Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 5
auf:
10. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
- Drucksache 14/280 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Innenausschuß
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Beschäftigung fördern - soziale Sicherung verbessern - Flexibilisierung erhalten
- Drucksache 14/290 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Innenausschuß
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
({2})
Ich erteile das Wort Bundesminister Walter Riester.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Seit Monaten beherrscht kaum ein sozialpolitisches
Thema die Debatte so stark wie die Zukunft der sozialversicherungspflichtigen geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.
({0})
- Es liegt nicht an uns, es liegt an der Materie. - Die
Diskussion erfolgt in den Fraktionen und in den Parteien.
({1})
- Das ist keine Katastrophe. Eine Katastrophe ist, daß
die Diskussion nicht früher erfolgte und daß nicht früher
gehandelt wurde.
({2})
Die Diskussion über dieses Thema ist gerechtfertigt.
Ich will Ihnen die Problematik an zwei kleinen Beispielen aufzeigen.
Erstes Beispiel. Ein Handwerksgeselle steht in einem
regulären Beschäftigungsverhältnis. Der Geselle arbeitet
38,5 Stunden in der Woche in einem Tischlerbetrieb und
zahlt von seinen 4 000 DM brutto Steuern und Sozialabgaben. Nach Feierabend jobbt er für einen anderen Betrieb - bis jetzt sozialabgabenfrei - auf 630-DM-Basis.
Die Pauschalsteuer zahlt möglicherweise der Arbeitgeber.
({3})
- Nein, das muß der Arbeitgeber nicht. Die Steuerpflicht
bei Arbeitgebern ist nicht gegeben.
Dieser Handwerksgeselle mit einem Gesamteinkommen von 4 630 DM muß bis zum heutigen Tag nur für
4 000 DM Steuern und Abgaben zahlen. Ein anderer
Arbeitnehmer, der das gleiche Einkommen mit nur einem Job erzielt, ist für das gesamte Einkommen steuerund sozialabgabenpflichtig. Damit subventionieren
heute Arbeitnehmer mit ihrem regulären Arbeitsverhältnis die Zweitjobs derjenigen, die noch etwas hinzuver1144
dienen wollen. Niemand kann behaupten, daß das in
Ordnung ist. Hier klafft eine Gerechtigkeitslücke.
Zweites Beispiel. Eine alleinerziehende Frau mit zwei
Kindern arbeitet in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis. Viel mehr kann sie den Umständen bedingt häufig auch gar nicht tun. Diese Frau, die insgesamt eine Dreifachbelastung zu tragen hat, erhält nach
jetziger Rechtslage nicht einmal die Chance, für einen
Pfennig ihres Verdienstes Rentenansprüche zu erwerben. Auch hier klafft eine Gerechtigkeitslücke.
Mit dem heute eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse werden wir diese Lücken schließen.
({4})
Wir haben die Argumente aller Beteiligten, der Wirtschaft, der Gewerkschaft und der Sozialversicherung,
genau zur Kenntnis genommen und - wo berechtigt - in
den Gesetzentwurf einfließen lassen. In diesem Haus
dürfte eine große Mehrheit mit mir der Meinung sein,
daß wir die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
reformieren müssen. Die Entwicklung ist aus dem Ruder
gelaufen.
({5})
Ursprünglich waren die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse die Ausnahme. Auftragsspitzen sollten aufgefangen werden; einigen Personengruppen sollte die
Möglichkeit gegeben werden, sich ein paar Mark dazuzuverdienen. Doch heute ist in vielen Bereichen die
Ausnahme zur Regel geworden. Die Möglichkeit, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, wird
zunehmend mißbraucht. In Deutschland hat die Zahl
der geringfügig Beschäftigten in den vergangenen Jahren sprunghaft zugenommen.
Dazu nur ein paar Zahlen: Nach einer Untersuchung
des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik war von 1992 bis 1997 ein Anstieg von 4,5 Millionen
auf 5,6 Millionen Personen in geringfügigen Arbeitsverhältnissen zu verzeichnen. Das entspricht einer Zunahme
von 24 Prozent in 5 Jahren. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist im gleichen Zeitraum um 7 Prozent bzw. um 2 Millionen abgesunken. In manchen Branchen ist der Zuwachs sogar
dramatisch. Im Einzelhandel stieg die Zahl der geringfügig Beschäftigten in 10 Jahren um 157 Prozent, im
Gastgewerbe sogar um 172 Prozent.
Diese Zahlen bestätigen: Es geht bei dieser Beschäftigungsform nicht mehr nur um eine sinnvolle Ergänzung zu den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, sondern es geht in weiten Bereichen
um die konsequente Flucht aus der Solidargemeinschaft. Diesen Trend werden wir stoppen.
({6})
Unsere Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist eine Reform für mehr Wettbewerbsfähigkeit, für mehr Arbeitsplätze und für mehr Gerechtigkeit.
({7})
Das sind wir den Beschäftigten, der Solidargemeinschaft
der Beitragszahler und - das betone ich ganz besonders
- den Arbeitnehmerinnen im Lande schuldig;
({8})
denn der Erwerb von Rentenansprüchen bleibt nicht
länger ein Privileg derjenigen, die mit ihrem Einkommen über der Geringfügigkeitsgrenze liegen.
({9})
Jede Frau und jeder Mann kann künftig von der ersten
verdienten Mark an Rentenansprüche erwerben.
({10})
Damit tragen wir insbesondere den Bedürfnissen der
Frauen Rechnung. Sie, die bislang oft in ungeschützten
Beschäftigungsverhältnissen beschäftigt waren, können
sich endlich eigenständig gegen Invalidität und Alter absichern.
({11})
Damit schließen wir eine Lücke im Sozialversicherungssystem.
({12})
Damit bringen wir auch wieder ein Stück mehr Ordnung
in den Arbeitsmarkt. Künftig sind von der ersten Mark
an Beiträge zur Sozialversicherung zu zahlen. Wir stoppen damit auch die Erosion des Beitragsfundamentes.
Ordnung auf dem Arbeitsmarkt heißt aber auch mehr
Transparenz. Jedes Beschäftigungsverhältnis, ob für 300
oder 630 DM im Monat, wird künftig auf der Lohnsteuerkarte vermerkt.
({13})
- Nein, das heißt nicht mehr Bürokratie. Das heißt erstmals die Kontrollmöglichkeit und auch die Verhinderung von zunehmender Schwarzarbeit.
({14})
Ein Wort aber auch zu den Bedenken in der Wirtschaft: Durch den systematischen Mißbrauch der 630DM-Jobs verschaffen sich Teile der Wirtschaft Wettbewerbsvorteile zu Lasten derer, die Monat für Monat ihre
Beiträge für die Sozialversicherung verantwortungsvoll
entrichten. Diese Wettbewerbsverzerrung werden wir
beenden.
({15})
Wir wollen diese Beschäftigungsform wieder zu dem
machen, wozu sie einmal gedacht war. Sie soll nämlich
die notwendige Flexibilität im Arbeitseinsatz dort gewährleisten, wo dies mit normalen Arbeitsverhältnissen
nur schwierig möglich wäre. Mittelfristig werden wir
daher die Ausweitung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse eindämmen. Das gelingt uns, indem
wir die Geringfügigkeitsgrenze bei 630 DM einfrieren.
Ich betone ausdrücklich: Die Bundesregierung will
die 630-DM-Jobs nicht abschaffen.
({16})
Sie ist sich sehr wohl bewußt, daß sie in einer Vielzahl
von Wirtschaftsbereichen gebraucht werden. Sie ist sich
auch bewußt, daß erhebliche Teile der geringfügig Beschäftigten diese Arbeit ausführen, um sich etwas hinzuzuverdienen.
({17})
Für die Arbeitgeber, die bislang eine Pauschalsteuer
auf die 630 DM entrichtet haben, ändert sich von der
Belastung her nicht viel. Ab 1. April 1999 müssen die
Arbeitgeber für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse
Pauschalbeiträge von 12 Prozent an die Rentenversicherung und 10 Prozent an die Krankenversicherung leisten. Keine Arbeitnehmerin und kein Arbeitnehmer muß
befürchten, daß das geringfügige Beschäftigungsverhältnis nun unrentabel wird.
({18})
Es bleibt bei unserem Versprechen: Wenn die monatlichen Einkünfte 630 DM nicht übersteigen, bleiben sie
steuerfrei.
({19})
- Das ist nicht sowieso so, denn bisher waren sie nicht
steuerfrei.
Bei verheirateten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bleibt es auch dann bei der Steuerfreiheit,
wenn der andere Ehegatte eigene Einkünfte erzielt. Damit wollen wir die Funktion der 630-DM-Jobs als
Brücke in den Arbeitsmarkt stärken.
({20})
- Vielleicht können Sie einmal zuhören, dann können
Sie anschließend besser argumentieren.
({21})
Nach einer Untersuchung des DIW in Berlin hatten
28 Prozent aller Frauen in Westdeutschland, die im Jahr
1991 geringfügig beschäftigt waren, fünf Jahre später
einen sozialversicherungspflichtigen Job.
({22})
Fast ein Drittel aller geringfügig beschäftigten Frauen
hat also den Sprung in ein reguläres Arbeitsverhältnis
geschafft.
Meine Damen und Herren, unsere Reform ist gut. Sie
überfordert die Wirtschaft nicht, sie ist sozial ausgewogen, und sie sorgt für mehr Beitragsgerechtigkeit.
({23})
Unsere Reform macht ein weiteres Aufsplitten von Arbeitsverhältnissen unattraktiver und verhindert ein Ausweichen in die Schwarzarbeit.
({24})
Außerdem bieten wir künftig allen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, unabhängig von Arbeitszeit und
Einkommen, die Möglichkeit, sich für ihr Alter abzusichern.
({25})
Darum hoffe ich auf breite Zustimmung zu diesem
Gesetzentwurf von allen, denen an einer wirklichen
Verbesserung des Status quo gelegen ist.
Herzlichen Dank.
({26})
Das Wort hat nun
der Kollege Hermann Kues, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester,
Ihre Rede paßte zu allem möglichen, nur nicht zu dem
Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben.
({0})
Ich fange einmal mit einer konkreten Zahl an. Sie haben tatsächlich die Unverfrorenheit besessen, hier von
4,5 bis 5,6 Millionen 630-DM-Arbeitsverhältnissen zu
sprechen. Wenn Sie sich Ihren Gesetzentwurf ansehen,
können Sie feststellen, daß Sie dort von 2,5 Millionen
geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen ausgehen.
({1})
Angesichts dieses Zahlenwerks wird deutlich: In Ihrem
konkreten Gesetzentwurf legen Sie das schon nicht mehr
zugrunde, womit Sie hier Propaganda machen.
({2})
Sie sollten den Frauen auch ganz konkret sagen, was
es für sie bedeutet, wenn dies Gesetz würde. Eine Frau,
die ein Jahr lang in einem 630-DM-Arbeitsverhältnis tätig ist, erwirbt einen Rentenanspruch von schlappen
7 DM. Sie müßte 150 Jahre weiterarbeiten, um überhaupt auf ein Niveau zu kommen, das dem Sozialhilfeniveau entspricht. Das zeigt doch die Qualität dessen, was Sie hier vorgelegt haben.
({3})
Das, was sich in den letzten Wochen in der Koalition
bei diesem Thema abgespielt hat, spottet jeder Beschreibung.
({4})
Herr Kollege Kues,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Im Prinzip gerne.
Ich möchte aber zunächst einmal einige Gedanken ausführen.
Das ist virtuelle Politik à la Bundeskanzler Gerhard
Schröder. Man sagt, man müsse etwas tun. Man will
aber nichts tun, und wenn man etwas tut, tut man es so,
daß die Menschen das am besten überhaupt nicht merken. Ich biete Ihnen jede Wette an, daß dies nicht der
letzte Vorschlag ist, den Sie gemacht haben. Man mußte
seine Rede, Herr Minister Riester, geradezu am Nachrichtenticker entwerfen, um mitzubekommen, was sich
in den letzten Stunden alles geändert hat. So ist nämlich
die Wirklichkeit.
({0})
Ihr Gesetzentwurf ist ein Armutszeugnis dieser Regierung.
({1})
- Ich sage Ihnen gleich, weshalb das nicht platt ist. Wir stimmen in der Ablehnung fast nahtlos mit praktisch allen Gewerkschaften der Dienstleistungsbranche ob ÖTV, ob DAG, ob HBV, ob Postgewerkschaft oder
IG Medien - überein. Ich finde, es ist eine interessante
Entwicklung, wenn CDU/CSU und Gewerkschaften bei
der Ablehnungsfront „Seit' an Seit' marschieren“.
({2})
Wie lautet die Kritik der Gewerkschaften? Erstens.
Eine wirkliche Mißbrauchsbekämpfung, geschweige
denn Eindämmung findet nicht statt. Gestern hat Frau
Engelen-Kefer sogar gesagt, es komme zu einer Ausweitung dieser Beschäftigungsverhältnisse. Zweitens. Es
werden im wesentlichen Beiträge in die Sozialkassen
geleitet, um - das sind jetzt meine Worte - die Löcher
einigermaßen zu stopfen, die Sie durch unhaltbare Versprechungen sowohl bei den Krankenkassen als auch in
der Rentenkasse aufgerissen haben.
({3})
Wenn ich nur die Zahlen genauer ansehe - interessanterweise haben Sie in den letzten Tagen das Zahlenblatt des Gesetzentwurfes noch einmal geändert -, dann
fällt mir folgendes auf: Sie veranschlagen Steuermindereinnahmen in Höhe von 1,37 Milliarden DM. Dem stehen für 1999 - im Jahre 2000 wird dies wieder anders
sein - im Bereich der Sozialversicherungen Mehreinnahmen in Höhe von 3,4 Milliarden DM gegenüber. Das
heißt, rund 2 Milliarden DM werden zusätzlich eingenommen. Damit wird eines klar: Sie wollen sich zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger bereichern, um Ihre
Politik zu kaschieren.
({4})
Diejenigen unter Ihnen - das paßt zu Ihnen, Frau
Schmidt -, die sich ehrlich engagiert und geglaubt haben, es gehe bei der Diskussion über die 630-Mark-Jobs
wirklich um eine bessere Alterssicherung der Frauen,
stehen doch wie begossene Pudel da. Wenn man Ihren
Gesetzentwurf genau betrachtet, dann ist festzustellen,
daß der Vorschlag so neu wie ein alter Hut ist, den Sie
lediglich gewendet haben - statt Steuern jetzt Abgaben und den Sie vor allem den Frauen andrehen wollen, wobei Sie dann noch behaupten, er stehe ihnen gut.
Herr Kollege Kues,
gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin
Schmidt?
Jetzt gestatte ich
eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Kues,
sind Sie mit mir der Meinung, daß Rentenansprüche von
Frauen nicht nur in geringfügiger Beschäftigung - also
die knapp 7 DM pro Monat - erworben werden können,
sondern daß für die Frauen durch unsere Option eine
große Chance eröffnet wird
({0})
- Sie sollten zuhören; ich glaube es, sonst würde ich es
nicht sagen; Sie kennen mich doch lange genug -, weil
im Erwerbsleben einer Frau eine geringfügige Beschäftigung oft zu anderen Beschäftigungen hinzukommt, und
daß mit dieser Option Rentenbiographien geschlossen
und weitergehende Ansprüche auch im Hinblick auf die
Rente langjährig Versicherter, im Hinblick auf die Rente
nach Mindesteinkommen, Erwerbsunfähigkeitsrenten
und anderes mehr erworben werden können? Sind Sie
insofern mit mir der Meinung, daß der Vorteil dieser
Regelung nicht darin besteht, daß die Rentenansprüche
im Alter um 6,78 DM erhöht werden, sondern darin, daß
ein komplettes Angebot geschaffen wird, also eine Zusammenfügung von Renten bzw. Einzahlungszeiten ermöglicht wird angesichts dessen, daß Frauen in ihrem
Erwerbsleben vor der Ehe oft zeitlich voll, während der
Erziehung der Kinder geringfügig beschäftigt und anschließend wieder in Vollzeit erwerbstätig sind?
({1})
Frau Kollegin
Schmidt, wenn man sich Ihre Frage richtig zu Gemüte
führt - „Was könnte alles passieren, wenn ...?“ -, dann
merkt man schon, wie kompliziert diese ganze Regelung
ist. Sie vergessen vor allen Dingen eines: Männer und
Frauen erwerben erst dann zusätzliche Rentenansprüche,
wenn sie selbst vorher zusätzlich einzahlen. Und Sie
sollten auch die Summe nennen: Wenn es um ein Beschäftigungsverhältnis geht, bei dem die Bezahlung unter 300 DM liegt, dann muß ein Mindestsatz von 58,60
DM - 19,5 Prozent von 300 DM - eingezahlt werden.
Das heißt: Wenn ich Geld mitbringe, erwerbe ich einen
zusätzlichen Rentenanspruch. Das war im gesamten System auch bisher schon möglich.
({0})
Noch einmal: Wer Geld mitbringt, der kann bei der von
Ihnen vorgesehenen Regelung irgendwann eine minimale Rente bekommen.
Ich habe mein Beispiel eben auf die Summe von
300 DM bezogen. Bei einer Frau, die 100 DM im Monat
verdient, muß der Arbeitgeber 12 DM zahlen, und sie
muß den Rest, nämlich 46,50 DM, tragen. Damit erwirbt
sie, auf das Jahr gerechnet, einen Rentenanspruch von
7 DM monatlich. Das ist das Ergebnis Ihres Entwurfs.
Ich finde, das ist im Grunde genommen keine Lösung.
({1})
Der Minister hat oft das Wort „gerecht“ gebraucht.
Ich wundere mich eigentlich nicht, daß Sie eine bürokratische Lösung vorschlagen. Es paßt in mein Bild von
Ihnen, daß eine komplizierte Regelung herausgekommen ist. Aber daß Sie geringverdienende Frauen mit dieser Regelung schamlos zur Kasse bitten, ist nach meiner
festen Überzeugung nicht nur dreist, sondern - soviel zu
dem Wort „gerecht“ - in hohem Maße ungerecht.
({2})
Man könnte sich auch grundsätzlicher damit beschäftigen. Dann stellte man fest, daß es von ganz besonderer
Güte ist, wie Sie das seit hundert Jahren gewachsene
Versicherungsprinzip, das Paritätsprinzip, in der Sozialversicherung umgehen. An sich muß gelten: Wer
einzahlt, bekommt dann, wenn der Versicherungsfall
eintritt, Leistungen entsprechend seinen Einzahlungen.
Bei Ihrer Regelung bekommt man dann noch längst
nicht etwas heraus, ganz zu schweigen davon, daß der
eine Arbeitnehmer Rentenbeiträge in Höhe von 9,75
Prozent zahlen muß - nämlich die Hälfte des regelmäßigen Beitrags von 19 Prozent -, um Ansprüche zu erwerben, während bei dem anderen schon 7,5 Prozent reichen. Daß dies nicht zusammenpaßt, ist ein Grund dafür,
daß führende Verfassungsrechtler sagen: Vermutlich ist
das Gesetz in der jetzt vorgelegten Form auch verfassungswidrig.
({3})
Noch einmal zum Versicherungsprinzip. Wer 7,5 Prozent einzahlt, der hat, wie ich versucht habe, deutlich zu
machen, zwar nur bescheidene Rentenansprüche; aber
im Verhältnis zur nur geringen Eigenleistung hat er beachtliche Ansprüche auf Invaliditätsrente und Rehabilitationsleistungen, also Kuren. Das alles ist ungerecht
und im Endeffekt unsozial.
({4})
Ich glaube, daß Sie einfach mit unserer Grundphilosophie vom Sozialstaat wenig anfangen können. Die
nämlich besteht darin, daß große Risiken staatsfern solidarisch abgesichert werden müssen und die Leistungen
den Beiträgen entsprechen. Damit können Sie nichts anfangen. Heute morgen habe ich ein Interview mit Ihnen,
Herr Riester, im Deutschlandradio gehört. Sie haben gesagt, die vorgesehene Regelungen bringe nur Vorteile.
Ich behaupte einmal: Sozialpolitische Lösungen, die nur
mit Vorteilen verbunden sind, gibt es nicht. Es gibt nur
sozialpolitisch gerechte Lösungen, und diese müssen
Strukturen so verändern, daß das angestrebte Ziel erreicht wird.
({5})
Herr Kollege Kues,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert
von der PDS-Fraktion?
Nein, das möchte
ich im Moment nicht.
({0})
Ich verstehe deshalb sehr wohl, daß prominente Parteifreunde von Ihnen - aus den Gewerkschaften, Rentenexperten, aber auch Verfassungsrechtler - händeringend Nachbesserungen fordern, noch heute morgen.
Und wenn es nicht Ihre Parteifreunde wären, dann würden sie nicht nur von „Nachbesserungen“ reden. Das ist
in diesem Fall reine Höflichkeit. Sie kommen Ihrem
selbstgesteckten Ziel, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, keinen Schritt näher.
Ein wichtiges Ziel allerdings würden Sie erreichen,
wenn dieser Entwurf tatsächlich so in das Gesetzblatt
käme. Denn mit der geplanten Regelung - vielleicht ist
auch das, wenn auch nicht ursprünglich, Ihre Absicht
gewesen - wird sich die Zahl der Erwerbstätigen erhöhen und das Verhältnis von Arbeitslosen zu Erwerbstätigen vermindern. Nach überschlägigen Berechnungen
könnte sich die Arbeitslosenquote dadurch sogar um einen Prozentpunkt vermindern. Ich sage aber jetzt schon:
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({1})
Das sind im Endeffekt statistische Tricks. Auch der
Kollege Merz hat gestern gesagt: Wir werden uns genau
ansehen, wie sich die Zahl der Erwerbstätigen vor diesem Hintergrund verändert. Wenn Sie wirklich etwas
bewegen wollten - dazu bräuchten Sie aber Mut -, dann
müßten Sie ein Konzept für den gesamten Niedriglohnbereich vorlegen. Es verhält sich doch heute so, daß es
jenseits der 630-Mark-Mauer eine Beschäftigungsfalle
gibt, die bewirkt, daß sich Teilzeitbeschäftigung nicht
lohnt, daß derjenige, der 640 DM verdient, außerordentlich hohe Sozialabgaben hat. Für einen Arbeitnehmer,
der zwischen 800 und 900 DM verdient, lohnt sich eine
Teilzeitbeschäftigung nicht. Diese geradezu prohibitive
Abgabenschwelle müßte beseitigt werden. Das setzt aber
ein in sich schlüssiges Gesamtkonzept voraus, und das
setzt vor allen Dingen auch voraus, daß Sie den Mut haben, diese Dinge anzupacken.
({2})
Ich fasse zusammen: Ihr Gesetzentwurf paßt im Hinblick auf das Problem vorn und hinten nicht - wie ein
Konfirmationsanzug nach 20 Jahren. Ihr Gesetzentwurf
ist in hohem Maße sozial ungerecht; er bringt einen Bürokratisierungsschub mit sich. Ihr Gesetzentwurf bietet
keinerlei Hilfe für diejenigen Arbeitslosen, die im Niedriglohnbereich tätig werden wollen, und zwar so, daß
sich Arbeit für sie auch wirklich lohnt.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Guten Morgen! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Dr. Kues, ich muß eingangs einige Bemerkungen zu Ihrer Rede machen. Ich freue mich
schon darüber, daß Sie meinen, daß unsere Gesundheitsreform möglicherweise dazu führen kann, daß es demnächst Arbeitnehmerinnen geben wird, die 150 Jahre
lang berufstätig gewesen sein werden. Ich glaube allerdings, Herr Dr. Kues, daß diese Ihre Einschätzung etwas
an der Realität vorbeigeht.
({0})
An der Realität gehen auch andere Wahrnehmungen
vorbei, die Sie hier vorgetragen haben. Sie sprachen davon, daß wir Löcher in die Sozialkassen gerissen hätten
und wir sie nun stopfen wollten. Ich muß Sie dann doch
noch daran erinnern - Ihr Gedächtnis scheint kurz zu
sein -, daß Sie von der CDU/CSU und F.D.P. es waren,
die in den letzten Jahren genügend Zeit hatten, genau
solche Löcher zu reißen.
({1})
Wir hingegen haben es in nur drei Monaten zuwege gebracht, mit der ökologisch-sozialen Steuerreform
({2})
- ja, meine Damen und Herren - ein Reformprojekt auf
den Weg zu bringen, mit dem wir in der Lage sein werden, die Rentenversicherungsbeiträge sogar um 0,8 Prozent zu senken.
({3})
Das ist die Realität, und daß die Sie aufregt, kann ich
allerdings gut verstehen.
Sie haben recht: Mit diesem Gesetz haben wir uns
wirklich mitten in ein gesellschaftliches Spannungsfeld
plaziert. Mindestens 6 Millionen Menschen, vor allen
Dingen Frauen, arbeiten in diesen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Es ist selbstverständlich, daß
auf Grund der sehr unterschiedlichen Lebenssituationen
natürlich sehr unterschiedliche Erwartungen und Anforderungen an unser Gesetzesvorhaben gerichtet werden;
das erfahren wir in vielen Briefen und Anrufen. Es gibt
viele Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem
Land, die natürlich versuchen, die jetzige Lösung bei
den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen zu verteidigen.
Es gibt viele Grüne, viele SPDlerinnen und SPDler
und viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter,
aber insbesondere Frauenpolitikerinnen und -politiker
quer durch die Reihen, die erwarten, daß die sozial ungesicherten Arbeitsverhältnisse kurz und schmerzlos abgeschafft werden.
({4})
Meine Damen und Herren, genau zwischen diesen
Polen - damit umreiße ich das Feld - befinden wir uns
in einer sehr engagierten Diskussion.
({5})
Das Engagement möchte ich Ihnen von der CDU nicht
absprechen, aber genau in dieser Auseinandersetzung
schwingen Sie sich mit Ihrem Antrag zum Moralapostel
auf. Das steht Ihnen nicht zu.
({6})
Sie fordern ein Konzept gegen den Mißbrauch, den
Sie in den letzten Jahren zu verantworten hatten.
({7})
Ich glaube - das ist auch in der Rede von Herrn Dr.
Kues deutlich geworden -, daß Sie dieses Konzept nur
deshalb fordern können, weil Sie unseres nicht verstanden haben.
({8})
Ich will Ihnen das an zwei Punkten, die Sie vorgetragen
haben, exemplarisch vorführen:
Sie behaupten, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern würde mit diesem Gesetz „schamlos“ - ich zitiere Sie - in die Taschen gegriffen. Das ist schlichtweg
eine Lüge.
({9})
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen keine
müde Mark. Die Arbeitgeber werden - das ist ein Fortschritt - von der ersten Mark an bei jedem BeschäftiDr. Hermann Kues
gungsverhältnis in die Sozialkassen zahlen. Das ist die
Realität.
({10})
Sie wissen offenbar auch nicht, was Sie gut und
schlecht finden. Auf der einen Seite beklagen Sie, der
freiwillige Mindestbeitrag für den Erwerb eines Rentenanspruchs sei zu hoch. Drei Minuten später sagen Sie,
die Leistungen, die erworben werden können, nämlich
Reha-Maßnahmen, BU- und EU-Renten, seien zu hoch.
Wie wollen Sie es denn gern haben, Herr Dr. Kues? So
jedenfalls geht es nicht.
Realität ist, daß Sie in den letzten Jahren dem Druck
der Wirtschaft, übrigens auch dem Druck der F.D.P.,
selbstverständlich nachgegeben haben und der grenzenlosen Ausweitung der Billigjobs Tor und Tür geöffnet
haben. Deswegen sind wir in diese Situation gekommen.
Wir wollen tatsächlich versuchen, den Mißbrauch
einzudämmen. Ich glaube, daß wir mit diesem Gesetz
einen guten Schritt vorankommen, den Mißbrauch einzudämmen, den Arbeitnehmerinnen eine freiwillige Option auf einen Rentenanspruch zu eröffnen und die Sozialkassen zu stabilisieren. Diesen Weg wollen und werden wir mit unserem Gesetz gehen. Ich glaube, meine
Damen und Herren von der CDU, Herr Blüm hätte sicher Tränen in die Augen bekommen, wenn er so ein
Angebot erhalten hätte. Ihnen ist das jedoch in den letzten Jahren nicht einmal im Traum eingefallen.
({11})
Das große Ziel, zum Beispiel die Billigjobs mit einem
Federstrich abzuschaffen oder in normale Arbeitsverhältnisse zu überführen, schaffen wir nicht. Aber trotz
all dieser Wünsche und vieler Kritik, die vorgetragen
wird, müssen wir eines deutlich feststellen: Es gibt mit
diesem Gesetz eindeutige Verbesserungen gegenüber
dem ursprünglichen, dem jetzigen Zustand.
Wir werden die Sozialversicherung mit diesen Beiträgen stabilisieren. Das ist der erste Punkt. Wir werden
die Möglichkeit für einen freiwilligen Rentenanspruch
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den kleinsten Arbeitsverhältnissen eröffnen. Das ist ein Fortschritt.
({12})
Die Nebenjobs werden steuerpflichtig werden, das heißt,
auch hier schaffen wir eine Steuerungerechtigkeit ab. Es
wird auch so sein, daß die Grenze der Geringfügigkeit
auf 630 DM festgelegt wird; sie wird gedeckelt. Den
Aufwuchs, den Sie in den letzten Jahren zugelassen haben, wird es nicht mehr geben.
({13})
Die Mitbestimmungsrechte in den Betrieben werden erweitert. Wir werden mit der Meldepflicht, mit der Eintragung auf die Lohnsteuerkarte endlich die Grauzone
auf diesem Arbeitsmarkt ein wenig mehr ins Licht bringen. Wir werden die Möglichkeit haben, die Entwicklung zu beurteilen.
({14})
Meine Damen und Herren, die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist in den letzten Jahren wirklich exorbitant gestiegen. Sie haben vorhin die
Zahlen vom Minister gehört: etwa sechs Millionen. Die
CDU behauptet heute in ihrem Antrag immer noch, daß
diese Jobs eingerichtet worden wären, um im Mittelstand die Auftragsspitzen abzufedern. Das mag am Anfang so gewesen sein. Aber die Zeit hat Sie überholt,
und Sie haben das zugelassen. Die Zahlen, die real vorliegen, zeigen doch ganz eindeutig: Es kann hier überhaupt nicht mehr ums Abfedern von Auftragsspitzen gehen. Wir haben Betriebe, in denen die Minijobs nicht die
Ausnahme, sondern die Regel sind.
({15})
Wir haben nichts gegen Auftragsspitzen im Mittelstand;
die müssen abgefedert werden, überhaupt keine Frage.
Aber wir haben eindeutig etwas dagegen, daß Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sich immer mehr aus der Solidarität des Sozialstaates verabschieden können.
({16})
Die vorliegenden Zahlen belegen: Es hat diese Umwandlung von Normalarbeitsverhältnissen in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse stattgefunden. Das hat
zu Ausfällen in der Sozialversicherung in Milliardenhöhe und zu dem geführt, was gerade Sie beispielsweise
von der F.D.P. nicht gut finden können: daß Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die diese Beschäftigungsverhältnisse nicht einrichten wollen, zum Beispiel bei den
Gebäudereinigern, bei den Handelsketten, gezwungen
sind, das zu tun, weil sie sonst einen Wettbewerbsnachteil hätten. Das ist eine Situation, die wir nicht akzeptieren können.
Wir haben Verbesserungen erzielt. Ich habe das gerade angesprochen. Wir haben die Beitragspflicht ab der
ersten Mark für den Arbeitgeber in diesem Gesetz vorgesehen. Da kommen Sie und viele andere daher und
sprechen von einer schnöden Bereicherung der Sozialkassen
({17})
- „Richtig!“ rufen Sie jetzt auch noch dazwischen;
({18})
ich sage gleich etwas dazu - und davon, daß hier Gelder
von der einen in die andere Tasche gesteckt werden, und
das wäre es dann. Nein, meine Damen und Herren, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die finanzielle Basis der
Sozialkassen ist bedroht, und dazu haben Sie in den
letzten Jahren Ihren Beitrag geleistet.
({19})
Die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme ist aber
nun einmal an Erwerbsarbeit gebunden. Die Solidargemeinschaft braucht eben genau diese Beiträge, um dem
sozialstaatlichen Auftrag der Sicherung gegen Lebensrisiken überhaupt nachkommen zu können.
Frau Schwaetzer, ich finde es sehr entlarvend für die
F.D.P., wenn Sie bei der notwendigen Stabilisierung des
Sozialsystems von einem Abkassiermodell sprechen.
({20})
- „Wenn es doch stimmt!“ rufen Sie auch noch dazwischen. Ich sage Ihnen: Genau daran wird Ihre Haltung
gegenüber den sozialen Sicherungssystemen deutlich;
daran wird deutlich, daß Sie sich auf eine Klientel beziehen, die dicke Taschen hat und eher in die Privatversicherung geht.
({21})
Wir machen hier eine Politik für eine andere Klientel,
nämlich für kleine Einkommen und für Frauen.
({22})
Meine Damen und Herren, ich verstehe, daß die Wirtschaft sich über dieses Gesetz ärgert, jedenfalls viele,
und zwar diejenigen, die die Pauschalsteuer auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewälzt haben.
Diejenigen, die abgewälzt haben, haben jetzt in der Tat
höhere Ausgaben. Das ist klar. Aber ich sage Ihnen
auch: Ich kann überhaupt keine Trauer darüber empfinden, daß diejenigen auf der Arbeitgeberseite, die sich
aus der Verantwortung gestohlen haben, jetzt in die Verantwortung gezwungen werden.
({23})
Das wird nebenbei auch dazu führen, daß viele Beschäftigte gerade im tariflich abgesicherten Bereich nach dieser Reform möglicherweise höhere Einkommen haben
werden oder aber ihre Arbeitszeit verkürzen können.
Ich habe eingangs gesagt: Wir versuchen - und
kommen dabei auch voran -, den Mißbrauch zu bekämpfen. Auf diesem unübersichtlichen Markt ist das
aber ungeheuer schwer. Mit dem Eintrag auf die Lohnsteuerkarte und der Meldung bei den Sozialkassen werden wir überhaupt erst einen Überblick über diese Verhältnisse bekommen.
Es wird uns auch möglich sein, verschleierte Doppelbeschäftigung aufzudecken, zum Beispiel wenn sich
einzelne nicht gemeldet haben. Wir werden auch ganz
moderne Formen der Schwarzarbeit aufdecken können,
die Sie, Frau Schwaetzer, ja eindämmen wollen. Frau
Schwaetzer, die modernen Formen der Schwarzarbeit
bestehen doch darin, daß Arbeitgeber einen Beschäftigten für einen 630-Mark-Job anmelden, ihn aber voll arbeiten lassen und schwarz entlohnen oder Arbeitslohn an
fiktive Beschäftigte auszahlen. Das ist eine moderne
Form der Schwarzarbeit, die an dieser Stelle beendet
wird.
({24})
Genau da gehören Vollzeitarbeitsplätze hin.
Auch die Entdynamisierung ist eine Maßnahme, die
Ausweitung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse einzudämmen. Eine andere Maßnahme, den Mißbrauch dieser Beschäftigungsverhältnisse zu verhindern,
sind die erweiterten Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte. Das allein wird nicht reichen; das weiß ich auch.
Aber wir sind auf dem richtigen Weg.
Meine Damen und Herren von der CDU, Sie werfen
uns vor - und haben das hier eben wieder getan -, daß
dem Beitrag, den die Arbeitgeber an die Krankenversicherung zahlen, angeblich keine Gegenleistung gegenübersteht.
({25})
- Das ist richtig: Es erfolgt keine direkte Gegenleistung.
({26})
- Hören Sie doch zu! - Aber in diesem Bereich gibt es
schon Gegenleistungen. Diejenigen, die in solchen Beschäftigungsverhältnissen sind - das gilt auch für alle
anderen -, bekommen schon heute Sachleistungen aus
der Krankenversicherung, das volle Paket. Anders ist
jetzt nur, daß die Leistungen, die vorher über Mitversicherung kostenlos zu erlangen waren, nun mit einem
Beitrag belegt werden.
({27})
Wenn man behauptet, es gebe da keine Gegenleistung,
ist das schlichtweg falsch. Ich denke, unser Vorschlag
ist eine faire Lösung. Man kann da noch weitergehen;
das ist wahr.
Die Rentenversicherung ist anders strukturiert. Hier
können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich eine Option bekommen. Natürlich müssen sie
einen Mindestbeitrag zahlen; das ist bei jeder Versicherung so. Für den Erwerb des Rentenanspruchs muß ein
Mindestbeitrag von 300 DM gezahlt werden.
Diese Option ist besonders für Frauen mit ganz bestimmten Erwerbsbiographien interessant, nämlich für
diejenigen, die - das ist für gebrochene Erwerbsbiographien normal - schon an anderer Stelle Rentenbeiträge
gezahlt, aber noch keine Rentenansprüche erworben haben, weil die Mindestzeiten der Beitragszahlung nicht
eingehalten wurden. Diese Frauen haben sicherlich ein
großes Interesse daran - und auch die Möglichkeit -, in
diese Rentenversicherung einzusteigen.
({28})
Das ist ein Vorteil. Den können sie wählen. Sie können
sich einen Einstieg in eine wirklich eigenständige Absicherung eröffnen.
Ich weiß, daß viele lieber eine Pflichtversicherung
hätten. Ich weiß aber auch, daß diese Pflichtversicherung für viele Frauen nicht günstig wäre, und zwar dann,
wenn es in Zukunft möglicherweise zu einer Senkung
der Ansprüche käme, die sie sich schon erarbeitet haben.
Das ist natürlich ein schwieriges Feld. Deswegen denke
ich, daß dieser erste Schritt, diese freiwillige Option für
Frauen, in diese Arbeitsverhältnisse zu gehen, sinnvoll
ist. Damit erreichen sie in der Tat einen geringen Anstieg ihres Anspruchs auf Altersrente.
Aber das ist, wie Sie schon richtig gesagt haben, nicht
der zentrale Punkt. Der zentrale Punkt ist, daß es ein
Vollpaket mit Rente, Reha-Leistungen sowie BU- und
EU-Leistungen gibt. Das ist ein gutes Angebot.
Sie wissen aber auch, daß die spannende und kontroverse Diskussion in der letzten Zeit insbesondere um die
Steuerfrage ging. Wir haben besonders in diese Steuerfrage unser Herzblut hineingesteckt, weil uns von Anfang an die Ankündigung, daß die Nebenjobs nicht versteuert werden sollen, überhaupt nicht gepaßt hat, und
zwar aus Steuergerechtigkeitsgründen. Wir haben an
dieser Stelle erreicht, daß die Nebenjobs besteuert werden. Es wird so sein, daß Arbeitsverhältnisse zusammengezählt werden. Es wird so sein, daß kleine Arbeitsverhältnisse, also eine Vielzahl von Nebenjobs, zusammengezählt werden. Wir erreichen damit, daß all diejenigen dann - wo immer sie auch arbeiten -, wenn sie in
der Summe ihrer Arbeitsverhältnisse die Grenze der Besteuerbarkeit überschreiten, besteuert werden. Nebenjobs werden besteuert. Das war in der Debatte vom
letzten Herbst hier noch anders angekündigt worden. Wir sehen es als einen großen grünen Erfolg an,
an dieser Stelle eine Ungerechtigkeit verhindert zu haben.
({29})
Dennoch, meine Damen und Herren: Auch wenn wir
erfolgreich in diesem Punkt waren, muß man feststellen,
daß die Regelung zur Besteuerung einen Schönheitsfehler hat. Sie hat den Schönheitsfehler - das sage ich
hier ganz deutlich; da konnten wir uns auch nicht durchsetzen -, daß Ehefrauen ihr Einkommen aus geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen bis 630 DM nicht der
Besteuerung zuführen müssen. Ihr Einkommen wird
nicht der gemeinsamen Besteuerung mit dem Ehepartner
zugerechnet. Das empfinden wir als Ungerechtigkeit.
Das empfinden wir auch als ungut gegenüber anderen
Personengruppen, zum Beispiel gegenüber Alleinerziehenden. Aber ich sage auch: Wir konnten uns hier nicht
durchsetzen. Aber es ist eine Aufforderung an uns, dafür
zu sorgen, daß zum Beispiel das Ehegattensplitting abgeschafft wird.
Alles in allem: Es gibt Schattenseiten, aber die guten
Seiten des Gesetzentwurfs überwiegen. Die Sozialkassen werden gestärkt; der Mißbrauch wird eingeschränkt;
die Rentenoption wird eröffnet, und die Nebenjobs werden besteuert. Wenn ich das alles zusammennehme, muß
ich das Fazit ziehen: Gar nicht schlecht, Herr Specht.
({30})
Das Wort hat nun die
Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von Ihnen haben es selber zugegeben, daß sie in der Steuer- und Sozialpolitik einen Fehlstart hingelegt haben. Einige haben
auch dazu gesagt, daß sie jetzt einmal eine Denkpause
nehmen wollten. Leider - das zeigen die vorliegenden
Seiten - haben Sie diese Denkpause für die 630-MarkVerträge nur dazu genutzt, Regelungen vorzuschlagen,
die aufs höchste verfassungsrechtlich bedenklich sind,
sozialpolitisch nicht zu den Effekten führen, die Sie damit im Auge haben, und arbeitsmarktpolitisch ausgesprochen negativ wirken.
({0})
Sie haben einen Gesetzentwurf zusammengeschustert, der in seiner Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit wirklich nicht zu überbieten ist.
({1})
Es gibt 57 Druckseiten - das muß man sich einmal vorstellen - für die Regulierung der geringfügigen Beschäftigung. Das ist wirklich eine Höchstleistung. Sie
wird zu nichts anderem führen als zu mehr Schwarzarbeit und nichts sonst.
({2})
Es beginnt schon mit dem Festschreiben der Versicherungsfreigrenze. Verbal wollen Sie Arbeitnehmern
und Betrieben die notwendige Flexibilität erhalten. Das
hat schließlich Ihr Kanzler versprochen. Herr Riester hat
es heute morgen wiederholt. Aber tatsächlich frieren Sie
diese Flexibilität ein. Das ist nichts anderes als der Tod
auf Raten für den sich schon heute in einem engen
Rahmen bewegenden Rest an individueller Gestaltung
auf dem Arbeitsmarkt. - Nein, Sie können diese Beschäftigungsverhältnisse nicht abschaffen. Aber Sie
würgen sie ab. Das ist auch so gewollt; denn das ist der
Kompromiß zwischen den Versprechen Ihres Kanzlers
und der Ideologie von Rotgrün.
({3})
Sie vernichten weitere Arbeitsplätze; denn mit der
Zusammenlegung von Haupt- und Nebenbeschäftigung und der Abschaffung der individuellen Freigrenze
wird natürlich das Arbeitsverhältnis auch für den Arbeitgeber teurer.
Daß es Ihnen, meine Damen und Herren, nur um
schlichtes Abkassieren geht, das zeigt doch - Frau Dükkert, da müssen Sie irgend etwas nicht richtig mitbeDr. Thea Dückert
kommen haben -, daß Sie Beiträge von den Arbeitgebern erheben, aber die Arbeitnehmer im Regelfall keinerlei zusätzliche Ansprüche haben.
({4})
Da können Sie auch nicht mit Ihrer etwas schiefen Argumentation kommen, sie seien über die Familienmitversicherung krankenversichert. Bei den Beamten kassieren Sie genauso ab, und die erhalten nichts aus der
gesetzlichen Krankenversicherung. In der Rentenversicherung entstehen regelmäßig keine Ansprüche. Genausowenig wie die ausschließlich geringfügig Beschäftigten, für die Sie Pauschalbeiträge einführen, die vom Arbeitgeber zu zahlen sind, bekommen diejenigen, die eine
Nebenbeschäftigung haben, eine Gegenleistung für diese
Beiträge.
Ich muß schon sagen: Im Abkassieren haben Sie in
den ersten 100 Tagen Ihrer Regierung schon beachtliche
Kreativität entwickelt.
({5})
Darauf muß man ja erst einmal kommen. Ich versuche,
mir vorzustellen, was Sie uns gesagt hätten, wenn wir in
der vergangenen Legislaturperiode an irgendeiner Stelle
eine solche Regelung vorgeschlagen hätten.
({6})
Meine Damen und Herren, Frauenverbände und Gewerkschaften haben Sie damit auch auf die Palme gebracht. Wenn ich mir heute morgen die Fraktion der
Grünen anschaue, frage ich mich, warum eigentlich keine Frauenpolitikerin redet und warum sich die Begeisterung für die Rede der Kollegin Dückert, die sich ja
wirklich große Mühe gegeben hat, sehr in Grenzen hielt.
Das zeigt doch schon, daß Sie mit den vorliegenden Regelungen selber nicht im reinen sind.
Sie sind lautstark ausgezogen, den Sozialversicherungsschutz zu verbessern. Dabei wirkt das schlechte
Gewissen richtig menschlich, das Sie bei Ihrem Pauschalbeitrag plagt; denn nichts anderes hat dazu geführt,
daß Sie die Optionsmöglichkeit erfunden haben. Die beschränkt sich nun allerdings auf die Rentenversicherung,
bei der man dann für 58,60 DM im Monat den Anspruch
auf die Kur, auf die Invalidenversorgung und auf die
spätere Berechnung der Rente nach Mindesteinkommen
erwerben kann. Wir geben zu, daß Sie mit dem Schließen von möglichen Beitragslücken einen richtigen Punkt
zu fassen versucht haben. Aber was sagen Sie eigentlich
der Krankenschwester, die Monat für Monat eine große
Leistung erbringen muß, um einen solchen Versicherungsschutz zu bekommen? Ist das wirklich gerecht?
Entspricht das Ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit
gegenüber den Krankenschwestern und denjenigen, die
sich sehr mühsam durchs Leben schlagen müssen? Ich
kann mir das nicht vorstellen.
({7})
Im übrigen gehe ich davon aus, daß Sie nicht damit
rechnen, später die Veränderungen in der gesetzlichen
Rentenversicherung vornehmen zu müssen, wenn die
Beitragszahler diese zusätzlichen Ansprüche bezahlen
müssen.
Auch im Betriebsverfassungsrecht schrecken Sie
nicht vor Verfassungsverstößen zurück. Sie haben zwar
mühsam eingesehen, daß Sie die ungeliebten 630-DMVerträge nicht verbieten können. Dem steht ja schließlich das Grundrecht auf Berufsfreiheit entgegen. Deshalb verbietet Ihnen Art. 12 des Grundgesetzes aber
auch, den Abschluß dieser Verträge durch die Hintertür
des Betriebsverfassungsgesetzes zu erschweren. Der Arbeitgeber entscheidet auf Grund seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit, die von der Verfassung her
mitbestimmungsfrei ist - das wissen Sie ganz genau -,
in welchem Umfang er solche Verträge anbietet. Der
Arbeitnehmer entscheidet auf Grund seiner Vertragsfreiheit - in gleicher Weise verfassungsrechtlich geschützt -, ob er ein solches Angebot annimmt. Ein Vetorecht des Betriebsrats ist deshalb mit Art. 12 des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren.
({8})
Sie winken da jetzt so ab. Ich bin ganz sicher, daß Ihnen das die Sachverständigen bei der Anhörung noch
sagen werden. Und wir werden ganz bestimmt gerade
darüber bei den Ausschußberatungen noch zu reden haben. Ich hoffe zumindest, daß Sie dieses Mal mit uns eine sachliche Debatte dazu führen und es nicht so wie bei
dem letzten Gesetzentwurf machen, wo auf unsere Fragen von Ihrer Fraktion nicht einmal geantwortet wurde,
geschweige denn irgendein Beitrag zur Auflösung von
Widersprüchlichkeiten geliefert wurde. Ich bitte darum,
auf unsere Fragen doch ein wenig mehr Antwort zu geben.
Kommen wir zum Steuerrecht. Sie wollen schließlich das Wort Ihres Kanzlers einhalten und die 630-DMVerträge von der Lohnsteuer ausnehmen. Dies muß
mißlingen. Ihr Entwurf zeigt das auch. Es ist wirklich
Krampf, was Sie dazu in Ihren Gesetzentwurf hineingeschrieben haben. In Ihrer Ausschlußklausel steht: Wenn
zu den 630 DM weitere Einkünfte kommen, gleichgültig
in welcher Höhe und woher, fällt die Lohnsteuerfreiheit
wieder weg.
Schauen wir uns doch einmal an, welche Einkünfte
das sein können: Zinseinnahmen aus Bausparverträgen Lohnsteuerfreiheit weg; Einnahmen aus Vermietung und
Verpachtung des selbstgenutzten Eigenheims - Lohnsteuerfreiheit weg. Für diesen Teil des Gesetzentwurfes
trägt niemand sonst die politische Verantwortung als Ihr
Spitzenmann, der SPD-Vorsitzende und Finanzminister
Oskar Lafontaine.
Das Nächste ist nun wirklich ein tolles Stück - ich
bin deswegen ganz sicher, daß Sie sich auch das noch
einmal anschauen müssen -: Nach Ihrem Vorschlag
bleibt die verheiratete Arbeitnehmerin mit einem 630DM-Vertrag ohne eigenes Haus, ohne Bausparvertrag für diese Arbeitnehmerin leistet im übrigen der Ehemann Unterhalt - lohnsteuerfrei. Die geschiedene Arbeitnehmerin, der der Exehemann wegen Kindererziehung Unterhalt zahlen muß, hat dadurch weitere Einkünfte. Sie wird mit ihren 630 DM lohnsteuerpflichtig.
Halten Sie das eigentlich für gerecht? Halten Sie das für
eine von irgend jemandem überhaupt noch nachvollziehbare Regelung?
({9})
Stellen Sie sich vor, meine Partei hätte eine solche
Klausel vorgeschlagen. Sie hätten uns sofort die Privilegierung der Millionärsgattin und die Bestrafung der Arbeiterfrau unterstellt.
({10})
Aber Sie wischen das alles mit einer Handbewegung so
weg. Diese Regelungen werden die von Ihnen so gelobte
Steuerfreiheit zu einem Märchen werden lassen.
({11})
Dies wird keine Brücke zurück in den Arbeitsmarkt für
Frauen nach der Erziehungsphase. Denn wer sollte solche Arbeitsplätze noch anbieten? Außer einem Großbetrieb verfügt wirklich niemand über die personellen Kapazitäten, um Ihre komplizierten Regelungen umzusetzen. Sie führen die Frauen hinters Licht.
({12})
Sie sind in dieser Legislaturperiode mit dem Willen
und dem Versprechen angetreten, Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Aber Ordnung um welchen
Preis? Um den Preis der Todregulierung des letzten bißchen Flexibilität, das es bis heute überhaupt noch gegeben hat.
({13})
Sie haben so eine Art unglückliche Liebe zu dem Begriff der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Sie kennen
Flexibilität und Transparenz nur in den Reden Ihres Arbeitsministers, aber nicht wirklich in Ihren Regeln.
({14})
Ziehen Sie deshalb die notwendige Konsequenz, und
verzichten Sie auf dieses Gesetz! Es ist nicht frauenfreundlich, es führt in die Schwarzarbeit, und deswegen
ist es überflüssig.
({15})
Auch Ihre eigenen Wähler würden Ihnen den Abschied von diesem Gesetz sicherlich danken. Sie schikken nämlich Kopien der Protestschreiben, die an Sie gehen, auch an uns. Nachdem Sie die Handelsvertreter und
die übrigen Selbständigen schon bisher mit Ihren Gesetzgebungskünsten auf die Palme gebracht haben, kriegen wir jetzt auch noch die Briefe all derer aus den Gewerkschaften, die diese Ihre Regelungen nicht haben
wollen.
({16})
Diese Briefflut hat die Opposition nun wirklich nicht
verdient.
({17})
Eine Anhörung zu Ihrem Meisterwerk werden wir Ihnen natürlich nicht ersparen. Über die Bewertung durch
unabhängige Sachverständige sollten Sie sich keine Illusionen machen. Deswegen appelliere ich schon heute an
Sie: Entwickeln Sie die Fähigkeit zur Selbstkritik!
Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort hat Kollegin Knake-Werner, PDS-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin
Schwaetzer, mit der Fähigkeit zur Selbstkritik ist das ja
immer so eine Sache. Ich hätte mir in den letzten 16 Jahren auch einmal eine so engagierte Rede von Ihnen gewünscht, wie Sie sie jetzt als Vertreterin einer Oppositionspartei vortragen. Wenn Sie hier gegen das Abkassieren wettern, dann haben Sie wohl schon wieder vergessen, wo Sie in den letzten Jahren hingelangt haben
und bei wem Sie in die Taschen gegriffen haben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Tendenz steigend“
war seit vielen Jahren die Prognose für die Entwicklung
geringfügiger Beschäftigung. Was einstmals als Ausnahme gedacht war, ist zur Regel geworden. Wer hier
Mißbrauch betrieben hat, ist ziemlich eindeutig: Das waren die Arbeitgeber, die immer hemmungsloser und
schamloser sowie zum Teil mißbräuchlich die Möglichkeit versicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse genutzt haben. Auch das will ich wegen des Kurzzeitgedächtnisses der alten Bundesregierung sagen: Sie haben
dabei nicht selten Schmiere gestanden.
Ich will nur ein Gesetz nennen, das dazu beigetragen
hat, daß Zehntausende versicherungspflichtige in versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt
wurden: Das war das Ladenschlußgesetz, das zu einer
unsäglichen und völlig überflüssigen Ausweitung der
Ladenöffnungszeiten geführt hat.
({1})
Sie hat bewirkt, daß heute in manchen Drogeriemärkten
und -ketten bis zu 70 Prozent der Beschäftigten in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, das heißt: versicherungsfrei, arbeiten.
Nun liegt der Gesetzentwurf der neuen Regierung
vor. Nach dem peinlichen Schnellschuß des Bundeskanzlers vom November ist Ihnen leider weder sozialpolitisch noch frauenpolitisch der große Wurf gelungen.
Ich denke, Sie haben kaum eines der im Zusammenhang
mit geringfügiger Beschäftigung anstehenden Probleme
gelöst. Ich finde, daß hier - das bedauere ich sehr - eine
wichtige Chance zu grundlegenden Veränderungen vertan worden ist. Es ist Ihnen weder gelungen, die Solidargemeinschaft insgesamt zu stärken, noch ist es Ihnen
gelungen, auf die Lebenssituation der Frauen wirklich
einzugehen.
Wir von der Linken hier im Hause waren uns doch in
den letzten Jahren völlig einig darin, daß geringfügige
Beschäftigung ein Problem ist, das vor allen Dingen
Frauen betrifft, da ihnen Arbeitsverhältnisse zugemutet
werden, die keinen sozialen Schutz bieten, bei denen sie
dem Heuern und Feuern ausgesetzt sind und mit dem
Druck der Altersarmut leben müssen. Das wollten wir
verändern. Nach unseren Vorstellungen sollte diesen
Frauen mehr soziale und arbeitsrechtliche Sicherheit gegeben werden. Dafür haben wir ja übrigens auch gemeinsam in Bündnissen mit Gewerkschafterinnen und
Vertreterinnen der Kirchen, mit dem Frauenrat und anderen gestritten. Dieses sollte der Kernpunkt einer neuen
gesetzlichen Regelung sein. Deshalb haben auch wir von
der PDS schon sehr frühzeitig gefordert, daß jede bezahlte Arbeitsstunde versicherungspflichtig gemacht
wird, für sie also Beiträge in die Sozialkassen zu zahlen
sind.
Wenn diese Beiträge von den Arbeitgebern nun in die
Sozialkassen gezahlt werden, dann ist das ein guter
Schritt. Wenn daraus aber keine Leistungen resultieren,
dann ist dieser Schritt doch viel zu kurz und halbherzig
und verstößt außerdem gegen den Gleichheitsgrundsatz.
Ich weiß nicht, wie Sie damit zum Beispiel vor dem
Bundesverfassungsgericht bestehen wollen.
Eines muß man deutlich sagen: Angesichts des von
mir gerade beschriebenen vorrangigen Ziels, geringfügige Beschäftigung im Interesse von Frauen zu regeln,
sind wir damit keinen Schritt vorangekommen.
({2})
Natürlich ist es richtig, daß mit dem vorgelegten Gesetzentwurf durch die Beitragspflicht zur Renten- und
Krankenversicherung die Flucht der Arbeitgeber aus
dem sozialen Sicherungssystem endlich eingedämmt
wird und die Chance besteht, die Finanzgrundlagen der
Sozialkassen zu stabilisieren. Das erfreut mein Herz als
Sozialpolitikerin. Für mich aber bleibt die zentrale Frage: Was haben die betroffenen Frauen von diesem Gesetz?
Es ist ein bißchen haarspalterisch, Frau Dückert,
wenn hier gesagt wird, diese Frauen müßten gar nichts
bezahlen. Das ist doch Unsinn. Wenn sie Leistungen haben wollen, dann müssen sie auch bezahlen, und zwar
einen Beitrag in Höhe von knapp 50 DM. Und ich muß
schon sagen: Bei 630 DM Einkommen sind 50 DM einfach unzumutbar. Ich kann nicht verstehen, warum Sie
diesen Schritt nicht konsequent vollziehen. Wenn Sie
schon die paritätische Finanzierung des Sozialsystems
an dieser Stelle durchbrechen, warum tun Sie das dann
nicht komplett? Warum zahlen die Arbeitgeber nicht,
wie es im Gesetzentwurf der Gruppe der PDS aus der
letzten Legislaturperiode enthalten war, bis zur Höhe
des Existenzminimums beide Beitragsanteile? Das begreife ich nicht. Hier sollten Sie wirklich konsequent
sein.
In der Tat ist der Grund für Ihr Vorgehen bezüglich
der Krankenversicherung, das Solidarprinzip durch die
Beiträge der Arbeitgeber weiter zu stärken. Sie halten
damit an der Vorstellung fest, daß Frauen grundsätzlich
durch zweite Hand versichert sind, ein Prinzip, von dem
man sich aus frauenpolitischer Sicht endlich verabschieden muß.
({3})
Ein Drittes - das ist mir besonders wichtig -: keine
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Das ist für
mich völlig unverständlich, weil damit die geringfügig
Beschäftigten weiterhin von arbeitspolitischen Maßnahmen ausgeschlossen werden, von Fortbildung und
Umschulung. Hier wäre eine Brücke zum Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt gegeben und auch die Chance
auf existenzsichernde Beschäftigung in der Zukunft.
({4})
Insgesamt glaube ich, daß, was die frauenpolitische
Seite angeht, in diesem Gesetzentwurf eine Menge von
Leerstellen bleibt. Ich glaube, es gibt noch viel zu tun.
Nun zur Steuerseite. Sie wollen die geringfügige Beschäftigung grundsätzlich steuerfrei stellen, wenn dies
die einzige Einnahmequelle ist; das finde ich gut. Außerdem wollen Sie die Einkünfte aus Nebenjobs besteuern; auch das halte ich für gut und längst überfällig.
Frau Dückert, bei Ehefrauen, egal wie hoch die Einkünfte ihrer Männer sind, soll das Einkommen aus der
geringfügigen Beschäftigung steuerfrei bleiben. Ich finde dies richtig, und zwar deshalb, weil dies endlich nicht
mehr das Klischee der Ehefrau als Zuverdienerin bedient
und weil damit ein Schritt dahin gemacht wird, die traditionellen Rollenmuster aufzubrechen. Natürlich weiß
ich, daß dies dazu führen kann, daß einige Frauen dann
ein nettes Taschengeld haben werden. Für die allermeisten Frauen aber wird dies ein Schritt zu mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sein. Das müssen wir
fördern; wir unterstützen dies. Dazu gehört aber auch,
daß Sie sich zur Lösung des Problems des Ehegattensplittings - erst dann ist dies konsequent - durchringen.
({5})
Die gleiche Bezahlung von geringfügiger Beschäftigung in Ost und West endlich durchgesetzt zu haben
halten wir unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung
der Frauen für richtig. Wir unterstützen dies; denn es
war den Frauen in Ostdeutschland nicht mehr zu erklären - sie empfanden es als Demütigung -, warum sie
100 DM weniger bekommen sollten.
Aber unter beschäftigungspolitischen Aspekten ist es
in der Tat ein riesengroßes Problem. Durch die geringeren Tarifeinkommen in Ostdeutschland entsteht nämlich
die Situation, daß sich viele Frauen, die heute teilzeitoder noch vollzeitbeschäftigt sind, überlegen werden, ob
sie nicht mehr Geld in der Tasche haben, wenn sie auf
eine geringfügige Beschäftigung ausweichen. Darin liegt
für die Arbeitgeber die Chance, daß die Akzeptanz der
geringfügigen Beschäftigung erhöht wird. Das ist eine
fatale Entwicklung für die Frauen und für die Sozialkassen.
Für die Arbeitgeber ist es im wesentlichen ein Nullsummenspiel. Die einzige Änderung für sie ist, daß sie
in Zukunft die Pauschalsteuer, wie sie es in der Vergangenheit nicht selten gemacht haben, nun nicht mehr
auf die abhängig Beschäftigten abwälzen können. Die
Versicherungsbeiträge müssen sie tatsächlich zahlen.
Aber trotzdem bringt den Arbeitgebern diese Regelung erhebliche Vorteile. Geringfügige Beschäftigung ist
immer noch billiger als sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung. Viele Leistungen, die auch den geringfügig Beschäftigten auf Grund tarifvertraglicher und gesetzlicher Regelungen zustehen, werden ihnen die Arbeitgeber weiterhin vorenthalten können. Das gilt zum
Beispiel für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, für
das Urlaubsgeld, für das Weihnachtsgeld und natürlich
auch für den Kündigungsschutz. Das finde ich bedauerlich. Die Arbeitgeber werden jede Chance nutzen, diese
Vorteile in Anspruch zu nehmen. Daher glaube ich, daß
sie sich nur zum Schein beklagen. In Wirklichkeit ist es
die Lösung, die ihnen am meisten entgegenkommt.
Zum Schluß noch eine Bemerkung. Gerade im Jahr
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hätte die Bundesregierung mit einem beherzteren Gesetzentwurf zur Eindämmung geringfügiger Beschäftigung durchaus Punkte
sammeln können. Auch diese Chance hat sie leider verpaßt. Die Bundesrepublik Deutschland ist inzwischen
neben Großbritannien das einzige Land in Europa, das
sich noch diese Art von versicherungsfreier Beschäftigung in diesen Größenordnungen leistet. Dies nur zu
dem immer wieder bemühten Argument von der Wettbewerbsfähigkeit.
Die Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbundes,
Professor Ursula Nelles, stellt fest: Dieses Gesetz ist
nicht nur ein frauenpolitisches Ärgernis, sondern auch
ein Verstoß gegen das europäische Gleichbehandlungsrecht. Ich denke, sie hat recht. Liebe Kolleginnen
- das sage ich ganz bewußt -, es ist noch Zeit, uns gemeinsam darauf zu besinnen, solche Peinlichkeiten in
der Zukunft zu vermeiden.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat nun die
Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Als Neue muß ich
gleich am Anfang feststellen: Die Opposition hört nicht
richtig zu und kann auch nicht richtig addieren.
({0})
- Das ist sehr schön, Herr Schäuble. Ich danke Ihnen
schon im voraus.
({1})
Ich werde es Ihnen als Neue einfach machen, meine
Rede zu verfolgen und zu verstehen.
Mit unserem Gesetzentwurf legen wir zu einem weiteren, seit Jahren nicht gelösten Problem ein Reformprogramm vor. Der Bundesminister für Arbeit hat schon
darauf hingewiesen: Innerhalb von fünf Jahren hat sich
die Zahl der geringfügig Beschäftigten um 1,1 Millionen
erhöht. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist aber um 2 Millionen zurückgegangen.
16 Jahre lang war die alte Regierung nicht in der Lage, diesen Mißstand auf dem Arbeitsmarkt aufzugreifen
und zu beseitigen.
({2})
Wenn ich an die F.D.P. denke, glaube ich, daß einige
von Ihnen das auch gar nicht wollten.
({3})
Sicherlich ist dies ein Grund, warum Sie jetzt dort sitzen, wo Sie sitzen, nämlich auf der Oppositionsbank.
Unser Gesetz ist ein weiterer Baustein in unserem
Bemühen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die
versicherungspflichtigen Arbeitsplätze zu erhalten; denn
was eine Ausnahme von der Regel sein sollte, entwikkelte sich zu einer Ursache für den Wegfall von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen.
Von den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen
sind in allererster Linie Frauen betroffen. Der Anteil geringfügig beschäftigter Frauen in Westdeutschland
hat in den letzten zehn Jahren um 74 Prozent und in
Ostdeutschland in den letzten fünf Jahren um 75 Prozent zugenommen. Allein in Sachsen-Anhalt - von dort
komme ich - sind 84 Prozent der geringfügig Beschäftigten Frauen. Ähnlich sieht es in den anderen ostdeutschen Ländern aus. Auch in den westdeutschen Ländern
liegen die Zahlen noch bei über 70 Prozent.
Frauen wollen arbeiten, wollen nicht ausgegrenzt
werden und möchten auch gehört werden. Sie möchten
aber nicht nur in diesen Billigjobformen beschäftigt
sein. Sie wollen vor allen Dingen - das möchte ich noch
einmal klarstellen - Vollzeitjobs haben.
({4})
Der eine oder andere behauptet ja, Frauen möchten
die „drei Ks“ in Anspruch nehmen. Ich glaube, das ist
nicht so. Nur 7 Prozent aller geringfügig beschäftigten
Frauen üben diese Tätigkeit länger als 10 Jahre aus.
20 Prozent sehen darin eine Chance für den beruflichen
Wiedereinstieg. 22 Prozent dieser Frauen fehlt einfach
die berufliche Alternative. Die meisten von ihnen sind
jedoch auf dieses Einkommen angewiesen, und damit
sind sie auch erpreßbar.
Mit unserem Gesetz wird klargestellt: Auch 630-DMJobs sind Arbeitsverhältnisse, für die Regeln gelten
müssen. Diese Regeln bestehen ja auch schon, wie richtig erkannt wurde. Geringfügig Beschäftigte haben Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlten
Urlaub, Kündigungsschutz und andere Arbeitnehmerrechte. Aber - das ist das Neue - künftig müssen die
Arbeitgeber darauf hinweisen und die Beschäftigten
über ihre Rechte informieren; denn sonst werden sie regreßpflichtig gemacht. Das war bis jetzt nicht der Fall.
({5})
Eine der für mich wichtigsten Änderungen - das muß
ich wirklich einmal klarstellen; denn das, was hier
manchmal dazu gesagt wird, finde ich schon eigenartig betrifft die Rentenversicherung: Frauen und Männern
wird die Möglichkeit eingeräumt, durch Zuzahlung in
die Rentenversicherung, und zwar in Höhe von 7,5 Prozent, einen Rentenanspruch zu erwerben.
Herr Dr. Kues, hören Sie bitte noch einmal zu: Natürlich ist uns bewußt, daß 6,78 DM Rente im Monat für
ein Jahr Arbeit bei einem Monatseinkommen von 630
DM nicht viel ist. Allerdings beträgt der Eigenanteil
auch nur 47,25 DM. Jetzt könnten Sie natürlich wieder
etwas einwerfen. Aber dann müßte ich Ihnen sagen, daß
Sie - Sie hatten ja am 19. Januar einen Gesetzentwurf
eingebracht - die Ziffer 5 Ihres eigenen Gesetzentwurfes
wahrscheinlich nicht kennen bzw. überflogen haben.
Darin heißt es, daß Sie die gesetzliche Rentenversicherung auf die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
ausdehnen wollen. Genau dies geschieht mit den 6,78
DM, die wir als Option einführen. Ich verstehe daher die
Diskussion nicht.
({6})
Trotz der vielleicht geringen Höhe des erworbenen
Rentenanspruchs ist dies ein wichtiger Schritt. Vor allem werden damit die Lücken in der Rentenbiographie
geschlossen. Das ist gerade für Frauen, die nach der
Wende oft aus der Beschäftigung herausgefallen sind,
sich in der Sozialhilfe befinden und keinen Rentenanspruch in dieser Zeit erwerben, wichtig. Ich bitte also,
darüber nachzudenken - auch die liebe PDS.
Zudem sollte man sich nicht nur auf die absoluten
Zahlen konzentrieren. Wir müssen auch sehen, daß
durch den Erwerb von Rentenansprüchen damit zusammenhängende Ansprüche geschaffen werden: volle Berücksichtigung bei den Wartezeiten, Entgeltpunktberechnung, Rehabilitation - ganz wichtig -, Rente nach
Mindesteinkommen, Schutz vor Berufsunfähigkeit
und Erwerbsunfähigkeit, vorgezogene Altersgrenzen.
Alles zusammen trägt dazu bei, daß die sozial- und
arbeitsrechtliche Lage der geringfügig Beschäftigten
verbessert wird; denn oft werden sie ja als Ausputzer
und intelligenzgeminderte Menschen dargestellt, die
keine Ahnung von dem haben, was sie eigentlich machen. Diese Diskriminierung dürfen wir nicht unbeachtet
lassen.
({7})
Für mich gehen Frauen aus dieser Gesetzgebung sozial gestärkt hervor. Die bisher häufig zu beobachtende
Ausnutzung der geringfügig Beschäftigten, die auf diesen Verdienst angewiesen sind, wird gestoppt. Schutzrechte werden ihnen nicht länger vorenthalten.
Unser Gesetz ist zugleich auch ein wichtiges Instrument zum Erhalt von Arbeitsplätzen. Wir erwarten, daß
damit die zunehmende Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zu Lasten von Voll- und Teilzeitarbeitsplätzen eingedämmt wird. Besonders in Ostdeutschland wurden aus sogenannten Kostenersparnisgründen - das müßte besonders die F.D.P. wissen - Arbeitsverhältnisse in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt. Zudem sind mehrere tausend Arbeitsplätze verlorengegangen. Jetzt läuft auch noch das
ABM-Wahlgeschenk aus. Ich möchte da aus meinem
Wahlkreis Sangerhausen/Mansfelder Land eine Zahl
nennen: Wir sind jetzt wieder bei 24,1 Prozent Arbeitslosen. Wahlversprechungen sollten gehalten werden,
aber Sie konnten es nicht.
Die erhebliche Umwandlung in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ist mit eine Folge der Umstrukturierung der Wirtschaft in den neuen Ländern und
hängt natürlich auch mit der Strukturverschiebung hin
zum Dienstleistungsgewerbe zusammen. Das mag mit
eine Erklärung sein. Nichtsdestotrotz sind Arbeitslosenzahlen von bis zu 25 und 30 Prozent in vielen Regionen
der neuen Länder alarmierend. Dort können wir keine
geringfügige Beschäftigung brauchen, sondern dort benötigen wir Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätze.
Wir rechnen damit, daß unser Gesetz die Ausweitung
des Mißbrauchs der 630-DM-Jobs eindämmen wird;
denn die Arbeitgeber müssen künftig steuerfrei gezahlte
Löhne auf den Lohnsteuerkarten der geringfügig Beschäftigten eintragen. Dadurch wird eine bessere Kontrolle möglich.
Hat ein Arbeitnehmer mehrere solcher Jobs, werden
sie auf der Lohnsteuerkarte zusammengerechnet, entsprechend behandelt und nach den allgemeinen steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen
abgewogen. So verlieren sie ein Stückchen an Attraktivität, und Angebot und Nachfrage sinken. Zugleich wird
dafür gesorgt, daß die Arbeitsstunden für den Arbeitgeber nicht mehr unterschiedliche Kosten verursachen.
Außerdem wird mit unserem Gesetz ein weiteres Ziel
der Bundesregierung erreicht, nämlich der Erosion der
Finanzgrundlagen der beitragsfinanzierten Sozialversicherungen entgegenzuwirken. Die Aufsplittung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse hat beiden Sozialversicherungssystemen Milliardenbeträge entzogen.
Unser Gesetzentwurf wird dazu führen, daß diesen Versicherungssystemen noch in diesem Jahr 3,4 Milliarden
DM zugeführt werden.
({8})
- Das wird so sein, Frau Schwaetzer.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, lassen
Sie mich in diesem Zusammenhang fragen: Welche
Wirklichkeit nehmen Sie eigentlich noch wahr, wenn
Sie der Meinung sind - ich zitiere aus dem von Ihnen
vorliegenden Antrag -:
Aufgrund des enormen Kostendrucks, dem sich
viele Unternehmen und Selbständige gegenüberseSilvia Schmidt ({9})
hen, besteht die Gefahr, daß künftig zunehmend sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse
umgewandelt werden und damit die Finanzgrundlage der sozialen Sicherungssysteme erodiert.
Richtig, meine Damen und Herren von der Opposition, aber diese Tendenz besteht schon seit Jahren, und
Sie haben 16 Jahre lang nicht gehandelt. Was soll das also?
({10})
Da kann ich wirklich nur noch sagen: Wer zu spät
kommt, den bestraft der Wähler.
Zum Schluß möchte ich nochmals betonen: Unser
Gesetzentwurf ist ein erheblicher sozialpolitischer Fortschritt. Nicht alle wünschenswerten Forderungen werden erfüllt. Das kann aber bei der Komplexität dieses
Themas auch nicht gewährleistet werden. Wichtig für
die SPD-Fraktion ist: Geringfügige Beschäftigungen
werden zu ordentlichen Arbeitsverhältnissen entwickelt,
die den Arbeitnehmern ihre Rechte zusichern.
Ich danke Ihnen.
({11})
Dies war die erste
Rede der Kollegin Schmidt. Meine herzliche Gratulation.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Julius Louven,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Am 19. November
letzten Jahres hat von diesem Pult aus mit tragender
Stimme und gequältem Gesicht der Bundeskanzler eine
dritte Variante zur Lösung der 630-Mark-Verträge vorgetragen. Ich habe ihm damals geantwortet und gesagt,
ihm sei sein telegenes Lächeln inzwischen vergangen,
weil er sich wohl nicht vorstellen konnte, wie schwierig
die Problemlösung in diesem Bereich ist.
Wäre der Bundeskanzler heute hier, dann würde ich
ihm sagen: Mit der Variante vier machen Sie sich nun
restlos lächerlich.
({0})
Wenn Sie, Herr Minister, und die Redner der Regierungskoalition meinen, wir hätten dieses Problem nicht
gelöst, so ist dies richtig.
({1})
Aber Sie haben ja in der letzten Legislaturperiode zu
diesem Bereich einen Gesetzentwurf vorgelegt, den Sie
heute am liebsten totschweigen würden. Denn der war
so unmöglich, daß Sie heute davon nichts mehr wissen
wollen.
({2})
Wir in der alten Koalition, Herr Gilges, waren uns
immerhin einig. Dies haben wir am 11. Dezember 1997
in einer Entschließung zum Ausdruck gebracht, in der es
hieß:
Für schutzwürdige Personen muß ein ausreichender
Versicherungsschutz sichergestellt werden.
Genau dies war immer Ihr Anliegen. Ich könnte Ihnen
jetzt eine ganze Reihe entsprechender Zitate zum Beispiel von Frau Buntenbach,
({3})
von Frau Onur, von den Kolleginnen Lotz und Schmidt
und von Ottmar Schreiner vorlesen, der uns in seiner
bekannt liebenswürdigen Art seinerzeit vorwarf, wir seien Sozialbanausen, weil wir diese Menschen ohne Versicherungsschutz ließen.
({4})
Ich könnte jetzt Zitate von Ihnen nennen, die den
Umfang von 14 DIN-A4-Seiten erreichen würden, in
denen Sie gefordert haben, was auch wir sagten:
Für schutzwürdige Personen muß ein ausreichender
Versicherungsschutz sichergestellt werden.
({5})
Gerd Andres, inzwischen Parlamentarischer Staatssekretär beim Arbeitsminister, hat am 1. Oktober 1997
hier in einer Rede anläßlich einer Debatte zu diesem
Problembereich mit der Aussage begonnen, „das Motto
Mittendrin und trotzdem draußen“ beschreibe das Problem sehr genau. So Gerd Andres. Er führte weiterhin
aus:
Jedes dieser Beschäftigungsverhältnisse muß sozialversicherungspflichtig sein. Das ist die richtige
Logik in unserem System.
Er rief uns zu:
Warum stopfen Sie dieses Loch nicht? Warum tun
Sie nichts?
({6})
Daraufhin habe ich genau heute vor einem Jahr ein
Papier dazu vorgelegt, wie ich mir die Lösung des Problems vorstellen könne. Ich habe mich dabei auch auf
die Einlassungen von Gerd Andres bezogen. Für mich
waren fünf Punkte wichtig. Ich habe sie am 19. November 1998 genannt. Ich will sie heute wiederholen:
Erstens. Der flexible Zugriff auf Arbeitnehmer, die ad
hoc bereit sind, auch zu unpopulären Arbeitszeiten tätig
zu werden, muß möglich bleiben.
Sylvia Schmidt ({7})
Zweitens. Die Arbeitsverhältnisse dürfen sich nicht
wesentlich verteuern - weder für die Arbeitnehmer noch
für die Arbeitgeber.
Drittens. Der Einstieg in eine normale Teilzeitbeschäftigung, die jetzt an der sogenannten 630-MarkMauer endet, muß mit einer Neuregelung erleichtert
werden.
Viertens. Wir müssen alles vermeiden, was Arbeitnehmer und Arbeitgeber in die Illegalität treibt.
Fünftens. Wir brauchen Regelungen, die einfach und
handhabbar sind.
({8})
Im Ausschuß hat Gerd Andres im Januar dieses Jahres erklärt, daß man sich auf dieser Basis, also auf der
Basis meines Papiers, sofort einigen könne. Sogar die
Deutsche Angestellten-Gewerkschaft hat sich positiv
geäußert, Lutz Freitag sogar fast überschwenglich.
In der Aktuellen Stunde vom 19. November des letzten Jahres hat Ihr Fraktionsvorsitzender Struck auf
Grund meiner Einlassungen gesagt, daß er es begrüße,
daß wir uns in der CDU/CSU von der F.D.P. freigeschwommen hätten, und er darauf vertraue, auf Grund
meiner fünf Punkte eine Regelung mit breiter Mehrheit
im Bundestag beschließen zu können.
Nun, meine Damen und Herren von der SPD und dem
Bündnis 90/Die Grünen, Ihr Gesetzentwurf: Er ist ein
absoluter Flop, Herr Minister.
({9})
Nicht nur - o Graus -, daß er 57 Seiten umfaßt. Er ist
vielmehr auch inhaltlich eine Katastrophe. Lieber Gerd
Andres, lieber Minister Riester, beide sind Sie führend
in Gewerkschaften tätig gewesen. Mit Ihren Gewerkschaften, den Kirchen, den Frauenverbänden und vielen
anderen haben Sie immer den Standpunkt vertreten, die
hier beschäftigten Menschen bräuchten eine soziale Absicherung. Nun legen Sie einen solchen Gesetzentwurf
vor. Schämen Sie sich nicht, Herr Minister?
({10})
Sie sprechen hier davon, dies sei sozial ausgewogen.
Sagen Sie doch einmal nach draußen, was daran sozial
ausgewogen ist!
({11})
Ich frage mich auch, wo der Aufschrei der von mir
angesprochenen Verbände bleibt. Sie müssen diesen
wohl eine Schlaftablette verpaßt haben. Anders kann ich
mir deren Verhalten - die Tatsache, daß sie ruhig sind nicht erklären.
Die Arbeitgeber haben künftig Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen; Leistungsansprüche können die
betroffenen Arbeitnehmer aber nur durch zusätzliche
freiwillige Beiträge erwerben. Meine Damen und Herren, dies ist doch nun wirklich ein Witz! Ich habe mir
nie vorstellen können, daß deutsche Sozialdemokraten
so einen Nonsens vorlegen können.
({12})
Auch die steuerlichen Regelungen schreien zum
Himmel; die Kollegin Schwaetzer hat dies deutlich gemacht. Sie haben doch genügend Verfassungsrechtler in
Ihren Reihen, um zu erkennen, daß diese Regelungen
nicht haltbar sind. Und man sieht es den gequälten Gesichtsausdrücken der Kolleginnen und Kollegen hier ja
auch an.
({13})
Im übrigen wundere ich mich darüber, daß sich all die,
von denen ich Kritisches zitieren könnte - auch von Ihnen, Frau Onur -, heute so ruhig verhalten.
({14})
Es ist schon eigenartig. Sie schreiben in die Begründung zum Gesetzentwurf - das muß man sich wirklich
auf der Zunge zergehen lassen -:
Bei verheirateten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibt es auch dann bei der Steuerfreiheit,
wenn der andere Ehegatte eigene Einkünfte erzielt.
Bei anderen wird einfach zusammengerechnet.
Diesen Sachverhalt garnieren Sie mit der Klammerbemerkung „Brücke zur Rückkehr in das Arbeitsleben“.
Herr Minister - Sie haben das auch erwähnt -, erläutern
Sie doch einmal, worin die „Brücke zur Rückkehr in das
Arbeitsleben“ hier besteht!
({15})
Eine Brücke zur Rückkehr in normale Beschäftigungsverhältnisse gibt es nur - dies ist meine feste Überzeugung -, wenn wir die 630-Mark-Mauer, wo die geringfügige Beschäftigung derzeit endet, überwinden. Dazu
habe ich Vorschläge gemacht.
Darüber hinaus muß man sich einmal anschauen, wie
Sie von der Regierungskoalition dies alles kontrollieren
wollen, welche bürokratischen Regeln Sie installieren.
Angesichts dessen tun mir insbesondere die Arbeitgeber
bei den kleinen und mittelständischen Betriebe leid, die
dem ausgesetzt sind - typisch SPD!
({16})
Selbst die Gemeinden müssen Sie - es ist nicht zu glauben - verpflichten, kontrollierend tätig zu werden.
Mit dem Art. 10 dieses Gesetzes ändern Sie das Betriebsverfassungsgesetz dahin gehend, daß sie den Betriebsräten in dieser Frage ein Mitspracherecht geben.
Wenn das Verhältnis von sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsverhältnissen und solchen mit einer geringfügigen Beschäftigung unausgewogen ist, kann der Betriebsrat seine Zustimmung verweigern. Was heißt
denn „unausgewogen“? Das ist ein unbestimmter
Rechtsbegriff. Wenn man sich nicht einigt, sollen die
Arbeitsgerichte die Frage der Unausgewogenheit entscheiden.
Nun stellen Sie sich das einmal in der Praxis vor: Ein
Großgastronom mit 30 Beschäftigten hat an einem Wochenende eine große Gesellschaft zu bewirten. Er kann
dies nur mit zusätzlich 20 oder 30 geringfügig Beschäftigten bewältigen. Der Gastronom muß dafür den Betriebsrat fragen. Der Betriebsrat sagt nein. Dann müßte
der Gastronom zum Arbeitsgericht, um klären zu lassen,
was in diesem Fall „ausgewogen“ heißt. Bis entschieden
ist, ist die Veranstaltung natürlich vorbei bzw. sie hat
gar nicht stattgefunden.
({17})
Der Betriebsfrieden ist gestört, die mittelständige Wirtschaft geschädigt. So wollen Sie den Mittelstand fördern!
({18})
Geschmunzelt habe ich auch bei dem Art. 16 dieses
Gesetzes. Er besagt, daß die Bundesregierung bis zum
31. März 2003 über die Auswirkungen dieses Gesetzes
berichten muß. Dieses Datum wurde sicher aus wohlerwogenen Gründen gewählt: nach der nächsten Bundestagswahl.
Ziel Ihres Gesetzentwurfes ist - so heißt es unter
Spiegelstrich fünf der Zielbeschreibung - „mittelfristig
die Ausweitung dieser Beschäftigungsverhältnisse einzudämmen“. Das Gegenteil wird der Fall sein. Unter
Spiegelstrich sechs führen Sie als Ziel an, „Ausweichreaktionen in den Bereich der Schwarzarbeit ... zu verhindern“. Das Gegenteil wird der Fall sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den
Regierungsfraktionen, Ihre Parteifreundin Heide Simonis, die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin, hat
sich im „Handelsblatt“ in dieser Woche von dem Gesetzentwurf distanziert. Sie bezeichnet ihn als mehr als
unglücklich. Der rheinland-pfälzische Arbeitsminister
Florian Gerster - ebenfalls Ihr Parteifreund - äußerte
sich ähnlich scharf.
Die Arbeitgeber, die zunächst nach den Äußerungen
des Bundeskanzlers vom 19. November nicht unzufrieden waren, weil eine Verteuerung dieser Arbeitsverhältnisse für sie nicht erfolgte, sind inzwischen besorgt, wegen der Kompliziertheit des Gesetzes sogar entsetzt. Das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung spricht von
Stückwerk, und die Gewerkschaften schweigen, weil sie
wohl schweigen müssen.
({19})
Dies alles darf Sie doch nicht unberührt lassen, meine
Damen und Herren. Ich stelle mir vor, wir hätten ein
solches Gesetz vorgelegt. Welches Szenario hätten Sie
dann wohl veranstaltet?
({20})
Verlieren Sie, meine Damen und Herren, nicht Ihr
Gesicht und Ihre Glaubwürdigkeit! Ziehen Sie diesen
Murks zurück!
({21})
Ihre Regierungserklärung haben Sie überschrieben mit:
Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen. - Ich denke, die
Deutschen vertrauten auf Ihre Vernunft - bisher allerdings in vielen Punkten vergeblich.
({22})
Das Wort hat Bundesministerin Christine Bergmann.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Ich habe die Debatte um die nichtversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse über viele Jahre mitverfolgt, auch als Arbeitssenatorin. Während wir die
Debatte geführt haben, während über viele Jahre, zum
Teil auch von Ihnen, Kritik an dieser Form der nichtversicherungspflichtigen Beschäftigung geäußert wurde, hat
die Zahl dieser Beschäftigungsverhältnisse stark zugenommen. Die Zahlen haben wir gehört. Von ihnen hat es
in den letzten Jahren immer mehr gegeben, und ohne
Not sind ordentliche Arbeitsverhältnisse richtiggehend
atomisiert worden. Sie haben die ganze Zeit zugeschaut,
und wir wären schon zufrieden gewesen, wenn da einmal ein Gesetzesentwurf von Ihnen auf den Tisch gekommen wäre, auch wenn es nur Stückwerk gewesen
wäre, wenn wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung gegangen worden wäre.
({0})
Insofern dürfen Sie hier nicht von „Armutszeugnis“ reden. Es ist ein Armutszeugnis für Sie, daß es so weit
kommen konnte und daß wir jetzt dastehen und sagen
müssen: Es gibt 5 bis 6 Millionen solcher Beschäftigungsverhältnisse. Wir müssen jetzt fragen: Wie schaffen wir es, daß wir die unterschiedlichen Interessen in
einem vernünftigen Gesetzentwurf bündeln?
Hier wird immer die Realität ein wenig schöngeredet.
Wieviel Schwarzarbeit um diese nichtversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse herum entstanden ist, das müßten Sie, Frau Schwaetzer, doch sehr genau wissen.
({1})
Es wird ein solches Beschäftigungsverhältnis eingerichtet, und weitere Tätigkeiten im Umfeld dieses Beschäftigungsverhältnisses werden mehr und mehr durch
Schwarzarbeit abgedeckt. Das konnte geschehen, weil es
keine Möglichkeit des Nachweises und der Kontrolle
gab.
({2})
Ich bin der Auffassung, daß wir auf Grund des jetzt
eingeführten Nachweises - jedes dieser Beschäftigungsverhältnisse muß auf der Steuerkarte nachgewiesen
werden ({3})
überhaupt erst wissen, was hier los ist, und wir die Entwicklung verfolgen können. Ich kann Ihnen auch versprechen: Wir werden sehr genau hinschauen, wie sich
dieser Bereich in den nächsten Jahren entwickeln wird.
Wir sind flexibel; wir werden mit Sicherheit, wenn sich
das eine oder andere nicht bewährt, auch bereit sein,
Änderungen vorzunehmen. Das ist doch gar keine Frage.
Aber wir müssen doch erst einmal den richtigen Einstieg
hinbekommen, indem wir sagen: Was gibt es denn in
diesem Land? Was passiert da? In welchen Bereichen
können wir schnell für eine Regelung sorgen?
Denn auf Grund dieses Zuwachses der nichtversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gab es die
allseits beklagte Erosion der sozialen Sicherungssysteme. Wir können uns auf der einen Seite nicht hinstellen
und darüber klagen, daß es immer weniger Beitragszahler gibt, wenn wir auf der anderen Seite hinnehmen, daß
sich Millionen aus diesen Sicherungssystemen völlig legal verabschieden können. Ich denke, daß wir mit dem
jetzt vorliegenden Gesetzesentwurf dem einen starken
Riegel vorschieben werden. Deswegen bin ich froh, daß
wir nun endlich einen solchen Gesetzentwurf auf dem
Tisch haben.
({4})
Es geht darum, der Erosion unserer Sozialversicherungssysteme entgegenzusteuern. Das wurde ja von einigen beklagt und mit dem Wort „Zwangsabgabe“ kritisiert. Aber ich denke, wir alle kennen die Situation unserer sozialen Kassen und wissen, daß es dringend notwendig ist, daß in diesem Bereich etwas passiert, daß
wir eine Versicherungspflicht einführen.
({5})
- Darauf komme ich noch.
Wir eröffnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
die Möglichkeit, mit freiwilligen Beiträgen Rentenansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwerben. Das ist wirklich sehr zu begrüßen.
({6})
- Nicht in dieser Form. Auch dazu sage ich noch etwas.
Ich bin davon überzeugt, daß wir mit diesen Arbeitsverhältnissen den Mißbrauch stoppen werden, und zwar
dadurch, daß wir das Melde- und entsprechende Kontrollverfahren eingeführt haben.
Wer arbeitet eigentlich in den nichtversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen? Es waren 1997
knapp 40 Prozent Haushaltsführende - so heißt das so
schön -, also Frauen, es waren rund 13 Prozent Schüler
und Studenten und etwa 11 Prozent Rentner.
Nun möchte ich aus frauenpolitischer Sicht einige
Punkte aufgreifen, die mir sehr am Herzen liegen und
die auch die Abgeordneten bewegen. Zu mir sind in den
letzten Jahren viele Frauen gekommen, die sagten: Ich
will entweder eine volle Arbeitsstelle oder wenigstens
eine ordentlich abgesicherte Teilzeitstelle, aber ich bekomme sie nicht; ich bekomme nur 620- oder 520-DMJobs angeboten, und zwar nicht nur im Handel, sondern
auch in den Apotheken, in den Arztpraxen und anderswo. So erging es den Frauen, obwohl sie etwas ganz anderes wollten.
Wir wissen, daß die Pauschalsteuer in großem Umfang auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgedrückt wurde. Das merken wir jetzt auch an den Reaktionen der Arbeitgeber auf unsere Regelung, daß Beiträge in die sozialen Sicherungssysteme gezahlt werden
sollen. Diese Möglichkeit des Abwälzens haben Arbeitgeber nun nicht mehr, es ist jetzt also sehr viel weniger
attraktiv, in die nichtversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse auszuweichen. Ich denke, daß Frauen,
weil die Attraktivität für geringfügige Beschäftigung für
die Arbeitgeber wegfällt, nun bessere Chancen haben,
mittelfristig ordentliche Teilzeitarbeit oder eine Vollzeitarbeit zu bekommen.
Mein nächster Punkt bezieht sich auf die sozialen Sicherungssysteme. Ich möchte auf das Thema Rentenversicherung eingehen. Es ist wirklich abenteuerlich,
was dazu von der einen oder anderen Seite gesagt wurde. Das paßt auch nicht unbedingt zusammen.
Wir haben die Option für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer geschaffen, sich mit eigenen Rentenbeiträgen Anwartschaften zu erwerben und Rentenbiographien zu schließen. Ich sage das noch einmal; man kann
es nämlich nicht oft genug sagen; denn es scheint offensichtlich noch nicht angekommen zu sein. Es geht nicht
nur um die 7 DM, die es mehr an Rente gibt.
({7})
Es geht vor allen Dingen darum, daß vollwertige
Pflichtbeitragszeiten, also die volle Berücksichtigung
bei der Wartezeit, bei der Rente nach Mindesteinkommen, bei Rehabilitation und bei Erwerbsunfähigkeit und
vorgezogener Altersgrenze, erreicht werden.
Ich betrachte das nicht als unsozial oder ungerecht.
Ich halte das im höchsten Grad für die Frauen für wichtig. Ich hoffe - ich bitte parteiübergreifend alle darum,
daß wir den Frauen diese Option nahebringen -, daß
viele Frauen von dieser Option Gebrauch machen. Vorgesehen haben wir - das verteufeln Sie als ein Stück Bürokratie - auch die Pflicht zur Beratung der Arbeitgeber
über diese Möglichkeiten und gleichzeitig die Belehrung
darüber, welche Rechte geringfügig Beschäftigte überBundesministerin Dr. Christine Bergmann
haupt haben, nämlich das Recht auf Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall und das Recht auf Urlaub. Das war vielen
bisher unbekannt und wurde auch nicht unbedingt propagiert.
({8})
- Ja, das gab es. Ich habe nicht gesagt, daß es das nicht
gab. Es war aber vielen bisher unbekannt, und jetzt gibt
es die Pflicht der Belehrung. Verbunden mit der Option
des Erwerbs von Rentenanwartschaften kann das, denke
ich, für Frauen in diesem Bereich sehr hilfreich sein.
({9})
- In der Regel pflegen Arbeitgeber mit ihren Arbeitnehmern beim Einstellungsgespräch zu reden. Jetzt stehen dabei diese Dinge auf der Tagesordnung, das ist
doch so.
Ich halte es für sehr wichtig, daß die Nebenbeschäftigungen voll angerechnet werden. Das heißt, wir werden jetzt mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Für uns ist das keine Frage der Statistik.
({10})
- Das ist Ihre alte Denke, die hier durchkommt.
({11})
Es geht uns schlichtweg darum, eine Gerechtigkeitslücke zu schließen, weil es niemandem zu vermitteln ist,
daß bestimmte Anteile des Erwerbseinkommens von der
Versicherungspflicht und der Besteuerung ausgenommen sind.
Ich sage auch ganz klar: Nicht alle frauenpolitischen
Punkte sind erfüllt worden. Es sind durchaus noch Wünsche offen. Es gibt, wie wir wissen, eine ganze Menge
Diskussionen. Es ist auch nicht so, daß die Briefe nicht
bei uns landen würden. Es ist auch nicht so, daß mit
Gewerkschaften nicht darüber diskutiert würde; die reden nicht nur mit Ihnen, sondern genauso mit uns. Ein
Redeverbot gibt es da sowieso nicht.
Aber ich habe keine Schwierigkeiten mit der Nichtbesteuerung des Einkommens der Ehefrau, weil ich denke: Na prima, endlich wird dieses Einkommen als eigenes Einkommen gewertet. Das kann doch eigentlich
auch nicht schaden.
({12})
Ich denke, daß wir sehr genau hingucken werden, was
in der nächsten Zeit passiert. Entwickeln sich diese Beschäftigungsverhältnisse so, wie wir das mittelfristig
wollen? Dieser Blick wird überhaupt erst möglich -
Frau Ministerin - Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich komme zum
Schluß.
Nein, es ist eine
Zwischenfrage vom Kollegen Laumann angemeldet.
Ja, Herr Laumann,
bitte.
Frau Ministerin,
Sie sprachen gerade davon, daß Sie es für richtig halten,
daß der 630-DM-Vertrag einer Ehefrau nicht besteuert
wird. Da möchte ich Sie fragen: Halten Sie das für gerecht? Wenn ein Rechtsanwalt oder Zahnarzt seine Frau
für 630 DM beschäftigt, kann er diese 630 DM von seiner Steuer absetzen; aber das Einkommen dieser Frau
wird nicht steuerpflichtig. Halten Sie das gegenüber dem
Facharbeiter, der abends kellnern geht und sich 400 DM
dazuverdient und das dann voll versteuern muß, wirklich
für gerecht?
({0})
Ich will noch einmal deutlich machen, was ich gesagt habe. Ich kenne
alle diese Beispiele. Ich habe keine Schwierigkeiten damit, daß das Einkommen von Frauen als eigenes Einkommen behandelt wird. Daß Mißbrauch von mir in
keiner Form toleriert wird, ist eine andere Frage. Aber
Arbeitseinkommen von Frauen, ordentlich erworben,
sind eigenständige Arbeitseinkommen.
({0})
- Ja, mit Arbeit erworben.
Eine weitere Zwischenfrage - Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich möchte jetzt
zum Schluß kommen.
({0})
- Wir wollen doch diese Debatte jetzt nicht weiterführen. Ich kenne doch Ihre Beispiele.
({1})
- Nein, das bringt mich nicht in Verlegenheit.
({2})
- Das zeigt nicht, daß das nicht zu regeln ist. Ich habe
nur meine Meinung über Arbeitseinkommen von Frauen
mitgeteilt. Das wird doch wohl noch legitim sein. Das ist
eine Meinung, mit der wir uns sicher noch befassen
werden.
({3})
Ich meine, daß der Gesetzentwurf den richtigen Weg
vorgibt. Er stoppt die Aushöhlung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Er stabilisiert die
sozialen Sicherungssysteme. Er stoppt den Mißbrauch;
wir haben die Meldepflicht für alle und die Kontrolle. Er
bietet insbesondere Frauen die Möglichkeit, über freiwillige Beiträge Ansprüche in der Rentenversicherung
zu erwerben. Er belastet Arbeitnehmer und Arbeitgeber
nicht ungebührlich hoch. Er vermeidet Ausweichreaktionen in die Schwarzarbeit.
Es ist immer eine schwierige Gratwanderung zwischen den unterschiedlichen Interessenlagen, zwischen
zu hoher Belastung der Beschäftigungsverhältnisse auf
der einen Seite und Aushöhlung unseres Sozialversicherungssystems auf der anderen Seite. Ich bin davon überzeugt, daß wir das gemeistert haben. Wir werden die
weitere Entwicklung sehr genau im Auge behalten.
Danke.
({4})
Das Wort hat Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Bergmann! Diese Regelung zu verteidigen ist wahrlich ein schwerer Job für eine Frauenministerin.
({0})
Wenn Sie hier sagen, Sie seien auf dem richtigen Weg,
bessere Chancen für Vollzeit und reguläre Teilzeit zu
schaffen, dann sage ich: Sie sind hier auf einem Holzweg.
({1})
Sie haben in diesem Gesetz keinen Riegel, mit dem Sie
der Aufsplitterung von regulärer Beschäftigung wirklich
wehren können. Da machen Sie sich etwas vor. Ich rate
Ihnen in der Tat: Beobachten Sie die Auswirkungen dieses Gesetzes! Es wird zu mehr geringfügiger Beschäftigung führen und die reguläre Beschäftigung weiter absenken.
Hieran wird deutlich: Selbst in den ersten hundert
Tagen, in denen die neue Regierung im Amt ist, sind die
Wahlversprechen gegenüber den Frauen nicht einmal
das Papier wert, auf dem sie geschrieben sind.
({2})
SPD und Grüne hatten in Deutschland gemeinsam
mit dem DGB ein Frauenbündnis initiiert - mittendrin
und trotzdem draußen. Da sind Sie für die bessere soziale Sicherung der Frauen eingetreten und dafür, den
Mißbrauch bei der geringfügigen Beschäftigung zu bekämpfen. Ich erinnere mich noch gut, daß sich die Kollegin Onur - sie ist jetzt nicht mehr hier - noch im April
vergangenen Jahres mit großer Vehemenz für die Bagatellgrenze bei der geringfügigen Beschäftigung ausgesprochen hat. Der damalige Fraktionsvorsitzende Scharping hat die bestehenden Regelungen als frauenfeindlich
bezeichnet und gefordert: Gebt den Frauen ordentliche
Teilzeitarbeitsplätze. - Was ist diese Aussage jetzt noch
wert? Nichts. Was ist mit der Absenkung der Geringfügigkeitsgrenze? Nicht einmal um eine müde Mark senken Sie diese Grenze ab. Nichts geschieht an dieser
Stelle. Im Gegenteil: In den neuen Bundesländern erhöhen Sie die Geringfügigkeitsgrenze. Es ist das erste Mal,
daß geringfügige Beschäftigung amtlich ausgeweitet
wird.
({3})
Frauen wurde im Wahlkampf vorgegaukelt, daß SPD
und Grüne ihre Interessen vehement vertreten würden.
Aber hier zeigt sich: Das ist alles nur heiße Luft. Bei
diesem Gesetzentwurf geht es nämlich nicht um die
Verbesserung der Situation der 3,3 Millionen Frauen in
geringfügiger Beschäftigung - mitnichten.
Bundeskanzler Schröder selbst hat in der berühmten
Aktuellen Stunde am 19. November 1998, als er innerhalb von zehn Tagen seinen dritten Vorschlag vorstellte,
drei Zielsetzungen genannt. An keiner Stelle - ich betone: an keiner Stelle! - war dort die Rede davon, daß die
soziale Sicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessert werden soll. Dieses zentrale Ziel ist
bei ihm offensichtlich unter den Tisch gefallen.
({4})
Dagegen zieht sich wie ein roter Faden durch diese
sogenannte Reform die Grundlinie der neuen Regierung,
nämlich immer neue Finanzquellen zu Lasten der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber zu erschließen, statt die
dringend gebotenen Reform- und Sparmaßnahmen in
Angriff zu nehmen.
({5})
Zweifellos muß man die Lage der Sozialkassen sehr
ernst nehmen.
({6})
- Wenn Sie hier so schreien, dann stellen Sie auch eine
Frage! Dann können wir miteinander diskutieren.
({7})
Die Erosion der sozialen Sicherungssysteme, das
heißt die Flucht aus diesen Sicherungssystemen, müssen
wir sehr ernst nehmen. Wir haben eine Antwort gegeben, indem wir in der letzten Legislaturperiode Reformen im Rentenbereich durchgesetzt haben. Aber Sie
hatten nichts Eiligeres zu tun, als diese Rentenreform
zurückzunehmen, ohne ein eigenes Konzept vorzulegen.
({8})
Sie haben damit dafür gesorgt, daß sich die Finanzsituation in diesem Bereich deutlich verschlechtert.
Rechnen wir es einmal nach. Der VDR sagt: Für die
Jahre 1999 und 2000 kostet allein die Aussetzung
des demographischen Faktors 4,3 Milliarden DM.
Schauen wir jetzt einmal auf die Einnahmen, die Sie auf
Grund der Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung erwarten; Sie haben es ausgeführt. Sie hoffen auf
4,75 Milliarden DM in zwei Jahren. Wir können hier also eine einfache Gegenrechnung machen. Durch Ihren
mangelnden Mut, Ihre geringe Bereitschaft zu Strukturreformen in der Rentenversicherung werden diese
Mehreinnahmen sofort wieder aufgefressen werden.
({9})
Es nützt nichts, an Symptomen zu kurieren. Sie müssen den Mut zu einer Reformpolitik haben, statt restaurative Politik zu betreiben.
({10})
Was leistet dieser Gesetzentwurf eigentlich? Von der
ersten Mark an, heißt es, sollen Beiträge zur Sozialversicherung erhoben werden. Das ist eigentlich eine frohe
Botschaft. Konkret bedeutet das aber: statt der bisher
20prozentigen Pauschalbesteuerung jetzt 10 Prozent in
die Krankenversicherung, 12 Prozent in die Rentenversicherung.
({11})
Aber aus diesen Beiträgen folgen keine Leistungen. Das
ist der zentrale Mangel an Ihrem Gesetz.
({12})
- Wollen Sie, Herr Gilges, endlich einmal etwas fragen,
oder wollen Sie immer nur schreien?
({13})
Eine Zwischenfrage,
bitte, Herr Schemken.
Frau Kollegin, sind
Sie mit mir der Meinung, daß sich Herr Gilges viel zuviel aufregt?
({0})
Lieber Herr
Schemken, in der Tat muß man sagen: Wer so laut
schreit, hat wahrscheinlich nicht viel zu bieten.
({0})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Gilges?
Ja, nachdem er geschrien hat, soll er jetzt auch fragen.
Es geht mir ganz gut. Ich habe einen sehr niedrigen Blutdruck, Herr Schemken, der
zwischen 65 und 90 liegt. Deshalb tut es mir gut, wenn
ich mich morgens ein bißchen aufrege. Das möchte ich
nur nebenbei erwähnen.
Aber ich wollte ganz konkret etwas fragen: Frau
Kollegin, Sie haben gesagt, es gebe keinen Belastungsunterschied bei der Steuer. Das ist schlicht und einfach
falsch, was Sie sagen. Es ist zwar richtig,
({0})
- warten Sie doch einmal ab! -, daß 20 Prozent Pauschalbesteuerung per Gesetz erhoben werden. Aber die
tatsächliche Besteuerung lag bei 22,8 Prozent.
({1})
- Es freut mich, daß der Kollege zuhört. Er versteht ja
etwas davon.
Die Arbeitgeber sparen 0,8 Prozent ein; das ist die
Tatsache. Deshalb ist Ihre Rechnerei schlicht und einfach falsch. Ich bitte Sie darum, auch einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß die tatsächliche Belastung - ich sage
das noch einmal - bei 22,8 Prozent liegt.
({2})
Die zukünftige Belastung liegt bei 22 Prozent. Das ist
eine Einsparung von 0,8 Prozent.
Zur zweiten Frage, die ich Ihnen stellen muß
({3})
- das ist die eigentliche Frage -: Arbeitnehmer und Arbeitgeber - das haben Sie eben behauptet - würden zusätzlich belastet. Tatsächlich gibt es keine Mehrbelastung; vielmehr findet nur eine Umschichtung statt. Sagen Sie doch einmal im Detail, welche zusätzlichen
finanziellen Belastungen für den Arbeitgeber entstehen!
Ich habe gerade eben vorgerechnet, daß es Einsparungen
gibt. Welche zusätzlichen Belastungen entstehen denn
für den Arbeitnehmer?
Herr Gilges, zunächst darf ich einmal feststellen: Ich finde es schon
bemerkenswert, wie Sie sich jetzt für die Arbeitgeber
stark machen. Das habe ich bei Ihnen noch nie erlebt.
({0})
Wenn Sie nicht so geschrien und mir statt dessen aufmerksam zugehört hätten, dann hätten Sie gemerkt: Es
ging mir an dieser Stelle zum einen deutlich um die
Auswirkungen auf die Finanzlage der Rentenversicherungen. Dazu habe ich gesagt, daß Sie hier fast ein Nullsummenspiel betreiben, wenn Sie auf der einen Seite
Reformen zurücknehmen und damit Mehrbelastungen
schaffen, während Sie auf der anderen Seite wieder neue
Finanzquellen erschließen müssen.
Zum anderen muß ich Ihnen sagen: Mir geht es hier
um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nämDr. Maria Böhmer
lich nichts von diesem Beitrag haben, den der Arbeitgeber jetzt zahlt.
({1})
Es gibt doch einen Bruch im Bereich der Sozialversicherung, wenn hier Beiträge gezahlt werden und daraus
keine Leistungen erfolgen. Sie müßten aufstehen in diesem Parlament und sich mit Vehemenz gegen eine solche Regelung aussprechen.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Nachfrage des Kollegen Gilges?
Ja, bitte.
Ich wollte Sie, Frau Kollegin,
nur fragen, ob es Ihnen bekannt ist, daß der Arbeitnehmer - das war in der Vergangenheit so - keinen Anspruch auf die Beitragszahlungen der Arbeitgeber hat.
Die alte Bundesregierung hat in den 80er Jahren zum
Beispiel ein Gesetz vorgelegt, nach dem türkische
Arbeitnehmer Versicherungsbeiträge ausgezahlt bekamen, nachdem sie in die Türkei zurückgekehrt waren.
Sie bekamen aber nur diejenigen Versicherungsbeiträge
ausgezahlt, die sie selber eingezahlt hatten, während Sie
damals die Beiträge der Arbeitgeber eingespart bzw. in
der Rentenkasse belassen haben. Das war immer so und
soll nach meiner Meinung auch so bleiben. Das ist auch
richtig. Aber Sie stellen jetzt neue Grundsatzprinzipien
in der Sozialversicherung auf, mit denen Sie - wenn Sie
sie durchhalten - in Ihrer eigenen Fraktion große Probleme bekommen.
Herr Kollege, Ihre
Frage!
Ich habe ja gefragt, ob ihr das
bekannt ist.
({0})
Herr Gilges, ich
habe gerade den Präsidenten gebeten, die Uhr anzuhalten. Wenn man die Debatte jetzt so lebhaft führt - das
macht mir auch Spaß -, dann sollte das aber nicht auf
die Redezeit angerechnet werden, Herr Präsident.
Lieber Herr Gilges, Sie sind lange genug im Ausschuß für Arbeit und Soziales. Deshalb wundere ich
mich darüber, wie Sie so an der Sache vorbeireden können.
({0})
Ihnen dürfte doch, da Sie noch länger als ich diesem
Ausschuß angehören, sehr bewußt sein, auf welchen
Prinzipien unser Sozialversicherungssystem beruht.
({1})
Bei unserem Sozialversicherungssystem ist von eminenter Bedeutung, daß, wer Beiträge leistet, auch Anspruch auf Leistung hat. So wollen wir es auch für die
Zukunft halten.
({2})
Frau Kollegin
Böhmer, gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Seifert?
Bitte.
Ich möchte auf Ihre Antwort
auf die vorhergehende Frage zurückkommen. Wollen
Sie allen Ernstes sagen, daß es für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nichts ist, wenn sie Ansprüche
auf Reha-Leistungen sowie EU- und BU-Ansprüche
erwerben können? Sie sagten eben, sie bekämen nichts
heraus. In Anbetracht dessen, daß sie bisher bei geringfügigen Beschäftigungen nichts dergleichen hatten, ist
das jetzt doch ganz schön viel.
({0})
Ich habe ansonsten nicht viel Grund, diesen Gesetzentwurf zu verteidigen. Aber an diesem Punkt kann man
doch nicht sagen, das sei nichts.
({1})
Herr Kollege, ich
bin Ihnen dankbar, daß Sie diese Frage gestellt haben;
das gibt mir Gelegenheit zur Klarstellung. Wenn mit
diesem neuen Gesetz eine Einladung ausgesprochen
wird, freiwillig den Rentenbeitrag mit eigenen Beiträgen
um 7,5 Prozent aufzustocken, um dann Leistungen zu
erhalten, dann werde ich jeder Frau und jedem Mann in
geringfügiger Beschäftigung raten, dieses Geld lieber ins
Sparschwein zu stecken, statt später so kümmerliche
Rentenleistungen herauszubekommen, wie wir es eben
gehört haben.
({0})
Auch wenn Sie eben Reha, Berufs- und Erwerbsunfähigkeit erwähnt haben, kann ich nur sagen: Suchen Sie
diejenigen im Lande, die bereit sind, diesen Beitrag in
die Rentenversicherung zu zahlen. Ich habe gerade im
Fernsehen etliche Interviews gesehen, in denen Frauen
das strikt zurückgewiesen haben, weil sie wissen, daß
sie an dieser Stelle verschaukelt werden.
Gestatten Sie eine
weitere Zwischenfrage der Kollegin Schmidt?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Böhmer, jetzt drängt sich mir doch eine Frage auf, die ich
stellen möchte. Im Antrag der CDU/CSU steht unter
Punkt 5, daß die geringfügig Beschäftigten in die Sozialversicherung, vor allen Dingen in die Rentenversicherung, einbezogen werden sollten. Können Sie mir
einmal sagen, wie hoch nach Ihrem Konzept die Beiträge sein sollen und welche Leistungen jemand erhält, der
für 500 DM beschäftigt ist und dementsprechend ab
1. April 19,5 Prozent in die Rentenversicherung einzahlen müßte?
Liebe Frau
Schmidt, wir haben immer das Prinzip der Hälftigkeit
gehabt und sind sogar mit Blick auf Arbeitnehmerinnen
mit geringfügiger Beschäftigung, als es um die Arbeitsplätze im Privathaushalt und den Arbeitsscheck ging, einen Schritt weitergegangen. Wir haben dort nämlich
vorgesehen gehabt, die Frauen mit ihrem geringen Verdienst nicht zusätzlich zu belasten. Um ihnen aber die
Möglichkeit zu geben, daß sie ihre Rentenansprüche
langsam aufstocken können, sollte der Arbeitgeber beide
Beitragsanteile bezahlen. Das halte ich an der Stelle für
eine durchaus vernünftige Regelung.
Jetzt lassen Sie mich aber noch etwas antworten: Es
macht mich betroffen - wir haben so lange bei diesem
Thema gekämpft; dabei standen Sie in vorderster Reihe
der SPD -, daß ich jetzt registrieren muß, wie sehr Sie
diese Neuregelung verteidigen, wie sehr Sie auf einmal
für die Beibehaltung der geringfügigen Beschäftigung
plädieren und sagen, das ermögliche den Frauen, nach
der Familienzeit wieder in den Beruf zurückzukehren.
Liebe Frau Schmidt, das ist nicht der Fall. Sehen Sie
doch bitte, was sich hier abspielt. Es wird ein neuer Billiglohnsektor etabliert, und Sie drängen die Frauen
durch diese Neuregelung in solche Beschäftigungsverhältnisse, weil ihnen keine andere Beschäftigung mehr
angeboten werden wird.
({0})
Die Kollegin Böhmer bittet darum, jetzt im Gesamtzusammenhang fortfahren zu können, nachdem sie einige Zwischenfragen
zugelassen hat. Dieser Bitte müssen wir entsprechen.
Frau Böhmer, Sie haben das Wort.
Ich füge gern das
hinzu, was ich eben zu den Privathaushalten gesagt habe: Das war für dieses Segment eine Lösung, die wir gefunden haben; ansonsten bleiben wir bei den Prinzipien,
die die Sozialversicherung bietet. Wir würden dort genauso handeln, wie wir es in anderen Bereichen ebenfalls tun.
({0})
- Da Sie die Sozialversicherung kennen, gehe ich davon
aus, daß Sie es interpretieren können.
Ich möchte mit Überlegungen fortfahren, die den Gesetzentwurf betreffen. Ich will noch einmal ganz deutlich machen: Diese Neuregelung läßt all die Millionen
von Frauen, die 630-DM-Jobs haben, im Bereich der sozialen Sicherung außen vor. Das ist für den Deutschen
Frauenrat mit seinen 11 Millionen Mitgliedern und für
die DGB-Frauen mit ihren immerhin 2,6 Millionen Mitgliedern, die sich alle an dem Frauenbündnis beteiligt
haben, um für bessere soziale Sicherung zu kämpfen, ein
Schlag ins Gesicht.
({1})
Die Frauen stehen mit ihrer Kritik nicht allein: DGB,
DAG und Juristinnenbund - die Frauen haben breite
Unterstützung. Sie haben sie auch aus den Reihen der
SPD selbst. Mein Kollege Louven hat eben auf die kritischen Äußerungen des rheinland-pfälzischen Sozialministers Gerster hingewiesen. Mit Recht kritisiert er die
verfassungsrechtliche Bedenklichkeit dieser Neuregelung. Wenn ich die Äußerungen von Heide Simonis lese,
die den Entwurf für kontraproduktiv hält, dann kann ich
nur sagen: Es stimmt.
Ich wundere mich, daß ich heute keine derjenigen
Frauen von seiten der Grünen im Parlament sehe, die
immer für eine Änderung im Bereich der geringfügigen
Beschäftigung eingetreten sind. Sie sind angesichts dieser Neuregelung offensichtlich verstummt. Es tut mir
fast leid, das miterleben zu müssen; denn der Gesetzentwurf enthält ein völlig antiquiertes Frauenbild. Mit
dem Gesetz wird erneut die Rolle der zuverdienenden
Ehefrau festgeschrieben, die die eigene soziale Absicherung lediglich durch eine Option erwerben kann und ansonsten auf die Rente des Ehemanns verwiesen wird.
Das kann nicht die neue Zeit sein.
({2})
Wenn Sie behaupten, hiermit werde der Aufsplittung
von Beschäftigungsverhältnissen ein Riegel vorgeschoben, dann entgegne ich dem: Glauben Sie ernsthaft, daß
nur ein Arbeitgeber angesichts der Neuregelung ernstlich gehindert würde, weiterhin mit geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen zu kalkulieren und Vollzeitarbeitsplätze aufzusplitten? Ich meine, nein. Auch die Regelung im Betriebsverfassungsgesetz wird dafür kein
Hemmschuh sein. Sie werden sehen: Leider werden in
diesem Bereich mehr statt weniger Arbeitsplätze entstehen.
Das schlimme ist: Die Chancen, daß wirklich reguläre
Teilzeitarbeitsplätze entstehen, werden erheblich geringer werden. Genau das ist der Bereich, in dem wir Innovationen gebraucht hätten. Sie ignorieren diesen Bereich.
({3})
In der Tat, der Juristinnenbund hat recht, wenn er von
einem frauenpolitischen Ärgernis spricht. Ich sage: Hier
eröffnet sich eine neue Diskriminierung für Frauen;
denn der Billiglohnsektor wird für Frauen in diesem
Land zementiert. Sie machen geringfügige Beschäftigung durch diesen Gesetzentwurf hoffähig.
({4})
Ich will einen letzten Punkt ansprechen, weil es bezeichnend ist, daß von seiten der SPD ein Beschäftigungssektor wieder einmal völlig auf die Seite geschoben wird. Ich meine damit die Arbeitsplätze im Privathaushalt. Dieser Gesetzentwurf geht an den Bedürfnissen der Arbeit im Privathaushalt vollkommen vorbei;
denn wir sind dort mit Kleinstarbeitsverhältnissen konfrontiert. Wie wollen Sie es schaffen, daß diejenigen
Frauen, die drei oder vier Stunden arbeiten, bei einer
Festschreibung der Grenze auf 630 DM jemals die
Chance auf eine ordentliche Teilzeitarbeit haben?
Dann steht noch die Drohung im Raum, daß Sie die
von uns durchgeführten Reformen - steuerliche Anreize,
Haushaltsscheckverfahren, Dienstleistungszentren - zurücknehmen. Ich habe zwei Anfragen an die Bundesregierung gestellt. Die Antworten waren dürftig und entlarvend. Wenn Sie diese Reformen zurücknehmen - ich
sage das hier in aller Deutlichkeit - führt das zu einer
klaren Arbeitsplatzvernichtung im Bereich der privaten
Haushalte. Davor kann ich Sie nur warnen.
({5})
Wir brauchen eine Weiterentwicklung des Haushaltsscheckverfahrens und geeignete steuerliche Rahmenbedingungen für Dienstleistungszentren. Das würde weiterführen und den Millionen Frauen und all den Familien helfen, die mit diesem Bereich zu tun haben.
({6})
Mein Fazit: Ein Gesetz, das die Billigjobs festschreibt, die Aufsplittung regulärer Arbeitsverhältnisse
in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nicht stoppt,
die Arbeitsplätze in Privathaushalten außen vor läßt und
die soziale Sicherung der Frauen nicht verbessert, ist
kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Ein solches
Gesetz ist sozial ungerecht. Das werden wir nicht mitmachen.
({7})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Ulla Schmidt,
SPD-Fraktion.
({0})
Ich unterhalte mich
eben so gerne mit Ihnen. Frau Kollegin Böhmer, wir kennen uns lange genug
und arbeiten lange genug an diesem Thema. Ich wäre ja
froh, wenn Sie in den letzten Jahren wirklich Reformen
in dieser Frage auf den Weg gebracht hätten. Das hätte
es uns nämlich einfacher gemacht: Wir hätten auf vorhandenen Reformen aufbauen und diese weiterentwikkeln können.
Die heutige Situation wird, wie schon oft gesagt wurde, von unterschiedlichen Interessenlagen bestimmt.
({0})
- Lassen Sie mich einmal ausreden; ich habe Sie eben
auch ausreden lassen. - Auf der einen Seite haben wir
die Situation, daß die Realeinkommen der Familien sinken. Das führt leider dazu, das die 630 DM, die in diesen Jobs verdient werden können, ganz dringend als zusätzliches Einkommen benötigt werden, um die Kosten
zu bezahlen, die für Kindererziehung und andere Dinge
entstehen. Auf der anderen Seite existiert zwar eine Pauschalbesteuerung auf der Arbeitgeberseite, aber Sie wissen doch so gut wie ich - denn auch Sie haben all die
Briefe erhalten -, daß 80 Prozent der Arbeitgeber die
20 Prozent nicht selber gezahlt haben, sondern sie auf
ihre Beschäftigten abgewälzt haben.
Wir haben jetzt eine Regelung vorgeschlagen - ich
bitte Sie angesichts der vielfältigen Situationen, die zu
berücksichtigen sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir
Schritt für Schritt vorgehen müssen -, gemäß der der
Bertrag, der derzeit pauschal gezahlt werden muß - das
waren einschließlich Kirchensteuer und Solidarzuschlag
22,8 Prozent -, in die Sozialkassen eingezahlt werden
soll.
({1})
Außerdem dürfen die Arbeitgeber diese Abgaben nicht
mehr auf die Beschäftigten abwälzen, sondern sie müssen sie tatsächlich selbst bezahlen. Das ist ein Fortschritt.
Weiterhin wollen wir, daß 12 Prozent in die Rentenversicherung eingezahlt werden. Die Beschäftigten - das
sind vor allen Dingen die Frauen - erhalten mit einer
Zuzahlung von 7,5 Prozent die Option, ihre Rentenbiographien zu vervollständigen. Es geht doch nicht um
die 7,5 Prozent; das wissen doch auch Sie. Wenn wir
von den 500 DM, die jemand verdient, 19,5 Prozent
nehmen, dann kommt es auf das gleiche heraus, ob dieser Satz hälftig gezahlt wird oder 12 Prozent plus 7,5
Prozent gezahlt werden. Aber durch die 19,5 Prozent
wird es möglich, Rentenanwartschaften zu erwerben
bzw. zu erhöhen. Wir versuchen dadurch, einen Weg für
Frauen zu finden, denen die Anwartschaften fehlen und
die, obwohl sie jahrelang in die Rentenversicherung eingezahlt haben, noch nicht einmal einen Anspruch auf
Altersrente erworben haben. Jetzt können sie diesen Anspruch erwerben. Ich halte das für einen Fortschritt.
({2})
Frau Kollegin
Schmidt, ich muß darauf hinweisen, daß es sich um eine
Kurzintervention handelt.
Ich gehe auf die
Punkte ein.
Es tut mir leid, dann
muß Ihre Fraktion das anders regeln. Ich gebe Ihnen
noch die Gelegenheit zu einem Abschlußwort.
Ich gehe dann noch
auf die Dienstleistungsagenturen ein. Eine Regelung für
Dienstleistungsagenturen und für die Beschäftigung in
privaten Haushalten muß jetzt folgen,
({0})
weil wir wollen, daß mit diesem Gesetz - da haben Sie
völlig recht - von der ersten Stunde an eine unbürokratische Handhabung der Versicherungspflicht für den privaten Haushalt einhergeht.
({1})
Wir werden das so durchführen. Im Gegensatz dazu haben Sie eine steuerliche Absetzbarkeit nur den Familien
ermöglicht, die ihren Angestellten mehr als 620 DM
zahlten.
({2})
Ich gebe das Wort
der Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion.
({0})
- Entschuldigung, Frau Kollegin Kramme, ich habe
nicht gesehen, daß sich Frau Kollegin Böhmer zu einer
Antwort auf die Kurzintervention gemeldet hat.
Dazu haben Sie das Recht, Frau Böhmer. Ich gebe
Ihnen das Wort.
Herzlichen Dank,
Herr Präsident.
Liebe Frau Schmidt, ich muß sagen: Aus jedem Ihrer
Worte spricht das schlechte Gewissen gegenüber der
vorliegenden Regelung. Ich kann mir gut vorstellen, wie
es in Ihrem Inneren aussieht.
({0})
Diese Regelung zu unterschreiben erfordert schon viel
Überwindung. So etwas hätte keine und keiner von uns
unterschrieben.
({1})
Das als einen Einstieg, als einen Schritt in die richtige
Richtung zu bezeichnen ist schon mehr als kühn.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode - das ist
im Hause bekannt - heftig um Regelungen im Bereich
der Geringfügigkeit gerungen. Aber wir wollten vernünftige Regelungen, nicht solche Scheinlösungen wie
die Ihren.
({2})
- Vielleicht könnten Sie etwas aufmerksam sein.
Sie sind an Ihren eigenen Worten und an den Kriterien, die Sie in der letzten Legislaturperiode aufgestellt
haben, zu messen; das ist der entscheidende Punkt: Von
diesen Kriterien und diesen Worten ist nichts, aber auch
gar nichts übriggeblieben.
({3})
Beschämend finde ich, daß der Arbeitgeberbeitrag
zur Sozialversicherung jetzt als die Lösung für die soziale Sicherung der Frauen bezeichnet wird. Das ist er
nicht. Zum einen gibt es auch heute schon die Möglichkeit, freiwillige Beiträge zu leisten. So viel Neues ist also nicht daran. Zum anderen muß ganz klar gesagt werden: Das, was dabei herauskommt, sind Minilösungen.
Deshalb verstehe ich jede Frau, die das nicht in Anspruch nimmt.
Wir sind uns darüber einig, daß es letztendlich nicht
darum geht, 7 DM mehr Rente zu bekommen. Es geht
vielmehr um die Chance, mehr reguläre Teilzeitstellen
für Frauen zu schaffen. Das wird aber durch die Festschreibung der Geringfügigkeitsgrenze auf 630 DM - im
Osten wird diese Grenze sogar noch von 530 DM auf
630 DM angehoben - verhindert. Sie müssen sich einmal vorstellen, wie viele Frauen in den neuen Bundesländern durch die neue gesetzliche Regelung seitens der
Bundesregierung nun auf einen Schlag ihre bisherige sozialversicherungsrechtliche Absicherung verlieren; sie
fallen aus der Arbeitslosenversicherung heraus.
({4})
Wer dort nämlich bisher für ein Einkommen zwischen
530 DM und 630 DM gearbeitet hat, wird jetzt durch die
Anhebung der Grenze auf 630 DM von dieser Absicherung ausgeschlossen. Das finde ich schon bemerkenswert.
Das Ergebnis wird daher weniger reguläre Teilzeitarbeit sein; denn Teilzeitarbeit wird in einem Korridor bis
1 400 DM absolut unattraktiv. Sie sollten etwas anderes
auf den Tisch legen, über das man vernünftig reden
kann.
({5})
Nun gebe ich im
zweiten Anlauf der Kollegin Anette Kramme, SPDFraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte
Frau Böhmer! Die Vergangenheit wird häufig durch den
Weichzeichner wahrgenommen. Sie, die alte Bundesregierung, haben einen Koloß, ein Ungetüm auf dem Arbeitsmarkt gefüttert, gehegt und wuchern lassen. Dieses
Ungetüm ist das 630-DM-Arbeitsverhältnis.
Eine ganz einfache Tatsache ist ursächlich für die
Wucherung: Das 630-DM-Arbeitsverhältnis ist im Vergleich zum Normalarbeitsverhältnis ungerechtfertigt begünstigt. Die Pauschalsteuer wird im Regelfall auf die
Beschäftigten überwälzt. Sozialversicherungsabgaben
sind nicht zu zahlen. Es handelt sich um Billigjobs.
Die Marginalität dieser Arbeitsverhältnisse bewirkt
selber noch einmal zusätzliche Benachteiligungen: Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen werden die ihnen
zustehenden Rechte wie die Lohnfortzahlung und das
Urlaubsentgelt vorenthalten. Die volkswirtschaftlichen
und individuellen Wirkungen sind katastrophal: Die
630-DM-Jobs beinhalten die Erosion der Finanzgrundlagen der Sozialversicherung. Den Beschäftigten wird
ein ausreichender sozialer und arbeitsrechtlicher Schutz
vorenthalten. Der Mißbrauch ist der Weggefährte der
bisherigen Regelung.
({0})
Die Dimension des Problems im Jahre 1999 macht
Neuregelungen nicht einfach. 6 Millionen Arbeitsverhältnisse von heute auf morgen der vollen Steuer- und
Sozialversicherungspflicht zuzuführen würde massive
Einschränkungen für viele Arbeitnehmerfamilien bedeuten. Dabei ist zu berücksichtigen: Eine große Zahl
der geringfügigen Arbeitsverhältnisse sieht schlechthin
unakzeptable Bruttolöhne vor. Wir haben dennoch einen
angemessenen Weg gefunden.
Wir werden ein weiteres Wahlkampfversprechen
einlösen. Wir haben den Kündigungsschutz und die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle wiederhergestellt.
Wir haben die Scheinselbständigkeit bekämpft und damit fast 1 Million Menschen eine neue Perspektive in
der Sozialversicherung gegeben. Jetzt gehen wir an die
Umsetzung des zugesagten Versprechens, die 630-DMArbeitsverhältnisse in die Sozialversicherungspflicht zurückzuführen. Die rotgrüne Koalition handelt gemäß ihren Ankündigungen.
Das Gesetz der Koalition wird dem Ungetüm der ungesicherten 630-DM-Beschäftigung endgültig den Kopf
abschlagen. Ich nenne hierzu fünf Punkte:
Erstens. Unser Ziel war es, daß es keine ZweiKlassen-Jobs mehr gibt. 630-DM-Jobs besitzen nicht
länger eine finanzielle Attraktivität für die Unternehmen. Durch die zwingend festgelegten Arbeitgeberbeiträge zur Renten- und Krankenversicherung in Höhe von
22 Prozent wird das geringfügige Arbeitsverhältnis dem
Normalarbeitsverhältnis weitgehend gleichgestellt. Wir
gehen davon aus, daß durch diese Regelung eine weitere
Zerstückelung von Arbeitsplätzen verhindert wird. Wir
gehen weiter davon aus, daß wieder mehr Arbeitsplätze
mit höherer Stundenzahl angeboten werden.
({1})
- Doch!
Zweitens. Deshalb lassen wir es auch nicht länger zu,
daß es neben einer Hauptbeschäftigung ein geringfügiges Arbeitsverhältnis ohne Sozialversicherungs- und
Steuerpflicht gibt. Haupt- und Nebenbeschäftigungen
werden addiert, so daß vollumfänglich alle Abgaben anfallen. Es ist nämlich nicht einsichtig, daß eine zusätzliche Arbeitsleistung auf der Basis eines geringfügigen
Arbeitsverhältnisses bei den Sozialabgaben und bei der
Steuer im Verhältnis beispielsweise zur Mehrarbeit finanziell begünstigt wird.
Drittens. In diesem Zusammenhang steht auch die
dauerhafte Festschreibung der Geringfügigkeitsgrenze
auf 630 DM. Es ist eine seit Jahren erhobene Forderung
der SPD, die Geringfügigkeitsgrenze nicht länger anzuheben.
Viertens. Damit sind die Maßnahmen zur Eindämmung des Mißbrauchs der 630-DM-Jobs noch nicht erschöpft. Wir geben den Betriebsräten ein gewichtiges
und bedeutsames Instrumentarium an die Hand. Betriebsräte müssen nicht mehr länger zuschauen, wie
kontinuierlich Vollzeitarbeitsplätze in geringfügige Arbeitsplätze umgewandelt werden. Betriebsräte können
künftig nach § 99 des Betriebsverfassungsgesetzes die
Zustimmung zur Einstellung von Arbeitskräften auf
630-DM-Basis verweigern, wenn im Betrieb „kein ausgewogenes Verhältnis von Arbeitsverhältnissen mit einer geringfügigen Beschäftigung ... und sonstigen Arbeitsverhältnissen gewährleistet ist“.
({2})
Eine generelle Quotierungsregelung lehnen wir ab, da
sie nur den Status quo in einzelnen Branchen festschreiben könnte. Es wäre im übrigen zu befürchten, daß viele
Unternehmen diese Maximalquote als Zielquote verstehen und die geringfügige Beschäftigung aufstocken
würden. § 99 des Betriebsverfassungsgesetzes ermöglicht eine sachnahe Einigung zwischen den Betriebspartnern.
Fünftens. Wir werden es nicht länger zulassen, daß
geringfügig Beschäftigte an einem Tag sie selbst, am
nächsten Tag der Bruder und am übernächsten Tag die
Oma sind. Wir holen die 630-DM-Arbeitsverhältnisse
aus der Anonymität zurück. Alle geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sind der Sozialversicherung
von den Arbeitgebern zu melden und vor allen Dingen
auf der Lohnsteuerkarte zu vermerken.
({3})
Die Gemeinde teilt dem Finanzamt die Zahl der mit
Steuerklasse VI ausgestellten Lohnsteuerkarten mit. Es
besteht die Auskunftspflicht der Sozialversicherung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, erstmals seit Einführung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
schaffen wir neuen sozialen Schutz.
({4})
Erstmals können Frauen, die in geringfügigen Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, für die Versicherungspflicht in der Rentenversicherung optieren. Es wird
nicht mehr so sein, daß Frauen ihr Leben lang arbeiten
und keine Rente erhalten. Wie war es denn bisher? Es
gab viele Frauen, die immer zum Familieneinkommen
beitragen mußten, ihr Leben lang gearbeitet und dennoch keine eigenen Rentenansprüche erworben haben.
Darüber hinaus gibt es Hunderttausende von Frauen, die
auf Grund ihrer Familienleistungen keine hinreichenden
Beitragszeiten erwerben konnten. Diesen Frauen geben
wir mit der neuen 630-DM-Regelung durch die freiwillige Zuzahlung die Chance, einen eigenständigen Rentenanspruch zu erwerben. Wir geben den Frauen damit
auch ein Stück Würde zurück, die Sie von der
CDU/CSU diesen Frauen vorenthalten haben.
({5})
Künftig erlangen Frauen den vollständigen Schutz der
Rentenversicherung, und das zu einem geringen, reduzierten Beitragssatz. Das heißt, Sie können Rehabilitationsmaßnahmen, die Rente wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit und vorgezogene Altersrenten beziehen. Die
Rentenberechnung erfolgt gegebenenfalls nach Mindesteinkommen.
Erstmals werden geringfügig Beschäftigte mit dem
neuen Nachweisgesetz Anspruch auf Dokumentation ihrer Arbeitsbedingungen haben. Nach dem Nachweisgesetz muß der Arbeitgeber sie auch auf die Versicherungsmöglichkeit bei der Rentenversicherung hinweisen.
Der Gesetzentwurf ist auch für die Sozialversicherung richtig: Die künftigen Mehreinnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung werden auf 2,85 Milliarden
DM geschätzt, die der gesetzlichen Krankenversicherung auf 2,25 Milliarden DM.
Abschließend folgendes: Die Bundesregierung wird
dem Parlament bis zum 31. März 2003 über die Auswirkungen dieses Gesetzes auf den Arbeitsmarkt, die Sozialversicherung und die öffentlichen Finanzen berichten.
Wir werden uns nicht scheuen, erforderlichenfalls weitergehende Schritte in die Wege zu leiten.
({6})
Das war die erste
Rede der Kollegin Anette Kramme. Ich möchte ihr dazu
im Namen des Hauses gratulieren.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Noch nie war
das Wort eines Bundeskanzlers so wenig wert wie das
von Gerhard Schröder in der Diskussion um die 630DM-Jobs.
({0})
Eine neue Art des Regierens hat begonnen: Kanzlerworte mit eingebautem Verfallsdatum.
Erster Akt. Auf dem Innovationskongreß,
({1})
dem Wahlkongreß der SPD, der im Jahr 1997 die
Grundlagen für den Wahlkampf der jetzigen Regierungspartei setzte, schlug Gerhard Schröder vor, die
Zahl der 630-DM-Jobs auf höchstens 10 Prozent in einem Unternehmen zu begrenzen - Quotierungslösung.
Zweiter Akt. Am 10. November 1998 erklärte Gerhard Schröder hier in diesem Hause in nichts Geringerem als der Regierungserklärung, dem großen Programm
der Regierung für die nächsten vier Jahre, das in einem
besonders feierlichen Rahmen vorgestellt wurde: Die
Grenze für geringfügige Beschäftigung wird auf 300
DM abgesenkt. Das war ein Schwenk um 180 Grad.
Dritter Akt: Nur wenige Tage später, in der denkwürdigen Aktuellen Stunde am 19. November, änderte der
Bundeskanzler erneut seine Meinung und schlug vor, die
Geringfügigkeitsgrenze nicht auf 300 DM abzusenken.
Statt dessen sollte die Pauschalsteuer entfallen und
durch eine Sozialversicherungspflicht ersetzt werden.
Lautstark verkündete der Bundeskanzler - ich zitiere -:
Diese Arbeitsverhältnisse bleiben steuerfrei, und
zwar unabhängig von weiteren Einkünften.
Heute, keine zwei Monate später, liegt ein Gesetzentwurf vor, der diese früheren Ankündigungen wieder
auf den Kopf stellt. Hat nämlich ein Arbeitnehmer einen
630-DM-Job nebenbei, so sind die Einkünfte eben nicht
steuerfrei, und der Arbeitgeber zahlt dennoch 10 Prozent
an die gesetzliche Krankenversicherung und 12 Prozent
an die gesetzliche Rentenversicherung.
Im Klartext heißt das: die vierte Lösung innerhalb
kürzester Zeit, und viele der Geringverdiener werden
nach dieser Lösung Steuern zahlen müssen. Da kommt
auf viele eine böse Überraschung und ein böses Erwachen zu. Das wird vor allem beispielsweise diejenigen
treffen, die in der Früh Zeitungen austragen. Sie werden,
wenn sie noch einen zweiten Verdienst haben, spüren,
daß ihnen dann nur mehr ganz wenig in der Kasse bleibt.
Das ist der typische Fall, der dann wahrscheinlich in die
Schwarzarbeit gehen wird.
({2})
Das, was die Bundesregierung hier geboten hat, ist
ein Zickzackkurs, der einer völligen Desorientierung
entspricht. Man kann das nur so bezeichnen: Das heißt
nicht regieren, sondern lavieren. Das ist das Prinzip Ihres Handelns.
({3})
Das einzige, worauf sich die Menschen in unserem Land
bei diesen ständigen Wechseln der Aussagen noch verlassen können, ist der Satz: Es gilt das gebrochene Wort.
Dem Durcheinander in der Verfahrensweise entspricht das Durcheinander in den jetzt neu angebotenen
Lösungswegen. Eine innere Systematik ist nicht mehr
erkennbar, Widersprüche liegen offen zutage.
Herr Kollege Singhammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schemken?
Sehr gerne.
Herr Kollege Singhammer, ich habe eine Frage zu einem Punkt, der bisher
wenig beachtet wurde. Sind Sie mit mir der Meinung,
daß die sozialstaatliche Sicherheit, die darin liegt, daß in
alle Versicherungen zweiteilig gezahlt wird, einmal vom
Arbeitgeber und einmal vom Arbeitnehmer, ob es in die
Gesundheitskasse, die Rentenkasse, die Arbeitslosenversicherung oder - darauf haben wir sehr geachtet - die
Pflegeversicherung ist, jetzt erstmalig durchbrochen
wird und hier ein grundsätzliches Prinzip, nämlich daß
beide Seiten Beiträge zahlen und damit für den Arbeitnehmer aus seiner Arbeit ein Anspruch entsteht,
gröblich vernachlässigt wird?
Herr Kollege
Schemken, ich teile Ihre Auffassung. Ich halte es für
sehr bedenklich, daß man das erfolgreiche Sozialversicherungssystem, das auf dem Prinzip Leistung und
Gegenleistung gründet, hier erstmals in systemwidriger
Weise zu sprengen versucht, indem das Prinzip Leistung
nicht mehr dem Prinzip Gegenleistung entsprechen soll.
Ich halte das für eine gravierende Verschlechterung, für
einen gefährlichen Eingriff auch in die Grundsätze
unseres bewährten Sozialversicherungssystems. Ich
warne schon heute alle Arbeitnehmer und auch Arbeitgeber, was die Folgen, auch in anderen Systemen, betrifft: Wo ist das Ende, wenn man hier einmal anfängt?
Ich teile alle Befürchtungen, die Sie hier angesprochen
haben.
({0})
Die jetzige Regelung führt zu einer Reihe von absurden Konstellationen. Ein Teil ist hier schon angesprochen worden. Ich darf noch zwei Beispiele hinzufügen.
Der jetzige Entwurf stellt die 630-DM-Jobs hinsichtlich
des Arbeitnehmerbeitrags besser, weil die geringfügig
beschäftigten Arbeitnehmer nur 7,5 Prozent zahlen,
während ein Familienvater und auch jeder andere Arbeitnehmer 10 Prozent Beiträge von seinem normalen
Verdienst entrichten muß.
Die Ungerechtigkeiten, die es bei Verheirateten mit
sich bringt, wenn ein Ehepartner nur einen 630-DM-Job
hat, sind schon geschildert worden. Das führt dazu, daß
beispielsweise die Frau eines Generaldirektors keine
Steuern zu zahlen braucht, wenn sie nur einen 630-DMJob zusätzlich zum Verdienst des Mannes hat,
({1})
während eine alleinerziehende junge Mutter, die auf
mehrere Verdienstquellen angewiesen ist, steuerpflichtig
wird. Das ist eine grobe Ungerechtigkeit.
({2})
Die jetzt noch kurzfristig eingeführte Regelung mit
dem Betriebsrat wird in der Konsequenz eine neue
Quotenregelung bedeuten, die Sie ganz am Anfang der
Debatte, also anläßlich Ihres Innovationskongresses im
Jahre 1997, schon einmal angekündigt haben.
Das einzig wirklich Beschäftigungsfördernde dieser
neuen Lösung ist ein Beschäftigungsprogramm für mehr
Bürokratie und Verwaltung. So muß der Arbeitnehmer
künftig eine Erklärung abgeben, daß er keine weiteren
Einkünfte erzielt. Der Arbeitgeber muß diese Belege
zum Lohnkonto nehmen. Zusätzlich hat der Arbeitgeber
den steuerfrei gezahlten Arbeitslohn auf der Lohnsteuerkarte oder auf einer Bescheinigung einzutragen. Der
Umfang der Prüfungspflicht der zuständigen Finanzämter und Sozialbehörden wird immens ausgedehnt.
Der vorliegende Gesetzentwurf erreicht, wenn Sie
ehrlich sind, das von Ihnen selbst gesteckte Ziel nicht.
Die Situation bei den geringfügig Beschäftigten wird
nicht besser, sondern schlechter.
Noch ein wichtiger Punkt: Viele Nachbarschaftshilfen gerade im karitativen Bereich führt die neue Regelung in Existenzkrisen, weil viele im freiwilligen sozialen Bürgerengagement tätige Nachbarn die Pauschalsteuer bisher nicht zahlen mußten, jetzt aber ihr Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge auf alle Fälle entrichten muß.
({3})
Beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft ökumenischer
Nachbarschaftshilfe und Sozialdienste aus München erklärt, daß diese Neuregelung sie künftig vor unlösbare
finanzielle Probleme stellen wird - mit allen Folgen, die
das in bezug auf die Nachbarschaftshilfe und gerade auf
die Pflegebedürftigen mit sich bringt.
Deshalb mein Rat an Sie: Überarbeiten Sie diesen
Gesetzentwurf. Wenn Sie schon uns, den Wohlfahrtsverbänden, den Gewerkschaften und vielen anderen,
nicht glauben, dann sollten Sie wenigstens Ihren eigenen
Parteigenossen, zum Beispiel Frau Ministerpräsidentin
Simonis oder Herrn Sozialminister Florian Gerster,
glauben, der erst am Montag im „Handelsblatt“ erklärt
hat: Das steht auf wackligem Grund.
({4})
Das steht nicht nur auf wackligem Grund. Das ist ohne jedes Fundament. Mein Rat an Sie: Schubladisieren
Sie diesen Entwurf schleunigst.
({5})
Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Weiermann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Unser Gesetzentwurf ist kein
Programm für mehr Bürokratie, wie mein Vorredner gerade sagte, sondern ein Stück zurück zu Solidität und
Anstand eines Sozialstaates.
({0})
Ich habe wie die meisten in diesem Raum fast drei
Stunden aufmerksam zugehört. Ich habe mich gefragt:
Was hat die Opposition eigentlich in der jetzt laufenden
Legislaturperiode vor? Ihre Kritik glaubt Ihnen doch
keiner - wenn ich das an dieser Stelle einmal deutlich
sagen darf - angesichts dessen, daß Sie - es ist fast eine
Phrase, wenn man das immer wieder sagen muß; aber
Ihr Vorgehen zwingt uns dazu, das zu tun - 16 Jahre
lang Gelegenheit hatten, die Umstände, über die wir
heute diskutieren, in Ihrem Sinne zu verändern, wenn
Sie meinen, daß das, was heute vorgelegt worden ist,
nicht vernünftig ist. Sie haben darüber lamentiert und
diskutiert. Aber Änderungen haben Sie nicht durchgebracht.
({1})
Wenn ich ausgerechnet von der F.D.P. Kritik höre,
muß ich doch sagen - bei aller Freundschaft zumindest
im Ton, die in diesem Hause zu herrschen hat -: Ich kapiere den Begriff „Abkassieren“ aus Ihrem Mund überhaupt nicht. Wenn es in diesem Hause bisher eine kalte
Fraktion gab, dann war es die F.D.P.-Bundestagsfraktion
mit ihrer Eiseskälte im Bereich der Sozialpolitik.
({2})
- Das sind keine Phrasen, sondern Argumente, die diejenigen, die auf der Tribüne sitzen und zuhören, und
diejenigen, die am Radio und im Fernsehen die Debatten
verfolgen, realistisch nachvollziehen können. Sonst wären ja die Union und die F.D.P. noch Regierungsparteien, nicht die Sozialdemokraten und die Grünen.
({3})
Herr Kollege
Weiermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schwaetzer? - Bitte.
Herr Kollege,
wie sonst, wenn nicht als Abkassieren, könnte man denn
den Tatbestand, den Sie einführen wollen, verstehen? Es
werden Beiträge eingesammelt, obwohl für diese im
Regelfall keine Leistungen gewährt werden. Das ist
wirklich etwas Neues in unserem Sozialversicherungsrecht. Läßt man die Ideologie einmal beiseite: Was anderes als Abkassieren ist das?
Die Einführung dieses Systems, so wie wir das vorhaben, schafft in der Tat
die Möglichkeit, die sich in Schwierigkeiten befindenden Sozialkassen zu füllen. Aber Sie können nicht sagen, hier kassiere man ab. Die Einnahmen durch die Erhebung dieser Beiträge sind erforderlich, weil Ihre Politik es nicht fertiggebracht hat, von den hohen Arbeitslosenzahlen herunterzukommen, weil Sie es nicht fertiggebracht haben, 6 Millionen befristete Arbeitsverhältnisse entsprechend zu ändern, weil Sie es nicht fertiggebracht haben, die Entwicklung bei der Scheinselbständigkeit zu stoppen. Überschlägig gerechnet kommt man
so auf 12 bis 13 Millionen Menschen, die unter normalen Arbeitsverhältnissen arbeiten wollen. Im Wege dessen, was wir vorgeschlagen haben, wird nun wieder
mehr in die Sozialkassen eingezahlt. Wenn sie dabei
eigene Ansprüche verwirklichen wollen, müssen sie selber 7,5 Prozent aufbringen. Mir fehlt das Verständnis,
um zu erkennen, inwiefern das unsozial sein soll.
({0})
Gestatten Sie eine
weitere Zusatzfrage der Kollegin Schwaetzer? - Bitte.
Herr Kollege, Sie
haben ja nicht bestritten, daß dem Einsammeln dieser
Beiträge im Regelfall kein Leistungsanspruch gegenübersteht. Es ist überhaupt nicht bestritten worden, daß
man durch einen sehr geringen Beitrag von 58,60 DM
im Monat eine Fülle von zusätzlichen Leistungen bekommt. Nur, die Arbeitnehmer in zehn Jahren werden
dafür die Rechnung präsentiert bekommen.
Sie haben also nicht bestritten, daß das zum erstenmal
in unserer Sozialversicherung auseinanderklafft.
Frau Kollegin
Schwaetzer, ich möchte Sie bitten, eine Frage zu stellen.
Jawohl, Herr
Präsident. - Sie stimmen mir doch zu, daß Sie eben gesagt haben, die Kassen sollten gefüllt werden? Was anderes als Abkassieren ist das?
({0})
Nachdem sich die
Arbeitgeber dieses Landes, unterstützt von der konservativ-liberalen Regierung der letzten 16 Jahre, aus ihrer
sozialpolitischen Verantwortung gestohlen haben, halten
wir diesen Schritt für unumgänglich.
({0})
Herr Kollege Weiermann, gestatten Sie auch der Kollegin von Renesse
eine Zwischenfrage? - Bitte.
Herr Kollege, würden
Sie der Kollegin Schwaetzer, die ja erfreulicherweise
neu dabei ist in der Sozialpolitik, erläutern, daß dies in
keiner Weise neu ist in der Rentenversicherung, sondern
daß es dies bereits des öfteren gab bzw. noch heute gibt:
bei der früher existierenden - und dann mit Recht abgeschafften - Heiratserstattung; bei der von der damaligen
Koalition, nicht von uns, geförderten Rückkehr von
Ausländern, die in die Sozialversicherung eingezahlt
hatten; bei der bis heute bestehenden Möglichkeit, daß
Beamte, die früher einmal in die Rentenversicherung
eingezahlt haben, ihre Beiträge erstattet bekommen?
({0})
Sie alle erhalten lediglich ihren Arbeitnehmerbeitrag zurück. Der Arbeitgeberanteil ist - würden Sie das bitte
erläutern - die Konkretisierung der Sozialpflichtigkeit
des Arbeitgebers und erfüllt nicht die Voraussetzungen
für eigene Anwartschaften. Die Konten standen damals
auf Null, obgleich in diesen Fällen der Arbeitgeberbeitrag bei den Versicherungen verblieb.
({1})
Frau von Renesse,
ich brauche das nicht zu erläutern. Ich unterstreiche Ihre
Ausführungen und schließe mich Ihren Worten an.
({0})
Ich darf an dieser Stelle deutlich machen, daß die Regelung der geringfügigen Arbeitsverhältnisse, die eigentlich nur eine Sonderregelung sein sollte, im Laufe
der Jahre regelrecht pervertiert worden ist. Es gibt nahezu 6 Millionen solcher ungeschützten Arbeitsverhältnisse, und sie können nach unserem Dafürhalten nicht mehr
als Sonderfall gelten. Vielmehr handelt es sich dabei wie ich eingangs schon sagte - um eine Erosion der
Sozialversicherung insgesamt. Mittlerweile gibt es eine
Vielzahl von Unternehmen in Deutschland, die sich regelrecht auf die ausschließliche Einstellung von geringfügig Beschäftigten spezialisiert haben. Das sind insbesondere die Handelsketten.
Der Deckmantel der Sozialversicherungsfreiheit wird
zunehmend auch genutzt, um bestehende arbeits- und tarifrechtliche Regelungen zu umgehen, so der Sachverständige Professor Dr. Bäcker Anfang Dezember 1997
in der Anhörung zum SPD-Gesetzentwurf. Hier wird
Sozialdumping in großem Umfang betrieben. Dabei
geht es nicht nur darum - das muß an dieser Stelle deutlich festgehalten werden -, billige Arbeitskräfte zu haben, im Klartext: Menschen zu Tagelöhnern zu degradieren, sondern auch darum, bestehende Tarifverträge
und gesetzliche Bestimmungen zu umgehen und ihre
Wirksamkeit auf Null zu bringen. Auch dieses Ziel
steckt dahinter.
({1})
Die Sozialversicherungsfreiheit bewirkt - wie wir das
in unserem bereits erwähnten Antrag festgestellt haben vielfach eine Subventionierung ungeschützter Arbeitsverhältnisse - das wird auch so gesehen -, die von der
Allgemeinheit der beitragszahlenden Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sowie der Betriebe finanziert werden
muß. Die DAG spricht in diesem Zusammenhang von
einer staatlichen Subvention in Höhe von rund 42 Prozent der Personalkosten. Auch diesen Punkt gilt es festzuhalten. Deswegen werden wir die alte gesetzliche Regelung nicht länger tolerieren.
({2})
Die alte Regelung widerspricht auch zutiefst dem
Grundsatz der Wettbewerbsneutralität auf dem Arbeitsmarkt. Hier wird eine Ausnahmeregelung zunehmend mißbraucht, um generell Lohnkosten zu sparen
und sich ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Diese extreme Wettbewerbsverzerrung geht
somit zu Lasten der Betriebe mit sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und damit insbesondere zu Lasten des Mittelstandes. Ich möchte den Mittelständler
sehen, der nicht schon längst über die Tatsache stöhnt,
daß es keine Wettbewerbsgleichheit mehr gibt. Da Sie,
meine Damen und Herren von der F.D.P., immer sagen
- zumindest nach außen -, Sie seien für eine Besserstellung des Mittelstandes,
({3})
muß ich Ihnen sagen, Sie können jetzt einen Schritt in
die richtige Richtung tun und können dem Mittelstand
zu einer Wettbewerbsgleichheit verhelfen, die er im gegenwärtigen System nicht hat.
({4})
Die Beseitigung bzw. drastische Einschränkung der
sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse
führt nicht zur Abschaffung der Teilzeitarbeit, sondern
gerade zu einer Schaffung ordentlicher, sozialverträglicher, das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik stützender Teilzeitarbeitsplätze. Frau Schwaetzer,
daß dies möglich ist, können Sie am Beispiel der Niederlande sehen. Dort ist jede regelmäßig geleistete Arbeitsstunde von der ersten Minute an sozialversichert.
({5})
In einzelnen Punkten gibt es ja durchaus eine Übereinstimmung der Meinungen, nämlich wenn es darum
geht, daß die bestehende Gesetzeslage so nicht weiter
aufrechterhalten werden kann. Ich weiß von Herrn
Schäuble und Herrn Glos, also von der CDU/CSUFraktion, daß sie des öfteren die gegenwärtige Regelung
kritisiert haben. Was uns fehlt, ist in der Tat der mutige
Schritt, diese Kritikpunkte bei der Formulierung eines
Gesetzes zu berücksichtigen, das Zukunft hat, das funktioniert und das den Menschen das Gefühl gibt, in dieser
unserer Gesellschaft gebraucht zu werden und sozial abgesichert zu sein.
({6})
Wir meinen, daß der Gesetzentwurf klug und maßvoll
ist.
({7})
Wir möchten Sie bitten, ihn zu unterstützen und ihm Ihre Stimme zu geben. Ich will an dieser Stelle deutlich
machen, daß wir mit diesem Gesetzentwurf den MenMargot von Renesse
schen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen aus der
Anonymität ihrer Jobs heraushelfen und den regulären
Arbeitsmarkt und das Wirtschafts- und Sozialsystem der
Bundesrepublik stärken wollen. Wir ermöglichen den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern damit die Integration in den ordentlichen und sozialverträglichen Arbeitsmarkt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Meine Damen und
Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 14/280
und 14/290 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/280 soll zusätzlich
an den Innenausschuß, den Sportausschuß, den Ausschuß für Tourismus sowie an den Ausschuß für Kultur
und Medien überwiesen werden. Gibt es anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Januar 1999 zur steuerlichen Behandlung von
Kinderbetreuungskosten und Haushaltsfreibetrag bei Ehepaaren im Zusammenhang mit
der aktuellen Behandlung des Steuerentlastungsgesetzes und seiner haushälterischen
Auswirkungen
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe das Wort für die
antragstellende Fraktion der Kollegin Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinder und Jugendliche sind in der
Bundesrepublik Deutschland zu einem Armutsrisiko
geworden. 3 Millionen Menschen leben von Sozialhilfe,
davon sind rund ein Drittel - 1 Million - Kinder und Jugendliche. In den letzten Jahren ist es leider nicht gelungen, die grundgesetzliche Stellung von Kindern als
Grundrechtsträgern und eigenständigen Rechtspersönlichkeiten fester zu verankern. Wir haben dazu entsprechende Gesetzentwürfe bereits in den letzten zwei Legislaturperioden eingebracht.
Wir wissen natürlich, daß es für eine kinderfreundliche Gesellschaft mehr als der materiellen Sicherstellung
bedarf, aber es ist schon ein trauriges Zeichen, wenn erst
Urteile des Bundesverfassungsgerichts die Politik dahin
gehend treiben, daß der Gesetzgeber tätig wird. Ohne
die Peitsche des Bundesverfassungsgerichts hat sich in
den letzten Jahren nur sehr wenig getan.
Das Bundesverfassungsgericht hatte klargestellt, daß
das Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen
steuerfrei zu stellen ist. Mit dem Urteil vom 19. Januar
wird diese Position untermauert. Das macht noch einmal
deutlich, daß die materielle Sicherstellung des Existenzminimums von Kindern keine Manövriermasse für
die Politik ist und sein kann.
({0})
Das Urteil enthält in mehrerlei Beziehung sehr interessante Aussagen. Als erstes zur Frage der Kinderbetreuungskosten: Es ist klargestellt, daß die Betreuung
von Kindern über den existentiellen Sachbedarf und den
erwerbsbedingten Betreuungsbedarf hinaus prinzipiell
eine Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der
Eltern verursacht. Damit hat das Bundesverfassungsgericht einen wesentlichen Denkschritt vollzogen.
Inzwischen wird die Betreuung von Kindern nicht
mehr ausschließlich in Abhängigkeit von der Berufstätigkeit gesehen. Das heißt, auch die Damen und Herren
im Bundesverfassungsgericht haben die Änderung in der
Realität zur Kenntnis genommen; denn es ist nicht mehr
so, daß in einer intakten Familie einer, meistens der Vater, arbeitet und die Mutter zu Hause ist, um die Kinder
zu betreuen. In diesem Zusammenhang begrüßen wir die
Rechtsprechung eindeutig.
Beim Haushaltsfreibetrag ist das schon etwas komplizierter; denn im Steuerrecht wurde der Haushaltsfreibetrag eingeführt, um Alleinerziehenden einen Ausgleich
für den ihnen entgangenen Steuervorteil durch das Ehegattensplitting, also die Tatsache, daß bei Verheirateten
durch die gemeinsame steuerliche Veranlagung die
Steuerbelastung gemindert wird, zu gewähren. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sieht das etwas anders.
Ich sage hier ganz klar für die PDS: Wir freuen uns
über jede Mark, die auch verheiratete Eltern für ihre
Kinder bekommen. Ich mache aber ganz deutlich, daß
darin ein Problem besteht. Wir sind uns alle darüber im
klaren, daß früher oder später Alleinerziehende klagen
werden, weil sie dann wieder die Gleichbehandlung vom
Bundesverfassungsgericht fordern werden.
Wir sind deshalb an einem Punkt, wo wir uns als Politikerinnen und Politiker endlich der Frage stellen müssen, ob das Einkommensteuerrecht strukturell überhaupt
in der Lage ist, die Prinzipien der Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit und der sozialen Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten, und ob es möglich ist, auf diese Art und
Weise das Leben mit Kindern zu erleichtern. Es ist nicht
so. Wir wissen, daß die Frage der Individualbesteuerung
nun wirklich mit voller Kraft auf der Tagesordnung
steht.
({1})
Die Individualbesteuerung ermöglicht dann auch, einen ganz wesentlichen Schritt nach vorn zu tun auf der
Grundlage der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums von Kindern. Das ist eine positive Anerkennung
des Lebens mit Kindern. Alle Änderungen der letzten
Jahre bezüglich des Haushaltsfreibetrages und der Erhöhung des Kindergeldes hatten genau für die 1 Million
Kinder und Jugendlichen, die von Sozialhilfe leben und
die ich am Anfang meiner Rede erwähnte, keine AusWolfgang Weiermann
wirkungen; denn die Sozialhilfe wird immer mit dem
Kindergeld gegengerechnet. Lassen Sie uns hier einen
richtigen Schritt vorwärts tun! Gehen wir gemeinsam
zur Individualbesteuerung über, bei einem Kindergeld,
das wirklich die Existenz von Kindern sichert! Das wäre
ein konsequenter Schritt.
({2})
Hier muß ich Sie von der Koalition und der Regierung wirklich fragen: Wollen Sie die Peinlichkeit begehen und die Politik der alten Regierung fortsetzen und
die jeweiligen Zeiträume des Bundesverfassungsgerichtsurteils bis zum letzten ausnutzen? Oder können wir
nicht gemeinsam eine umfassende Gesetzesänderung
hinsichtlich der existentiellen Steuerfreistellung für Kinder und einer entsprechend positiven Kindergeldzahlung
einleiten, die noch in diesem Jahr handhabbar wird bezüglich aller Kinder und Jugendlichen, die von Sozialhilfe leben? Wir müssen tatsächlich Vorschläge wie die
vom Bundesverband für Alleinerziehende aufgreifen
und sie natürlich entsprechend in die jetzt beginnende
Haushaltsberatung und die mittelfristige Finanzplanung
einbringen.
({3})
Ich gebe das Wort
der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Dr. Barbara
Hendricks.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir müssen uns heute leider mit einer weiteren Erblast befassen, die uns die alte Regierungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P. hinterlassen hat.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem am
19. Januar 1999 veröffentlichten Beschluß entschieden,
daß die Regelungen des Einkommensteuergesetzes über
den steuermindernden Abzug von Kinderbetreuungskosten und eines Haushaltsfreibetrages mit Art. 6 des
Grundgesetzes unvereinbar sind. Die Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts sind für Fälle ergangen,
in denen Eltern sich gegen die geltenden Regelungen
zum Abzug von Kinderbetreuungskosten und zur Gewährung eines Haushaltsfreibetrages gewendet haben.
Das Bundesverfassungsgericht hat also die aus Ihrer Regierungszeit stammenden Regelungen für verfassungswidrig erklärt, meine Damen und Herren von der Opposition.
({1})
Aber das ist nicht alles. Sie haben die hier vom Bundesverfassungsgericht verworfenen Regelungen zum
Abzug von Kinderbetreuungskosten auf Grund einer anderen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus
1982 eingeführt. Jetzt hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht bescheinigt, daß Sie seine Entscheidung aus
1982 trotz seines eindeutigen Auftrages nicht verfassungskonform umgesetzt haben.
({2})
Sie haben damals ab 1984 den § 33 c Einkommensteuergesetz - eine Regelung zum Abzug von Kinderbetreuungskosten für Alleinerziehende - eingeführt.
Diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht nunmehr als verfassungswidrig verworfen. Das gleiche gilt
im übrigen für den Haushaltsfreibetrag, weil beide Vorschriften letztlich dazu geführt haben, daß sich bei
nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern eine
Bevorzugung gegenüber Ehegatten mit Kindern ergeben
konnte. Dies ist mit dem im Grundgesetz verankerten
besonderen Schutz von Ehe und Familie nicht vereinbar.
Das hätte für eine christliche Volkspartei, deren damaliger Vorsitzender die Familie stets im Munde führte, eigentlich einsichtig sein müssen.
({3})
Aber Reden ist eben eines, und Tun ist ein anderes.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber
wegen Ihrer Untätigkeit jetzt verpflichtet, spätestens bis
zum 1. Januar 2000 die Abziehbarkeit von Kinderbetreuungskosten neu zu regeln. Andernfalls ist ab diesem
Zeitpunkt in allen Fällen, in denen Steuerpflichtige für
ein Kind einen Kinderfreibetrag oder Kindergeld erhalten, bei der Feststellung des zu versteuernden Einkommens ein Betrag von 4 000 DM vom Einkommen abzuziehen, zuzüglich 2 000 DM für jedes weitere Kind.
Des weiteren wird der Gesetzgeber verpflichtet, bis
spätestens 1. Januar 2002 die Abziehbarkeit des sogenannten Haushaltsfreibetrags, der nach der Lesart des
Bundesverfassunsgerichts den Erziehungsbedarf abzudecken hat, neu zu regeln.
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die genannten Regelungen - rückwirkend ab 1984 - als mit dem
Grundgesetz nicht vereinbar erklärt. Gleichzeitig hat es
aber bestimmt, daß diese Regelungen weiterhin anzuwenden sind. Das gilt - wie schon an anderer Stelle ausgeführt - hinsichtlich der Kinderbetreuungskosten bis
Dezember dieses Jahres und hinsichtlich des Haushaltsfreibetrages bis 31. Dezember 2001. Finanzielle Auswirkungen ergeben sich also bereits ab dem Haushaltsjahr 2000, aber nicht für das laufende Jahr.
In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, Herr
Merz, daß Ihr Aufruf an die Familien, die noch nicht
endgültig ergangenen Steuerbescheide als vorläufig erklären zu lassen, Unfug ist. Die Regelungen haben keine
Auswirkungen auf dieses Jahr.
({4})
Dieser Aufruf verunsichert die Familien mehr, als es
nötig wäre.
({5})
- Ja, ein Schnellschuß.
Die Bundesregierung begrüßt die Wegweisung des
Bundesverfassungsgerichts. Sie entspricht unserem politischen Ziel einer steuerlichen Entlastung und damit
einer Stärkung der Familien.
Wir haben diese Forderungen schon während Ihrer
Regierungszeit erhoben. Ich erinnere hier insbesondere
an das Jahressteuergesetz 1996, mit dem die neuen Regelungen zum Kindergeld und Kinderfreibetrag eingeführt wurden. Damals haben wir vergeblich eine stärkere
Erhöhung des Kindergeldes gefordert und im übrigen
auch einen Entschließungsantrag zu den Kinderbetreuungskosten gestellt. Beides wurde von Ihnen abgelehnt.
({6})
Wären Sie schon damals einige Schritte so gegangen,
wie wir das in unserer Oppositionszeit wollten,
({7})
so wäre der Nachholbedarf, den wir jetzt auf Grund des
Verfassungsgerichtsurteils haben, nicht so groß.
({8})
Wie ernst es uns mit der Forderung nach Nachbesserung war und ist - wir haben hier sofort gehandelt; Frau
Kollegin Wülfing, Sie wissen das sehr wohl -, können
Sie daraus ersehen, daß wir das Kindergeld für das erste
und zweite Kind unmittelbar nach Übernahme der Regierungsverantwortung um jeweils 30 DM monatlich erhöht haben.
({9})
Sie haben diese Forderung immer damit abgetan, daß es
sich um eine sozialpolitische Wohltat handele, die nicht
notwendig sei.
({10})
Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen eindeutig
bescheinigt, daß Sie familienfeindliche Politik betrieben
haben.
({11})
Wir müssen jetzt die Versäumnisse ausbaden, die sich
in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit angesammelt haben.
({12})
Wir stellen uns dieser Aufgabe mit Freude. Deshalb
werden wir rechtzeitig einen Gesetzentwurf vorlegen,
der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts beachtet und auch den haushaltspolitischen Notwendigkeiten Rechnung trägt.
Die Aussagen über Steuermindereinnahmen von
mehr als 20 Milliarden DM sind in diesem Zusammenhang voreilig. Sie treten nur ein, wenn diese Regierung
nichts täte, wenn sie das Aussitzen zur Methode erheben
würde. Das allerdings war Ihr Stil. Er mußte das Verfassungsgericht provozieren. Wir werden so nicht handeln.
({13})
Selbstverständlich, Herr Kollege Hauser, werden wir
für unseren Gesetzentwurf auch die Ergebnisse eines
Gutachtens des Ifo-Instituts von 1996 auswerten, das Sie
zwar in Auftrag gegeben hatten, aber während Ihrer Regierungszeit - soweit ich weiß, auf Ihre ausdrückliche
Weisung hin, Herr Kollege Hauser - unter Verschluß
gehalten haben, und zwar ganz offensichtlich deshalb,
weil in diesem Gutachten auf Ungereimtheiten bei der
Besteuerung von Ehegatten und Alleinerziehenden hingewiesen wurde. Das allerdings paßte nicht in Ihr finanzpolitisches Konzept. Es hätte in Ihr familienpolitisches Konzept passen müssen. Aber Sie haben Ihr immer vorgegebenes familienpolitisches Konzept über
Bord geworfen, weil Sie nicht wußten, wie Sie finanzpolitisch damit umgehen sollten. Das war das Problem.
Deswegen gab es die Weisung, das Ifo-Gutachten nicht
zu veröffentlichen. Wir haben die Freigabe des Gutachtens veranlaßt.
Der alten Bundesregierung und der sie tragenden
ehemaligen Mehrheit in diesem Haus war auch durch
solche Gutachten weder zu raten noch zu helfen. Skandalös an Ihrer Politik war und bleibt, daß Sie Familien
und Kindern in unserem Land seit 1984 vorenthalten
haben, was ihnen von Verfassungs wegen zugestanden
hätte. Das werden wir ändern.
({14})
Als nächster Redner
spricht der Kollege Hansgeorg Hauser, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Es war natürlich klar, daß die neue Regierung es auf die
Tour versuchen würde, sich auf Erblasten usw. zurückzuziehen.
({0})
Ich wäre da an Ihrer Stelle sehr zurückhaltend.
Wir sollten das Ganze einmal sehr nüchtern analysieren: Zum einen ist das jetzige Bundesverfassungsgerichtsurteil in dieser Form für jeden eine Überraschung
gewesen.
({1})
Wer etwas anderes behauptet, der lebt in einer anderen
Welt.
Zum anderen hat die neue Regierung hier absolut
keinen Anlaß, zu behaupten, sie hätte das, was vom
Bundesverfassungsgericht angemahnt worden ist, schon
längst in Angriff genommen. Wenn man sich das sogenannte Steuerentlastungsgesetz anschaut,
({2})
dann stellt man fest, daß darin beispielsweise nichts über
Kindergartenbetreuungskosten zu finden ist - ein Anliegen, von dem Sie immer behaupten, daß es für Sie
dringlich sei. Vorgesehen ist dagegen beispielsweise die
Streichung von Schulgeld. Doch auch das wird in dem
neuen Urteil als zu berücksichtigender Teil der Kosten
bei der Kindererziehung erwähnt.
({3})
- Schulgeld für private Schulen. Dort, wo staatliche Leistungen nicht mehr ausreichen, wird zusätzlich etwas
gezahlt. Das streichen Sie als abzugsfähige Ausgaben.
Das zeigt, daß Sie durchaus nicht in der Richtung handeln, die Sie jetzt überall vorgeben.
Im übrigen, Frau Kollegin Hendricks: Das Thema
heißt eigentlich Konsequenzen für die Bundesregierung.
Über Konsequenzen habe ich aber von Ihnen nichts,
aber auch gar nichts gehört.
({4})
Eines ist sehr wichtig, nämlich daß wir durch dieses
Urteil eine Bestätigung für den Grundsatz bekommen
haben: Ehe und Familie dürfen gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften nicht schlechtergestellt werden, auch nicht schlechter als beispielsweise
Alleinerziehende. Insofern ist dieses Urteil ein gewisser
Widerspruch zu dem, was 1982 festgelegt worden ist.
Die Festigung des Schutzes von Ehe und Familie, der in
Art. 6 des Grundgesetzes festgelegt ist, wird hier ausdrücklich bestätigt. Deshalb sind alle Bemühungen - ich
komme nachher noch einmal darauf zurück -, die
mit dem Urteil verbundenen Kosten durch die Abschaffung des Ehegattensplittings zu finanzieren, der falsche
Weg.
Wir müssen eine weitere Lehre aus dem Urteil ziehen, nämlich daß eine Entlastung für alle Einkommen
geboten ist und nicht nur einseitig für untere Einkommen. Hier muß etwas getan werden. Am besten geschieht das über eine sich über den gesamten Tarif entsprechende Entlastung.
Ich möchte noch eine weitere Feststellung treffen:
Die finanziellen Größenordnungen sind offensichtlich
sehr umstritten. Es gibt Schätzungen von 20 bis 35 Milliarden DM.
({5})
Das rührt sicherlich daher, daß es noch einen großen
Interpretationsbedarf gibt. Das muß noch sorgfältig untersucht werden. Aber eines sage ich gleich vorweg: Wir
werden jegliche Gegenfinanzierung durch Steuererhöhungen ablehnen. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer
für diese Zwecke würde wieder die Familien treffen; eine Abschaffung des Ehegattensplittings würde wieder
die Familien treffen; die Einführung der Ökosteuer würde ebenfalls wieder die Familien treffen. Wenn Sie das
Ehegattensplitting abschaffen wollen, dann handeln Sie
verfassungswidrig. Die Kappung des Ehegattensplittings, die Sie vorsehen - das haben die Anhörungen ergeben -, ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Sie
kennen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1957 und 1982. Darin wurde sehr deutlich
zum Ausdruck gebracht, daß das Ehegattensplitting keine Steuervergünstigung ist, die man beliebig auf den
Prüfstand stellen kann.
Meine Damen und Herren, wir werden das Urteil kritisch analysieren und beispielsweise prüfen müssen, ob
es um eine Pauschale geht. Mit „Betreuungs- und Erziehungsbedarf“ sind ja vollkommen neue Begriffe eingeführt worden, wohingegen der Haushaltsfreibetrag als
Begriff in Frage gestellt worden ist. Da müssen wir auch
kritisch hinterfragen, ob über die Pauschale hinaus noch
zusätzliche Aufwendungen bei Nachweis abzugsfähig
wären, und man muß sich natürlich fragen, ob das nicht
erheblich ausufert und dadurch neue Streitfälle entstehen; das werden wir sicherlich noch diskutieren müssen.
Eines sollten Sie, Frau Staatssekretärin, aber doch
klarstellen: die Regelung für die Altfälle. So wie es offensichtlich zur Zeit diskutiert wird, ergibt sich eine andere Meinung als die, die Sie hier vertreten. Daher sollten Sie zusammen mit Ihren Länderkollegen schnellstmöglich eine Regelung, auch eine Sprachregelung, finden, wie das zu behandeln ist. Sie sind es den Steuerpflichtigen schuldig, daß man hier keine Hoffnungen
weckt - Sie haben das nicht getan; das sage ich ausdrücklich -,
({6})
daß das für die anderen noch offen sei. Insofern hat Herr
Kollege Merz hier keinen Unfug erzählt, wie Sie ihm
unterstellen,
({7})
sondern etwas gesagt, was auch von allen Experten so
gesagt worden ist. Kümmern Sie sich bitte darum, daß
das sehr schnell geregelt wird.
Zum Schluß: Überprüfen Sie die Regelungen im
Steuerentlastungsgesetz sehr sorgfältig. Wir haben eine
ganze Reihe von verfassungsrechtlichen Bedenken.
Verhindern Sie, daß es auch bei diesem Gesetz wieder
„Endstation Karlsruhe“ heißt.
({8})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hauser, Altlastensanierung ist ein etwas zwiespältiges Geschäft. Man hat
viel Arbeit damit, freut sich aber, daß es nachher nur
besser werden kann.
({0})
Hansgeorg Hauser ({1})
Rotgrün ist auf eine weitere Erblast der Regierung
Kohl gestoßen. Das Verfahren, das dem Karlsruher Urteil vorausging, lief seit 1984; die Haushaltsrisiken sind
seit Dienstag nachträglich auf insgesamt knapp 40 Milliarden DM gestiegen. Nun werden wir uns der Herausforderung stellen.
Die Karlsruher Entscheidung bietet aber auch die
Chance für einen großen Wurf, für eine zeitgerechte
steuerliche Neuregelung für Familien. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgetragen, den existentiellen
Sach- und Betreuungsbedarf, der bei der Kindererziehung anfällt, angemessen zu berücksichtigen. Sowohl
das Existenzminimum als auch darüber hinausgehende
Kosten bei der Kindererziehung sind steuerlich freizustellen. Dies ist durch Erhöhung sowohl des Freibetrages
als auch des Kindergeldes möglich. Aus unserer Sicht ist
eindeutig eine Kindergeldlösung anzustreben, wie es das
rotgrüne Steuerentlastungsgesetz deutlich macht. Dort
haben wir unmittelbar nach Amtsantritt mit der Erhöhung des Kindergelds auf 250 DM - demnächst auf 260
DM - einen großen Schritt in die richtige Richtung getan - hart kritisiert von der Opposition.
({2})
Die Neuregelung sollte aber nicht bei einer Erhöhung
von Freibeträgen stehenbleiben. Vielmehr sollten wir
wirklich einen größeren Wurf wagen. Wir sollten die
Anregung der Richterinnen und Richter aufgreifen, einen Grundtatbestand zu schaffen, der alle kinderbezogenen Entlastungen umfaßt. Mit der Neuregelung können
wir auch einen beherzten Schritt wagen, das Leben mit
Kindern statt den Trauschein zu fördern.
({3})
Ich möchte ebenso wie die Kollegin Hendricks einen
Blick auf das 82er Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zum gleichen Thema werfen. Nach unserer Einschätzung hat Karlsruhe eine Wendung in der Einschätzung
des Ehegattensplittings vollzogen. Damals hatten Alleinerziehende geklagt. Um in den Genuß des Splittings
zu kommen, sollte es statt des Ehegatten- ein Familiensplitting geben. Die Ausweitung des Splittings wurde
damals abgelehnt. Die verminderte Leistungsfähigkeit
von Alleinerziehenden wurde aber anerkannt; als Kompensation wurde damals der Freibetrag erhöht. 1982 befand man, das Ehegattensplitting habe eine familienpolitische Dimension. 1999 befindet Karlsruhe, das Ehegattensplitting habe nichts mit der Kindererziehung zu
tun; es sei explizit keine Kompensation für die Erziehungsarbeit, da auch Ehepaare ohne Kinder davon profitieren. - Lesen Sie es nach! - Die höchsten Richterinnen und Richter zeigen damit ein vom Trauschein unabhängiges Familienverständnis. Das begrüßen wir ausdrücklich.
({4})
Wenn Erziehungsarbeit gemäß Karlsruhe demnächst
über hohe Freibeträge berücksichtigt werden muß, dann
hat das Ehegattensplitting keine familienpolitische Dimension mehr. Es fördert nicht mehr das Zusammenleben mit Kindern, sondern lediglich die Institution Ehe.
Darum - nicht aus Spargründen - hält Bündnis 90/Die
Grünen eine erneute politische Debatte über das Ehegattensplitting für notwendig.
({5})
Wir befinden uns damit in guter Gesellschaft. Auch
die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide
Simonis und die Vorsitzende des Ausschusses für Familienangelegenheiten, die Kollegin Hanewinckel, haben
sich für Veränderungen beim Ehegattensplitting ausgesprochen.
({6})
- Eine sehr gute Gesellschaft, Herr Koppelin.
Als ersten Schritt sollten wir die Kappung des Ehegattensplittings, wie es derzeit im - zugegebenermaßen
komplizierten - Steuerentlastungsgesetz vorgesehen ist,
überdenken und es gegebenenfalls aus diesem Gesetz
herausnehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, daß verheiratete Eltern nicht schlechter als unverheiratete Eltern gestellt werden dürfen.
Dieses Kriterium wird auch von einer gerechten Individualbesteuerung erfüllt. Bereits bei den Beratungen
des Steuerentlastungsgesetzes haben die Hamburger
Frauensenatorin wie auch das DIW ein Realsplitting für
alle Ehepaare vorgeschlagen. Wir sollten auch die Situation von Nichtverdienenden und Sozialhilfeempfängerinnen im Auge behalten.
({7})
Zugegeben, wir haben ein Finanzierungsprobleme.
Aber sobald wir einen genauen Überblick haben, werden
wir auch dafür eine Lösung finden. Debatten über Steuererhöhungen sind absolut kontraproduktiv. Vor allem
die Opposition verliert in solchen Debatten schnell den
Überblick und beklagt sich dann bei uns.
({8})
Wir freuen uns auf eine politische Debatte, weil wir
ein gerechtes, verfassungsgemäßes und modernes Familiensteuerrecht wollen. Den dezenten Hinweis aus Karlsruhe, eine einfache und klare Regelung zu treffen, sollten wir nicht nur bei diesem Gesetz berücksichtigen.
Vielen Dank.
({9})
Ich gebe das Wort
der Kollegin Gisela Frick, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Die heutige Aktuelle Stunde ist ein würdiger Abschluß von steuerpolitischen Chaostagen, die wir
Klaus Wolfgang Müller ({0})
in der letzten Woche erlebt haben und die nicht mehr zu
überbieten sind.
({1})
Wir hatten am Montag in der Anhörung zur sogenannten Ökosteuer - ich möchte das Wort Ökosteuer in
dicken Anführungszeichen verstanden wissen - einen
totalen Verriß dieser Steuer durch die Sachverständigen
und die beteiligten Verbände. Wir hatten am Dienstag in
der Anhörung zum sogenannten Steuerentlastungsgesetz
1999/2000/2002 ebenfalls einen totalen Verriß durch die
meisten Sachverständigen.
({2})
- Natürlich haben Sie immer ein, zwei Alibileute dabei,
die dann Ihre Meinung stützen, aber mehr sind es doch
nicht, Herr von Larcher.
Am Dienstag mittag wurde dann die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts bekannt, die Anlaß für
diese Diskussion heute ist. Hier ist ein Volumen von
mindestens 22 Milliarden DM aufzubringen. Frau
Hendricks, ich bin ganz sicher, daß Sie mit Ihren Einschätzungen falsch liegen. Bei 22 Milliarden DM liegt
die Untergrenze, die das Bundesverfassungsgericht gezogen hat. Wir als Gesetzgeber sind jederzeit in der Lage, darüber hinauszugehen. Aber wir sind auf gar keinen
Fall in der Lage, darunter zu bleiben.
Wir hatten dann am Mittwoch im Finanzausschuß eine richtige Phantomdebatte über dieses sogenannte
Steuerentlastungsgesetz, in der jeder Knackpunkt noch
einmal in Frage gestellt wurde, indem gesagt wurde:
Darüber denken wir noch einmal nach, da kommt wahrscheinlich noch etwas anderes. - Wir wollen einmal sehen, was.
Wir hatten am Donnerstag, das heißt gestern, noch
einmal eine solche Phantomdebatte über die sogenannte
Ökosteuer. Auch da hieß es bei wichtigen Dingen: Es
kommt nicht so, wie es im Entwurf steht; es wird noch
anders werden.
Heute erleben wir diese Aktuelle Stunde über die
Ausführung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts.
Von Ihnen, Frau Staatssekretärin, haben wir dazu überhaupt nichts gehört.
({3})
Was Sie gesagt haben, das war nur eine Schelte für die
Vergangenheit.
Ich darf einmal daran erinnern, daß es sich im Bereich der Steuergesetzgebung in der Regel um zustimmungsbedürftige Gesetzentwürfe handelt. Daran ist der
Bundesrat genauso beteiligt.
({4})
Das heißt, Sie waren genauso in der Verantwortung wie
die vorherige Regierung. Insofern ist diese Schelte für
die Vergangenheit nicht gerade sehr zielführend.
({5})
Wenn wir uns die öffentliche Diskussion anschauen,
dann sehen wir jetzt nur eine Debatte über Steuererhöhungen. Herr Müller, für die Opposition muß ich sagen:
Entschuldigen Sie bitte, daß wir den Überblick verlieren.
Auch Sie alle haben ihn verloren. Jeden Tag kommt aus
einer anderen Ecke der Regierungskoalition ein neuer
Anstoß zur Steuererhöhungsdebatte.
Ich nenne die Mehrwertsteuer, die Mineralölsteuer,
die Einschränkung oder Abschaffung des Ehegattensplittings und die Wiedereinführung der privaten Vermögensteuer. Das rasselt nur so. Deshalb ist es ganz
klar, daß wir, um den Überblick nicht zu verlieren, versuchen, Ihre verwinkelten Gedankengänge etwas nachzuvollziehen.
Da bin ich ausnahmsweise einmal einer Meinung mit
dem Finanzminister Lafontaine, der gesagt hat: Bitte
keine Steuererhöhungsdebatte! - Aber bitte nicht nur
keine Steuererhöhungsdebatte, sondern auch keine
Steuererhöhungen. Das ist ja das Entscheidende!
({6})
- Frau Scheel klatscht auch, das freut mich besonders in
diesem Zusammenhang. - Deshalb müssen Sie durch
Einsparungen im Haushalt und nicht etwa durch neue
Steuererhöhungen versuchen, das erforderliche Volumen
freizuschaufeln. Wir haben es eben schon vom Kollegen
Hauser gehört: Alle im Moment in die Diskussion eingebrachten Vorschläge zu Steuererhöhungen bringen
Benachteiligungen gerade für die Familien mit sich, und
sind deshalb kontraproduktiv. Es muß also um Einsparungen im Haushalt gehen. Das ist keine leichte Arbeit.
Darum beneiden wir Sie nicht. Aber nur diese Maßnahmen sind der richtige Weg.
({7})
- Wir sind nicht schadenfroh, Herr von Larcher, überhaupt nicht. ({8})
Nehmen Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als goldene Brücke,
({9})
um Ihre bisherigen Steuerpläne, seien es die Steuerentlastungsgesetze oder die Ökosteuer, sei es die noch ganz
nebulöse und sich nur am Horizont schwach abzeichnende Unternehmenssteuerreform, wieder einzusammeln, neu zu überdenken und neu zu machen.
({10})
Sie hätten jetzt eine wunderbare Gelegenheit, Ihr Gesicht zu wahren und trotzdem etwas Vernünftiges vorzulegen.
Der Kollege Singhammer hat eben im Zusammenhang mit der 630-Mark-Regelung von einer „Schubladisierung“ gesprochen - ein sehr schönes, neues Wort. Ich
würde sagen, das reicht nicht. Legen Sie die Sachen
nicht in die Schubladen, sondern schmeißen Sie sie in
den Papierkorb oder - besser noch - in den Reißwolf.
({11})
Das Wort hat Frau
Bundesminister Dr. Christine Bergmann.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Frau Frick, Ihr Beitrag war sicher ein ehrenwerter Versuch, von dem eigentlichen Thema hier abzulenken. Ich
denke aber, er ist nicht gelungen.
({0})
Wir werden mit Sicherheit keine Dinge zurücknehmen,
nur weil wir jetzt ein Paket auf den Tisch bekommen
haben, das unsere politische Arbeit und Richtung unterstützt. Es handelt sich dabei allerdings - auch das
möchte ich noch einmal wiederholen - um eine Erblast
der vergangenen Jahre. Das Bundesverfassungsgericht
hat sich in der Vergangenheit mehrfach bemüht, durch
seine Urteile den Weg zu mehr steuerlicher Gerechtigkeit zu ebnen. Doch die alte Regierung hat diese Urteile,
die die Lasten der Familien betreffen, schlichtweg ignoriert.
({1})
Deshalb können wir jetzt sagen, auch wenn wir zur
Zeit nocht keine detaillierten Vorschläge vorlegen können, wie das im einzelnen zu finanzieren sein wird: Es
ist auch unsere politische Richtung, die damit bestätigt
wird. Ich will hier noch einmal daran erinnern, daß Sie
es waren, die noch nicht einmal die Erhöhung des Kindergeldes auf 220 DM wollten. Das haben die SPDgeführten Länder im Bundesrat durchgesetzt.
({2})
Vorhin war schon die Rede von Selbstkritik. Die
wäre an dieser Stelle wirklich einmal angebracht. Sie
haben den Familien in den letzten Jahren wirklich einiges vorenthalten. Wir versuchen jetzt, die Richtung zu
ändern und den Familien schrittweise mehr zukommen
zu lassen. Daß sich hier eine solche Last angesammelt
hat, verdanken wir wirklich Ihrer Politik, die die früheren Urteile des Bundesverfassungsgerichts nie umgesetzt
hat.
({3})
Obwohl Sie, wie wir alle wissen, über Familien und
Familienförderung gerne reden, haben Sie die Verantwortung dafür auf die Eltern abgewälzt. Wir meinen
schon, daß die Erziehung der Kinder in erster Linie in
der Verantwortung der Eltern liegt. Das heißt aber nicht,
daß die Gesellschaft und die Politik sie damit alleine lassen darf, wie Ihre Politik es getan hat. Es ist Ihnen ja
nicht einmal gelungen bzw. sehr schwergefallen, das
einfache Existenzminimum von Kindern von der Steuer
freizustellen.
Jetzt unterstreicht das Bundesverfassungsgericht, daß
die Leistungen der Familien weit über den existentiellen
Sachbedarf von Kindern hinausgehen, und fokussiert
den Blick auf die Betreuungsleistungen in den Familien.
Kinderbetreuung ist eine Leistung, die auch im Interesse
der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt.
Der Staat hat dementsprechend dafür Sorge zu tragen,
daß es Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise und
auch zeitweise auf eigene Erwerbstätigkeit zugunsten
der persönlichen Betreuung der Kinder zu verzichten
wie auch Familien- und Erwerbstätigkeit miteinander zu
verbinden.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwar, weil es in
der Vergangenheit üble Erfahrungen gemacht hat, wie
mit seinen Urteilen umgegangen wurde, enge Vorgaben
im Hinblick auf den Zeitraum gemacht. Aber es hat uns
nicht auf bestimmte Lösungen festgelegt - obwohl es im
Falle nicht rechtzeitigen Handelns des Gesetzgebers
präzise Rechtsfolgen definiert. Vielmehr weist das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf die Möglichkeit
hin, „die gesamte kindbedingte Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit in einem Grundtatbestand zu erfassen, der alle kindbezogenen Entlastungen umfaßt“
und einfach und bürgernah ist.
({4})
In diesem Zusammenhang macht das Bundesverfassungsgericht mehrfach auf das Kindergeld und den Kinderfreibetrag aufmerksam.
Wir werden die verschiedenen möglichen Lösungen
einer generellen steuerlichen Berücksichtigung von Betreuungs- und Erziehungsbedarf prüfen und in der Bundesregierung die erforderlichen Entscheidungen treffen.
Dabei werden wir aber die Erfahrungen berücksichtigen,
die wir mit dem kumulierenden dualen System des Familienlastenausgleichs gemacht haben. Dieses System
hat gesellschaftspolitisch falsche Auswirkungen, weil
die Freibeträge bei niedrigen Einkommen nicht oder nur
teilweise genutzt werden können,
({5})
dafür aber bei steigendem Einkommen eine immer höhere Entlastung eintritt.
({6})
Diesen Effekt wollen wir nicht wieder erreichen.
({7})
Vorhin hat Herr Hauser hier von einer einseitigen
Entlastung der Bezieher kleiner Einkommen gesprochen. Dies muß ich schon als Zynismus betrachten; denn
genau das Gegenteil hat in der Vergangenheit stattgefunden: eine einseitige Entlastung der Bezieher hoher
Einkommen.
({8})
Die Bundesregierung wird Lösungsmöglichkeiten erarbeiten, welche das Existenzminimum sowie den Betreuungs- und Erziehungsbedarf von Kindern, wie vom
Bundesverfassungsgericht gefordert, steuerlich angemessen berücksichtigen. In einer solchen Herausforderung liegt auch die Chance - da gebe ich Ihnen recht,
Herr Müller -, strukturell moderne Wege einzuschlagen.
Das heißt: Die steuerliche Entlastung ist gemäß dem Tenor des Bundesverfassungsgerichtsurteils dort anzusetzen, wo die stärkste Förderung erfolgen muß: bei den
Familien mit Kindern.
Ich denke, daß dieses Urteil unsere Bemühungen umeine Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes unterstützt; denn wenn man dem Gedanken des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Betreuungsleistung von
Müttern und Vätern folgt, ist der Weg, den wir gehen
wollen, richtig, nämlich die Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs flexibler zu gestalten, um Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung besser miteinander vereinbaren zu können. Die Bundesregierung wird also in Kürze
einen Reformentwurf zu Elterngeld und Elternurlaub
einbringen.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese unsere politische Richtung deutlich bestärkt. Die Bundesregierung
hat von Anfang an deutlich gemacht, daß Kinder und
Jugendliche an der Spitze ihrer Politik stehen: nicht nur
durch die Erhöhung des Kindergeldes, sondern auch
durch die Auflegung des Sofortprogramms zur Schaffung von Ausbildungsplätzen für 100 000 Jugendliche
und durch die Regelung zur Ausbildungsförderung. Das
sind Leistungen, die auch von seiten der Opposition ruhig anerkannt werden könnten; denn sie dienen den Familien und den Kindern in unserem Land.
({9})
Wir werden dies in Umsetzung der Entscheidung aus
Karlsruhe fortführen, und zwar nicht nur, weil es rechtlich geboten ist - das ist selbstverständlich -, sondern
weil dieser Weg in voller Übereinstimmung mit den
Überzeugungen dieser rotgrünen Regierung steht.
Danke.
({10})
Ich gebe der Kollegin Hannelore Rönsch, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Bevor ich zu dem
eigentlichen Thema spreche, will ich noch eine Vorbemerkung machen, Frau Kollegin Bergmann. Sie haben
noch einmal das 100 000 Jugendliche betreffende Programm angesprochen, mit dem diese jungen Menschen
qualifiziert werden sollen, einen Beruf ergreifen zu können, obwohl sie mit einem schlechten Schulabschluß
entlassen worden sind. Ich erwähne diesen Punkt ganz
bewußt als Hessin,
({0})
weil es mich immer wieder empört, daß dieses Geld
nicht in die Schulen gesteckt wird und dadurch den Kindern und Jugendlichen ein Hauptschulabschluß ermöglicht wird, der sie befähigt, einen Lehrberuf zu ergreifen.
({1})
Jetzt müssen wir Notprogramme hinnehmen, weil die
verfehlte Schulpolitik in einigen Bundesländern unsere
jungen Menschen ins Leben entläßt, unfähig, einen
Lehrberuf zu ergreifen, weil sie noch nicht einmal die
Flächenberechnung beherrschen, die sie für den Malerberuf dringend brauchen.
({2})
Jetzt komme ich zu dem eigentlichen Thema. Das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein sehr gutes
Urteil für die Familien in Deutschland. Wir sollten uns
alle darüber freuen. Man merkt die große Freude bei den
Regierungsparteien deutlich, so auch heute in dieser Debatte.
({3})
Die Partei, die im Wahlkampf angetreten ist, die Familien ein Stück zu stärken und ihnen eine Erhöhung des
Kindergeldes zuzugestehen,
({4})
denkt doch sehr kurz. Das ist bei beiden Redebeiträgen
von Vertretern der Regierung deutlich geworden. Die
Frau Staatssekretärin und die Frau Ministerin schauen
noch nicht einmal in die alten Unterlagen, die sie in ihren Ministerien vorfinden müßten.
Wir sollten uns einmal zurückerinnern und uns fragen: Wie war das damals? Wer hat denn den Kinderfreibetrag abgeschafft? 1975 haben die Sozialdemokraten
mit einem Federstrich diese Kinderfreibeträge abgeschafft.
({5})
- Es kommt noch schöner, Frau Staatssekretärin. Ich
wußte gar nicht, daß Sie von der Regierungsbank Zwischenrufe machen dürfen.
Im Plenum sitzt eine ehemalige Ministerin, die 1980
sehr lautstark in dem damaligen Wahlkampf angekünBundesministerin Dr. Christine Bergmann
digt hat: Wir erhöhen das Kindergeld. Das wurde tatsächlich gemacht.
({6})
Wissen Sie, was nach der Wahl passiert ist? Schauen Sie
einmal in Ihren alten Unterlagen nach! Diese Kindergelderhöhung wurde sofort wieder zurückgenommen,
weil nicht genug Geld in der Kasse war, um die gemachten Wahlversprechungen nachher tatsächlich einlösen zu können. Wir können Ihnen versichern: Wir werden die Familien in Deutschland davor schützen, daß so
etwas noch einmal passiert.
({7})
Dabei haben wir das Bundesverfassungsgericht auf unserer Seite.
({8})
1982 haben wir sofort nach Übernahme der Regierung die Kinderfreibeträge wieder eingeführt und kontinuierlich erhöht, ebenso wie das Kindergeld.
({9})
- Herr von Larcher, Sie haben sich heute schon durch
eine Reihe von „qualifizierten“ Zwischenrufen bemerkbar gemacht.
({10})
Ich hoffe, daß jeder einzelne Zwischenruf im Protokoll festgehalten wird, damit die breite Öffentlichkeit Ihr
Verständnis von Familienpolitik erkennt. Ich kann schon
verstehen, daß Ihnen dieses Thema nicht paßt.
Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub und die Anerkennung von Kindererziehungszeiten bei der Rente sind
während unserer Regierungszeit eingeführt worden.
Diese Vorhaben hatten Sie zwar in der Schublade,
konnten sie aber nie verwirklichen.
Jetzt auf einmal reden Sie wieder vom Ehegattensplitting. Das Ehegattensplitting wurde von Ihnen doch
noch nie geliebt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht an dieser Stelle deutlich, daß die Familienleistung anerkannt wird und daß man nicht mit einem
Federstrich durch die Begrenzung des Ehegattensplittings die entstandene Haushaltslücke schließen kann.
Wir werden auch sehr genau aufpassen, daß Sie nicht
mit einer Mehrwertsteuererhöhung die Familien noch
zusätzlich belasten.
({11})
Auch die von Ihnen geplante Ökosteuer, die Energiesteuer, die den Familien in jedem Lebensbereich sehr
tief in die Tasche greift, wird von uns ebenfalls genau
auf die für die Familien entstehenden Belastungen überprüft.
Einen weiteren Punkt, der von uns im Rahmen unserer Familienpolitik immer verfolgt wurde, hat dieses
Urteil deutlich gemacht, nämlich die Gleichstellung der
Leistungen für Alleinerziehende und Familien.
({12})
- Sie waren doch in diesem Zeitraum Parlamentarierin
und konnten sehen, daß Vorhaben, die Sie im Hinterkopf hatten, von uns umgesetzt wurden. Ich verstehe gar
nicht, daß Sie heute nach der Debatte um die 630-DMBeschäftigungen noch den Mut haben, immer wieder
Dinge einzufordern, die Sie während Ihrer Regierungszeit nicht umgesetzt haben.
({13})
- Nein, weil Sie Kinderfreibeträge abgeschafft und Kindergelderhöhungen wieder zurückgenommen haben.
Frau Kollegin
Rönsch, bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich
will Ihnen zum Schluß sagen: Wir werden im Sinne der
Familien mithelfen und mit dazu beitragen, daß die 20
bzw. 22 Milliarden DM von den Kommunen, von den
Ländern und vom Bund für die Familien bereitgestellt
werden. Wir werden gerne den Haushalt daraufhin
durchforsten, welche Posten und Positionen, die Ideologie in Ihrem Sinne darstellen, besser für Leistungen an
die Familie herangezogen werden können.
({0})
Als nächste Rednerin spricht Frau Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Rönsch, mir fällt dazu nur ein: Es schlägt dem Faß den
Boden aus!
({0})
Sie waren von 1990 bis 1994 Familienministerin. In dieser Zeit hat das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgeber aufgefordert, das Existenzminimum und das Kindergeld steuerlich anders zu behandeln, weil die damalige
Regierung den Leuten das Geld weggesteuert hat.
({1})
Jetzt sagen Sie, wir hätten nicht den Mut zum Handeln.
Dazu fällt einem fast nichts mehr ein, außer den Kopf zu
schütteln.
({2})
Hannelore Rönsch ({3})
Wenn Sie dann noch sagen, wir hätten das Verfassungsgericht auf unserer Seite, kann ich dazu nur sagen:
Ja, wunderbar. Wir haben immer - zu Recht - gesagt,
daß es im Prinzip ein Armutszeugnis für die Politik ist das muß man einmal ganz ernsthaft so sehen -, wenn
das Bundesverfassungsgericht in den verschiedenen Urteilsbegründungen damals permanent anmahnen mußte,
daß der Staat den Familien oder auch Alleinerziehenden
die Unterstützungen zukommen läßt, die ihnen eigentlich zustehen. In den 16 Jahren Kohl-Regierung haben
wir jedoch nie erlebt, daß der Gesetzgeber gehandelt
hätte. Als Opposition konnten wir damals nur sagen:
Das bedauern wir sehr; wir bemühen uns, das sinnvoll
mit umzusetzen. Wir haben Sie damals bei der Umsetzung der Anhebung des Kindergeldes und der Erhöhung
des steuerfreien Existenzminimums unterstützt, haben
uns sehr aktiv und sehr konstruktiv an der Debatte beteiligt. Das möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen,
da Sie hier solch eine Mär verbreiten wollen.
Wenn auf der anderen Seite - das geht jetzt an Frau
Professor Frick; das ist klar - gesagt wird, es gebe steuerpolitische Chaostage,
({4})
Verrisse unserer Steuerentlastungspläne usw., dann muß
ich dazu sagen: Wir haben Anhörungen durchgeführt.
Nach unserem parlamentarischen Verständnis führen wir
Anhörungen durch, um uns die Vorschläge und Überlegungen von Sachverständigen anzuhören. Deswegen
macht man Anhörungen. Das ist nicht „just for fun“,
sondern sollte auch einen Sinn machen. Danach werten
wir die Ergebnisse der Anhörungen selbstverständlich
ganz sorgfältig aus und diskutieren sie in aller Ruhe in
den Fachausschüssen. Dies haben wir in dieser Woche
sowohl bei der Einkommensteuerreform als auch bei der
ökologischen Steuerreform im ersten Durchgang so getan. Das ist ein ganz normales ordentliches Verfahren.
Man braucht sich hier gar nicht aufzuregen.
Was den Überblick betrifft: Für uns ist vollkommen
klar, daß wir das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/
2002, die Einkommensteuerreform, demnächst zeitgerecht - so wie wir es vorhatten - rückwirkend zum
1. Januar 1999 in der Form, in der es mit den fachlichen
Änderungen in einzelnen Punkten vorliegt, in der zweiten und dritten Lesung beschließen.
({5})
Das geschieht vollkommen unabhängig von dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, das wir jetzt diskutieren.
Wir wollen auch die ökologisch-soziale Steuerreform
in zweiter und dritter Lesung beschließen, und zwar daran gekoppelt, daß es keine weitere Anhebung der Mineralölsteuer geben wird. Um auch das klarzustellen: Es
bleibt so, wie es zwischen den Koalitionspartnern besprochen worden ist. Das hat mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil null zu tun, es ist davon vollkommen
losgelöst. Diese ökologisch-soziale Steuerreform ist in
Koppelung mit der Absenkung um die 0,8 Prozentpunkte bei der Rentenversicherung vorgesehen.
({6})
Dabei bleibt es 1999. Jede andere Diskussion ist hier
fehl am Platz.
({7})
- Die 7 Prozent zusätzliche Mineralölsteuer, Frau
Rönsch, beziehen sich auf einen Verfahrensweg für die
Zukunft à la Großbritannien. Das hat nur etwas damit zu
tun, wie man das in den nächsten Stufen in den nächsten
Jahren systematisch angeht. Es hat nichts mit irgendwelchen Gegenfinanzierungen zu tun, sondern betrifft die
Frage, wie wir mit der zweiten und dritten Stufe umgehen.
({8})
Machen wir das mit irgendwelchen blöden Benzinpreisdebatten, oder machen wir das prozentual? Darüber darf
man wohl nachdenken. Aber es darf absolut nicht in diesen Zusammenhang gestellt werden. Das ist vollkommen falsch interpretiert worden;
({9})
da sage ich auch an die Damen und Herren von der Presse. Es war nicht nur ein Mißverständnis, sondern eine
absolute Ente, daß die „Bild“-Zeitung diesen Zusammenhang hier hergestellt hat.
({10})
Abschließend komme ich zu der Frage der neuen
Vorgabe bei der Gegenfinanzierung. Selbstverständlich
wird, steuerpolitisch gesehen, alles, was an familienpolitischen Maßnahmen verankert ist, diskutiert werden.
Wir werden über das Splitting reden; das ist klar. Natürlich werden wir darauf achten, die Vorgaben verfassungskonform umzusetzen. Ich sage Ihnen: Das Manna
fällt nicht vom Himmel. Wir müssen für 2000 bis 2002
eine ordentliche Haushaltsplanung machen. Es wird mit
den Ländern zu beraten sein, ob die Länder dazu überhaupt bereit sind. Bayern hat einen Beschluß gefaßt, daß
durch die Steuergesetzgebung des Bundes keine Mehrbelastung für die Länder entstehen darf - Gruß an
Stoiber. Sie reden immer von Nettoentlastung. Das zeigt
das Doppelspiel der CSU in dieser Frage.
({11})
Wir werden einen guten Gesetzentwurf vorlegen.
({12})
Davon gehen wir von seiten der Regierungsfraktionen
aus. Wir werden das tun, was den Familien mit Kindern
zusteht. Wir werden das Leben mit Kindern steuerlich
erleichtern. Das war immer das Ziel der jetzigen Regierung und wird es, gerade bei der Umsetzung, auch bleiben.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der
Abgeordnete Dr. Gregor Gysi, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Fraktionsvorsitzender hat man den
Vorteil, für alles und auch wieder für nichts Experte zu
sein. Deshalb ist man dann so erfolgreich in der Politik.
Ich will Ihnen folgendes sagen: Ich habe mich sehr
über die Rede von Frau Rönsch gewundert. Darf ich Ihnen wenigstens einen Satz aus der Pressemitteilung des
Bundesverfassungsgerichts vorlesen, der wie folgt lautet:
Der Zweite Senat hat den Beschwerdeführern recht
gegeben und die angegriffenen gesetzlichen Vorschriften ({0}) sowie
alle nachfolgenden Fassungen für verfassungswidrig erklärt.
Daß man in diesem Zusammenhang ernsthaft behaupten
kann, daß das Verfassungsgericht an Ihrer Seite steht,
wenn es gerade festgestellt hat, daß Sie hier eine verfassungswidrige Bestimmung nach der anderen verabschiedet haben, ist mehr als ein Salto mortale.
({1})
Warum fällt es Ihnen eigentlich so schwer, sich einmal hier hinzustellen und zu sagen: Wir haben einen
Fehler gemacht, und jetzt wird es eine gemeinsame Aufgabe des Parlaments sein, diesen Fehler zu bereinigen.
({2})
Das wäre dann wenigstens ein ehrlicher Anfang. Aber
statt dessen kommen Sie mit ominösen Feststellungen zu
Ihrer Familienpolitik, die vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden sei, obwohl Sie Jahr für Jahr Bestimmungen erlassen haben, die sich alle als verfassungswidrig herausgestellt haben.
Ich kann allerdings - auch das will ich deutlich sagen
- nicht ganz die Äußerungen der neuen Regierung teilen, das entspreche doch der politischen Richtung, die
sie vorgegeben habe. Ich habe Ihre Koalitionsvereinbarung noch einmal gelesen. Darin steht zu alledem nichts.
Es sind dort auch keine Vorhaben diesbezüglich angekündigt worden. Auch im Haushalt 1999 findet sich dafür keine müde Mark.
({3})
So ganz kann das Ihren unmittelbaren Plänen also nicht
entsprochen haben. Auch das hätte man ehrlicherweise
sagen können.
({4})
Ich will noch etwas zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sagen. Was ist denn da in Wirklichkeit
passiert? Seit Jahren sagt das Bundesverfassungsgericht
bei verschiedenen Gelegenheiten, daß das Existenzminimum von Kindern zu sichern ist, daß Alleinerziehende
und Eheleute, die Kinder erziehen, nicht über Gebühr
belastet werden dürfen und daß die Aufwendungen für
Kinder zu berücksichtigen sind.
Seit Jahren trickst die alte Mehrheit in dieser Frage
herum, indem sie das Existenzminimum immer herunterrechnet und dann dazu übergeht, nur bestimmte
Gruppen einzubeziehen und andere herauszulassen. Jetzt
hat es dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts ganz offenkundig gereicht. Er hat gesagt: Wenn es
nichts nutzt, daß wir den Schutz von Familien in die
Verfassung hineinschreiben, und wenn mit Hilfe von
Tricks versucht wird, unsere diesbezüglichen Entscheidungen und damit die Verfassung zu unterlaufen, dann
müssen wir eben einen anderen Weg gehen und klare
Termine und Summen nennen. Dann gibt es kein Rütteln
und kein Deuteln mehr. Dann weiß der Gesetzgeber
endlich, was er zu tun hat.
Daß das erforderlich ist, das ist die eigentliche
Schande für unser Haus und dafür, was wir bewirkt haben. Dazu sollten letztlich wir alle selbstkritisch Stellung nehmen.
({5})
Ich will aber zu den in dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts angegebenen Fristen und deren Rückwirkung noch etwas sagen. Mir gefällt es nicht, daß auch
die neue Koalition, wenn sie denn schon meint, die Förderung von Familien sei ihre politische Richtung, ernsthaft bis zum letztmöglichen Tag warten will. In den entsprechenden Beschlüssen steht ja immer „spätestens“.
Warum sagen Sie nicht: „Unter solchen Bedingungen
beraten wir über den Haushaltsentwurf neu“, und warum
versuchen Sie nicht gleich, eine gerechte Regelung herzustellen? Warum nutzen Sie die Frist bis zum letzten
Tag aus?
({6})
Die Ungerechtigkeit bzw. die Verfassungswidrigkeit besteht doch schon jetzt. Das hätte zumindest ich erwartet.
Es ist nicht ganz richtig, daß hier gesagt wird, daß
keine Rückwirkung erfolgen wird. Ich will Sie darauf
hinweisen - auch ich habe das Urteil natürlich noch
nicht vorliegen -, was in der entsprechenden Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichtes am Schluß
steht. Da steht nämlich, daß der Bundesfinanzhof zu
prüfen hat, ob man den Beschwerdeführern die verChristine Scheel
fassungsrechtlich gebotene Entlastung gewähren kann.
Dann steht dort: Wenn dies nach dem geltenden Recht
nicht geht, „müßte der Gesetzgeber insoweit eine rückwirkende Regelung treffen“.
Das bezieht sich dann nicht nur auf die Beschwerdeführer, sondern auf all diejenigen, deren Einkommensteuerbescheid noch nicht rechtskräftig ist. Dann entsteht wieder die große Ungerechtigkeit, daß diejenigen,
die nichts unternommen haben, weil sie sich auf die
Verfassungskonformität der Gesetze verlassen haben,
leer ausgehen und daß diejenigen, die etwas unternommen haben, etwas bekommen.
Deshalb sage ich Ihnen: Beseitigen Sie diese Ungerechtigkeit, und regeln Sie dies dann rückwirkend für
alle. Anders ist eine Gerechtigkeit diesbezüglich nicht
herstellbar.
({7})
Noch zwei Bemerkungen. Wenn es um die Finanzierung geht, dann sollte man über unsere Anträge auf
Wiedereinführung der privaten Vermögensteuer und die
Einführung einer Luxussteuer und über Abrüstung
nachdenken. Ich halte den Verteidigungsetat auch im
Haushaltsentwurf dieser Bundesregierung für 1999 nach
wie vor für dramatisch hoch.
Letzte Bemerkung. Eine Gerechtigkeitslücke bleibt.
Damit konnte sich das Bundesverfassungsgericht nicht
beschäftigen. Aber ich finde, wir sollten uns endlich
einmal damit beschäftigen. Es gibt in diesem Lande
Millionen Menschen, die so wenig verdienen, daß sie
keine Steuern zahlen können. Die haben überhaupt
nichts von irgendwelchen Steuerentlastungsvorschriften.
Lassen Sie uns doch einmal zu einer direkten Förderung
übergehen! Einer Sozialhilfeempfängerin, die jetzt ein
erhöhtes Kindergeld bekommt, wird die Erhöhung im
Rahmen der Sozialhilfe wieder abgezogen. Die hat
nichts von Ihrer Kindergelderhöhung. Wir brauchen
endlich direkte Förderungen für Kinder von Eltern mit
Einkommen im unteren Bereich. Sonst bleiben alle Regelungen zur Steuerentlastung ungerecht.
({8})
Das Wort hat Frau
Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Leistungen, die egal in
welcher Form in den Familien erbracht werden, müssen
vom Gesetzgeber besser anerkannt werden. Das macht
dieses Bundesverfassungsgerichtsurteil sehr deutlich.
Was daraus noch deutlicher hervorgeht, ist, daß über
viele Jahre hinweg der Gesetzgeber die Familien steuerlich zu schlecht behandelt hat.
({0})
Wie oft haben wir denn im Finanzausschuß erlebt,
daß wir um jede finanzielle Besserstellung der Familien
regelrecht ringen mußten!
({1})
Angesichts dessen muß ich der Kollegin Scheel ein bißchen widersprechen: Wir haben doch damals die Regierung bei der Kindergeldregelung nicht unterstützt. Wir
haben sie regelrecht dazu gezwungen, das Kindergeld in
dieser Weise festzusetzen.
({2})
Ich will nicht alle Einzelheiten aufzählen. Diese kann
man in den Protokollen des Finanzausschusses nachlesen. Aber wie viele Vorschläge zu den Kinderbetreuungskosten und in bezug auf erwachsene behinderte
Kinder haben wir gemacht, um die Situation von Familien zu verbessern! Jedesmal mußten wir die Regierung
entweder zum Jagen tragen, oder sie hat sofort all das
abgelehnt, was wir auf den Tisch gelegt haben.
({3})
Es erscheint mir reichlich unverfroren, daß die Oppositionskolleginnen und -kollegen jetzt so tun, als seien es
nicht sie gewesen, die die familienpolitischen Defizite
über Jahre haben größer und größer werden lassen. Dieses schnelle Drehen im Wind dieses Urteils erstaunt
mich ganz arg.
({4})
Es ist noch keine acht Wochen her, daß Frau Hasselfeldt in der Debatte zum Steuerentlastungsgesetz die
Kindergelderhöhung mit einem Weihnachtsgeschenk
verglichen hat - wie absurd angesichts dieses Urteils.
({5})
Und weil Sie, Frau Frick, hier so tun, als hätten Sie die
richtigen Ideen, als hätten Sie die richtigen Entscheidungen getroffen, will ich zitieren, was Sie dazu gesagt
haben:
Auch wir halten es für wünschenswert, die Leistungen für Familien zu verbessern. Wir aber haben einen anderen Ansatz.
Ja, Sie haben einen anderen Ansatz. Es ist aber der falsche. Das können Sie jetzt in dem Urteil nachlesen.
({6})
Diese politischen Fehleinschätzungen in der Frage
des Rechts auf Kindergeld über Jahre hinweg haben dazu geführt, das das Bundesverfassungsgerichtsurteil so
extrem kurze Fristen gesetzt und so exakte Vorgaben
gemacht hat. Allerdings haben wir uns über solch exakte
Vorgaben schon ein bißchen gewundert. Wenn Sie Ihre
Aussagen zu diesem Urteil heute mit Ihren Aussagen
damals in der Debatte über unser Steuerentlastungsgesetz vergleichen, müßten Sie eigentlich mit schamrotem
Gesicht durch dieses Parlament laufen.
({7})
Ich will auch darauf hinweisen, daß wir einen Entschließungsantrag zu Ihrem alten Steuerreformgesetz auf
den Tisch gelegt haben, in dem in bezug auf die Kinderbetreuungskosten stand: Wir wissen, daß es notwendig
ist, die Kinderbetreuungskosten unabhängig vom Familienstand der Eltern und unabhängig von ihrer ErwerbsDr. Gregor Gysi
tätigkeit zu berücksichtigen. Und auch Sie hätten es wissen müssen: Es gab dazu ein Ifo-Gutachten, das beim
BMF seit 1996 unter Verschluß gehalten wurde. Angesichts dessen wundere ich mich sehr, daß Sie so tun, als
hätten Sie nicht gewußt, daß da Handlungsbedarf besteht.
({8})
Wir werden in aller Ruhe beraten, wie wir dieses Verfassungsgerichtsurteil umsetzen.
Noch eines steht in diesem Urteil, was mir sehr wichtig ist: Der Gesetzgeber hat nicht das Recht, in irgendeiner Form moralisch zu werten, in welcher Art und Weise Eltern ihre Kinder betreuen, ob alleine, ob zusammen
oder mit Hilfe eines Dritten. Eben das werden wir bei
der Umsetzung dieses Urteils berücksichtigen. Wir werden uns alleine von der Tatsache lenken lassen, daß die
Leistungsfähigkeit der Eltern durch Unterhalt, durch Erziehungs- und Betreuungsleistungen steuerlich eingeschränkt ist. Das wird unsere Leitlinie bei dem neu zu
erarbeitenden Gesetz sein.
({9})
Dieses Parlament hat durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil - das ist wahr - eine große Hausaufgabe
aufbekommen. Es wird nicht einfach, das umzusetzen.
Aber ich finde, die Familien hätten es verdient, daß man
hier im Parlament nicht polemisch darüber diskutiert.
Statt zu erzählen, was alles im Chaos endet, sollten Sie
lieber bereit sein, vorurteilsfrei gemeinsam mit uns zu
überlegen, welche Wege offenstehen. Ich kann Sie nur
auffordern, in diesem Bereich jede Vermischung mit ihrem Bedürfnis, Opposition destruktiv zu betreiben, in
Zukunft zu unterlassen. Ich finde, die Familien haben es
verdient, daß wir ganz offen und sachlich über diese
Wege diskutieren.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich gebe das Wort
dem Abgeordneten Norbert Barthle, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde
mehrfach gesagt, daß wir von der CDU/CSU-Fraktion
dieses Urteil begrüßen. Ich will das wiederholen und aus
ganz persönlicher Sicht unterstreichen. Als Vater von
zwei Kindern weiß ich sehr wohl, welche finanziellen
Belastungen mit der Betreuung und Erziehung von Kindern alltäglich verbunden sind.
Die bisherige gesetzliche Regelung genügt - das sagt
das Bundesverfassungsgericht in lobenswerter Deutlichkeit - dem Kriterium der Freistellung des Existenzminimums nicht. Ich unterstreiche an dieser Stelle, die
grundsätzliche Kritik von Frau Scheel, was die Kompetenzzuschreibung von Politik und BVG anbelangt. Nur,
daraus nun den Schluß zu ziehen, es handele sich um eine Ohrfeige für die alte Bundesregierung, wie es mehrfach gesagt wurde, halte ich für billige Polemik und
letztendlich für Geschichtsklitterung.
({0})
Ich will Ihnen sagen, warum. Wahr ist doch vielmehr,
daß die dem BVG-Beschluß zugrunde liegende Verfassungsbeschwerde sich auf das Jahr 1983 bezieht, und
wahr ist doch auch, daß die neue Bundesregierung 1982
einen sozialpolitischen Scherbenhaufen vorgefunden
hat. Die SPD-geführte Bundesregierung hatte zwischen
1975 und 1982
({1})
im Sozialbereich Kürzungen in Höhe von fast 95 Milliarden DM vorgenommen, darunter - man höre und staune - die Kürzung des Kindergeldes beim zweiten und
dritten Kind um 20 DM, die Kürzung des BAföG, den
Wegfall des Haushaltsfreibetrags für Alleinerziehende
usw. Diesen familienpolitischen Kahlschlag hat damals
die CDU/CSU-Fraktion zunächst einmal korrigiert.
Stichworte wie „Erziehungsgeld“, „Anerkennung von
Kindererziehungszeiten in der Rente“, „verbesserte Leistungen für Alleinerziehende“ usw. umschreiben nur einen kleinen Teil der familienpolitischen Leistungen.
1998 erreichten die Entlastungen bei den Familien ein
Volumen von fast 77 Milliarden DM; das sind 49 Milliarden DM mehr als bei der Regierungsübernahme 1982.
Auch das ist wahr.
({2})
Grundsätzlich halte ich wenig von diesen rückwärtsgewandten Betrachtungen. Ich denke, wir sollten den
Blick nach vorn richten. Denn die deutsche Öffentlichkeit, Millionen von Eltern, auch wir hier im Parlament,
erwarten von der Regierungskoalition ganz konkrete
Vorschläge, wie sie die zu erwartenden Steuerausfälle
von mindestens 22,5 Milliarden DM pro Jahr denn finanzieren will. Wenn ich mir die bisherigen finanzpolitischen Schnellschüsse und Rohrkrepierer der rotgrünen
Regierung anschaue,
({3})
dann schwant mir nichts Gutes. Sollten Sie bei Ihrer bisherigen Logik bleiben, werden am Ende die Eltern die
ihnen zustehenden Entlastungen unter dem Strich selbst
finanzieren müssen, damit auch ja alles aufkommensneutral ist. Nach der Logik Ihrer Gegenfinanzierungsstrategie werden manche sogar noch etwas drauflegen
müssen.
({4})
Eine neue Angst geht um in Deutschland, hört man in
diesen Tagen, die Steuerangst, so titelte die „Bild“Zeitung. Da ist etwas Wahres dran.
({5})
Man kann nur hoffen, dieses Urteil führt bei der Koalition zu der Erkenntnis, daß an einer gründlichen KonsoNicolette Kressl
lidierung der Staatsfinanzen, am Sparen im besten Sinne
des Wortes kein Weg vorbeiführt.
({6})
Deshalb eine dringliche Bitte: Denken Sie nicht einmal
im Traum daran, zur Gegenfinanzierung das EhegattenSplitting weiter einzuschränken oder gar ganz abzuschaffen, wie man lesen kann. Dies würde der Urteilsbegründung der Karlsruher Richter völlig zuwiderlaufen, die ihre Entscheidung gerade auf den besonderen
Schutz von Ehe und Familie abgestellt haben. Das ist
gut so. Übrigens, eine Erhöhung der Mineralölsteuer um
7 Prozent, Frau Scheel, würde vielleicht gerade einmal
4,5 bis 5 Milliarden DM im ersten Jahr erbringen und
zahlreiche, vor allem kinderreiche Familien insbesondere im ländlichen Raum, die einen ausgeprägten innerfamiliären Fahrdienst organisieren müssen, erheblich belasten. Bedenken Sie das nochmals.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vernünftig,
finanzpolitisch redlich wäre es nach diesem Urteil, das
Steuerentlastungsgesetz und die sogenannte ökologische
Steuerreform komplett zurückzuziehen, angesichts der
Steuermindereinnahmen neu zu beraten und eine konsistente Steuerreform auf den Tisch zu legen, die diesen
Namen auch verdient.
({7})
Für diejenigen in der Regierungskoalition, die es einfach
nicht begreifen wollen - entschuldigen Sie, wenn ich das
so sage -, will ich das an Hand des Bildes der zugeknöpften Weste nochmals verdeutlichen: Bei Ihrer Steuerreform nutzt es wenig, nur die obersten zwei Knöpfe
frisch zuzumachen. Da bleiben die Verwerfungen. Das
ganze Ding muß geöffnet werden, und man muß von
vorne anfangen; dann kommt etwas Gescheites heraus.
({8})
Wenn Sie das tun: Nehmen Sie die Ergebnisse der
mehrtägigen Anhörung ernst, auf der über Ihr Reformkonzept ein vernichtendes Urteil gesprochen wurde!
Gehen Sie daran, die Grundanliegen der Petersberger
Beschlüsse nochmals nachzulesen, nämlich niedrigere
Steuersätze und eine Nettoentlastung für alle!
({9})
Dann sind Sie auf dem richtigen Weg.
Danke.
({10})
Ich darf auch dem
Kollegen Barthle im Namen des Hauses zu seiner ersten
Rede gratulieren.
({0})
Ich gebe nunmehr der Kollegin Lydia Westrich von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch heute sprühen in dieser Aktuellen Stunde die Funken, obwohl alle Fraktionen die Situation begrüßen, die zumindest in diesem Zeitrahmen
nicht von uns geschaffen wurde, mit der wir aber sehr
sorgsam und verantwortlich umgehen müssen. Daher
nützen Beiträge à la Kollegin Rönsch überhaupt nichts.
({0})
Ich sehe das Urteil mit einem lachenden und einem
weinenden Auge. Ich sehe es mit einem lachenden Auge, weil diese Entscheidung wunderbar in unser sozialdemokratisches Konzept hineinpaßt, lang aufgestaute
Forderungen von Familien ernst zu nehmen und Zug um
Zug umzusetzen.
({1})
Vielleicht, Frau Kollegin Rönsch, hätten Sie die aufgeregten, glücklichen Gesichter der Vertreterinnen und
Vertreter der Familienverbände bei der Anhörung zum
Steuerentlastungsgesetz sehen sollen, als das Urteil am
Dienstag bekannt wurde. Sie hätten aber auch die anfängliche Ungläubigkeit in diesen Gesichtern sehen sollen. Dabei ist mir sehr schmerzhaft bewußt geworden,
daß die Familien nach 16 Jahren christlichdemokratischer und liberaler Politik nichts Gutes mehr
vom Staat erwartet haben, leider zu Recht.
({2})
Sie haben nach 16 Jahren familienfreundlicher Sonntagsreden in Ihrer Regierungszeit und tatsächlichem Erleben eines permanenten Einkommensverlustes in den
eigenen Portemonnaies das Vertrauen in die Politik
verloren. Wie oft hat Ihr Altbundeskanzler die Familie
als Keimzelle der Gesellschaft und des Staates bezeichnet; er hat aber in 16 Jahren keinen Finger gerührt, dieser Keimzelle auch genügend Nährlösung zuzuführen?
({3})
Selbst als das Verfassungsgericht die Berücksichtigung des Existenzminimums für Kinder zwingend vorgeschrieben hat, meine Damen und Herren aus der
CDU/CSU und F.D.P., haben Sie zugelassen, daß dieses
verfassungsrechtlich zwingend vorgeschriebene Kindergeld als Sozialklimbim bezeichnet wurde und dessen
Einsparung als ständig verfügbare Masse zur Gegenfinanzierung von Unternehmenssteuererleichterungen zur
Verfügung stand. Man kam sich ja manchmal wie in einem Steinbruch vor.
({4})
Da haben Sie - Sie haben das auch jetzt wieder erwähnt
- das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Vermögensteuer sehr viel ernsthafter umgesetzt und verteidigt.
Das verlorengegangene Vertrauen der Familien in die
Politik geht ganz auf Ihr Konto; das nehmen wir nicht
auf unseren Rücken. Deshalb habe ich auch ein weinendes Auge. Wäre dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts bereits vor der Bundestagswahl ergangen, wären
Sie in der Familienpolitik mit Pauken und Trompeten
durchgefallen und wären Ihre Fraktionen mit noch viel
kleinerer Besetzung im Bundestag vertreten.
({5})
Die Frage der Steuergerechtigkeit wird nämlich von den
Bürgern viel sensibler aufgenommen, als Sie gedacht
haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich
weiß nicht, ob Sie bei der Größe Ihrer Fraktion noch viel
zu lachen haben.
Wir als Sozialdemokratische Partei Deutschlands haben uns gemeinsam mit unserem Koalitionspartner
Bündnis 90/Die Grünen zum Ziel gesetzt, die Familienpolitik in dieser Legislaturperiode in den Mittelpunkt
unserer Politik zu stellen. Die Erziehung von Kindern
geht uns nämlich alle etwas an.
({6})
Sie ist, wie es das Verfassungsgericht ausdrücklich feststellt, eine gesellschaftliche Aufgabe. Es liegt sehr wohl
in unserem Interesse, wenn Kinder beispielsweise Mitglieder in Vereinen werden, um Kontakte unter Gleichaltrigen zu finden, in ein soziales Umfeld integriert werden und vorbereitet sind, später einmal ein verantwortliches Leben in unserer Gesellschaft zu führen.
Die Kinder sind unsere Zukunft. In ihren Händen
liegt die Zukunft unseres Gemeinwesens, und sie sollen
sich auch in diesem Gemeinwesen zurechtfinden. Deshalb sind in unseren Plänen zur Steuerreform zu Recht
bereits umfangreiche Entlastungsmaßnahmen für Familien mit Kindern enthalten. Mit der Erhöhung des Kindergeldes zum 1. Januar 1999 haben wir eine erste konkrete Maßnahme ergriffen, die den durch die Erziehung
von Kindern entstehenden Mehrbelastungen Rechnung
trägt.
Natürlich bleibt noch einiges zu tun, damit wir die
Vorgaben des Urteils erfüllen. Angesichts einer angespannten Haushaltslage stellt dies natürlich eine große
finanzpolitische Herausforderung dar. Allerdings können Sie davon ausgehen, daß wir auch diese meistern
werden, weil wir das Verfassungsgericht und die Familien ernst nehmen.
Vielen Dank.
({7})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses
Urteil steht in einem originären Zusammenhang mit der
Steuerreform. Sie sollten wegen des Finanzierungszusammenhangs nicht von Erblasten sprechen, sondern
sich um Ihren eigenen finanzpolitischen Trümmerhaufen
kümmern.
({0})
Da sagt die Parlamentarische Staatssekretärin
Hendricks: Steuererhöhungen sind nicht grundsätzlich
auszuschließen. Da sagte der Minister: Es soll keine
Steuererhöhungen geben. Da sagt der Parlamentarische
Geschäftsführer: Das Thema Mehrwertsteuer steht im
Zusammenhang mit der EU. Soll hier mit einer Ausrede
vielleicht schon vorgebaut werden? Da sagt Frau Scheel:
keine Verbrauchsteuererhöhung. Dann sagt sie: Verbrauchsteuererhöhung doch, 7 Prozent Ökosteuer. Dann
sagt der Finanzminister wieder: keine Steuererhöhungen. Dann sagt Frau Simonis: Ehegattensplitting soll
herangezogen werden, also Gegenfinanzierung im gleichen Bereich.
({1})
Frau Matthäus-Maier warnt davor, Geld aus der Ökosteuer herauszunehmen.
Meine Damen und Herren, sind es etwa Scheingewinne, die hier eingesetzt werden sollen? Warum muß
man überhaupt auf so etwas eingehen?
({2})
Da sagt dann die Haushaltsexpertin Titze-Stecher: Das
Ganze geht nur bei Verzicht auf Mehrwertsteuererhöhung oder Ehegattensplitting. Ihr Finanzminister
Schleußer aus Nordrhein-Westfalen warnt davor und
sagt: Denkt daran, beim Ehegattensplitting ist gar nicht
so viel zu holen. Recht hat er, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil es finanziell nicht geht, und zweitens,
weil das Verfassungsgericht genau das Gegenteil gesagt
hat.
({3})
Sie haben es immer noch nicht kapiert. Da sagt der
Haushaltsexperte Metzger: schmerzhafte Eingriffe in
Leistungsgesetze. Meine Damen und Herren, wen trifft
denn das? Doch in erster Linie wieder kinderreiche Familien und diejenigen, denen das Verfassungsgericht gerade etwas eingeräumt hat.
Sie haben zunächst einmal den Schuldenberg gegenüber den Ländern und Kommunen abzutragen.
({4})
1,8 Milliarden DM haben Sie mit dem Kindergelderhöhungsgesetz entgegen dem Grundgesetz nicht erfüllt,
obwohl es doch die SPD-Länder waren, die im Bundesrat bei der Neuregelung des Familienlastenausgleiches
gerade den Rechtsanspruch der Länder und Kommunen
durchgesetzt haben. Jetzt halten Sie sich überhaupt nicht
daran. Das ist doch eine Schuld, die Sie noch einlösen
müssen. Sie werden spätestens im Bundesrat merken,
daß dies auch eingefordert wird.
({5})
Meine Damen und Herren, im Steuerentlastungsgesetz haben Sie in der letzten Lesung 36 Änderungen angekündigt. Wir haben ja nichts dagegen und würden uns
freuen, wenn Sie denn aus den Anhörungen gelernt hätLydia Westrich
ten. Aber ich empfinde es schon als verantwortungslos,
die gesamte Wirtschaft und die Menschen mit irgendwelchen angekündigten Änderungen zu beunruhigen das haben wir in der Expertenanhörung deutlich spüren
können - und hinterher dann wieder Teile zurückzunehmen.
({6})
Wenn ich Ihre Steuerpolitik, Herr von Larcher, ansehe,
dann muß ich ehrlich sagen: Die Echternacher Springprozession kommt mir vor wie das 24-Stunden-Rennen
von Le Mans.
Es geht doch bei Ihnen immer nach der gleichen
Methode - wir kennen das aus Niedersachsen -: Herr
Schröder kündigt 100 Prozent an, nimmt 10 Prozent
zurück, läßt sich dafür feiern und macht die Menschen
vergessen, daß 90 Prozent bleiben. Deshalb sollten Sie
sich von dem von allen Experten verworfenen Entwurf
verabschieden. Werfen Sie ihn in den Papierkorb! Machen Sie einen neuen Entwurf unter Berücksichtigung
des Bundesverfassungsgerichtsurteils. Dann tun Sie etwas Vernünftiges.
Schönen Dank.
({7})
Der Kollege Fromme hat seine erste Rede gehalten. Auch ihm darf ich dazu gratulieren.
({0})
Ich gebe nunmehr als letzter Rednerin der Kollegin
Ingrid Matthäus-Maier von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes bestätigt
die Zielsetzung der Politik dieser Bundesregierung, die
Familien mit Kindern finanziell zu entlasten. Wir haben
vor der Wahl gesagt, aus ökonomischen, familienpolitischen und verfassungsrechtlichen Gründen werden wir
das Kindergeld auf 250 DM anheben. Wir haben dieses
Versprechen gehalten.
({0})
Ich erinnere mich, wie wir über all die Jahre kämpfen
mußten. Wir mußten Theo Waigel doch praktisch jede
Kindergelderhöhung, auch von nur 10 DM, mühsam aus
der Nase ziehen.
({1})
Er und Sie haben immer erst dann gehandelt, wenn
Karlsruhe Sie dazu verurteilt hatte. Haben Sie vergessen,
wie schön die Kollegin Margot von Renesse einmal gesagt hat: „Theo Waigel verhält sich wie ein unterhaltspflichtiger Vater, der erst dann zahlt, wenn er vollstreckbar verurteilt ist.“? Meine Damen und Herren, das
war doch die Situation.
({2})
Noch im letzten Herbst - ich erinnere mich gut; da
geht es gar nicht so sehr um Sie - haben all die klugen
Verfassungsrechtler, Professor Bareis, die Forschungsinstitute, der Steuerzahlerbund gesagt, wir sollten die
Anhebung des Kindergeldes, diese Erhöhung des Sozialtransfers doch bitte unterlassen - daß sie nicht „Sozialklimbim“ gesagt haben, ist schon ein Wunder - und
statt dessen den Spitzensteuersatz senken.
({3})
Ich persönlich habe mich mit Herrn Schäuble dreimal
auseinandergesetzt, weil er die 250 DM Kindergeld
partout nicht wollte. Stellen Sie sich einmal vor, wo wir
stünden, wenn wir diese 250 DM jetzt nicht hätten.
({4})
Den Vogel in Sachen Heuchelei hat Herr Däke vom
Steuerzahlerbund abgeschossen. Im letzten Herbst hat
der Steuerzahlerbund eine Schrift herausgegeben „Durch
Einsparungen die Lasten mindern“. Da heißt es zum
Beispiel zum Thema „Familienlastenausgleich“:
Die geltende Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs geht deutlich über das verfassungsrechtlich
Gebotene hinaus
({5})
und ist daher fiskalisch entsprechend teuer.
Weiter unten steht geschrieben, man könnte aus dem
Familienlastenausgleich fiskalisch 8,5 Milliarden DM
herausholen.
Gestern hat Herr Däke in der „Welt“ ein Interview
gegeben, in dem er gefragt wurde, wie die Notwendigkeit, das Urteil umzusetzen, finanziert werde. Da sagte
er, sie hätten Vorschläge für Einsparungen gemacht: bei
den Sozialtransfers und bei den Fördermitteln. Da
könnte man kurzfristig 40 Milliarden DM herausholen.
({6})
Das stelle man sich einmal vor: Zuerst verlangt dieser
famose Herr Däke die Kürzung des Familienlastenausgleichs um 8,5 Milliarden DM, um den Spitzensteuersatz zu senken. Dann hofft er auf das kurze Gedächtnis
der Menschen und der Medien und sagt uns gestern, wir
könnten die 8,5 Milliarden DM, die er verfassungswidrig aus dem Familienlastenausgleich herausnehmen will,
benutzen, um Karlsruhe zu bezahlen. - Meine Damen
und Herren, das ist ein Abgrund von Heuchelei.
({7})
Wir alle, egal ob Schwarz, Rot, Grün oder Blaugelb,
sollten das, was dieser Mann, der im Moment durch die
Talk-Shows zieht, zu diesem Thema äußert, zurückweisen.
({8})
Herr Hauser hat gesagt, wir hätten uns zu den Kinderbetreuungskosten nie geäußert. Das ist nicht richtig.
Ich gebe gerne zu: In diesem Gesetzentwurf steht davon
nichts. Wir sind belehrt worden, das zu ändern. Das ist
gut so. Aber darf ich Sie darauf hinweisen, daß zum
Beispiel im familienpolitischen Programm der Fraktion,
das unter Leitung von Frau Ulla Schmidt erarbeitet wurde, ausdrücklich steht: „steuerliche Berücksichtigung
von Kinderbetreuungskosten nicht nur für Alleinstehende“. Sie können gerne kritisieren, daß wir das noch nicht
gemacht haben.
Aber darf ich Sie auch daran erinnern, wie oft ich
unter Ihrem Hohngelächter folgendes gesagt habe: Es
kann doch wohl nicht sein, daß die Kindergartenbeiträge
für Otto Normalverbraucher nicht von der Steuer absetzbar sind
({9})
- da erinnert man sich noch gut -, während es durch das
Dienstmädchenprivileg für reiche Leute möglich ist, die
Kindergärtnerin vom Vormittag für die Betreuung der
Kinder am Nachmittag von der Steuer abzusetzen?
({10})
Bei uns war das ein Thema. Ich gebe gerne zu: In unserem Gesetzentwurf steht es nicht. Wir werden da
nachbessern müssen. Das tun wir auch. Staatssekretärin
Hendricks hat das Vorgehen bis zum Sommer angesprochen.
Die Familien können sich auf eines verlassen: Wir
werden sowohl die Eheleute mit Kindern als auch die
Alleinerziehenden mit Kindern berücksichtigen. Sie
werden in dem Gesetzentwurf, den wir vorlegen werden,
entlastet werden. Sie werden als Gewinner daraus hervorgehen. Darauf können sich Familien mit Kindern
verlassen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Meine Damen und
Herren, die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir sind
am Schluß unserer Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen
ein schönes Wochenende.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. Januar 1999, 14 Uhr ein.
Die Gedenkstunde zum Gedenktag für die Opfer des
Nationalsozialismus beginnt um 11 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.
({0})
Ingrid Matthäus-Meier
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete({1})
entschuldigt bis
einschließlich
Andres, Gerd SPD 22.1.99
Austermann, Dietrich CDU/CSU 22.1.99
Bachmaier, Hermann SPD 22.1.99
Dr. Bartsch, Dietmar PDS 22.1.99
Bierwirth, Petra SPD 22.1.99
Dr. Blank,
Joseph-Theodor
CDU/CSU 22.1.99
Brüderle, Rainer F.D.P. 22.1.99
Brudlewsky, Monika CDU/CSU 22.1.99
Bulling-Schröter, Eva PDS 22.1.99
Buntenbach, Annelie BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.1.99
Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.1.99
Dietzel, Wilhelm CDU/CSU 22.1.99
Eymer, Anke CDU/CSU 22.1.99
Friedhoff, Paul K. F.D.P. 22.1.99
Friedrich ({2}),
Peter
SPD 22.1.99
Glos, Michael CDU/CSU 22.1.99
Götz, Peter CDU/CSU 22.1.99
Günther ({3}),
Joachim
F.D.P. 22.1.99
Hanewinckel, Christel SPD 22.1.99
Hartnagel, Anke SPD 22.1.99
Hasenfratz, Klaus SPD 22.1.99
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 22.1.99
Hauser ({4}),
Norbert
CDU/CSU 22.1.99
Herzog, Gustav SPD 22.1.99
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.1.99
Hohmann, Martin CDU/CSU 22.1.99
Imhof, Barbara SPD 22.1.99
Jelpke, Ulla PDS 22.1.99
Knoche, Monika BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.1.99
Kossendey, Thomas CDU/CSU 22.1.99
Kraus, Rudolf CDU/CSU 22.1.99
Küchler, Ernst SPD 22.1.99
Abgeordnete({5})
entschuldigt bis
einschließlich
Labsch, Werner SPD 22.1.99
Lemke, Steffi BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.1.99
Lengsfeld, Vera CDU/CSU 22.1.99
Lippmann-Kasten,
Heidi
PDS 22.1.99
Lohmann ({6}), Götz-Peter
SPD 22.1.99
Maaß ({7}),
Erich
CDU/CSU 22.1.99
Dr. Merkel, Angelika CDU/CSU 22.1.99
Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 22.1.99
Neumann ({8}),
Volker
SPD 22.1.99
Niebel, Dirk F.D.P. 22.1.99
Nietan, Dietmar SPD 22.1.99
Nooke, Günter CDU/CSU 22.1.99
Pau, Petra PDS 22.1.99
Dr. Pfaff, Martin SPD 22.1.99
Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 22.1.99
Roth ({9}), Adolf CDU/CSU 22.1.99
Rühe, Volker CDU/CSU 22.1.99
Rupprecht, Marlene SPD 22.1.99
Scharping, Rudolf SPD 22.1.99
Schmidt ({10}),
Silvia
SPD 22.1.99
Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 22.1.99
Schultz ({11}),
Reinhard
SPD 22.1.99
Dr. Schwarz-Schilling,
Christian
CDU/CSU 22.1.99
Siebert, Bernd CDU/CSU 22.1.99
Dr. Stadler, Max F.D.P. 22.1.99
Dr. Thalheim, Gerald SPD 22.1.99
Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 22.1.99
Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 22.1.99
Uldall, Gunnar CDU/CSU 22.1.99
Willner, Gert CDU/CSU 22.1.99
Wissmann, Matthias CDU/CSU 22.1.99
Wolf ({12}),
Hanna
SPD 22.1.99
Zeitlmann, Wolfgang CDU/CSU 22.1.99
Anlage 2
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 733. Sitzung am 18. Dezember 1998 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen
zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Grundgesetz nicht zu stellen:
- Siebtes Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes
- Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der
Parlamentarischen Staatssekretäre
- Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte
- Gesetz zur Änderung des Versorgungsreformgesetzes 1998 und anderer
Gesetze ({13})
- Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung und anderer Gesetze ({14})
- Steueränderungsgesetz 1998
- Viertes Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
({15})
- Gesetz zu dem Abkommen vom 18. September 1998 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen
Zentralbank über den Sitz der Europäischen Zentralbank
- Steuerentlastungsgesetz 1999
- Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz - GKV-SolG
Zu den beiden letztgenannten Gesetzen hat der Bundesrat die folgenden Entschließungen gefaßt:
Entschließung des Bundesrates zum Steuerentlastungsgesetz 1999:
1. Der Bundesrat geht bei der Zustimmung zum Steuerentlastungsgesetz
1999 davon aus, daß das mit dem Entwurf eines Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 ({16}) über eine Verbreiterung
steuerlicher Bemessungsgrundlagen insgesamt vorgesehene Volumen
zur Finanzierung der Entlastungsmaßnahmen vom Deutschen Bundestag so beschlossen wird. Angesichts der schwierigen Lage der öffentlichen Haushalte sind Steuerausfälle, die über die im Entwurf des Steuerentlastungsgesetzes genannten rd. 15 Milliarden DM hinausgehen, nicht
zu verkraften.
2. Durch das Steuerentlastungsgesetz 1999 ({17}) erhöht sich der Ausgleichsanspruch der Länder
gegenüber dem Bund bei der Finanzierung des Familienleistungsaus-
gleichs für 1999 auf rd. 4 Milliarden DM; weiterhin besteht eine Aus-
gleichsforderung für die Jahre 1996 bis 1998 in Höhe von 5,7 Milliar-
den DM. Der Bundesrat erwartet, daß der Deutsche Bundestag im
weiteren Gesetzgebungsverfahren zum Steuerentlastungsgesetz eine
Regelung beschließt, die der verfassungsrechtlich abgesicherten
Lastenverteilung beim Familienleistungsausgleich entspricht und eine
Kompensation der Einnahmenausfälle bei Ländern und Gemeinden
sicherstellt.
Entschließung des Bundesrates zum Gesetz zur Stärkung der Solidarität in
der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz
- GKV-SolG
a) Der Bundesrat unterstützt nachdrücklich die zentralen Anliegen des
vorliegenden Gesetzes, zu den Grundprinzipien einer solidarisch finanzierten, paritätischen sozialen Krankenversicherung zurückzukehren,
die Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung ({18})
kurzfristig zu stabilisieren und damit die Voraussetzungen für eine
grundlegende Strukturreform in der GKV zum Jahr 2000 zu schaffen.
Er begrüßt, daß damit - wie von ihm in der Vergangenheit wiederholt
gefordert - der Weg der zunehmenden Aushöhlung der Funktionstüch-
tigkeit der GKV, wie er von der alten Bundesregierung in den letzten
Jahren beschritten wurde, gestoppt wird.
b) Wesentliche Elemente des Gesetzes erfüllen vom Bundesrat seit längerem nachdrücklich vertretene Forderungen. Dies gilt insbesondere für
- die Aufhebung des Kopplungsautomatismus von Beitragserhöhungen mit weiteren Zuzahlungsanhebungen,
- die Beseitigung klassischer Elemente der privaten Versicherungswirtschaft ({19}), die die solidari-
schen Finanzierungsgrundlagen der GKV, namentlich die Solidarität
der Gesunden mit den Kranken, tendenziell aushöhlen,
- die Rückkehr zu qualitäts- und kostensteuernden Strukturen in der
zahnmedizinischen Versorgung für alle Versicherten, unabhängig
von ihrem Alter,
- den Einstieg in eine Rückführung der überhöhten Zuzahlungen vor
allem für chronisch Kranke und ältere Versicherte.
c) Der Bundesrat weist darauf hin, daß die Finanzneutralität des Gesetzes
für die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 1999 bewahrt bleiben
muß. Aufgrund des erreichten Beitragssatzniveaus in der GKV und
seines unmittelbaren Einflusses auf das Ziel der mittelfristigen Rück-
führung der Lohnnebenkosten auf unter 40 % hat die Stabilität der Bei-
tragssätze der GKV höchste Priorität
d) Der Bundesrat geht davon aus, daß im Rahmen der von der Bundesregierung zum 1. Januar 2000 angekündigten durchgreifenden Strukturreform in der GKV Gelegenheit bestehen wird, auf eventuelle Problemlagen, die mit dem Gesetz verbunden sein könnten, angemessen zu
reagieren. Er teilt die Ziele der Strukturreform, für mehr Wettbewerb
um Qualität, Wirtschaftlichkeit und effizientere Versorgungsstrukturen
zu sorgen. Von der zu Beginn des Jahres 2000 in Kraft tretenden
Strukturreform sind ausreichend Impulse zu erwarten, um die GKV
dauerhaft leistungsfähig und bezahlbar zu erhalten. Der Bundesrat wird
die Ausgestaltung der Strukturreform von Beginn an konstruktiv begleiten.
Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn
53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44
Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
Tag des Gedenkens
an die Opfer des Nationalsozialismus
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages
Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
I n h a l t :
Präsident Wolfgang Thierse............................. 1193 A
Bundespräsident Dr. Roman Herzog................ 1195 A
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1193
Tag des Gedenkens
an die Opfer des Nationalsozialismus
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages
Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
Beginn: 11.01 Uhr
Herr Bundespräsident! Herr Bundeskanzler! Herr Bundesratspräsident!
Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Wir gedenken heute, am Tag der Befreiung des Konzentrationsund Vernichtungslagers Auschwitz vor 54 Jahren, aller
Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der
27. Januar ist unser nationaler Gedenktag. Sie, sehr verehrter Herr Bundespräsident, haben ihn 1996 proklamiert und damals betont, daß gerade dieses Gedenken
nicht in Ritualen erstarren darf.
Der 27. Januar ist für uns Deutsche Anlaß, öffentlich,
aber auch jeweils persönlich zurückzublicken auf eine
Phase unserer jüngeren Geschichte, auf ein Geschehen,
das noch immer alle Vorstellungskraft sprengt. Gerade
deshalb ist es unverzichtbar, im Erinnern zugleich die
Aufgaben der Gegenwart und Zukunft ins Auge zu fassen. Theodor W. Adornos bekannte Feststellung, die erste Aufgabe an jede Erziehung sei, dafür Sorge zu tragen, daß sich Auschwitz niemals wiederholen könne,
richtet sich in der Bürgergesellschaft an jeden einzelnen
von uns. Deshalb ist dieser Gedenktag eine nachdrückliche Forderung zur Wachsamkeit. Die Erinnerung an das
millionenfache Leid, das die nationalsozialistische Gewaltherrschaft mit ihrem menschenverachtenden Rassenwahn über Europa und andere Teile der Welt gebracht hat, verlangt, schon den Anfängen jeder Wiederholungsgefahr entgegenzutreten.
Um das gemeinsame Erinnern an das Geschehene hat
es in den vergangenen Wochen und Monaten in der
deutschen Öffentlichkeit eine intensive Debatte gegeben. Ich will auf die Art und Weise dieser Auseinandersetzungen nicht eingehen, insbesondere nicht über Stilfragen urteilen. Wichtiger und zukunftsweisender ist die
Feststellung, daß diese Debatte notwendig und nützlich
ist. Wenn ich sie richtig wahrgenommen habe, hat diese
Debatte deutlich gemacht, daß wir derzeit in Politik und
Gesellschaft in einem Generationswechsel stehen. Vieles von dem, was zuletzt kontrovers erörtert wurde,
hängt wohl zusammen mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erfahrungen und Sichtweisen. Zu der
Generation derer, die die Schrecken des Nationalsozialismus aus eigenem Erleben, aus schlimmsten Erfahrungen kennen, und der Generation der Töchter und Söhne
der Opfer und der Täter treten die Jüngeren, denen das
ganze Ausmaß des Grauens, die Mechanismen der Ausgrenzung, die menschenverachtende Brutalität der Täter,
die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Masse und vor
allem das unermeßliche Leid der Opfer nur über historisches, also vermitteltes Wissen zugänglich gemacht
werden können. Die Frage dieser Vermittlung müssen
wir deshalb über fünf Jahrzehnte nach der Befreiung von
Auschwitz neu diskutieren. Die genannte Debatte hat
gezeigt, daß veränderte und erweiterte Zugänge zum
Geschehenen notwendig sind. Wir brauchen den gesellschaftlichen Diskurs über das richtige Maß, die angemessenen Formen des Erinnerns, wie Sie, sehr geehrter
Herr Bundespräsident, in Ihrer Rede am 9. November
letzten Jahres in Berlin festgestellt haben.
Das richtige Maß, die angemessene Form zu finden
verlangt nach einer Prüfung in zweierlei Richtung: Was
ist dem entsetzlich Geschehenen angemessen? Was ist
für Gegenwart und Zukunft richtig? Ein Zuviel kann
problematisch sein, ein Zuwenig erst recht. „Darf man
nicht wissen wollen?“ - So hat Thomas Mann gefragt
und nach 1945 mit einem entschiedenen Nein geantwortet. Dieses Nein gilt bis heute für alle Demokraten
und - so hoffe ich - mit gleicher Entschiedenheit. Halten wir daran fest: Verpflichtende Erinnerung, Gedenken
der Leiden der Opfer, Übernahme der geschichtlichen
Verantwortung - das war das moralische Fundament,
das gehörte zur Raison d'être der neubegründeten deutschen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland. Es
gibt keine kollektive Schuld, gewiß; aber das heißt nicht,
daß die Katastrophe von 1933 bis 1945 im kollektiven
1194 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
Gedächtnis der Deutschen je getilgt werden dürfte. In
ihm muß vielmehr unser fester Wille aufbewahrt sein,
nie wieder eine solche schreckliche Diktatur, in welcher
Form auch immer, zuzulassen.
({0})
Es ist deswegen die Aufgabe der jetzigen wie der
künftigen Generationen, durch die Übernahme der politischen Haftung Verantwortung für die Vergangenheit
zu übernehmen und das Bewußtsein für die von einem
deutschen Staat begangenen Unmenschlichkeiten wachzuhalten. Die Sorge um die Erinnerung darf deswegen
keine lästige Trauer sein und schon gar nicht in formeller Ritualisierung erstarren, sowenig Erinnerung gänzlich ohne Riten auskommt.
Gerade wegen dieser gemeinsamen Grundüberzeugung gilt es, uns in Gesellschaft und Politik über die Art
und Weise des Erinnerns und Gedenkens immer neu zu
verständigen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf
zwei problematische Erfahrungen hinweisen. Zum
einen: Historische Aufklärung soll und kann politisches
Bewußtsein schaffen und das Geschehene in Erinnerung
rufen. Daß sie auch zur Trauer um die Toten, zu Empathie mit den Opfern führt, dessen können wir nicht
mehr so sicher sein. Zur Dialektik der Aufklärung - das
wissen wir inzwischen - gehört eben auch, daß sie als
einseitige, gar bloß rationale ihr Gegenteil bewirken
kann, nämlich die Kälte der Verdrängung. Insofern darf
gerade in der Annäherung an die nationalsozialistischen
Verbrechen nicht versäumt werden, das Entsetzliche so
zu vermitteln, daß es auch mit dem Herzen erfahren und
begriffen wird. Insofern auch ist Gedenken immer mehr
als aufgeklärtes Wissen, sosehr dieses Gedenken immer
auch und neu des Anstoßes durch historische, bestimmte
Erinnerung bedarf.
Zugleich aber gilt es, den jungen Menschen historisches Wissen und emotionale Betroffenheit so zu vermitteln, daß sie eine Beziehung zur Gegenwart, also gegenwärtige moralische Sensibilität und politische Verantwortung ermöglichen. Betroffenheit, die bloß ratlos
macht, Wissen, das folgenlos bleibt, solcherart Ergebnisse von Erinnerungsarbeit sind nicht menschengemäß
und gesellschaftlich folgenlos. Die Gefährdungen der
Demokratie, die Mechanismen von Stigmatisierung und
Ausgrenzung, die Ursachen, Erscheinungsformen und
Wirkungen von Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen
und mit diesem Wissen und Empfinden die Gegenwart
zu beobachten und in ihr zu handeln, darum geht es.
Was damals Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, politische Gegner waren, das können heute andere Personen und Gruppen sein, die durch Stigmatisierungsprozesse ausgegrenzt werden.
Eine zweite problematische Erfahrung bringe ich aus
der DDR mit: Gedenken darf niemals verordnetes, gar
zwanghaftes Erinnern sein. Dies hat der staatlich angeordnete Antifaschismus uns nachdrücklich vor Augen
geführt. Aus einem ehedem authentischen und glaubwürdigen Antifaschismus wurde ein ideologisches Herrschaftsinstrument zur moralischen Legitimierung der
SED-Diktatur. So wurden Gedenken und Erinnerung an
die nationalsozialistischen Verbrechen von vielen - gewiß nicht von allen in der DDR - zunehmend als autoritär und formelhaft empfunden und waren von problematischer Wirkung. Die Erfolge der Rechtsextremisten
gerade in ostdeutschen Ländern sind auch ein spätes
Echo solch unfreier Erinnerung.
Wenn wir diese widersprüchlichen Erfahrungen ernst
nehmen, dann können wir mit aufmerksamer Gelassenheit feststellen: Jede Generation hat das Recht und steht
vor der Herausforderung, ihre eigene Form des Gedenkens zu entwickeln. Sie muß sich dem Geschehen auf
ihre Art und Weise stellen, ihren eigenen Zugang suchen
und finden. Nur so halten wir unser kollektives Gedächtnis in einer Weise lebendig, die für Jüngere und
Ältere, für Angehörige der Erlebnisgeneration wie ihre
Kinder und Kindeskinder einen gemeinsamen Horizont
des Verstehens und zugleich eine Basis des Gesprächs
über das Geschehene bietet.
Ich halte es im übrigen für ein Zeichen der Stärke unserer Demokratie, daß wir über diese Fragen gegenwärtig so intensiv debattieren. Es ist ein Stück Selbstaufklärung der Gesellschaft, wenn sie öffentlich darüber diskutiert, wie sie mit der Vergangenheit, mit der Erinnerung an die Zeiten der Inhumanität und Menschenverachtung, der Diskriminierung und des Genozids umgehen kann und will. Gerade deswegen ist die Kontroverse
um ein Holocaust-Denkmal in Berlin von solchem Gewicht, und gerade deshalb gehört diese Debatte auch in
unser Parlament. Der Deutsche Bundestag wird sich in
den nächsten Wochen und Monaten diesem Thema auf
verantwortliche Weise widmen und hoffentlich zu einer
tragfähigen und überzeugenden Entscheidung kommen.
Meine Damen und Herren, neue Ansätze des Erinnerns - das bedeutet auch andere Formen des Gedenkens im Deutschen Bundestag. Wir hören nun drei Stükke aus dem „Requiem für einen polnischen Jungen“ einem Werk, das der Heidelberger Komponist Dietrich
Lohff nach Texten von Opfern der Nationalsozialisten
verfaßt hat.
Die Kunst ist ein wichtiges Medium der Erinnerung,
ein anderes ist die Sprache. Sie, sehr geehrter Herr
Bundespräsident, haben das öffentliche Wort stets in
ganz besonders unverwechselbarer Weise zu nutzen
gewußt: zu kritischen und differenzierten Stellungnahmen, aber ebenso zu Aussagen, die verbinden und
Gemeinschaft schaffen, Worte, in denen die gemeinsamen Aufgaben, Ziele und Überzeugungen unserer
parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck kommen. Diese Übereinstimmung deutlich zu machen ist
an keinem Tag wichtiger als an unserem Gedenktag für
die Opfer des Nationalsozialismus. Ich möchte Sie
deshalb bitten, nach dem Requiem das Wort zu ergreifen und zu uns zu sprechen.
({1})
Präsident Wolfgang Thierse
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1195
Herr Präsident! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Was
Menschen anderen Menschen an Leid und Grausamkeiten zufügen können, das ist tief in das individuelle wie
in das gemeinschaftliche Gedächtnis der Deutschen eingebrannt. Der heutige Tag, der auf die Befreiung von
Auschwitz hinweist, ist bleibende Erinnerung daran.
Aber die vergangenen Monate haben doch auch wieder gezeigt, daß wir - worauf ich oft genug hingewiesen
habe - die bleibende Form dieses Erinnerns noch nicht
gefunden haben. Wieder ist eine Debatte darüber entstanden, in welcher Form wir uns redlich an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern sollten, ja sogar
auch wieder darüber, ob es - fünfzig Jahre nach dem
Ende des Grauens - überhaupt noch notwendig sei, daß
wir uns immer wieder von neuem selbst mit diesem Teil
unserer Geschichte konfrontieren.
Ich werde sogleich noch ein paar Worte zu den ernsthafteren Teilen der Diskussion sagen. Vorweg aber das
eine: Wer je den Gedanken an ein Ende des Erinnerns
erwogen hat, der sollte davon so schnell wie möglich
ablassen. Das hat noch nicht einmal etwas mit Nationalsozialismus und Holocaust zu tun, sondern es ergibt sich
aus zwei ganz einfachen, fast möchte ich sagen: banalen
Erfahrungen.
Ohne gründliches Wissen um seine Geschichte kann
auf die Dauer kein Volk bestehen. Das war in den
jüngstvergangenen Jahrzehnten zwar nicht immer völlig
unbestritten; aber diese Zeit ist, wenn ich recht sehe,
vorbei. So frei und so souverän ist überhaupt kein Volk,
daß es ohne Wissen um seine Vergangenheit bestehen
könnte.
Wenn ein Volk aber versucht, in und mit seiner Geschichte zu leben, dann ist es sehr gut beraten, in und
mit seiner ganzen Geschichte und nicht nur mit ihren
guten und erfreulichen Teilen zu leben. Ich habe es
schon des öfteren gesagt und wiederhole es hier bewußt:
Für mich ist jeder Versuch, die Verbrechen des Nationalsozialismus aus der geschichtlichen Erinnerung auszublenden, letztlich nur eine besondere Form intellektueller Feigheit, und Feigheit ist das letzte, was ich von
meinem Volk erleben möchte. Das hat für mich auch
nichts damit zu tun, ob uns andere immer wieder an unsere Geschichte erinnern, ja nicht einmal damit, aus
welchen Gründen und mit welcher Absicht sie das tun.
Unserer Geschichte haben wir uns ohne Rücksicht darauf zu stellen, was andere aus ihr machen, und übrigens
auch ohne Rücksicht darauf, was andere aus ihrer eigenen Geschichte machen. Aufrechnungen und Hinweise
auf die Defizite anderer lenken nur von der Sache ab.
Wenn ich mich unserer Geschichte zu stellen versuche,
versuche ich das nicht in Schande, sondern ich versuche
es in Würde und mit Redlichkeit.
Aber - der Bundestagspräsident sagte es bereits - wir
leben in einer Zeit des Generationswechsels, in einer
Zeit des Übergangs von der Erinnerung an Erlebtes zur
Erinnerung an Mitgeteiltes. In einer solchen Zeit ist es
unerläßlich, daß man sich der Formen des Erinnerns
noch einmal in allem Ernst vergewissert. Deshalb war es
gut, daß die Debatte stattgefunden hat, die sich mit den
Namen Bubis und Walser verbindet. Es ist ohnehin immer gut, wenn sich Positionen klären und wenn nicht
unausgesprochen bleibt, was viele Menschen - so oder
so - denken. Aber diese Debatte hat auch viele Gedanken zutage gefördert, die wir in ihrer Bedeutung erst
richtig erkennen werden, wenn sich der unvermeidliche
Pulverdampf verzogen haben wird.
Ich will aber auch sagen, was mich an dieser Debatte gestört hat. Martin Walsers Rede - man mag zu
ihr stehen, wie man will; jedenfalls hat sie nicht für das
Vergessen plädiert - hat eine wichtige Auseinandersetzung in unserer Öffentlichkeit provoziert und sollte das
wohl auch. Diese Auseinandersetzung hat in der Tat
auch stattgefunden, teils in bemerkenswerten Diskussionsbeiträgen von dritter Seite, teils in dem faszinierenden, glücklicherweise dokumentierten Streitgespräch
zwischen den beiden Hauptkontrahenten. Daneben aber
gab es gewissermaßen business as usual: Schon nach
kurzer Zeit fielen Teile der allgemeinen Debatte wieder
in die alten Muster gegenseitiger Beschuldigung zurück - als stünden hier die ewigen Verdränger oder gar
Leugner und dort die ewigen Beschuldiger, ja Selbstbeschuldiger. Solche Art der Auseinandersetzung ist
unsinnig und fruchtlos. Der Holocaust ist das allerletzte, was wir solchen primitiven Denkschablonen
oder, sagen wir es deutlich: der political correctness
überlassen dürfen.
Ich möchte nicht mißverstanden werden. Was ich hier
kritisiere, lag nicht an Ignatz Bubis. Ignatz Bubis legt
natürlich immer wieder den Finger in Wunden, die weh
tun, und löst damit auch manche heftige Reaktion aus.
Aber er hat den Schrecken der Lager am eigenen Leibe
erlebt, und er hat seine Angehörigen dort verloren. Er
hat also jedes Recht, in Fragen unserer Geschichte empfindlich, ja auch einmal leidenschaftlich zu reagieren.
Dennoch: Ich habe mehr als einmal erlebt, wie gerade er
im Ausland für das heutige Deutschland eintritt und wie
er auch Ansprüche, die er für ungerecht hält, mit aller
Entschiedenheit zurückweist. Viel zu wenige bei uns
wissen um die Angriffe, denen er auch dieserhalb ausgesetzt ist. Ich sage es geradeheraus: Ignatz Bubis ist ein
deutscher Patriot.
({0})
Aber ich will hier nicht über Personen reden, sondern
über die hinter uns liegende Debatte. An ihr hat mich
noch etwas ganz anderes nachdenklich gestimmt. Wieder einmal hat sie sich fast ausschließlich unter Vätern
und Großvätern, unter Müttern und Großmüttern abgespielt, und das, obwohl wir doch wissen, wie ernsthaft
sich große Teile unserer Jugend gerade auch mit den
Schattenseiten unserer Vergangenheit beschäftigen. Es
ist ja nur die eine Seite der Realität, wenn immer wieder
darauf hingewiesen wird, daß vielleicht ein Viertel dieser Jugend von den damaligen Verbrechen nichts weiß.
Andersherum gelesen bedeutet das doch, daß dann drei
Viertel sehr wohl Bescheid wissen. Ich möchte von hier
aus gerade jenen Opfern der NS-Zeit meinen Dank sagen, die weder Mühe noch Aufwand, noch Schmerz
scheuen, um ihre Geschichte und ihre Erlebnisse in Gesprächen mit jungen Menschen weiterzugeben, solange
es Alter und Gesundheit eben zulassen.
1196 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
Dennoch bleibt es wahr: Auch in der jüngsten Debatte haben sich die jungen Menschen kaum hörbar gemacht. Ich frage mich, woran das liegt, denn, wie gesagt, an fehlendem Wissen und fehlendem Interesse
kann es nach allem, was ich weiß und beobachte, nicht
liegen. Ich stelle nur eine Frage: Liegt es vielleicht daran, daß die ältere Generation - was ihr gewiß niemand
verübeln kann - wieder einmal über ihre eigenen Verwicklungen und Verkrampfungen diskutiert hat, nicht
aber darüber, was das alles für die jungen Menschen bedeutet und welche Konsequenzen diese aus der Geschichte ziehen sollen? Liegt es vielleicht sogar daran,
daß diese Jugend längst dabei ist, ihr eigenes Verhältnis
zu dieser Geschichte zu gewinnen, ohne daß das schon
in greifbaren Formeln seinen Ausdruck gefunden hätte?
Wie auch immer: Wenn es so wäre, dann hätten wir
darauf mehr zu achten als auf „richtiges“ Reden in der
Eltern- und Großelterngeneration. Denn wie die jungen
Menschen, die die Zukunft unseres Volkes bestimmen
werden, über die Frage denken, ist heute schon ungleich
wichtiger als alle Auseinandersetzungen und Begriffsklärungen zwischen denen, die sich damit nunmehr seit
über 50 Jahren befassen.
Es geht heute ja nicht mehr so sehr um die Frage, ob,
sondern es geht um die Frage, in welcher Weise wir uns
erinnern sollen. Die besondere Bedeutung, die diese
Fragestellung heute bekommt, entsteht dadurch, daß inzwischen die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen den Nationalsozialismus und seine Verbrechen
gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Neue
Generationen sind herangewachsen, so daß Erinnerung,
selbst in der jetzigen Elterngeneration, nur mehr eine
vermittelte, keine eigene mehr sein kann. Deshalb fehlt
der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
heute die zusätzliche Aufladung durch einen Generationenkonflikt wie in den 60er Jahren. Es fehlt ihr auch das
Tribunalartige, das sie lange Zeit, vielleicht unvermeidlicherweise, bestimmt hat.
Meine Damen und Herren, das hat Folgen: Niemand
aus der jetzt in die Verantwortung hineinwachsenden
Kinder- und Enkelgeneration kann beispielsweise aus
der deutschen Vergangenheit heraustreten, indem er die
Pose moralischer Überlegenheit annimmt. Niemand
kann sich im nachhinein auf die Seite der Opfer oder der
Widerstandskämpfer phantasieren und politische Gegner
auf die Seite der Täter stellen. Der Nationalsozialismus
- wir mögen das wollen oder nicht - ist unser gemeinsames, schreckliches Erbe.
Aber: Mit dem Verschwinden der Generation, aus der
viele durch persönliche Schuld, durch Mitläufertum oder
einfach durch Wegschauen in das Verbrechen verstrickt
waren, wird auch ein neues Hinsehen möglich. Das kann
doch auch eine große Hoffnung sein.
Eine Gefahr könnte freilich darin liegen, daß die Erinnerung einfach ausbleibt, daß neue Generationen - wir
sprachen bereits darüber - einfach sagen, das alles gehe
sie nichts mehr an, und sie wollten deswegen auch
nichts mehr davon wissen. Ich sage hier mit allem
Nachdruck: Ich halte diese Gefahr für sehr gering. Aus
eigener Erfahrung weiß ich, wie gesagt, daß die Kenntnisse über den Nationalsozialismus bei unseren Jugendlichen und jungen Erwachsenen beachtlich sind, vor allem aber, daß das Interesse, sich weiterhin damit zu beschäftigen, groß ist. Es sind eher einige der Älteren, der
60- bis 70jährigen, die ihre Verdrängungswünsche auf
die Jugend projizieren oder sie ihr sogar einreden wollen. Das macht mir Mut zu sagen: Ich sehe eher die
Chancen.
Die jüngeren Leute kennen - ich nenne nur ein paar
Beispiele - die Tagebücher von Anne Frank, das HitlerBuch von Sebastian Haffner, die Tagebücher von Viktor
Klemperer, sie haben die Holocaust-Serie und „Schindlers Liste“ gesehen, sie fahren an die Orte des Schrekkens, sie pflegen Gedenkstätten und Gräber, sie arbeiten
an Dokumentationsprojekten ihrer Schulen mit, und sie
sehen sich auch die historischen Sendungen im Fernsehen an. Kein anderes Thema hat beim Schülerwettbewerb zur deutschen Geschichte so viele Einsendungen
gehabt wie die Ausschreibungen zum Thema „Alltag im
Nationalsozialismus“. Keine Frage: Unsere jungen
Leute diskutieren und forschen, sie fragen, sie schauen
hin.
Darin liegt die Chance, die Erinnerung wachzuhalten.
Dazu gehört es dann aber, daß die jüngeren Generationen nicht nur passive Zuhörer der alten bleiben. Ich
möchte direkt an diese Jüngeren appellieren, meine Damen und Herren: Wir brauchen Sie auch als aktive Diskussionsteilnehmer. Wir brauchen Ihre Fragen, die
wahrscheinlich ganz anders sind als die unseren, wir
brauchen Ihre Sichtweisen, Ihre Art der Auseinandersetzung, Ihr Interesse. Und Sie sollten sich in die Diskussionen einmischen. Ich sage es direkt: Brechen Sie mit
Ihrer Art zu fragen die alten Denkmuster und die alten
Sprachspiele auf! Wenn das gelingt, dann hat die Erinnerung eine Zukunft.
Zur Zukunft der Erinnerung gehört aber noch mehr.
Zunächst: Wir brauchen Orte der Erinnerung. Dabei
denke ich nicht allein an ein zentrales Mahnmal. Darüber soll und wird der Deutsche Bundestag entscheiden.
Ich bin froh, daß es eine lange, über weite Strecken außerordentlich ernsthafte und fruchtbringende Debatte
über das Mahnmal gegeben hat. Es muß aber jetzt bald
eine tragfähige Entscheidung getroffen werden.
Eines möchte ich aber hinzufügen: Wir Deutschen
müssen dieses Mahnmal um unserer selbst willen bauen.
Wir bauen es nicht für das Ausland, wir bauen es nicht
als Demonstration dauernder Schuld. Wir bauen es auch
nicht in wohlfeiler, letztlich aber unehrlicher Identifikation mit den Opfern. Es muß das werden, was sein Name
sagt: gewiß eine bleibende Erinnerung an die Verbrechen, vor allem aber ein Gedenken an die Opfer und an
ihr Leid sowie ein Mahnmal für die jeweils Lebenden.
Wir sollten, über das ganze Land verbreitet, noch
mehr Orte der konkreten, historischen Erinnerung haben. Der Nationalsozialismus hat eben nicht nur in Berlin stattgefunden, in Nürnberg oder in München. Überall
hat es Szenen des Schreckens gegeben. Überall gab es
Schulen, aus denen die jüdischen Kinder entfernt wurden. Überall gab es Geschäfte, die den Besitzern weggnommen wurden. Überall hatte die SA ihre VerhörBundespräsident Dr. Roman Herzog
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1197
keller. Überall gab es Sammelstellen für die Transporte.
Wer sich nur ein wenig damit beschäftigt, der kann herausfinden, wie sich das Verbrechen in das Land hineingefressen hat, wie sich das Verbrechen ganz in seiner
nächsten Umgebung abgespielt hat.
Auch hier geht es nicht um deutsche Selbstbezichtigung. Durch die konkrete Erinnerung an konkreten Orten wird die den späteren Generationen fremder werdende Geschichte als tatsächliche Realität greifbar. Die
Menschen sollen es wissen: Das alles hat sich nicht irgendwo in einer grauen Vorzeit abgespielt, sondern hier,
in Deutschland, in meiner Stadt, in einer Zeit, in der es
schon Autos, Telefone und Radios gab, unter Menschen,
die nicht sehr viel anders lebten als wir. Die Topographie des Terrors läßt sich im alltäglichen Leben der Welt
finden.
Auch in der regionalen Aufarbeitung, in der konkreten Suche nach Zeugnissen und Orten liegt übrigens eine
Chance für die schulische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Die Schule hat ihre besonderen Chancen. Sie hat aber auch ihre Probleme; denn der Nationalsozialismus ist kein Unterrichtsgegenstand wie alle anderen und auch kein beliebiges Objekt der Zeitgeschichte. Es geht ja nicht nur um die Vermittlung historischer Fakten. Wer sich dieser Geschichte stellt, der
wird als moralisches Subjekt selbst in Frage gestellt, der
muß sich doch einfach fragen: Wieso haben die Täter so
gehandelt, wieso die Mitläufer? Wieso konnten sie sich
nicht in ihre Opfer hineinfühlen? Wie funktioniert Verführung? Wie funktioniert Massensuggestion? Er wird
auch um die Frage nicht herumkommen: Bin ich sicher,
daß ich nicht mitgemacht hätte? Wäre nicht auch ich nur
Zuschauer geblieben? Hätte nicht auch ich so furchtbare
Angst gehabt, daß ich eben nicht widerstanden hätte?
Die Beschäftigung mit dieser Zeit geht deshalb notwendigerweise mit der Erziehung zu Gewissensbildung
und Verantwortung einher. Dabei ist es für die Lehrer
und Erzieher gewiß schwierig, die rechte Balance zu
halten. Der Nationalsozialismus darf nicht nur als abgeschlossener Lehrstoff einer endgültig vergangenen Geschichte behandelt werden. Andererseits darf er aber
auch nicht durch platte und leichtfertige Aktualisierungen zur Moraldidaktik herhalten müssen. Das würde nur
ein einzigartiges Verbrechen relativieren.
Lernziel - wenn man das überhaupt so nennen kann wäre nicht nur eine möglichst genaue Kenntnis dessen,
was im Dritten Reich geschehen ist, sondern auch so etwas wie eine Einübung in Empathie, in das Sichhineinversetzen, das Hineinfühlen, und übrigens auch in Mißtrauen gegen die großen Vereinfacher. Kenntnis der
Verbrechen und Gedenken an die Leiden sind zwei sehr
verschiedene Dinge. Aber wir brauchen beides, damit
die daraus erwachsenden Lehren tatsächlich in den Köpfen und Herzen ankommen. Das sind wirklich anspruchsvolle Ziele; aber mit weniger dürfen wir uns
nicht zufriedengeben.
Natürlich hat der Schulunterricht seine besonderen
Schwierigkeiten. Wie prinzipiell jeder Unterrichtsinhalt
auf den Widerwillen der Schüler stoßen kann - zum
Beispiel weil es eine nicht geliebte Schule ist, die ihn
vermittelt -, so kann die Ablehnung auch in diesem Fall
zu besonders fatalen Blockaden und Verweigerungshaltungen führen. Um der wichtigen Sache willen - und
nicht, um das Thema herunterzuspielen - muß hier deshalb sehr sorgfältig - ich sage bewußt auch: sehr wohlüberlegt - vorgegangen werden. Und vor allem: Die
Schule darf von der Gesellschaft gerade jetzt nicht allein
gelassen werden, nur weil es mehr als je zuvor um die
nachfolgenden Generationen geht.
Lassen Sie uns die Lerninhalte und die Lehrmethoden
sehr genau, sehr öffentlich und vor allem sehr zielorientiert diskutieren! Auch das ist eine Aufgabe, die noch
vor uns steht. Denn daß es jetzt um die jungen Menschen in unserem Land geht, das müßte eigentlich vor
aller Augen sein. Darauf sollten wir uns endlich einstellen. Hier gibt es Dinge zu bedenken, die bisher nicht so
eindeutig waren.
Die große Mehrheit der heute lebenden Deutschen ist
nicht schuld an Auschwitz. Aber natürlich: Auch sie ist
in besonderem Maße verantwortlich dafür, daß sich so
etwas wie Holocaust und Auschwitz nicht und niemals
wiederholt. Die Mehrheit der heutigen Deutschen ist
auch nicht schuld an Selektion, Vertreibung und Völkermord. Aber sie muß ihre besondere Verantwortung
dafür fühlen, daß da in der Welt, wo wir auch nur ein
wenig mitzureden haben, kein Platz mehr für diese Art
von Verbrechen sein darf.
Es trifft zu: Unser Erbe heißt Verantwortung. Aber
selbst diese Verantwortung bezieht sich, was die nachfolgenden Generationen betrifft, nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft. Es gibt - um nur ein
Beispiel dafür zu nennen - eine falsche Einschätzung
des Nationalsozialismus, die gleichzeitig eine gefährliche Verharmlosung darstellt. Ich meine, wir sind heute
zu leicht geneigt, zu glauben, schon am Anfang, 1933,
hätte jeder sehen können, wohin das alles führen mußte.
Darüber kann man ja reden. Viele haben es ja damals
auch gesehen. Aber damit wird zugleich suggeriert, wir
seien heute intellektuell und moralisch gegen eine solche
Blindheit gefeit. Und das stimmt eben nicht. Das eine ist
eine historische Täuschung, das andere eine fromme Illusion. Wenn wir den Anfängen wehren wollen, müssen
wir also unablässig wachsam sein.
Das gilt vor allem für den Antisemitismus. Der mag
in Deutschland gegenwärtig nicht größer sein als in anderen Ländern. Aber wenn bei uns noch immer jüdische
Gräber geschändet werden, muß uns das mehr in Empörung und Gegenwehr versetzen als andere. Bei uns dürfen Antisemiten keinen Fußbreit Raum bekommen.
Aufmerksam sein müssen wir auch auf unseren
Sprachgebrauch. Schon antijüdische Redensarten und
Witze haben bei uns keinen Platz mehr. Manche Wörter
und Ausdrücke sind einfach - man mag es drehen und
wenden, wie man will - so beschmutzt, daß wir sie nie
mehr unbefangen in den Mund werden nehmen können.
Denken Sie nur an den Begriff „Selektion“ oder an vergleichbare Begriffe.
Aufmerksam sein müssen wir auf alle Anzeichen von
Aussonderung, von Diskriminierung anderer wegen der
Herkunft, des Glaubens oder aus welchem Grund auch
Bundespräsident Dr. Roman Herzog
1198 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
immer. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich hinzufügen: Da, wo es um berechtigte Ansprüche auf Entschädigung oder Wiedergutmachung geht, muß dafür gesorgt
werden, daß die Opfer bekommen, was ihnen zusteht.
Auch das hat nichts mit Instrumentalisierung oder mit
sogenannter ewiger Aufrechnung zu tun, sondern einzig
und allein mit Recht und Gerechtigkeit.
Eines ist klar: Auschwitz hat unser Bild vom Menschen verfinstert. Was einmal historische Wirklichkeit
war, gehört für immer zu den furchtbaren Möglichkeiten
des Menschen, deren Wiederholung - in welcher Form
auch immer - nicht ausgeschlossen werden kann. Die
Dämme und Sicherungen müssen also immer wieder
aufs neue gebaut werden.
Ivo Andric hat in seinem Roman „Die Brücke über
die Drina“ in ganz anderem Zusammenhang das folgende geschrieben - ich zitiere -:
Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger.
Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich
nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme der
guten Sitten und der Gesetze entfernt werden, war
jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben, die
Dämme waren weggeräumt. Wie oft in der
menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub,
ja auch Mord, stillschweigend zugelassen unter der
Bedingung, daß sie im Namen höherer Interessen,
unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Namens oder einer bestimmten Überzeugung verübt
wurden. Wer damals mit reiner Seele und offenen
Auges lebte, konnte sehen, wie sich eine ganze Gesellschaft in einem Tage verwandelte.
Dieser Text handelt vom Jahr 1914. Wer ihn heute
liest, erkennt, daß „die Dämme der guten Sitten und der
Gesetze“ überall und jederzeit nur dann Bestand haben,
wenn sie ständig erneuert und gepflegt werden.
Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich in Deutschland eine Gesellschaft entwickelt, in der es vieles
gibt, von dem man am Anfang nicht einmal zu träumen wagte. Wir haben ganz gewiß nicht die beste aller denkbaren Welten. Aber wir haben einen Fundus
an Toleranz und Freiheit, an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, an Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung, an sozialer Sicherheit, an Presse- und Meinungsfreiheit erreicht, von dem wir alle profitieren
und über den wir uns alle freuen können. Jeder einzelne dieser Aspekte unseres Gemeinwesens ist auch
eine Antithese zu dem, was der Nationalsozialismus
verkündet hat.
So ist Deutschland heute, und so kennt und respektiert man es in der Welt. An der Verteidigung der Gerechtigkeit, an der Stärke des Rechts, am Wert der Freiheit und am Schutz der Schwachen kann man heute
Deutschland erkennen. Das höre ich in vielen Ländern
der Welt, die ich besuche, und das ist nicht nur eine
politische Höflichkeitsfloskel. So soll es auch bleiben.
Natürlich müssen wir auch in diesen Fragen den Blick
nach vorn richten. Ein Grund zum Ausblenden der Vergangenheit ist das aber nicht. Dazu geben uns die Opfer
das Recht nicht, und dazu gibt uns vor allem unsere
Verantwortung für die Zukunft des Menschen kein
Recht.
({1})
Musikalische Gestaltung:
Bonner Kammerchor, Kammerorchester
Leitung: Peter Henn
(