bin heute Abend sicherlich
nicht der Einzige, der sich das fragt -, warum Sie so agieren. Diese sozusagen außerplanmäßige Befassung macht
meines Erachtens keinen Sinn. Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., vergeuden hier Ihre
kostbare Debattenzeit und unsere gleich mit.
({1})
Fest steht doch, dass es in der Sache keinerlei Dissens
gibt. Zumindest wir von Rot-Grün wollen und werden die
Anhörung am 26. Juni nutzen, um uns eingehender informieren zu lassen, damit in der Sache noch kompetenter
entschieden werden kann.
({2})
Ihr Antrag muss also abgelehnt werden, weil er zu früh,
also zur Unzeit, eingebracht worden ist. Halten Sie von
der F.D.P. Wissensvermehrung durch eine Anhörung für
überflüssig? Ich verstehe Sie nicht. Wenn Sie dieser Meinung wären, würden Sie schon im Vorfeld nicht nur die
sachverständigen Anhörpersonen, sondern letztendlich
auch Ihre Wählerinnen und Wähler brüskieren. Aber meinetwegen, uns kann es nur recht sein.
Dem Debattenstand vom 5. April ist zum jetzigen Zeitpunkt inhaltlich nichts Neues hinzuzufügen. Unnötige
Wiederholungen sind mir ein Gräuel. Wer nutzlos meine
Zeit mir nimmt, ist ein Dieb - diesen Spruch sollten wir
verinnerlichen.
({3})
Da man nicht stehlen darf, werde ich Ihnen Ihre kostbare
Debattenzeit nicht länger nehmen. Nach der Anhörung im
Ausschuss sehen wir uns zum gleichen Thema hier wieder,
({4})
dann aber leider ohne den an sich richtigen F.D.P.-Antrag;
denn der ist dann bereits beerdigt.
({5})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf Kutzmutz
von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wäre die Häufigkeit des Aufrufs eines Themas in einem bestimmten Zeitabschnitt ein Wertmaßstab,
müsste es um eine Jahrhundertreform gehen.
({0})
Diesen Eindruck müsste man gewinnen. Sie schauen so
entsetzt, aber das ist einfach so. Innerhalb von nicht mehr
als fünf Monaten reden wir jetzt zum dritten Mal darüber
und haben schon das vierte Mal für Juni/Juli geplant.
Ich habe gerade gehört: Die Argumente werden sich
selbst nach der Anhörung nicht verändern.
({1})
Wenn ich in eine Anhörung gehe, versuche ich, immer
noch etwas mitzunehmen. Wenn ich aber vorher schon
feststelle, dass ich in eine Anhörung gehe und hinterher
die gleiche Rede halte, dann können wir uns darauf verständigen: Wir halten zum vierten Mal die gleiche Rede
und prüfen nur nach, ob sie so perfekt ist wie beim ersten
Mal. Das ist aber eigentlich nicht der Sinn der Parlamentsarbeit.
Wir haben über die Abschaffung von Rabattgesetz und
Zugabeverordnung unsere Argumente ausgetauscht. Ich
will hier nur noch einmal deutlich sagen, warum wir heute
beide Gesetzentwürfe ablehnen. Die Abschaffung der beiden Rechtsnormen bedarf nach unserer Auffassung einer
präziseren Regelung im Gesetz gegen den unlauteren
Wettbewerb, wenn nicht Verbraucher und Händler vor
einem heillosen Chaos stehen sollen. Das ist beispielsweise beim momentanen Rechtsstreit - Frau Kopp, Sie
haben das vorhin anders gesagt, aber ich entnehme das
einfach den Tickermeldungen von heute - zwischen
Edeka und Fiat eindrucksvoll zu beobachten. Ich meine
den heftig beworbenen Verkauf von Autos, gekoppelt beispielsweise mit Motorrollern, Druckern, Handys, Kameras oder Hotelübernachtungen - über alle denkbaren Vertriebswege. Natürlich geht es dabei auch um andere
Rechtsnormen, aber eben auch - für den Verbraucher sogar vordergründig - um Rabatte oder Zugaben, je nach
persönlicher Sichtweise: ob man tatsächlich im Moment
alles braucht oder nur den Wagen, den man kaufen wollte.
Drei Gerichte - das kann man heute nachlesen -, nämlich in Köln, Karlsruhe und Offenburg, sprechen Recht,
aber alle in drei verschiedene Richtungen. Es gibt also
durchaus eine Rechtsunsicherheit, eine Auslegungsmöglichkeit bei dem, wovon wir hier reden. Davor sollte man
sowohl die Verbraucher als auch die Händler schützen.
Es ist allein schon strittig, ob es bei dem Angebot überhaupt Rabatte gegenüber dem Einzelpreis der Waren gibt,
also für den Kunden bei dem Geschäft Zugaben herauskämen. Bereits das sollte uns als Gesetzgeber aufmerksam machen.
Der Fall Edeka/Fiat bietet gewiss nur einen kleinen
Vorgeschmack - das sehe ich so; Sie mögen das anders sehen - auf das, was uns nach dem formalen Fall von Rabatt- und Zugabeverbot an bisher unbekanntem Marketing ins Haus steht. Das belegt aus unserer Sicht viererlei:
Erstens. Offensichtlich reichen die bisherigen Normen
in UWG und GWB nicht aus, um Verbraucher vor möglicherweise irreführenden Werbestrategien zu schützen.
Zweitens. Nicht nur der erforderliche Verbraucherschutz gerät leicht ins Rutschen, sondern auch die Lieferanten der Händler. Wie sollen beispielsweise noch Marken aufgebaut und gehalten werden, wenn künftig alles
und jedes als Zugabe verramscht werden kann?
Drittens. Die Gemengelage ist schon so kompliziert,
als dass man auch noch die CDU/CSU-Idee verfolgen
sollte, Herr Schauerte, bei einer Regelung Übergangsfristen für bestimmte Marktteilnehmer einzuführen.
({2})
- Sie haben ja bestimmte Gruppen genannt!
Ich sage jedenfalls voraus: Wir hätten dann plötzlich
Unternehmen als mittelständische Einzelhändler, von denen wir es uns bisher nie erträumt hätten, dass sie sich als
Mittelständler bezeichnen würden.
({3})
Das wäre auch wieder ein unnötiger Streit.
Viertens. Wer sich angesichts aller Probleme als Gesetzgeber allein auf das Richterrecht verlässt, der ist verlassen. Deshalb, meine Damen und Herren von der Koalition: Gehen Sie nicht nach dem Motto „Augen zu und
durch“ vor, schaffen Sie nicht jetzt schnell das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung ab und beobachten erst
dann die Rechtspraxis. Der Preis könnte sich für viele
Menschen - als Konsumenten, als Händler oder als Produzenten - als entschieden zu hoch erweisen.
Kurzum: Wenn wir schon in eine Anhörung gehen - sie
ist für den 25. Juni beschlossen -, sollten wir aus der Anhörung auch ein Stück klüger herausgehen und das bei der
Gesetzgebung berücksichtigen.
Danke schön.
({4})
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Birgit Roth von der SPD-Fraktion das Wort.
Helmut Wilhelm ({0})
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Das deutsche Rabattgesetz stammt aus dem
Jahre 1933. Wir alle wissen, wie stark, wie schnell, wie rasant, wie grundlegend sich die Märkte und die Wirtschaftsabläufe seitdem verändert haben, sei es bei uns in
Deutschland, sei es europaweit, sei es international.
Deswegen liegt es jetzt auch an uns, die Herausforderungen anzunehmen und das Rabattgesetz auf einen aktuellen, auf den neuesten Stand zu bringen, denn wir wissen
alle: Wir haben die E-Commerce-Richtlinie. Wir sind ja
gerade dabei, diese in nationales Recht umzusetzen. Je
schneller wir die wirtschaftlichen, aber vor allem auch die
gesetzgeberischen Rahmenbedingungen verändern, desto
besser wird es für die deutschen Anbieter sein.
({0})
Es ist bereits mehrfach erwähnt worden: Im Internet
besteht eine Inländerdiskriminierung. Das ist überhaupt
keine Frage. Wir haben sicherlich eines der restriktivsten
Rabattgesetze, die es gibt, wahrscheinlich sogar das restriktivste überhaupt. Alleine aus wirtschaftspolitischen
Gesichtspunkten heraus können wir diese Situation nicht
länger akzeptieren. Deshalb werden wir auch entsprechend handeln.
Es hat von unserer Seite aus bereits letztes Jahr eine
Verbändeanhörung mit über 70 Verbandsvertretern gegeben. Da hat sich die überwältigende Mehrheit für die
Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung ausgesprochen. Bereits letztes Jahr haben sich beide
Minister - Frau Herta Däubler-Gmelin und der Wirtschaftsminister - ganz klar für die Abschaffung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung ausgesprochen. Den
Gesetzentwurf der Bundesregierung werden wir hier in
den nächsten Wochen debattieren.
Deswegen ein kurzer Satz an die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.: Ich glaube nicht, dass es darum geht,
darüber zu streiten, wer denn nun angefangen hat, wer
denn nun der Erste war. Wichtig finde ich, dass in diesem
Bereich etwas passiert. Genau daran sind wir beteiligt.
({1})
- Dazu fällt mir immer spontan ein: Mensch, warum haben Sie es denn nicht gemacht? Sie hatten ja wirklich
lange genug Zeit.
Wir haben gewisse Übereinstimmungen in der Sache;
das ist überhaupt keine Frage. Aber was wir nicht möchten, ist eine vorschnelle Lösung
({2})
zulasten des Mittelstandes; das muss ich Ihnen ganz klar
sagen. Das, was Sie gerade machen, ist aus meiner Sicht
mittelstandsfeindlich. Wir haben schon des Öfteren erwähnt - die CDU teilt diese Perspektive mit uns -, dass
wir zum Bereich der Kundenbindungssysteme nochmals eine Anhörung machen sollten. Diese ist bereits auf
den 25. Juni terminiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der F.D.P., ich verstehe nicht, warum Sie nicht noch
diese fünf Wochen abwarten, da wir doch diese Debatte
seit Jahren führen. Wir sollten wenigstens abwarten, bis
die Bedenken formuliert sind, und nicht im Vorfeld, nicht
zur Unzeit handeln, wie es der Kollege von den Grünen so
schön formuliert hat.
Wir sollten den kleinen und mittleren Unternehmen
Chancengleichheit zubilligen: im Bereich der Kundenbindungssysteme, im Bereich der Rabattkooperationen
oder auch im Bereich der Bonussysteme. Ich möchte noch
einmal betonen: Wenn wir an die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung gehen, dann sollten beide Seiten davon profitieren, sowohl kleine und
mittlere Unternehmen als auch die Marktführer.
({3})
Deswegen stimmen wir dem Antrag der CDU/CSUFraktion auf eine Anhörung zu. Wir nehmen diese Bedenken ernst. Warten wir doch einfach einmal die Ergebnisse
ab!
In diesem Sinne können wir momentan nicht anders,
als den Gesetzentwurf der Liberalen abzulehnen.
Vielen Dank.
({4})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines
Rabattrechtsanpassungsgesetzes der Fraktion der F.D.P.
auf Drucksache 14/4423. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/6060, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion und Enthaltung der
CDU/CSU mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der PDS-Fraktion in zweiter Beratung abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen jetzt
bekannt, wie die Debatte weiter ablaufen soll. Die Reden
zu den Tagesordnungspunkten 8, 9, 10 und 11 sowie zu
Zusatzpunkt 6 sollen mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll gegeben werden. Zum Tagesordnungspunkt 12 ist
eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen; die
F.D.P. gibt ihren Redebeitrag zu Protokoll. Die Reden zu
Tagesordnungspunkt 13 sollen zu Protokoll gegeben werden; nur die PDS beabsichtigt, dazu zu reden. Sie sehen
also: Es ist nur noch eine gute halbe Stunde, vielleicht eine
Dreiviertelstunde, die wir hier zusammen arbeiten müssen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregierung
Weißbuch zur Umwelthaftung
- Drucksachen 14/3341 Nr. 2.17, 14/4115 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Winfried Hermann
Eva Bulling-Schröter
Die Reden hierzu sollen zu Protokoll gegeben werden,
wie ich eben bekannt gegeben habe.1) Die Reden zu die-
sem und zu den folgenden Punkten liegen übrigens alle in
Schriftform vor. Ich erspare mir deshalb, die Namen der
Redner jetzt im Einzelnen vorzutragen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 14/4115. Der Ausschuss empfiehlt in Kennt-
nis des Weißbuches der Europäischen Kommission zur
Umwelthaftung, eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
gegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. sowie bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, Siegfried
Helias, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Konzept der regionalen und sektoralen Schwerpunktsetzung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit umgehend korrigieren
- Drucksache 14/4928 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, Siegfried
Helias, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Perus Rückkehr zur Demokratie unterstützen
- Drucksache 14/4527 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten sol-
len zu Protokoll gegeben werden.2) - Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4928 und 14/4527 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Hermann Bachmaier, Doris Barnett,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Volker Beck ({3}),
Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über
Arbeitnehmererfindungen
- Drucksache 14/5975 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des Patentwesens an den Hochschulen
- Drucksache 14/5939 Überweisungsvorschläge:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten sol-
len zu Protokoll gegeben werden.3) - Es gibt keinen Widerspruch.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 14/5975 und 14/5939 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 11 sowie
zum Zusatzpunkt 6:
11. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({6}) zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Importverbot für qualgezüchtete Tiere
- Drucksachen 14/3505, 14/6058 Berichterstattung:
Abgeordneter Heino Wiese ({7})
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marianne
Klappert, Heino Wiese ({8}), Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 2
2) Anlage 3 3) Anlage 4
der Abgeordneten Heinrich-Wilhelm Ronsöhr,
Albert Deß, Peter Bleser, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin
Müller ({9}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltungs- und Ausstellungsverbot für qual-
gezüchtete Tiere
- Drucksache 14/6052 -
Die Reden zu diesem Punkt sollen zu Protokoll ge-
nommen werden.1) - Es gibt keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu einem Importverbot für qualgezüchtete Tiere auf Drucksache
14/6058. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3505 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 6: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen
zu einem Haltungs- und Ausstellungsverbot für qualgezüchtete Tiere auf Drucksache 14/6052. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Antrag gegen die Stimmen der
F.D.P.-Fraktion mit den Stimmen aller anderen Fraktionen
angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Für die demokratische Erneuerung Pakistans
- Drucksache 14/5684 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Christian Ruck von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich bin froh, dass der frak-
tionsübergreifende Antrag „Für die demokratische Er-
neuerung Pakistans“ nach monatelanger Arbeit und Ab-
stimmung heute auf der Tagesordnung des Bundestages
steht. Ich bin den Kollegen auch dafür dankbar, dass die
Reden trotz der vorgerückten Stunde nicht zu Protokoll
gegeben werden, sondern kurz persönlich Stellung ge-
nommen wird. Dies ist nämlich auch ein Signal an die pa-
kistanische Politik und an eine pakistanische Delegation,
die sich derzeit in Berlin aufhält.
Wir haben bis in die jüngste Zeit noch um die eine oder
andere Formulierung gekämpft und Kompromisse ge-
schlossen. Aber in den Kernaussagen waren wir uns par-
teiübergreifend und zwischen Außen- und Entwicklungs-
politikern sehr schnell einig: Pakistan befindet sich in
einer sehr entscheidenden und kritischen Phase seiner Ge-
schichte. Es steht sehr viel für das Land, für die Bevöl-
kerung, aber auch für die gesamte Region Südasien auf
dem Spiel. Deswegen sind auch wir als deutsche Parla-
mentarier gefordert, das in unseren Kräften Stehende zu
tun, damit die Weichen am Indus in die richtige Richtung
gestellt werden, auch wenn unser Beitrag dabei natürlich
nur bescheiden sein kann.
Wir als Demokraten haben den Militärputsch in Pakis-
tan vor eineinhalb Jahren nicht gutgeheißen. Aber wer
sich in den Jahren zuvor mit Pakistan beschäftigt hat,
konnte auch mit den durch demokratische Wahlen
herbeigeführten politischen Zuständen nicht zufrieden
sein. Die Pakistan-Freunde in Deutschland waren ent-
täuscht und manchmal auch verzweifelt, zu sehen, wie das
Land immer stärker durch Misswirtschaft, Korruption
und außenpolitische Abenteuer litt. Wir haben alle vor der
Entscheidung gestanden, das Prinzip Demokratie an sich
hochzuhalten oder der Regierung des Generals Musharraf
unter Bedingungen bei seinen angekündigten, dringend
notwendigen Reformbemühungen Unterstützung zu ge-
währen.
Mit unserem Antrag haben wir uns für beides entschie-
den. Musharraf hat angekündigt, die Zeit der Militär-
herrschaft für grundlegende politische, soziale und wirt-
schaftliche Reformen des Landes zu nutzen, die
Wirtschaft wieder zu beleben, Korruption aufzudecken
und zu ahnden sowie durch eine Rundumerneuerung von
Staats- und Verwaltungsstrukturen die Grundlage für die
Renaissance der Demokratie zu legen. In der Tat: Ohne
eine solche Reform steht ohnehin jede Wiedereinführung
der Demokratie nur auf dem Papier und ist zum Scheitern
verurteilt.
Die Regierung Musharraf hat den Ankündigungen
viele konkrete Schritte - zum Beispiel bei der Korrup-
tionsbekämpfung, bei der Neuordnung des Staatsaufbaus
und auch bei der Reform der Gebietskörperschaften - fol-
gen lassen. Die Rückkehr zur Demokratie ist nach ei-
nem Urteil des Obersten Gerichtshofs in Pakistan für
Herbst 2002 geplant.
Aber zum voreiligen Optimismus besteht leider kein
Anlass. Die bisherigen Reformschritte sind mutig, aber
für die notwendige Modernisierung von Staat, Wirt-
schaft und Gesellschaft Pakistans noch nicht ausrei-
chend. Die Außenpolitik Pakistans, zum Beispiel gegen-
über Afghanistan und Indien, ist dubios. Die bis in
einflussreiche Regierungs- und Militärkreise hinein
wachsende religiöse Militanz und die zunehmende Stärke
und Selbstständigkeit religiös motivierter paramilitä-
rischer Gruppen erregen Besorgnis. Die Spannungen zwi-
schen den einzelnen Provinzen und Volksgruppen steigen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 5
Mein Eindruck ist, dass wir den reformwilligen Kräften von Politik und Regierung in Pakistan schnell die
Hand reichen müssen - schneller als bisher geplant. Ich
appelliere daher an die Bundesregierung, die kurzfristig
abgesagten hochrangigen außenpolitischen Kontakte sehr
rasch auf höchster diplomatischer Ebene anzugehen.
({0})
Außerdem müssen wir bei den anstehenden Regierungsgesprächen über die Entwicklungszusammenarbeit
deutliche Signale setzen und unsere verstärkte Hilfe anbieten. Dies betrifft vor allem die Hilfestellung bei der
Konzipierung und Durchführung der gesellschafts- und
wirtschaftpolitischen Reformen und die Politikberatung.
Das ist jetzt entscheidend. In diesem Punkt müssen unsere
politischen Stiftungen gestärkt werden.
({1})
Ich bin dankbar, dass Pakistan in die Kategorie
„Schwerpunktland“ der deutschen Entwicklungszusammenarbeit eingestuft wurde. Aber dies müssen wir in Pakistan wieder mit Leben erfüllen. Zum Beispiel ist das
Auslandsbüro der GTZ in kürzester Zeit von 20 auf vier
Mitarbeiter abgemagert - aus Gründen, die wir teilweise
parteiübergreifend mitgetragen haben. Wenn wir es ernst
meinen mit unseren Anliegen, müssen wir ganz rasch den
Personalbestand wieder hochfahren.
Wir müssen uns dafür einsetzen, dass unsere Verbündeten, zum Beispiel in Europa, ebenfalls ihren Beitrag zur
Stabilisierung der Region leisten. Wir müssen auch ernsthaft unsere guten Kontakte nutzen und unsere indischen
Freunde dazu animieren, ihrerseits neue Initiativen für
eine Stabilisierung der angespannten Situation auf dem
indischen Subkontinent zu unternehmen. Es gab auch in
der jüngsten Zeit entsprechende Signale von der indischen Seite.
In dem vorliegenden Antrag drängen wir die pakistanische Regierung und die pakistanische Politik, mit den notwendigen Reformen die Grundlage für eine dauerhafte
demokratische Stabilität zu schaffen, die Menschenrechte
zu schützen und auf Frieden in der Region hinzuarbeiten.
Aber wir senden auch aus dem Bundestag das Signal, dass
wir den Reformkräften in Pakistan tatkräftig helfen wollen. Wir drängen die Bundesregierung, dies nun rasch und
entschlossen zu tun; sonst könnte es bald zu spät sein.
Dies wäre gefährlich für die ganze Region.
Ich danke Ihnen.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Johannes Pflug von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Die parlamentarische Geschäftsführerin
unserer Fraktion hat mir geraten, meine elf Minuten Re-
dezeit nicht unbedingt auszunutzen. Ich will das gerne be-
herzigen. Ich möchte Sie bitten, nach den wenigen Sätzen,
die ich vorzutragen habe, den Rest meiner Rede zu Proto-
koll zu nehmen.1)
Es ist genau 19 Monate her, seit am 12. Oktober 1999
der damalige Generalstabschef des pakistanischen Militärs General Pervez Musharraf in einem Militärputsch
die Regierungsmacht in der Islamischen Republik Pakistan übernahm. Der Sturz des damaligen Premierministers
Nawaz Sharif durch das Militär erfolgte in einer Zeit, in
der sich Pakistan seit Jahren in einem ökonomischen, ökologischen und sozialen Niedergang befand und allgegenwärtige Korruption, Kriminalität, Armut und Bildungsnotstand das Land völlig lähmten und politisch
handlungsunfähig machten.
Pakistan ist ein Schlüsselland für die Stabilität in
Asien. Obwohl Pakistan arm ist, hat es doch genügend
höchst qualifizierte Wissenschaftler und Ingenieure, um
Raketen und die Atomwaffe zu bauen. Pakistan gehört zu
den vier Ländern, die dem Nichtverbreitungsvertrag bis
heute nicht beigetreten sind. Deswegen hat Pakistan mit
dem Bau und dem Test von Atomwaffen bisher keinen internationalen Vertrag gebrochen. Dennoch ist die sicherheitspolitische Entwicklung in diesem Land ein Anlass
zur Sorge und ein Grund für politisches Handeln.
({0})
Seit einiger Zeit sprechen die Amerikaner, die Europäer, die Russen und die Chinesen über die Gefahr der
Weiterverbreitung von Atomwaffen. Für den Westen stehen Länder wie Nordkorea, Iran und Irak als Beleg dafür,
dass die Proliferationsrisiken global gestiegen sind. In der
Wirklichkeit sind es nicht diese drei, die nuklear geworden sind; in der Wirklichkeit handelt es sich vielmehr ausschließlich um zwei Staaten, die in der Diskussion so gut
wie gar nicht vorkommen: Pakistan und Indien. Anders
sieht es aus, wenn nicht von der Weiterverbreitung von
Atomwaffen, sondern von der Weiterverbreitung von Raketentechnologie gesprochen wird. In diesem Fall sind
Nordkorea und der Iran zutreffend benannt. Aber die
wirklichen Weiterverbreiter von Raketentechnologie waren früher Russland und China; heute ist es Pakistan.
Unser Interesse ist es, dass Pakistan mit der Macht, die
es in den Händen hält, verantwortungsbewusst umgeht.
Dies lässt sich nicht durch Boykotte und Sanktionen erreichen; dies erfordert vielmehr die internationale Einbindung des Landes.
({1})
Daran kann und sollte auch die Bundesrepublik Deutsch-
land teilhaben, auch wenn die Gefahr, die heute von
Pakistan ausgehen könnte, Deutschland noch nicht un-
mittelbar, sondern nur indirekt berührt.
1) Anlage 6
Obwohl Pakistans Innenpolitik unübersichtlich und
komplex ist, darf uns dies aus sicherheitspolitischen
Gründen nicht daran hindern, die Zusammenarbeit mit
diesem Land zu fördern und uns an der Einbindung dieses
Landes in internationale Institutionen und Vertragswerke
zu beteiligen. Asien insgesamt und der Teil Asiens, in dem
Pakistan liegt, brauchen eine Sicherheitsarchitektur mit
rüstungskontrollpolitischen Regimen, mit Abrüstungsvereinbarungen und mit militärischen vertrauensbildenden Maßnahmen.
({2})
Pakistan braucht ausländische Unterstützung beim
wirtschaftlichen Aufbau und bei der Herstellung eines
besseren Lebensstandards der Menschen. Außerdem
braucht es Unterstützung bei der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und bei einer vergrößerten Teilhabe der Menschen an den politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen des Landes. Dafür muss die Isolation Pakistans
aufgehoben werden. Es ist richtig, diesem Land für eine
Beteiligung des Westens an seiner Entwicklung eigene
Leistungen abzufordern. Aber wir dürfen auch nicht die
Geschichte sowie das Umfeld Pakistans außer Acht lassen
und unangemessene Maßstäbe anlegen.
({3})
Unser gemeinsamer Antrag versucht, hier die Balance
zu wahren. Er will die Bundesregierung ermutigen, gemeinsam mit unseren Partnern Pakistan eine Perspektive
im Rahmen der internationalen Gemeinschaft zu bieten.
Vielen Dank.
({4})
Da der
Kollege Dr. Hoyer von der F.D.P.-Fraktion seine Rede zu
Protokoll gegeben hat1), hat jetzt der Kollege Wolfgang
Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.
({0})
- Die kommt danach. Opposition und Regierungsfraktionen sind abwechselnd dran. Bitte schön, Herr Gehrcke.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! So Leid es mir tut, von
meinen drei Minuten kann ich nichts mehr abgeben, sonst
hätte ich das gerne getan. Das möchte ich versichern.
Ich verstehe auch, wenn sich politisch Interessierte, die
diese Debatte noch verfolgen, und auch Kolleginnen und
Kollegen die Frage stellen: Muss man wirklich im Bundestag über die demokratische Erneuerung Pakistans diskutieren? Ich finde, wir sollten dies tun. Wir sollten zur
Kenntnis nehmen, dass die politischen Gewichte in der
Welt sich so verschoben haben, dass sicherheitspolitische
Entscheidungen nicht mehr von Europa allein oder nur
von Europa und den USA zu treffen sind. Dafür will ich
ein paar Argumente vortragen.
In dieser Region, in den drei aneinander grenzenden
Ländern Indien, Pakistan und China, leben über 50 Prozent der Weltbevölkerung. Das muss man einmal zur
Kenntnis nehmen. Es ist eine Region mit tiefen sozialen
und kulturellen Gegensätzen und Spannungen und es ist
leider - das hat Johannes Pflug auch ausgeführt - eine Region, in der es ständig zu militärischen Konflikten
kommt. Ich nenne nur Stichworte, weil ich sie nicht einzeln aufführen kann: Afghanistan, Kaschmir-Konflikt,
Taliban-Konflikt. In dieser Region drohen militärische
Konflikte und alle drei von mir genannten Länder, Indien,
Pakistan und China, verfügen über Atomwaffen und andere Massenvernichtungsmittel.
Es gibt also viele Gründe, sich für eine aktive und berechenbare Außenpolitik in dieser Region einzusetzen.
Das ist, wenn ich es richtig lese und davon absehe, dass
ich natürlich sauer bin, dass wir nicht eingeladen wurden,
an diesem Antrag mitzuarbeiten, in diesem Antrag vernünftig geleistet worden. Deswegen sehe ich auch keinen
Grund, dem Antrag, nachdem wir ihn in den Ausschüssen
debattiert haben, nicht zuzustimmen.
Das ist das Positive; jetzt - ich bin Opposition - noch
zu zwei Problemen. Ich finde, die Schwäche des Antrags
liegt in dem, was nicht im Antrag steht. Der Antrag macht
zu Recht zum Beispiel auf die Verantwortung Pakistans
für die Taliban in Afghanistan aufmerksam, auch auf die
entsprechende Verflechtung, er verschweigt aber die Vorgeschichte. Er verschweigt, dass eben diese Taliban, in
Afghanistan selber wie auch in anderen Ländern, im Zuge
des Systemkonfliktes auch Opfer des Systemkonfliktes
geworden sind und dass die Taliban in Afghanistan vom
CIA der USA gegründet, aufgerüstet und eingesetzt worden sind. Zu diesen Auswirkungen der Systemkonflikte
muss man in einem solchen Antrag auch Stellung nehmen.
Ich befürchte, wir werden diese Problematik in einem anderen Fall noch in neuer Variante bekommen. Darüber
werden wir noch häufiger reden. Wir müssen uns also darüber klar sein, dass ein Teil der Konflikte nicht in der Region wurzelt, sondern in die Region hineingetragen worden ist.
({0})
In den Antrag gehört auch hinein - damit möchte ich
enden -, dass wir eine enge Entwicklungszusammenarbeit und demokratische Zusammenarbeit mit Pakistan,
mit Indien und anderen Ländern in der Region wollen.
Aber gerade weil die dortige Situation so kompliziert ist,
sollten wir uns einer militärischen Zusammenarbeit und
Rüstungslieferungen in diese Region kategorisch verweigern.
({1})
Der Appell an Pakistan, den Atomwaffenteststoppvertrag
sowie den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atom-
waffen zu unterschreiben, wird dann glaubwürdiger,
1) Anlage 6
wenn die Atomwaffenmächte selber signalisieren, dass
sie zur Abrüstung bereit sind. Solange das nicht passiert
und wenn wir uns nur an andere wenden und nicht selber
vorangehen, werden wir auch in dieser Region nicht genügend Resonanz finden.
Schönen Dank an diesem späten Abend.
({2})
Als letzte
Rednerin hat nun das Wort die Kollegin Dr. Angelika
Köster-Loßack vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Anschluss an das, was meine Kollegen
schon ausgeführt haben, möchte ich insbesondere die
Wichtigkeit der Unterstützung aller menschenrechtlichen
Organisationen in Pakistan durch die Entwicklungszusammenarbeit, aber auch durch den menschenrechtspolitischen Dialog betonen.
Bei meinen eigenen Besuchen in Pakistan ist mir insbesondere die Bedrohung der Frauenorganisationen, die
sich um Menschenrechte und Frauenrechte kümmern,
aber auch der Organisationen, die sich um die Frage der
Minderheiten in diesem Lande, auch der religiösen Minderheiten, kümmern, klar geworden. Es gibt einen Dialog
innerhalb des Landes und auch einen Dialog zwischen
den Menschenrechtsorganisationen dieses Landes und Indien. Ich glaube, dass unsere Stiftungen in den vergangenen Jahren sehr viel dazu beigetragen haben, diese Menschenrechtsorganisationen zu unterstützen.
({0})
Was uns angeht, so müssen wir versuchen, die Isolierung des Landes aufzuheben; denn ohne eine wirkliche
Kooperation erscheint auch eine Demokratisierung nicht
möglich. Die Demokratisierung wäre aber auch in meinen
Augen die Voraussetzung dafür, dass es zu einer Lösung
des Konflikts zwischen den beiden Hauptkontrahenten in
diesem Kontext, zwischen Pakistan und Indien, kommt.
Die Signale aus Indien, die, insbesondere bei Besuchen in
diesem Jahr bei vielen Gesprächen, auch mit den Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des indischen Parlaments, sichtbar geworden sind, zeigen: Die Bereitschaft
zu Gesprächen ist vorhanden. Ich glaube, dass entsprechende Zusammenschlüsse, auch wenn sie politisch, ökonomisch und menschenrechtlich bisher nicht funktioniert
haben, gestärkt werden müssen und dass wir, auch als
Mitglied der EU, das Unsere dazu beitragen können auch wenn wir in diesem Konflikt nicht direkt als Mittler
auftreten sollten -, derartige Zusammenschlüsse und die
Austauschprozesse, die dort laufen könnten, zu unterstützen.
({1})
Ein besonders ermutigendes Zeichen für die Kooperation zwischen Indien und Pakistan ist das „India-Pakistan People’s Forum“, das jedes Jahr Intellektuelle,
Schriftsteller, Journalisten, Exmilitärs, Expolitiker und
Parlamentarier zusammenführt, die über die Zukunft ihrer
beiden Länder beraten. Das Problem, das, insbesondere in
den letzten zwei, drei Jahren, im Weg gestanden hat,
möchte ich als eine scharfe Islamisierung der innenpolitischen Situation in Pakistan bezeichnen. Pakistanische Intellektuelle sprechen von einer „Talibanisierung“ des
Landes. „Talibanisierung“ würde heißen, dass die zivilen,
die menschenrechtlichen Orientierungen gerade der Teile
der politischen Klasse, die auf eine Demokratisierung gerichtet sind, nicht mehr zum Tragen kommen können.
Gerade für uns aus der Bundesrepublik Deutschland ist
es sehr wichtig, diejenigen in die Verantwortung für eine
Demokratisierung dieses Landes mit hineinzunehmen,
die bisher dazu beigetragen haben, das Land zu destabilisieren.
({2})
Das sind sowohl diejenigen, die im Nahen Osten und mittleren Osten zur Finanzierung der islamistischen Gruppierungen beitragen, die das Land von innen destabilisieren,
wie auch diejenigen, die in den Jahren zuvor dazu beigetragen haben, dass überhaupt erst Taliban-Schulen entstehen konnten, die heute nicht nur Pakistan bedrohen, sondern auch in Afghanistan ein Schreckensregime errichtet
haben, das sich jeder internationalen Einbindung entzieht.
Insofern denke ich: Wir alle sitzen in dem Boot der
Verantwortung. Ich hoffe, dass die Signale, die aus Indien
in Richtung der pakistanischen Regierung, aber auch in
Richtung der früheren Parlamentarier gesendet worden
sind, aufgenommen werden.
Der Appell geht natürlich genauso an die pakistanische
politische Klasse, das, was bisher an Sicherstellung der
Minderheitenrechte versäumt worden ist, nachzuholen zu
versuchen. Dazu gehört insbesondere die Aufhebung der
Blasphemiegesetze, durch die islamistische Gruppierungen in diesem Land heute sehr viel mehr Einfluss gewonnen haben, als das in den vergangenen Jahren der Fall war.
({3})
Sonst wird die Destabilisierung einer ganzen Region weitergetrieben. Ich glaube, wir haben die Verantwortung,
den ganzen Prozess des Austausches weiter zu begleiten,
insbesondere die Wiederherstellung von Menschenrechten, die Wiederherstellung von Demokratie und die Wiederherstellung der Gesetzestreue - Rule of Law wird das
genannt - innerhalb des Landes.
Vielen Dank.
({4})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5684 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 e sowie
den Zusatzpunkt 7 auf:
13 a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert,
Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes ({0})
- Drucksache 14/4351 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 14/5349 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Elke Wülfing
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Barbara
Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS
UMTS-Milliarden für Entlastung von Altschul-
den auf dauerhaft leer stehendem Wohnraum
- Drucksachen 14/4350, 14/4693 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christine Lucyga
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Christine Ostrowski, Gerhard
Jüttemann, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz
von Wohnungsgenossenschaften aus Treuhandliegenschaftsbeständen in den neuen Bundesländern
- Drucksachen 14/4011, 14/5556 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Otto ({5})
Reinhard Weis ({6})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({7})
zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Heidemarie Ehlert, Gerhard
Jüttemann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der PDS
Herabsetzung der Grundsteuer bei strukturel-
lem Mietwohnungsleerstand
- Drucksachen 14/4010, 14/5347 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Sabine Jünger, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Dranske retten - der Gemeinde eine Perspektive geben
- Drucksache 14/5806 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Maßnahme-Programm zum wohnungswirt-
schaftlichen Strukturwandel in den neuen Län-
dern vorlegen
- Drucksache 14/6051 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Alle Redner mit Ausnahme der Rednerin der PDS-
Fraktion wollen ihre Reden zu Protokoll geben.1) Auf die
PDS-Fraktion entfällt eine Redezeit von sieben Minuten.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Christine Ostrowski.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Heute Vormittag wurde in der Kerndebattenzeit die Situation in Ostdeutschland beraten. Der
Wohnungsleerstand Ost ist ein schreiendes Signal der
Prozesse in Ostdeutschland. Unsere Anträge, die sich
damit befassen, hätten heute Vormittag debattiert werden
müssen. Die Anträge sind ans Ende der heutigen Plenardebatte geschoben worden. Alle Redner geben ihre Reden zu Protokoll und die Hälfte der Wohnungspolitiker ist
auch abhanden gekommen.
({0})
- Nein, Sie ja nicht. Sie können nichts dafür, Sie sitzen ja
noch da.
Nun ist es ja nicht so, dass uns das aus der Kurve dreht;
wir sind das ja gewöhnt. Denn Sie mögen es nicht, dass
unsere Anträge zum Wohnungsleerstand Ost, zur Situa-
tion der ostdeutschen Wohnungswirtschaft, behandelt
werden. Dafür haben Sie Ihre Gründe.
Erstens glauben Sie: Je später am Abend, desto weni-
ger öffentliche Wirkung. Zweitens ist es Ihnen, der Re-
gierungskoalition - Frau Eichstädt-Bohlig, es tut mir
1) Anlage 7
wirklich Leid - unangenehm. Außer einer unzulänglichen
Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes haben Sie bisher
an parlamentarischen Initiativen zum Wohnungsleerstand
Ost nichts, aber auch gar nichts eingebracht. Das ist die
Wahrheit.
({1})
Die CDU mit ihren primitiven Initiativen, die schon
lange zurückliegen, kann man vergessen. Die F.D.P. hat
gestern einen Antrag eingereicht. Die Hälfte dieser Forderungen haben wir hier schon vor Monaten eingebracht.
Die andere Hälfte kann man nicht mittragen. Immerhin,
Sie kommen, wenn auch spät. Das macht wahrscheinlich
Ihre Trunkenheit, 18 Prozent usw. Tatsache ist: Hätte die
PDS hier nicht Antrag für Antrag eingebracht, wäre am
Bundestag bis jetzt der Wohnungsleerstand Ost, die Krise
der ostdeutschen Wohnungswirtschaft vorbeigegangen.
({2})
Denn alles, was die Bundesregierung gemacht hat, läuft
außerhalb des Parlaments ab.
Selbst die heutige Abstimmung über einen Antrag, der
schlicht lautet, die Bundesregierung solle unverzüglich
ihr Maßnahmeprogramm zur Realisierung der Vorschläge
der Leerstandskommission vorlegen, verhindern Sie. Man
rate, warum. Sie tun es, damit der Antrag in den Ausschüssen so lange vor sich hinschmort, bis Sie aus dem
Mustopf gekommen sind.
Ich denke aber, meine Damen und Herren, diese Tricks
helfen Ihnen nicht. Die Wohnungsunternehmen verfolgen
sehr genau, welche Fraktionen etwas tun, welche Fraktionen aktiv sind und welche Fraktion welche Vorschläge
einreicht.
({3})
Ich kann Ihnen sagen: Die PDS-Fraktion hat einen guten
Ruf in der Wohnungswirtschaft und wir haben ihn zu
Recht.
Vor über einem Jahr haben Sie mit großer Inszenierung
eine Expertenkommission eingesetzt, auf dass sie Lösungen für den Wohnungsleerstand finde. Vor einem halben
Jahr hat sie ihre Vorschläge vorgelegt. Jetzt schreiben wir
Mai und noch immer ist nichts passiert, aber auch gar
nichts, abgesehen davon, dass die Mehrzahl der Vorschläge der Expertenkommission von uns bereits lange
zuvor eingebracht worden war, Vorschläge zur Erhöhung
der Investzulage im Altbestand, zur Erhöhung der Eigenheimzulage im Bestand, zur Schaffung eines Sofortprogramms für den Abriss. Man fragt sich natürlich, was die
Experten - außer einer Zeitverzögerung - erreicht haben.
Ich halte es für das Letzte, wenn Sie derart zögerlich an
die Umsetzung selbst gestellter Aufgaben herangehen.
({4})
Seit Wochen sprechen die beteiligten Politiker von
Sanierungsprogrammen statt von Umbauprogrammen.
Das alles klingt furchtbar nett und furchtbar schön. Bis
jetzt sind es leere Worte.
({5})
Jeder Tag, der verstreicht, führt zu einer leeren Wohnung
mehr.
Ich möchte Sie einmal Folgendes fragen - Sie können
ruhig die Hand heben -: Wer von Ihnen war schon einmal
in Dranske?
({6})
- Sehr schön, dass Sie fragen: Wo? Dranske ist Ihrer Meinung nach bestimmt ein unbedeutender Ort in der Bundesrepublik. Wunderbar!
Dranske war einmal ein Bundeswehrstandort. Als solcher hatte er den Menschen Arbeit gegeben. Als die Bundeswehr wegzog, zogen die Menschen mit ihr weg. Er
hatte einmal 3 700 Einwohner; jetzt hat er nur noch 2 200.
Die Plattensiedlung in Dranske übertrifft alles, was ich
bisher kennen gelernt habe.
({7})
Von den 700 Wohnungen in dieser Plattensiedlung steht
die Hälfte leer. Ich kann nicht beschreiben, wie trostlos
man sich vorkommt und wie öde es ist, wenn man in dieser Siedlung steht: Mit Brettern wurden die Haustüren
zugenagelt. Man sieht kaputte Balkons, zerfetzte Gardinen und auch ein auf einen leeren Wohnblock aufgesprühtes Hakenkreuz. Dies ist ein übles Umfeld.
Dranske hatte im Vertrauen auf Seriosität, Fairness und
Sachverstand 700 Wohnungen vom Bund gekauft. Daran
sind Sie von der CDU/CSU schuld; Sie haben das zu verantworten.
({8})
Dranske ist vom Bund über den Tisch gezogen worden,
weil der Bund den Sanierungsaufwand unseriös kalkuliert
und Vertragsbedingungen diktiert hat, die für diese Gemeinde unannehmbar und nahe der Sittenwidrigkeit waren.
({9})
Dranske kann diese 700 Wohnungen entweder erhalten
- das ist unmöglich, weil es keine Mieter gibt - oder sie
verkaufen; auch dies ist unmöglich, weil sich kein Käufer
findet.
({10})
Die Lage ist extrem: Es bestehen Zwangsverwaltung und
eine Verschuldung von 12 000 DM pro Einwohner.
Während das Land Mecklenburg-Vorpommern seine
letzten Gelder aus dem Wohnumfeldprogramm zusammenkratzt, um Dranske zu helfen, tut der Bund so, als
ginge ihn das überhaupt nichts an. Das liegt nun wieder in
der Verantwortung der Koalitionsfraktionen: Sie lassen
diesen Ort sehenden Auges verkommen. Nun mag
Dranske ein Ort sein, der unbedeutend ist. Er mag ein Ort
sein, der einen Sonderfall darstellt. Aber Dranske ist auch
und gerade ein Ort, der uns vor Augen führt, was aus Gemeinden im Osten werden kann, wenn Sie so weitermachen wie bisher.
Ich denke nur an die heutige Debatte über den Osten
und an die schönen Sprechblasen vom Aufbau Ost, der gelingen wird, und daran, dass der Strukturwandel in vollem
Gange ist. Besonders nett sind die Appelle an das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen. Dazu kann ich nur sagen:
Ihr größtes Problem, das Sie in der Bundesrepublik
Deutschland haben, ist Ostdeutschland. Sie haben es
überhaupt nicht begriffen:
({11})
Was die Städte und Gemeinden dort brauchen, sind das
Engagement und die finanzielle Unterstützung des Bundes. Was denn sonst?
({12})
Sie wollen nur wenig Geld zur Verfügung stellen; am
besten gar keines. Wenn Sie Geld geben, dann sprechen
Sie vorrangig von Straßen und von Infrastruktur. Ich
würde gerne einmal wissen, wie viele sächsische Bürger
in 80 Jahren über Ihre ausgebauten Straßen fahren werden, wenn Sachsen von jetzt 4,3 Millionen Einwohnern
auf 1 Million geschrumpft sein wird.
Es ist doch wohl ein Witz, dass sich der Ostbeauftragte
heute Vormittag im Zusammenhang mit den Altschulden
für die Entlastung um 700 Millionen DM gefeiert hat, die
gerade einmal für die Sanierung von 85 000 Wohnungen
reichen. Dazu möchte ich einmal einen Vergleich anstellen: Wir haben 1 Million leer stehende Wohnungen. Für
diese 1 Million entsteht den ostdeutschen Wohnungsvermietern ein Einnahmeverlust von jährlich 2,2 Milliarden DM. Sie denken, mit 700 Millionen DM sei Ihre Leistung erbracht. Das ist doch wohl nicht wahr!
Meine Damen und Herren, ergreifen Sie endlich Maßnahmen, die den Wohnungsunternehmen helfen und die
wir heute unter anderem zur Abstimmung bringen! Streichen Sie die Altschulden für leere Wohnungen! Auch
wenn Sie die Milliarden, die wir aus den UMTS-Erlösen
fordern - wir haben den vorliegenden Antrag schon vor
langer Zeit eingebracht -, schon längst verbraten haben,
so führt für Sie an der Streichung der Altschulden kein
Weg vorbei.
({13})
Kümmern Sie sich um die TLG-Genossenschaften! Es
gibt nur zehn davon. Davon ist die Hälfte wirklich konkursbedroht. - Sie von der CDU/CSU tragen hierfür Verantwortung, weil Sie diese Wohnungen an die Genossenschaften veräußert haben, die sich im Vertrauen auf Sie
neu gegründet haben. - Unterlassen Sie die Erhebung der
Grundsteuer auf dauerhaft bewohnbare Wohnungen!
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss
und möchte noch einen Vorschlag machen: Der Ministerpräsident Roland Koch in Hessen und der Chefredakteur
des „Focus“ haben für einen Tag ihr Amt getauscht. Diese
Idee finde ich gar nicht so schlecht. Der Bundeskanzler
sollte vielleicht einmal für einen Monat Bürgermeister in
Dranske spielen. Ich verspreche: Wenn Bundeskanzler
Schröder es schaffen würde, Dranske - gleichsam wie
Münchhausen sich selbst am eigenen Zopf - aus dem
Sumpf zu ziehen, dann spendiere ich ihm einen Kasten
Rotkäppchensekt und leiste Abbitte.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes auf Drucksache 14/4351. Der Finanzausschuss
empfiehlt auf Drucksache 14/5349, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung bei Zustimmung der PDS-Fraktion gegen die
Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt.
Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „UMTS-Milliarden für Entlastung von Altschulden
auf dauerhaft leer stehendem Wohnraum“; das ist die
Drucksache 14/4693. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4350 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDSFraktion angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz von
Wohnungsgenossenschaften aus Treuhandliegenschaftsbeständen in den neuen Bundesländern“; das ist die
Drucksache 14/5556. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4011 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDSFraktion angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der PDS zur Herabsetzung der Grundsteuer bei
strukturellem Mietwohnungsleerstand; das ist die
Drucksache 14/5347. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4010 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit
dem gleichen Stimmenverhältnis wie eben angenommen.
Nun bleiben noch Tagesordnungspunkt 13 e und Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5806 und 14/6051 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Mai 2001, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.